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German Pages XI, 615 [615] Year 2020
Johann Kreuzer (Hg.)
Hölderlin Handbuch Leben – Werk – Wirkung 2. Auflage
Johann Kreuzer (Hg.)
Hölderlin-Handbuch Leben – Werk – Wirkung 2., revidierte und erweiterte Auflage
J. B. Metzler Verlag
Der Herausgeber
Johann Kreuzer ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.
ISBN 978-3-476-04877-6 ISBN 978-3-476-04878-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
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Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage VII Vorwort zur ersten Auflage IX Siglen XI
I Druckgeschichte 1 Editionen Stefan Metzger / Johann Kreuzer 3 II Zeit und Person 2 Epoche Valérie Lawitschka 17 3 Kloster – Stift – Beruf Valérie Lawitschka 27 4 Liaisons – Imago und Realität Valérie Lawitschka 38 5 Freundschaften Valérie Lawitschka 44 6 Frankreich (Dezember 1801 – Juni 1802) Jean-Pierre Lefebvre 52 7 Die Jahre 1806–1843 Gregor Wittkop 57 8 Hölderlin und die Psychiatrie Uwe Gonther / Jann E. Schlimme 62 9 Zur Geschichte des Hölderlinschen Nachlasses Volker Schäfer 68 III Voraussetzungen, Quellen, Kontext 10 Schule und Universität Michael Franz 73 11 Rousseau, Schiller, Herder, Heinse Ulrich Gaier 83 12 Kant, Fichte, Schelling Violetta L. Waibel 100 13 Goethe Luigi Reitani 117 14 Hölderlin und die Frühromantik Bärbel Frischmann 121
IV Poetologie 15 Wechsel der Töne Holger Schmid 133 16 Geschichtserfahrung und poetische Geschichtsschreibung Volker Rühle 142 17 Tragische Erfahrung und poetische Darstellung des Tragischen Volker Rühle 151 18 Rhythmus Boris Previšić 159 19 Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung Johann Kreuzer 166 20 Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge? Ulrich Gaier 180 V Werk 21 Hyperion Luigi Reitani 195 22 Empedokles Theresia Birkenhauer 214 23 Emilie vor ihrem Brauttag Sabine Doering 238 24 Theoretische Schriften Michael Franz 243 25 Sophokles-Anmerkungen Bernhard Böschenstein 264 26 Pindarfragmente Michael Franz 271 27 Übersetzungen Bernhard Böschenstein 284 28 Frühe Hymnen Martin Vöhler 302 29 Oden Sabine Doering 320 30 Elegien Wolfram Groddeck 333 31 Nachtgesänge Anke Bennholdt-Thomsen 349 32 Gesänge (Stuttgart, Nürtingen, Homburg) Bart Philipsen 359 33 Homburger Folioheft Emery E. George 388 34 Entwürfe Anke Bennholdt-Thomsen 403 35 Späteste Gedichte Ute Oelmann 409 36 Briefe Elena Polledri 416
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Inhalt
VI Rezeption A Deutschland
37 Norbert von Hellingrath Ute Oelmann 433 38 Jüdische Rezeption Martin Treml 438 39 Heidegger Iris Buchheim 443 40 Benjamin – Adorno – Szondi Marlies Janz / Johann Kreuzer 450 41 Nationalsozialismus und Exilrezeption Claudia Albert 457 42 Germanistik nach 1945 Claudia Albert 461 B Europa
43 Frankreich Manfred Koch 466 44 England Manfred Koch / Valérie Lawitschka 470 45 Spanien, Katalonien, Portugal Valérie Lawitschka 471 46 Niederlande und Skandinavien Valérie Lawitschka 474 47 Osteuropa Valérie Lawitschka 477 48 Südwesten Valérie Lawitschka 483 49 Italien Marco Castellari 485 C Amerika
50 USA Manfred Koch / Valérie Lawitschka 490 51 Lateinamerika Max Maureira 494
D Asien
52 Japan Teruaki Takahashi 498 53 China Gu Zhengxiang / 顾正祥 504 VII Nachwirkungen 54 Nachwirkungen in der Literatur Ulrich Gaier 511 55 Nachwirkungen auf der Bühne Marco Castellari 530 56 Nachwirkungen in der bildenden Kunst Valérie Lawitschka 535 57 Nachwirkungen in der Musik Valérie Lawitschka 548 Anhang Zeittafel 565 Bibliographie 576 Autorinnen und Autoren 595 Werkregister 596 Register der Briefe 602 Personenregister 604
Vorwort zur zweiten Auflage Die erste Auflage dieses Handbuchs ist 2002 erschienen. Seitdem sind fast zwanzig Jahre verstrichen: Grund genug, das Handbuch in einer zweiten, überarbeiteten und ergänzten Auflage vorzulegen. Sein Anspruch ist unverändert der, ein verlässliches Set an Informationen zum Leben, zum Werk wie zur Wirkung Hölderlins auf der Grundlage des aktuellen Wissensstandes zur Verfügung zu stellen. Der Aufbau des Handbuchs ist im Wesentlichen gleich geblieben. Es beginnt mit der Geschichte wie dem Tableau der Editionen, in denen Hölderlins Werk vorliegt. Hier ist vieles zum Abschluss gebracht worden, was 2001/02 noch in Arbeit war – die danach hinzugekommenen und realisierten editorischen Projekte belegen die Lebendigkeit, die von Hölderlins Werk ungebrochen ausgeht. Gleichfalls ergänzt – auf den neuesten Stand gebracht – wurden die Informationen zu Zeit und Person, zu den Voraussetzungen, Quellen, dem Kontext und den Bezügen seines Werkes und dessen Poetologie wie den konzeptionellen Perspektiven. Gegenüber der ersten Auflage hinzugekommen sind in den entsprechenden Abschnitten die Beiträge Hölderlin und die Psychiatrie, der zu Goethe sowie der zu Rhythmus. Ziel des Handbuchs ist es nach wie vor, Hölderlins Werk in seiner Vielschichtigkeit sprechen zu lassen. Als diesem Zweck angemessen haben sich insbesondere die Werkanalysen erwiesen: Sie reichen wieder von den Frühen Hymnen bis zu den Gedichten aus dem Tübinger Turm, vom Hyperion bis zu den Pindar- und Sophokles-Übersetzungen, vom Empedokles und den das Werk durchziehenden Theoretischen Schriften bis zu den Gesängen und Entwürfen. Hier war allein Emilie vor ihrem Brauttag zu ergänzen. Neu verfasst unter den Werkanalysen sind die Beiträge zum Hyperion, zu den Oden und den Briefen: die neu geschriebenen Beiträge beziehen ein, was sich hier in den zurückliegenden beiden Dezennien getan hat, und geben den inzwischen erreichten Stand der Forschung wieder. Dies gilt selbstredend auch für die in diese zweite Auflage übernommenen bisherigen Bei-
träge. Sie sind gründlich durchgesehen, überarbeitet und teilweise erheblich erweitert. Erheblich ergänzt ist ebenfalls der den Nachwirkungen geltende Teil VII des Handbuchs. Hier ist nun auch Hölderlin auf der Bühne vertreten. Der Überblick über die Nachwirkungen in Literatur, bildender Kunst und Musik ist umfassend aktualisiert. Die umfangreichsten Ergänzungen und Erweiterungen erfuhr der der Rezeption geltende Teil VI. Auf die innerdeutsche Rezeption, bei der die Grenzziehung zwischen der BRD und DDR zugunsten einer Germanistik nach 1945 nun aufgegeben ist, folgt der europäische Raum mit einer wesentlich umfänglicheren Tour d’horizon. Hier wird zudem die Sonderrolle, die der Rezeption in Italien mittlerweile zukommt, mit einem eigenen Beitrag gewürdigt. Der Überblick setzt sich fort mit der Darstellung der Resonanz, die Hölderlin in den USA und in Lateinamerika gefunden hat wie findet, und fügt der breiten Wirkung seines Werks in Japan die in China hinzu, die Hölderlin auch dort zu einem ›Lieblingsdichter‹ hat werden lassen. Mit der Aufgliederung in Europa – Amerika – Asien findet sich die internationale Rezeption nun zum einen differenzierter und zum anderen vollständiger – wenn gewiss auch nicht erschöpfend – wiedergegeben. ›Vollständigkeit‹ ließe sich hier auch nur erreichen, wäre die Rezeption Hölderlins abgeschlossen, das aber hieße: zum Erliegen gekommen. Das Gegenteil einer solchen Abgeschlossenheit ist der Fall – gerade auch für die Sprachen und Kulturräume, in die er zu übersetzen ist. Dies könnte darin seinen Grund haben, dass Hölderlins Werk paradigmatischer Zeuge wie Beleg für die Wechselwirkung ist, die die Rezeption literarischer Werke mit dem Übersetzen als Tätigkeit und Produktivität sui generis verbindet. Denn die Sprachwirklichkeit, die sich bei Hölderlin erarbeitet findet, beruht nicht zuletzt auf seiner eigenen Übersetzungsarbeit wie der Auseinandersetzung damit, was Übersetzen heißt und was sich am und im Übersetzen über Sprache als ein Tun und Tätigsein lernen lässt. Sie ist nicht das Mittel, sondern das Worin des Verstehens und ihrem ›Wesen‹ nach selbst
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Vorwort zur zweiten Auflage
als ein Übersetzen zu begreifen. Gelingt es, dies Übersetzen, das Sprache meint, in Formen der Sprache fasslich werden zu lassen, so wird möglich, was Hölderlin ›eine Erinnerung zu haben‹ genannt (und für die ›Verfahrungsweise des poëtischen Geistes‹ gefordert) hat. Dass das nichts Selbstverständliches, durch nichts Garantiertes ist, hat er – wie im Vorwort zur ersten Auflage angemerkt – wie wenige gesehen. Sprache ist »Asyl« und »der Güter Gefährlichstes«. Die Auseinandersetzung mit dieser Ambivalenz durchzieht Hölderlins Werk in sich verstärkender und sich zuspitzender Weise – nicht zuletzt darin gründet seine Aktualität, die es, nicht nur im Gespräch zwischen Dichtung und Philosophie, zur zentralen Instanz und Referenz hat werden lassen: eine Aktualität, die der hier erreichten Sprachwirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts unvermindert eignet. Die zweite Auflage dieses Handbuchs versucht mit den überarbeiteten, den neu verfassten wie den hinzugekommenen Beiträgen dieser Aktualität gerecht zu werden. Zu diesem Zweck gründlich überarbeitet wurden das Werk- wie das Personenregister sowie die Bibliographie (die hier verzeichneten Werke sind in der Regel, um Dopplungen zu vermeiden, in den Literaturangaben der einzelnen Beiträge nicht aufgeführt). Allen Autorinnen und Autoren und allen, die sich am Zustandekommen dieser zweiten Auflage beteiligt haben, gilt ein großer Dank! Der Dank an alle Beteiligten ist freilich auch von Trauer umschattet. Von den Beiträgerinnen und Beiträgern der ersten Auflage dieses Handbuchs sind in der Zwischenzeit Theresia Birkenhauer (2006), Emery
Edward George (2016), Volker Rühle (2017) und Bernhard Böschenstein (2019) verstorben. Ihr Tod markiert einen unersetzlichen Verlust – für die Hölderlin-Forschung und für dieses Handbuch. Jeder ihrer Beiträge – Volker Rühle zu: Geschichtserfahrung und poetische Geschichtsschreibung und zu: Tragische Erfahrung und poetische Darstellung des Tragischen, Theresia Birkenhauer zu Hölderlins Empedokles, Bernhard Böschenstein zu dessen Sophokles-Anmerkungen und Übersetzungen, Emery E. George zum Homburger Folioheft – war maßstabsetzend für den jeweils behandelten Gegenstand. Maßstabsetzend sind sie weiterhin und deshalb in die zweite Auflage dieses Handbuchs in unveränderter Form übernommen. Dafür, dass das Handbuch in überarbeiteter und ergänzter Form zum 250. Geburtstag vorliegt – im Jubiläumsjahr, das sich Hölderlin mit Beethoven und Hegel teilt –, danke ich dem Verlag und namentlich Oliver Schütze, der schon für die erste Auflage der verantwortliche Lektor war und nun auch diese zweite engagiert, mit Umsicht und mit Geduld begleitet hat. Silke Wulf hat für die technische Erfassung der Beiträge und zusammen mit Ferdinand Pöhlmann vom MetzlerVerlag für das technische Innenleben des Handbuchs gesorgt. Dass Werk- und Personenregister wie die Bibliographie am Schluss in gründlich verbesserter Form vorliegen, ist das Verdienst von Silke Wulf. Ihr gilt deshalb der besondere Dank. März 2020 Johann Kreuzer
Vorwort zur ersten Auflage Hölderlin ist eine der zentralen Instanzen im poetologischen Diskurs der Moderne. Es gibt, was Antworten etwa auf die Frage nach dem Selbstverständnis der Dichtung oder die Reflexion des Anspruchs poetischer Sprache angeht, kaum eine Aussage in Dichtung und Philosophie, in der nicht auf ihn Bezug genommen würde. Das gilt – die Beiträge zur Rezeption in diesem Handbuch belegen das – nicht nur für den deutschsprachigen Raum, sondern weit über ihn hinaus. Das Kapitel zur Nachwirkung macht deutlich, dass Hölderlin nicht nur im Bereich des geschriebenen Wortes, sondern darüber hinaus auch in den anderen Künsten zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt vielfältiger Formen der Rezeption geworden ist. Diese enorme Resonanz und Aufmerksamkeit dürfte ihren Grund nicht zuletzt darin haben, dass sein Werk seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl für die bis in die jüngste Gegenwart hineinreichenden innerpoetischen Diskussionen als auch und vor allem für das Gespräch zwischen Dichtung und Philosophie von zentraler Bedeutung ist. Hier gewinnt die Sprachwirklichkeit, die sich in Hölderlins Dichtung manifestiert, zusammen mit den poetologischen wie philosophischen Fragen, die sie aufwirft, singuläre Kontur. Diese Fragen hängen – auch dies belegt das Handbuch auf vielfältige Weise – mit den Motiven, der Herausbildung und den Gestalten der Philosophie des Deutschen Idealismus aufs engste zusammen. Ohne Hölderlin bliebe das Bild von den Problemstellungen, auf die der Deutsche Idealismus als Antwort zu begreifen ist, einseitig und unvollständig. Dass Hölderlin die Sprache der Dichtung als Konsequenz transzendentallogischer, bewusstseinsphilosophischer und nicht zuletzt auch lebensweltlichgeschichtlicher Überlegungen begreift, lässt sein Werk gerade auch in philosophischer Hinsicht gleichrangig neben dem Hegels oder Schellings stehen. Diese philosophische Relevanz erklärt vielleicht auch die Aufmerksamkeit, die es gerade in nachidealistischen Zeiten erfährt. Die Bedeutung der Sprachwirklichkeit, die Hölderlin in seinem Werk poetisch materialisiert hat, ist in
der Moderne virulent geworden, als sich diese nach dem Ende der Hochzeit des Glaubens an die ›positiven‹ Wissenschaften im 19. Jahrhundert und forciert durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ihrer Fragilität bewusst wurde. Heidegger hat in dem 1966 geführten Spiegelgespräch emphatisch bekannt, dass er Hölderlin nicht für ›irgendeinen Dichter‹ halte, »dessen Werk die Literaturhistoriker neben vielen anderen auch zum Thema machen«. Hölderlin sei vielmehr »der Dichter, der in die Zukunft weist.« Den sachlichen Kern dieser Bedeutung von Hölderlins Werk hat weniger zugespitzt, aber deswegen nicht weniger zutreffend Adorno benannt, wenn er feststellt, dass sich bei Hölderlin abzeichnet, »was erst Kultur wäre: empfangene Natur«. Diagnostische Trenn- wie philosophische Tiefenschärfe gewinnt dieser Satz vor dem Hintergrund einer Bemerkung Kants. In einer Reflexion aus dem Nachlass heißt es, es sei ein »schädlich Vorurteil« zu glauben, »daß alles ehedem eben so gewesen und künftig bleiben werde. Die Natur bleibt, aber wir wissen noch nicht, was Natur ist.« Was sich hier noch nicht wissen lässt – unter das Stichwort »Heimath« setzt Hölderlin die Zeile: »Und niemand weiß« –, können wir gleichwohl erinnern. Dies Erinnern ist ein produktiver Akt – »So komm! Daß wir das Offene schauen,/ Daß Lebendiges wir suchen, so weit es auch ist«, notiert die Überarbeitung von Brod und Wein –, es ist ein produktiver Akt, der ohne die Sprache der Dichtung nicht möglich wird. Denn erst in ihr kann ihm die Wirklichkeit gegeben werden. Dies zu leisten oder zu reproduzieren, hat Hölderlin als Bedeutung und Wirklichkeit der Sprache aufgefasst – das hat er in seiner Dichtung exemplarisch realisiert, das hat sein Werk zum Vorbild werden lassen, an dem sich bis in die jüngste Gegenwart nicht nur in der Literatur und in den Philologien, sondern auch in den anderen Künsten und in der Philosophie das jeweilige Selbst- und Weltverständnis auskristallisiert hat und auskristallisiert. Dem Rang von Hölderlins poetischer Arbeit wird kein ein- oder nachfühlendes Pathos gerecht – ein Pa-
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Vorwort zur ersten Auflage
thos, das zudem meist mit der Funktionalisierung der Biographie einhergeht. Solchen Funktionalisierungen hat Robert Walser – dem Ineffabile des Individuellen gegenüber Dezenz einfordernd – den schönen Satz entgegengehalten: »Hölderlin hielt es für angezeigt, das heißt taktvoll, im vierzigsten Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüßen, wodurch er zahlreichen Leuten Anlass gab, ihn aufs unterhaltsamste, angenehmste zu beklagen.« Die Bedeutung von Hölderlins Dichtung und die Auseinandersetzung mit ihr verlangt ein verlässliches Set an Informationen zu Leben, Werk und Wirkung auf der Basis des derzeitigen Wissens- und Forschungsstandes: Ein solches zu geben ist ein Ziel dieses Handbuchs. Dem dienen die Exposition der Biographie Hölderlins im Kontext der Epoche, die Erläuterung der Voraussetzungen, Quellen und des Kontextes seines Werks, die Darstellung und Diskussion seiner Poetologie und der Perspektiven, die sie erschließt, sowie schließlich die ausführlichen Werkanalysen, die Hölderlins gesamte poetische Arbeit umgreifen: von den Frühen Hymnen über den Hyperion-Roman, die Arbeit am Empedokles-Projekt, die Pindar- und Sophokles-Übersetzungen bis zu den ›großen‹ Elegien, den Gesängen und Entwürfen sowie den spätesten Gedichten, die im Tübinger Turm entstanden sind. Die Kapitel zur Rezeption und zur Nachwirkung in Literatur, Musik und bildender Kunst, die – wie Zeittafel, Bibliographie und Register – dann folgen, vervollständigen, was dieses Handbuch sein will: ein Arbeitsinstrument, das Begriffe, Zugangsweisen und Methoden für das Verständnis von Hölderlins Werk und für die Auseinandersetzung mit ihm zur Verfügung stellt. Das hier vorliegende Handbuch bietet im Folgenden aber auch nicht weniger als die Analyse, Deutung und Interpretation von Hölderlins gesamtem Œuvre
einschließlich seiner Voraussetzungen und seines konzeptionellen Bezugsrahmens. Dabei war freilich keine monolithische Gesamtdeutung das Ziel, in der die verschiedenen Zugangsweisen zu dem, was Hölderlin sein poetisches ›Geschäft‹ genannt hat, und die Anstöße und Denkmotive, die von ihm ausgehen, zum enzyklopädischen Stillstand gebracht würden. Die Nuancen und verschiedenen Perspektiven, die das Werk Hölderlins in der Diskussion von Philosophie und Dichtung seit Kant eine einzigartige Rolle haben zukommen lassen, soll(t)en nicht synthetisiert, sondern transparent gemacht werden. Dass sich die Vielfalt divergenter Deutungen und Zugangsweisen, die Hölderlins poetische Arbeit erlaubt und hervorruft, in den Beiträgen dieses Handbuchs wiederspiegelt, ist deshalb durchaus Absicht. Denn gerade hier gilt, was Hölderlin als Charakteristikum und wenn man so will als ›Wesen‹ jener Wirklichkeit, die wir mit ›Sprache‹ meinen, aufgefasst und poetisch realisiert hat: Sie ist nicht das Mittel, sondern das Worin des Verstehens. Ein Verstehen freilich, das inmitten und gerade angesichts einer antagonistischen Welt zunehmend zum Asyl geworden ist. Die Ambivalenz dieses Asyls der Sprache – seine Notwendigkeit wie Gefährdung – hat Hölderlin wie wenige gesehen und zunehmend thematisiert, zuletzt wenn er davon spricht, dass wir »fast/ Die Sprache in der Fremde verloren« haben. Vielleicht ist es ein Gradmesser der Aktualität Hölderlins, dass die Gefahr dieses Sprachverlusts, den er kurz nach der Epochenschwelle 1800 registriert hat, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gewiss nicht geringer geworden ist. Gerade das aber macht die Auseinandersetzung mit seinem Werk notwendig. Das hier vorliegende Handbuch versteht sich als Hilfe dazu. Juni 2002 Johann Kreuzer
Siglen StA Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke, Große Stuttgarter Ausgabe hg. v. Friedrich Beißner, Adolf Beck und Ute Oelmann, Stuttgart 1943–85. FHA Sämtliche Werke. »Frankfurter Ausgabe«. Historischkritische Ausgabe, hg. v. Dietrich E[berhard] Sattler u. a., Frankfurt a. M. 1975, ab 1985 Basel/Frankfurt a. M.–2008. MA Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, München 1992/93. KA Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992–94. KTA Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe, hg. v. Dietrich E[berhard] Sattler. Mithg. Wolfram Groddeck, Neuwied (u. Darmstadt) 1979–1986 [Bde. 2–6 und 9–15 realisiert].
BA Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge. Bremer Ausgabe, hg. und komm. von Dietrich E[berhard] Sattler, Bd. 1–12, München (u. Darmstadt) 2004. HK Katalog der Hölderlin-Handschriften. Auf Grund der Vorarbeiten von Irene Koschlig-Wiem bearb. v. Johanne Autenrieth u. Alfred Kelletat, Stuttgart 1961. HJb Hölderlin-Jahrbuch. T Hölderlin. Texturen, hg. v. Ulrich Gaier, Valérie Lawitschka, Michael Franz, Stefan Metzger, Wolfgang Rapp, Violetta Waibel, Bde. 1–4, Tübingen/Marbach 1995–2017. IHB Internationale Hölderlin-Bibliographie.
I Druckgeschichte
1 Editionen 1.1 Drucke zu Lebzeiten H. hat in der Zeit vor den Jahren im Turm seinen zweibändigen Briefroman, die Sophokles-Übersetzung und verstreut etwa siebzig Gedichte veröffentlicht (vollständiger Überblick in Kohler 1961). Noch in seiner Tübinger Stiftszeit konnte er in Gotthold Friedrich Stäudlins auf eigene Kosten herausgebrachten Musenalmanach für 1792 die Hymne an die Muse, Hymne an die Freiheit, Hymne an die Göttin der Harmonie, Meine Genesung. An Lyda veröffentlichen. Stäudlins Poetische Blumenlese fürs Jahr 1793 druckte weitere sieben Gedichte H.s. Stäudlin vermittelte auch einen ersten Kontakt zu Schiller, in dessen Thalia 1794 neben der Hymne Griechenland das Fragment von Hyperion erschien und H. eine erste Verbreitung über württembergische Lokalalmanache hinaus verschaffte. Zu der von Schiller angebotenen ständigen Mitarbeit an den Horen kam es nicht, jedoch druckte Schiller 1797 dort noch Der Wanderer (10. Bd., 6. St., Aug. 1797) und Die Eichbäume (12. Bd., 10. St., Feb. 1798) und im Musen-Almanach, den er bei Cotta herausgab, Der Gott der Jugend (1796), An den Äther (1798), Sokrates und Alkibiades und An unsre großen Dichter (1799), zwei davon zum Auffüllen des Umbruchs. Schillers Empfehlung brachte H. zu Cotta als Verleger des Hyperion. Cotta zahlte ein sehr mäßiges Honorar von 100 Gulden; H. schreibt Neuffer (s. Kap. 36), er wolle nicht »weiter fordern, um mich keinem Jüdeln [H.s wohl einzige Entgleisung antisemitischer Art] auszusezen« (vgl. MA 2, 583/84). Der erste Band vom April 1797 war vom Tübinger Drucker Hopfer in Antiqua-Lettern gesetzt, die Schiller gerne für »bedeutende Sachen« verwendete. Die Papierqualität war mäßig, das einzige Exemplar auf gutem Velin dediziert H. Susette Gontard. Im September 1799 kam der zweite Band heraus. Die von Cotta festgesetzte Auflage von nur 350 Exemplaren lässt darauf schließen, dass sich der Absatz des ersten Bandes in einem ähnlich bescheidenen Rahmen bewegte. H.s Freund Neuffer brachte bei Steinkopf in Stuttgart das Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung auf das Jahr 1799 heraus, das insgesamt 14 Gedichte H.s enthielt, sieben davon unter dem Pseudonym
»Hillmar«; im folgenden Jahr waren es neun, darunter Emilie vor ihrem Brauttag und ein »Hillmar«. Während der ersten Homburger Zeit erschienen außerdem noch eine Reihe von Gedichten in ziemlich abgelegenen Jahrbüchern. Nach dem Scheitern von H.s Journalprojekt bemühten sich in Stuttgart seine Freunde nicht nur um Einzeldrucke – Haug etwa brachte im Taschenbuch für 1801 Für Herz und Geist die Rückkehr in die Heimat –, sondern es gab ernsthafte Pläne für eine Ausgabe gesammelter Gedichte von H. Der rege Publizist Ludwig Ferdinand Huber verhandelte mit Cotta und war mit ihm bereits über Honorar und Auflage einig; 1802 sollte die Ausgabe herauskommen. Als »Proben« veröffentlichte Huber in seiner Zeitschrift Flora. Teutschlands Töchtern gewidmet im Herbst 1801 Der Wanderer, im folgenden Jahr Heimkunft, Die Wanderung, Dichterberuf und Stimme des Volkes. Die Ausgabe der gesammelten Gedichte kam nicht zustande. Huber brachte 1804 im Nachfolgeorgan der Flora mit dem Titel Vierteljährliche Unterhaltungen den Archipelagus. Aus Bordeaux zurück, schloss H. seine Übersetzung der sophokleischen Tragödien ab; über seinen Homburger Freund Sinclair (s. Kap. 5) kam er zum Verleger Friedrich Wilmans in Frankfurt. H. brauchte für nochmalige Überarbeitungen, Übersendung des Manuskripts und Fahnenkorrektur so viel Zeit, dass Wilmans schließlich die Trauerspiele des Sophokles zum geplanten Termin im April 1804 herausbrachte, während H. über den Fahnen saß und über Satz und Typen reflektierte. Die Ausgabe enthielt dementsprechend viele Druckfehler. Wilmans veröffentlichte außerdem unter dem Titel Nachtgesänge neun späte Gedichte im Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet, die H. ihm im Zuge der Arbeit an den Sophokles-Übersetzungen geschickt hatte. Aus H.s Plan hingegen, bei Wilmans »[e]inzelne lyrische größere Gedichte« als eine Art von Flugblättern (»jedes besonders gedrukt [...] weil der Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit«, StA 6, 435) herauszubringen, wurde nichts, auch wenn die Reinschrift der Friedensfeier vermutlich zu diesem Zweck erstellt worden ist. Dies waren wohl die letzten Gedichte, deren Druck H. begleitet hat. Neuffer druckte in seinem Württembergischen Taschenbuch auf das Jahr 1806 für Freunde
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_1
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I Druckgeschichte
und Freundinnen des Vaterlandes die zweite Fassung von Die Heimat, vermutlich ohne H.s Beteiligung. Kurz nach seinem Einzug in den Tübinger Turm (s. Kap. 7) veröffentlichte Leo von Seckendorf, ein Bekannter aus der Tübinger Zeit, in seinem Musenalmanach für das Jahr 1807 unter dem Titel Die Herbstfeier die Elegie Stutgard, Die Wanderung (ohne die letzte Strophe) und die erste Strophe von Brod und Wein unter dem Titel Die Nacht, im Jahr darauf Patmos (1. Fass.), Der Rhein und Andenken. Seckendorf griff stark in den Text ein und glättete; es haben ihm aber wohl Reinschriften H.s vorgelegen, die von den überlieferten Manuskripten abweichen und heute verschollen sind. Die drei im Musenalmanach für 1808 erschienenen Gesänge hat er vermutlich von Sinclair bekommen: »Sinclair sandte mir neulich ein paar ältere Gedichte von H.« (Seckendorf am13. August 1807 an J. Kerner, vgl. MA 3, 646). 1820 kamen Bestrebungen zu einer ersten Ausgabe gesammelter Gedichte H.s in Gang, so bei Kerner; ein anderer Impuls ging vom Winckelmann-Herausgeber Johannes Schulze und dem überaus rührigen preußischen Leutnant Heinrich von Diest in Berlin aus, die das Unternehmen mit Kerner zusammen vorantrieben. Handschriften und Dokumente wurden gesammelt, Verlagskontakte hergestellt. Diests Initiative war es auch zu verdanken, dass 1822, katalysiert vom Aufbrechen des griechischen Befreiungskampfs im Jahr zuvor und dem deutschen Philhellenismus, bei Cotta eine zweite Auflage des Hyperion von 1000 Exemplaren herauskam. Neuffer veröffentlichte im Zuge dieser ersten H.-Renaissance in seinem Taschenbuch von der Donau 1824 und 1825 einige z. T. noch unveröffentlichte Jugendgedichte. Das Unternehmen der gesammelten Dichtungen kam in die Hände von Ludwig Uhland und Gustav Schwab; zwar waren schon 1822 alle Manuskripte bei den Herausgebern, doch ging das Unternehmen nur langsam voran; erst 1826 erschienen die Gedichte von Friedrich H. Ziel war eine Etablierung H.s als Dichter, die sich strategisch an den mutmaßlichen Vorurteilen ausrichtete. Die Auswahl war restriktiv nach der Intention, »daß H.s Poesie, beim ersten Erscheinen seiner gesammelten Gedichte, in ihrer vollen und gesunden Kraft sich darstelle« (Uhland, StA 7.2, 567 f.) – was konkret bedeutete: Die frühen Tübinger Hymnen wurden ausgeschieden, weil sie als zu schillerisch und also unselbständig, die späte hymnische Dichtung, weil sie als unklar und der Verwirrtheit zumindest nicht fern genug angesehen wurden. Immerhin wurden aber einige Passagen aus der zweiten und dritten Fassung des Empedokles aufgenommen. Vom Verlag ohne Endkorrektur auf den
Markt geworfen, war die Ausgabe ziemlich fehlerbelastet. Auflage und Werbung waren gering. Arnim etwa machte in seiner Rezension unter Nennung einzelner Gedicht-Titel darauf aufmerksam, »was der Sammlung seiner [H.s] Gedichte fehlt.« (StA 7.4, 56) Eine zweite Auflage kam 1843 heraus, ergänzt um eine Biographie von Gustav Schwab, den Karl Gock mit Informationen und Dokumenten versorgt hatte.
1.2 19. Jahrhundert Nach H.s Tod 1843 kam eine erweiterte Ausgabe ins Gespräch. Schon 1844 von Cotta angekündigt, erschienen 1846 Friedrich H.’s sämmtliche Werke. Besorgt hatte sie Christoph Theodor Schwab, der Sohn Gustav Schwabs. Die editorischen Grundsätze waren weiterhin apologetisch ausgerichtet und von einem stark normativen Literaturkonzept geprägt. Um H. als »Klassiker« installieren zu können, trennte C. T. Schwab die beiden Bände in Dichtung und biographische Texte. Bei den Dichtungen konnte von Vollständigkeit weiterhin keine Rede sein: Übersetzungen und theoretische Fragmente fehlten ganz, die Auswahl der Gedichte setzte mit Das Schicksal (1794) ein und endete mit Der Rhein. Den Empedokles gab Schwab in einer synkretistischen Version aus allen drei Fassungen. Die Jugendgedichte (zu denen auch Patmos gezählt wurde), eine Auswahl von »Gedichten aus der Zeit des Irrsinns« (die auch einige Gedichte aus der Zeit vor 1806 enthielt) sowie das Thaliafragment des Hyperion und der Grund zum Empedokles erschienen zusammen mit einigen Briefen im biographischen zweiten Band. Die hierin enthaltene Biographie brachte auch noch einige Stellen aus den Sophokles-Anmerkungen (311 f.), den Frankfurter Plan zum Empedokles nebst des Szenenentwurfes im Anschluss an den Grund-Aufsatz (300 ff.), Gedichtvorstufen (298) und Gedichte aus Jugend (267) und Spätzeit (315 f.). Ein philologischer oder kommentierender Apparat fehlte. Größere Verbreitung fand H. weniger in dieser Ausgabe, auch nicht durch H.s ausgewählte Werke, die Schwab jr. 1874 herausgab, sondern eher in populärpädagogischen Anthologien wie der Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen von Karl Eduard Philipp Wackernagel (ab 1832 sieben Auflagen) oder dessen Deutschem Lesebuch; hier kam zum ersten Mal ein nationalistischer Ton in die Edition H.s. Wichtige Multiplikatoren waren auch Meyer’s Groschenbibliothek der Deutschen Classiker oder Reclams Universalbibliothek, wo bis zur Jahrhundertwende einige zehn-
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tausend Bände H. erschienen. Daneben entwickelte sich auch ein Interesse an Dokumentation und Biographie. Gustav Schlesier projektierte eine nie zum Abschluss gekommene H.-Monographie, die aber durch Abschriften vor allem aus dem Briefwerk eine ganze Reihe von Texten erhielt, deren Handschrift später verloren ging. In der Sammlung historisch-berühmter Autographen, oder Facsimile’s von Handschriften ausgezeichneter Personen alter und neuer Zeit erschien 1845 unter der Nr. 100 erstmals ein Faksimile von H., das wenige Tage vor seinem Tod notierte Gedicht Freundschaft. Gegen Ende des 19. Jh.s kam wieder Bewegung in die H.-Editorik. Die 1884 in Tübingen erschienene Ausgabe von Dichtungen von Karl Köstlin (1819–1894) versuchte erstmals – wenn auch nicht ganz konsistent – eine chronologische Anordnung der Gedichte, freilich ohne das Korpus zu erweitern. Carl C. T. Litzmann veröffentlichte in seiner Briefbiographie Friedrich H.s Leben. In Briefen von und an H. eine ganze Reihe von unbekannten Briefen und Vorarbeiten zu Hyperion aus den Handschriften. Anfang der 1890er Jahre begann sein Sohn Berthold Litzmann eine H.-Ausgabe zu konzipieren, die sich an den ersten deutschsprachigen »historisch-kritischen« Ausgaben von Lachmann/ Muncker (Lessing), Goedeke (Schiller) oder Suphan (Herder) orientierte. Angestrebt war, einen gesicherten Text mit Varianten zu geben. Das Projekt stieß, vor allem bei den Empedokles-Fragmenten, auf unerwartete Schwierigkeiten. 1896 erschien schließlich in einer Auflage von 3000 Exemplaren eine Ausgabe, deren Text anhand der Handschriften und Drucke kritisch geprüft war. Nach wie vor traf sie eine Auswahl, der Teile des Frühwerkes und die irrsinnsverdächtigen Dichtungen und Übersetzungen der Spätzeit zum Opfer fielen; es ging um »Dichtungen H.s, die in einigermaßen künstlerischer Abrundung erhalten sind.« (Vorwort) Die Gesamtausgabe von Wilhelm Böhm, die zuerst in Jena 1905 und dann in mehreren erweiterten Auflagen erschien, brachte zum ersten Mal seit H.s Ausgabe von 1804 die Sophokles-Übersetzungen. Schließlich geht auch die Ausgabe von Marie Joachimi-Dege 1908 in »Bongs Klassikern« auf die Handschriften zurück.
1.3 Die Ausgaben von Hellingrath und Zinkernagel Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges begannen fast gleichzeitig zwei Ausgaben mit historisch-kritischem Anspruch zu erscheinen. Die eine wurde vom Tübin-
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ger Germanisten Franz Zinkernagel herausgegeben. Der erste Band seiner »kritisch-historischen Ausgabe« der Sämtlichen Werke und Briefe kam 1914 heraus, der letzte Textband 1926. Zur Veröffentlichung des wichtigen Apparatbandes, der die kritische Textkonstitution begründen, den Anspruch auf Endgültigkeit des Textes untermauern und die Varianten enthalten sollte, kam es jedoch nicht mehr; der Insel-Verlag hatte angesichts des Erfolgs der konkurrierenden Hellingrathschen Ausgabe das Interesse verloren, Zinkernagel latent seine Position vor allem zum Spätwerk geändert; das Manuskript des Apparats liegt heute im H.-Archiv in Stuttgart. (Jüngst wurden die Bde. I und V mit den bislang unveröffentlichten textkritischen Anmerkungen sowie dem vorliegenden Kommentar ediert: vgl. F. H., Kritisch-historische Ausgabe von Franz Zinkernagel. Werkteil Gedichte, hg. v. H. G. Steimer, Göttingen 2019.) Zinkernagel gab trotz des historisch-kritischen Vollständigkeitsanspruchs vom Spätwerk nur eine Auswahl, wie schon alle Ausgaben vor ihm. Gerechtfertigt wurde die Ausgrenzung durch die traditionelle Wahnsinnshypothese und die damit einhergehende Reduktion des Spätwerks auf biographische Bedeutung; Zinkernagel griff hier auf die von ihm angeregte Studie H. Eine Pathologie des Mediziners Wilhelm Lange von 1909 zurück, die ein frühes Latenzstadium von H.s Erkrankung mit dem Inventar klinischer Psychologie zu untermauern suchte (s. Kap. 8). Die Pathologisierung korrespondierte dem blinden Fleck von Zinkernagels positivistischem Ansatz, entzog sich doch gerade das Spätwerk einer Bestimmung durch externe Randbedingungen. Gerade gegen solche Pathologisierung setzte sich der Herausgeber der konkurrierenden kritischen Ausgabe vehement ab, Norbert von Hellingrath (s. Kap. 37). Der fünfte Band seiner Sämtlichen Werke mit den Übersetzungen erschien 1913. Schon seine Münchner Dissertation Pindar-Übertragungen von H. (1910) hatte den Untertitel Prolegomena zu einer Erstausgabe getragen und das Programm dieser Neuausgabe entworfen: Nicht Fehlerphilologie, sondern der poetische Gehalt von H.s Übersetzungen wurden hervorgehoben und vor allem unter Rekurs auf Pindar und die Stilkategorie der »harten Fügung«, die Hellingrath aus Dionysios Halikarnassos De compositione verborum entnommen hatte, als eigenständige Qualität des Spätwerkes emphatisch aufgewertet. 1916 folgte Band 4 mit den Gedichten 1800–1806. »Dieser Band enthält Herz, Kern und Gipfel des H.schen Werkes, das eigentliche Vermächtnis« (XI). Hellingraths Rehabilitierung des Spätwerkes war bahnbrechend. Sie verband sich bei
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ihm mit fundiertem editorischem Handwerk; seine Entzifferung gerade der bislang verdrängten komplexesten Handschriften des Spätwerkes ist im Ganzen in ihrer Zuverlässigkeit bis heute anerkannt und wurde grundlegend für die weiteren Ausgaben. Die Aufwertung des Spätwerkes motivierte sich vor allem durch Hellingraths Nähe zum GeorgeKreis, dessen emphatischer Ästhetizismus und pathetische Aufwertung des Dunklen und Rätselhaften H. zum Märtyrer einer neoromantisch-symbolistischen Kunstreligion, zum Seher in dürftiger Zeit, zum Exponenten eines »geheimen« Deutschlands, das aus der Vernichtung Europas im Krieg erstehen sollte, stilisierte und in seinen Texten einen unmittelbaren, eigentlichen Anspruch jenseits aller Semantik zu empfangen glaubte. Hellingrath teilte Georges These einer gestalthaften Einheit des Gesamtwerkes und machte daraus das Programm einer Dekonstruktion der bisherigen H.-Rezeption vom Spätwerk aus. Dies war der Treibsatz der vehementen Polemik zwischen Hellingrath und Zinkernagel, die weit tiefer als bloße Marktkonkurrenz der Ausgaben ging. Umstritten ist nach wie vor die Bedeutung dieses ideologischen Hintergrundes für Hellingraths Edition. Er schlägt sich vor allem in Hellingraths inhaltlichem Kommentar nieder, der die Distanz zum Text bewusst zu unterlaufen sucht und Paraphrasen in H.schem Duktus gibt. Andererseits explizierte die provokante programmatische Engführung von Dichtung und Philologie die Problematik des Verhältnisses von Interpretation und Dokumentation so deutlich, dass es als avancierte Position der damaligen Editionsphilologie gelten konnte. Der Apparat gibt die Varianten nur in Auswahl; eine Transparenz auf die Handschriften wird nicht hinreichend hergestellt. Wegweisend ist Hellingraths Kriterium für die Auswahl: Es geht nicht um Überlieferungs-, sondern um Entstehungsvarianten, die ausgehend von der Handschrift den Entstehungsprozess möglichst vollständig abbilden sollen. Sie sind als »klare Entwicklungsreihe« angelegt; deshalb hebt Hellingrath »aus dem fliessenden Übergang des Gedichts von seinem ersten Keim zur letzten Gestalt (oder Entstellung) einzelne möglichst verschiedenen Zustände als mehrfache Fassungen« (269 f.) heraus. Damit wurde der Text erstmals in aller Deutlichkeit als eine dynamische Größe verstanden und editorisch dargestellt. Hellingrath, im Dezember 1916 bei Verdun von einer Granate »zerspellt« (George) und durch diesen frühen Tod später ideologisch mythifiziert, konnte nur die Bände 4 und 5 fertigstellen; seine Mitarbeiter Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot brachten
die Ausgabe bis 1923 zu Ende. Der Text aus Helling raths Ausgabe war weit verbreitet durch seine Veröffentlichung bei Reclam, wo unter UB 6266–6269 sämtliche Gedichte aus der Hellingrathschen Ausgabe – mit einigen Ergänzungen – herauskamen (bis 1943 ca. 33.000 Ex.).
1.4 Die Große Stuttgarter Ausgabe (StA) Die StA entstand aus der Überzeugung, dass die bisherigen Ausgaben kein »ne varietur« (Hellingrath 1916, 270) beanspruchen könnten und ihren kritischen Ansprüchen nicht genügten. Maßgeblich waren die Arbeiten von Friedrich Beißner, der, nachdem er 1933 mit einer Arbeit zu H.s Übersetzungen aus dem Griechischen promoviert, in den 1930er Jahren immer mehr Unzulänglichkeiten in den vorliegenden Ausgaben herausgearbeitet und schließlich eine Neuausgabe ins Auge gefasst hatte. In Gang kam dieses Projekt durch den 24-jährigen Doktoranden Walther Killy. Er ergriff 1941 die Initiative, sprach Beißner an und begann während eines Genesungsurlaubes Kontakte zu seinem Vater in der Berliner Reichskanzlei, zu seinem Lehrer, dem Schiller-Editor Julius Petersen, und zum Württembergischen Kultusministerium zu nutzen. Als Großleistung des deutschen Geistes im Kriege propagiert, nahm das Projekt in kürzester Zeit Gestalt an. Die Institutionalisierung durch die offizielle »Zweckvereinigung ›H.-Ausgabe‹« brachte eine ansehnliche Finanzierung und gute Arbeitsbedingungen ein; die zentralistische Kulturverwaltung machte Handschriften – auch solche in Privatbesitz – zügig per Gesetz verfügbar. Der erste Band entstand unter Zeitdruck, denn er sollte zu den offiziellen Feierlichkeiten zum 100. Todestag 1943 in Tübingen vorliegen. Eine große Subskribentenzahl machte die Papierbeschaffung zum Problem; auf die Druckerei fielen Bomben und zerstörten Teile des Satzes. Berliner Pläne zur Wiederauflage der Hellingrath-Ausgabe, die aus Gründen der Ressourcenbeschaffung als überarbeitete Neuausgabe ausgegeben wurde, brachten eine direkte Konkurrenz zur Stuttgarter Ausgabe (StA) und einen regelrechten Krieg ums Papier. Der 1942 verfasste ›Arbeitsbericht‹ entstand in diesem Kontext als strategisches Papier. Eine günstlingsinduzierte Intervention Hitlers führte schließlich zum Druck der Propyläenausgabe. Aber auch die beiden ersten Teilbände der StA konnten pünktlich erscheinen. Zugleich wurde in Tübingen mit offizieller Beteiligung die H.-Gesellschaft gegründet. Erste Aktivität: die Feldauswahl. Besorgt durch Fried-
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rich Beißner. Im Auftrag der H.-Gesellschaft und des Hauptkulturamtes der NSDAP, die noch 1943 verbreitet wurde (Auflage 100.000 Ex.). Nicht zuletzt wegen dieser eilfertigen Ausgabe wurde die H.-Gesellschaft 1946 von den Franzosen verboten (s. Kap. 41). Die StA ist als historisch-kritische H.-Ausgabe anerkannt. Ihre acht Bände liegen in 15 Teilbänden vollständig vor; die von Beißner edierten Textbände waren 1961, die Brief- und Dokumentationsbände, für die Adolf Beck verantwortlich zeichnete, 1977 fertig, 1985 folgte der abschließende Registerband, den Ute Oelmann aufgrund der Vorarbeiten Becks besorgte. Die StA trennt deutlich zwischen Text und Apparat. Gegenüber früheren Ausgaben war der Apparat nicht nur »Variantenfriedhof«, sondern wurde als ein wesentlicher Bestandteil des Textes stark aufgewertet. Es wird jeweils ein konstituierter Lesetext gegeben; der Apparat verzeichnet die Entstehungsgeschichte, eine Beschreibung der Überlieferungsträger (Handschriften, Drucke, Abschriften), die Varianten und schließlich Erläuterungen, die neben Sachinformation vor allem Parallelstellen beisteuern. Bei intensiv überarbeiteten Texten werden mehrere »Fassungen« gegeben, z. T. – vor allem bei klarer Handschriftenlage – im Apparat, häufiger – insbesondere bei den meist nicht abgeschlossenen Texten des Spätwerkes – im Textband. Die StA strebt einen »gereinigten, endgültigen und vollständigen H. Text« (Arbeitsbericht 16) an. Daraus ergibt sich einerseits die Konstitution eines zitablen, möglichst geschlossenen Lesetextes, andererseits eine vollständige Darstellung aller Varianten, die möglichst übersichtlich sein soll. Im Allgemeinen wird anerkannt, dass Beißner eine weitgehende Umsetzung der beiden komplementären Postulate nach Vollständigkeit und nach Übersichtlichkeit gelungen sei. Gerade die Spätdichtung in ihrer von Korrekturen überwucherten und zumeist Fragment gebliebenen Überlieferung überforderte den klassischen philologischen Zugriff. Beißner entwickelte zu diesem Zweck eine »genetische Methode«, die die Entstehung eines Textes umfassend nachzeichnen sollte. Daher grenzte er sich gegen das Paradigma des altphilologischen oder mediävistischen Apparats und seiner Fokussierung auf den Überlieferungsvarianten ab und stellte dagegen – wegweisend für die neugermanistische Editionsphilologie – die Entstehungsvarianten eines Textes als Gegenstand des Apparats heraus. Die »genetische Methode« ist dem hermeneutischen Paradigma verpflichtet. Beißner versteht ein Gedicht als einen in sich geschlossenen intentionalen Akt, der sich sukzessive im Text materialisiert, bis er in der organisch einheitlichen Ge-
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stalt des vollendeten Gedichts seinen adäquaten Ausdruck erreicht hat. Dieses Konzept begründet die teleologische Struktur der Darstellung der Varianten. Die handschriftliche Überlieferung wird auf eine bloß äußerliche Funktion reduziert; Ziel einer Edition kann unter diesen Prämissen nicht die Wiedergabe der Handschrift sein, sondern das ideale Wachstum auf der Ebene der Tiefenstruktur des Gedichts, das nicht notwendigerweise mit der realen Textgenese identisch sein muss; in der rekonstruierten zeitlichen Abfolge soll die komplexe räumliche Anordnung der Handschrift aufgehen. Dies konvergiert mit dem Ansatz einer immanenten Interpretation, die aus bekannten Gründen in den 1940er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hohe Konjunktur hatte. Beißner ist sich dabei des konstruktiven Moments seiner Methode bewusst; prägnant zugespitzt spricht er vom »einfühlenden Mitdichten« des Herausgebers, das er nach dem zum Allgemeinplatz gewordenen Grundsatz »Edition ist [immer auch] Interpretation« (Manfred Windfuhr) für unumgänglich hält. Die genetische Methode soll zugleich die Übersichtlichkeit der Variantendarstellung gewährleisten. Häufig treppenartig angeordnet und mehrfach hierarchisch gestuft, gibt der Apparat jeweils eine Idealgenese eines einzelnen Lemmas. Beißner versteht die Tätigkeit des Herausgebers als Dienstleistung am Leser, der von der Auseinandersetzung mit der komplizierten Handschrift entlastet werden soll –, nicht aber von der durchaus emphatisch geschätzten Arbeit am Text einschließlich seiner Genese. Beißners Editionsverfahren ist, bei stets betonter Würdigung seiner Leistung, nicht ohne Widerspruch geblieben. Die Kontroverse wurde z. T. mit polemischer Schärfe geführt, dabei gelegentlich die Grenzen der Sachlichkeit bis hin zum beleidigten Inkompetenzvorwurf missachtet. Die Kritik an der StA entzündete sich neben Detailproblemen in systematischer Hinsicht vor allem an folgenden Punkten: a) Das Lemmatisierungsprinzip der StA garantiert Vollständigkeit der Varianten lediglich im Sinne ihrer vollständigen Nennung. Wesentliche Charakterisierungen wie ihre exakte räumliche Position in der Handschrift, die Kontextualisierung in Überarbeitungsphasen des Gesamttexts, die Begründung ihres Status als Ersetzung oder unentschiedene Alternative und ihrer Abfolge fehlen meist. Auch der Ausschnitt eines Lemmas wird nicht begründet. In Beißners negativem Apparat dominieren paradigmatische Verhältnisse; syntagmatische werden nur vom Lesetext gegeben. b) Die StA fällt auch dann Entscheidungen, wenn sie nicht (hinreichend) vom Manuskript gedeckt sind.
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Motiviert sind sie durch das Konzept eines möglichst geschlossenen Lesetextes als Telos einer idealen Textgenese. Dies betrifft die Festlegung auf eine von mehreren in der Handschrift alternativ nebeneinander stehende Varianten, vor allem aber die Konstitution von endgültigen Fassungen, wo lediglich Entwürfe vorliegen, und die Rekonstruktion von verschiedenen Fassungen eines Textes aus einem kontinuierlichen Entstehungsprozess. Solche Fassungen versuchen zwar, Umarbeitungen im Kontext darzustellen; sie bleiben aber letztlich spekulative Konstruktionen vorläufiger Ganzheiten, die zumeist nicht von der Handschrift gedeckt sind. c) Die Bewahrung der Dynamik des Textes, die der Rekurs auf genetische Prozesse erreicht, wird durch die Unterstellung einer stringenten Teleologie zu einem endgültigen Lesetext verspielt. Zudem unterstellt die StA von vornherein, dass sich ein prätendiert eindeutiger semantischer Gehalt durch alle Varianten durchhält und nicht verschiebt. d) Eine räumliche Darstellung der Handschriften unterbleibt, obwohl diese die Basis jeder Edition sind. Dies gilt auch dann, wenn man, wie Beißner, die Handschriftengestalt nicht für eine hinreichende Repräsentation eines Gedichts hält, weil etwa ihre genetische Interpretation fehlt; auch diese muss bei der Handschrift einsetzen. Hans Zeller hat Beißner die – schon von Karl Goedeke 1876 aufgestellte – plakative Formel entgegengesetzt, die Handschrift müsse aus dem Text rekonstruierbar sein; in der StA sei der editorische Grundsatz der Trennung von Befund und Deutung nicht hinreichend beachtet. e) Rückschlüsse auf die Handschriften werden vom Apparat der StA systematisch unterbunden, indem z. B. bei der genetischen Darstellung Mehrfachnennungen von Wörtern auftreten, die sich in der Handschrift nur einmal finden, oder indem der Ausschnitt eines Lemmas nicht weiter begründet wird. Wenn Beißner mit Verweis auf die Entlastungsfunktion der Edition betont, die Handschrift sei keineswegs immer von Interesse, so muss eine historischkritische Edition dennoch auch solchen Fällen Rechnung tragen. f) Die Feststellung der Unumgänglichkeit von interpretativen Eingriffen bei der Edition rechtfertigt nicht großzügiges Interpretieren. Vielmehr sollten interpretierende Eingriffe auf ein Mindestmaß beschränkt werden und so weit als möglich als solche kenntlich gemacht werden. Diesen Postulaten nach Minimierung und Explikation von editorischer Interpretation genüge die StA kaum, weil sie von vornherein eine Rekon-
struktion einer idealen Textgenese ansetzt. Indizien sind u. a. Stellen, wo an strittige Detailbefunde weitreichende Entscheidungen geknüpft werden. g) Die Kritik an der StA kulminiert in dem Einwand eines methodisch begründeten Mangels an Transparenz der editorischen Entscheidungen. Genannt werden können hier unzureichende Grundlagen in der Überlieferung oder apodiktische Argumentation trotz mehrdeutiger Befunde. Auffällig ist, dass Beißner in seinen Apologien häufig auf Kategorien wie »Evidenz«, »Divination« oder »langjährige Erfahrung« rekurriert, die manchmal als Autoritätsargument empfunden wurden. Vor allem aber wird durch den Ansatz eines »mitdichtenden« Herausgebers dessen Abgrenzung zum Autor und den Überlieferungsträgern systematisch verwischt. Editorische Entscheidungen werden nicht explizit gemacht und damit in die Autorposition verschoben. Darin kann man eine Immunisierungsstrategie sehen. Ein exemplarischer Fall zur Prüfung des Verfahrens der StA war der Fund der Reinschrift der Friedensfeier, die 1954 in London gefunden wurde, als der zweite Band der StA schon erschienen war. Die Differenzen zu den drei von Beißner konstituierten Fassungen waren augenfällig; insbesondere Beißners Gliederungsvorschlag wurde von der dreistrophigen Form der Reinschrift widerlegt. Beißner druckte die Reinschrift als Anhang zu Band 3 der StA, suchte aber seine Textedition dennoch als Vorstufen zu retten; seine Argumentation wurde insgesamt als dogmatisch eingeschätzt und nicht allgemein anerkannt. Der Text wurde zusammen mit den Vorstufen 1959 von Wolfgang Binder und Alfred Kelletat in Faksimile veröffentlicht. Die Vorstufen sind mit einer Umschrift versehen, die die räumliche Struktur möglichst adäquat ins Medium des Drucks zu transponieren anstrebt. »Die Offenheit des Entwurfs soll erhalten bleiben, ihr widerspräche es, die Blätter philologisch weiter und zu Ende zu dichten.« (28) Dieses deutlich gegen Beißner gerichtete Editionsprogramm mit der Bindung an die faksimilierte Handschrift wird wegweisend für die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA). Der Lesetext der StA erschien parallel in der sogenannten »Kleinen Stuttgarter Ausgabe«; außerdem liegt er vielen Leseausgaben zugrunde, so etwa der von Beißner und Schmidt mit überarbeiteter Kommentierung herausgegebenen Auswahlausgabe, die 1969 im Inselverlag erschien. Über die Homepage des Hölderlin-Archivs ist die StA auch online zugänglich.
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1.5 Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (FHA) Die FHA war bei ihrem ersten Erscheinen 1975 eine ungeheure Provokation. Eine H.-Ausgabe, herausgegeben von dem gelernten Werbegraphiker Dietrich Eberhard Sattler, verlegt vom ehemaligen SDS-Vorsitzenden Wolff unter dem Label »Roter Stern«, musste im politischen Reizklima im Deutschland der 1970er Jahre zwischen Kaltem Krieg und Radikalenerlass, Ölkrise und RAF-Terror unter Ideologieverdacht stehen. Dieser Verdacht war intendiert und vielleicht auch inszeniert. H. wurde gesellschaftskritisch als Antiheld des Widerstandes stilisiert; Bertaux’ Thesen von H.s Jakobinismus und seiner Geisteskrankheit als Akt innerer Emigration, ihre literarische Popularisierung in Peter Weiss’ H. hatten dem antiautoritären Projekt die Vorlage gegeben. H.s Wahnsinn wurde als »WahrSinn« (Sattler mit Platon via Schleiermachers Übersetzung von Phaidros 244c), Dunkelheit und Rätselhaftigkeit wurden zu Widerständigkeit und zur Praxis von Kritik erklärt, die die bisherige H.-Philologie – so die polemische Verschwörungstheorie – den Leuten vorenthalten und, in ungebrochener Fortsetzung pathologisierender Werkselektion, im Asyl des Apparats versteckt habe; Resultat sei ein glatter, klassikerhafter Lesetext, der der politischen Vereinnahmung vor allem im Dritten Reich in die Hand gearbeitet habe. Dagegen möchte Sattler das ganze Gewicht auf die Fragmentarität, wie sie seinerzeit schon Adorno in seinem »Parataxis«-Aufsatz reklamiert hatte, legen, wobei er sie allerdings zu H.s eigentlicher Intention stilisiert. »Komm ins Offene, Freund!« (Sattler/Groddeck 1977, 19) Die Reaktion auf diese Emphase war geteilt: im Feuilleton überwiegend Zustimmung, in der angegriffenen Germanistik zunächst vehemente, ja gereizte Ablehnung, die H. emphatisch als Künder einer göttlichen Präsenz in der Welt jeden kritischen Stachel von vornherein zu ziehen trachtete. Auch editionsphilologisch musste der Frontalangriff gegen die etablierte und als fortschrittlich geltende StA verdaut werden, was eine sehr intensive, editionsphilologisch bedeutsame Debatte in Gang setzte. Die FHA entwarf ein provokantes Gegenmodell, das aus der Kritik an der StA editorische Konsequenzen zog. Das HJb 19/20 dokumentiert die intensive erste Diskussion auf der Jahrestagung der H.Gesellschaft 1976. Das auffälligste Kennzeichen der FHA ist der Abdruck sämtlicher Handschriften als Faksimile. Auch wenn manche dazu neigten, dies als Ausdruck eines schriftmystischen Unmittelbarkeitsideals poststrukturalistischer Prägung aufzufassen, ist das metho-
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dische Bestreben zunächst, unter Ausnutzung moderner drucktechnischer Möglichkeiten der Forderung nach Transparenz einer Edition bis hin zur Manuskriptvorlage als einziger Legitimationsbasis zu genügen. Die FHA löst die Trennung von Text und Apparat auf und gibt den Text in vierfacher Form: (1) als Faksimile der Handschrift. (2) Transkription im Medium des Druckes; dabei sollen die räumlichen Strukturen möglichst adäquat abgebildet werden; eine zeitliche Gliederung in schematisiert drei Überarbeitungsphasen wird durch verschiedene Schriftstärken – die früheste leicht, die letzte fett – wiedergegeben. (3) Analyse verschiedener zusammenhängender Bearbeitungsphasen der Texte (»Phasenanalyse« bzw. »lineare Textdarstellung«). (4) Geschlossener Lesetext, der je nach Vorlage als »unemendiert« (Reinschrift, autorisierter Druck), »emendiert« (von offensichtlichen Versehen gereinigt), »differenziert« (von Fremdeingriffen gesäubert), »rekonstruiert« (aus Segmenten zusammengesetzt) oder »konstituiert« (lediglich Entwürfe) bezeichnet wird. Diese vier Textebenen sind streng aufeinander bezogen und geben nur zusammen ein adäquates Bild. Daraus ergeben sich Probleme bei der Zitation dieser Ausgabe, die aber bewusst hingenommen werden. Das Verfahren der FHA soll in hohem Maße Transparenz gewährleisten. Faksimile und Umschrift sollen die Überlieferungslage räumlich repräsentieren; insofern steht die FHA einem strukturalistischen Ansatz nicht fern – auch wenn klare hermeneutische Elemente auszumachen sind. Die Trennung von Befund und Deutung (Zeller) ist die Grundlage des vierstufigen Verfahrens. Dabei ist ein interpretierender Eingriff ausdrücklich nicht geleugnet, vielmehr dürfe die Textsynthese »um so kühner sein, je offener sie sich der Kritik stellt« (FHA Einl., 19), weil durch die Bindung an den grundlegenden Befund jede Deutung im Modus der Vorläufigkeit gehalten werde. Andererseits führt die große Nähe zur Handschrift manchmal zum Verzicht auf plausible Emendationen (z. B. Natur und Kunst). Auf interpretierende Herausgebertitel, wie in der StA, verzichtet die FHA, was gelegentlich zu Identifikationsschwierigkeiten führt, weil sich die Titel der StA mittlerweile in der Forschung eingebürgert haben. Durch die »lineare Textdarstellung« sollen die Überarbeitungen jeweils in ihrem Gesamtzusammenhang dargestellt, eine Dekontextualisierung durch Lemmatisierung vermieden werden. Postuliert wird ein neuer, engagierter, mündiger Leser, der am Text arbeitet und die historische Anbindung und das Beibringen von Sachinformation selbst zu leisten in der Lage ist; daher
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wird der inhaltliche Kommentar auf überblicksartige Andeutungen verknappt, Einzelstellen inhaltlich überhaupt nicht kommentiert. Axiome der Edition sind »Vollständigkeit«, »Authentizität« und »Zugänglichkeit«, d. h. durchsichtige und popularitätsfähige Präsentation allen verfügbaren Materials. Ihrer Anlage nach will sich die FHA »am Entwurfscharakter des H.schen Spätwerkes« orientieren (FHA Einl., 18). Diese Methodik erfuhr aber gerade bei den späten Gesängen eine tiefgreifende Änderung. An die Stelle der Werkstufenedition tritt »die editorisch neue[] form des kumulativen textes« (FHA 7, 8). Grundlage ist die These, dass H. die Entwürfe etwa ab 1802 auf zwölf Großgesänge, geordnet in drei Triaden und jeden überdies in zwei Fassungen, angelegt habe. Auf diese hypothetischen Texte werden die Textbefunde teleologisch ausgerichtet; die Rekonstruktion entfernt sich z. T. weit von der Überlieferungslage. Die editionsleitende These von den zwölf Gesängen wird nirgends ausführlicher transparent gemacht. Sattler muss zu z. T. tiefgreifenden Umstellungen im Vergleich zu den Überlieferungsträgern, zur These vorgeblicher Verwerfungen (z. B. Germanien) oder der Deutung von Texten als Proömien (z. B. Andenken) greifen. Die FHA ist einer sehr ausführlichen und differenzierten Kritik unterzogen worden, die auch z. T. editionsphilologisch von allgemeinerer Bedeutung ist und an vielen Punkten auch für die StA gilt. Sie gilt als eines der ambitioniertesten und aufwendigsten Editionsprojekte der letzten Dekaden. Eine ganze Reihe von Detailproblemen entzündete sich an den Schwächen des Einleitungsbandes und kann in den Textbänden als behoben gelten. Für das Einführen von vom Standard abweichender kritischer Zeichen werden von der FHA technische Gründe ins Feld geführt. Kritisch angemerkt wurde immer wieder, dass Transparenz kein Freibrief für willkürliche Deutungen sei und einige Textkonstitutionen sehr spekulativ oder von einer gewollten Absetzung gegen die StA motiviert seien, wobei das vierstufige Verfahren eher zur Camouflage editorischer Eingriffe werde. Fraglich scheint auch, inwieweit die Askese beim inhaltlichen Kommentar mit dem Popularisierungspostulat vereinbar ist und ob dem »neuen Leser« nicht zu viel zugetraut oder zugemutet wird. Den Übersetzungen sind jeweils Interlinearversionen der von H. vermutlich herangezogenen Quellentexe beigegeben; sie sind in ihrer philologischen Qualität, hinsichtlich der verwendeten Quellen und der Verständlichkeit für nicht des Griechischen mächtige Leser nicht unumstritten.
Die Qualität der Faksimiles hat sich gegenüber dem Einleitungsband verbessert, bleibt aber aus technischen Gründen (gerasterter Offsetdruck statt des aufwendigeren Lichtdrucks) beschränkt; in den allermeisten Fällen ist sie jedoch ausreichend. Bei der »qualifizierten« Umschrift wurde angemerkt, dass sie durch die typographische Auszeichnung von Überarbeitungsphasen eine erste Deutung enthalte; sie wird von Sattler für unabdingbar gehalten, weil eine bloß räumliche Wiedergabe im Medium des Drucks die Verhältnisse der Handschrift unterkomplex darstellt und wesentliche Informationen unterschlägt. Die Festlegung auf drei Phasen ist durch technische Möglichkeiten und die Übersichtlichkeit begründet, jedoch zwangsläufig schematisch. Unklar ist, ob nur zeilenweise Korrekturen (Sattler FHA Einl., 18) oder aber eindeutig identifizierbare Überarbeitungsphasen des gesamten Textes (Groddeck 1978) wiedergegeben werden; Letzteres wird nicht konsequent umgesetzt. Die Wiedergabe späterer Phasen in fetterem Druck legt zudem eine teleologische Lesung nahe, die späten Fassungen den Vorzug gibt, eine Tendenz, die die Phasenanalyse bestätigt; Binder/Kelletat waren in ihrer Friedensfeier-Edition umgekehrt verfahren. Die »lineare Textdarstellung« rekonstruiert z. T. die Abfolge von Überlieferungsträgern, vor allem aber eine ideale Genese des Gedichts. Das Verhältnis dieser Idealgenese zu den in der Umschrift ausgezeichneten Überarbeitungsphasen bleibt offen. Im Allgemeinen wird die Darstellung der Phasen ohne begründenden Kommentar gesetzt, die Gründe für die editorischen Entscheidungen bleiben intransparent. Da die Verszählungen der verschiedenen Phasen variieren, ist ein Vergleich ohne Verskonkordanzen aufwendig. Häufig kritisiert wurde der Lesetext und hier insbesondere die Konstitution nur auf Basis von Entwürfen. Hier kommt die pragmatische Rechtfertigung des Lesetextes im Sinne des Zugänglichkeitspostulats in Widerspruch zur Vorläufigkeit des edierten Textes und wird als inkonsequent angesehen. Dem Argument, dass damit latent doch wieder eine Trennung von Text und Varianten eingeführt werde, wurde entgegengehalten, dass der Lesetext ein Element einer vierdimensionalen Textpräsentation sei. Festzuhalten ist eine starke Tendenz zur Glättung im Lesetext, die insbesondere beim Empedokles moniert wurde. Insgesamt teilt die FHA mit der StA ein deutlich teleologisches Element, das sich hermeneutisch an einer prätendierten »letzte[n] Intention« (FHA Einl., 19) orientiert. Die FHA tendiert dazu, möglichst späte Fassungen zu geben; problematisch ist dies z. B. bei den
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Elegien Stutgard, Heimkunft und Brod und Wein, wo die erst Jahre später erfolgten Überarbeitungen der Reinschriften in den Lesetext integriert werden. Abgeschlossen wurde die FHA 2008: Mit Bd. 20 endet die »1975 begonnene historisch-kritische Hölderlin-Ausgabe [...] anders als sie begann, als chronologisch-integrale Edition«, die an die Stelle der »klassifizierenden Bandeinteilung« der vorangegangenen Bände ein »Verfahren der prozessualen Textdarstellung« setzt (vgl. FHA 20, 7). Verschärft wurde damit die bereits in Bd. 8 sich auswirkende Absage an das ursprüngliche Maß größtmöglicher editorischer Luzidität zugunsten einer Montage von Briefzeugnissen, Dokumenten und herausgeberischen Hinweisen, die den Prozess eines Lebenswerks dokumentieren und in ihn H.s poetische Arbeit einordnen will. Unter der Überschrift »Werksegment 1802–1806« erscheinen dann die Nachtgesänge, eine »elegientriade α« wie eine »elegientriade β«, ein »Zyklus α« und ein »Zyklus β« ›hesperischer Gesänge‹, weiter H.s Pindar-Kommentare, die »Redaktion Pythia I« (H.s. Übersetzung von Pindars 1. Pythischen Ode), »Der Archipelagus β« wie die »Segmente aus Ajax«. Der Weg, der zu diesen Texten geführt hat, wird nicht (mehr) diskutiert oder gar dokumentiert. Mit den Bdn. 8 und 20 hat sich damit die FHA in ihrem Abschluss radikal von den ursprünglichen Absichten und Maßgaben – Trennung von Befund und Deutung, möglichste Transparenz editorischer Entscheidungen – verabschiedet. Gerade wegen der Wendung, die die FHA am Schluss erfahren hat, gilt es an einen ihrer wesentlichen Bestandteile zu erinnern: die drei Supplementbände mit der Faksimile-Edition der Frankfurter und Homburger Entwurfsfaszikel (Supplement I, hg. v. D. E. Sattler u. H. G. Steimer, 1999), des Stuttgarter Foliobuchs (Supplement II, hg. v. D. E. Sattler u. H. G. Steimer, 1989) und des Homburger Foliohefts (Supplement III, hg. v. D. E. Sattler u. E. E. George, 1986). Neben den qualitativ wesentlich besseren Vollfaksimiles bieten diese Supplementbände topographisch differenzierte Umschriften. Rücksichtlich manch zweifelhafter und willkürlicher editorischer Entscheidungen insbesondere in den Bdn. 8 und 20, darüber hinaus aber und vor allem wegen ihr »den Originalen so nahe« (vgl. FHA Suppl. III, 20) wie möglich kommenden Qualität eignet diesen Supplementbänden eigenständige und bleibende Bedeutung. Sattler brachte ab 1979 bei Luchterhand eine Leseausgabe heraus; sie war wegen des Fehlens der Faksimiles wie auch zwischen den Verlagen umstritten; sie wurde nach 15 Bänden 1986 eingestellt. – Der Herme-
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tik, mit der er die FHA zum Abschluss brachte, hatte Sattler 2001 (als Sonderdruck der neuen bremer presse) den Band »hesperische Gesänge« vorausgeschickt (s. Kap. 33). – Einen erneuten Versuch einer Leseausgabe unternahm er mit der »Bremer Ausgabe« (F. H. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Reihenfolge. Bremer Ausgabe, hg. u. komm. v. D. E. Sattler, 12 Bde. München (Luchterhand) 2004). Die Bremer Ausgabe setzte die FHA voraus, begann aber bereits jene anders perspektivierten Akzente zu setzen, die in Bd. 20 der FHA kulminierten: (H.s) Werk, die Korrespondenz, Dokumente und der Kommentar des Herausgebers (usw.) werden zu einem Fließtext kumuliert. Was H.s Texte betrifft, so werden die Leser mit einer vom Herausgeber emendierten und konstituierten Endfassung konfrontiert, d. h. mit autoritativen, nicht weiter überprüfbaren Entscheidungen. Die BA realisiert somit das entschiedene Gegenmodell zur FHA bzw. deren ursprünglichem Anliegen (vgl. FHA Einl., 16–19).
1.6 Neuere Teileditionen, Lese- und Studienausgaben Die »gesamtdeutsche« Ausgabe von Günter Mieth (Berlin/Weimar und München 1970) basiert auf der StA. Allerdings werden einige Partien, die die StA den Lesarten zugeschlagen hatte, dem Text integriert, Entwürfe in kleinerer Type wiedergegeben. Die Orthographie ist modernisiert. Unter dem Titel »Bevestigter Gesang«: die neu zu entdeckende Spätdichtung bis 1806 versuchte Dietrich Uffhausen 1989 eine Neuausgabe der Spätdichtung. Auf die geplante Handschriften-Faksimilierung konnte nach Erscheinen des Homburger Foliohefts 1986 als Supplement III zur FHA weitgehend verzichtet werden; die verbleibenden Faksimiles werden indes nicht mit einer Umschrift versehen, sie bleiben daher illustrativ. Uffhausen beanspruchte, eine Lese- und Studienausgabe mit kritischem Anspruch zu geben. Er gibt keinen klassischen Lesetext, sondern einen »mehrdimensionalen« Text, der die Lesarten in den Text zu integrieren versucht; dieser Text nähert sich einem Apparat und ist – intendiert – schwer zu lesen. Das Bestreben, wissenschaftliche Nutzbarkeit und Lesbarkeit in einem Text zu vereinigen, droht beide Anliegen zu verspielen. Fragwürdig sind die Intransparenz der Variantendarstellung oder die synoptische Zeilenparallelisierung völlig verschiedener Fassungen der sogenannten »Nachtgesänge«. Zudem nimmt Uffhausen
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die Unvermeidlichkeit von Interpretation bei der Textkonstitution als Lizenz für eine völlige Neuinterpretation des Spätwerkes im Gewande der Edition. Unter Rekurs auf eine Relativierung von H.s Geisteskrankheit à la Bertaux, auf die These einer prägenden formalen Pindaradaption und auf H.s Rede vom »gesezlichen Kalkul« der Dichtung (StA 5, 195) will Uffhausen in der späten Dichtung formal regelmäßige Großhymnen (re)konstruieren. Bei Würdigung wichtiger Ansätze im Detail ist Uffhausens Ausgabe philologisch, methodisch und inhaltlich höchst umstritten geblieben. Die dreibändige Ausgabe der Sämtlichen Werke und Briefe, die Michael Knaupp zusammen mit Hans Jürgen Malles (Gedichte bis 1795), Susanne Zwiener (Empedokles) und Michael Franz (Aufsätze) 1992/93 im Hanser-Verlag herausgebracht hat – daher auch »Münchner Ausgabe« (MA) –, versteht sich als Leseund Studienausgabe, tritt aber mit dem Anspruch auf, die Texte anhand der Überlieferungsträger neu ediert bzw. die vorhandenen Editionen kritisch geprüft zu haben. Knaupp, der die Bände 4, 5 (Oden), 15 (Pindar) und 16 (Sophokles) der FHA mitediert hat, legt den Schwerpunkt auf Textkritik. Seine Prämisse ist eine möglichst große Nähe zu den Überlieferungsträgern. Er bringt, ein Novum unter den Studienausgaben, den Text in der Originalorthographie. Varianten werden nur in Auswahl gegeben – eine Verlegenheitslösung aus Raumnot, wie Knaupp einräumt. Die zahlreichen Abweichungen von StA und FHA werden im Kommentar aufgeführt, so dass ein Vergleich möglich ist. Die Gedichtentwürfe erscheinen chronologisch gereiht und werden nicht einer späteren Endfassung zugeordnet; dies verdeutlicht die Genese des Gesamtœuvres und den jeweiligen Schaffenskontext, trennt indes die Entwürfe eines Gedichts. Knaupp bringt das Homburger Folioheft komplett entlang der Handschrift, ohne damit irgendwelche Thesen eines größeren inhaltlichen Zusammenhanges zu verbinden; weder ein »Gesamtkunstwerk« (wie etwa bei Uffhausen) noch eine Aufteilung in einzelne Gedichte und in den Apparat auszulagernde Fragmente (wie etwa in der StA) werden angesetzt, noch das Konstrukt eines kumulierten Gesamttextes. Allerdings kann Knaupps »halbdokumentarisches« Verfahren, das Randnotizen »unter dem Strich« mitgibt, die komplexe Folio-Handschrift nur ungenau abbilden. Bei Stutgard, Brod und Wein und Heimkunft erscheinen die frühere Reinschrift und die wesentlich spätere Überarbeitung entgegen der FHA als zwei Fassungen. Die Segmente des Fragments philosophischer Briefe (StA:
Über Religion) (s. Kap. 24) werden überzeugend neu geordnet. Die Briefe von und an H. werden vollständig und in chronologischer Reihenfolge gegeben. Der inhaltliche Kommentar ist – gerade für eine Leseausgabe – extrem kurz gehalten; die Angabe von Varianten ersetzt ihn nicht, die Kontextualisierung bleibt fast ganz dem Leser überlassen. Der separate Kommentarband bringt noch einen Überblick über die Quellenlage, einige Lebensdokumente – u. a. aber nicht das Bücherverzeichnis von H.s Nachlass – und ein ausführliches kommentiertes Namensverzeichnis. Ebenfalls als Lese- und Studienausgabe angelegt ist die dreibändige Ausgabe von Jochen Schmidt, die 1992–1994 im »Deutschen Klassiker Verlag« (KA) erschienen ist. Schmidt stützt sich weitgehend auf den Text der StA, der nach Autopsie an den Handschriften geprüft ist, die Fassungen der FHA werden i. d. R. nicht berücksichtigt; textkritische Anmerkungen oder Varianten werden – wenn überhaupt – stiefmütterlich behandelt. Lediglich der Empedokles-Komplex ist von Katharina Grätz komplett neu ediert worden und bietet eine Alternative zur StA wie zur FHA; ein ausführlicher textkritischer Apparat findet sich beigefügt; der Text wird in originaler Interpunktion und mit Hinzufügung von H.s poetologischen Glossen in einer auf Textglättung verzichtenden Form präsentiert, die die Brüche der Entwürfe wiedergibt; das theoretische Fragment Das untergehende Vaterland ... wird in den Empedokles-Kontext integriert. Die Anordnung der Texte folgt häufig einem teleologischen Prinzip, d. h. Vorstufen werden der Endfassung zugeordnet, beim Hyperion folgen die – nicht ganz vollständigen – Vorstufen dem Romantext. Die Verserzählung Emilie vor ihrem Brauttag ist zwischen dem Empedokles und den poetologischen Fragmenten versteckt. Aus den späten Entwürfen werden einzelne Komplexe herauspräpariert, der Rest in ein eigenes, fast unkommentiertes Kapitel verortet; Schmidt teilt hier die auf Ganzheit zielende Vollendungsästhetik seines Lehrers Beißner. Die Briefe H.s werden vollständig, die an ihn nur in einer Auswahl separat wiedergegeben. Ob das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus in eine H.-Ausgabe gehört, darf mittlerweile als umstritten gelten. Schmidt ediert den Text gemäß den Richtlinien des Klassiker-Verlages in modernisierter Orthographie; zwar kann man nicht von einer spezifisch H.schen Orthographie ausgehen, andererseits bleibt die Rekonstruktion des »originalen Lautstandes« ein spekulatives Konstrukt. Sehr ausführlich und von großer Gelehrsamkeit, wenn auch nicht immer ausgeglichen ponderiert, ist der inhaltliche Kommentar, so-
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wohl in den z. T. essayartigen Überblicks- als auch in den Stellenkommentaren. Der Schwerpunkt liegt weniger auf der kontemporären Einbettung als auf stoischen, neuplatonischen, pietistischen und poetologischen Traditionslinien und einem genieästhetisch grundierten Interesse am Schaffensprozess. Der Kommentar bietet dezidiert Interpretationen an. Bei den Übersetzungen wird eine mögliche ästhetische Perspektive der traditionellen Fehlerphilologie geopfert. 2001 erschien in der Meridiani-Reihe Luigi Reitani’s Edition und Übersetzung »Sämtlicher Gedichte« H.s (Tutte le Liriche. Edizione trad. e comm. e revisione del testo critico tedesco a Luigi Reitani, Mailand 2001). Dieser Band bietet nicht allein eine maßstabsetzende Übersetzung sämtlicher Gedichte H.s ins Italienische, sondern zugleich eine eigenständige Edition des der Übersetzung jeweils zugrundeliegenden Textes. Unterschieden wird zwischen zu H.s Lebzeiten veröffentlichten Gedichten (angefangen vom Musenalmanach fürs Jahr 1792 bis zum Musenalmanach für das Jahr 1808) und den Gedichten aus dem Nachlass, die nach der Abfolge ihrer Überlieferungsträger ediert werden. Leitendes – und von den skizzierten Eigenarten vieler deutschsprachiger sich unterscheidendes – Prinzip ist es, dass es nicht »die Aufgabe des Herausgebers sein kann, das, was H. nicht hat zu Ende bringen wollen oder können, ›fertigzustellen‹ [...]« (Tutte le Liriche, CXXIV). Nach dieser Maßgabe bietet Reitanis Edition einen Text, der beispielsweise beim Homburger Folioheft zu Vorschlägen kommt, die neben den deutschen Editionen sehr eigenständig zu bestehen vermögen. Vervollständigt wird diese editorische Leistung durch eine mehr als 600 Seiten umfassende Kommentierung. Zu Tutte le Liriche kam 2019 der Band Prose, Teatro e Lettere (a cura e con un saggio introduttivo di Luigi Reitani. Trad. di Mauro Bozzetti, Elsbeth Gut-Bozzetti, Andreina Lavagetto, Cesare Lievi, Adele Netti, Luigi Reitani, Mailand 2019) hinzu: mit den Übersetzungen des Hyperion (mit allen Vorstufen, Fragmenten, ...), des Empedokles (einschl. aller zu diesem Projekt gehörenden Texte, die drei Fassungen/Entwürfe von Reitani neu ediert und zweisprachig), der Theoretischen Schriften (mit den SophoklesAnmerkungen und den Pindar-Fragmenten) sowie der Briefe (gegenüber den deutschsprachigen Ausgaben mit in mancher Hinsicht, insbes. bei den Turmbriefen, neuer Chronologie). Den 1259 Seiten Prosa, Theater und Briefe hat Reitani (einschl. bibliographischer Hinweise) 500 Seiten Kommentar und Anmerkungen angedeihen lassen. Hätte es nicht die Umfangsgrenzen gesprengt, auch H.s eigene Übersetzungen in die Edi-
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tion aufzunehmen (vgl. Prosa, ..., CXXXV), läge eine Gesamtausgabe vor, die den deutschsprachigen an die Seite zu stellen ist. Zweifellos haben Reitanis italienische H.-Ausgabe und die in sie eingeflossenen Arbeitszusammenhänge einen ganz wesentlichen Anteil an der singulären Rezeption, die H. in Italien erfahren hat und erfährt (s. Kap. 49). In jüngster Zeit zeichnet sich schließlich die Tendenz ab, Texte H.s, die eine besonders komplexe editorische Herausforderung mit sich bringen, einzeln zu edieren – so Brod und Wein/Die Nacht in: Wolfram Groddeck, H.s. Elegie Brod und Wein oder Die Nacht, Frankfurt a. M. 2012 (288–321); Der Ister in: Felix Christen, Das Jetzt der Lektüre. Zur Edition und Deutung von F. H.s Ister-Entwürfen, Frankfurt a. M. 2013 (64–91). Literatur Allgemein
Bothe, Henning: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«. Die Rezeption H.s von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992. Volke, Werner/Bruno Pieger/Nils Kahlefeld/Dieter Burdorf: H. entdecken. Lesarten 1826–1993 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 17), Tübingen 1993. Waleczek, Lioba: »Doch Vergangenes ist, wie künftiges heilig ...«. Zur Editionsproblematik der Stuttgarter und Frankfurter H.-Ausgabe, Baden-Baden 1994. Zeller, Hans: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition, in: Martens, Gunter/Hans Zeller (Hg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München 1971, 45–90.
zu 19. Jh.
Kohler, Maria: Geschichte der H.-Drucke. Ausgaben, Handschriften, Dokumente, Tübingen 1961. Steimer, Hans Gerhard (Hg.): Gustav Schlesier. H.-Aufzeichnungen, Weimar 2002.
zu Zinkernagel/Hellingrath
Hoffmann, Paul: Hellingraths ›dichterische‹ Rezeption H.s, in: Kurz, Gerhard/Valérie Lawitschka/Jürgen Wertheimer (Hg.): H. und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, 75–104. Kaulen, Heinrich: Der unbestechliche Philologe. Zum Gedächtnis Norbert von Hellingraths (1888–1916), in: HJb 27 (1991/92), 182–209. F. H., Kritisch-historische Ausgabe von Franz Zinkernagel. 1914–1926. Werkteil Gedichte. Lesarten und Erläuterungen mit dem Text hg. v. H. G. Steimer. I. Herausgeberbericht, II. Edition auf CD, Göttingen 2019.
zu Große Stuttgarter Ausgabe
Allemann, Beda: Rezension der Großen Stuttgarter Ausgabe Bd. 2, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 69 (1957/58), 75–82.
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I Druckgeschichte
Beißner, Friedrich: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 83 (1964), 72–96. Beißner, Friedrich: Aus der Werkstatt der Stuttgarter H.Ausgabe, in: Ders.: H. Reden und Aufsätze, Weimar 21969, 251–265.
zu Frankfurter Hölderlin-Ausgabe
Groddeck, Wolfram: Über Methode. Entgegnung auf D. Uffhausens Rezension des Elegienbandes, in: Le pauvre Holterling 3 (1978), 35–54. Groddeck, Wolfram/Gunter Martens/Roland Reuß/Peter Staengle: Gespräch über die Bände 7 & 8 der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, in: Text. Kritische Beiträge 8 (2003), 1–55. Martens, Gunter: Texte ohne Varianten? Überlegungen zur Bedeutung der Frankfurter H.-Ausgabe in der gegenwärtigen Situation der Editionsphilologie, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), 43–64. Sattler, D[ietrich] E[berhard]: F. H., ›Frankfurter Ausgabe‹. Editionsprinzipien und Editionsmodell, in: HJb 19/20 (1975/77), 112–130. Sattler, D[ietrich] E[berhard]/Wolfram Groddeck: Frankfurter H.-Ausgabe. Vorläufiger Editionsbericht, in: Le pauvre Holterling, Frankfurt a. M. 1978, 5–19. Thurmair, Gregor: Anmerkungen zur Frankfurter H.-Ausgabe, in: HJb 22 (1980–1981), 371–389. Wackwitz, Stephan: Text als Mythos. Zur Frankfurter H.Ausgabe und ihrer Rezeption, in: Merkur 44 (1990), 134– 143.
zu Neuere Ausgaben
Burdorf, Dieter: Wie über H.s Spätwerk zu reden sei. Bemerkungen zur publizistischen Praxis Dietrich Uffhausens, in: Beyer, Uwe (Hg.): Neue Wege zu H., Würzburg 1994, 347– 359. Gaier, Ulrich/Gerhard Kurz/Bernhard Böschenstein: Rezension der H.-Ausgaben von Michael Knaupp und Jochen Schmidt, in: HJb 29 (1994/95), 299–319. Grätz, Katharina: Der Weg zum Lesetext. Editionskritik und Neuedition von F. H.s Der Tod des Empedokles, Tübingen 1995. Groddeck, Wolfram: Über die »neu zu entdeckende Spätdichtung« H.s. oder: »Bevestigter Gesang« in ruinöser Edition, in: HJb 27 (1990/91), 296–313. Groddeck, Wolfram: H.: Neue (und alte) Lesetexte. Oder vom Eigensinn der Überlieferung, in: Text. Kritische Beiträge 1 (1995), 61–76. Knaupp, Michael: Rezension von F. H., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt, in: Arbitrium 13 (1995), 223– 227. Pieger, Bruno: H.-Ausgaben – aus der Perspektive eines Lesers, in: Fricker, Christophe/Bruno Pieger (Hg.): F. H., zu seiner Dichtung, 266–267, Amsterdam 2005, 154–180. Schmidt, Jochen: Rezension von F. H., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp, in: Arbitrium 13 (1995), 216–223.
Stefan Metzger / Johann Kreuzer (akt.)
II Zeit und Person
2 Epoche 2.1 Französische Revolution Die Französische Revolution von 1789 mit ihren bis heute gültigen Grundwerten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ist das Epoche machende Ereignis, das Veränderungen und Umwälzungen in ganz Europa zur Folge hat. Alle Augen in Europa sind auf Frankreich gerichtet. Die einschneidenden Wirkungen der französischen Staatsumwälzung auf Deutschland werden mit Spannung verfolgt. Der Sohn der Französischen Revolution, Napoleon Bonaparte, steht im Zentrum, er wird die Geschicke Europas und die Geschichte Württembergs bestimmen. »Mais, c’est une révolte?« – »Non, Sire, c’est une révolution!« Diese Antwort bekam Ludwig XVI. (1754– 1793) am Abend des 14. Juli 1789 in Versailles auf seine Frage. Die Bastille war gestürmt, der Gouverneur umgebracht worden. »Schluss mit der Monarchie! Schluss mit den Tyrannen!«, war die Parole, die das Ende des Ancien Régime besiegelte. Die große Hungersnot bei ständig steigenden Brotpreisen und soziale Ungerechtigkeit waren die Triebfedern für die aufständischen Bauern (Dritter Stand = »Tiers État«), die damals rund ein Fünftel der Bevölkerung ausmachten. Drei Phasen der Französischen Revolution sind zu unterscheiden: In der 1. Phase (1789–1791) soll die vom König für Mai 1789 zum ersten Mal nach 174 Jahren einberufene Nationalversammlung (Vertreter der drei Stände: Klerus, Adel, Dritter Stand) eine konstitutionelle Monarchie begründen mit dem Modell einer Gewaltenteilung nach Montesquieu. Nach ihrer Eröffnung bestand der Dritte Stand auf einer Wahlkontrolle aller Abgeordneten, gegen die sich die beiden anderen Stände zunächst wehrten. Doch bereits im Juni erklärten sich mehr als 80 % der 491 Abgeordneten zugunsten der Nationalversammlung, welche die alte Ständeordnung aufgab und zur Vertretung der ganzen französischen Nation wurde. Mit der Gesetzgebenden Nationalversammlung war ein modernes Parlament geschaffen, eines der ersten in Europa. Am 26. August 1789 proklamierte die Nationalversammlung, gegen den Willen des Königs, die »Erklärung der Menschenund Bürgerrechte«. Eingebracht von La Fayette (1757–
1834), der am amerikanischen Freiheitskrieg teilgenommen hatte, wurden sie in die neue Verfassung aufgenommen, die in Zukunft für Demokratie und Freiheit stehen sollten. In dieser Anfangszeit des Umsturzes entstanden ungezählte ikonographische Abbildungen, allegorische Darstellungen, Karikaturen, Rebusse, Gesellschaftsspiele, gar das »Revolutions-Gänsespiel« von 1791, das in der Tradition des »Hühnerspiels von Heinrich IV.« steht – allesamt didaktische Mittel mit dem Ziel, über die politisch-sozialen Missstände aufzuklären und das Wissen um die aktuellen zeitgeschichtlichen Vorgänge zu verbreiten. Die 2. Phase (1792–1794) kennzeichnet die Erarbeitung einer neuen Verfassung durch den Nationalkonvent, der zur Schreckensherrschaft (»terreur« = Schrecken) unter Robespierre (1758–1794) und SaintJust (1767–1794) führte. Nachdem am 20. August 1792 Pariser Volksmassen die Tuilerien gestürmt hatten und die Abschaffung der Monarchie forderten, berief die Nationalversammlung einen Nationalkonvent ein, der Erstere ablöste. Einen Monat später, am 22. September wurde die Monarchie abgeschafft – Ludwig XVI. und später seine Gemahlin Marie-Antoinette wurden im Jahr danach hingerichtet –, die Erste Republik ausgerufen und als 1. Tag des Jahres I bestimmt. Eine neue Zeitrechnung, der sogenannte Revolutionskalender mit neuen Monatsnamen (die Monate des Herbstes endeten auf -aire, des Winters auf -ôse, des Frühjahrs auf -al, des Sommers auf -idor), einem Zehn-Tage-Zyklus und einer Zehn-Stunden-Einteilung wurde eingeführt, Maße, Münzen, Gewichte auf das Dezimalsystem umgestellt. Das bedeutete nicht zuletzt eine Herausforderung an die Uhrenhersteller – die innere Skala der Uhren zeigte das alte System, die äußere das Dezimalsystem –, doch schon 1795 wurde auf die dezimale Tageseinteilung verzichtet, da sie alle Uhren unbrauchbar gemacht hatte. Ursprünglich als legislative Versammlung einberufen, bekam der Nationalkonvent immer mehr exekutive Gewalt. Gestützt auf die Ideen Rousseaus, der die Unterordnung des Individuums unter den allgemeinen Willen (»volonté générale«) forderte, wurde das Modell einer Gewaltenteilung aufgegeben. Der Konvent bestand aus rund 750 Mitgliedern bei rasch wechselnder Anzahl (vertreten waren fast anteilig Ja-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_2
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II Zeit und Person
kobiner und Girondisten mit 150 Abgeordneten und rund 450 Unabhängige; die Zahl der Abstimmenden lag in der Regel bei 250. Als Tagungsort bezog er einen großen Saal im Théâtre des Tuileries, der Tribünen für die Öffentlichkeit hatte, die die Sitzungen mit entsprechenden Zurufen begleitete. Dem Konvent oblag die Kontrolle der Regierung und die Verteidigung der Revolution nach innen und außen (Kuhn 2009, 103). Ein Revolutionstribunal wurde eingeführt. Für bestimmte Aufgaben setzte der Konvent Ausschüsse ein, unter anderem den berüchtigten Wohlfahrtsausschuss von zwölf Mitgliedern, der zur jakobinischen Schreckensherrschaft (vom 20. September 1793 bis 27. Juli 1794) unter Robespierre und Saint-Just führte und mit deren Guillotinierung endete. Der Konvent hatte am 5. September 1793 als Reaktion auf den Mai/ Juni-Aufstand der Pariser Arbeiter und Kleinbürger (»Sansculottes«, da sie im Gegensatz zu den Adligen keine Kniehosen (»Culottes«), sondern lange Hosen trugen) die Einführung von Terrormaßnahmen beschlossen. Damit sollten jegliche gegenrevolutionäre Aktivitäten unterdrückt werden. Mit über 21.000 Überwachungsausschüssen in ganz Frankreich forderte die Terreur an die 40.000 Todesopfer – allein Carrier verantwortete 16.000 durch die Ertränkungen (»Noyaden«) in Nantes: Royalisten, Republikaner, Girondisten (u. a. Brissot, Vergniaud, Guadet) wurden gezielt verfolgt und hingerichtet, bis schließlich auch die gemäßigten Jakobiner (Hébert und Danton) und die radikalen Jakobiner zu Fall kamen. Besonders erwähnt sei die Schriftstellerin und Politikerin Olympe de Gouges (1748–1793). Sie hatte schon früh durch ihre Denkschrift gegen die Sklaverei Aufmerksamkeit erregt, und als die »Menschen- und Bürgerrechte« erklärt wurden, die implizit nur für Männer galten, die »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« verfasst und diese Rechte gefordert. (Bezüglich des Wahlrechts ließ die »Gleichheit« lange auf sich warten. Das allgemeine Wahlrecht für Frauen wurde in Deutschland 1918 eingeführt, in Frankreich 1944, in der Schweiz 1971 und in dem Schweizer Halbkanton Appenzell-Innerhoden gar erst 1990.) Im Oktober 1795 wurde der Konvent aufgelöst. Die 3. Phase bildet die Zeit des Direktoriums (1795– 1799). Ein Zweikammersystem wird eingeführt, bestehend aus dem Rat der Fünfhundert und dem Rat der Alten. Aus letzterem wird ein fünfköpfiges Gremium gewählt, bei dem die Exekutive liegt. Sieben Direktorien in Folge amtieren mit ganz unterschiedlicher Dauer (von einem Jahr bis zu drei Tagen). Bereits in den letzten drei saß Emmanuel-Joseph Sieyès (1748–
1836), der wesentlich zur Machtergreifung durch Bonaparte beitrug. Nach dem Staatsstreich des 18. Fructidor V (4. September 1797) wurde ein Triumvirat gebildet. Durch den Staatsstreich Bonapartes am 18. Brumaire VIII (9. November 1799) wird das korrupt gewordene Direktorium gestürzt, Bonaparte zum Ersten Konsul gewählt, die beiden Direktoriumsmitglieder Sieyès und Paul Duclos werden Mitkonsuln. Am 24. Dezember 1799 trat die Konsulatsverfassung in Kraft. Dieses Datum gilt als das Ende der Französischen Revolution. Bonaparte erklärte (Kuhn 1999, 150): »Bürger, die Revolution ist auf die Grundsätze gebracht, von denen sie ausgegangen ist; sie ist beendet.« Mitten in diese aufregende Zeit wird H. hineingeboren. Wie viele seiner Generation ist er nicht nur ein genauer Beobachter der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, sondern begeisterte sich auch für die Ideen der Französischen Revolution, die aus dem Geist der Aufklärung kamen, verband er doch damit die Hoffnung auf eine Veränderung der »Regierungsform« (StA 6, 74) im eigenen Land. Im Verlauf der Revolution reagierte H. immer wieder brieflich auf die Geschehnisse in Frankreich. Er habe sich »vom großen Jean Jacque [...] ein wenig über Menschenrecht belehren lassen« (StA 6, 70), schreibt er im November 1791 aus dem Stift an den Bruder. Diese Beschäftigung könnte durchaus der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« geschuldet sein. Im Ersten Koalitionskrieg nimmt er Partei für Frankreich: Wir »kriegen schlimme Zeit, wenn die Oestreicher gewinnen«, warnt er die Schwester, prangert den »Misbrauch fürstlicher Gewalt« an und hält die Franzosen für »die Verfechter der menschlichen Rechte.« (BR 20. August 1792, StA 6, 77) Wiewohl er gleichzeitig gegenüber der Mutter auf den angestammten, eigentlich privilegierten Rechten der württembergischen Ehrbarkeit besteht, zu der er ja gehört (StA 6, 82), begrüßt er enthusiastisch den Sieg der Revolutionsarmee. Mit der zustimmenden Formulierung »Gut u. Blut seinem Vaterlande zu opfern« (StA 6, 82), lehnt er sich sicherlich an die Verse in Schillers Ode an die Freude von 1785 an. In diesen Kontext gehört wohl auch H.s Ode Der Tod fürs Vaterland, die mit den beiden Schlussversen »Und zähle nicht die Todten! Dir ist,/ Liebes! nicht einer zu viel gefallen.« (StA 1, 299) Zündstoff für politische Diskussionen bis heute liefern. Allerdings ist es in H.s Werk bei dieser einen heroischen Verklärung des Sterbens fürs Vaterland geblieben. Im ersten handschriftlichen Entwurf von 1796, überschrieben mit dem Titel Die Schlacht, herrscht noch ein ganz anderer Tenor in den Versen –
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wohl den Verkauf der Landeskinder durch den Fürsten im Blick, der auf diese Weise seinen Repräsentationsaufwand finanzierte – »das fromme Herz des Kinds betrogen,/ Wie ein zahmes Thier, zum Dienste gebraucht.« (StA 1, 605) Zum Jahrestag der Ausrufung der Republik, Festivitäten erwartend, schreibt er an den Bruder: »Es hängt an einer Haarspize, ob Frankreich zu Grunde gehen soll, oder ein großer Staat werden?« (StA 6, 85) Doch als im Juli 1793 die Jakobinerherrschaft systematisch die gemäßigten Girondisten verfolgt und guillotiniert, schreibt er, ohne Zweifel erleichtert, dass nun »Marat, der schändliche Tyrann, ermordet ist« und prophezeit »den übrigen Volksschändern«, den Jakobinern, »zu seiner Zeit den Lohn ihrer niedrigen Ränke und unmenschlichen Entwürfe« (StA 6, 88). Er fürchtet nicht zu Unrecht um das Schicksal Brissots, der »warscheinlich ein Opfer seiner niedrigen Feinde« (ebd.) werde. Drei Monate später erkundigt er sich beim Bruder nach dem »Schiksaale der Deputirten Guadet, Vergniaud, Brissot p. p.«, das ihn »oft bitter« mache. (StA 6, 95 f.) Als »politisches Glaubensbekenntnis« (T 1.2, 356) dürfen seine Ausführungen im Brief an den Bruder vom September 1793 gelten: »Ich hange nicht mer so warm an einzelnen Menschen. Meine Liebe ist das Menschengeschlecht, freilich nicht das verdorbene, knechtische, träge, wie wir es nur zu oft finden [...]. Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn diß ist meine seeligste Hofnung, der Glaube, der mich stark erhält und tätig, unsere Enkel werden besser sein, als wir, die Freiheit muß einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmenden Licht, als unter der eiskalten Zone des Despotismus.« Sein Programm zielt auf »Bildung, Besserung des Menschengeschlechts« (StA, 6, 92 f.). An den revolutionsbegeisterten Arzt und Naturforscher Johann Gottfried Ebel (1764–1830), der nach Frankreich ging und enttäuscht über die Verhältnisse dort berichtet, schreibt H. im Januar 1797: »Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird. Und dazu kann Deutschland vieleicht sehr viel beitragen. Je stiller ein Staat aufwächst, um so herrlicher wird er, wenn er zur Reife kömmt.« (StA 6, 229) Neueste Nachrichten kamen ins Tübinger Stift aus dem in Frankreich gelegenen Mömpelgard (Montbéliard), seit 1397 Grafschaft Württembergs (von den Franzosen 1793 besetzt, gehört sie seit 1802 wieder zu Frankreich). Jeweils sechs Studienplätze im Stift waren für die Mömpelgarder Alumnen bestimmt.
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Wichtigste Nachrichtenquelle waren die französischen Zeitungen, die es bis zu einer Tagesauflage von rund 150.000 Exemplaren brachten. Über 200 Zeitungen erschienen, darunter Révolutions de Paris von Prudhomme und die Tageszeitung Patriote Français von Brissot. Die gängige Meinung, H. habe sehr bald eine ablehnende Haltung gegenüber der Französischen Revolution eingenommen, identifiziert seine Einschätzung mit den Äußerungen über Marat (»der schändliche Tyrann«, StA 6, 88) und Bonaparte: durch den Staatsstreich des 18. Brumaire sei er »eine Art von Dictator geworden« (StA 6, 374). Link (H. – Rousseau, 1999) hat jüngst darauf hingewiesen, dass vor dem Hintergrund von Rousseaus Contrat social, insbesondere des Kapitels De la dictature, das Wort ›Diktator‹ keineswegs nur pejorativen Sinn habe. Festzustellen ist, dass es über H.s Begeisterung für Bonaparte vor dem 18. Brumaire keinen Zweifel gibt, und dass er an den republikanischen Zielen der Revolution trotz seiner Enttäuschung über die Ereignisse in Paris – »Ihr Urtheil über Paris ist mir sehr nahe gegangen«, schreibt er im November 1799 an Ebel (StA 6, 378) – festgehalten hat. Bonaparte – Napoleon »Napoleone Buonaparte« verzeichnet das Taufregister den am 15. August 1769 in Ajaccio geborenen Korsen, der eine fulminante Laufbahn durchlief und als Sohn der Französischen Revolution zum Ersten Kaiser der Franzosen wurde. (Ullrich 2004, 35) Wie kam es zu diesem Aufstieg, wie wurde aus Bonaparte Napoleon? Die Familie gehörte dem Kleinadel Korsikas an. Als zweites von dreizehn Kindern geboren, erreichte der Vater Carlo Maria Buonaparte, Jurist und Sekretär von Pascal Paoli, der für die Unabhängigkeit Korsikas – die Insel war 1768 von Genua an Frankreich verkauft worden – gekämpft hatte, für seinen Sohn ein königliches Stipendium auf dem Festland mit dem Ziel, die Militärlaufbahn einzuschlagen. Nach dem Collège von Autun besuchte er die Kadettenschule von Brienne und wurde 1784 in die Königliche Militärschule in Paris aufgenommen. Aufgrund seiner herausragenden Leistungen erhielt er vorzeitig, mit kaum 16 Jahren, das Offizierspatent. Verschiedene Dienste in der Armee unterbrach er durch Aufenthalte in Korsika, bei denen er politisch aktiv war. Er begrüßte die Revolution, erhoffte er sich doch die Befreiung Korsikas. Mehrmals überzogener Urlaub brachte ihm den Ausschluss aus der Armee ein. Doch als er 1792 in sein Regiment zurückkehrte, wurde er aus Mangel an Offizieren zum
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Hauptmann ernannt. Er schloss sich den Jakobinern unter Robespierre an. Mit dem Ende der Terreur war auch seine Karriere in Frage gestellt. Nun versuchte er Kontakt aufzunehmen mit den neuen Machthabern, den Thermidorianern um Paul de Barras, die Robespierre gestürzt hatten. Das gelang ihm, und auch auf privater Ebene durch die Heirat mit Joséphine Beauharnais kam er wieder in Regierungskreise, und nachdem er einen Pariser Aufstand von rechts niederschlagen konnte, wurde er mit dem Generalstitel belohnt. In der Zeit des Nationalkonvents brach der Erste Koalitionskrieg aus (1792–1797). Die europäischen Staaten beobachteten mit zunehmender Sorge das Geschehen in Frankreich und sahen das Gleichgewicht der Mächte durch die Französische Revolution gestört. Dort machte sich ein Eroberungswille breit, indem die päpstlichen Besitzungen Avignon und Venaissin annektiert wurden. Infolge der Abschaffung der Privilegien waren auch Besitzungen der deutschen Reichsstände im Elsass betroffen. Dadurch sah man die völkerrechtlichen Vereinbarungen verletzt, die im Westfälischen Frieden (1648), der das Ende des Dreißigjährigen Krieges besiegelt hatte, garantiert worden waren. Die Bestrebungen, ein Bündnis zu bilden, waren seit dem gescheiterten Fluchtversuch des Königspaares im Gange. Das Bündnis verfolgte das Ziel, die Monarchie in Frankreich wiederherzustellen und die Ausbreitung der Ideen der Französischen Revolution zu verhindern. Nach der Ermordung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 schlossen sich nahezu alle europäischen Staaten zu einer Koalition zusammen. Daraufhin erklärte der französische Nationalkonvent am 1. Februar 1793 Österreich und Preußen den Krieg. Eine Revolutionsarmee wurde gebildet und die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Kriegshandlungen an allen Grenzen, Eroberungen und Niederlagen auf beiden Seiten führten zum Frieden von Basel, wonach Preußen, gefolgt von allen Staaten Nord- und Mitteldeutschlands sowie Spanien die Koalition verließen. Der Krieg gegen England und Österreich wurde in der Zeit des Direktoriums fortgesetzt. Carnot (1753– 1823), in den ersten beiden Jahren Direktoriumsmitglied, konnte ein Heer von 850.000 Mann zusammenstellen. Durch Eroberungen und Kontributionen erhoffte man, die notorisch schlechte Finanzlage des Staates zu sanieren. Als Oberbefehlshaber erhielt Bonaparte das Kommando über den Italienfeldzug (März 1796 bis Oktober 1797). Siegreich aus Italien zurückgekehrt, begann seine beispiellose militärische Karriere.
Seit dem Frieden von Campo Formio (17.10.1797) galt er als Friedensbringer. Seine Proklamation vom 21. Brumaire VI (11.11.1797) löste Bewunderung aus: Es ist das politische Versprechen einer republikanischen Unabhängigkeit für Italien – später wieder Thema bei der Consulta in Lyon (Januar 1802). Kurz nach dem Friedensschluss von Campo Formio wurde Bonaparte durch das Direktorium (26.10.1797) Bevollmächtigter der Republik. Am 26. November, zwei Tage vor dem Beginn des Kongresses, ist er selber in Rastatt. General Moreau hatte hier ein Jahr zuvor, im Juli 1796, Erzherzog Karl besiegt. Bonaparte empfing die Gesandten der verschiedenen Staaten. Die Österreicher hatten ihren Verbündeten die an Frankreich erteilten Konzessionen bezüglich der Abtretung der linksrheinischen Gebiete verheimlicht. Die deutschen Fürsten hofften, Entschädigungen aushandeln zu können – Säkularisation von kirchlichen Gütern standen zur Debatte. Österreich zeigte offenbar keine Eile in den Verhandlungen und machte sich zum Verteidiger der Interessen des Vatikans. Der Kongress schien sich in die Länge zu ziehen, was Bonaparte möglicherweise ahnte. Er blieb sechs Tage und verhandelte unablässig. Österreich und Frankreich warfen sich gegenseitig Habgier und Egoismus vor. Die Österreicher trafen am 28. November 1797 ein. Bonaparte, nach Paris zurückgerufen, verließ den Kongress am 2. Dezember. Sein Nachfolger wird Direktoriumsmitglied Jean Baptiste Treilhard. Im Frühjahr 1798 unternahm Bonaparte mit Zustimmung des Direktoriums eine Expedition nach Ägypten. Die Ziele dieses Ägyptenfeldzugs (1798–1801) waren zum einen, aus Ägypten eine französische Provinz zu machen, zum anderen, die Vormachtstellung Englands im Mittelmeer zu brechen, das vom Meer aus den Krieg gegen Frankreich weiterführte und sich in den Besitz spanischer und französischer Kolonien brachte. Als Zweite Koalition traten Österreich, Russland, Neapel und England dem Hegemonialanspruch Bonapartes entgegen. Seine Flotte wurde in der Seeschlacht von Abukir von Admiral Nelson vernichtet. Bonaparte übertrug das Kommando General Kléber und kehrte kurz vor dem Staatsstreich des 18. Brumaire VIII (9.11.1799), der zusammen mit dem späteren Außenminister Talleyrand vorbereitet worden war, nach Frankreich zurück. Obwohl die Expedition eine komplette Niederlage war, wurde sie als Erfolg gewertet. Bonaparte war mit einer Armee von 36.000 Mann und rund 170 Wissenschaftlern, Künstlern und Reportern nach Ägypten gezogen. In Kairo gründete er das Institut d’Égypte, das auf großes Interesse in
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ganz Europa stieß; damit war der Grundstein für die spätere Ägyptologie gelegt. Schon hier betrieb Bonaparte gezielt mittels seiner Berichterstatter die Stilisierung als Machthaber nach dem Vorbild Alexanders des Großen. Nicht nur in Ägypten kam es zum Kunstraub im großen Stil. Auch bei allen anderen Eroberungskriegen, vor allem in Italien, waren die jeweiligen nationalen Kunstbestände Teil der Friedensverhandlungen. Auf diese Weise wurde der Louvre in Paris (von 1803– 1814 in Musée Napoléon umbenannt) zum einzigartigen Museum. Hier wird H. im Mai 1802 die »Antiquen« (StA 6, 432) bewundern. Bei seiner Rückkehr nach Paris wurde Bonaparte mit einer Freiheitshymne empfangen und als Friedensstifter und Retter der Errungenschaften der Revolution gefeiert. Seine Rede galt vor allem besseren Gesetzen. Dies beunruhigte die Liberalen; dennoch wurde er in das sogenannte Institut gewählt (25.12.1797), einem Zusammenschluss der aufgeklärten und enzyklopädischen Philosophie des Jahrhunderts. Dies ermöglichte ihm den entsprechenden Zugang zu den Regierungskreisen. In dieser Zeit hatte sich seine Anschauung über Staatsführung bereits geändert. Die Veränderung war sehr wohl wahrgenommen worden, und die Frage erhob sich: Wollte Bonaparte die Macht ergreifen? Ein Diktator, der die Direktoriumsmitglieder zu seinen Ministern machen würde? Die ihm angebotene Führung der deutschen Armee schlug er aus, er blieb Hauptkommandant der englischen mit dem Plan, entweder Hannover oder Ägypten zu erobern. Nachdem Bonaparte nach Ägypten aufgebrochen war, geriet Frankreich zunehmend in eine weniger günstige Phase. Die zum Schutz gegründeten Schwesternrepubliken konnten ihre Aufgabe nicht wahrnehmen. Am 6. Juli 1798 brach Österreich die Verhandlungen auf dem Kongress ab, der Krieg brach wieder los. Die Alliierten hatten doppelt soviel Truppen (320.000 Mann) wie die Franzosen. Die Franzosen baten den Kongress um rechtsrheinische Brückenköpfe, was gewährt wurde. Ferner erbat das Direktorium Hilfe gegen den Durchzug der Russen, die von der Ostsee her zu den verbündeten Österreichern vorstoßen wollten. Der Verweis auf den Regensburger Reichstag war für Frankreich ein casus belli. Am 1. März 1799 kam Jourdan bei Mainz über den Rhein; Bernadotte bei Speyer. Frankreich musste etliche Niederlagen hinnehmen. Der Rastatter Kongress löste sich am 23. April 1799 auf. Auch innenpolitisch sah sich Frankreich in einer schwierigen Lage. Das Direktorium wollte einen stän-
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digen Präsidenten, um ein besseres Instrument der Kontrolle zu haben. Der Ruf nach einem neuen Machthaber setzt sich durch: die Macht eines einzigen, eines aus der Revolution kommenden Diktators oder eines republikanischen Generals? Joubert, der dafür in Frage kam, wurde in Novi von den Russen geschlagen; er starb am 15.8.1799. Der ehemalige Stiftler Reinhard schrieb als Außenminister Frankreichs an Bonaparte, er solle mit seinem ganzen Heer zurückkommen. Bonaparte landet am 12.10.1799 in Fréjus, über Korsika kommend. In Paris wird er als Großpazifikator gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich bereits in den Vorbereitungen zum Staatsstreich. Am 10. November 1799 ist er Erster Konsul. Das Ende der ersten französischen Republik ist damit besiegelt. Unmittelbar nach dem Staatsstreich schickte Bonaparte General Duroc nach Berlin. Damit sind erste Schritte zum Frieden in Lunéville getan. Österreich hält Bonaparte nicht für der Lage gewachsen und unterschätzt dabei dessen starke Position in der Schweiz. Moreau siegt in Meßkirch, Gouvion Saint-Cyr in Biberach, Lecourbe in Memmingen und Nördlingen, Bonaparte in Marengo. Ein Teil Schwabens und Bayern gerät so unter französische Kontrolle. Im Frieden von Lunéville (Februar 1801) einigen sich Frankreich und Österreich: Österreich erkennt darin die französische Präsenz in Piemont, in der Lombardei und in Ligurien an, sowie in der batavischen und in der helvetischen Republik. Am 21. Februar 1801 leitet der Staatssekretär Hawkesbury die Friedenverhandlungen von Amiens ein. Durch den Frieden von Amiens im März 1802 war die Zweite Koalition und der Krieg zwischen Frankreich und England beendet. Bonaparte blieb bis 1804 Erster Konsul der Republik, zwei Jahre zuvor war er als Konsul auf Lebenszeit bestimmt worden. Als ihm durch Senat und Volksabstimmung die Kaiserwürde angetragen wurde, krönte er sich selbst am 2. Dezember 1804 in der Kathedrale von Notre-Dame in Paris zum Kaiser Napoleon I. Papst Pius VII. wohnte der Zeremonie bei, doch signalisierte Napoleon durch diesen Akt, dass die Kaiserwürde nicht mehr von Gottes Gnaden sei. Innenpolitisch sorgte er für Maßnahmen, die bis heute Gültigkeit haben: Der »Code Civil«, das Gesetzbuch für Zivilrecht, auch unter dem Namen »Code Napoléon« bekannt, ist ein juristisches Werk der Neuzeit. Reformen im religiösen, ökonomischen, sozialen sowie im administrativen Bereich wurden vorbildlich für andere europäische Staaten. Die Politik des Souveräns bewirkte auch die Aufhebung der Kleinstaaterei im Südwesten Deutschlands. Religi-
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onsfreiheit sollte auch für die jüdische Bevölkerung gelten, die seit 1791 das Bürgerrecht hatte, das gerade mal 17 Jahre währte. Napoleons gespaltene Haltung in der Judenfrage und die antisemitische Haltung der Christen, die ihn mit Beschwerden bestürmten, bewirkte die Aufhebung dieses Rechts. Mit der Einführung des »Code noir« 1802, dekretiert 1685 von Ludwig XIV., hebt Napoleon den Beschluss des Nationalkonvents von 1794, der die Sklaverei und den Sklavenhandel in den französischen Kolonien abschaffte, wieder auf. Erst 1848 wurde die Sklaverei endgültig abgeschafft. Der Entwicklung des optischen Telegraphen, erfunden von Claude Chappe (1763–1805) hatte bereits die Nationalversammlung zugestimmt; unter Bonaparte wurde das Instrument, ein erstes System der Telekommunikation, zur raschen Nachrichtenübermittlung militärisch genutzt. Infolge weiterer Königskrönungen und der Expansionsbestrebungen Napoleons brach der Dritte Koalitionskrieg (1805/06) los. England und Russland verbündeten sich, Schweden und Österreich folgten. In der Seeschlacht von Trafalgar, unweit von Gibraltar, erlitt Frankreich durch Nelsons Flotte infolge einer geschickten Kriegsführung eine verheerende Niederlage. Dieser Sieg bedeutete für England die Konsolidierung seiner Vorherrschaft zur See für rund hundert Jahre. Napoleon gab den Gedanken an eine Invasion in England und den britischen Inseln auf und konzentrierte sich auf die Expansion auf dem Festland. Gegen Großbritannien und dessen Kolonien verhängte er mit der Kontinentalsperre eine europaweite Wirtschaftsblockade. Nach Kriegshandlungen und Einzelerfolgen besiegte Napoleon genau am Jahrestag seiner Krönung in der entscheidenden Dreikaiserschlacht bei Austerlitz (heute in Tschechien) die Österreicher unter Franz II. und die Russen unter Zar Alexander I. Ein Jahr danach gelang es ihm als Protektor den Rheinbund (1805–1813) zu gründen, in welchem sich 16 Länder zusammenschlossen – bereits zwei Jahre später gehörten fast alle deutschen Staaten dazu. Ziel war die Unterstützung Frankreichs und der Austritt der Staaten aus dem Heiligen Römischen Reich. Franz II. legte daraufhin 1806 die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nieder, das seit 962 mit Otto I. als erstem Kaiser bestanden hatte. Die Regierungszeit Napoleons war geprägt von seinem immensen Willen zu expandieren, fast ganz Europa brachte er durch seine unentwegten Kriege, nur von kurzen Friedenszeiten unterbrochen, unter seine Herrschaft. Zur Sicherung seiner Macht betrieb er
auch eine gezielte Heiratspolitik, indem er Familienmitglieder in herzog-, fürst- und königliche Positionen brachte. Der Vierte Koalitionskrieg (1806/07), in dem sich Preußen mit Russland verbündete, endete für Napoleon siegreich. Spanien eroberte er 1808, indem er den dortigen Thronstreit nutzte und seinen Bruder Joseph als König proklamierte. Unter dem Druck Englands musste er aber 1814 Spanien aufgeben. Der Krieg gegen Österreich (1809) endete mit seinem Sieg. Er konsolidierte das Friedensbündnis durch die Heirat mit Marie-Louise von Österreich, der ältesten Tochter des Kaisers Franz I. Der gewünschte Thronfolger wurde geboren. Der Russlandfeldzug (1812) mit einer Armee von 700.000 Mann gehört zu Napoleons vernichtendsten Niederlagen. In den Befreiungskriegen (1813–1815) besiegten die Alliierten – England, Russland, Österreich, Preußen und Schweden – Frankreich, stürzten Napoleon am 31.3.1814 und verbannten ihn auf die Insel Elba. Nach seiner unerwarteten Rückkehr wurde er endgültig bei Waterloo geschlagen und auf die britische Insel St. Helena im Südatlantik verbannt. Dort starb er 1821. Sein Leichnam wurde 1840 nach Paris überführt und im Invalidendom beigesetzt. Der Wiener Kongress wurde 1815 einberufen. Die Neuordnung Europas stand bevor. Bonaparte – Napoleon ist mehrmals Gegenstand von H.s Dichtung: Der Entwurf Die Völker schwiegen ... ist in die Zeit zwischen Herbst 1796 bis Anfang 1799 zu datieren. Er lässt sich auf die Zeit des ersten Koalitionskriegs (Ausbruch 1792, Höhepunkt 1796) beziehen, die Schlussverse womöglich auf Bonapartes zweiten Aufenthalt in Italien im Frühjahr 1797. (MA 3, 88) Der Oden-Entwurf Buonaparte, ebenfalls Fragment geblieben, entstand vermutlich Mitte oder gegen Ende 1797, vielleicht kurz nach dem Beginn des Rastatter Kongresses. In der Hymne Dem Allbekannten sind Orte genannt, die sich mit Bonaparte verbinden lassen; hier findet eine Reflexion über den Friedensstifter und Versöhner der Völker Europas statt. Im Empedokles könnten die drei Fassungen den verschiedenen Phasen der geschichtlichen Entwicklung entsprechen und sie jeweils reflektieren. Auch die korsische Idylle Emilie vor ihrem Brauttag gehört in diesen politischgeschichtlichen Kontext. Der Umweg H.s über Lyon auf dem Weg nach Bordeaux im Januar 1802 schließlich könnte nicht nur eine Pilgerfahrt zu Rousseau – H. wohnt in derselben Straße – gewesen sein, sondern auch mit Napoleon, der damals in Lyon erwartet wurde, zu tun gehabt ha-
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ben. In diesem Sinn könnte auch die Rückreise über Paris im Mai/Juni 1802 verstanden werden.
2.2 Der Rastatter Kongress (November 1797 – April 1799) Der Frieden von Campo Formio am 17. Oktober 1797 bestimmte, dass Österreich auf die linksrheinischen Gebiete verzichten musste. Der Rastatter Kongress wurde im Dezember 1797 einberufen mit dem Ziel, dass auch die linksrheinischen Gebiete anderer deutscher Staaten an Frankreich abzutreten seien. Im März 1798 kam ein entsprechender Beschluss zu Stande. Strittig blieb die Frage der Entschädigung der deutschen Fürsten. Württemberg hatte schon 1793 die Grafschaft Mömpelgard (Montbéliard) an Frankreich verloren. Dies stellte einen ungelösten Streitpunkt zwischen dem württembergischen Herzog und dem Landtag dar. Deshalb schickten sowohl der Herzog wie auch der Landtag seine Vertreter zum Rastatter Kongress. Auf diesem Kongress war Sinclair für den Landgrafen von Hessen-Homburg als Beobachter anwesend. Sein Auftrag war es, Geheimverhandlungen zu führen, Gebietsverluste hatte Homburg ja nicht einzuklagen. Sinclair hatte H. zur Teilnahme am Kongress eingeladen. H. kam Mitte November 1798 nach Rastatt und blieb bis Anfang Dezember. Viele junge Republikaner, unter ihnen Freunde H.s und Freunde Sinclairs, waren anwesend; das Durchschnittsalter betrug dreiundzwanzig Jahre. Die Erfahrung der politischen Machenschaften waren prägend für H.s künftige Auffassung bezüglich der Zukunft seines Vaterlandes und seiner Aufgabe als Dichter. Durch den Staatsstreich vom 18. Fructidor V (4. September 1797) konnte Österreich auf einen günstigen Friedensschluss nicht mehr hoffen. Öffentlich gab man eine Vergrößerung des Machtbereichs bekannt. In geheimen Artikeln jedoch musste sich Österreichs Kaiser mit der Abtretung des größten Teils seiner linksrheinischen Gebiete einverstanden erklären. Dabei blieben die linksrheinischen Besitzungen Preußens ausgeschlossen, da Österreich Preußen an der Entschädigung nicht teilhaben lassen wollte. Preußen hatte aber bereits 1795 mit Frankreich, ebenfalls in einem geheimen Artikel, seine Entschädigungsansprüche ausgehandelt. Nun sollten die Reichsstände auf dem Rastatter Kongress mit Frankreich zu einem Friedensschluss kommen. Frankreich versuchte, seine Position durch die Bewegung linksrheinischer Demokraten zu verstärken. Die sogenannte cisrhenanische Be-
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wegung wurde für die Pariser Ziele vereinnahmt: Keinesfalls wollte man der Gründung einer unabhängigen Republik zusehen, vielmehr sollte diese Bewegung dafür genutzt werden, die eigenen Ziele, die Notwendigkeit des Anschlusses an Frankreich, durchzusetzen. Bonaparte kam als Bevollmächtigter der französischen Deputation schon vor Kongressbeginn am 26. November 1797 nach Rastatt, reiste aber nach sechs Tagen wieder ab. Der österreichische Kaiser hatte die Reichsstände per Dekret zur Beschickung des Kongresses aufgefordert. 800 Fremde zählt die Stadt im Januar 1798. Frankreich war in einer durchaus überlegenen Position. Zudem war die Schweizer Eidgenossenschaft zusammengebrochen (5. März 1798); eine Helvetische Republik wurde gegründet, die ein Bündnis mit Frankreich schloss (19. August 1798); Genf, Biel, Mülhausen gehörten bereits zu Frankreich. Die französische Delegation setzte im März 1798 ihr Ziel durch, die linksrheinischen Gebiete zu erhalten. Damit kamen 1,5 Millionen Deutsche unter französische Herrschaft. Die betroffenen Fürsten sollten nach dem Vorschlag Frankreichs mit rechtsrheinischen Gebieten durch Säkularisation entschädigt werden. Die verschiedenen Verhandlungspartner versuchten rücksichtslos Vorteile auszuhandeln und machten vor politischen Intrigen nicht halt. Der Widerstand der deutschen Fürsten gegen den Kongress wuchs. Die Absicht des Pariser Direktoriums war die Beschränkung der Handlungsmöglichkeit von Österreich und Preußen. Das Mittel, dieses Ziel zu erreichen, sah Frankreich darin, die mittleren Reichsstände an sich zu binden. Württemberg befand sich in einer schwierigen Situation: Herzog und Stände traten nicht geschlossen auf. Die linksrheinischen Gebiete waren schon per Dekret an Frankreich abgetreten. Nun wurde konkurrierend um eine entsprechende Entschädigung gekämpft. H. äußert sich enttäuscht über diese Machenschaften (StA 6, 294) und beklagt den fehlenden Mut und die Engstirnigkeit der württembergischen Deputierten (ebd., 268). Schon in der Zeit, während der H. dem Kongress beiwohnte, sah man das Scheitern kommen. Die europäischen Monarchen wollten Frankreich in seiner Vormachtsposition schwächen. Die Gelegenheit schien günstig, als Bonaparte im Mai 1798 nach Ägypten zog. Zar Paul I. verbündete sich mit England gegen Frankreich. Österreich missfiel, dass es Frankreich gelungen war, alle linksrheinischen Gebiete an sich zu bringen. Die Entschädigung musste zwangsläufig zu Lasten der kleinen Reichsstände geschehen, was einen Machtverlust der traditionellen Anhängerschaft des
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Kaisers bedeutete. Preußen hatte, anders als im Frieden von Campo Formio vereinbart, in Rastatt Entschädigung für seine linksrheinischen Gebiete erhalten. Im Frühjahr 1799 kam es zum Ausbruch des Krieges. Anfang März drangen die Franzosen von Westen her in Württemberg ein und kamen rasch in südöstlicher Richtung voran. Bei Feldkirch wurde am 23. März Masséna von den Österreichern geschlagen; Jourdan wurde fast zeitgleich bei Ostrach und Stockach von Erzherzog Karl besiegt. Niederlagen musste Frankreich auch in Italien hinnehmen. Als die Österreicher sich Rastatt näherten, löste sich der Kongress auf. Mit einer Greueltat ging er jäh zu Ende: Am 28. April 1799 wurden die drei französischen Gesandten bei ihrer Abreise überfallen, ihrer Papiere beraubt, zwei wurden getötet, einer konnte entfliehen. Frankreich rief zur Rache auf. Böhlendorff berichtet seinem Freund von Fellenberg von diesem Ereignis und kommentiert es als »gewiß große Sensazion in Deutschland – und noch größere in Frankreich. Diese Männer waren vielleicht ohne ihr Wissen und Wollen Märtirer für den Sieg der Republikaner.« (StA 7.2, 136)
2.3 Württemberg In Württemberg waren Herzog und Stände uneins. Herzog Carl Eugen, der H.s Studienzeit im Stift prägte, war 1793 gestorben. Sein drei Jahre jüngerer Bruder Ludwig Eugen (1731–1795) übernahm die Regierung, danach von 1795–1797 der Bruder Friedrich Eugen (1732–1797). Dessen Sohn Friedrich II. (1754–1816) kam Ende 1797 an die Regierung. Er kannte die Prinzipien eines aufgeklärten Absolutismus. Seiner Überzeugung nach trat er für das herkömmliche monarchische System mit einem Beratergremium ein. Politische und gesellschaftliche Unruhen von Seiten der von der Macht ausgeschlossenen Schichten fürchtete er. Sein Machtstreben sollte sich rasch durchsetzen. Die Landstände – auch Landschaft genannt, d. i. das württembergische Ständeparlament, das die evangelischen Landesinteressen gegenüber dem katholischen Herzog Carl Eugen vertrat – wollte er schwächen. Diese hatten zunehmend Einfluss gewonnen, da die führenden Herzöge nachlässig waren. Friedrich duldete diese Machtbestrebungen nicht. Neuerungen und Reformen sollten vom Staat ausgehen, nicht durch die Landstände gefordert oder gar durchgesetzt werden. Der ideale Staat war für ihn ein streng organisierter Staat nach preußischem Vorbild; dem Herrscher allein sollten staatspolitische, wirtschaftliche und sozia-
le Belange obliegen. Friedrich konnte durch seine familiären Beziehungen – Schwiegersohn des englischen Königs, Schwager des russischen Zaren und des Kaisers Franz – seine Position außenpolitisch absichern. Er erreichte, dass er allein für Württemberg das Sagen hatte und setzte sich nach dem Rastatter Kongress in seinem Land auch innenpolitisch durch. Nachdem Jourdan im März 1799 (Ostrach und Stockach) geschlagen war, schloss sich Friedrich der Zweiten Koalition an. Die Landesversammlung sprach sich für Neutralität aus, widersetzte sich somit dem Willen der Obrigkeit. Die Landesversammlung wurde Ende 1799 aufgelöst, der neue Landtag beugte sich dem Willen des Herrschers. Friedrichs Interessen richteten sich innen- und außenpolitisch ganz auf die Stärkung seines Machteinflusses. Als er jedoch sah, dass Frankreich zunehmend Siege errang, stellte er sich nach dem Frieden von Lunéville 1801 auf die Seite Frankreichs. Die Franzosen zeigten nun ihrerseits offen, was sie schon auf dem Rastatter Kongress angestrebt hatten: Sie suchten Verbündete auf der sicheren Seite, nicht bei Ständen, die von einer Regierung abhängig waren. 1802 wurde Friedrich reich für die abgetretenen linksrheinischen Gebiete entschädigt, zudem erhielt er den Stand des Kurfüsten. 1805 sicherte sich Napoleon per Vertrag dessen Unterstützung. Im eigenen Land erreichte Friedrich dadurch absolute Souveränität. Die Ständevertretung wurde aufgelöst. Am 1. Januar 1806 wurde Württemberg Königreich. Die Landstände In Württemberg war um 1796 eine breite Bewegung der Landstände entstanden. Sie wurde ausgelöst als Gegenbewegung zur französischen Eroberungspolitik. Moreau hatte im Juni 1796 den Rhein überschritten. Hohe Kontributionsforderungen waren zu erwarten, deshalb kündigte der Herzog die Einberufung eines Landtags an. Im Vorfeld gab es über 200 Landtagsschriften, die sich mit Reformen und Rechten des Bürgers auseinandersetzten und nach den Ideen der Französischen Revolution für ein Mitspracherecht in der Regierung eintraten. Das Ziel war: ein durch Reformen erneuerter, moderner Staat. Von Frankfurt aus verfolgten H. und Hegel die politischen Ereignisse. H. kannte solche Landtagsschriften (StA 6, 264). Als Verfasser des Petitionsrechts der Wirtembergischen Landstände gelten die Reformer Jakob Friedrich Gutscher (1760–1834) und/oder Christian Friedrich Baz (1762–1808).
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Der Landtag trat im März 1797 zusammen. Die Kriegslasten wurden verteilt. Die Abgeordneten der Landstände setzten sich für mehr Einfluss in der Regierung ein. In Rastatt war Württemberg einmal durch die Gesandtschaft der Regierung vertreten, zum andern durch die halboffizielle Abordnung der Landstände unter Eberhard Friedrich Georgii (1757–1830). Auch der Ludwigsburger Bürgermeister Baz gehörte zeitweilig zu ihnen. Legationssekretär Gutscher vertrat die Stände und verteidigte die Ständeverfassung. H.s Verbindung zu Gutscher, den er als verständigen Mann (StA 6, 397) bezeichnet, bleibt auch nach dem Kongress noch bestehen. Als Friedrich Ende 1797 die Regierung antrat, sah sich die Landschaft einem eher wohlwollenden und moderaten Regenten gegenüber. Im Sommer 1798 kam es aber zum offenen Bruch mit den Ständen; herzogliche und landschaftliche Vertretung konnten auf dem Rastatter Kongress nicht mehr zusammenarbeiten. Im September hob Friedrich kurzerhand die Vergleichsdeputation auf, die im Januar eingesetzt worden war. Die Landschaft erhoffte mittels Georgii in Rastatt und Baz, der in Paris verhandelte, durch ihre profranzösische Haltung Unterstützung gegen den Herzog. Die französischen Politiker taktierten, wollten sich die Möglichkeit, sich notfalls auf die Stände zu stützen, offen halten. Im Oktober 1798 sandten sie Théremin nach Stuttgart, ein Mittel, Druck auf den Herzog auszuüben. Inzwischen hatte sich in Württemberg eine Opposition gebildet. Treffpunkt war das Haus des Gesandten der Batavischen Republik, Strick van Linschoten. H. hat auch ihn gekannt (StA 6, 356; 965). Wir sehen wieder, wie sehr H. am aktuellen Geschehen beteiligt war. Die politische Lage schätzt er skeptisch ein, hofft jedoch noch auf Veränderung in seinem Vaterland (StA 6, 317). Die Realität sieht anders aus. Die französische Politik distanziert sich von dem Plan einer Revolutionierung Süddeutschlands. Die Stände waren in der Tat lediglich als Druckmittel gegen den Herzog eingesetzt worden. Dies wurde offenkundig, als der Pariser Gesandte Trouvé Anfang 1799 in Württemberg eintraf und keine Verbindung mit den Ständen aufnahm. Und manifest wurde dies, als Anfang März 1799 die Franzosen in Württemberg einfielen: Auf Anweisung des Direktoriums sollte Jourdan mit den bestehenden Mächten verhandeln; er erhielt zugleich den Befehl, jede revolutionäre Bewegung in Schwaben zu unterdrücken. Die politische Lage hatte sich innerhalb von vier Jahren sehr verändert. Sicherlich bestimmte die Vision
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einer schwäbischen Republik das Gespräch während der Homburger Zeit H.s (1798–1800). Der Gedanke lag nahe und nährte sich zudem aus der Gründung der schweizerischen Republik (11.3.1798). Kontakte hatte es zwischen Schwaben und General Augereau gegeben, und es war sogar von einem Marsch auf Rastatt die Rede gewesen. Das Jahr 1799 macht endgültig klar, dass die oppositionellen Stände nur Spielball des machtpolitischen Kalküls der Franzosen waren. Ohne deren Hilfe hatten die Stände keine Chance, Veränderungen durchzusetzen. Resignation verbreitet sich, die auch H. mit Sorge als lähmende Kraft erkennt (StA 6, 373 f.). Auch wenn Bonaparte, wie H. schreibt, »eine Art von Dictator geworden« (StA 6, 374) war, stellte er noch immer die führende Gestalt in Europa dar, mit der man die Reformen im Sinne eines politischen Programms der Aufklärung verband. Er war noch nicht der Eroberer, der ein Machtstreben entwickelte, das alle Völker unterwerfen sollte. Das änderte sich erst 1804. Literatur zu Französische Revolution
Franz, Michael: Politischer Jammer, in: T 1.2, 340–371. Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, 24.6.–1.10.1989, bearb. v. Schoch, Rainer, hg. v. Bott, Gerhard, Nürnberg 1989. Grab, Walter (Hg.): Die Französische Revolution. Eine Dokumentation. 68 Quellentexte und eine Zeittafel, München 1973. Gaier, Ulrich: H. Eine Einführung, Tübingen/Basel 1993. Griewank, Karl: Die Französische Revolution. 1789–1799, Köln 71980. Kuhn, Axel: Die Französische Revolution, Stuttgart 2009. Link, Jürgen: H. – Rousseau: Inventive Rückkehr, Opladen 1999. Mieth, Günter: F. H., Dichter der bürgerlich-demokratischen Revolution, Berlin 1978. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2010. Schmitt, Eberhard: Einführung in die Geschichte der Französischen Revolution, München 21980. Thamer, Hans-Ulrich: Die Französische Revolution, München 42013.
zu Bonaparte – Napoleon
Lefebvre, Jean-Pierre, in: T 4, 120–130. Schäfer, Volker (1998) Koalitionskriege, in: Thaddey, Gerhard (Hg.): Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse, Institutionen, Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945, 3., überarb. Aufl., Stuttgart, 674–677. Ullrich, Volker: Napoleon, Reinbek bei Hamburg 2004.
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II Zeit und Person
Vovelle, Michel: La Révolution française, 5 Bde., Paris 1992– 2002. Willms, Johannes: Napoleon. Eine Biographie, München 2005. Zamoyski, Adam: Napoleon. Ein Leben, München 2018.
zu Rastatter Kongress; Württemberg; Die Landstände Hölzle, Erwin: Das alte Recht und die Revolution. Eine politische Geschichte Württembergs in der Revolutionszeit 1789–1805, München 1931. Prignitz, Christoph, in: T 4, 99–112.
Valérie Lawitschka
3 Kloster – Stift – Beruf
3 Kloster – Stift – Beruf 3.1 Lauffen am Neckar und Nürtingen (1770–1784) Johann Christian Friedrich Hölderlin verzeichnet das Taufregister in Lauffen am Neckar: 20. März 1770. Sein Vater Heinrich Friedrich H. (1736–1772) hatte das Studium der Rechte in Tübingen absolviert. Als Jurist folgte er 1762 in der kirchlichen Verwaltung als Klosterhofmeister in Lauffen am Neckar seinem Vater im Amt. Dessen Vater, Friedrich Jacob H. (1703– 1762) hatte durch das Studium der Rechte, ebenfalls in Tübingen, den Titel eines Lizentiaten des Kirchenund des Staatsrechts erworben. Mit 27 Jahren wurde er Klosterhofmeister in Lauffen. Verheiratet ist er mit Elisabetha Juliana H., geborene Haselmeyer (1710– 1765). Die Mutter H.s Johanna Christiana, geborene Heyn (1748–1828), stammt, wie ihr Mann, aus der sogenannten, vom Pietismus geprägten, württembergischen Ehrbarkeit (Pfarrer- und Beamtentum). Ihr Vater, Johann Andreas Heyn (1712–1772), Pfarrer in Cleebronn, ist verheiratet mit Johanna Rosina Sutor (1725–1802), einer Nachfahrin der »schwäbischen Geistesmutter« Regina Bardili (1599–1669). Die Ehe von H.s Eltern wird dort 1766 geschlossen. Drei Kinder werden geboren. Die beiden Geschwister H.s sind Johanna Christiana Friderica (1771–1775) und Maria Eleonora Heinrica (Rike) (1772–1850). Friedrich H. verliert den Vater, als er zwei Jahre alt ist. Mit seinem Tod gehen zwei Generationen Klosterhofmeisterei in Lauffen zu Ende. Die Familie zieht aus der Dienstwohnung ins nahe gelegene Wohnhaus (Nordheimer Straße 5) der Familie H., das H.s Großvater 1743 erworben hatte. Ob es sich dabei sogar um das Geburtshaus H.s handelt, ist jüngst kontrovers diskutiert worden. Die Stadt Lauffen hat das Haus 2015 aus Privatbesitz erworben. Nach gründlicher Sanierung erinnert es seit 2020 als H.haus und Museumsquartier an den großen Sohn der Stadt. H. ist fünf Jahre alt, als die um ein Jahr jüngere Schwester stirbt. Er kommt mit fünf Jahren nach Nürtingen. Die Mutter hatte sich nach zweijähriger Witwenschaft entschlossen, Johann Christoph Gock (1748–1779) zu heiraten. Er hatte Schreiber in Lauffen gelernt und war mit den Familien H. und Bilfinger befreundet. Mit Letzterem betrieb er einen Weinhandel. In Nürtingen konnte ein stattliches Anwesen erworben werden: der Schweizerhof mit etlichen landwirtschaftlichen Gebäuden und Kellern. Gock, nicht ganz
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standesgemäß, stieg, mithilfe des beträchtlichen Erbes seiner Frau, sozial rasch auf: 1776 wurde er dritter Bürgermeister in Nürtingen. – Vier Kinder werden geboren. Die im August 1775 geborene Schwester stirbt im Dezember. Einen Monat zuvor war die 1771 geborene Schwester, aus erster Ehe, gestorben. Der Stiefbruder Karl Christoph Friedrich Gock (1776– 1849), auch Carl und Gok geschrieben, wird überleben. 1777 Geburt und Tod eines weiteren Stiefbruders. 1778 kommt eine Stiefschwester zur Welt, die fünfjährig, 1783, stirbt. Der Stiefvater – H. liebt diesen zweiten Vater – zieht sich im November 1778 bei den Rettungsarbeiten gegen Hochwasser eine Lungenentzündung zu und stirbt an dieser »hizigen BrustKranckheit« im März 1779 (StA 7.1, 297). Die frühen Todeserfahrungen sind für H. sicherlich bedeutsam. Er selbst spricht als fast 30-jähriger von dem »unbegreiflichen Schmerz« über den Verlust seines zweiten Vaters und von der Mutter »täglichen Trauer und Thränen« (MA 2, 775). Die Mutter heiratet nicht mehr. Die Großmutter lebt mit in der Familie. Der Sohn wird für die Theologenlaufbahn bestimmt. Die Schwester Heinrike heiratet den 20 Jahre älteren Klosterprofessor Breunlin (1752–1800) in Blaubeuren; sie kommt nach Breunlins Tod mit den drei Kindern in die Familie nach Nürtingen zurück. Der sechs Jahre jüngere Halbbruder Karl soll Schreiber werden. Friedrich unterhält einen innigen Briefwechsel mit ihm, nennt ihn einen »Bruder im Geiste« (StA 6, 238) – wie vormals den Freund Ludwig Neuffer –, einen »Herzensbruder« (StA 2, 498). Er erfüllt damit einen Erziehungsauftrag dem Jüngeren gegenüber. Er will ihm zum Studium verhelfen, und die Mutter sollte sich finanziell beteiligen. Der Briefwechsel wird jedoch spärlicher, reißt gegen Ende 1801 ab. Karl gelingt es, die höhere Verwaltungslaufbahn einzuschlagen; er bringt es zum erfolgreichen Hof- und Domänenrat in Stuttgart und sogar zum Adelstitel. H. wächst in einem pietistischen Umfeld auf. Die Schulausbildung beginnt 1776 in der Nürtinger Lateinschule. Acht Jahre lang wird sie durch Privatunterricht ergänzt; das Landexamen wird vorbereitet. 1780 erhält er Unterricht im Klavier- und Flötenspiel. Im selben Jahr, Mitte September, absolviert er das Landexamen in Stuttgart zur Aufnahme in eine Klosterschule. Noch dreimal wird H. die Aufnahmeprüfung wiederholen. Ab 1782 erhält er Privatunterricht bei dem Theologen und Diakonus (Helfer, zweiter Pfarrer) Nathanael Köstlin (1744–1826). H. wird ihm später, 1785, einen gewissenserforschenden Dankes-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_3
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II Zeit und Person
brief – den ersten von H.s Hand überlieferten – schreiben. Darin heißt es, er habe in ihm »Ehrfurcht und Liebe« (MA 2, 393) geweckt und ihn zu dem »festen Entschluß, ein Christ und nicht ein wankelmüthiger Schwärmer« (ebd., 394) zu werden, gebracht. In der Lateinschule lernt er den fünf Jahre jüngeren, hochbegabten Schelling kennen, der damals bei seinem Onkel Köstlin in Nürtingen wohnt. Die Freundschaft mit Schelling wird die Tübinger Stiftszeit überdauern und über die Frankfurter Zeit hinausreichen.
3.2 Die niedere Klosterschule Denkendorf (1784–1786) Im September 1783 besteht H. das Landexamen mit sehr gutem Erfolg. Ein Jahr danach, am 20. Oktober 1784, zieht seine Promotion in die niedere Klosterschule Denkendorf ein: 29 Alumnen und sechs Hospites erwartet eine zweijährige Ausbildung. Damit hatte H. den Königsweg der Bildung beschritten. Er war Stipendiat des Herzogs von Württemberg geworden. Dies war gebunden an die Verpflichtung – die entsprechende Urkunde laut Große Kirchenordnung vom 15. Mai 1559 musste beim Eintritt unterschrieben werden –, nach abgeschlossener Ausbildung im Kirchen- oder Lehramt tätig zu sein. Wollte man sich aus dieser Verpflichtung lösen, so war das Stipendium zurückzuzahlen. Die vielen späteren Nachrichten von H.s Mutter über freie Vikars- und Pfarrstellen, die Beharrlichkeit, mit der sie ihren Sohn in den Pfarrstand bringen will, erklären sich aus dieser drohenden Rückzahlung. Vom 16. bis ins 20. Jh. verlief die Ausbildung über die Klosterschulen, später evangelisch-theologische Seminare genannt. Seit der Reformation sorgten Kirche und Staat gemeinsam für den theologischen Nachwuchs. Im 18. Jh. war Denkendorf eine der vier niederen Klosterschulen in Württemberg. Das Kloster mit seiner mächtigen Kirche ist eine Gründung aus der Zeit der Kreuzfahrer. Der Orden der Brüder vom Heiligen Grab hatte im 12.Jh. Denkendorf zum Hauptsitz für alle Besitztümer nördlich der Alpen gemacht. Das in der Unterkirche befindliche leere Grab wurde zum Wallfahrtsort. Die Unterkirche wurde nach der Reformation geschlossen. Mit Denkendorf verbindet sich der Name Johann Albrecht Bengel (1687–1752). Er war hier von 1713–1741 Präzeptor und prägte zwölf Promotionen mit über 300 Pfarrern durch seine pietistische Lehre.
Schwäbischer Pietismus Im 17. Jh. breitet sich in der Evangelischen Landeskirche, aus verschiedenen politischen und religiösen Bewegungen in England und Frankreich kommend, der Pietismus aus. Die Schrift Pia Desideria (1685; Fromme Wünsche) von Philipp Jakob Spener (1635–1705) gilt als seine Programmschrift. Spener sieht in Johann Valentin Andreä (1586–1654) seinen Vorläufer. Es geht um eine Erneuerung der Kirche; dies soll erreicht werden durch ein frommes Leben in allen Situationen des Alltags. Der Arbeit in der Gemeinde, der Pädagogik und den Wissenschaften werden Bildungsaufgaben zugeschrieben, die eine stufenweise Höherentwicklung des Menschen ermöglichen. Ziel ist die subjektive Erfahrung der Wiedergeburt und das Kommen des Reiches Gottes. Eine der Ausprägungen des Pietismus ist die Brüdergemeine in Herrnhut (gegründet 1727), die auf Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf zurückgeht. In Württemberg kommt es zu einer spezifischen Ausprägung im sogenannten Spekulativen Pietismus. Johann Albrecht Bengel (1687–1752). Bengel gilt als Begründer des schwäbischen Pietismus, er ist der erste der drei »Schwabenväter«, Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) und Philipp Matthäus Hahn (1739– 1790) folgen ihm. Eine umfassende Kenntnis der Antike ist Grundlage für ihre exegetischen Studien. Bengel führte die genaue Wort-für-Wort-Interpretaion ein. Seine profunden Griechisch-Kenntnisse ermöglichen neue Aspekte des Bibelverständnisses: Die Geschichte vollzieht sich als Stufenmodell einer Heilsgeschichte. In der Zeit des Umbruchs ist der Diener Gottes beauftragt, die letzten Erkenntnisse zu verkünden. Bengel wird zum Propheten der Endzeit. Sein System arbeitet mit Begriffen der Kabbala. Diese Tradition geht zurück auf Johann Reuchlin (1455–1522) und setzt sich bis ins 19. Jh. fort. Prinzessin Antonia von Württemberg (1613–1679) hatte die kabbalistische Lehrtafel (1673) ausarbeiten lassen. Bengels Mutter, Barbara Sophia, war die Tochter des Pfarrers Johann Laurentius Schmidlin (1626–1692), der zu einem Kreis um die Prinzessin Antonia gehörte. Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782). Oetinger, der zweite der Schwabenväter, versteht sich als Schüler Bengels und beschäftigt sich mit allen Wissenschaften und der Emblematik. Jakob Böhme und die Kabbala hatte er studiert. Über Luther hinaus findet er, ausgehend vom hebräischen und griechischen biblischen
3 Kloster – Stift – Beruf
Urtext, zu neuen Erkenntnissen. Der Sensus communis hält Oetingers System zusammen; er steht in Verbindung mit der Erkenntnis von der Herablassung Gottes zu den Menschen. In den spekulativen Systemen lagen Gefahren der Überschreitung von Grenzen. Oetinger wie auch Philipp Matthäus Hahn hatten ein Verfahren wegen Abweichung von der Lehre der Kirche. Der Sohn Michael Hahn (1758–1819) gilt als der letzte Vertreter des Spekulativen Pietismus. Die Michael Hahnsche Gemeinde lebt noch heute in seiner und der Tradition Oetingers. Nürtingen wurde zu einem Mittelpunkt des württembergischen Pietismus. H. kommt auf zweifache Weise direkt mit ihm in Berührung: durch Köstlin und den ersten Pfarrer am Ort Jakob Friedrich Klemm (1733–1793), der ihn konfirmierte. Klemm hatte noch als Repetent am Tübinger Stift Oetinger um Erklärung der Teinacher Lehrtafel gebeten. Dies wiederum sei der Anlass für Oetinger gewesen, sein großes Werk über diese Lehrtafel zu schreiben, das gleichzeitig einen Einblick in sein ganzes Denken gewährt. Klemm trifft sich auch mit Hahn in Tübingen (1773). H. erhält zur Konfirmation 1784 in der Stadtkirche das Geistliche Liederkästlein des Pfarrers und Dichters Philipp Friedrich Hiller (1699–1769), ein in Reime gefasstes Erbauungsbuch, das zur Standardlektüre pietistischer Familien gehörte. Hiller hatte 1713 zur ersten Promotion Bengels in Denkendorf gehört. Im Nachlass H.s findet sich auch eine Schrift von Oetinger. Pietismus versus Rousseau. In H.s Werk lassen sich Anklänge seiner pietistischen Erziehung nachweisen. Ein Brief an die Mutter von 1791 (Nr. 41, StA 6, 63 f.) ist geprägt vom Supranaturalimus des Lehrers Gottlob Christian Storr (1746–1805), das Gedicht auf den Geburtstag der Großmutter von der Kenosis-Lehre (StA 1, 272 f.). H. spricht im Gedicht Am Quell der Donau von »Röhren«; in der Kabbala sind dies Leitungselemente der ausfließenden Kraft Gottes. Oetingers Sensus communis erlaubt es, Dionysos neben Christus zu stellen. Viele weitere Parallelen und Anklänge sind aufgedeckt worden. Eine neuere Studie führt die religiöse Energie des Schreibens H.s nicht auf den Pietismus zurück und spricht von einem diskursiven Neuansatz, wie er radikaler nicht gedacht werden könne. H.s Formulierung, dass »wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen« (MA 2, 922), müsse »neo-rousseauistisch« als »inventive Rückkehr zur Natur« (Link 1999) gelesen werden. Der Vektor von H.s Bibel-Studium wie seiner
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Rezeption der klassisch-antiken Diskurse weise vorwärts auf den Kairos der Epochenschwelle 1800, in die Richtung von Signifikanten wie Französische Revolution, Bonaparte, Napoleon und Rousseau. In den Zusammenhang einer »rousseauistischen Kulturrevolution« (ebd.) gehöre auch H.s Rede von einer »künftige[n] Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten« (MA 2, 643). Unter diesem Blickwinkel erlangt auch die Programmatik einer »höheren Aufklärung« (Fragment philosophischer Briefe, MA 2, 55) eine neue Dimension. Klosterleben und Ausbildung Bengel fasste den Geist von Unterricht und Erziehung in die Formel: »erudita pietas und pia eruditio oder von gelehrter Bildung durchleuchtete Frömmigkeit und von christlicher Frömmigkeit beseelte Bildung.« (Eitle 1913, 3) Das Leben im Kloster war streng geregelt, mönchische Disziplin war den Zöglingen auferlegt. Über ihrer Kleidung trugen sie schwarze Klosterkutten. Fest eingerichtete Gebetszeiten regelten den Tagesablauf, der um Viertel nach 5 Uhr mit dem Morgengebet begann und mit dem Abendgebet um 20 Uhr endete. Die Stundentafel von 1785 (StA 7.1, 324 f.) verzeichnet 25 Wochenstunden (19 Unterrichtsstunden und 6 Stunden Privatstudium unter Aufsicht). Auf dem Lehrplan standen die Alten Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch); die Unterrichts- und Verkehrssprache war Latein. Auf dem Lehrplan standen ferner 1 Stunde Logik, Rhetorik, Geschichte, Geographie und Mathematik. Montags gab es eine Einführung ins Compendium, das die für die Landeskirche verbindlichen Dogmen enthielt. Es war das Instrument des Konsistoriums, die richtige Lehre zu verbreiten und gegen spekulatives pietistisches Gedankengut, gegen Rationalismus und jede Form von Häresie zu wirken. Ein wöchentliches Hebdomar war zu schreiben sowie eine Abhandlung über ein theologisches oder historisches Thema. Freitags bekam man das Thema, für dessen Bearbeitung die Zeit bis zur Abgabe genau vorgegeben war (dreieinhalb Stunden und am Samstagvormittag viereinhalb Stunden). Dabei wurden auch verschiedene Formen der Rhetorik geübt. Die musikalische Ausbildung wurde von einem der Schüler übernommen, Instrumentalunterricht wurde erteilt, falls sich jemand fand, der ein Instrument spielte. Dieser Dienst wurde mit Klosterwein vergütet. Freie Zeit, eine Recreation, gab es von 12 bis 13 Uhr und von 19 bis 20 Uhr. Auch diese Zeit unterliegt An-
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weisungen, geistliche Musik oder bestimmte Instrumentalmusik zu spielen. Im Sommer sollten die Zöglinge 1 Stunde auf dem Klosterhof gehen; bei schönem Wetter durften sie einmal in der Woche in der Recreation das Kloster verlassen, jedoch nur in Gruppen. Ferien gab es im Frühjahr und im Herbst, jeweils zwei bis drei Wochen. Prüfungen waren jedes halbe Jahr angesagt. Die Zeugnisse wurden in das Testimonienbuch eingetragen. Die Location der Schüler wird festgehalten. Carl Christoph Renz ist auf Platz 1; H. immer auf Platz 6. Für H. sind zwei Strafen belegt: Am 22. Januar 1785 hat er sein Amt als Aufsichtsperson vernachlässigt (die Alumnen hatten reihum Aufsicht zu führen), womit er mit zweimaligem Weinentzug bestraft wird; am 21. Juli 1786 war er in der Kirche während der Chorandacht umhergestreift (StA 7.1, 331), womit er sich einfachen Weinentzug einhandelte. Der beste Freund in der Denkendorfer Zeit war Christian Ludwig Bilfinger. Johann Jakob Erbe war Propst, als H. in Denkendorf war. Mit Sitz und Stimme in der Landschaft hatte er als Herzoglicher Rath geistliche und weltliche Aufgaben. Der spätere Stiftsfreund Rudolf Friedrich Heinrich Magenau – er war eine Promotion vor H. in Denkendorf und Maulbronn – beschreibt ihn als geizigen, niederträchtigen, heimtückischen und habgierigen Charakter, dem man Geschenke abzuliefern hatte, wollte man ihn wohlgesinnt stimmen (StA 7.1, 332). In der von der Mutter H.s geführten Liste der Ausgaben für den L. Fritz ist so manches »Prasänd« notiert. Die Württembergische Landeskirche Im Herzogtum Württemberg hatte Herzog Christoph (Regierungszeit von 1550–1568) in der Zweiten Reformation das politische Programm bestimmt. Die Große Kirchenordnung von 1559 regelt das Verhältnis von Kirche und Staat. 1565 wird die lutherische Konfession des Landes bestätigt. Die Prälaten als Klostervorsteher behalten ihren Sitz in den Landständen und damit ihren Einfluss auf die Finanzpolitik. Konsistorium und theologische Fakultät achteten auf die kirchliche Lehre mittels der gemeinsam erstellten und weiterentwickelten Compendien. Die jährliche Visitation, deren Ergebnisse landesweit festgehalten wurden, diente dazu, einheitliche Normen durchzusetzen. Im 17. Jh. wurden durch die pietistischen Strömungen Impulse aufgenommen, die vom Konsistorium ausgingen. Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750) hatte weitsichtig erkannt, dass diese Impulse, geboren aus dem Geist der Aufklärung, im Sinne eines mündi-
gen Christen ernst zu nehmen sind. Als Politiker hatte er erreicht, dass die württembergischen Grundgesetze und Religionsgesetze, die seit dem 16. Jh. gültig waren, bestätigt wurden. Diese waren gefährdet gewesen, da eine katholische Linie des Herzogshauses an der Regierung war (1733–1795), und der verschwenderische Herzog Carl Eugen unzulässig in die Landeskirche eingriff. Die zweite Regierungsperiode Carl Eugens war unter dem Einfluss seiner Gemahlin Franziska von Hohenheim gemäßigt. Mit Kants Philosophie werden grundsätzliche Fragen an die Theologie gestellt. Das Kompendium (1782) von Christoph Friedrich Sartorius (1701– 1785) konnte keine befriedigenden Antworten geben. Die Tübinger Repetenten reagierten auf diese Herausforderung und beschäftigten sich mit Kant. Der Ephorus Christian Friedrich Schnurrer (1742–1822) machte deutlich, dass sich die Textexegese grundsätzlich gewandelt hatte: Texte werden wie Dichtungen gelesen und interpretiert. Schnurrer hatte als Theologe und Orientalist kein Aufhebens von diesem neuen Textverständnis gemacht. Auch für die Kirche war die Zeit des Umbruchs gekommen. Bei der Zensur theologischer Werke orientierte sich das Konsistorium seit dem 16. Jh. an der Lehre der Orthodoxie. Ab 1785 werden die neuen Impulse sehr deutlich: ein neues Gesangbuch (1791), etliche Reformen, vor allem in der Jugendunterweisung. Bis ins 18. Jh. hatte sich die Struktur der Landeskirche gehalten. Um 1800 beginnt, bedingt durch die Veränderungen der Napoleonischen Kriege, eine neue Zeit. 1806 entsteht das Königreich Württemberg. Die Verfassung wird aufgehoben; es entsteht ein konfessionell neutraler Staat.
3.3 Die höhere Klosterschule Maulbronn (1786–1788) Noch heute Evangelisches Seminar, ist die ehemalige Zisterziensergründung von 1147 vor wenigen Jahren zum Weltkulturdenkmal geworden. Im Bayerischen Erbfolgekrieg hatte Herzog Ulrich von Württemberg, der aus politischem Kalkül evangelisch geworden war, das Kloster erobert und seiner Schutzherrschaft unterstellt. Von Ulrich ist in H.s Gedicht Der Winkel von Hardt die Rede. Nach der Legende soll eine Spinne am Ulrichstein bei Hardt den flüchtenden Herzog verdeckt und somit vor seinen Verfolgern – er war aus Tübingen vertrieben worden – gerettet haben. Die Säkularisation nahm er als Möglichkeit, seine Schulden
3 Kloster – Stift – Beruf
loszuwerden. Der Sohn Ulrichs, Herzog Christoph, nahm eine einschneidende Veränderung vor. Er ließ in Maulbronn eine Schule für den Pfarrernachwuchs seines noch jungen evangelischen Landes einrichten. Mit dem Abt und den Prälaten wurde 1556 die Klosterordnung beschlossen; damit war die Grundlage für das württembergische Klosterschulwesen geschaffen. Seit 1713 war Maulbronn eine höhere Klosterschule und nahm alle zwei Jahre 25 bis 30 Schüler aus Denkendorf auf. War das Klosterleben in Denkendorf sehr streng, so ging es in Maulbronn offenbar liberaler zu. Der dortige Prälat Johann Christoph Weinland, wohl ein Günstling des Herzogs, der die Missstände beseitigen sollte, die unter seinem Vorgänger geherrscht hatten, galt als schwach. Das heißt nicht, dass H. unter dem Klosterleben nicht gelitten hätte. Wenige Monate nach dem Einzug in Maulbronn beginnen die Klagen und verbinden sich unentwegt mit dem beruflichen Konflikt. Am 18. Oktober 1786 zog H.s Promotion in die höhere Klosterschule Maulbronn ein. Von den 28 Schülern stand H. in der Beurteilung seiner Leistungen an sechster Stelle. An erster Stelle stand Renz, wie schon in Denkendorf; der Freund Bilfinger auf Platz vier. Erster Professor war Johann Christian Hiller, Sohn des Dichters des Geistlichen Liederkästleins, der selbst Schüler in Maulbronn gewesen war. Wie von Denkendorf her bekannt, verzeichnet die Ausgabenliste der Mutter auch für Maulbronn beachtliche Geschenke. Aus H.s Maulbronner Zeit gibt es keinen erhaltenen Stundenplan. Er dürfte keine wesentlichen Abweichungen vom Denkendorfer gehabt haben; Metaphysik und Französisch waren hinzugekommen. Schriftlich beurteilt wurden auch Gaben, Sitten und Fleiß. Beurteilungen solcher Eigenschaften finden sich auch noch in den Magisterzeugnissen. Die Statuten regelten eine bestimmte Lebensform. Verboten war Kaffee- und Teetrinken, Rauchen, das Lesen schädlicher Bücher und von Romanen sowie deutschen Übersetzungen von lateinischen Schriftstellern, die auf dem Lehrplan standen. Übertretungen wurden offenbar nicht streng bestraft; meistens kam es nur zum Entzug des Tischweins, der ohnehin nicht geschätzt wurde und gelegentlich von den Alumnen an Bedienstete im Kloster verkauft wurde. H. bittet die Mutter einmal inständig um Kaffee in seinem »Klosterkreuz« (StA 6, 14). Im November 1786 kam Herzog Carl Eugen mit seiner Gemahlin Franziska von Hohenheim zur Visitation. H. durfte als Dichter auftreten und der Herzogin ein Huldigungsgedicht überreichen. Die Hohe Carlsschule in Stuttgart war die Grün-
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dung des Herzogs. Sie war nicht standes- oder konfessionsbezogen. Zwischen den Schulen gab es Kontakte. In H.s Promotion war beispielsweise Philipp Jacob Hiemer, der Bruder des Karlsschülers Franz Karl, der 1792 ein Pastellbild von H. – als Hochzeitsgeschenk für H.s Schwester Henrike – schuf. Die Maulbronner Zeit ist eine Zeit der ersten Liebe. Louise Nast, die jüngste Tochter des Klosterverwalters lernt H. im ersten Monat seines Aufenthalts kennen. Den Dezember 1786 zeichnet ein reges lyrisches Schaffen aus. Zwei Gedichte An Stella und An die Nachtigall sind an Louise gerichtet. In ähnlicher Konstellation wiederholt sich eine rege lyrische Produktion im Herbst 1790, nachdem H. Elise Lebret, die Tochter des Tübinger Universitätskanzlers, kennenlernte. H. benennt seine literarischen Vorbilder: Klopstock, Schiller, Schubart. In Mein Vorsaz spricht er den Anspruch an sich selbst und an die Dichtung aus: Um nichts geringeres als um »Pindars Flug« und »Klopstoksgröße« ist es ihm zu tun (StA 1, 28), und Ossian wird ihm »zum Barden ohne seinesgleichen« (StA 1, 29). In Immanuel Nast, Sohn eines Bäckermeisters in Leonberg und dort Schreiber, dem Ludwigsburger Vetter von Louise, der Maulbronn zum Jahreswechsel 1786/87 besucht, findet H. einen Freund, der einen intensiven Briefwechsel auslöst. Von Nast stammt die Bleistiftzeichnung, die H. als 18-jährigen am Ende der Maulbronner Zeit darstellt. Nach einem Jahr im Kloster vertraut er sich dem Freund an und gesteht die Liebe zu Louise. Der Sommer 1787 ist ein Sommer der »Leiden«, wo »Zweifel gegen den Lenker meines Schiksaals« vorherrschen (StA 6, 24). Er wird krank, wirft Blut aus, will aus dem Kloster ausscheiden. Im Mai schon hatte er über seine angegriffene Geisteskraft der Mutter gegenüber geklagt. Im April, während der Ostervakanz kommt es zu einer Aussprache. H. gibt nach. Resigniert schreibt er der Mutter: »man kan als Dorfpfarrer der Welt so nüzlich, man kann noch glüklicher sein, als wenn man, weis nicht was? wäre.« (StA 6, 13) Und an Nast, hadernd mit sich: »Ach Bruder, sag mir, lieber Bruder, bin dann ich nur allein so? der ewige, ewige Grillenfänger!« (StA 6, 18) In den Juni 1788 fällt eine Reise nach Speyer, Schwetzingen, Heidelberg. Die Tagebuchniederschrift lässt das tiefgreifende Erlebnis der Landschaftserfahrung erahnen. Mitte September verlässt die Promotion Maulbronn. H. geht nach Leonberg zu Immanuel und Louise. Man schwört sich ewige Treue. Diesem Abschied folgt wieder eine intensive Schaffensperiode, die noch von der durch Christian Friedrich Daniel
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II Zeit und Person
Schubart (1739–1791) in Aussicht gestellte Publikation beflügelt sein mag. Zwischen Louise und H. hatte ein Briefwechsel begonnen. Im Dezember 1789 machte H. einen mehrtägigen Ausflug zu ihr. Man blickt bereits auf den Osterbesuch. Die Briefe tragen alle Kennzeichen typischer jugendlicher Liebesbriefe mit ihren Wiederholungen zu Formeln aufgereiht, ihrem beschwörenden Ton, um dem Zauberwort Liebe auf die Spur zu kommen. Die Mutter gibt ihr Einverständnis zu dieser Verbindung. Ringe werden getauscht. Der Abschiedsbrief H.s kommt unvermittelt: »böse Launen«, die »Klagen über die Welt, u. was der Thorheiten mer sind«, geben nur vage Auskunft (StA 6, 51). Auf den Brief, in welchem die Mutter H. die Neuigkeit mitteilt, Louise habe sich mit dem Oberamtspfleger Christoph Andreas Ludwig vermählt, teilt er ihr seinen Entschluss mit, dass er »seit Jar und Tagen fest im Sinne habe, nie zu freien.« (StA 6, 68) Es geht ihm um den »Ehrgeiz«, der nach Erfüllung drängt (ebd.). »Mein sonderbarer Karakter, meine Launen, mein Hang zu Projekten, u. (um nur recht die Warheit zu sagen) mein Ehrgeiz – alles Züge, die sich one Gefar nie ganz ausrotten lassen – lassen mich nicht hoffen, daß ich im ruhigen Ehestande, auf einer friedlichen Pfarre glüklich sein werde. Doch das ändert vieleicht die Zukunft.« (ebd.) Die Zukunft hat dies nicht geändert. Der Konflikt wird sich in der bereits bekannten Konstellation wiederholen. Der Tübinger Universitätskanzler Lebret wollte H. eine Pfarrstelle vermitteln und ihm seine Tochter zur Frau geben. H. hat das Anerbieten ausgeschlagen. Für die Lösung des Verlöbnisses mit Elise Lebret findet er Erklärungen wie vormals bei Louise. Maulbronn ist aber auch die Zeit für H.s dichterisches Beginnen, an deren Ende die Reinschrift der 17 Maulbronner Gedichte steht und in welcher der Konflikt mit dem Pfarrberuf einsetzt und sich artikuliert.
3.4 Die Studienjahre im Tübinger Stift (1788–1793) Am 21. Oktober 1788 zieht H.s Promotion ins Tübinger Stift ein. Die Ausbildung hatte sich seit der Gründung stark verändert, doch viele Strukturen und Verhältnisse blieben unverändert. Nicht nur die Klosterschulen des Landes bereiteten auf das Universitätsstudium vor, sondern auch das 1686 vom Herzog Eberhard Ludwig gegründete Gymnasium in Stuttgart. Damit konnte der Staat auf die Bildungseinrichtung Einfluss
nehmen, obwohl das Konsistorium in Stuttgart eigentlich die kirchliche Oberaufsicht über das Stift hatte. H. beklagte die »schlechte Kost«, die Kälte, den Hunger. (StA 6, 46) Als er 1790 auf die Augustinerstube kam, die beheizbar war – es gab 14 beheizbare Winterstuben–, schreibt er über diese Verbesserung seiner Lage begeistert seiner Schwester, dass das Zimmer, das er mit sieben seiner Promotion teile, eines der besten sei. (StA 6, 57) Dennoch war Enge, Lichtnot, Kälte, ständige Störung zu beklagen. Der Umbau von 1792 bis 1800 sollte die Missstände beseitigen. H. hat die Anfangsphase des Umbaus noch erlebt. Zur räumlichen Enge kam die Strenge der tradierten klösterlichen Disziplin. Die Statuten von 1752 regelten bis zur Statutenreform von 1793 das Leben im Stift. An diesen beiden Ordnungen lässt sich die Bedeutung der Aufklärung und der Französischen Revolution für das Stift bestimmen. Die Reform von 1752 hatte das Ziel, die vom 16. Jh. an fortgeschriebenen Bestimmungen einzubauen und dem beginnenden Pietismus vorsichtig Rechnung zu tragen. Gesetzt wurde auf subjektive Einsicht und Anerkennung der kirchlichen Autorität. Die Neuerungen von 1752 betrafen die Führung im Stift. Eingerichtet wurde das Inspektorat, 1755 wurden zwei neue Superattendenten bestellt, die bis 1777 im Amt waren: Johann Friedrich Cotta (als erster Superattendent) und Christoph Friedrich Sartorius (als zweiter, dann bis 1780 als erster; Letzterer verfasste das Kompendium der Dogmatik). Für den alten Begriff des Magister domus wurde der heute noch gültige Titel Ephorus in der Funktion des Leiters des Stifts eingeführt. Immanuel Hoffmann bekleidete diese Funktion von 1757 bis 1772. Die Verbote betrafen Tee- und Kaffeegenuss und Tabakrauchen. Ausreiten, Schlittenfahren, Waffentragen, Ausbleiben über Nacht und Tanzen war nicht erlaubt. Die Kleidung war vorgeschrieben. Als Strafen kamen Entzug des Tischweins, wie wir es schon aus der Denkendorfer Zeit kennen, in Frage und Karzer. H. hat unter Freiheitsbeschränkungen, die auferlegt wurden, und unter der geforderten Unterwerfung gelitten, standen diese Praktiken doch so ganz im Gegensatz zu den Werten Gleichheit und Freiheit. Die anderen Stifter litten nicht weniger. Rudolf Magenau schreibt davon, wie das Stift ihm von der ersten Stunde an bis zu seinem Abschied unerträglich gewesen sei. (StA 7.1, 386) H. spricht von »Verdrüßlichkeiten«, »Chikanen«, »Ungerechtigkeiten« (StA 6, 46). Schon nach einem Jahr, 1789, will er das Stift verlassen, will wie Stäudlin und Theuss Jura studieren; er führt den eigenen Vater als Vorbild an (ebd.). Die ganze Revolte
3 Kloster – Stift – Beruf
spricht sich aus in den Gedichtversen »Ich duld’ es nimmer!« Die Stiftsfesseln erfährt er wie ein »Gekerkerter« (StA 1, 90). Der Herzog nahm persönlich Einfluss auf das Stift, es ist ja herzogliches Stipendium. Die Ereignisse der Französischen Revolution ließen ihn aufhorchen; er beobachtete sehr genau die Aufnahme bei seinen Untertanen und in der Universität Tübingen. Das Stift stellte er verstärkt unter seine persönliche Kontrolle. Sechs Visitationen sind in der Zeit von 1788 bis 1793 belegt. Stiftsleitung und Stiftler empfanden dies als Einmischung. Christian Friedrich Schnurrer (1742–1822) leitete als Ephorus das Stift in den Jahren 1777 bis 1806. Die beiden ihm vorgesetzten Superattendenten (Ludwig Joseph Uhland und Gottlob Christian Storr) unterstützten das Bestreben Schnurrers nach geistiger und institutioneller Eigenständigkeit. Die Autorität des Herzogs wollte er dabei keinesfalls unterlaufen. Sein Erziehungsziel war es, gute Christen und folglich gute Untertanen zu bilden mit den Mitteln einer natürlichen Autorität und auf der Basis gerechter, liberaler Grundsätze. Schnurrer handhabte die Statuten, die er als völlig veraltet erkannte, freier, als es seine Pflicht gewesen wäre. Den Repetenten kam die Aufgabe zu, den Ephorus in der Ausbildung und in der Einhaltung der Disziplin zu unterstützen. Sie nahmen eine Art Mittelstellung und Mittlerfunktion zwischen Studenten und Professoren ein und hatten in der Ausbildung festgeschriebene Funktionen. Oft wurden sie zwei bis drei Jahre nach dem eigenen Studienabschluss berufen, nachdem sie häufig eine gelehrte Bildungsreise unternommen hatten. H. hatte Christian Friedrich Weber (1764–1831), Carl Philipp Conz (1762–1827) und Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) als Repetenten. Mit größter Hochachtung und in freundschaftlichem Ton spricht er von ihnen. Die dingend notwendig gewordenen Reformen begannen 1787/88, fielen also genau in den Beginn von H.s Stiftszeit. Das Konsistorium hatte maßgeblich die Verhandlungen zu leiten. Beteiligt waren Regierungsrat Eberhard Friedrich Georgii (1757–1830), der sich für eine weniger strenge Disziplin einsetzte, ferner der Ephorus, die Superattendenten, der Universitätskanzler (damals Lebret), selbst die Repetenten wurden um ihre Stellungnahme gebeten. Ein langwieriges Verfahren hatte begonnen; es sollte über H.s ganze Stiftszeit dauern. Am 13. Mai 1793 wurden die neuen Statuten bekannt gegeben. Im Ganzen ein enttäuschendes Resultat, nicht nur für die Stiftler. Ephorus Schnurrer äu-
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ßerte besorgt, dass die Reformen zu spät kämen und schon nicht mehr zeitgemäß seien. 1792 hatten die Koalitionskriege begonnen; im Januar 1793 wurde Ludwig XVI. hingerichtet. Die Franzosen errangen Siege. Die Idee einer Donaurepublik schien – bis in geheime Regierungskreise hinein – nicht nur Utopie zu sein. Im Stift blickte man mit Begeisterung auf die Französische Revolution. Herzog Carl Eugen starb im Oktober 1793. Wie sich die neuen Statuten ausgewirkt haben, hat H. nicht mehr erlebt. Seine Skepsis spricht für die allgemeine Einstellung dazu im Stift. Er selbst gibt der Befürchtung Ausdruck, dass seine besten Kräfte in einer solch vernunftwidrigen Lage zugrunde gehen würden. (StA 6, 74) Im Herbst 1793 schreibt er an den Freund Neuffer: »Ich zäle die Augenblike, bis ich erfare, daß und wenn ich in die Welt hinaus darf.« (StA 6, 95) Zwei Erkenntnisse stehen am Ende der Ausbildungszeit. Zum einen: H. wird sich nicht der »Galeere der Theologie« (StA 6, 89) unterwerfen, er wird nicht Pfarrer werden. Trotz dieser Entscheidung, sieht er sich immer wieder gezwungen, seinen Stand zu rechtfertigen: »Es wird schon einmal anders werden. Ein ruhiger Ehemann ist eine schöne Sache; nur muß man einem nicht sagen, daß er in den Hafen einlaufen soll, wenn er von seiner Fahrt die Hälffte kaum zurükgelegt hat. Und dann fühl ich auch mich tüchtiger zum Erzieher als zum Predigtamt.« (StA 6, 232 f.) Er mag die Kanzel nicht betreten und erklärt der Mutter Jahre später (April 1798), dass die Zeiten sich geändert haben, dass es auch andere ehrenhafte Berufe gebe. Die Reihe der Briefstellen, die solche Rechtfertigungen anführen, ließe sich fortsetzen. Aus der Maulbronner und der Tübinger Liebesgeschichte ist zudem die Erkenntnis gewonnen: Das Pfarramt ist mit dem Ehestand gekoppelt. Ein Nein zu dem einen Teil hat ein Nein an den anderen zur Folge. Zum anderen: H.s Entscheidung für den Dichterberuf geschieht in der Stiftszeit. In Stäudlins Musenalmanach fürs Jahr 1792 veröffentlicht er zum ersten Mal vier Gedichte; in dessen Poetischer Blumenlese fürs Jahr 1793 sieben. Schubart reagiert sofort in seiner Chronik positiv. Werbend um die Gunst der Mutter, widmet H. ihr seine Veröffentlichung und unternimmt den Versuch, ihr von seiner Bestimmung zum Dichter zu sprechen. Die Berufung zum Dichter ist unbestritten. H. scheitert an der Konstellation der Bedingungen für den Dichterberuf. Er hat weder die nötigen Förderer gefunden noch die entsprechenden sozialen Verhältnisse schaffen können, die ihm diesen Beruf ermöglicht hätten, der in seiner Epoche erst be-
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ginnt, sich herauszubilden. Schon bald ahnt er: »ich fürchte, das warme Leben in mir zu erkälten an der eiskalten Geschichte des Tags« (StA 6, 290).
3.5 Dichterbund – Freundschaftsbund Christian Ludwig Neuffer (1769–1839) Ab H.s Eintritt im Tübinger Stift wird Neuffer für mehr als ein Jahrzehnt zu einem seiner wichtigsten Freunde. Sein Vater, ein Stuttgarter Konsitorialrat, hatte den Dreizehnjährigen durch Versetzung ins Obere Gymnasium gefördert, auf dem er eine vierjährige Ausbildung absolvierte, bevor er im Oktober 1786 ins Tübinger Stift einzog. Neuffer las u. a. Schiller und Klopstock, verfasste Oden und versuchte sich an einer metrischen Übersetzung der Aeneis. Gotthold Friedrich Stäudlin (1758– 1796), der Bruder eines Klassenkameraden Neuffers, bemerkte sein dichterisches Talent und nahm die Ode Die Natur in seinen Schwäbischen Musenalmanach fürs Jahr 1787 auf. Wie H. hatte er Jura studieren wollen, sich aber dem Wunsch der Eltern, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, gebeugt. Seine drei MagisterSpecimina behandeln wie die H.s keine theologischen, sondern exegetische Themen. Das erhaltene erste handelt Von der Dichtkunst der Ebräer und ist wie H.s Magisterspecimen Versuch einer Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen dem Ephorus Schnurrer gewidmet. Neuffer differenziert – in Anlehnung an Robert Lowths Schrift De sacra poesi Hebraeorum und vermittelt durch Schnurrer – die Grundfrage »Ist die Dichtung poetischer Erhabenheit fähig?« in dreifacher Hinsicht aus: Ist sie es in der Sprache (Bilder, Ausdrücke, Periodenbau), im Stoff (Organisation, Anlage, Formen) und der Qualität nach? Dichtkunst ist heilige Poesie und hymnische Anrufung, Religion ohne Theologie und ohne überkommene Mythologie, mit dem Bestreben, eine neue Mythologie der Vernunft, der Natur und der Geschichte zu entwickeln. Auf den ganzen Menschen mit allen Sinnen und einschließlich seiner Vernunft soll sie durch ihre Erhabenheit wirken. H. wird dies weiter entwickeln, etwa wenn er im Hyperion vom Einssein »mit Allem, was lebt« (StA 3, 9) spricht. Als H. ins Stift eintrat, war ihm Neuffer der ältere und erfahrene Ratgeber, den er »Bruder meiner Seele« nannte (StA 6, 75), der Herzens- und Dichterfreund wurde. Neuffer hatte H. bei Stäudlin und 1789 bei Schubart eingeführt und ihm dadurch Veröffentlichungen seiner Gedichte ermöglicht. Er hätte, als
Schubart 1791 starb, dessen Chronik (mit der stattlichen Abonnentenzahl von 4000) übernehmen können, fühlte sich aber von dieser Aufgabe überfordert und trat im gleichen Jahr nach seinem Abschluss im Stift eine Predigerstelle in einem Stuttgarter Waisenhaus an. Die Chronik übernahm dann Stäudlin, der H.s erste Publikationen besorgte. Ihm widmet er die frühe Hymne Griechenland. Politisch desillusioniert und bankrott, ertränkt sich Stäudlin 1796 im Rhein. Mit Schubarts und Stäudlins Tod wie mit Neuffers Rückzug verliert H. seine wichtigen Förderer. Achim von Arnim wird dieser Generation hinterherrufen, dass »alle die herrlichen teutschen Geister [...] in Krankheit, Selbstmord oder verhaßten Geschäften untergegangen sind!« (StA 7.2, 436) H.s Briefe an Neuffer zeigen eine innige Verbindung: Ihm öffnet er sich, bei ihm spricht er sich aus, mit ihm führt er ein intensives Gespräch über die Dichtkunst und die eigenen Vorhaben wie Erzeugnisse, die er beurteilt wissen will. Als Neuffers Verlobte, Rosine Stäudlin (die Schwester Gottholds) stirbt, ruft H. dem Freund Trost zu. H.s plötzliche Abreise aus Jena 1795 könnte ihren Grund vielleicht darin haben, dass er dem Freund beistehen wollte (StA 6, 172). Durch Neuffer lernt H. im September 1795 den Stuttgarter Kaufmann Georg Christian Landauer (1769–1845) kennen. Die beiden besuchen H. in Frankfurt anlässlich der Herbstmesse 1797. Neuffer sei von der Schönheit Susettes angetan gewesen: »Nicht wahr, eine Griechin!« (Schwab 1846, Bd. 2, D 40) 1798 kommt es zwischen Neuffer und H. noch einmal zu einer versuchten Nähe und zu einer Begegnung in Stuttgart. Um 1800 reißt die Verbindung ab. Neuffer lebt seinem Seelsorgeramt; nach Enttäuschungen in Stuttgart lässt er sich nach Weilheim unter Teck und Zell unter Aichelberg versetzen. Ab 1819 war er 20 Jahre Stadtpfarrer am Ulmer Münster und Schulinspektor. Rudolf Friedrich Heinrich Magenau (1767–1846) H. und Magenau kannten sich spätestens von Maulbronn her. Magenau hatte H. dort Longins Schrift Über das Erhabene geliehen. H. durfte sie behalten bis er 1788, zwei Jahre nach Magenau, ins Tübinger Stift einzog. Auch den Ossian wollte er ihm leihen, doch »den Barden ohne seines gleichen« hatte H. bereits im März 1787 »unter den Händen« (StA 6, 16) und ihn mit Verve Immanuel Nast empfohlen. Womöglich gab es schon frühere Begegnungen in Markgröningen, dem Geburtsort Magenaus. H. hatte im März/April
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1788 die Vakanz, »ganze vier Wochen« (StA 6, 29), am Krankenbett der Tante Friederike Juliane, der jüngeren Schwester seines Vaters, verheiratet mit dem dortigen Oberamtsmann Volmar, verbracht. Magenau scheint ein besonnener Geist gewesen zu sein, dem Schwärmerisches fremd war. Skeptisch und ablehnend äußert er sich – wiederum von Conz gewarnt – über hymnische Deklamatorik und Schubarts Dichten (StA 7.1, 5). Auch er hat sich in seinen Magisterarbeiten mit der hebräischen Poesie auseinandergesetzt: Über die Bilder der Orientaler in ihren Gedichten. Die Kantische Philosophie lehnte er ab. Noch fünf Jahre nach seiner Stiftszeit will er sogar, so schreibt er an Neuffer, auf die Lektüre von H.s Hyperion verzichten, falls der Roman »kanntisch« sei (StA 7.2, 94). Nach dem Vikariat in Vaihingen (1792–1794) übernahm Magenau die Pfarrei in Niederstotzingen bei Ulm. Hier heiratete er Henriette Friedrike Wilhelmine Hagmaier; acht Kinder werden geboren. Ab 1819 hatte er bis zu seinem Tod die Pfarrei in Hermaringen inne. Neben seiner seelsorgerischen Arbeit setzte er sich für die Unterrichts- und Landschulreform in Schwaben in der Tradition Pestalozzis ein und die Verbesserung der Ausbildung der Volksschullehrer, die einen wenig angesehenen Stand hatten (vgl. H.s »Ideal einer Volkserziehung«; StA 6, 156). Über die durchlaufenen Klosterschulen urteilte er vernichtend und kritisierte scharf die dortigen unhaltbaren Zustände in seinen Lebenserinnerungen, die er ab 1793 in der Retrospektive verfasste. Seine erste Gedichtsammlung publizierte er mit Hilfe von Schubart; weitere Veröffentlichungen folgten (Gedichte 1795, Wend Unmuth 1798, Lyrische Gedichte, 1805). Der Aldermannsbund Auf Blatt eins des Bundesbuches erscheinen die (mit den Geburtsorten versehenen) drei Namen der Stiftsund Dichterfreunde H., Magenau und Neuffer. Es folgt ein wahrscheinlich am 9. März 1790 von Magenau eingeschriebenes Bunds-Lied. Alle sechs Wochen trug jeder Gedichte zu einem vorgegebenen Thema ein: Freundschaft, Liebe, Einsamkeit, Stille. Bis in den Juni folgen regelmäßig Einträge. Am längsten hielt offenbar Neuffer an der Idee des Dichterbundes fest und ließ Seiten für Magenau und H. frei. Magenau schildert ihre »Anstalt«, wiewohl aus der Retrospektive: »Mit jeder Woche wurde von uns dreien einer zum Aldermanne gewählt. Dieser durfte den zwei andern, sich selber nicht vergessend, ein Them zu einer ästhetischen Abhandlung anweisen, u. vorschlagen, welche
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alsdenn bei der nächsten Sizzung abgelesen werden mußte, zb. über Sprache, Purismus derselben, Schönheit, Würde, Popularität [...]. Nicht selten laßen wir auch ganze Werke gemeinschaftlich, und beurtheilten sie.« (StA 7.1, 395) Neuffer sah sich gern als »Meister Genius«, H. ist der liebe »Holz«, dem Magenau einmal eine poetische Epistel androht, die Neuffer tatsächlich ausführt und ihr eine kleine Zeichnung beigibt: Ein Stiftler sitzt am Pult seiner Studierstube voller Bücher, von denen eines auf dem Rücken den Verfasser »Holz« trägt. Mit dem Begriff ›Aldermann‹ wird der Bezug hergestellt zu Klopstocks Gelehrtenrepublik, ihre Einrichtung, ihre Gesetze, Geschichte des letzten Landtags (1774). Die Aldermänner bildeten eine oligarchische Elite in einer utopischen Rekonstruktion der deutschen Nation als Gelehrtenrepublik. Getragen von den Revolutionsidealen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen, kommt den Dichterbünden – eine Erscheinung des 18. Jh.s – eine besondere Rolle zu. Freundschaft wird in den Dichtungen wie im Briefwechsel mit dem »Herzensbruder« zum tragenden Element. Damit verbindet sich gemeinsames Erleben von Dichtung, von Gesang und Geselligkeit. Magenau schreibt, wie sehr H. die Zusammenkünfte liebte. Einmal soll er beim Gesang der Schillerschen Strophe »dieses Glas dem guten Geist« die Verse, mit Tränen in den Augen, ins Freie gebrüllt haben, »daß das ganze Nekkar Thal widerschol.« (StA 7.1, 396 f.) Vorbildcharakter hatte sicherlich der 1772 von Schülern und Anhängern Klopstocks gegründete Dichterbund des Göttinger Hains, der sich im Göttinger Musenalmanach ein Publikationsorgan schuf. In Tübingen hatte 1781 Conz mit Reinhard und anderen Stiftlern einen Dichterbund gegründet und in seiner Repetentenzeit (1789–1792) vielleicht die Anregung zu H.s Dichterbund gegeben. Von den dreien in diesem Dichterbund wird allein H. am Auftrag der Dichtung als Erziehung zum Menschengeschlecht festhalten.
3.6 Hölderlins erste Hofmeisterstelle Im 18. Jh. war die Hofmeisterei (Privaterzieher) für einen examinierten Theologen eine selbstverständliche Tätigkeit, um die lange Wartezeit (sechs Jahre sind keine Seltenheit) auf ein Pfarramt zu überbrücken: 22 Pfarrstellen standen 150 bis 200 Anwärtern gegenüber. Sie bot aber auch die Möglichkeit, dem kirchli-
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chen Dienst zu entgehen. Der Nachweis einer Stelle war gegenüber dem Konsistorium zu erbringen. Solche Lehrtätigkeiten stellten auch eine Überbrückung dar, um in ein Professorenamt zu kommen. Wegzukommen, nicht nur vom Tübinger Stift und vom drohenden Pfarramt, sondern die enge Sphäre seines Vaterlands zu verlassen, war H.s Bestreben. Nach dem Vorbild seiner Repetenten und Freunde im Stift, will er nach Jena. Jena war das damalige Zentrum der deutschen Philosophie und die progressivste Universität Deutschlands. Die erste Hofmeisterstelle bekommt H., vermittelt durch Schiller, im Schloss Waltershausen bei Meiningen in Unterfranken. Bei der Familie von Kalb wird ihm der zehnjährige Sohn zur Erziehung anvertraut. Charlotte von Kalb, eine gebildete und empfindsame Frau, erkennt die Begabung H.s. Das Kind entpuppt sich bald als schwierig, es onaniert. Das galt in der Medizin des 18. Jh.s als körper- und seelenzerstörend. Für H. ist der Zustand nicht tragbar. Es ist erstaunlich, mit welcher Offenheit H. der Mutter über dieses Problem schreibt. Durch das Hofmeistern und Schreiben hatte H. gehofft, dass er sich eine finanzielle Rücklage schaffen könne, um dann in Jena zu studieren und möglicherweise als Schriftsteller oder Hochschullehrer tätig zu sein. Er legt die Hofmeisterstelle nieder und erhält noch für ein Vierteljahr seinen Verdienst. Ein Teil des Plans ist zwar erfüllt – er kommt nach Jena und in die Musenstadt Weimar –, aber die Bedingungen sind nicht die erhofften. In Waltershausen hatte er dennoch die Zeit nützen können, um sich auf die Gespräche mit den Großen vorzubereiten: auf Fichte, Schiller, Herder, Reinhold, Niethammer. Und vor allem hatte er sich nochmals eingehend mit Kant und Platon beschäftigt. Schiller weckte in ihm große Hoffnungen, da er ihn zur Mitarbeit an seiner neuen Zeitschrift Die Horen eingeladen hatte. Eine Zeit beginnt, von der H. sagt, dass sie auf sein »ganzes künftiges Leben wahrscheinlich ser entscheidend ist.« (StA 6, 148) Sie wird tatsächlich eine der entscheidenden Perioden für seine philosophischen und ästhetischen Konzeptionen. Literatur zu Lauffen am Neckar und Nürtingen
Burdorf, Dieter: F. H., München 2011. Härtling, Peter/Gerhard Kurz (Hg.): H. und Nürtingen, Stuttgart 1994. T 1.1. Wittkop, Gregor: H.s Nürtingen. Lebenswelt und literarischer Entwurf, Tübingen 1999.
zu Kloster Denkendorf
Johanna Christiana Gock verwitwete H. Geborene Heyn: Ausgaben vor den L. Fritz, hg. v. der Hölderlin-Gesellschaft und der Buchhandlung Zimmermann (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 12), Nürtingen 1980. Lang, Gustav: Geschichte der württembergischen Klosterschulen von ihrer Stiftung bis zu ihrer endgültigen Verwandlung in Evangelisch-theologische Seminare, Stuttgart 1938. Metzger, Doris, in: T 1.1, 231–260. Wunderlich, Christian Gottlieb: Die ehemaligen Klosterschulen und die jetzigen niederen evangelischen Seminarien in Würtemberg, Stuttgart 1833.
zu Schwäbischer Pietismus
Dierauer, Walter: H. und der spekulative Pietismus Württembergs, Zürich o. J. [1986]. Harnischfeger, Ernst: Mystik im Barock. Das Weltbild der Teinacher Lehrtafel, Stuttgart 1980. Schäfer, Gerhard: Der spekulative württembergische Pietismus als Hintergrund für H.s Dichten und Denken, in: Lawitschka, Valérie (Hg.), Turm-Vorträge 3 (1989/90/91), H.: Christentum und Antike, Tübingen 1991, 46–78.
zu Pietismus versus Rousseau
Link, Jürgen: H. – Rousseau: Inventive Rückkehr, Opladen 1999.
zu Klosterleben und Ausbildung
Eitle, Johannes: Der Unterricht in den einstigen württembergischen Klosterschulen von 1556–1806, in: Beiträge zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in Württemberg, Nr. 3, Berlin 1913.
zu Klosterschule Maulbronn
Ehlers, Martin, in: T 1.1, 273–292.
zu Studienjahre im Tübinger Stift
Brecht, Martin: H. und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 18 (1973/74), 20–48. Franz, Michael/Ulrich Gaier/Valérie Lawitschka: H. Texturen 1.2: »Alle meine Hofnungen«, Tübingen 1788–1793, hg. v. der Hölderlin-Gesellschaft, Tübingen 2017. Hahn, Joachim/Hans Mayer: Das Evangelische Stift in Tübingen. Geschichte und Gegenwart – Zwischen Weltgeist und Frömmigkeit, Stuttgart 1985. Klaiber, Julius: H., Hegel und Schelling in ihren schwäbischen Jugendjahren, Stuttgart 1877 [Frankfurt a. M. 1981]. Knapp, Tilo: Das Evangelische Stift, in: T 1.2, 175–211. [Magenau, Rudolf] Skizze meines Lebens, ein Lesebuch für mein künftiges Leben von Rudolf Fridrich Heinrich Magenau, angefangen im Jahr 1793, zu Vaihingen a. d. Enz [beendet 1823]. Handschrift, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart. Volke, Werner: H. zum 200. Geburtstag. Eine Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums Marbach am Neckar (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums Katalog 21, hg. v. Bernhard Zeller), Marbach 21987.
3 Kloster – Stift – Beruf Wandel, Uwe Jens: Verdacht von Democratismus? Studien zur Geschichte von Stadt und Universität Tübingen im Zeitalter der Französischen Revolution (Contubernium 31), Tübingen 1981.
zu Dichterbund – Freundschaftsbund
Hayden-Roy, Priscilla A.: »Sparta et Martha«. Pfarramt und Heirat in der Lebensplanung H.s und in seinem Umfeld (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 17/Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 26), Ostfildern 2011. Schwab, Christoph Theodor: H.’s sämmtliche Werke, 2 Bde., Stuttgart/Tübingen 1846. Hymnische Dichtung im Umkreis H.s. Eine Anthologie. Mit
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Einleitung und Erläuterungen, hg. v. Paul Böckmann (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 4), Tübingen 1965.
zu H.s erster Hofmeisterstelle
Fertig, Ludwig: Der Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Mit 14 Quellenschriften und 15 Abbildungen, Stuttgart 1979. Gaier, Ulrich/Wolfgang Rapp/Violetta Waibel, in: T 2, 20–55. Herrmann, Ulrich (1995): Erziehungserfahrung und pädagogische Reflexion bei F. H., in: Kurz, Gerhard/Valérie Lawitschka/Jürgen Wertheimer (Hg.): H. und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen, 195–212.
Valérie Lawitschka
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4 Liaisons – Imago und Realität 4.1 Wilhelmine Kirms Obwohl er sich am 15. Mai noch in die Matrikel der Universität eingetragen hatte, verlässt H. Ende Mai Jena. Ein komplexer Zusammenhang von Ursachen dürfte hinter dieser unvermittelten Abreise stehen: Der Studententumult am 27. Mai, an dem Sinclair beteiligt war, könnte der Anlass gewesen sein. War es Geldmangel? Oder erreichte ihn die Nachricht, dass Wilhelmine Marianne Kirms ein Kind erwartete? – Gleich in der ersten Waltershausener Zeit erwähnt H. der Schwester gegenüber diese Frau: »Die Gesellschafterin der Majorin, eine Wittwe aus der Lausiz, ist eine Dame von seltnem Geist und Herzen, spricht französisch und Englisch, und hat so eben die neuste Schrift von Kant bei mir gehohlt. Überdiß hat sie eine ser interessante Figur. Daß Dir aber nicht bange wird, liebe Rike! für Dein reizbares Brüderchen, so wisse 1) daß ich um 10 Jare klüger geworden, seit ich Hofmeister bin 2) und vorzüglich, daß sie versprochen und noch viel klüger ist, als ich. Verzeihe mir die Possen, Herzensschwester!« (An die Schwester, 16.1.1794, MA 2, 518) Nur eine weitere Briefstelle zeugt im Rückblick von ihrer Existenz. H. ist seit über zwei Monaten in Jena und berichtet Neuffer: »Hier lassen mich die Mädchen und Weiber eiskalt. In Walterhausen hatt’ ich im Hauße eine Freundin, die ich ungerne verlor, eine junge Wittwe aus Dresden, die jezt in Meinungen Gouvernante ist. Sie ist ein äußerst verständiges, vestes, u. gutes Weib, und ser unglüklich durch eine schlechte Mutter. Es wird Dich interessiren, wenn ich Dir ein andermal mehr von ihr sage, u. ihrem Schiksaal.« (An Neuffer, 19.1.1795, MA 2, 566 f.) Mehr werden wir von ihr durch H. nicht mehr erfahren. Wilhelmine Marianne Kirms bringt Mitte Juli 1795 ein Mädchen zur Welt: Luise Agnese. Das Kind stirbt am 20. September 1796. Gerüchte um den Meininger Bekanntenkreis der Gesellschafterin von Charlotte von Kalb legen die Verbindung mit H. nahe. Die Vaterschaft H.s ist nicht belegt; es ist nicht einmal gesichert, dass H. davon erfahren hat. Eine rechtfertigende Briefstelle, im Februar 1798 verfasst, könnte einen Zusammenhang vermuten lassen: »Ich hab’ es genug abgebüßt durch die Frivolität, die sich dadurch in meinen Karakter einschlich, und aus der ich nur durch unaussprechlich schmerzliche Erfahrungen mich wieder loswand. Das ist die reine Wahrheit«. (MA 2, 682) Wilhelmine Kirms jedenfalls ist in ihre Heimat zurückgekehrt und heiratet 1799 in Dresden ein zweites
Mal und führte offenbar eine gutbürgerliche und glückliche Ehe. Interessant ist jedoch der Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit, den H. in der oben genannten Briefstelle entwickelt. Dass er überhaupt auf dieses Thema zu sprechen kommt, liegt an der von Neuffer gestellten Frage nach seiner »Tübinger Geschichte«, gemeint ist Elise Lebret. H. gibt Auskunft und erkundigt sich sogleich nach den Gründen der Frage. »Ich sagte Dir noch vor meiner Abreise, wenn ich mich recht erinnere, daß ich mit dem guten Kinde manche frohe Stunde gehabt, auch freilich manche bittre, daß ich aber, so wie ich sie näher hätte kennen lernen eine engere Verbindung nie hätte wünschen können. Ich hab’ ihr vor kurzem noch geschrieben, so wie man aber in der Welt manche Briefe schreibt. Guter Gott! es waren seelige Tage, da ich, ohne sie zu kennen, mein Ideal in sie übertrug, und über meine Unwürdigkeit trauerte. Könten wir doch ewig jugendlich bleiben.« (MA 2, 566) Die idealisierte Frau, die im Übrigen die gleichen Attribute erhält wie vormals Louise Nast, ist ein Traum der Jugend, dem H. nachtrauert. Gleichwohl ist ihm bewusst, dass er sein Ideal in die reale Frau projizierte. Ob dieser Projektionsvorgang nur der Jugend anhaftet? Wie steht es mit der Idealisierung des Frauenbildes in der Literatur und dem Verhältnis von Literatur und Lebenswirklichkeit?
4.2 Diotima – Susette Gontard Der aufregenden Jenaer Zeit folgt ein halbes Jahr untätiges Warten. Sommer und Herbst 1795 verbringt H. in einer düsteren Stimmung in Nürtingen. Die Hoffnung auf eine Hofmeisterstelle in Offenburg, die er schon von Jena aus der Mutter angekündigt hatte, erfüllt sich nicht. Der Herzensfreund Neuffer verwendet sich für H.; er soll eine Hofmeisterstelle bei Prof. Ströhlin in Stuttgart bekommen. Doch H. wartet auf Nachricht aus Frankfurt. Auf dem Heimweg von Jena, wohl auf Vermittlung Sinclairs, hatte er in Heidelberg den Arzt und Naturforscher Johann Gottfried Ebel (1764– 1830) getroffen. Heidelberg ist der geopoetische Ort, der für H.s Poetik bedeutsam wird. Hierher war er im Juni 1788, kurz vor dem Abschluss der Maulbronner Zeit, gereist und hatte die neu erbaute Brücke gesehen. Die Ode Heidelberg markiert den Wendepunkt seiner Dichtung durch die Umsetzung einer neuen Naturerfahrung, die einhergeht mit der Abwendung von Schiller. Eine neue Hoffnung verbindet sich mit der Begegnung mit Ebel – eine Hoffnung, die sich erfüllen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_4
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sollte: Ebel hatte H. eine Hauslehrerstelle in Frankfurt im Hause der Bankiersfamilie Gontard vermittelt. Und H. hatte erfahren, dass die Hausherrin Susette Gontard sein Hyperion-Fragment, das 1794 in Schillers Thalia erschienen war, gelesen hat. Marie Rätzer, der Schwägerin des Hausherrn, sind die drei Mädchen im Gontardschen Haus anvertraut, H. erzieht den achtjährigen Henry. Gleich bei seiner Ankunft am 30. Dezember 1795 hatte der Zögling ihn besucht. Einen Tag nach Antritt der Stelle am 10. Januar 1796 berichtet H. begeistert von seiner neuen Lage und kann einen Monat später zu Recht auf eine »fröhlichere Periode« hoffen (MA 2, 612). Fünf Monate später schreibt er seinem Freund Neuffer: »Lieber Freund! es giebt ein Wesen auf der Welt, woran mein Geist Jahrtausende verweilen kann und wird, und dann noch sehn, wie schülerhaft all unser Denken und Verstehn vor der Natur sich gegenüber findet. Lieblichkeit und Hoheit, und Ruh und Leben, u. Geist und Gemüth und Gestalt ist Ein seeliges Eins in diesem Wesen. Du kannst mir glauben, auf mein Wort, daß selten so etwas geahndet, und schwerlich wieder gefunden wird in dieser Welt.« (MA 2, 624) Von Verjüngung und Stärkung ist die Rede, aber auch von dem übermächtigen Glück, das noch nicht Sprache werden kann. H. kündigt sie an: »Aber es muß eine festliche durchaus ungestörte Stunde seyn, wenn ich von ihr schreiben soll.« (MA 2, 625) Und er fordert den Freund auf: »O sei glüklich, lieber Bruder! Ohne Freude kann die ewige Schönheit nicht recht in uns gedeihen. Großer Schmerz und große Lust bildet den Menschen am besten.« (ebd.) Über ein Jahr ist vergangen, da bricht es aus ihm hervor: »Ich habe eine Welt von Freude umschifft, seit wir uns nicht mehr schrieben. Ich hätte Dir gerne indeß von mir erzählt, wenn ich jemals stille gestanden wäre und zurükgesehen hätte. Die Wooge trug mich fort; mein ganzes Wesen war immer zu sehr im Leben, um über sich nachzudenken. Und noch ist es so! noch bin ich immer glüklich, wie im ersten Moment. Es ist eine ewige fröhliche heilige Freundschaft mit einem Wesen, das sich recht in diß arme geist- u. ordnungslose Jahrhundert verirrt hat! Mein Schönheitssinn ist nun vor Störung sicher. Er orientirt sich ewig an diesem Madonnenkopfe. Mein Verstand geht in die Schule bei ihr, und mein uneinig Gemüth besänftiget, erheitert sich täglich in ihrem genügsamen Frieden. Ich sage Dir, lieber Neuffer! ich bin auf dem Wege, ein recht guter Knabe zu werden. Und was mich sonst betrift, so bin ich auch ein wenig mit mir zufriedner. Ich dichte wenig und philosophire beinahe gar nicht mehr. Aber
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was ich dichte, hat mehr Leben und Form; meine Phantasie ist williger, die Gestalten der Welt in sich aufzunehmen, mein Herz ist voll von Lust; und wenn das heilige Schiksaal mir mein glüklich Leben erhält, so hoff ’ ich künftig mehr zu thun, als bisher.« (An Neuffer, 16.2.1797, MA 2, 649) Eine »frappante« Unterbrechung Als H. dies schreibt, gehört der Aufenthalt in Kassel und Bad Driburg bereits der Vergangenheit an. Im Juni 1796 hatten die französischen Revolutionstruppen den Rhein überschritten und belagerten Frankfurt. Jakob Gontard ließ seine Familie und die beiden Erzieher der Kinder in den Norden (mit dem Ziel Hamburg, die Heimatstadt Susettes) bringen. Im neutralen Kassel und in Bad Driburg verbrachte man fast jeweils vier Wochen und kehrte nach dem Ende der Belagerung im Oktober nach Frankfurt zurück. Es ist außer Zweifel, dass Susette Gontard und H. sich in dieser Zeit nähergekommen sind. Er spricht selbst von einer »frappanten« Unterbrechung (StA 6, 212), die zunächst nur einen Einschnitt im täglichen Leben meint. Aber sie wird zum entscheidenden Einschnitt in mehrfacher Hinsicht: – Die Invasion der Franzosen, die auch in Württemberg eingefallen waren, scheiterte, und damit scheitert auch die Hoffnung auf eine schwäbische Republik. Die Revolutionsbegeisterung wird gedämpft. Die poetisch-vaterländische Wendung in H.s Dichtung bereitet sich vor. – In Kassel hat H. seine erste Begegnung mit großer bildender und plastischer Kunst. Das Fridericianum – der erste Museums- und Bibliotheksbau in Deutschland, erbaut in den Jahren 1769 bis 1779 von Simon Louis du Ry, dem Hofbaumeister Friedrichs II. – beherbergte in seiner Antikensammlung und Gemäldegalerie wertvolle Schätze. Wilhelm Heinse (1746–1803), der Verfasser des Ardinghello, kommt zur Reisegesellschaft hinzu. H. erhält durch den kunstsinnigen Freund der Gontards, den er schon in seiner Studentenzeit bewundert, eine Einführung in die Kunst, die nicht ohne Wirkung bleibt. Die Landschaften im Hyperion deuten auf einen Einfluss der gesehenen Gemälde von Claude Lorrain, und noch 1804 will H. im Rückblick auf die Antiken-Erfahrung in Paris 1802, die ihm »ein eigentliches Interesse für die Kunst gegeben« haben, »mehr darin studiren«. (StA 6, 437) – Heinses Musikroman Hildegard von Hohenthal führte zur Ausarbeitung einer neuen Dichtungstheorie, von der sich, zuerst in den Sophokles-Übersetzungen erprobt, erste Spuren im Hyperion zeigen lassen. – Und schließlich bedeutet die Begegnung mit Susette
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Gontard den Einschnitt in H.s Leben und Schreiben schlechthin. Warum? Das idealisierte weibliche Imago seiner Dichtung trifft H. in der Realität. Häufig ist deshalb Susette Gontard mit der Diotima der Dichtung gleichgesetzt worden. Versehen wir diese Gleichsetzung mit einem Fragezeichen. Wenige Monate nach der Rückkehr nach Frankfurt, im Juli 1797, klagt H., dass er schweige, er sei »zerrissen von Liebe und Haß.« (StA 6, 243) Im März äußert er der Mutter gegenüber, dass sein »Aufenthalt in Frankfurt nicht mehr lange dauern« wird (StA 6, 266). Als der Bruch vollzogen ist, spricht er von einer »längstvorbereitete[n] Veränderung« (StA 6, 283). Und erst da erfährt man, wie H. unter den Demütigungen der großbürgerlichen und aristokratischen Gesellschaft – jenem Stande, dem er nicht angehörte – gelitten haben muss. Die Differenz wird der Schwester gegenüber deutlich artikuliert, er preist geradezu die »goldne Mittelmäßigkeit« (StA 6, 270) ihrer Lebenssphäre gegenüber den »ungeheure[n] Karikaturen« (ebd.) des Geldadels. Vor dem 27. September 1798 kam es zur Trennung. Die genauen Umstände sind nicht überliefert. Aus den Quellen darf man schließen, dass es zunehmend Gerüchte über das Liebesverhältnis zwischen H. und Susette Gontard gab. Susette Gontard (9. Februar 1769 – 22. Juni 1802), geborene Borckenstein, Mutter von vier Kindern – als H. ins Haus kommt, ist das jüngste fünf Jahre alt –, ist seit 1786 verheiratet mit ihrem Vetter zweiten Grades Jacob Friedrich Gontard (1764–1843). Die Frankfurter Gontards stammten aus Grenoble; sie waren nach der Aufhebung des Edikts von Nantes als reformierte Réfugié-Familie eingewandert. Sie konnten in das Geschäft von Woll- und Baumwollwaren und in den Seidenhandel einsteigen und sich im Bankge schäft etablieren. Seit 1740 besaßen sie Bürgerrecht in Frankfurt. Im Weißen Hirsch, einem vornehmen Anwesen, eingerichtet von Onkel Heinrich Gontard, wurde Wohnung genommen. Der Sohn Henry wurde am 13.6.1787 geboren; drei Töchter folgen: Henriette 1789, Johanna Helene 1790 und Friederike Amalie 1791. Den Sommer verbringt man im Adlerflychtschen Hof, nördlich der Stadt vor dem Eschenheimer Tor gelegen. H. lernt hier eine Welt der Repräsentation kennen, ein großbürgerliches gesellschaftliches Leben mit Vergnügungen und Zerstreuungen, Theater- und Konzertbesuchen. Selbst Mozart hatte hier gastiert (18. August 1763). H. macht zum ersten Mal die Erfahrung einer Groß- und Messestadt. Nicht gerade vorteilhaft urteilt er über die »Frankfurter Gesellschaftsmenschen« (StA 6, 220) und die Oberfläch-
lichkeit der Prunkwelt, die ihn »freudelos und trostlos« (StA 6, 276) mache. Von Susette Gontard sind ein Medaillon und die Gipsbüste von 1795, die Landolin Ohmacht (1760– 1834) geschaffen hat, als einzige Bildträger erhalten. Zeitzeugen, wie Ludwig Zeerleder, Marie Rätzer, Wilhelm Heinse beschreiben Susette Gontard als »vollendete Schönheit von edler griechischer Gestalt« (Jügel 1921, 349) mit einem »reinen schönen Tizianischen Teint« (StA 7.2, 78); Anmut, Majestät, Sanftmut, Güte und »richtiger Verstand« lassen sie als »die Vollkomne« (StA 6, 775 f.) erscheinen. Sie war musisch begabt, musizierte mit H., der sich seine Flöte aus Nürtingen schicken ließ (StA 6, 201), spielte Klavier, sang, war literarisch gebildet. Die Realgestalt erfährt eine Beschreibung. In dem bereits zitierten Brief an Neuffer fährt H. fort: »Es ist auch immer ein Tod für unsre stille Seeligkeit, wenn sie zur Sprache werden muß. Ich gehe lieber so hin in fröhlichem schönem Frieden, wie ein Kind, ohne zu überrechnen, was ich habe und bin, denn was ich habe, faßt ja doch kein Gedanke nicht ganz. Nur ihr Bild möcht’ ich Dir zeigen und so brauchte es keiner Worte mehr! Sie ist schön, wie Engel. Ein zartes geistiges himmlischreizendes Gesicht! Ach! ich könnte ein Jahrtausend lang in seeliger Betrachtung mich und alles vergessen, bei ihr, so unerschöpflich reich ist diese anspruchlose stille Seele in diesem Bilde! Majestät und Zärtlichkeit, und Fröhlichkeit und Ernst, und süßes Spiel und hohe Trauer und Leben und Geist alles ist in und an ihr zu Einem göttlichen Ganzen vereint.« (MA 2, 650) Die Idealisierung der Frau in der Literatur des 18. Jahrhunderts Die sozialgeschichtlichen Veränderungen im 18. Jh. bedingen eine neue Rolle der Frau: Sie wird liebende Bezugsperson für Mann und Kinder, an sie werden Forderungen gestellt nach geistiger Adäquatheit, gesellschaftlicher und ästhetischer Bildung und Empfindsamkeit. Als sozialpsychologische Folgen der bürgerlichen Emanzipation in der Aufklärung ist auch die Veränderung der Rolle des Vaters zu sehen. Die Frau wird idealisiert zur Erlöserin des Mannes und der menschlichen Gesellschaft – die entsprechenden Negatividealisierungen sind: Buhlerin, Verführerin, Machtweib, Hexe. Spaltung und Spannung entsteht zwischen dieser idealen Rolle und ihrer empirischen Individualität. Seit etwa 1770 wird diese Überforderung des Individuums der Frau durch ihre idealisierte Rolle reflektiert.
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Im Fragment des Hyperion trägt die Frauengestalt den Namen der Quellnymphe Melite. Ihre Gestalt orientiert sich an Schillers Schrift Über Anmut und Würde, die, Hoheit und Grazie vereinend, sich eine Unabhängigkeit des Geistes bewahrt und sich gegen Hyperions Anstürme verwahrt. In Anlehnung an Herders Palingenesie-Theorie soll eine sich steigernde Verjüngung in der Geschichte wie in der Form menschlicher Beziehungen vollziehen. In der in Verse gefassten Form Hyperions Jugend (entstanden zwischen April und Juli/August 1795) trägt das griechische Mädchen den Namen Diotima. Diese Entscheidung beeinflusste sicherlich Friedrich Schlegels Aufsatz Über die Diotima, der im Juli und August 1795 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen war. Der Aufsatz thematisiert das folgende Problem: Unter welchen sozialgeschichtlichen Bedingungen war es in der griechischen Gesellschaft möglich, dass eine Frau sich zu Selbstständigkeit und Bildung entwickelt, so dass sie Gesprächspartnerin und Lehrerin des Sokrates werden konnte? Vergessen wir nicht, dass die pythagoräische Priesterin aus Mantineia mit Namen Diotima in Platons Symposion (201d–212a) in heiliger Begeisterung einen Diskurs über die Liebe führt. Ferner werden dieser Begeisterung lyrische und musikalische Charakterzüge zugeschrieben; die Zugehörigkeit zur pythagoräischen Philosophie, schließlich der Patriotismus, all diese Merkmale ergeben das »Bild vollendeter Menschheit«. (Friedrich Schlegel, Studien des klassischen Altertums, eingel. und hg. v. Ernst Behler, Paderborn 1979, Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. I, 115) Der erste Band des Hyperion erscheint 1797, der zweite 1799 mit der berühmten Widmung an Susette Gontard »Wem sonst/ als/ Dir.« (StA 2, 359; StA 3, 350) H. spricht den Tod Diotimas an, über den sie sich damals nicht haben einig werden können. Es geht nicht nur, wie sonst in den Bildungsromanen des 18. Jh.s üblich, allein um die Entwicklung der Hauptfigur, sondern darum, wie sich die beiden zentralen Figuren verwandeln. Sie beeinflussen einander nachhaltig und treiben sich wechselseitig aus ihrer Seelenlage: »Lebendige Töne sind wir« (StA 3, 159). »Wir stellen im Wechsel das Vollendete dar; in wandelnde Melodien theilen wir die großen Akkorde der Freude.« (StA 3, 148) Die genaue Analyse der Dialogstruktur zeigt, wie der Jüngling Hyperion zum Mann wird, wie Diotima zum lebendigen Wesen wird, das sterblich ist und – tatsächlich – stirbt. H.s Kunstfigur der Diotima zeigt auffallende Parallelen mit der von Schlegel herausgearbeiteten historischen Diotima. Über die Bedeutung des Namens als »Ehre Gottes« bei
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H. gibt Wolfgang Binder (H.s Namenssymbolik, 152) Auskunft. Die These lautet: Sofern mit »Diotima« eine lebende Frau angesprochen ist, wird sie zum übermenschlichen Wesen, zum lebenden Beweis der Präsenz des göttlichen Lebens idealisiert. Eine ganze Reihe von Diotima-Gedichten entsteht in H.s Frankfurter Zeit: Diotima (Lange todt ...), im Herbst 1796 an Schiller geschickt, der es als zu weitschweifig für den Druck ablehnt; nach gründlicher Umarbeitung nimmt es Schiller dennoch nicht in die Horen auf; dieses Diotima-Gedicht (Leuchtest du ...) erschien in Neuffers Taschenbuch für Frauenzimmer auf das Jahr 1800. Es folgen: An Diotima (Komm und siehe ...), An Diotima (Schönes Leben! ...), Diotima (Komm und besänftige ...), Diotima (Du schweigst und duldest ...). Auch das Gedicht An ihren Genius und die Kurzoden Abbitte, Der gute Glaube, Ihre Genesung, Das Unverzeihliche, Die Liebenden sind der DiotimaThematik verpflichtet, sind allesamt in der Frankfurter Zeit entstanden und werden später in Homburg und im Sommer 1800 in Stuttgart, vielleicht der schaffensreichsten Periode, in meist vier- bis neunstrophige Oden um- und ausgearbeitet. Die Analyse dieser Gedichte in ihrer zeitlichen Abfolge ermöglicht die Rückbindung an die reale Situation H.s und Susettes, die in den Briefen zur Sprache kommt mit der fortschreitenden Entfernung der Liebenden voneinander. Die Elegie Menons Klagen um Diotima (Menon heißt Ausharrender) darf als Schlusspunkt in dieser Reihe gelten, die in Klage und Dank über den Sinn des Leids nachdenkt. Mit diesem Gedicht endet auch die mehr persönliche Lyrik H.s. Susette Gontard ist die Liebende, die ihrem H. sagt: »So lieben wie ich Dich, wird Dich nichts mehr, so lieben wie Du mich, wirst Du nichts mehr (verzeihe mir diesen eigennützigen Wunsch)«. (HD, 45) Ein Bleiben im Leben wird eingefordert: »[...] der Spiegel alles Schönen darf nicht zerbrechen in Dir, Du bist der Welt auch schuldig zu geben, was Dir verklärt in höherer Gestalt erscheint, und an Deine Erhaltung besonders zu denken. Wenige sind wie Du!« (HD, 60) Und gleichzeitig ist sie – der Dichter konstruiert es so – es wieder, die tröstet am Scheideweg, in der Realität wie in der Dichtung: »Daß unsterblicher doch, denn Sorg’ und Zürnen, die Freude/ Und ein goldener Tag täglich am Ende noch ist.« (MA 1, 294) Sie gemahnt Menon an seinen Dichterberuf, wenn sie ihn daran erinnert, er solle das »andern/Wiedersage[n]«. Susette kannte vielleicht die handschriftliche Vorfassung. Im Druck, in zwei Musen-Almanachen für 1802/03, hat sie es nicht mehr lesen können. Lange nach diesem Gedicht ent-
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steht eine Ode als eine Art Gegenstück Diotima und Hyperion, das abbricht: »Du seiest so allein in der schönen Welt/ Behauptest du mir immer, Geliebter! das/Weist aber du nicht,« (MA 1, 913). Und die Realgeschichte? Die geheime Liebe zwischen seiner Frau und H. bleibt dem Hausherrn nicht verborgen, wird vielleicht durch eine gewisse Eifersucht Marie Rätzers entdeckt. Es kommt zum Eklat. H. verlässt das Haus – das muss Ende September 1798 gewesen sein – und geht nach Homburg vor der Höhe. Dort hatte ihm Sinclair eine Wohnung in der Haingasse bei Glasermeister Wagner besorgt. Wiewohl Susette die Trennung schon vorher erwogen hatte, geschah sie unvermittelt, worüber der Briefwechsel, der Ende September/Anfang Oktober einsetzt und am 8. Mai 1800 endet, Aufschluss gibt. Von H. sind drei Briefkonzepte erhalten, während von Susette alle 17 Briefe erhalten sind. Nach der Einteilung von Carl Viëtor sind es 19. Von Dezember ab kam H. jeden ersten Donnerstag (bei Unwegsamkeiten den zweiten) im Monat, an dem Briefe getauscht wurden. Nur für Juli/August 1799 und April 1800 findet sich kein Briefzeugnis; in diesen Monaten war Susette durch Besuche und Reisen (20. bis 30. Juli 1799 mit Sophie Brentano bei Goethe und Schiller in Weimar und Jena) abgehalten. Etwa drei Bogen (in Brief 8, Anfang von 10 und 17) und eine Beilage zu Brief 11 sind verloren gegangen. Es sind Briefe von einzigartiger Schönheit, Dokumente einer großen unerfüllten Liebe, geprägt vom Leiden an der Trennung. An der Spannung zwischen Liebe und Pflicht, zwischen Einsamkeit und Gesellschaft werden beide Liebende zerbrechen. Wohl im Mai 1800 sahen sie sich noch einmal. H. geht danach nach Nürtingen, zieht nach Stuttgart und wohnt bei der Kaufmannsfamilie Landauer. Er will literarischen Unterricht geben. Das Einkommen reicht aber nicht aus. Er findet wieder eine Hofmeisterstelle, diesmal in Hauptwil, und das unstete Leben geht weiter. »Was wir leiden müssen ist unbeschreiblich, aber warum wirs leiden ist auch unbeschreiblich.« (HD, 78), schreibt Susette. Zunehmend zieht sie sich aus der Gesellschaft zurück. Was sie H. bekannt hatte: »daß ohne Dich mein Leben hinwelkt und langsam stirbt« (HD, 73), trifft ein. Angesteckt von der Krankheit ihrer Kinder, stirbt sie am 22. Juni 1802. H./Hyperion habe Diotima umgebracht, lautet die These von Marlies Janz (H.s Flamme, 1981). Wie die Kunst, so das Leben? Die Fatalität der Geschichte will,
dass dies reale Wesen, Susette Gontard, stirbt. H. selbst hat eine Übereinstimmung zwischen der Romanfigur Diotima und Susette Gontard nicht hergestellt. Er schreibt Susette: »Verzeih mirs, daß Diotima stirbt. Du erinnerst Dich, wir haben uns ehmals nicht ganz darüber vereinigen können. Ich glaubte, es wäre, der ganzen Anlage nach, nothwendig.« (StA 6, 370) Erreicht H. die Nachricht von der todkranken Susette wirklich in Bordeaux? Hätte er dann die Muße gehabt, über Paris die Rückreise anzutreten, im Louvre gar die Antikensammlung zu besuchen? Wäre er ans Krankenlager nach Frankfurt geeilt? Hätte er die Geliebte noch gesehen, wie so mancher Kitschfilm suggeriert? Sicherlich nicht. Es ist undenkbar, dass H. als ehemaliger Domestik in das Patrizierhaus, dazu an das Krankenbett der Hausherrin, gelangt sein könnte. Vom Tod der Geliebten erfährt er Anfang Juli 1802 durch Sinclair in Stuttgart (Brief vom 30.6.), wo er wohl Mitte Juni eingetroffen war. In einem über Landauer geschickten Brief vermutete Sinclair H. noch in Bordeaux. Sinclair wiederholt die Einladung nach Homburg. Ob die Nachricht seinen derangierten Zustand, in welchem er in Stuttgart ankam, erklären mag, ob es die Anstrengungen der Reise waren, die seine abgerissene äußere Erscheinung erklären, ob die ausbrechende Krankheit als Erklärungsmodell dienen kann? Noch einmal zurück zum Roman. Die Idealisierung bringt Diotima aus ihrem Gleichgewicht und zerstört sie schließlich. Der ganzen Anlage nach musste im Roman Diotima sterben – das geschieht, während H. und Susette zusammen lebten, und bevor es zur Trennung kam –, denn Hyperion hatte, anstatt zum Volkserzieher zu werden, die Revolution vorgezogen, war darin gescheitert und hatte dem idealisierten Menschen das gewöhnliche irdische Leben unmöglich gemacht. Insofern gilt der Schluss, H./Hyperion habe Diotima umgebracht. Das Leben scheitert jedoch nicht an der literarischen Inszenierung. Die Liebenden H. und Susette scheitern an der Gesellschaft. Dass H./Hyperion aus der Dichtung wiederum der Trost zukommen kann, wenn er im Abschiedsbrief Diotimas liest: »erkläre diesen Tod dir nicht« (StA 3, 145), ist die besondere Wendung der Realgeschichte. Dass H. daran zerbricht, gehört zu ihr. Literatur zu Wilhelmine Kirms
Beck, Adolf/Raabe, Paul (Hg.): H. Eine Chronik in Text und Bild (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 6/7), Frankfurt a. M. 1970.
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Beck, Adolf: H.s Diotima Susette Gontard. Gedichte, Briefe, Zeugnisse. Mit Bildnissen, Frankfurt a. M. 1980 [HD]. Binder, Wolfgang: H.s Namenssymbolik, in: HJb 12 (1961/62), 95–204. Bovenschen, Silvia: Die imaginäre Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979. Gaier, Ulrich: Diotima, eine synkretistische Gestalt, in: Lawitschka, Valérie (Hg.), Turm-Vorträge 3 (1989/90/91), H.: Christentum und Antike, Tübingen 1991, 141–172. Gaier, Ulrich: Neubegründung der Lyrik auf Heinses Musiktheorie, in: HJb 31 (1998/99), 129–138.
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Janz, Marlies: H.s Flamme. Zur Bildwerdung der Frau im Hyperion, in: HJb 22 (1980/81), 122–142. Pfeiffer-Belli, Wilhelm (Hg.): Jügel, Carl: Das Puppenhaus, ein Erbstück in der Gontard’schen Familie. Bruchstücke aus den Erinnerungen und Familienpapieren eines Siebenziegers, Frankfurt a. M. 1921. Oelmann, Ute (2001): H.s Frauengestalten, in: Lawitschka, Valérie (Hg.), Turm-Vorträge 5 (1992–98), H.: Philosophie und Dichtung, Eggingen 2001, 114–130. Port, Ulrich (2001): Zur Ikonologie der Landschaft bei H., in: Lawitschka, Valérie (Hg.), Turm-Vorträge 5 (1992–98), H.: Philosophie und Dichtung, Eggingen 2001, 72–98. Vopelius-Holtzendorff, Barbara: Susette Gontard-Borckenstein, in: HJb 26 (1988/89), 383–400.
Valérie Lawitschka
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5 Freundschaften 5.1 Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) 1789 verließ Niethammer das Tübinger Stift, ging an Ostern 1790 nach Jena zum Studium, das ihm ein privater Gönner finanzierte. Von April 1791 bis Ende des Jahres war er Hofmeister bei dem Verleger Karl Wilhelm Ettinger in Gotha und gleichzeitig Rezensent der Gothaischen gelehrten Zeitungen. Gefördert von Schiller, der ihm zwei Veröffentlichungen und Korrekturlesungen für die von ihm herausgegebene Zeitschrift Thalia übergibt, wurde er, nach der Tätigkeit als Adjunkt (Privatdozent) und außerordentlicher Professor für Philosophie ab 1793, ab 1797 für Theologie an der Universität Jena. Seit 1804 war er ordentlicher Professor für Theologie in Würzburg, 1806 Konsistorialund Schulrat in Bamberg. 1807 kam der Ruf nach München als Oberstudien- und Oberschulrat, zwei Jahre später als Oberkirchenrat. Seine Reformgedanken im Bereich des Unterrichts, für höhere Schulen einen humanistischen und einen realistischen Studiengang einzurichten, fanden Eingang im bayerischen Schulsystem. Die pädagogischen Reformideen hatte er in der Schrift Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit (1808) niedergelegt. H. hatte seinem Freund und Mentor im März 1790 Verse von Klopstock ins Stammbuch geschrieben. Als H. im Herbst 1794 in Jena eintrifft, erfährt er eine herzliche Aufnahme. Niethammer hatte sich seinen Wunsch erfüllen können, bei dem Kant-Forscher Reinhold zu studieren, und konnte sich als Professor etablieren. H. hatte ihn als Repetent am Tübinger Stift kennengelernt. Er schätzt ihn als Freund und Lehrer, der Einfluss auf ihn hatte, wenn dieser ihn vor »Abstractionen« (StA 6, 203) warnte. Niethammer hatte gerade den Plan gefasst, eine Zeitschrift, Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, herauszugeben. Niethammer befürchtet, die Begründung der Philosophie als Wissenschaft verliere sich in einem Selbstzweck; ihre Bedeutung aber für den Menschen, die ihm dienen solle, müsse ihr Ziel sein. Mit dieser Position greift er die aktuellen Fragen der Philosophie auf, die H., Schiller, Fichte und Reinhold bewegen. Fast zeitgleich sehen drei Denker (Niethammer, Schiller, H.) die Gefahr, dass ausschließlich auf die Vernunft bei der Bildung des Menschen Wert gelegt werde. Schiller fordert den Ausgleich zwischen der sinnlichen und der vernünftigen Natur. Schon im
Fragment des Hyperion, 1794 in Schillers Thalia erschienen, sucht H. den Ausgleich zwischen Vernunft und Natur. Für Niethammers Zeitschrift beginnt er die Arbeit an dem Text Hermocrates an Cephalus, der Fragment blieb, und äußert die Absicht, Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen zu schreiben, die über das Anliegen Schillers hinausgehen sollten. Auch dieser Plan wurde nicht verwirklicht. Dass H. bei Niethammer verkehrt, belegen mehrere Briefe H.s. Der Briefwechsel ist jedoch äußerst spärlich. Aus Löchgau schreibt H. unmittelbar vor seiner Abreise nach Frankfurt und bittet Niethammer, er möge sich seines Vetters, der auf ein Jahr nach Jena komme, annehmen (22. Dezember 1795). Aus Frankfurt schreibt er, wie mächtig der Nachhall aus Jena noch in ihm wirke (24. Februar 1796), und erklärt die Briefform als ideales Medium dafür, neue Ideen darzustellen (MA 2, 614 f.). Er interessiert sich für Niethammers Meinung zur neuesten Entwicklung Schellings, von dem er weiß, dass er in Niethammers Journal mitarbeiten wird. H. äußert auch die Meinung, Schelling sei mit seinen neuen Überzeugungen einen besseren Weg gegangen. Und wenn er urteilt, dass er den schlechteren verlassen habe, so ist damit der grundlagenorientierte Weg Fichtes gemeint. Aus Nürtingen kommt der dritte und letzte erhaltene Brief (23. Juni 1801). H. war von seiner Hauslehrerstelle aus Hauptwil zurückgekehrt und trägt Niethammer sein Ansinnen vor, sich auf dem Gebiet der griechischen Literatur zu spezialisieren im Blick auf eine Stelle an der Universität. Er solle Schiller um Vermittlung bitten – wohl erinnert sich H. daran, dass Schiller es war, der Niethammer in schwierigen Zeiten unterstützt und ihm damit die Universitätslaufbahn ermöglicht hatte.
5.2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) Als Dreigestirn gelten die Stiftler H., Hegel und Schelling. Alle drei wurden Hofmeister. Sie waren eines Sinnes: Sie wollten hinaus, den engen Grenzen des Vaterlandes und dem drohenden Pfarramt entkommen. Aus dem Stift hatten sie sich »mit der Loosung – Reich Gottes!« (StA 6, 126; 7.2, 19) verabschiedet. Das Gespräch mit ihnen nahm H. immer wieder auf, am intensivsten wohl mit Hegel, während der gemeinsamen Hauslehrerzeit in Frankfurt. H. darf als der führende Kopf in der symphilosophierenden Runde gelten. Sie hatten eine gemeinsame Basis: Die
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_5
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Lehre Kants gilt für sie als verbindlich. Die Freunde sind kongeniale Gesprächspartner. Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, vergleichbar einem gemeinsam gewebten Denkkonzept, entsteht im symphilosophischen Gespräch. Niedergeschrieben wurde es vermutlich im Februar 1797. In Hegels Handschrift ist es erhalten. Selten hat ein Text die Forscherwelt so nachhaltig beschäftigt. Hegel wurde nach dem Abschluss im Stift Hofmeister bei der Familie des Hauptmanns von Steiger in Bern (1793–1796). Er hatte diese Stelle derjenigen bei den von Kalbs vorgezogen, die dann H. bekam. Im Juli 1794 erinnert H. an die Freundschaft. Als er erfährt, dass bei dem Weinhändler Johann Noë Gogel eine Hauslehrerstelle zu besetzen sei, versucht er, Hegel in seine Nähe zu bringen. Der Wunsch beseelt offenbar beide. Briefe und Gedichte werden getauscht (Hegels Briefe sind nicht erhalten). Hegel trifft Anfang Januar 1797 in Frankfurt ein. Fast vier Jahre lang wird er bleiben. Ab 1801 wird er Privatdozent in Jena, wo Schelling bereits seit einem Jahr lehrte. Beide hatten erreicht, was H. nicht gelang. Mit seiner Schrift Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801) macht sich Hegel einen Namen; 1802/03 gibt er mit Schelling das Kritische Journal der Philosophie heraus, das sich gegen den einseitigen Verstandesstandpunkt richtet. Sein erstes Hauptwerk ist die Phänomenologie des Geistes (1806/07); von 1808–1816 übernimmt er die Leitung des Nürnberger Gymnasiums; hier entsteht als zweites Hauptwerk die Wissenschaft der Logik (ab 1812). Ab 1816 ist er Universitätsprofessor in Heidelberg; 1817 kommt die Enzyklopädie (Grundriss seines philosophischen Systems) heraus; 1818 folgte er dem Ruf nach Berlin, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Seine Vorlesungen über Geschichts- und Religionsphilosophie, Ästhetik und Philosophiegeschichte werden seine Schüler posthum herausgeben. Aus der gemeinsamen Grundorientierung im Denken will H. die Konsequenzen einer Volkserziehung ableiten. Hegel richtet in der Frankfurter Zeit seine Kritik gegen die etablierte Religion und arbeitet am Konzept einer Volksreligion. Kein Briefwechsel bezeugt einen weiteren Kontakt mit Hegel nach H.s Frankfurter Zeit. Prinzessin Marianne – Schwester der Auguste, die offenbar H. geliebt hatte – berichtet 1830 in ihrem Tagebuch von Prof. Hegel, dass er sich kaum noch an den Stiftsfreund, »der für die Welt verschollen ist« (StA 7.3, 119), zu erinnern scheint.
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5.3 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) Fünf Jahre jünger als H., kannte Schelling H. schon von der Nürtinger Lateinschule her. H. hatte den körperlich schwächeren, genial begabten Mitschüler gelegentlich gegen die anderen verteidigt. Bis 1786 blieb Schelling an der Lateinschule und kam dann in die Klosterschule nach Bebenhausen. Dort lehrte der Vater Latein, Griechisch und Orientalistik. Im Oktober 1790 begann er das Studium im Tübinger Stift. H. hatte in diesem Jahr die Magisterprüfung abgelegt. Angeregt durch die neue, aus England (Bischof Lowth) kommende These, die biblischen Prophetenbücher seien als Poesiesammlungen zu verstehen, sorgte Johann Gottfried Herder durch seine Abhandlung Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782) für deren Verbreitung. Der 17-jährige Schelling greift die Idee auf. Ihr gelten seine ersten schriftlichen Ausführungen: Inspiration sei Quelle für den Propheten wie für den Dichter. Dieser Analogiegedanke wird erweitert und übertragen auf die Künste, die Wissenschaften und die Philosophie. Die Auffassung geht auf Platons Ion und Timaios zurück. H.s Tübinger Hymnen schöpfen aus diesem Gedankengut: Dichtung ist nicht nur ein Schöpfungsprozess, sondern Teilhabe am Göttlichen. In Tübingen, 1795, H. war eben aus Jena zurückgekehrt, diskutieren die beiden Schellings Schriften; H. äußerte Skepsis gegen Fichte wie gegen Schelling. Mitte des Jahres 1795 hatte ein erneuter Briefwechsel begonnen, und die beiden treffen sich dreimal zwischen Sommer 1795 und Frühjahr 1796. Im Frühjahr hatte Schelling seine Dissertation abgeschlossen. Das Konsistorialexamen war im November abgelegt worden. Keinesfalls wollte er Pfarrer werden. Nach England oder Frankreich zog es ihn. Den Plan gab er auf, als er erfuhr, dass in Frankreich das Königtum wiederhergestellt sei. Er bekam eine Hofmeisterstelle bei den Freiherren Riedesel zu Eisenbach, Ludwig Georg Friedrich Carl Hermann (1778–1828) und Friedrich Ludwig Wilhelm Carl (1780–1806), auf die auch H. aspiriert hatte. H. besuchte ihn auf seiner Reise nach Frankfurt kurz vor Weihnachten 1795 in Stuttgart, wo er die Barone von Riedesel unterrichtete. Diese sollten in Leipzig studieren: Ende März 1796 brach man auf. Der Weg führte über Darmstadt, Lauterbach, mit Aufenthalt in Frankfurt (sicherlich Treffen mit H.), weiter über Weimar und Jena; Ende April erreichte man Leipzig. Schelling hatte Niethammer bereits einen Teil der Neuen Deduktion des Naturrechts
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(1795) geschickt, der zweite Teil folgte ein Jahr danach. Niethammer bot ihm eine feste Rubrik in seinem Journal an. Zwei wichtige Schriften konnte Schelling in den folgenden zwei Jahren hervorbringen: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) und Von der Weltseele, eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798). Niethammer, Schiller und Paulus versuchten im Oktober 1797 eine außerordentliche Professur für Schelling zu bekommen, obwohl er nicht habilitiert war; gleichzeitig waren Bestrebungen des Vaters im Gange, in Tübingen für ihn eine Professur zu erwirken. Beides scheitert. Erst ein Treffen mit Goethe – Schelling hatte gemeinsam mit ihm optische Versuche durchgeführt – brachte den Erfolg. 1799 erhält der 24-jährige Schelling die Jenaer Professur. Zu der Zeit hatte H. Frankfurt bereits verlassen. Niethammer gegenüber betonte H. (22.12.1795 und 24.2.1796) , dass er sich einig sei mit Schelling in der Briefform, sonst seien ihre Gespräche nicht immer »accordirend« gewesen (StA 6, 203). Beide nehmen sich wohl Herder zum Vorbild mit seinen Briefen zu Beförderung der Humanität (1795). Dieses Konzept legt H. seinem Hyperion zugrunde, Schelling seinem Brieftraktat. Über seine Meinungen habe er sich manchmal »mit ihm gezankt«, schreibt H. am 1. September 1798 an die Mutter (StA 6, 280). Worin der Dissens oder Konsens mit Schelling bestand, was H. als den besseren und den schlechteren Weg, den Schelling gegangen sei, bezeichnet, bedarf einer genauen Analyse. Festzuhalten gilt aber schon hier, dass Schelling Fichtes Idee von der Setzung des absoluten Ich als intellectuale Anschauung differenziert. Unter dem Einfluss von Spinoza, in Anknüpfung an Jacobi, und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit H., ändert Schelling seine Position und entwickelt sie zunächst weiter im Sinne einer Vereinigungsphilosophie und lässt in den Briefen – wie H. – eine Letztbegründungsphilosophie hinter sich. Schelling besuchte H. in Frankfurt, wohl im April 1796. Erst im Sommer nimmt H. wieder Kontakt auf mit der Bitte um Mitarbeit an seinem geplanten Journal. In einem erst jetzt aufgefundenen Brief an Ebel (HJb 31 [1998/99], 7–33) finden sich, in derselben Angelegenheit, ähnliche Formulierungen. Ein besonderes, freundschaftliches Verhältnis lässt sich an den Briefdokumenten nicht festmachen. Schelling, mit dem der Kontakt ebenfalls abbricht, wird im Juli 1804 an Hegel schreiben, dass die Übersetzung des Sophokles H.s »verkommenen geistigen Zustand« ausdrücke (MA 3, 631).
5.4 Isaac von Sinclair (1775–1815) Isaac von Sinclair, deutsch-schottischer Abstammung, geboren in Homburg vor der Höhe, ging nach drei Studiensemestern (1792/93) der Rechtswissenschaft in Tübingen nach Jena, wo auch sein Vater, Alexander Adam von Sinclair, studiert hatte. Er strebte die beste philosophische Ausbildung an. In Jena lehrte damals Karl Leonhard Reinhold (1758–1823), der für seine Kant-Vorlesungen berühmt war. Fichte wurde sein Nachfolger. Als Anhänger der Französischen Revolution und begeisterter Republikaner hatte Sinclair die Absicht, die Ideen der Französischen Revolution zu verbreiten und suchte deshalb Kontakt zu den studentischen Orden und zur Litterärischen Gesellschaft (auch Gesellschaft der freien Männer), die dem Geist Fichtes verpflichtet war. Er befreundete sich mit mehreren Mitgliedern: Friedrich Horn, Friedrich Muhrbeck, Casimir Ulrich Böhlendorff. Sinclair versuchte, seine Bekanntschaft mit Claude Camille Perret für die Landgrafschaft Hessen-Homburg auf dem Rastatter Kongress 1798 auszunutzen; Perret war einer der Sekretäre Napoleons. Mitglied wurde Sinclair in der Litterärischen Gesellschaft nicht. Wahrscheinlich war ihm bedeutet worden, sich nicht zu bewerben, da man um seine Freundschaft mit den radikalen Revolutionsanhängern Jakob Brechtel und Johann Joachim Orthmann wusste. Er wurde Mitglied im Harmonistenorden (auch Schwarze Brüder genannt), einer Gründung aus dem Geist des Freimaurertums. Sinclair lernte H. vermutlich in den Vorlesungen Fichtes kennen. Es könnte aber auch bereits in Tübingen zu einer Begegnung gekommen sein. Angetan von H., berichtet er seinen Freunden über ihn und gibt für einige Monate seine Tätigkeit im Orden auf. Von Mitte April bis Ende Mai 1795 wohnt er gemeinsam mit H. in einem Gartenhaus vor den Stadttoren. Eine intensive und schwierige Freundschaftsbeziehung, nicht zuletzt homoerotischer Natur, beginnt. Das Studium Fichtes verbindet sie. H. hatte mit einem eigenen Entwurf Urtheil und Seyn [Seyn, Ur theil, ...] eine Entgegnung auf Fichte versucht und mit ihm selbst diskutiert; Sinclair arbeitet nach seinem Weggang aus Jena die Philosophischen Raisonnements aus, in denen er, ausgehend von Fichte, die mit H. diskutierten Probleme für das eigene Verständnis festhält. H. verließ Jena Ende Mai 1795 fluchtartig. Am 15. Mai hatte er sich noch in die Matrikel der Universität eingetragen. Ein ganzes Geflecht von Gründen scheint
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auf: – Er könnte den Freund Neuffer, dessen Verlobte Rosine Stäudlin gestorben war, haben stützen wollen – die finanzielle Grundlage fehlte; von Schiller war er zwar als Mitarbeiter zu den Horen eingeladen, jedoch kam die Zeitschrift nicht voran – Fichte las nicht, da er wegen Studententumulten nach Oßmannstedt bei Wieland Zuflucht gesucht hatte – die Studentenunruhen, mit denen H. nicht in Verbindung gebracht werden wollte, aber durch die Ordenstätigkeit Sinclairs ständig in Gefahr war – eventuell die Vaterschaft – der Wunsch vielleicht, dem Bannkreis Schillers zu entkommen, der ihn zu seinem ästhetischen Zögling machen wollte und ihm Übersetzungsaufträge andiente, über die sich H. später ärgern sollte. Sinclair verließ Jena Ende August desselben Jahres. Beteiligung an dem Studentenaufruhr wurde ihm vorgeworfen, konnte aber nicht nachgewiesen werden. Dennoch erhielt er das consilium abeundi (Verweis von der Universität). Zu diesem Zeitpunkt hatte Sinclair die Stadt bereits verlassen. Sein Verteidigungsschreiben an den Senat datiert vom 25. November 1795. Am 1. Januar 1796 trat Sinclair in die Dienste des Landgrafen Friedrich V. von Hessen-Homburg, bei dem er erzogen worden war. Die Gespräche mit H. wurden indessen fortgeführt. H. kam räumlich in die Nähe des Freundes. Vermutlich ging von Sinclair die Vermittlung der Hofmeisterstelle in Frankfurt über Johann Gottfried Ebel aus. Am 30. Dezember 1795 trifft H. in Frankfurt ein. Noch bevor er am 9. Januar 1796 seine Stelle im Hause des Bankiers Gontard antritt, besucht er Sinclair im 15 km entfernten Homburg. Hier lernt er dessen Mentoren Leutwein und Hofrat Jung kennen. Sie gehörten nicht zu der Frankfurt-Homburger philosophischen Gesprächsrunde. Das philosophische Gespräch findet Fortsetzung und intensiviert sich, als Hegel die über H. vermittelte Hauslehrerstelle in Frankfurt antritt. Vom »Bund unserer Geister« (Jakob Zwilling, H. und Hegel) ist in Sinclairs Retrospektive die Rede. (Zit. nach Brauer 1993, 271) Immer wieder ist es Sinclair, der seinen Freund H. besucht, mit ihm Reisen unternimmt, ihn dazu einlädt und unterstützt. Im September 1802 fährt er mit ihm zum Reichstag nach Regensburg – H. war im Juni von seiner Hauslehrerstelle in Bordeaux über Stuttgart nach Nürtingen zurückgekehrt. Am 11. Juni 1804 reist Sinclair über Würzburg, wo er Schelling trifft, der dort eine Professur innehat, nach Stuttgart; am 19. Juni holt er H. in Nürtingen ab. Sie fahren über Tübingen nach Stuttgart, wo bei dem Ludwigsburger Bürgermeister Christian Friedrich Baz ein gemein-
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sames Abendessen mit dem Homburger Hofkommissar Blankenstein, Jakob Friedrich Weishaar und Leo von Seckendorf stattfindet. H. kommt in Begleitung von Sinclair am 26. Juni 1804 in Homburg an und nimmt in der Dorotheenstraße bei dem aus der französischen Schweiz stammenden Uhrmacher »Charles Frédéric Calame aus Valangin (bei Neuchâtel)« (StA 7.2, 292), Wohnung, ab Frühjahr 1805 in der Haingasse 8 bei Sattlermeister Lattner; beide Domizile befinden sich unweit von Sinclairs Haus. Sinclair hatte brieflich die Bitte an seinen Arbeitgeber gerichtet (Brief vom 7. Juli 1804), dass seine Gehaltserhöhung von 200 Gulden jährlich (quartalsweise mit 50 Gulden) an H. ausbezahlt werden möge, dafür soll H. die rund 16.000 Bände umfassende Schlossbibliothek betreuen. Die Antwort des Landgrafen kommt prompt: »Ich genehmige gänzlich dieses arragement, wie auch die richtige Zahlung.« (StA 7.2, 289) Im November 1804 reiste Sinclair als Gesandter Homburgs zur Kaiserkrönung Napoleons (2. Dezember) nach Paris. Nach seiner Rückkehr kommt es zur Auseinandersetzung mit Blankenstein, da Sinclair dessen dubiose Lotteriegeschäfte aufdecken wollte. Denunziert von Blankenstein – bei dem oben erwähnten Abendessen soll Sinclair einen Staatsstreich in Württemberg geplant haben –, wird Sinclair mit Baz, Weishaar, Gros, Hofacker und Seckendorf des Hochverrats angeklagt und verbringt über vier Monate (vom 27. Februar bis 9. Juli 1805) in Untersuchungshaft im Gefängnis auf dem Hohenasperg. Während seiner Abwesenheit kümmerte sich Sinclairs Mutter um H. Auch gegen H. war ermittelt worden. In diesem Zusammenhang kommt es zu dem Gutachten des Arztes Georg Friedrich Karl Müller, der schon bei H.s erstem Homburger Aufenthalt »hypochondrie« festgestellt hatte (StA 7.2, 337), dass H.s »Wahnsinn in Raserey übergegangen ist« (ebd.). Erkundigungen in Nürtingen und beim Konsistorium in Stuttgart werden eingeholt. Mehrfach sind in den Prozessakten Aussagen überliefert, dass H. »in seiner Geistesverwirrung öfters ausrufe ›Ich will kein Jakobiner seyn‹« (StA 7.2, 339). Damit gerät H. als nicht vernehmungsfähig aus der Schusslinie der Anklage. Das Verfahren wird eingestellt, da weder ein Mordanschlag auf den Kurfürsten noch revolutionäre Umsturzbestrebungen nachgewiesen werden konnten. Seckendorf kommt am 16. Oktober 1805 frei und wird des Landes verwiesen, Baz erst im November. Im Zuge der Mediatisierung verliert die Landgrafschaft Hessen-Homburg ihre Souveränität und kommt an Hessen-Darmstadt. Damit seien »Ein-
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schränkungen« verbunden, schreibt Sinclair an H.s Mutter, die es nicht mehr erlauben, »daß mein unglücklicher Freund, dessen Wahnsinn seine sehr hohe Stufe erreicht hat, länger eine Besoldung beziehe und hier in Homburg bleibe, und ich bin beauftragt Sie zu ersuchen, ihn dahier abhohlen zu lassen. Seine Irrungen haben den Pöbel dahier so sehr gegen ihn aufgebracht, daß bei meiner Abwesenheit die ärgsten Mishandlungen seiner Person zu befürchten stünden, und daß seine längere Freiheit selbst dem Publikum gefährlich werden könnte, und, da keine solche Anstalten im hiesigen Land sind, es die öffentliche Vorsorge erfordert, ihn von hier zu entfernen.« (Brief vom 3.8.1806, StA 7.2, 352) So kommt es zu dem gewaltsamen Abtransport H.s nach Tübingen, über den die Landgräfin Caroline von Hessen-Homburg an ihre Tochter Marianne, Prinzessin von Preußen, berichtet. Mehrfach ist Sinclair in politischen Missionen tätig. Zuletzt nahm er 1815 am Wiener Kongress teil, auf dem rund 200 Delegierte aus europäischen Staaten eine Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons herbeiführen sollten. Sinclair erwirkte die Rückgewinnung der vollen Souveränität Homburgs. Mit 39 Jahren stirbt er am 29. April 1815 an einem Schlaganfall in einem Wiener Bordell. Die näheren Umstände seines Todes sind nicht geklärt. Wenig bekannt sind Sinclairs Schriften: Cevennenkrieg (1806/7, dramatische Trilogie); Gedichte, 2 Bde. (1811–13); Wahrheit und Gewißheit, 3 Bde. (1811); Versuch einer durch Metaphysik begründeten Physik (1813).
5.5 Casimir Ulrich Böhlendorff (1775–1825) Im Frühjahr 1797 wird Böhlendorff Hofmeister in Bern bei der Familie des Landvogts Sinner von Wiflisburg. Er wird Zeuge der alten Eidgenossenschaft. Unmittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse verfasst er die Schrift Geschichte der Helvetischen Revoluzion, 1802 anonym herausgegeben; erst 1913 eruierte man den wahren Verfasser. In seiner Geburtsstadt Mitau hatte er das Studium der Rechte begonnen, seit Oktober 1794 war er in Jena immatrikuliert, um das Studium der Rechtswissenschaft fortzusetzen. Sein Interesse für Philosophie, ausgelöst durch den begeisterten Kreis von Studenten um Fichte, brachten ihn von seinem ursprünglichen Studienvorhaben ab. 1795 wurde er Mitglied in der Gesellschaft der freien Männer, der Gesellschaft, in der auch Sinclair gern Mitglied geworden wäre.
Die Gesellschaft der freien Männer (Litterärische Gesellschaft) In der Zeit, in der Fichte in Jena lehrte, hat sich diese studentische Gruppierung gebildet. Sie fühlte sich seinen Lehren über die Bestimmung des Gelehrten verpflichtet. Unter seinem direkten Einfluss wurde Staat und Gesellschaft reflektiert mit dem Ziel, in spätaufklärerischem Sinn an der eigenen Vervollkommnung zu arbeiten. Nicht Agitation, sondern Reflexion und das offene Gespräch war geboten. Initiator und führender Kopf war Johann Smidt, später Bürgermeister in Bremen und Gründer Bremerhavens. Die Gründungsversammlung dieser Gesellschaft, die sich in eine Tradition wissenschaftlicher Gesellschaften in Jena einreiht, war am 18. Juni 1794. Die dem Senat der Universität vorgelegte »Constitution von 1795« musste mehrfach nachgearbeitet werden, um den Beanstandungen dieser Zensurbehörde zu genügen. Professoren und Carl August von Sachsen-Weimar kontrollierten solche Vereinigungen; sie hatten Sorge wegen der berüchtigten Ordens-Unruhen. Fünf Jahre lang bestand diese Litterärische Gesellschaft. Die Themen und Vorträge während dieser Zeit befassten sich mit Fragen der Philosophie, Politik und Literatur. Der Titel des ersten Vortrags lautete: »Über die in unsern Zeiten hervordämmernde vernunftmäßige Freiheit der Menschen in der Gesellschaft.« Die Konstitution bestimmte, die Vorträge nach Umlauf zu vernichten, wohl deshalb findet sich lediglich eine Themenliste. Wie sehr sich Böhlendorff in dieser Gesellschaft betätigte, zeigen die Titel seiner Vorträge. Dabei ist zu beobachten, dass die philosophischen und zunehmend literarisch-ästhetischen Themen wesentlich von ihm behandelt wurden. Mit Fichte, der ihn offenbar als Diskussionspartner sehr schätzte – und der, wie auch Niethammer und Paulus dem Kreis zugetan war –, stand er in intensivem Gespräch. Fichte soll nur einmal eine Sitzung besucht haben. Für Fichte war Böhlendorff auch noch um 1800 ein wichtiger Gesprächspartner, mit dem er sich über seine Korrespondenz mit Jacobi über den Atheismusstreit austauschte. Die Mitglieder der Gesellschaft pflegten untereinander ein enges persönliches Verhältnis. Böhlendorff findet in diesem Kreis weitere Freunde, so Johann Friedrich Herbart, der die Pädagogik im 19.Jahrhundert nachhaltig beeinflusste, und Friedrich Philipp Albert Muhrbeck (1775–1827). Dieser studierte Philosophie, Mathematik und Chemie, promovierte, ging 1796 nach Jena zum Studium der Philosophie bei Fichte und wurde Mitglied in der Gesellschaft der frei-
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en Männer. Die Freundschaft mit Böhlendorff führte zu einer gemeinsamen Reise in die Schweiz. Im Frühjahr 1798 verbrachten sie vier Wochen am Bieler See; auf der Peterinsel folgten sie Rousseaus Spuren. H. wird Muhrbeck als Gesinnungsfreund schätzen (StA 6, 316; 337). Er zog in Erwägung, ob es nicht in Verbindung mit Schelling und Schlegel eine berufliche Möglichkeit für H. in Jena gebe (StA 7.1, 144). 1799 kehrte Muhrbeck in seine Heimatstadt Greifswald zurück und wurde dort Professor. Er hat nichts veröffentlicht; ein Nachlass ist nicht überliefert. Böhlendorff lernte in der Litterärischen Gesellschaft zwei Schweizer Kommilitonen kennen, den Juristen Johann Rudolf Steck (1772–1805) und den Theologen Johann Rudolf Fischer (1772–1800). Die beiden stellten Hauslehrerstellen in Bern für Herbart und Böhlendorff in Aussicht. So entstand der Plan zur gemeinsamen Reise im März 1797 in die Schweiz. Die Reise soll über Göttingen, Frankfurt, Stuttgart und Tübingen gehen (die Gefährten sind u. a.: Steck, Fischer, Herbart, Muhrbeck). Die Freunde werben vergebens darum, dass sich Smidt anschließen möge, mit ihm wollen sie ihre Begeisterung für die Schweiz teilen. Durchaus zeittypisch ist diese Begeisterung. Die Schweiz gilt als ideales Bild für das Land der Freiheit. Als literarische Vorbilder, die sie dazu gemacht haben, sind zu nennen: Haller, Die Alpen, Rousseau, Julie ou la Nouvelle Héloïse, Lavater, Schweizerlieder. Schweiz – glückliche Republik? Auch von H. wissen wir um seine Reise in die Schweiz. Er hatte die Möglichkeit wahrgenommen, Lavater zu treffen; die einstigen Lehrer aus Nürtingen hatten ihm Empfehlungsschreiben mitgegeben, die sich H. über die Mutter erbeten hatte. Sein Gedicht Kanton Schweiz ist Ausdruck dieser Begeisterung. Smidt und Böhlendorff treffen sich im Juni 1797 in Bern. Die als Ideal vermittelte glückliche Republik unterschied sich doch sehr von der Realität. Die Unterschiede, Widersprüche und Missstände in den demokratisch und aristokratisch regierten Kantonen waren nicht zu übersehen. Böhlendorff, der durch seine Stelle in den höchsten Berner Kreisen verkehrte, verließ nach drei Monaten enttäuscht die Hauslehrerstelle. Den Entschluss fasste er, als Smidt ihm mit einer ganzen Freundesgruppe aus Jena eine Fußreise nach Oberitalien vorschlug. Offenbar war dieser Plan nicht zuletzt getragen von dem Wunsch, Bonaparte, eventuell in Mailand, zu sehen. Die dreiwöchige Reise begann am 23. Juli. Seine Landschaftsbeschreibungen
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von der gemeinsamen Italienreise sind eindrücklich in den Abentheuerlichen Briefen festgehalten (veröffentlicht bei Wilmans im Taschenbuch für das Jahr 1803. Der Liebe und Freundschaft gewidmet). Gleichzeitig wird die Erfahrung der Landschaft zur Grundlage seiner Auffassung des Subjektbegriffs. Nicht eine gesetzte Entität im Fichteschen Sinn ist es, vielmehr sind Zeitlichkeit und Sprachlichkeit Bedingungen seiner Möglichkeit. In der Entfaltung seiner philosophischen Konzeption und seiner Dichtungskonzeption lassen sich dialektische Merkmale festmachen. H. knüpft im Dezember 1801 daran an (StA 6, 425 ff.). Die emotionale Bindung Böhlendorffs an die Schweiz muss stark gewesen sein. Er hat, so berichtet Smidt, alle Tell-Stätten besucht. Ebenso groß war die Enttäuschung – eine Enttäuschung, die zugleich die Ideale der Französischen Revolution betraf, die einst Ausdruck für die gesellschaftliche Erneuerung und den Aufbruch in Europa waren. Acht Jahre waren seit dem Sturm auf die Bastille vergangen, jetzt beginnt sich der Machtimperialismus abzuzeichnen. In zwei Dramen, die aus der griechischen Geschichte schöpfen – Theseus und Der Spartaner in Ägypten – stellt Böhlendorff dem ein positives Bild entgegen. Das Ende der Alten Eidgenossenschaft hatte er vor Ort erlebt. Bei der Familie von Wattenwyl (auch Watteville) in Bursinel am Genfer See hatte er seine zweite Hauslehrerstelle. Seine Freunde gehörten zu denjenigen, die direkt am politischen Geschehen beteiligt waren. Neben Steck und Fischer befreundete er sich mit Philipp Emanuel Fellenberg (1771–1844), der 1798 Sekretär des helvetischen Gesandten Zeltner in Paris war. Mit seiner Geschichte der Helvetischen Revoluzion (erst 1802 veröffentlicht bei Woltmann, dessen Sekretär er zu dieser Zeit ist) tritt er ein für die schweizerische Unabhängigkeit und republikanische Loyalität. Die Schrift entstand genau in den Anfängen der Republik; sie endet mit dem 18. Fructidor V (4. September 1797). An diesem Tag endete auch die Tätigkeit seines Freundes Steck als Generalsekretär. Im März 1798 nehmen die Franzosen Bern ein. H.s eigenes Schweizerlebnis datiert auf 1791. Für Frühjahr 1798 war eine Schweizer Reise mit Henry Gontard nach Genf geplant, die aber nicht zustande kam. Der Umgang mit Hegel erfährt in diesem Licht neue Bedeutung. Hegel hatte in seiner Berner Zeit als Hauslehrer eine damals verbotene Streitschrift Lettres de Jean Jacques Cart à Bernard Demuralt erworben, übersetzt und auszugsweise kommentiert veröffentlicht. Hegel bezieht eindeutig Stellung, indem er die Berner Missstände aufdeckt. Sicherlich hat Hegel die
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weiteren Ereignisse in der Schweiz verfolgt und als Informationsquelle Posselt’s Annalen genutzt, die er an H. weitergab. Nach H.s Weggang aus dem Hause Gontard schreibt Henry, dass Hegel ihm das 6. Stück des Jahrgangs schickte (MA 2, 700). Es ist der Jahrgang, in welchem Helvetien mit der Geschichte seiner neuesten Revolution behandelt wird. Republikanische Poeten Im Frühjahr 1799 verlässt Böhlendorff die Schweiz. Er will sich künftig auf sein dramatisches Schaffen konzentrieren. Sein Freundeskreis teilt mit ihm die starke Anteilnahme an den Geschehnissen in der Schweiz, verbindet sich doch damit die Hoffnung auf eine Veränderung im deutschen, vor allem im südwestdeutschen Raum. Gerade die Generation H.s war der Kreis von Intellektuellen, der sich für das politische Geschehen interessierte und zu den aktiv Handelnden gehörte. Das gemeinsame Erlebnis der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen führte dazu, dass sich ihre Wege, trotz verschiedener Entwicklung, immer wieder kreuzten. Seit Ende September 1798 lebte H. in Homburg. Sinclair reiste als Vertreter Homburgs im November zum Rastatter Kongress. H. besuchte ihn dort Ende November/Anfang Dezember. Hier lernte H. Fritz Horn und Friedrich Muhrbeck kennen, die Freunde Böhlendorffs aus der Jenaer Zeit, die ebenfalls zur Gesellschaft der freien Männer gehört hatten. Muhrbeck begleitete Sinclair im Februar 1799 nach Homburg (Rückkehr vom Kongress). Böhlendorff kam im April nach Homburg und wollte mit Muhrbeck nach Jena. So kam es zum Treffen mit H. und Sinclair. Es ist wahrscheinlich, dass sie sich schon in Jena wahrgenommen hatten. Hegel war zeitgleich in Frankfurt. Auch hier ist eine Begegnung nicht ausgeschlossen. Im Frühjahr 1799, vor dem Zweiten Koalitionskrieg, verstärkte sich die Hoffnung der Schwaben, sich mit der Schweiz zu vereinen und eine Republik bis zum Main zu gründen. Das Misstrauen gegenüber dem Französischen Direktorium war gestiegen, man wollte den französischen Unterdrückungen besser widerstehen können. Der Zweite Koalitionskrieg, der zunächst militärische Erfolge für Österreich bringt, gefährdet die Helvetische Republik. Die bestürzende Nachricht vom Gesandtenmord an den Franzosen, der den Rastatter Kongress jäh beendete, kommentiert Böhlendorffs Brief vom 10. Mai an Fellenberg (StA 7.2, 136); damit bestünde die Möglichkeit einer Befreiung von beiden Ländern, Österreich und Frank-
reich. In diesem Brief stellt er auch die beiden Homburger Freunde als echte Republikaner vor. Die Freundschaft mit H. setzt sich fort. Die geistig-emotionale Nähe der Freunde weist Bernhard Böschenstein bis zur Verwendung gemeinsamer Leitwörter nach. Er führt Parallelen in Böhlendorffs Geschichte und H.s Dichtungen Der Frieden, Der Rhein, Friedensfeier an. Die Arbeit am Empedokles war in den Jahren 1798/99 vorrangig. Der Übergang von der alten Ordnung in eine neue orientiert sich an den Idealen der Französischen Revolution. Böhlendorff erkundigte sich nach H.s Zeitschrift Iduna, in deren erster Nummer Der Tod des Empedokles veröffentlicht werden sollte. Es ist wahrscheinlich, dass Böhlendorffs Beschäftigung mit gattungstheoretischen Fragen auf H. zurückgeht. Böhlendorff brachte in Homburg die in der Schweiz begonnene Übersetzung der Werke Chamforts zum Abschluss. Dann arbeitete er am Drama Fernando oder Kunstweihe. Schiller bot er Gedichte zur Veröffentlichung an, der sie ablehnte, Neuffer druckte sie. Danach folgt eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in Journalen. Erst 1803 kommen die auf der ersten Schweizreise entstandenen Abentheuerlichen Briefe zum Druck. Böhlendorff gelang es nicht – auch darin gleicht sein Schicksal dem H.s – eine gesicherte Existenz zu gründen. Seine schriftstellerische Arbeit hatte keinen Erfolg, sie wurde als epigonale Schiller-Dichtung abgetan. Der Versuch, sich in Bremen niederzulassen oder nochmals eine Hauslehrerstelle in der Schweiz zu bekommen, scheiterten. Den Schweizer Freund Steck bittet er im Sommer 1803 verzweifelt um Hilfe; schließlich kehrt er in seine Heimat, ins Kurland, zurück. Jahre unruhigen Wanderlebens folgten. 1825 beging er Selbstmord. Zwei entscheidende Briefe H.s sind ein beredtes Zeugnis über die Gleichgestimmtheit, die er dem Freund gegenüber empfindet. Im Brief vom 4. Dezember 1801 spricht H. ihn als Gleichgesinnten an, mit dem er »ein Schiksaal« habe. An seiner wichtigen Erkenntnis, an der er lange »laborirt« hat, lässt er ihn teilhaben: »Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde. [...] der freie Gebrauch des Eigenen [ist] das schwerste«. (StA 6, 426) Er verabschiedet sich von ihm, bevor er sein Land verlässt, um nach Frankreich aufzubrechen: »Aber es hat mich bittre Thränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vieleicht auf immer. Denn was hab’ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen.« (StA 6, 427 f.) Im Brief vom November
5 Freundschaften
1802, nach seiner Rückkehr, findet H. wieder in Böhlendorff den Gesprächspartner; er ist ihm Kunstgefährte. H. spricht von der »Psyche unter Freunden«: »das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig. Sonst haben wir keinen für uns selbst« (StA 6, 433). In diesem Brief findet sich auch die bedeutsame Stelle, welchen Eindruck er durch den Anblick der »Antiquen« – er hatte die Antikensammlung im Louvre in Paris gesehen – bekommen habe, die ihm das Verständnis für »das Höchste der Kunst« geöffnet haben, das »die höchste Art des Zeichens ist.« (ebd., 432 f.) Und schließlich formuliert H. den Anspruch, der für sein Dichten bestimmend sein wird: »vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.« (ebd., 433) Das ist die neue »Sangart«. Literatur zu Niethammer
Diez, Immanuel Carl: Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen – Jena (1790–1792), hg. v. Dieter Henrich, Stuttgart 1993. Waibel, Violetta: H. und Niethammer, in: T 2, 18–20; 91–99.
zu Hegel und Schelling
Franz, Michael: Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996. Franz, Michael: »Platons frommer Garten«. H.s Platonlektüre von Tübingen bis Jena, in: HJb 28 (1992/93), 111– 127. Jacobs, Wilhelm G.: Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen, Stuttgart 1989. Metzger, Stefan/Waibel, Violetta, in: T 3, 52–89.
zu Isaac von Sinclair
Brauer, Ursula: Isaac von Sinclair. Eine Biographie (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 15), Stuttgart 1993. Franz, Michael: H. und der »politische Jammer« II: Die Vorgeschichte des »Hochverratsprozesses« von 1805, in: Lawitschka, Valérie, (Hg.), Turmvorträge 7 (2008–2011), H.: Literatur und Politik, Tübingen 2012, 39–67. Kirchner, Werner: Der Hochverratsprozeß gegen Sinclair. Ein Beitrag zum Leben H.s, Marburg/Lahn 1949.
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zu Casimir Ulrich Böhlendorff
Boehlendorff, Casimir Ulrich: Werke in drei Bänden, hg. v. Frieder Schellhase, Frankfurt a. M. 2000. Boehlendorff, Casimir Ulrich: Geschichte der Helvetischen Revoluzion, hg. v. Klaus Pezold, Bern 1998. Böschenstein, Bernhard: Das Bild der Schweiz bei Ebel, Boehlendorff und H., in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler: »Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde«. Das Schicksal einer Generation der Goethezeit, Stuttgart 1983, 58–72. Brauer, Ursula, in: T 4, 111. Freye, Karl: Casimir Ulrich Boehlendorff der Freund Herbarts und H.s, Pädagogisches Magazin 547, Langensalza 1913. Habeck, Robert, in: T 4, 113–119. Haller, Albrecht von: Die Alpen, Berlin 1959. Pezold, Klaus: »Casimir Ulrich Boehlendorff, seine ›Geschichte der Helvetischen Revoluzion‹ und seine Begegnung mit F. H. im Frühjahr 1799«, in: Gaier, Ulrich/ Valérie Lawitschka (Hg.): H. und die »künftige Schweiz«, Tübingen/Eggingen 2013, 244–259. Prignitz, Christoph: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981. Ziehen, Eduard: Die deutsche Schweizbegeisterung in den Jahren 1750–1815, Frankfurt a. M. 1922.
zu Gesellschaft der freien Männer
Brauer, Ursula, in: T 2, 169–186. Marwinski, Felicitas: »Wahrlich, das Unternehmen ist kühn ...« Aus der Geschichte der Literarischen Gesellschaft der freien Männer von 1794/99 zu Jena [mit Abdruck der Constitution von 1795], Jena und Erlangen 1992. Neumann, Peter: Jena 1800: Die Republik der freien Geister, München 2018. Raabe, Paul: Das Protokollbuch der Gesellschaft der freien Männer zu Jena 1974–1799, in: Festgabe für Eduard Berend zum 75. Geburtstag am 5. Dezember 1958, Weimar 1959.
zu Schweiz – glückliche Republik?
Gaier, Ulrich/ Lawitschka, Valérie (Hg.): H. und die »künftige Schweiz«, Tübingen/Eggingen 2013.
Valérie Lawitschka
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II Zeit und Person
6 Frankreich (Dezember 1801 – Juni 1802) Im Herbst 1801 stellte H. fest, dass er auf die erhoffte Aussicht, eine Stelle an der Universität Jena zu bekommen, verzichten, das heißt die Laufbahn des weiterhin abhängigen Hofmeisters weiterverfolgen musste, wie er Anfang November 1801 an die Familie schreibt, kurz nachdem Landauer ihm in seinem Brief vom 22.10.1801 die Bedingungen für seine Stelle beim Weinhändler und Hamburger Konsul Daniel Christoph Meyer in Bordeaux bestätigt hatte, in der Stadt also, wo der Ex-Stiftler und inzwischen französische Diplomat in Hamburg Reinhard 1787 selbst Hofmeister gewesen war. Vermittler war der Professor am Stuttgarter Gymnasium F. J. Ströhlin, selbst ebenfalls ehemaliger Hofmeister in Bordeaux. »[Prof. Ströhlin] hat Briefe von Bordeaux erhalten, deren Innhalt Dich vollständig zufrieden stellen wird, da Du vor der Hand von Predigen dispensirt bist, 25. L[ouis]d’or. Reiß Geld erhältst nebst der Versicherung, daß Dein jährlicher Gehalt auf 50. Ld’ors sich belaufen werde.« (MA 2, 910) Den November-Brief an die Seinigen (ebd., 910) schrieb H. wohl in Stuttgart. Bald danach hielt er sich wegen der letzten Vorbereitungen für kurze Zeit wieder in Nürtingen auf. In dem Brief an den Bruder vom 4.12.1801 (ebd., 911) verabschiedet er sich, sagt aber kein Wort von Bordeaux. Ganz im Gegensatz zu dem Brief an Casimir Böhlendorff vom selben Tag (ebd., 913), wo die Reise nach Frankreich angesprochen wird: Dennoch wird hier deutlich, dass H. damals eine äußerst vage Vorstellung von seinem Reiseziel hatte, das er in »der Nachbarschaft Deines Spaniens« situiert. Im selben Brief ist von einem Reiseweg über Paris die Rede, ohne weitere Angabe, ob bei der Hinoder bei der Rückreise. Gleicherweise erwähnt er die »Sonne der Provence« sowie den »Anblik des Meeres«: keineswegs realistische Projekte für die damaligen Verhältnisse, als hätte H. über einer Landkarte ohne Rücksicht auf den Maßstab phantasiert. Zu solchen Ausflügen hätte es längeren Urlaubs bedurft. Leider ist ein Brief an Sinclair vom 11.12.1801 verschollen, der womöglich genauere Aufschlüsse gab.
6.1 Die Hinreise: Straßburg – Lyon – Bordeaux Am 11.12.1801 machte sich H. von Stuttgart aus auf den Weg nach Frankreich. Erste Hauptstation: Straßburg, wo er sich am 15.12.1801 bei den Behörden meldete, jedoch zwei Wochen warten musste, bis er die Genehmigung für die »Fortsetzung der Reise« bekam. Wo er die Wartezeit verbrachte, ist unbekannt. Das Original des Reisepasses ist nicht erhalten, laut Beißner und Litzmann beim Beschuss der Stadt 1870 verlorengegangen. Falsch scheint jedoch Beißners Annahme (H. in Frankreich, 125; StA 7.2, 194; von J. Schmidt übernommen, KA 3, 915) »der Weg über Paris sei ihm als einem Fremden aus innenpolitischer Vorsicht von der Polizei verwehrt worden.« Einerseits ist belegt, dass viele Ausländer den Reisepass über Paris problemlos bekamen. Außerdem erklärt H. selbst in dem Brief an die Mutter aus Lyon vom 9.1.1802, es sei ihm »die Reise über Lyon, als einem Fremden, von der Obrigkeit angerathen worden« (KA 3, 463). Es ist also bei ihm von keiner zwingenden Maßnahme die Rede. Wohlgemerkt: In solchen Briefen an die Mutter möchte H. vor allem jedes Detail rechtfertigen, das in ihr irgendeinen – sein gutes Benehmen betreffenden – Verdacht hätte entstehen lassen. Der Brief beginnt mit einer Art Entschuldigung »sie werden sich wundern, zu dieser Zeit von Lyon aus einen Brief von mir zu erhalten.« Im selben Brief erwähnt er auch sehr flüchtig »andere unabwendbare Umstände«, welche die Reise nach Lyon verzögerten: womöglich (vgl. Mieth 1990, 77) Besuche bei ehemaligen Stiftlern in Montbéliard (George Frédéric Fallot, Georges Louis Bernard, Jakob Friedrich Lambercier, Georges David Durot, Christian Ludwig August Wetzel). Gegen Becks Meinung spricht vieles dafür, dass H. selbst die Genehmigung für den unüblichen Abstecher beantragt hat, nachdem er in Straßburg erfahren hatte, dass sich Bonaparte in der zweiten Januarwoche in Lyon befinden würde (von Beck ohne weiteres zur Kenntnis genommen, merkwürdigerweise von Bertaux übersehen, erst von Mieth 1990 und Lefebvre 1990 weiter besprochen), um dort die für die Geschichte Italiens äußerst entscheidende Consulta zu präsidieren. Bonaparte kam tatsächlich am 11. Januar in der Stadt an. Gerade wegen dieses Antrags hätte H. dann auf die Antwort der Pariser Zentrale zwei Wochen warten müssen. Für eine die Hauptstadt Paris vermeidende Route gab es nämlich, zumal im verschneiten Winter, einen durchaus direkteren und bequemeren Weg von Straßburg nach Bordeaux, über Belfort, Dijon, Autun, Moulins,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_6
6 Frankreich (Dezember 1801 – Juni 1802)
Montluçon, Gueret, Limoges, oder, kaum länger, über Chaumont, Auxerre, Bourges, Chateauroux, Angoulême. Die zwei Wochen Wartezeit entsprechen ungefähr dem Hin- und Rückweg eines Genehmigungsantrags zwischen Paris und Straßburg. Am 9. Nivôse (30.12.1801) wurde die Erlaubnis ausgestellt: »autorisé à continuer sa route.« Der Weg nach Lyon ging über Colmar, Thann, Belfort, Montbéliard, Besançon, dann Lons-le-Saulnier, Bourg en Bresse, Pont d’Ain, bzw. Dôle, Chalon-sur-Saône und Mâcon. Zehn Tage danach meldet sich H. als »homme de lettre« bei der Polizei von Lyon. Der ihm erteilte Pass enthält die berühmte Personenbeschreibung des Dichters und erlaubt ihm »vier Tage« Aufenthalt in der Stadt: ausgerechnet die Tage, in denen Bonaparte mit Sicherheit in der Stadt sein würde. Adresse: Hôtel du Commerce, rue Saint-Dominique (heute, so Mieth, 76, Rue Emile Zola, eine der schönsten Straßen von Lyon, zwischen dem Place de Bellecour und dem Place des Jacobins). In dieser Straße war Jean-Jacques Rousseau 60 Jahre zuvor Hofmeister beim damaligen Hofrichter von Lyon Mably (Mieth, ebd.). Die Stadt war für diesen Besuch beleuchtet und oberflächlich aufgefrischt worden. Ansonsten war alles in sehr schlechtem Zustand. Der berühmte Place de Bellecour lauter Schutt und Schlamm. Dort hatte man immerhin einen Triumphbogen errichtet, mit dem Emblem des Consulats, einem schlummernden Löwen. Als Bonaparte am 11. in aller Frühe ankam, war es bitterkalt. Die Straßen um die Stadt herum waren in sehr schlechtem Zustand. Die Preise waren gestiegen. Um so außerordentlicher war die allgemeine Aufregung um das welthistorische Geschehen: Zwei Wochen danach wurde die erste italienische Republik gegründet. Dass Bonaparte mit Verspätung in Lyon angekommen war, lag auch an den ebenfalls welthistorischen Friedensverhandlungen mit England: Er beabsichtigte nämlich, den allgemeinen Frieden mit England (La paix d’Amiens, auch Paix générale genannt) in Lyon anzukündigen. Höchstwahrscheinlich konnte der »homme de lettres« H. noch den ›großen Bonaparte‹, sehen, bevor er die Reise fortsetzte. 1797 hatte er die Bonaparte-Ode geschrieben (siehe auch das Fragment Dem Allbekannten, MA 1, 272). Das Trauerspiel Empedokles reflektierte auch zum Teil die Geschichte Bonapartes. Am 12. bzw. 13. Januar machte er sich dann auf den Weg nach dem Westen über Thiers, Clermont, Tulle, Périgueux, Libourne: 547 km nach den damaligen Reiseführern. Der südlichere, unbequemere Umweg über Le Puy und Aurillac ist weniger wahrscheinlich. Nach dem 17. Ja-
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nuar war das Wetter wohl bis Ende Januar spürbar milder: Tauwetter also und Überschwemmungen (»Diese lezten Tage bin ich schon in Einem schönen Frühlinge gewandert«; MA 2, 916). Der Verkehr soll auf dieser Strecke (heute Route Nationale 89) sehr gering gewesen sein: Einen Teil der Strecke musste er wohl zu Fuß (MA 3, 548) zurücklegen. Auch war die hohe Zahl von Deserteuren und Räuberbanden kein Märchen: Am 26. September 1799 war die Postkutsche zwischen Roanne und Saint-Etienne überfallen worden. Am 28. Januar 1802 schreibt H. an die Mutter, dass er gerade angekommen sei. Da es damals keine Brücke über die Garonne gab, hatte er wahrscheinlich auf dem rechten Ufer in Lormont oder La Bastide übernachtet. Die Reise sei nach dem sogleich an die Mutter geschriebenen Brief gefährlich gewesen, er habe »so viel erfahren, daß [er] kaum noch reden kann davon«, jetzt sei er »gehärtet und geweiht«, wie es seine Mutter immer gewünscht, und wohne »fast [...] zu herrlich.« (MA 2, 916) Wahrscheinlich wohnt er nicht bei Meyer, wie meist angenommen wird, sondern in der Rue Saint-Rémi, unweit vom alten Hafen, in einer großen, für die Bedienung von Meyer gemieteten Wohnung (heute Nr. 4).
6.2 Der Aufenthalt in Bordeaux: 28. Januar – Mai 1802 Der Hamburger Weinhändler und seit 1797 Konsul der Stadt Hamburg Daniel Christoph Meyer (1751– 1818), war der Sohn des Hamburger Weinhändlers Johann Christian Meyer und hatte eine Zeitlang beim ebenfalls in Bordeaux etablierten Hamburger Weinhändler Schyler gearbeitet. Von seinem Bruder Johann Lorenz ist ein interessanter Reisebericht aus dem Jahr 1801 erhalten, in dem die wirtschaftlich-soziale Lage der Stadt Bordeaux sechs Jahre nach dem Terror aus der eher konservativen Perspektive eines Domherrn der Lutherschen Kirche beschrieben wird. D. Chr. Meyer war damals 51 Jahre alt. 1790 hatte er die aus Westindien (Antillen) stammende Französin, damals schon Mutter von vier Kindern, Anne Marie Andrieu de Saint-André (1753–1833) geheiratet, die ihm vier weitere Kinder schenkte. Er war Mitglied der 2ième Section révolutionnaire du Bonnet rouge gewesen und wie die meisten ausländischen Einwohner den Verfolgungen während des Terrors entgangen. Sein Haus gehört heute noch zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Es war 1802 so gut wie neu, im klassizistischen Stil am Ende der Allées de Tourny von dem
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II Zeit und Person
berühmten Architekten Combes gebaut worden: ein Gegenstück zu dem ebenfalls neo-klassizistischen Grand Théâtre. Garonne und Hafen waren nur fünf Minuten zu Fuß vom Haus entfernt. Aus den Fenstern der oberen hinteren Zimmer sah man die zahlreichen vor Anker liegenden Schiffe und die bewaldeten Hügel auf dem rechten Ufer der Garonne. Die Wintermonate 1802 sind in der Geschichte der Stadt, und vor allem des Hafens, eine außerordentliche Zeit. Nach langen Jahren der Unsicherheit konnte der Handel mit den europäischen Hafenstädten, vor allem mit dem amerikanischen Hauptpartner, dank dem im März geschlossenen Frieden von Amiens endlich wieder aufgenommen werden. Ein Jahr danach, im Juni 1803, brach erneut der Krieg mit England aus und legte den Handel wieder lahm. Tage der Hoffnung also für die ganze Bevölkerung, und ganz besonders für die kleine hanseatische Kolonie, deren wirtschaftliche und soziale Bedeutung die rein demographische Zahl weit überstieg. Die Deutschen in Bordeaux (vgl. darüber z. B. Espagne, Ruiz) bildeten eine einflussreiche, gut organisierte Gesellschaft, wobei Freimaurerei und Konfession eine nicht geringe Rolle spielten. Es gab in Bordeaux eine Loge de l’Amitié allemande. Der Mannheimer Komponist Franz Beck dominierte seit Jahrzehnten das lokale Musikleben. Auch er schrieb Oden an Bonaparte und Hymnen an die Freiheit, an die Vernunft, an den Frieden. Der ehemalige Minister der französischen Republik Reinhard war hier Hofmeister gewesen. Auch war Bordeaux als Hauptstadt der Gironde bekannt: Seit Archenholz’ Minerva-Artikel vom 2.6.1795 war der ›Girondisme‹ ein bekannter, aktueller Begriff der politischen Auseinandersetzung. Von H.s Alltag in den Monaten Februar bis Mai 1802 weiß man kaum etwas. Nach Schelling hätte man von ihm Dienste verlangt, die er zu leisten »teils unfähig war, teils mit seiner Empfindlichkeit nicht vereinen konnte« (Schelling an Hegel am 11.7.1803). Waiblinger vermutet, dass H. verzweifelt versucht hätte, »sich im Sinnentaumel, in wilden unordentlichen Genüssen, in betäubenden Ausschweifungen zu vergessen«. Im geschäftlichen Briefwechsel Meyers mit dem Freund Landauer spricht Letzterer jedoch von einem »schönsten Zeugnis«, das er erhalten habe, wonach der Hofmeister H. sich musterhaft benommen hätte (Beck 1950, 83). Adolf Beck vermutet überzeugend, dass die verlangten Dienste nicht unbedingt das Predigen betreffen, sondern auch den Unterricht der kleinen Kinder. Dies schließt wohl auch Spaziergänge in die nahe Umgebung ein, womöglich durch die zahl-
reichen Gärten nördlich der Chartrons, kurze Ausflüge zu dem Erholungshaus, das die Familie ebenfalls nördlich von Bordeaux in Blanquefort besaß. An Feiertagen wurde in Bordeaux getanzt und geschmaust. Bei schönem Wetter begab man sich in die sogenannte »kleine Schweiz«, das heißt auf die hohen Hügel gegenüber von Bordeaux, hauptsächlich nach Lormont (s. u. Andenken). Von H.s Alltag in der Familie Meyer und einem Kontakt mit anderen (selbst deutschstämmigen) Einwohnern der Stadt ist nichts überliefert. Im Gegensatz zum Frankfurter Aufenthalt ging er wahrscheinlich mehr aus. Ein Ausflug ans Meer ist jedoch in dieser Jahreszeit wenig wahrscheinlich.
6.3 Rückkehr nach Deutschland Am 10. Mai 1802 erhält H. vom Polizei-Kommissariat in Bordeaux seinen Ausreisepass nach Straßburg. Vier Wochen danach (Pfingstmontag, 7. Juni) erhält er das entsprechende Visum »pour passer le pont de Kehl« am Grenzübergang. Dreieinhalb Wochen später taucht er in Stuttgart auf, in einem Zustand hoher Erregung, völlig zerrüttet. Kurz darauf ist er bei der Mutter in Nürtingen, Anfang Juli aber schon wieder bei Landauer in Stuttgart, wo er die irrtümlicherweise von Sinclair nach Bordeaux geschickte Nachricht von Susette Gontards Tod bekam. Danach sei er endgültig nach Nürtingen zurückgekehrt, wo er für die nächsten zwei Jahre wohnen sollte. Äußerlich ist die Zeit der Rückkehr nach Deutschland von der politischen Situation geprägt, die der Frieden von Amiens und die Veröffentlichung der Lois concordataires (›Der religiöse Friede‹) bestimmt hatten. Im ganzen Lande wird – wohl allmählich abebbend – der ›grand homme‹ Bonaparte weitergefeiert, den man nunmehr offiziell als Prince de la Paix kennzeichnet. Die genauen Gründe für H.s vorzeitigen Abbruch des Vertragsverhältnisses sind unbekannt und umstritten. Man hat festgestellt, dass H., mit Ausnahme des Frankfurter Aufenthalts, im Frühjahr immer nach Hause musste. Bertaux’ Annahme, er hätte in Bordeaux von Susettes Gontards Krankheit gehört (bei Waiblinger sogar »einen Brief von ihr erhalten«) und sei unmittelbar darauf nach Frankfurt aufgebrochen, stellt Beck überzeugend rein zeitliche Unmöglichkeit entgegen. Von einem Eklat mit dem Hausherrn Meyer könne nicht die Rede sein: Meyer ließ die Frachtkosten in Höhe von über 30 Gulden ordnungsgemäß an Landauer aufgeben und schrieb danach das oben er-
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wähnte »schöne Zeugnis«. Dass H. sich einen Pass ausfertigen ließ, dann über Paris reiste, wo er die Antiquen vom Musée du Louvre sah (siehe hierzu auch Becks Widerlegung von Litzmanns Thesen), und vor allem, dass er insgesamt vier Wochen unterwegs blieb, wo elf Tage mit der Post gereicht hätten, sind ein weiteres Indiz dafür, dass H. im Einvernehmen mit Meyer das Haus verließ und sich bewusst Zeit nahm bis Straßburg. Hätte er schon von Susette Gontards Erkrankung gewusst (die übrigens nach Sinclair erst am 12. Juni ausbrach), müsste man die mythische Beziehung ganz anders bewerten und deuten. Außerdem, so Beck, hätten dann Ebel und Sinclair von seiner Ankunft erfahren, Sinclair hätte seinen Brief nicht geschrieben usw. Auch gilt Hartmanns Vermutung als frei erfunden (vor allem bei Beck), H. sei der rätselhaft-unheimliche Dichter gewesen, der eines Abends in einem Schlosse Villelouet bei Blois erschienen war (FHA 9, 495). Nichts gibt im Ausreisepass darüber Auskunft, wann H. davon Gebrauch machte. Im zweiten Brief an Böhlendorff, wohl im November 1802, ist von zwei Gegenden die Rede, durch die er gereist sei: einerseits die Gegenden, die »an die Vendée gränzen« (gemeint ist wohl eher die ganze Gegend als der Fluss selbst, die von H. gemeinten kriegerischen Zustände betreffen weniger den bekannten Aufstand von 1793–1796 als die von Bonaparte selbst pazifizierten Unruhen der Jahre 1799–1800), andererseits Paris mit den Antiquen (an Seckendorff, präzisiert am 12.3.1804 »die Antiquen in Paris«). Im Musée du Louvre (in Musée Napoléon 1803 umbenannt) waren die meisten aus Italien und Ägypten von Bonaparte geraubten Schätze untergebracht. Gustav Schwab bestätigt (StA 7.2, 223) den Aufenthalt in Paris. Es sind dennoch zwei Reiserouten möglich: Angoulême, Poitiers, Tours, Chartres (561 km) oder Poitiers, Blois, Orléans. Ein anderer westlicherer Weg über Blaye, Niort, La Flêche, le Mans, Chartres bleibt wegen der Anspielung auf die Vendée denkbar. Von Paris nach Straßburg führt der Weg über Bar-le-Duc und Nancy (und Lunéville, siehe Mieth 1990, 79). H. hielt sich also frühestens in der dritten Maiwoche, spätestens in den letzten Maitagen in Paris auf. Seit April feierte man dort mehr als anderswo die Unterzeichnung des Friedens von Amiens und die Verkündung der Lois concordataires. Der heutige Place de la Concorde (Friedensplatz) war noch von vorläufigen Barracken und Tempelnachahmungen aus Holz und Gips geprägt, darunter einem neuklassizistischen Tempel ›A la Paix‹, den das Corps Législatif vor seinem Haus hatte errichten lassen.
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Auch war die Eglise Saint-Thomas d’Aquin in Temple de la Paix umgetauft worden (Aulard, II, 403 f.). All das ist ikonographisch gut belegt. Seit April waren sämtliche Kirchen der Hauptstadt trotz des schlechten Zustandes wieder stark und demonstrativ besucht. Man wartete auf die Rückkehr des Emigrés. Der Pfarrer des Consistoire Protestant hatte emphatisch prophezeit, das beginnende 19. Jh. würde »Siècle de Bonaparte« heißen. Doch der hohe Preis des Brots verursachte Streiks und Demonstrationen der Handwerker. Es war kalt; im Mai 1802 waren die Flüsse um Paris noch vereist. Die Strecke nach Straßburg stellt man sich meistens wegen des schlechten Zustandes des Dichters bei der Ankunft in Deutschland als abenteuerlich und gefährlich genug vor: Er sei zu Fuß gewandert, sei überfallen worden usw. Ein 1997 erschienener Beitrag zur Differentialdiagnose (Ingeborg Reichert, Wiesbaden) schreibt sogar die unmittelbar nach der Reise erschienenen Symptome einem Ergotismus convulsivus (Mutterkornerkrankung) zu, den der hungernde H. sich auf der Rückreise beim Verzehr von Kornrückständen zugezogen hätte. Andere Ätiologien wurden hier und da vorgeschlagen. Wo H. die Zeit zwischen dem Gang über die Grenze am 7. Juni und dem 2. Juli verbrachte, ist bislang ungeklärt. Beck ist der Ansicht, er sei schon am 15. Juni in Stuttgart gewesen.
6.4 Rückschau: Andenken Trotz des Mangels an direkten Angaben in dem Briefwechsel über Reise und Aufenthalt in Bordeaux selbst enthalten das Gedicht Andenken sowie einige Fragmente aus dem Homburger Folioheft wichtige Informationen, die dem Frankreich-Aufenthalt eine ›sprechende‹ Substanz verleihen. Andenken ist das letzte vollendete Gedicht, das zu H.s Lebenszeit gedruckt wurde. Der aus Deutschland wehende Nordostwind lenkt wie ein Passatwind im Frühjahr die Gedanken und das Denken des Dichters nach Südwesten: nach der »schöne[n] Garonne,/ Und d[en] Gärten von Bourdeaux« – und darüber hinaus nach dem Atlantik. Die ersten zwei Strophen beschreiben mit äußerster Sorgfalt eine Bordelaiser Landschaft, die die meisten Kommentatoren (auch D. Henrich, der diesem deskriptiven Anliegen ein ganzes, gut dokumentiertes Buch widmet) nicht zu verorten vermochten, solange sie als Blickpunkt das linke, städtische Ufer im Sinne hatten, welches ganz flach und schlammig ist und auf dem sich überhaupt keines der von H. minutiös auf-
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II Zeit und Person
gezählten Elemente befindet. Die schöne Garonne, die Stadt Bordeaux und die Gärten werden in der Tat von dem (damals fast 90 m) hoch liegenden Hügel von Lormont auf dem rechten Ufer der Garonne aus gegrüßt, 1 km nordöstlich von der Stadtmitte. Dort befinden sich der in die Garonne tief fallende Bach (heute eine steile Gasse zum Fluss hinunter), der Ulmwald, die Eichen, die Silberpappeln, die Mühle (auf der damaligen Landkarte als Moulin de Mercadet verzeichnet), unten am Fluss entlang die Stege. Der Ort mit seiner Fähre befand sich auf der ehemaligen Route d’Espagne der Santiago-Pilger und war vor allem für seine Werften bekannt. Eine in der Höhe vom Fluss her sichtbare Kapelle war von allen Schiffern und Seeleuten wegen ihrer schützenden Exvotos bekannt. Es war aber auch ein sehr bekannter Belustigungsort (›Le Robinson des Bordelais‹) mit vielen Kneipen und dazu gehörenden Prostituierten. An Feiertagen, am 22. März zum Beispiel (»Wenn gleich ist Nacht und Tag«), wurde hier getanzt, getrunken, gesungen und geliebt. Ist die darauf folgende dritte Strophe eher subjektivmelancholischer Art, so beziehen sich die zwei letzten Strophen wieder expliziter auf womöglich vor Ort erlebte Momente: auf die wiederbeginnende Schifffahrt im Frühjahr 1802, möglicherweise auch auf die Entdeckungsreise von Alexander von Humboldt (der »deutsche Kolombus«) ins äquinoktiale Amerika, die 1804 in Bordeaux endete. Nachdem der Dichter in der ersten Strophe den Strom, die Stadt und die Gärten von der hohen Klippe von Lormont aus gegrüßt hat, kommt er auf die Seeleute in den letzten zwei Strophen zu sprechen, deren Segelschiffe am von Lormont gut sichtbaren Bec d’Ambès (der »luftigen Spiz’«) vorbeiziehen, das heißt gerade an dem Ort, wo Garonne und Dordogne ineinander münden und »meerbreit« die Gironde bilden. Das Gedicht protokolliert mit großer Genauigkeit einen bestimmten Tag (22.3.1802) an einem bestimmten Ort. Im Fragment Das Nächste Beste (MA 1, 420) ist wiederum von Orten der Gascogne, »wo viel Gärten sind«, die Rede und von den Strömen »aus brennendem Lande« um »[d]en Hügel von Eichen«, also von der Dordogne und von der Garonne, die die Hügel des Entre-Deux-Mers umfassen, »wo/ Des Sonntags unter Tänzen/ Gastfreundlich die Schwellen sind«. Auch ist darin von »falbem Stein« des rechten Garonneufers die Rede, sowie von »feuchter Wiese der Charente«, wo sich die Stare im Frühling bei Nordostwind vor dem Rückflug nach Deutschland versammeln. Im Fragment Vom Abgrund nämlich
(MA 1, 422 f.) spielt H. auf ähnliche Umstände an (»[...] Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn/ In der Hizze meine Stimme auf den Gassen der Gärten/ In denen wohnen Menschen/ In Frankreich« [MA 1, 422]). Schließlich fasst er seine französischen Erfahrungen als »[n]eue Bildung aus der Stadt« zusammen (»Bis zu Schmerzen aber der Nase steigt/ Citronengeruch auf und von dem Öl aus der Provence und wo Dankbarkeit/ Und Natürlichkeit mir die Gascognischen Lande/ Gegeben.« [MA 1, 423]). Auch das Kolomb-Fragment gehört wahrscheinlich in den Umkreis der Frankreich-Reise. Das französische Paralipomenon »Carrières de greve« (StA 2, 336, Nr. 70; »Steinbruch am Ufer«) könnte sich ebenfalls auf den berühmten Steinbruch der Queyries beziehen, am Fuß des Hügels von Lormont. Literatur
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Jean-Pierre Lefebvre
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7 Die Jahre 1806–1843 7.1 Überlieferung H.s Leben zwischen der gewaltsamen Einlieferung in die Tübinger Universitätsklinik 1806 und seinem Tod 1843 ist umfangreich, doch bei weitem nicht lückenlos dokumentiert. Die nach wie vor bedeutendste Sammlung der erhaltenen Gedichte, Stammbuchblätter, Briefe und Lebenszeugnisse stellt die von Friedrich Beißner, Adolf Beck und Ute Oelmann edierte Große Stuttgarter Ausgabe dar, auf deren Grundlage der Verf. 1993 eine um den wiedergefundenen Teil der Nürtinger Pflegschaftsakte ergänzte Leseausgabe von Texten und Dokumenten aus H.s sogenannter »Turmzeit« herausgab (HP; vgl. StA 2, 6, 7.3, 8). Eine weitere ausführliche, doch – was die Lebenszeugnisse betrifft – ausdrücklich nicht auf Vollständigkeit bedachte Sammlung bietet FHA Bd. 9: »Dichtungen nach 1806 – Mündliches« (da der Textteil für die »Kritische Textausgabe« (KTA, s. Kap. 1) durchgesehen und neu kommentiert worden ist, wird im Folgenden nach KTA zitiert). Alle drei Ausgaben enthalten »die spärlichen Reste der massenhaften Niederschriften aus H.s zweiter Lebenshälfte« (Lübbe-Grothues, 84). Es sind die drei von Waiblinger in Prosaform überlieferten, ursprünglich »wie Verse, nach Pindarischer Weise« »abgetheilt[en]« Fragmente In lieblicher Bläue, Giebt es auf Erden ein Maaß? und Wenn einer in den Spiegel sieht (vgl. StA 2.2, 991; ob und inwieweit Waiblinger in die Texte eingegriffen hat, ist nicht mehr zu klären) – die 48 erhaltenen Oden und metrisch gereimten Gedichte (diese Zählung steht unter dem Vorbehalt der Datierung: KTA, 23 u. 24. rechnet, anders als StA 2.2, 841/42, auch Was ist der Menschen Leben und Was ist Gott? zu den nach 1806 entstandenen Gedichten) – drei Stammbuchblätter, fünf lateinische Sinnsprüche für unbekannte Besucher sowie 62 Briefe an die Mutter Johanna Christiana Gock, vier an die Schwester Heinrike Breunlin und einen an den Halbbruder Karl Gock. Während der briefliche Nachlass H.s nicht erheblich größer gewesen sein dürfte (wenn auch auffällt, dass kein Schreiben vor 1812 versendet wurde – freilich sind die Briefe in ihrer überwiegenden Mehrzahl nur hypothetisch datierbar (vgl. HP, 346), und nur ein von Zimmer erwähntes Stammbuchblatt vermisst wird (vgl. HP, 207)), muss die Zahl der verlorengegangenen poetischen Arbeiten als enorm einge schätzt werden. Schon im Januar 1811 teilt August Mayer seinem Bruder Karl mit: »Der arme H. will auch einen Almanach herausgeben und schreibt dafür
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täglich eine Menge Papiers voll. Er gab mir einen ganzen Fascikel zum durchlesen [...]« (StA 7.2, 411; HP, 23). Rückschlüsse auf den Umfang der verschollenen Manuskripte lassen auch Waiblingers Bemerkungen zu, nach denen H. »alles Papier, das er zur Hand bekommen konnte, voll[schrieb] mit einem schaudervollen Unsinn, der aber dann und wann einen unendlich schaudervollen Scheinsinn hat. Ich bekam eine Rolle solcher Papiere und traf hier ganz metrischrichtige Alcäen ohne allen Sinn an« (StA 7.3, 5; HP, 101). Christoph Theodor Schwab, der diese Auskunft nur von den Frauen der Familie Zimmer erhalten haben kann, bestätigt dies 1842 ebenfalls: »anfangs füllte er alles Papier, das er erhalten konnte, mit [...] Gedichten, aber man bemerkte, das es ihn zu sehr aufregte u. entzog ihm das Material; in der neueren Zeit nun hat seine Produktionslust etwas abgenommen u. er arbeitet meist langsamer, als früher« (KTA, 225; HP, 283). Schließlich bezeugt Lotte Zimmer eine anhaltende Produktivität noch für die letzten Lebensjahre: »ich sende Ihnen hier noch eins [ein Gedicht] was Sie auch behalten dürfen, freilich bringt Er eben keinen Zusammenhang mehr entstand, wo natürlich das Alter jezt viel ausmacht, den früher machte Er oft recht ordentliche Gedichte« (an Gustav Hermann Zeller, 30. Aug. 1842, HP, 295). Und am 7. Nov. 1842 an denselben Adressaten: »[...] beyfolgendes schrieb Er heute, es macht Ihnen vieleicht Freud deßhalb lege ich es bey« (ebd., 301). Zu den wichtigsten Lebenszeugnissen zählen die vierteljährlichen Briefe der Familie Zimmer an die Mutter H.s, nach deren Tod 1828 dann an die verschiedenen Vormundschaftspfleger Gottfried Israel Burk, Gustav Hermann Zeller und Dr. Essig. Sie berichten detailliert von Zustand und Verhalten H.s und stellen fraglos die zuverlässigste Quelle dar; außerdem lagen den Schreiben detaillierte Abrechnungen und Quittungen bei, aus denen sich die Alltagsbedürfnisse des hospitalisierten Dichters erschließen lassen. Sie sind in den beiden Teilen der Nürtinger Pflegschaftsakte enthalten, wobei von StA nur der erste Teil ausgewertet werden konnte, wenn auch nicht vollständig: Für Beck waren die zahlreichen Rechnungen, die beispielsweise den eminenten Verschleiß des Schuhzeugs oder die allfälligen Ausbesserungen von nervös beschädigten Bettüberzügen oder Hemdsärmeln belegen, nicht einmal summarisch dokumentationswürdig. Der zweite Teil wurde erst im Sommer 1991 von dem Nürtinger Museumsangestellten Albrecht Stark bei Umzugsarbeiten des Stadtarchivs zufällig entdeckt und konnte 1993 in HP publiziert werden. Neben den Briefen der
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_7
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Familie Zimmer sind insbesondere noch erwähnenswert die Arbeiten von Wilhelm Waiblinger (Tagebücher 1822–1824, StA 7.3, 3–13; HP, 100–107; Ders., F. H.s Leben, Dichtung und Wahnsinn (1827/28), StA 7.3, 50–80; HP, 135–155) – und von Christoph Theodor Schwab (Tagebücher Jan./Febr. 1841, StA 7.3, 202– 207; HP, 247–250 u. Entwurf zu einer Biographie, KTA, 217–226; HP, 276–284). Sie resultieren jeweils aus langem persönlichem Umgang mit H. und stellen, wenn auch nicht immer frei von literarischem Ehrgeiz, eine wichtige Quelle insbesondere für den kommunikativen Sprachgestus des Turmbewohners dar.
7.2 Vorgeschichte, faktische Entmündigung und Klinikaufenthalt Ob Isaac von Sinclair (s. Kap. 5) wirklich geglaubt hat, dass H.s »Gemüths Verwirrung« »eine aus wohl überdachten Gründen angenommene Äußerungs Art« sei, wie er es im Oktober 1802 gegenüber der Mutter formuliert hatte (vgl. StA 7.2, 299), oder ob es sich dabei nur um eine taktische Beschwichtigung handelte, muss offenbleiben; ebenso offenbleiben, wie die Frage, ob die dramatische Schilderung, die Waiblinger vom Besuch des Bordeauxheimkehrers H. bei Matthisson gab, der Phantasie mehr schuldet als den Fakten, was möglicherweise auch für die Behauptung gilt, er habe, »in Nürtingen bey seiner Mutter angelangt, [...] sämmtliche Hausbewohner in der Raserey aus dem Hause« gejagt (StA 7.3, 60; HP, 142). Tatsache ist, dass Johanna Christiana Gock seit 1802 eine bestürzende Entfremdung zwischen ihrem Sohn und der übrigen Familie konstatiert (»auch nimt er weder von meiner l. Tochter [...] noch von mir etwas an, das ihm dienlich wäre«, StA 7.2., 242) und Sinclair gegenüber von einem »Traurigen Gemüths Zustand« spricht (vgl. StA 7.2, 258). De facto betreibt die Mutter lange vor der Einlieferung H.s ins Palisadenzimmer der Tübinger Universitätsklinik dessen Entmündigung; sie drängt sich heimlich in dessen Geschäfte mit Landauer und Wilmans (vgl. StA 7.2, 231 u. 273 f.) und kommt im November 1805 sogar um ein Gratial bei der Landesregierung »für ihren Sohn, den kranken stipendiarium«, ein (vgl. Schäfer, 1984/85, 285; HP, 1). Von welchem Zeitpunkt ab H.s Geistesverfassung als psychotisch eingestuft werden muss, ist nicht eindeutig festzumachen. Aus dem Jahr 1804 datieren noch Briefe, deren keinerlei Verwirrung anzumerken ist, doch ein Jahr später berichtet der Homburger Arzt Georg Friedrich Karl Müller:
»Wie erschrake ich aber als ich den armen Menschen so sehr zerrüttet fande, kein vernünftiges Wort war mit ihm zu sprechen, und er ohnausgesetzt in der hef tigsten Bewegung. Meine Besuche wiederholte ich ei nigemal fande den Kranken aber jedesmal schlimmer, und seine Reden unverständlicher, Und nun ist er, so weit daß sein Wahnsinn in Raserey übergangen ist, und daß man sein Reden, das halb deutsch, halb grie chisch und halb Lateinisch zu lauten scheinet, schlech terdings nicht mehr versteht.« (StA 7.2, 337)
Den vollständigen Namen des Arztes eruierte Gerhard Fichtner (1977, 511, Anm. 41). Es mag sich bei diesem Bericht Müllers um ein Gefälligkeitsgutachten gehandelt haben, das H. vor politischer Verfolgung im Rahmen des Hochverratsprozesses gegen Sinclair schützen wollte; aber der Hinweis auf die babylonisch-unverständliche Sprachenmischung erinnert an spätere Zeugnisse etwa von Conz und Waiblinger und lässt sich kaum vollständig auf eine exkulpatorische Motivation zurückführen. Als Sinclair am 3. August 1806 schließlich der Mutter mitteilt, dass H.s »Wahnsinn eine sehr hohe Stufe erreicht hat« und sie bittet »ihn dahier abhohlen zu lassen« (StA 7.2, 352), lässt die Mutter ihn am 11. September aus Homburg in die Tübinger Universitätsklinik verbringen. Über die Umstände dieses mit Gewalt und List durchgeführten Abtransports informiert der berühmte Brief der Landgräfin Caroline von Hessen-Homburg an ihre Tochter Marianne: »Le pauvre Holterling a été transporté ce matin pour etre remis à ses parens. Il a fait tous ses efforts pour se jetter hors de la Voiture, mais l’homme qui devoit soin de lui le repoussa en Arrière. Holterling crioit que des Harschierer l’amenes, et faisoit de nouveaux efforts et grata cet homme, au point, avec ses Ongles d’une longueur énorme qu’il étoit tout en sang.« (StA 7.2, 353 f.)
In Tübingen gelangt er am 15. September an, und wird für 231 Tage von dem Arzt Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth, einem Psychiater avant la lettre, in Behandlung genommen, bis er am 3. Mai 1807 in die Obhut der Familie des Schreinermeisters Ernst Zimmer übergeht. Obwohl Autenrieths Vorstellungen von Geisteskrankheit vor dem Hintergrund der Zeit als fortschrittlich gelten müssen (vgl. Fichtner 1980, passim), blieben seine therapeutischen Ansätze im Fall H.s doch wirkungslos bis schädlich. Über die Medikation – zu deren nosologischer Axiomatik vgl. Fichtner 1977, 506 ff. – urteilt Jürgen Keidel, der Direktor des
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Deutschen Apotheken-Museums in Heidelberg aus praktischer Perspektive wie folgt: »Bedrohliche Überdosirungen sind an den Rezepten nicht zu erkennen; fest steht, daß sie mehr geschadet als genützt haben. [...] Heute würde man sie [...] ablehnen« (vgl. Uffhausen 1984/85, 354, Anm. 59). Ob andere therapeutische Zwangsmaßnahmen angewendet wurden, wie etwa die berüchtigte Autenriethsche Gesichtsmaske, muss offenbleiben, da die Krankenakte H.s, nach der von Wilhelm Lange bis Gerhard Fichtner gefahndet worden ist, nicht aufgefunden werden konnte. So bleibt auch weiter fraglich, ob die Hospitalisierung tatsächlich die »entscheidende Wende« im Leben H.s darstellt, als die sie Uffhausen – mit beeindruckenden Argumenten – einstuft, oder ob der psychotische point of no return ihr nicht vorausliegt. Zumindest hat H. die Tübinger Behandlung als tiefe Demütigung erlebt. Waiblinger überliefert das: »In Zorn und Convulsionen gerieth er gleich, wenn er jemand aus dem Klinikum sah« (StA 7.3, 68; HP, 144).
7.3 Verhalten und tägliches Leben bei der Kostfamilie Zimmer Am 3. Mai 1807 wurde H. Ernst Zimmer »in Kost und Logis, und [zu] sorgfältiger Wartt und Verpflegung [...] übergeben« (StA 7.3, 116; HP, 172). Der Tübinger Schreinermeister, der gelegentlich Reparaturen im Klinikum ausführte, zählte zu den Bewunderern des Hyperion und hat H. nach eigener Auskunft während seiner Behandlung dort besucht (vgl. StA 7.3, 134; HP, 200). Wohl aus diesem Grund empfahl er sich Autenrieth als künftiger Kostherr des Kranken. Tatsächlich erwies sich diese Wahl als Glücksfall für H.; Ernst und Elisabeth Zimmer sowie später deren Tochter Charlotte behandelten ihn mit der größten Rücksicht und nahmen selbst die anfangs häufigen Tobsuchtsanfälle mit Geduld hin. Diese Anfälle wurden im Alter seltener, hörten aber nicht ganz auf. Lotte Zimmer berichtet noch im Sommer 1842 von einem solchen »Lärmen«: »es war so bedeutend daß er die Seßel in der Stube herumwarf« (HP, 295). Abgesehen von den nachlassenden Wutattacken, verlief der Alltag H.s in dem Haus am Neckar über die Jahre hin gleichförmig. Er stand sehr früh, meist schon um drei Uhr morgens auf, und wanderte entweder im Hausgang oder im angrenzenden »Zwinger«, dem Landstreifen zwischen Stadtmauer und Ufer, auf und ab. Den Vormittag brachte er meist mit Gesangund Klavierspiel zu, den Nachmittag mit erneutem
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Auf- und Abgehen; oder er zog sich in sein Zimmer zurück, führte Selbstgespräche und las, wie meist auch am frühen Abend, laut aus verschiedenen Dichtungen und dem Hyperion (vgl. – als ein Zeugnis unter vielen – den Brief v. Ernst Zimmer an Burk vom 18. Juli 1834, HP, 189 f.), bis er zwischen sieben und acht Uhr schlafen ging. Gelegentlich unternahm er mit den Zimmers oder Wilhelm Waiblinger kleine Spaziergänge. Beinahe alle Zeugen beobachten eine Reihe von Auffälligkeiten im interaktiven Verhalten H.s, zu denen vor allem der Gebrauch von höfischen Anredeformen wie »Eure Majestät«, »Herr Baron«, selbst »Eure Heiligkeit« gehört (und mit denen er unterschiedslos allen Personen gegenübertritt, auch Kindern und angeblich sogar einmal einem Hund – »Mylord des Nachbars Pudel« (vgl. StA 7.3, 64; HP, 144) sowie die Verweigerung des eigenen bürgerlichen Namens (vgl. KTA, 220; HP, 278). Dieses Gebaren lässt jedoch nicht auf eine Wirklichkeitsverkennung rückschließen; die Briefe an Mutter und Schwester sind alle mit »Hölderlin« unterzeichnet, und auch über den sozialen Status seiner Besucher dürfte er sich nicht getäuscht haben; Waiblinger deutet die Devotionsformeln denn auch als ein Verfahren, »sich jedermann in einer unübersteigbaren Ferne zu halten« (vgl. StA 7.3, 78; HP, 154): »Ich, mein Her, bin nicht mehr von demselben Namen, ich heiße nun Killalusimeno. Oui, Eure Majestät: Sie sagen so, Sie behaupten so! es geschieht mir nichts!« (vgl. StA 7.3, 69; HP, 148). Entsprechend sind die zwischen 1838 und 1843 entstandenen Gedichte auch meist mit dem Pseudonym »Scardanelli« unterzeichnet (vgl. StA 2.1, 286 ff.). Eine weitere Auffälligkeit im Interaktionsverhalten stellt die Redeweise dar, die 1821 von Carl Philipp Conz so charakterisiert wird: Er »sprach einige halbvernünftige Worte, verirrte sich aber dann bald in s. gewöhnlichen Galimathias – von halbfranzösischen, halbdeutschen Ausdrücken und Complimenten v. Ihr Gnaden, Ihr Durchlaucht, unter Begleitung der verschwebten Blicke und der Mien- und Mundverzerrungen« (StA 7.2, 458; HP, 56). Die »verschwebten Blicke« sind auch von Chr. Th. Schwab bezeugt worden (StA 7.3, 205; HP, 249), der allerdings auch erwähnt, dass von den Augen H.s in vertrauensgeprägten Situationen »ein ungewöhnlich seelenvoller Ausdruck der Zärtlichkeit« (KTA, 221; HP, 279) ausging (vgl. auch E. Zimmer, StA 7.3, 134; HP, 201, u. Waiblinger, StA 7.3, 61 f.; HP, 143, der ebenfalls von der »convulsivischen Bewegung« des Gesichts spricht, ebd.). Nicht ganz klar ist, inwieweit der »Galimathias« einen Abwehrreflex darstellt oder von tatsächlichem Unvermögen bedingt wird; in H.s
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Briefen und Stammbucheinträgen ist die Sprachvermengung nicht anzutreffen, jedoch die Unfähigkeit, einen gefassten Gedanken in seinen Weiterungen darzulegen. Außer einem generellen Konzentrationsmangel hält Chr. Th. Schwab für die Gesprächsführung H.s noch fest, dass er häufig, statt von sich selbst zu sprechen, die eigene Absicht in diejenige des Gegenübers zurückspiegele: »Sie befehlen das, Sie befehlen das nicht« (vgl. KTA, 220, HP, 278). Aus den wenigen hier nachgewiesenen und vielen weiteren Zeugnissen lassen sich Grundmuster des Verhaltens erkennen: Eine starke (oft auch nächtliche) Unruhe und Angst (E. u. L. Zimmer sprechen in vielen Briefen davon), welche die motorische Unruhe bedingen mochte (Auf- und Abgehen, stereotypes Klavierspiel, Nesteln): »Sie können sich keinen Begriff machen wie Er die Hemmder verreißt [...], Er hat die Hände immer in den Aermel u. spielt mit« (Lotte Zimmer am 15. Okt. 1839, HP, 239) – eine verstörende Furcht vor allem Fremden, die sich in verschiedenen Abwehrstrategien niederschlägt: »Endlich als er mich durchaus forthaben wollte, sagte er sich als gemeinen Narren verstellend: ›Ich bin unser Herrgott‹ [...]« (Chr. Th. Schwab, StA 7.3, 205; HP, 249) sowie schließlich eine von den Gesprächspartnern als zerstreut empfundene Redeweise, in der Formalitäten, Neologismen, fremdsprachige Brocken und unverbundene Thesen vorherrschen.
7.4 Anmerkungen zur pathographischen Debatte Es existiert bis heute kein Forschungsbericht, der die verschiedenen pathographischen Bemühungen im Falle H.s zusammenfasst und bewertet. Einen instruktiven Überblick bietet Fichtner, 1977. Dieser Aufsatz weist auf das grundsätzlich Zweifelhafte einer historischen Ferndiagnose hin und stellt außerdem die zentrale Frage, was mit einem etwa gesicherten Befund anzufangen wäre und ob es wirklich Aufgabe der Psychiatrie sein könne, was Wilhelm Lange sich 1909 vorsetzte: dem Literaturwissenschaftler »ein Gutachten an die Hand zu geben, nach dem er beurteilen kann, was alles an den Werken eines Menschen als psychisch abnorm anzusehen ist« (zit. nach Fichtner 1977, 498.). Gerhard Kurz hat betont, dass einer »der aufregendsten Aspekte der Frage nach H.s Wahnsinn« darin zu suchen sei, »daß in einem nicht zu überschätzenden Maße sein Werk der Erforschung des Wahnsinns, des Bewußtseinsverlusts gewidmet ist. H. selbst stellt die
Frage nach dem Wahnsinn« (Kurz, 1979, 194). Dieses Reflexionsniveau ist permanent unterschritten worden. Die Germanistik hat sich trotz der Arbeiten von Bernhard Böschenstein, Roman Jakobson, Wilfried Thürmer und Grete Lübbe-Grothues zu den Spätesten Gedichten nicht konsequent dazu entschließen können, diese Gedichte des entmündigten H. als ernstzunehmende ästhetische Gebilde zu betrachten. Sie wurden als eine Art psychomotorischer Auswurf des Irrsinns behandelt – so Pierre Bertaux, der sie als »improvisierte Gelegenheitsprodukte, als Versifikation, als Fabrikate« bezeichnet (vgl. Bertaux 1978, 196). Bertaux’ prominente These, »H. sei nicht geisteskrank gewesen« (ebd., 16) versucht insofern weniger, die Diagnose zu bestreiten, als vielmehr das bürgerlich Makelhafte daran auszuwischen – und werden so behandelt (vgl. Jochen Schmidt, der sie in seiner Ausgabe von 1992 für nicht einmal kommentarwürdig erachtet: vgl. KA 1, 1094). Von solcher Geringschätzung unterscheidet sich die Musik (s. Kap. 57) seit langem: Von Ernst Krenek über Gidon Klein bis zu Hans-Werner Henze, Luigi Nono, Heinz Holliger, Jacques Wildberger und György Kurtág haben Komponisten die Verse aus der Turmzeit nicht als poetische Schwundstufe, sondern als faszinierende Lyrik behandelt. Die Arbeiten aus dem Gebiet von Psychiatrie und Psychoanalyse zu beurteilen, ist Verf. nicht kompetent. Es stimmt aber misstrauisch, wenn die Diagnosevorschläge etwa Helm Stierlins keinerlei Textarbeit und nicht einmal die gründliche Lektüre von StA 7.2 u. 3 erkennen lassen (vgl. Stierlin 1992); wenn Ingeborg Joppien – durchaus plausibel – symbiotische Wünsche zwischen Mutter und Sohn vermutet, dann aber meint, darin einen Schlüssel für die Erdmetaphorik bei H. gefunden zu haben (vgl. Joppien 1998, 204); wenn Eva Carstanjens Studie H.s Mutter salopp als Frau Nachbarin anspricht, die nicht etwa 200 Jahre früher unter möglicherweise anderen rechtlichen, sozialen und bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen gelebt hat (vgl. Carstanjen 1987,); wenn Dieter Bente und Max Römer in ihren »Quantitativen Textanalysen zum Sprachwandel H.s in der Psychose« (vgl. Bente/Römer 1969, 57 ff.) keinen Unterschied machen zwischen spontanen Äußerungen und geformten Sprachkunstwerken. Hier wird ein Niveau unterschritten, das in der Pathographie von Gerhard Fichtner, in der Philologie von Böschenstein, Jakobson, Lübbe-Grothues, Thürmer, Philipsen und Oelmann markiert worden ist. Primärer Ausgangspunkt sollte hier die hermeneutische Bemühung um H.s Texte sein. An der hermeneutischen Sorgfalt misst sich die Relevanz der Ergebnisse.
7 Die Jahre 1806–1843 Literatur
H. Der Pflegsohn. Texte und Dokumente 1806–1843 mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten, hg. v. Gregor Wittkop, Stuttgart 1993 [HP]. Bente, Dieter/Max Römer: Quantitative Textanalysen zum Sprachwandel H.s in der Psychose, in: Confinia Psychiatrica 12 (1969). Carstanjen, Eva: H.s Mutter. Untersuchungen zur MutterSohn-Beziehung, Frankfurt a. M. 1987. Doering, Sabine/Klaus Dörner/Gerhard Fichtner: Aus der Klinik ins Haus am Neckar, Tübingen 2017. Fichtner, Gerhard: Der »Fall« H. Psychiatrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die Problematik der Pathographie, in: Decker-Hauff, Hansmartin/Gerhard Fichtner/Klaus Schreiner (Hg.): 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477 bis 1977, Tübingen 1977, 497–513. Fichtner, Gerhard: Psychiatrie zur Zeit H.s. Katalog zur Ausstellung anläßlich der 63. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und Technik in Tübingen (Ausstellungskataloge der Universität Tübingen Nr. 13), Tübingen 1980.
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Joppien, Ingeborg: H. Eine Psychobiographie, Stuttgart 1998. Kurz, Gerhard: H. und die Frage nach dem Wahnsinn, in: Euphorion 73 (1979), 186–198. Lübbe-Grothues, Grete: Grammatik und Idee in den Scardanelli-Gedichten H.s, in: Philosophisches Jahrbuch 90 (1983), 83–109. Ute Oelmann: Der Frühling und Der Herbst, in: Kurz, Gerhard (Hg.): Interpretationen. Gedichte von F. H., Stuttgart 1996. Philipsen, Bart: NachLese. List der Einfalt, München 1995. Schäfer, Volker: Zu H.s Gratial, in: HJb 24 (1984/85), 283– 305. Stierlin, Helm: Nietzsche, H. und das Verrückte. Systemische Exkurse, Heidelberg 1992. Uffhausen, Dietrich: »Weh! Närrisch machen sie mich.« H.s Internierung im Autenriethschen Klinikum (Tübingen 1806/07) als die entscheidende Wende seines Lebens, in: HJb 24 (1984/85), 306–375.
Gregor Wittkop
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II Zeit und Person
8 Hölderlin und die Psychiatrie
8.1 Die Perspektive der Profis
Die Debatte um H.s Krankheit wurde schon zu seinen Lebzeiten intensiv geführt und ist bis heute nicht abgeschlossen. In ihr erfolgt zugleich eine Vergewisserung darüber, was jeweils unter Psychiatrie und psychotischen Erfahrungen verstanden wird. Die Debatte lebt dabei aber auch von der spärlichen Überlieferung harter Erkrankungsfakten, wie beispielsweise der fehlenden Patientenakte. Dies bringt, will man sich dem H. nach 1802 nähern, unvermeidlich ein Vermuten und Projizieren mit sich. Demgegenüber bedarf gerade das Themenfeld ›H. und die Psychiatrie‹ jener Zurückhaltung, die den Standards überprüfbaren Wissens entspricht. Eingedenk dessen geht es im Folgenden darum, die wichtigsten Argumentationslinien und Embleme der auf den ›Fall H.‹ bezogenen psychiatrischen Debatte nachzuzeichnen. Ein Fazit der Vorläufigkeit wird am Ende folgen. Mit Gregor Wittkop sind wir uns einig, dass festzuhalten ist, dass eine genaue Kenntnis der Quellen als einzige Grundlage für biographisch-psychiatrische Überlegungen zu H.s Gesundheitszustand gelten kann (s. auch Kap. 7). Diese Selbstverständlichkeit muss im Falle H.s leider betont werden, da sich die Rede vom ›umnachteten Dichter im Turm‹ seit über 200 Jahren verselbständigt hat. Solchen Verselbständigungen gegenüber sind H.s Selbstdarstellungen in Briefen an Freunde und die Familie der Ausgangspunkt. An vielen Stellen gibt der Dichter konkret Auskunft über sein Selbstverständnis, seine psychische Befindlichkeit und gesundheitliche Situation. Allerdings endet diese Form von Selbsterforschung in der Korrespondenz nahezu vollständig ab 1802 nach der Rückkehr aus Bordeaux (vgl. Gonther/Reinecke 2020). Aus der zweiten Lebenshälfte fehlen dann – mit Ausnahme des letzten Briefs an die Mutter – fast alle brieflichen Selbstreflexionen, während uns seine Gedichte mehr und mehr als oft sehr direkte Mitteilungen seiner Selbstreflexion entgegentreten (vgl. Schlimme/Brückner 2017, 176 ff.). Außerdem kommen Verwandte und Freunde H.s anhand der existierenden Dokumente zu Wort. Des Weiteren sollen die wenigen Zeugnisse ärztlicherseits, die aus seiner Lebenszeit überliefert sind, analysiert werden und anschließend wird eine Übersicht gegeben über die nachträglich erstellten diagnostischen Einschätzungen. Wir werden diese drei Perspektiven zunächst unkommentiert nebeneinander stellen.
H.s behandelnder Klinikarzt Johann Heinrich Ferdinand von Autenrieth diagnostizierte bei H. wohl eine »Manie als Nachkrankheit der Krätze«, was er als eine chemisch-toxische, d. h. streng körperliche Erkrankung mit teils jahrelangem Vorlauf verstand. Zugleich verknüpfte er die »poetische Denkungsart« mit dem Wahnsinn: »Sind die Narren gebildet, so machen sie einen Roman daraus.« (Autenrieth, zit. nach Schlimme/ Gonther 2010, 76). Es steht zu vermuten, dass für Autenrieth bereits der Hyperion eine einzige Narretei war. Aus dem überlieferten Rezeptbüchlein (BA 12, 9–11) ist zu entnehmen, dass H. unfreiwillig mindestens eine mehrwöchige äußerst dramatisch-schmerzhafte, aus heutiger Sicht vermutlich traumatisierende Durchfallbehandlung hat durchmachen müssen, welche wiederum Autenrieth als entscheidende, das Krätzetoxin ausschwemmende und somit primär wichtigste Behandlung galt (vgl. Schlimme/Gonther, 2010, 51–110). Ebenfalls indirekt hat sich der schwäbische Schriftsteller und Arzt Justinus Kerner geäußert. Als junger Medizinstudent besorgte Kerner im Auftrag von Autenrieth die Aktenführung und medikamentöse Behandlung H.s im Tübinger Klinikum an der Bursagasse. Kerner stellt eine spezielle Quelle zwischen Betroffenheit und professioneller Perspektive dar. »H. ist noch fast schlim, war heute bey ihm, sprach er da nichts als vom Conflux und anderes verwirrtes Zeug das mir gar traurig war anzuhören.« (FHA 9, 264) Wenige Jahre später, 1811, beschreibt Kerner irritierend unverstellt seine Sicht auf die Situation H.s in Reiseschatten. Von dem Schattenspieler Luchs wie folgt: »Ich erkannte alsbald in ihm den wahnsinnigen Dichter Holder. Mit wildem Singen kam er durch’s Thal her, [...]. Ich hatte viel zu schaffen, bis ich Holder dem Gegaffe der Bauern entzogen und in das Wirtshaus gebracht hatte: denn er blieb vor einem Stiefel, so an eines Schusters Haus gemahlt war, stehen, und wollte mit Gewalt den gemahlten Stiefel anziehen.« (FHA 9, 273–274) Ob diese literarische Übermittlung einen realen Hintergrund hat, darf bezweifelt werden. Jedenfalls sind sonst keine derart verwirrt-desorientierten Handlungen überliefert. Nur wenige Ärzte haben sich zu Lebzeiten direkt zu H.s Geisteszustand geäußert. Zu erwähnen sind die Ärzte der Familie in Nürtingen (»Daß Traurigste vor mich ist, dass die Arzte mir so wenig Hoffnung machen für Wiedergenesung [...]«, MA III, 623; Brief der Mutter an Sinclair 22. Januar 1804) und Dr. Georg Friedrich Karl Müller in Homburg (»Meine Besuche
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_8
8 Hölderlin und die Psychiatrie
wiederholte ich einige Mal fande den Kranken aber jedes Mal schlimmer, und seine Reden unverständlicher, Und nun ist er, so weit dass sein Wahnsinn in Raserey übergegangen ist, und dass man sein Reden, das halb deutsch, halb griechisch und halb Lateinisch zu lauten scheinet, schlechterdings nicht mehr versteht.« (FHA 9, 259) Am 11. Juni 1843, kurz nach H.s Tod, äußert sich der Hausarzt Ferdinand von Gmelin in Tübingen im Brief an Karl Gock über H.s bis zuletzt gute Gesundheit, sein plötzliches Sterben, »nach kurzem u. leichtem Todeskampf«. Sowie über die Obduktion: »Das Gehirn war sehr vollkommen u. schön gebaut, auch ganz gesund«, erwähnt die Zyste im cavum septum pellucidum und interpretiert sie als »Ursache seiner 40 jährigen Krankheit« (FHA 9, 437). Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es dann von Carl Litzmann erste Versuche einer medizinischen Einordnung der auffälligen Verhaltensweisen. Im 20. Jahrhundert überboten sich daraufhin die Nervenärzte gegenseitig in pathographischen Spekulationen und exemplifizierten ihre jeweilige Diagnosen-Systematik am Beispiel H.s. Die sich erweisende Schwerverständlichkeit der H.schen Dichtung wurde oft 1:1 mit der 1913 von Jaspers postulierten Unverständlichkeit der schizophrenen Erfahrung gleichgesetzt und bot einen Nährboden der diagnostizierenden Spekulation wie für die historisch-kritische Pathographie-Dekonstruktion. Hieran beteiligten sich u. a. Wilhelm Lange, Karl Jaspers, Gaetano Benedetti, Karl Leonard, Helm Stierlin, Uwe Henrik Peters, Wolfgang Blankenburg, Karl Peter Kisker, Thomas Keller. Dabei ging es entweder um die Diagnose Schizophrenie in irgendeiner ihrer Unterformen oder um Melancholie (Gonther/Schlimme 2010). Auch seitens der Philologen wurde und wird der »Fall H.« biographisch, historisch und quasi medizinisch-psychologisch intensiv diskutiert. Während sich Gustav und Christoph Schwab noch mit einer pathologisierenden Einschätzung im Lebensabriss von 1826/ 1846 und in der Grabrede für H. 1843 zurückhielten und das Traurige seines Schicksals betonten, finden sich bei Germanisten wie Franz Zinkernagel, allerdings auch in der Großen Stuttgarter Ausgabe durch Friedrich Beißner und Adolf Beck, psychopathologische Erwägungen. Bekanntlich widersprach Norbert von Hellingrath dem Ansatz, H. zu pathologisieren. In der Vorrede zur ersten Ausgabe der Historisch-Kritischen Ausgabe heißt es 1913: »So nahm der Leser das Fremdartige der zum ersten Mal in der kurzen und stockenden Geschichte des deutschen Geistes so unverstellt
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sich vorwagenden Dichtersprache gerne für die Spuren des Wahnsinns, da ja viel mehr der romantische Reiz der Krankheit als die Kraft des Werkes H. Leser zuführte und diese Leser sich am Irrsinn erregen nicht vom Werke wollten ergriffen werden. [...] und wenn mann an H.s Krankheit, dem notwendigen nicht anders denkbaren Abschluss seines Lebens, etwas bedauern dürfte, so wäre es, dass sie selbst den minder Stumpfen einen bequemen Vorwand bietet dort ihm die Folge zu weigern, wo er sein eigenstes, ihnen freilich fremdes Land, betritt.« (Hellingrath 1923, VIII) Pierre Bertaux wollte 1978 H. mit einem antipsychiatrischen Impetus gleich ganz aus dem Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie befreien, indem er ihn zum Narrenspieler erklärte. In dieser Perspektive lässt sich auch die sorgfältig recherchierte Arbeit von Ulrich Gaier (H.s Melancholie, in: Gaier 2014, 27–129) mit einem ausführlichen Kapitel zu H.s Krankheit einordnen. 2008 wurde bei einer Tagung in Bad Homburg und dem daraus hervorgegangenen Buch Hölderlin und die Psychiatrie (Gonther/Schlimme 2010) ein Austausch zwischen Philologen, Philosophen und Psychiatern in Gang gesetzt, der weitere Wirkungen gezeigt hat (vgl. Geyer 2014, 49–52; oder Gaier 2014). Von den Ergebnissen dieser Tagung ausgehend verstehen wir H.s schwere seelische Krisen 1802 und 1806 als zeitgenössisch angemessenen Ausdruck dafür, was wir heutzutage mit aller Vorsicht Psychoseerfahrung nennen würden. Dem mühsamen Genesungsverlauf und den sich fortsetzenden Einschränkungen seiner Lebensentfaltung entsprechend sehen wir bei H. ein komplexes Muster von Störung des (kommunikativen) Eingebettet-Seins in seine Zeit, in seine (soziale) Welt in den nachfolgenden Jahren. Gleichwohl befand er sich im Kontakt mit seiner Umgebung auch während dieser zweiten Lebenshälfte am Neckarufer. Er war nicht ›umnachtet‹.
8.2 Die Perspektive der Angehörigen und Vertrauenspersonen Die Quellenlage nach Mitteilung von Angehörigen und Freunden an H. bzw. über ihn an Dritte ist vielschichtig. Für eine Auswahl sollte unseres Erachtens H. jeweils gut gekannt und über längere Zeit im Leben begleitet worden sein. Hier ist jeweils besonders der Briefwechsel zwischen Isaak von Sinclair und H.s Mutter Johanna Christiana Gock zu nennen. Exemplarisch zitiert sei, was die Mutter an Sinclair im Dezember 1802 schreibt: »u. zu seiner entschuldigung
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muß ich laider sagen, dass seine Gemüths Stimmung eben laider noch nicht gut, u. da er dieses selbst fühlt, wollte er eine Besernheit abwarten, [...] aber laider scheint sich eben diese Beserung zu verzögern.« (FHA 9, 244) Öfters zitiert wird Sinclairs Einschätzung zu H.s Auffälligkeiten während des Aufenthaltes in Homburg, die er zwei Jahre später im Brief an H.s Mutter vom 6. August 1804 formulierte: »daß das was Gemüths Verwirrung bei ihm scheint, nichts weniger, als das, sondern eine aus wohl überdachten Gründen angenommene Äußerungs Art ist« (FHA 9, 252). Im August 1806 wendet sich Sinclair ein letztes Mal, nun mit einer vollkommen anderen Einschätzung, vom Ton her nicht mehr freundschaftlich verbunden, sondern förmlich an die »Hochzuverehrende Frau Kammer Räthinn!«, an Frau Gock: »Es ist daher nicht mehr möglich, daß mein unglücklicher Freund, dessen Wahnsinn eine sehr hohe Stufe erreicht hat, länger eine Besoldung beziehe und hier in Homburg bleibe, und ich bin beauftragt Sie zu ersuchen, ihn dahier abholen zu lassen. Seine Irrungen haben den Pöbel dahier so sehr gegen ihn aufgebracht, daß bei meiner Abwesenheit die ärgsten Mishandlungen seiner Person zu befürchten stünden, und daß seine längere Freiheit selbst dem Publikum gefährlich werden könnte, und, da keine solche Anstalten im hiesigen Land sind, es die öffentliche Vorsorge erfordert, ihn von hier zu entfernen.« (MA III, 643) Mit der Veränderung in H.s Auftreten beschäftigt sich auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling im Brief an Georg Friedrich Wilhelm Hegel vom 11. Juli 1803: »Der traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt habe, war der von Hölderlin. Seit seiner Reise nach Frankreich, [...] – seit dieser fatalen Reise ist er am Geist ganz zerrüttet [...]. Sein Anblick war für mich erschütternd [...]« (FHA 9, 245). Als weitere Zeugnisse existieren von Ernst und Lotte Zimmer, Wilhelm Waiblinger und Christoph Theodor Schwab Schilderungen über die Begegnungen mit H. während der vielen Jahre, die er bei den Zimmers am Neckarufer lebte. Lotte Zimmer (1813–1879) schreibt an den Oberamtspfleger Israel Gottfried Burk am 20. April 1839: »In der Vakanz puzten wir Ihm seine Stube u sie wurde auch zugleich frisch angestrichen, wo wir Herrn Hölderlin dan in ein Studenten Zimmer einquartirten, Er mußte ungefähr 10 Tage in selbigem verweilen, bis alles im reinen war, es gefiel Ihm da gut besonders weil ein Clavir in diesem Zimmer stand wo Er alle Stund spielte, u. denoch besah Er alle Tage seine Stube u fragte wenn Sie fertig werde, wo er dan wieder einziehen konnte war
Er überaus vergnügt, u. zufrieden, daß sein Zimmer so schön geworden sey, u. Bedankte sich sehr davor. Es ist uns jedesmal Angst wen wir ein solches Geschäft vornehmen müßen u. was doch von Zeit zu Zeit nothwendig sein muß, indem es immer eine überredungskunst kostet, bis man Ihn darüber gehörig belehrt hat, weil Er gleich mißtrauisch ist u meint Er müße fort.« (Zimmer, Hir das Blatt; Overath/Wittkop 1997, 5) Wilhelm Waiblinger (1804–1830) berichtet von seinem fünf Jahre währenden Umgang mit H. in seinen Tübinger Stiftsjahren 1822–1826: »Ist er erzürnt oder gereizt, wie z. B. damals als ihm’s in den Kopf kam, plötzlich nach Frankfurt zu gehen, so sucht er aus Bitterkeit sich sein Zimmerchen, auf das er die ganze weite Welt reduziert hat, auf einen noch kleineren Raum zu reduzieren, als wie wenn er dann sicherer, unangefochtener wäre, und den Schmerz besser aushalten könnte. Dann legt er sich zu Bett.« (Waiblinger 2014, 70) Waiblinger entwickelte mit H. alltägliche Rituale und Gemeinsamkeiten, die offenbar beiden gut taten: »Womit ich ihn am meisten vergnügte, das war ein hübsches Gartenhaus, das ich auf dem Österberg bewohnte [...]. Hier hat man Aussicht über grüne freundliche Täler [...] Hier also war’s, wo ich Hölderlin jede Woche einmal hinführte. Oben angelangt, und ins Zimmer eintretend, verneigte sich Hölderlin jedes Mal, indem er sich meiner Gunst und Gewogenheit aufs angelegentlichste empfahl. Höflichkeitsfloskeln bringt er allenthalben an, und es ist wirklich oft, als ob er damit geflissentlich jedermann recht ferne von sich halten wollte. [...] Hölderlin öffnete sich das Fenster, setzte sich in seine Nähe und fing an, in recht verständlichen Worten die Aussicht zu loben. [...] Ich versorgte Hölderlin mit Schnupf- und Rauchtabak, an welchem er große Freude hatte. Mit einer Prise konnte ich ihn ganz erheitern, und wenn ich ihm nun gar eine Pfeife füllte, und ihm Feuer machte, so lobte er den Tabak und die Maschine aufs lebhafteste, und war vollkommen zufrieden. Er hörte auf zu sprechen, und wie er sich nun so am besten fühlte, und es nicht gut war, ihn zu stören, so ließ ich ihn, indem ich etwas las.« (Waiblinger 2014, 50 f.) Darüber hinaus gab es nicht wenige Besucher, die sich entweder direkt im Anschluss an die Begegnungen mit H. geäußert haben oder teilweise erst Jahre später.
8.3 Die Perspektive des Betroffenen Das Material, worin H. über seine Gesundheit Auskunft gibt, ist umfangreich, kann hier nur stichprobenartig behandelt werden. Zu nennen ist der Trennungs-
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brief an Louise Nast wahrscheinlich vom 25. April 1789: »[...] und Du wirst dann erst einsehen, daß Du mit Deinem mürrischen, mismutigen, kränkelnden Freunde nie hättest glüklich werden können. Sieh! Louise! ich will Dir meine Schwachheit gestehen. Der unüberwindliche Trübsinn in mir – aber lache mich nicht aus [...]«, MA 2, 446). Extrem aufschlussreich erscheint der Brief vom August 1797 an Friedrich Schiller, geprägt von Ambivalenz: »Sie sagen, ich sollte Ihnen näher seyn [...]. Aber glauben Sie, daß ich denn doch mir sagen muß, daß Ihre Nähe mir nicht erlaubt ist? [...] So lang ich vor Ihnen war, war mir das Herz fast zu klein, und wenn ich weg war, konnt’ ich es gar nicht mehr zusammenhalten. Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesetzt hat, man muß sie zudeken am Mittag. Sie mögen über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit.« (FHA 19, 289, 290). Ähnlich tief an Selbsterkenntnis wirkt der Brief an Christian Ludwig Neuffer von August 1798 (»Ich werde sagen, daß ich mich nicht recht verstanden habe, wenn hienieden mir nichts trefliches gelingt. Uns selber zu verstehn! das ist’s, was uns emporbringt!« FHA 19, 319) Die beiden Briefe an Casimir Ulrich Böhlendorff von 1801 und 1802, direkt vor der Reise nach Bordeaux und nach der Rückkehr von dort, zeigen H. unmittelbar vor seiner schwersten Lebenskrise und danach im Zustand der Rekonvaleszenz. Während er im ersten Brief sehr traurig und ängstlich Abschied nimmt: »Aber sie können mich nicht brauchen.« (FHA 19, 493), herrscht im zweiten Böhlendorff-Brief ein distanzierter Ton vor: »Es war mir nöthig, nach manchen Erschütterungen und Rührungen der Seele mich festzusetzen auf einige Zeit, und ich lebe indessen in meiner Vaterstadt.« (FHA 19, 499). Von den vielen ausführlichen Schreiben voller Selbstreflexion und Selbstkritik an Freunde, Verwandte und an seine Mutter ist dann noch der letzte Brief an sie von 1826 hervorzuheben. Es ist der einzige Brief aus seiner Zeit bei den Zimmers am Neckarufer, den er mit vollem Namen unterzeichnete (»Verzeihen Sie, liebste Mutter/ wenn ich mich Ihnen nicht für Sie/ sollte ganz verständlich machen/ können.// [...]«, FHA 19, 550). Unmittelbar vor ihrem Tod fasst er in wenigen Sätzen sein Lebensproblem nochmals in Worte, er kann sich ihr nicht verständlich machen, er erkennt dies ganz genau und bedauert es gerade auch im Hinblick auf seine sich um ihn sorgende und ihn einengende Mutter. Neben der Selbstauskunft in seinen Briefen, die nur im jeweiligen Kontext interpretiert werden sollten, hat sich H. in seinen Werken in der ersten Le-
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benshälfte mit dem Weg des schwärmerischen Jünglings zu entweder Ruhm oder Wahnsinn oder zu beidem beschäftigt (Kurz 1979, 186–198; Schlimme 2010). So heißt es am Ende der ersten Strophe von »An die klugen Rathgeber« aus dem Jahre 1796: »Laßt immerhin, ihr Ärzte, laßt mich leben,/ So lang die Parze nicht die Bahn verkürzt. [...]« und in der Mitte der vierten Strophe: »Das Irrhaus wählt ihr euch zum Tribunale,/ Dem soll der Herrliche sich unterzieh’n,/ [...]« (MA 1, 165). Vermittels der Protagonisten Hyperion, Empedokles oder auch der Antigone des Sophokles sowie in seinen theoretischen Schriften sucht H. den Umgang mit den Fragen der »theia mania« (vgl. Platon, Phaidros 249d–250a, 265a; s. auch Kap. 10 und 19). Der Auftrag des Dichters, das Scheitern seiner Ideale, der Tod der Geliebten: das alles sind nachvollziehbare Gründe für Verzweiflung. Auch mit der Möglichkeit des Suizids lässt H. schon den Hyperion umgehen. So heißt es im zweiten Band, im langen Brief an Bellarmin, der am Anfang auch Hyperions Schicksalslied enthält, nach dem Tod seiner geliebten Diotima: »Ach Notara! Auch mit mir ists aus; verlaidet ist mir meine eigene Seele, weil ich ihrs vorwerfen muß, daß Diotima todt ist, und die Gedanken meiner Jugend, die ich groß geachtet, gelten mir nichts mehr. Haben sie doch meine Diotima mir vergiftet!// Und nun sage mir, wo ist noch eine Zuflucht? – Gestern war ich auf dem Aetna droben. Da fiel der große Sicilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte müssen am Feuer sich wärmen, sagt’ ein Spötter ihm nach.« (FHA 11, 772) In der Zeit nach der Behandlung im Tübinger Universitätsklinikum, gibt es eine Schaffensphase, in der H. ein selbstreflexives »lyrisches Ich« sprechen lässt. Er scheint, nach den Zeugnissen seiner Vertrauenspersonen in der »Zimmerei« am Neckarufer, in den Jahren bis 1816 zunehmend ruhiger, nach einer schwereren körperlichen Erkrankung 1812 sowie der Geburt von Lotte Zimmer 1813, die ihn nach dem Tod ihres Vaters (1838) intensiv und nah begleiten sollte, auch seltener lethargisch und schaffenskräftiger. In dieser Zeit entsteht in einfachen Reimen der vielleicht auf Schillers gleichnamiges Gedicht antwortende »Spaziergang«. In ihm zeigt sich eine Distanz zu sich selbst (als lyrisches Ich) und ein Kompromiss zwischen der Distanz zu anderen Menschen und dem Versuch, eine sprachliche Verständigung mit ihnen zu finden und ihnen zu erklären, wieso es dem so unver-
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ständlich Scheinenden eigentlich ganz verständlicherweise so geht und gehen muss. Der Spaziergang Ihr Wälder schön an der Seite, Am grünen Abhang gemahlt, Wo ich umher mich leite, Durch süße Ruhe bezahlt Für jeden Stachel im Herzen, Wenn dunkel mir ist der Sinn, Den Kunst und Sinnen hat Schmerzen Gekostet von Anbeginn. Ihr lieblichen Bilder im Tale, Zum Beispiel Gärten und Baum, Und dann der Steg der schmale, Der Bach zu sehen kaum, Wie schön aus heiterer Ferne Glänzt Einem das herrliche Bild Der Landschaft, die ich gerne Besuch’ in Witterung mild. Die Gottheit freundlich geleitet Uns erstlich mit Blau, Hernach mit Wolken bereitet, Gebildet wölbig und grau, Mit sengenden Blitzen und Rollen Des Donners, mit Reiz des Gefilds, Mit Schönheit, die gequollen Vom Quell ursprünglichen Bilds. (MA 1, 915 f.)
H. gelingt es hier mit einfachen Worten, die Leser auf diesen Spaziergang und damit seinen Lebensweg mitzunehmen. Verstehen wir den »Schmerz« und den »Stachel im Herzen« als die fundamentale Unsicherheit und Irritation, die im »Verlust der Selbstverständlichkeit« durch die schweren seelischen Krisen erfahren wird, so erweist sich H.s Spaziergang als präzise Darstellung eines recht weitreichenden Genesungsprozesses nach einer Psychoseerfahrung.
8.4 Vielstimmiges Fazit Die Koordinaten »Genie und Wahnsinn«/»Kreativität und Psychose« begleiten den Fall H. seit dem ersten Tag der Behandlung einer sich gerade erst formierenden Psychiatrie. Bereits im Tübinger Universitätsklinikum an der Bursagasse ist das ganze Spektrum der wechselseitigen Verzerrungen und Gesprächsabbrüche vorhanden, welches sich um das Verständnis von psychotischen seelischen Krisen rankt. Eine (heil-
same) Verständigung über die verstörenden und beirrenden Erfahrungen, die den realen Erfahrungskern auf Seiten einer einzelnen (betroffenen) Person dieser unvermittelbar wirkenden Positionen bilden, scheint kaum noch möglich. Es bleibt eine Vielstimmigkeit der Perspektiven – und bei der Vorläufigkeit aller Diagnosen und Fazite. Stets verweisen die möglichen (und weniger möglichen) Diagnosen auf den sie prägenden Verständigungskontext zurück: sei es die Behandlungsdiagnose durch Autenrieth (Manie als Nachkrankheit der Krätze), die pathographische Diagnose durch Jaspers (Schizophrenie) oder Peters (Schizophasie), die antipsychiatrische Diagnose durch Bertaux (geschauspielerte Narretei) oder eine historisch-kritische Erfahrungsbeschreibung (Psychoseerfahrung) wie die hier vertretene. Doch gibt es einige Fakten: Der Dichter war körperlich bei guter Gesundheit und erreichte für jene Zeit ein hohes Alter; und auch der Obduktionsbefund ergab keinerlei Hinweise auf körperliche, inklusive Gehirnkrankheiten. Wir können mit guten Gründen insbesondere in Anbetracht der zahlreichen Schilderungen von Freunden und Angehörigen davon ausgehen, dass H. ab 1802 selbst so sehr unter seinen inneren Konflikten gelitten hat, unter seiner äußeren Lebenssituation und den traumatisierenden Erfahrungen im Jahre 1802, dass wir von einer psychischen Krankheit sprechen können. Diese psychische Krankheit war so schwer, dass H. seitens des Konsistoriums ab 1805 nicht nur von der Pflicht befreit wurde, eine Vikar- und dann Pfarrstelle anzutreten, sondern dass darüber hinaus ihm ein Gratial, also eine Art Erwerbsunfähigkeitsrente auf Lebenszeit zugesprochen wurde. Damit konnten sämtliche Ausgaben für die Familienpflegesituation in Tübingen gedeckt werden. H.s Erbe, welches erst die Mutter und später ein Vormund aus Nürtingen verwalteten, wurde nicht angetastet. H. war auch in der zweiten Lebenshälfte von 1807 bis 1843 keineswegs ein ›armer Irrer‹. Er starb als reicher Mann, war jedoch entmündigt und ohne Rechte in Bezug auf sein Vermögen, ebenso ohne Verfügung über seine Werke. Es ist nicht denkbar, dass er bei seelischer Gesundheit dieser Entmündigung keinen (stärkeren) Widerstand entgegengesetzt hätte. Ganz offensichtlich hat sich H. in seine Rolle am Rande der Gesellschaft, als ›Sonderling‹ zu leben, gefügt und es ist ihm gelungen, daraus eine eigenartig mit seinem Werk verknüpfte Inszenierung mitzugestalten. Dies geschah jedoch nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Eindruck einer für ihn nicht zu bewältigenden inneren und äußeren konfliktären
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Realität. Insofern lässt sich H.s Lebensgeschichte sehr wohl heranziehen, um das Schwerverständliche von psychotischen Symptomen und Lebensläufen sowie das kaum Auszuhaltende ihrer hintergründigen, im Sozialen sich ansiedelnden Spannung als gerade die zentrale Botschaft zu verstehen. Es braucht einen sozialen Raum, in dem das betroffene Individuum in einem Akt der Selbstverteidigung, aus seelischer Notwehr, sich zu den es überwältigenden, schmerzhaften und überfordernden Erfahrungen zu verhalten vermag. Bei H. hat diesen sozialen Raum mindestens ansatzweise die Pflegefamilie geschaffen. Die Leistung der Familie Zimmer und insbesondere die Lottes kann man deshalb gerade 200 Jahre später nicht hoch genug einschätzen. Zum Diskussionsstand In sieben Thesen seien die hier vorgelegten Überlegungen zum ›Fall H.‹ zusammengefasst: 1. Man kann H.s Werke weder vor noch nach der großen Krise 1806/07 aus dem Umstand oder der Gestalt der Krise heraus verstehen. Eine Einengung auf eine hierdurch motivierte oder gestaltete Kunst ist unmöglich. In diesem Sinne gilt die Aussage: Es gibt keine schizophrene Kunst. 2. Es lässt sich retrospektiv keine genaue Diagnose stellen. Alle Diagnosen sind zeit- und kontextge bunden. Dies gilt auch für dieses Fazit. 3. H. war psychisch krank und dafür gab es gute Gründe. Das Emblem der Psychoseerfahrung ist zumindest beschreibend richtig. Diese Feststellung ist aber vorläufig und man muss bei ihr sich Rechenschaft über das Verständnis von Psychose geben. 4. Bis zum Ende seines Lebens hatte H. auch viele gesunde Persönlichkeitsanteile. H. hat in der Zeit bei den Zimmers am Neckarufer eine eigene, ganz ihm gemäße Leistung des Genesens aufgeboten, die sich im Wesentlichen aus diesen gesunden psychosozialen Seiten seiner Person speisten. 5. H. war bis zu seinem Tod als Dichter aktiv. Dies hatte auch die Funktion der Verständigung, scheint aber nur eine sozial sehr distanzierte Selbstverständigung erlaubt zu haben, die dennoch nicht ohne Antwort der Anderen ausgekommen ist. 6. Auch in den Jahren bei den Zimmers am Neckar-
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ufer hat H. seine Lebenssituation aktiv mitgestaltet. Er hat Gespräche geführt, musiziert, ging spazieren und interessierte sich für die Entwicklungen in seiner Wirtsfamilie, zeitweise auch für das Weltgeschehen (Befreiungskampf der Griechen). 7. H.s Werk ist kein Fall für die Psychiatrie. Von seiner Lebensgeschichte und seinem kreativen Umgang mit seinen Erfahrungen, die auch in seinen Werken Eingang gefunden haben, können (und sollten) wir – nicht nur die psychiatrischen Experten – lernen. Entpsychiatrisierung ist im Falle H.s keine empathische Projektion, sondern der Versuch, ihm auf seinem Weg durch die Bursagasse ans Neckarufer gerecht zu werden. Literatur
Bertaux, Pierre: F. H. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1978. Gaier, Ulrich: H.s Melancholie, in: H. Studien, hg. v. Sabine Doering und Valerie Lawitschka, Tübingen 2014, 27–129. Geyer, Dietrich: Trübsinn und Raserei. Die Anfänge der Psychiatrie, in: Deutschland, München 2014, 49–52. Gonther, Uwe/Andreas Reinecke: Zur Veränderung von H.s Sprache in den Briefen an Böhlendorff 1801/1802, HJb 2017/18, Paderborn 2020. Gonther Uwe/Jann E. Schlimme: H. und die Psychiatrie, Köln 2010. Hellingrath, Norbert v.: Vorrede zur ersten Auflage, in: H. Sämtliche Werke, historisch-kritische Ausgabe, begonnen durch Norbert v. Hellingrath, fortgeführt durch Friedrich Seebaß und Ludwig v. Pigenot, erster Band, zweite Auflage, Berlin 1923. Kurz, Gerhard: H. und die Frage nach dem Wahnsinn, in: Euphorion 73 (1979). Schlimme, Jann E.: Karl Jaspers. Pathographie zwischen »genetischem Verstehen« und Existenzerhellung, in: Gonther, Uwe/Jann E. Schlimme: H. und die Psychiatrie, Köln 2010, 177–193. Schlimme, Jann E./Uwe Gonther: H.s Behandlung im Tübinger Klinikum, in: Dies.: H. und die Psychiatrie, Köln 2010, 51–110. Schlimme, Jann E./Burkhart Brückner: Die abklingende Psychose. Verständigung finden – Genesung begleiten, Köln 2017. Waiblinger, Wilhelm: F. H. Leben, Dichtung und Wahnsinn, Tübingen 2014. Zimmer, Lotte: »Von der Realität des Lebens« – Hir das Blatt. Nachrichten aus dem Alltag mit F. H. mitgeteilt von Lotte Zimmer, hg. v. Angelika Overath und Gregor Wittkop, Berlin 1997.
Uwe Gonther / Jann E. Schlimme
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9 Zur Geschichte des Hölderlinschen Nachlasses Der Begriff Nachlass wird hier nicht im engen, archivtechnischen Sinne als »echter Nachlass« von einheitlicher Provenienz verstanden, der lediglich das Schriftgut im Besitz des Verstorbenen im Augenblick seines Ablebens erfasst. Vielmehr ist in einem personenbezogenen Handbuch wie diesem unter dem Nachlass H.s alles gemeint, was der Dichter der Nachwelt an Eigenem und an Empfangenem hinterlassen hat und was heute meist in sogenannten Misch- oder Splitternachlässen auf mehrere Standorte verstreut ist.
9.1 Das Schriftgut Es sind keine unmittelbaren Zeugnisse bekannt, dass H. dem eigenen Nachlass besondere Aufmerksamkeit geschenkt habe. Aber schon seit jungen Jahren hat er sich über sein Denken durch »geordnete Niederschriften« (Zinkernagel) Rechenschaft gegeben. So begleiteten ihn bis in den Tübinger Turm (s. Kap. 7) Gedichte und auch andere Texte zum Teil in jenen Konvoluten, von denen heute das Stuttgarter Foliobuch, das Marbacher Quart- und das Homburger Folioheft nicht nur der H.-Philologie ein Begriff sind. Eine Person indes, die seinen geistigen Nachlass schon zu Lebzeiten verwaltet und durch Sammeln aufgewertet hätte, um ihn bei entsprechender Gelegenheit weiterzureichen, war nach dem verfrühten Tod seiner weitblickenden Verehrer Isaak von Sinclair (s. Kap. 5) und des Leutnants von Diest nicht in Sicht. Wohl ist von seinem Halbbruder Karl Gock das schöne Wort von H.s Briefen als »einem Heiligthum brüderlicher Liebe« überliefert, und auch sein Patensohn Fritz Breunlin, der von der Mutter, H.s Schwester Heinrike, die in Nürtingen gehüteten Handschriften des Dichters samt den empfangenen Briefschaften erbte, zeigte Verantwortungsbewusstsein, wie die Schenkung an den Homburger Bibliothekar Hamel beweist. Doch lassen sich in der Familie, welcher Uhland im Zusammenhang mit dem ersten Gedichtband schon 1825 empfohlen hatte, für eine künftige Auflage »die Handschriften aufzubewahren«, allenfalls Ansätze eines systematischen Umgangs mit dem Nachlass erkennen, wobei einer Zusammenführung der auseinandergerissenen Papiere nach Johanna Gocks Tod ohnehin das Zerwürfnis zwischen H.s Schwester und dem Halbbruder im Wege gestanden hätte.
So kümmerten sich, lange bevor auch öffentliche Institutionen auf den Plan traten, zunächst Bewunderer und Sammler um das noch Vorhandene. Neben Varnhagen von Ense, Wilhelm Waiblinger, Carl Künzel, Hermann Kurz oder Eduard Mörike, der überdies für Echtheitstestate gefragt war, wie auch neben anderen Besuchern im Turmzimmer waren es vor allem Vater und Sohn Schwab, welche in den Besitz von H.Autographen gelangten. Dabei entfaltete der junge Schwab für seine Gesamtausgabe von 1846 (s. Kap. 1) besondere Aktivitäten, wie Texte aus den Nachlässen von Schiller, Neuffer oder Landauer beweisen. Nicht zuletzt von dem 1849 verstorbenen Gock erhielten sein Vater und er Unterlagen, die später nicht mehr alle an den Leihgeber zurückwanderten und somit glücklicherweise nicht, so der Neffe Fritz Breunlin 1870, »durch Anverwandte beseitigt worden sind«. Diese unbegreifliche Vernichtung nahm ein zutiefst verbitterter Gock offenbar selber vor. An unmittelbaren Hölderliniana verschont blieben lediglich die Briefe der Susette Gontard (s. Kap. 4). Den Grund dafür kennen wir nicht. Waren sie vor ihm in Sicherheit gebracht? Damit in Widerspruch steht freilich die Aussage von Gocks Tochter Ida Arnold, der Vater habe ihr das Versprechen abgenommen, diese Briefe nicht veröffentlichen zu lassen, die er seiner Halbschwester Heinrike Breunlin entwendet (so deren Sohn 1870) hatte. Wie auch immer, die Briefe von H.s Diotima haben in der Familie Arnold die Zeiten überdauert und sind heute Gocks Nachlass in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart einverleibt, der ansonsten neben Stammbuchblättchen, Haarlocken und anderen Familienandenken sowie Rapps Sektionsbericht im Wesentlichen zwar Korrespondenzen zu den H.-Gedichtausgaben von 1826 und 1843, aber keine Autographen des Dichters mehr enthält, wie Gock sie früher noch pietätvoll aufbewahrt hatte. Mehr als nur Ersatz für das Verlorene bieten daher die Abschriften, Exzerpte und Regesten, welche Schlesier 1844/45 fertigte, als Gustav Schwab in Stuttgart über das Material verfügte – mehr als Ersatz auch deshalb, weil im Breunlinschen Familienzweig wohl vieles ebenfalls unterging, übrigens möglicherweise in Italien, wo zwei Töchter des 1880 verstorbenen Fritz Breunlin verheiratet waren, deren eine H.s Nachlass an Christoph Th. Schwab verkaufte, wie er 1881 an Carl C. T. Litzmann berichtete (Sattler/Steimer). Nicht weniger als jedes fünfte Stück aus H.s Korrespondenz vor 1806 ist allein bei Schlesier überliefert (Steimer). Dass H.s eigener Fundus zunächst im Wesentlichen bei Mutter und Schwester in Nürtingen lag, wird erst-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_9
9 Zur Geschichte des Hölderlinschen Nachlasses
mals 1809 sichtbar bei der Frage von Conz an August Mahlmann nach einem etwaigen Interesse der Leipziger »Zeitung für die elegante Welt« an einer Veröffentlichung von poetischen und prosaischen Aufsätzen des »von einer traurigen Geistesstörung befangenen Dichters«. Derselbe Standort galt auch für die frühen 1820er Jahre, als sich Diest, Kerner, Uhland, Gustav Schwab und Gock um das Zustandekommen der dann 1826 erschienenen Gedichte bemühten und dort der Theologiestudent Karl Ziller 1822 für Gock einige Handschriften abholte. In Tübingen dagegen scheint damals an geeigneten Dichtungen nichts mehr vorhanden gewesen zu sein. Um ihm Aufregungen zu ersparen, nahm der Schreinermeister Zimmer seinem Schutzbefohlenen, der laut Waiblinger und Schwab jr. anfangs begierig jede Gelegenheit ergriff, alle ihm in die Finger geratenden Papiere zu füllen, die Möglichkeit zur schriftlichen Artikulierung (s. Kap. 7). Daraus schloss Sattler, Zimmer habe ihm bereits 1807 alle Manuskripte, also implizit vor allem die mitgebrachten, entzogen und der Familie übergeben. Andererseits war, ebenfalls nach Sattler, noch 1825 in einem Bücherkasten, dessen Existenz in der Turmstube Waiblinger überlieferte, der verborgene Briefschatz von Susette Gontard ans Licht getreten: ihn hatte die Mutter 1802 in einem Geheimfach des aus Bordeaux (s. Kap. 6) zurückgekommenen Koffers entdeckt. Erhalten blieb an Eigenhändigem aus H.s zweiter Lebenshälfte nicht viel mehr als die ›Auftragsgedichte‹ (s. Kap. 35) für seine Besucher sowie Zimmer-Briefe Begleitendes an Mutter oder Schwester – wenig verwunderlich bei dem zeitgenössischen Verständnis, das H.s Texte als »dämonisches Zeug aus dem siebenten Himmel der idealistischen Philosophie« (Conz 1821) oder als ein »Rummel« Papiere, »meist unlesbares, mattes Zeug« (Mörike 1838), apostrophierte. Nur spekulieren lässt sich darüber, was sich außerhalb der Familie hauptsächlich bei H.s Korrespondenzpartnern und -partnerinnen angesammelt hat. Wie lange solche Hölderliniana aufbewahrt wurden, entzieht sich meist unserer Kenntnis. Einen kleineren Fonds etwa hat nachweislich Friedrich Haug sein Eigen genannt, einen größeren z. B. Neuffer (s. Kap. 3); der zweite blieb erhalten, der erste nicht. Von H.s regem Briefwechsel mit Luise Nast sind nur noch Splitter vorhanden, als verschollen gelten müssen dagegen seine Briefe an Elise Lebret, an Susette Gontard und an Sinclair, ferner so gut wie alle von Waiblinger besessenen »schriftlichen Sachen«, die dagegen vermutlich erst aus den Jahren der Krankheit stammten. In der Hinterlassenschaft von Kontaktpersonen oder -be-
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hörden, wie sie Biographie und Itinerar ins Blickfeld rücken, sind vielleicht noch neue, möglicherweise unerkannte Autographen des Dichters zu entdecken. Um H.s Schriftgut bemühten sich bei allen offenkundigen Verlusten weiterhin Sammler und Liebhaber, seit dem späten 19. Jahrhundert auch Philologen und Editoren. Zu nennen sind hier Johann Georg Hamel, Max Wüstemann, Kilian von Steiner, Stefan Zweig, Martin Bodmer, Carl C. T. Litzmann, Ernst Kelchner, Wilhelm Böhm, Norbert von Hellingrath (s. Kap. 37) oder Franz Zinkernagel. Schon 1857 hatten sich neue Pforten geöffnet, als mit der Stadtbibliothek Homburg vor der Höhe die erste öffentliche Institution den Zugang von H.-Schriftstücken vermelden konnte. 1883 folgte die heutige Württembergische Landesbibliothek Stuttgart mit dem gewichtigen Zuwachs an Hölderliniana aus dem ehemaligen Besitz Christoph Th. Schwabs. Inzwischen beherbergt dieses Haus, dem 1975 auch der einschlägige Homburger Bestand als Depositum anvertraut wurde, das umfangreichste Corpus an H.schen Handschriften, zu dem als bedeutende Verwahrungsstätte 1905 das Schiller-Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N. hinzutrat. Stets bestrebt, auf dem Markt auftauchende H.-Autographen zu erwerben, aber auch die Nachlässe von H.-Forschern als wertvolle Ergänzung zu akquirieren, lieferten und liefern die Einrichtungen der öffentlichen Hand die meisten Quellen für die wissenschaftlichen Projekte, namentlich für die Große Stuttgarter Ausgabe (1943–1985) von Friedrich Beißner und dem unermüdlichen Spurensucher Adolf Beck sowie für die Frankfurter Ausgabe (seit 1975) von Dietrich E. Sattler, deren Faksimiles, teilweise prozessual datiert, eine neue literaturhistorische Qualität erreichten. Mit diesen Ausgaben ist der »Schnitzelhaufen der Hölderlin-Nachlässe«, von dem Rudolf Borchardt noch 1929 sprach, übersichtlicher geworden. An H.-Autographen blieben nach heutiger Kenntnis 1423 Blatt erhalten, hauptsächlich Werk- und Briefhandschriften (Steimer). H.s gesamter Nachlass indessen bestand 1998 aus 578 Nummern gemäß der sattlerschen Zählung, die unabhängig von Herkunft, Überlieferungsform und Umfang alles Schriftgut erfasst, vom einfachen Namenszug bis zum mehrseitigen Manuskript. Die Korrespondenz wiederum umspannt nur noch gut 400 Briefe, davon drei Viertel von H. selbst. Den weitaus größten Teil des hier ins Auge gefassten Nachlasses registriert der 1961 erschienene »Katalog der Hölderlin-Handschriften«, der übrigens die Vermutung widerlegt, dem Brand des Tübinger Turms
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II Zeit und Person
1875 seien auch Teile des H.schen Nachlasses zum Opfer gefallen. Auf diese Veröffentlichung des 1941 als Abteilung der Stuttgarter Landesbibliothek gegründeten H.-Archivs, zu dessen Arbeitsschwerpunkten neben der Internationalen H.-Bibliographie auch der Erwerb möglichst aller Publikationen von und über H. zählt, sei ausdrücklich verwiesen. H.-Texte weist Dietrich E. Sattler im abschließenden Band 20 der Frankfurter Ausgabe nach.
9.2 Die Realien Nachzutragen bleiben der Vollständigkeit halber die bei H.s Tod vorhandenen Realien. Dieser Nachlass im Tübinger »Erkerlogis« (Conz) umfasste lediglich die wenigen Habseligkeiten, welche der gut versorgte und offensichtlich völlig anspruchslose »Pflegsohn« der Familie Zimmer zum täglichen Leben brauchte. Nur einige Bücher sprengten den äußerlich dürftigen Rahmen. Als Erinnerungsobjekte für den Stiefonkel nahm sie sein Neffe Fritz an sich, ebenso ein kleines Bildchen auf Pergament, vielleicht von Susette Gontard, für die Mutter. Das Porträt Friedrichs des Großen, das Waiblinger an der Wand sah, war wohl schon lange verschwunden. Als Teilungsbehörde für den Entmündigten fühlte sich das Oberamtsgericht Nürtingen zuständig, dem vom Tübinger Gerichtsnotariat und Waisengericht ein Fahrnisinventar vom 15.8.1843, allerdings erst auf Anfrage, zuging, nachdem die mit 67 fl 14 × bewerteten Gegenstände der Witwe Zimmer von den Erben geschenkt worden waren, darunter allein für 30 fl auch das legendäre Sofa nebst zwei Sesseln. Nicht dem Dichter hatte demzufolge das Klavier, zuletzt im Gemach der Lotte Zimmer, gehört, an dem er oft gedankenversunken saß, und ebenso wenig das Tischchen, auf das er mit der Hand schlug, wenn er, nach den Worten der Schreinerstochter, mit seinen Gedanken Streit hatte (vgl. StA 7.3, 250). Erst 1997 von der H.-Forschung aufgespürt, schmückt das einzige erhaltene Möbelstück aus H.s Umgebung, auf dem spä-
ter ein Papageienkäfig stand und auf das schließlich der französische Militärgouverneur 1951 einen begehrlichen Blick warf, heute die Wohnung von Zimmer-Nachfahren in Lindau. Die Erbteilung am 16.9.1843 in Nürtingen zwischen H.s Schwester und dem Halbbruder im Verhältnis sieben zu eins betraf das vom dortigen Vormundschaftspfleger verwaltete Vermögen in Höhe von rund 12.959 fl, darunter die Nürtinger Fahrnis, zu der übrigens ein weiteres Tischchen sowie die auf lediglich gut 6 fl taxierten Bücher gehörten, deren Katalog wie das meiste Vorstehende die Teilungsakte im Stadtarchiv Nürtingen überliefert. Im weiteren Sinne zu H.s Nachlass zählt schließlich auch sein Porträt von Franz Karl Hiemer, das er seiner Schwester 1792 zur Hochzeit verehrte und das heute in Marbach a. N. hängt. Literatur
Autenrieth, Johanne/Alfred Kelletat (Bearb.): Katalog der H.-Handschriften (Veröffentlichungen des HölderlinArchivs 3), Stuttgart 1961. Raabe, Paul: Die Briefe H.s. Studien zur Entwicklung und Persönlichkeit des Dichters, Stuttgart 1963, 15–28. Sattler, D. E.: Einige Umdatierungen im Nachlaß H.s, in: Le pauvre Holterling 4/5 (1980), 27–39. Sattler, D. E./Emery E. George (Hg.): Homburger Folioheft, FHA, Supplement III, Basel 1986, 10–19. Sattler, D. E.: Nachlaß F. H. in chronologischer Folge, in: Text. Kritische Beiträge 4 (1998), 191–238. Sattler, D. E./Hans Gerhard Steimer (Hg.): Frankfurter und Homburger Entwurfsfaszikel, FHA, Supplement I, Basel/ Frankfurt a. M. 1999, 43–47. Steimer, Hans Gerhard (Hg.): Gustav Schlesier. H.-Aufzeichnungen, Weimar 2002. Volke, Werner [u. a.]: H. entdecken. Lesarten 1826–1993 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 17), Tübingen 1993. Wittkop, Gregor: H.s Tisch. Die merkwürdige Wanderschaft eines kleinen Möbelstücks, in: Zeit und Bild, Frankfurter Rundschau am Wochenende, 1.11.1997. Wittkop, Gregor: H.s Tisch aus Tübingen, Spuren 64 (Deutsche Schillergesellschaft Marbach). Sattler, Dietrich E.: Korrespondenz und Werke, chronologisch-integrale Edition (FHA 20), 2008.
Volker Schäfer
III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
10 Schule und Universität 10.1 Schulbildung Im Herzogtum Württemberg gab es in der Hauptsache zwei Wege, die zum Studium an der Landes-Universität Tübingen führen konnten: einmal die Absolvierung des Stuttgarter Gymnasiums, zum andern den Besuch einer der vielen Lateinschulen bis zum vierzehnten Lebensjahr (Konfirmation), an den sich dann noch vier Jahre Unterricht in je zwei der sogenannten »Klosterschulen« des Landes anschließen musste. Erst dann konnte man sich an der Universität immatrikulieren und als Aufnahmeprüfung zum Studium das »Baccalaureat« ablegen. Für H. legte sich der Weg über die Nürtinger Lateinschule und die anschließenden Klosterschulen nahe. Der Lehrplan der württembergischen Lateinschulen enthielt nur Empfehlungen, die von Schule zu Schule anders gehandhabt werden konnten. Er orientierte sich immer noch an den Fächern der mittelalterlichen sieben freien Künste, hauptsächlich an denen des Triviums (Grammatik, Rhetorik, Dialektik). Erst in den Klosterschulen wurde auch die Mathematik ausführlicher behandelt. Das Hauptlehrziel bestand in der Vermittlung der lateinischen Sprache, die von Anfang an auch ausnahmslos im Unterricht gesprochen wurde. Die meisten württembergischen Lateinschulen waren dreiklassig, aber nicht nach Altersstufen eingeteilt, sondern nach Leistungsvermögen. In der ersten, untersten Klasse wurde hauptsächlich die lateinische Grammatik »gepaukt« und Vokabeln gelernt, ab der zweiten Klasse wurden auch lateinische Autoren gelesen, in der Hauptsache Cicero (vor allem dessen Briefe). In der obersten Klasse, die der Schulleiter selbst unterrichtete, wurden dann die Grundlagen für das Griechische und Hebräische gelegt; sie dienten der Vorbereitung auf das sogenannte »Landexamen«. Das war eine württembergische Spezialität. Alljährlich (zu H.s Zeiten im September) fand dieses offiziell »examen solenne« genannte Konkursexamen in Stuttgart, in den Räumen des Gymnasiums, statt. Es war üblich, dieses Examen mehrmals abzulegen; zu H.s Zeiten galt noch die Regel »je öfter, desto besser«, ab 1793 wurde die Teilnahme auf drei Male beschränkt;
H. hat das Landexamen in den Jahren 1780 bis 1784 vier oder fünf Mal abgelegt. Unsicher ist die Anzahl der Examinationen deshalb, weil die Mutter in ihrer Ausgabenliste Ausgaben für vier Landexamina vermerkt, andererseits aber fünf Zitationsbefehle gefunden werden konnten (vgl. Schäfer 1989, 408 f.). – Geprüft wurde im Landexamen schriftlich und mündlich vor allem natürlich das Lateinische, aber auch Griechisch und Hebräisch. Hauptbestandteil der schriftlichen Prüfung war das sogenannte »Argument«, ein deutscher Text, der ins Lateinische übersetzt werden musste; fakultativ waren dabei dann auch lateinische oder gar griechische Verse zu schreiben, in denen der Prüfling den Inhalt des diktierten Textes zusammenfassen oder kommentieren konnte. In der mündlichen Prüfung wurden aber auch logische und rhetorische Definitionen (wie sie im Übrigen das Logik-Kompendium am Ende zusammengefasst enthielt) abgefragt, sowie die »Beantwortung von Religionsfragen [...], endlich die Lösung arithmetischer Aufgaben« (Hirzel 1865, 120). Vermutlich wurde H. seinerzeit nach Stuttgart begleitet von dem Nürtinger Diakon Nathanel Köstlin, der bei ihm in vielem die Vaterstelle vertrat und ihm neben der Schule auch Privatunterricht erteilte (vgl. die Angaben im Tübinger Magisterprogramm von 1790), und zwar gerade zur Vorbereitung auf das Landexamen. Auch der junge Schelling (s. Kap. 5), der von 1783 bis 1786 die Lateinschule in Nürtingen besuchte, wohnte während dieser Zeit als »Kostgänger« bei Köstlin und kam wohl auch in den Genuss des Privatunterrichts des frommen Manns. H.s Mutter hat den Privatunterricht beim »HE. Helffer« (d. i. Köstlin) jährlich mit 12 Gulden bezahlt, doppelt soviel, als der Präzeptor Kraz für seinen Privatunterricht erhielt und ein Vielfaches des Schulgelds. Die Nürtinger Lateinschule stand damals im Ruf, eine der besten des Landes zu sein, und das verdankt sie wohl in der Hauptsache Kraz, der hier von 1778 bis 1788 die Schule leitete. Kraz scheint auf den – nicht in jeder Lateinschule angebotenen – Hebräischunterricht besonderen Wert gelegt zu haben. Vielleicht hängt diese besondere Pflege des Hebräischen damit zusammen, dass Kraz zu den Kreisen des »spekulativen Pietismus« in Württemberg Kontakt unterhielt, die – wie Oetinger und der Nürtinger Dekan Jakob Friedrich Klemm – theo-
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
sophisch-kabbalistischen Interessen nachgingen (vgl. Stäbler 1998). Auf den Klosterschulen (H. besuchte zuerst zwei Jahre Denkendorf, dann ebenso lange Maulbronn) wurden die Schüler schon eingeübt in den zukünftigen Pfarrerberuf. Da das Internat sich aus dem Kirchengut finanzierte, der Besuch für die »Alumnen«, wie die Schüler genannt wurden, also kostenlos war, mussten sie eine verpflichtende Erklärung abgeben, dass sie sich auf den Pfarrerberuf vorbereiteten (vgl. StA 7.1, 355). Von den Klosterprofessoren erwähnenswert sind eigentlich nur N. J. Hesler in Denkendorf, der Vater von H.s Freund Hesler, und J. Chr. Hiller in Maulbronn; der Letztere war ein Sohn des schwäbischen Kirchenliederdichters Hiller und ein Exponent des württembergischen Pietismus, dem auch Hesler nahestand. Obwohl es immer wieder Versuche gab, zumindest im Griechischen die Profanschriftsteller aus dem Lehrplan auszuschließen, hatte sich zu H.s Zeiten der neuhumanistische Lektüreplan einigermaßen durchgesetzt und in Maulbronn waren möglicherweise sogar Partien aus Homer Gegenstand von Kollegien. Im württembergischen Bildungswesen hat es also eine Kooperation von Pietismus und Neuhumanismus gegeben. Jedenfalls war an den Klosterschulen J. M. Gesners Chrestomathia Graeca als Griechisch-Lehrbuch eingeführt, in dem H. mit längeren zusammenhängenden Passagen aus Herodot, Thukydides, Xenophon, Aristoteles, Theophrast, Plutarch, Sextus Empiricus, Lucian und Herodian sich vertraut machen konnte.
10.2 Universitätsausbildung Philosophiestudium 1) Im universitären Lehrbetrieb wurden öffentliche von privaten Vorlesungen (Kollegien) unterschieden. Die ersteren boten das Lehrpensum, das der jeweilige Professor gewissermaßen von Amts wegen zu lehren verpflichtet war, und waren kostenlos; in den Letzteren wurden meist speziellere Themen, die den Vorlieben des Lehrenden entsprachen, behandelt und für sie musste jeder Hörer einen bestimmten Betrag pro Semester bezahlen, abgestuft nach den Kategorien »(collegium) privatum« oder »(collegium) privatissimum«. Die Stiftler in Tübingen hatten darüber hinaus zwei weitere Arten von Lehrveranstaltungen, nämlich den »Locus«, in dem das Kompendium der Dogmatik Paragraph für Paragraph (»locus« nach »locus«) durchgenommen wurde, und die »Repetitionen«, in denen
eigentlich der Stoff der Lektionen vertieft werden sollte, tatsächlich aber meistens philologische, philosophische oder theologische Themen aus den Interessensgebieten der »Repetenten« (einer Art von Assistenten im theologischen Stift) angeboten wurden (s. Kap. 3). Welche Vorlesungen H. in der philosophischen Fakultät gehört hat, lässt sich nicht vollständig rekonstruieren (vgl. aber Nicolin 1977, 23–25 und 37–39). Dem Briefwechsel H.s sind nur spärliche Informationen dazu zu entnehmen und in dem Curriculum Vitae, das im Tübinger Magisterprogramm von 1790, also der Einladung zum Festakt des Magisteriums, enthalten ist, werden nur die Vorlesungen aufgeführt, die über das obligatorische Pensum hinausgingen. Es heißt dort (im Original auf Lateinisch): »Neben dem Üblichen hörte er Herrn Prof. Roesler über neueste Geschichte; Herrn Prof. Flatt, der Cicero De natura Deorum und empirische Psychologie erklärte; den Herrn Repetenten Bardili, der über den Gebrauch der profanen Schriftsteller in der Theologie handelte; und auch den Herrn Rep. Conz, der über die Tragödien des Euripides las.« (MA 3, 574) – Das erwähnte Kolleg Rößlers (die Schreibung »Roesler« erklärt sich aus den Anforderungen des lateinischen Alphabets) wird im Original »novellisticum« genannt; es handelt sich, nach Rößlers eigenen Angaben (vgl. Jacobs 1989, 65), um eine einstündige Vorlesung »über die laufende öffentlichen Angelegenheiten«, also vermutlich über das, was wir »Politik und Zeitgeschichte« nennen würden. Die Tatsache, dass er eine solche auf das aktuelle Tagesgeschehen bezogene Vorlesung überhaupt anbietet, charakterisiert ihn, der gleichzeitig in einem amtlichen Schreiben angibt, er halte sie »nebenbey«, schon als Vertreter jener gemäßigten Spätaufklärung, die dem Fortschrittsdrängen einer jüngeren Generation mit Ironie und Süffisanz begegneten (Typ: Nicolai). Sie kam zu H.s Zeiten schon nicht mehr gut an. Ob H. auch die Vorlesung über Geschichte der Philosophie gehört hat, die Rößler für das Wintersemester 1789/90 angekündigt hatte (vgl. Betzendörfer 1922, 42), lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Bei der Interessenlage H.s, die sich schon früh auf das Philosophische bezog, ist es aber doch anzunehmen; zumal diese Vorlesung, die Rößler nach dem Lehrbuch des Göttinger Philosophiehistorikers Christoph Meiners gestaltete, möglicherweise auch eine der Gelegenheiten war, bei denen die Studenten etwas über den Neuplatonismus erfahren konnten. Eben dies war nämlich ein Thema, das Rößler in einer Dissertation aufgegriffen hat, die von H.s Freund Niethammer (s. Kap. 5) 1786 verteidigt worden war (De Commentitiis Philosophiae Ammonia-
10 Schule und Universität
nae Fraudibus et Noxis). Es ging dabei um die Frage, ob ein neuplatonischer Einfluss auf die Ausbildung der altkirchlichen Dogmatik stattgefunden habe, und wenn ja, ob dieser schädlich gewesen sei. Dies Letztere war von einer Reihe von prominenten Kirchenund Dogmenhistorikern des 18. Jh.s behauptet worden. Rößler – und mit ihm Niethammer – hielt diese Auffassung für übertrieben. Bis zum Konzil von Nizäa (im Jahr 325 n. Chr.) sei überhaupt kein Einfluss des (Neu-)Platonismus auf die kirchliche Lehre festzustellen. Damit war zumindest eins der gängigen Vorurteile gegenüber der spätantiken Philosophie außer Kraft gesetzt (vgl. im Einzelnen Franz 1996, 123–127). Rößler hat sich seit den 1780er Jahren auch intensiv mit der mittelalterlichen Profangeschichte beschäftigt und war einer der ersten Historiker, die zu diesem Zweck auch mittelalterliche Quellenschriften heranzogen. Davon später mehr. Der Ephorus des Stifts, Christian Friedrich Schnurrer, war wegen seiner vergleichsweise liberalen Haltung bei den Stiftlern sehr beliebt. Schellings Sohn schreibt: »Durch seine persönliche Ueberlegenheit und Würde, durch eine ebenso seltene wie glückliche Vereinigung von Humanität und Strenge wußte er sich die Achtung der Studirenden zu gewinnen.« (Plitt 1869, 27) Sein Fach war offiziell die Philologie, also die Behandlung der alten Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch). Schnurrer beschränkte sich gleichwohl auf das, was er am besten verstand, nämlich die biblische Literatur des hebräischen Alten und des griechischen Neuen Testaments. Als Philologe hatte er die Tendenz, sich aus theologischen Streitfragen herauszuhalten. Seine Interessen galten den Aufgaben, die seinerzeit die vordringlichsten der beginnenden historisch-kritischen Wissenschaft des Alten Testaments waren: die Herstellung eines verlässlichen Texts (Textkritik) und die sprachliche Durchdringung der alttestamentlichen Bücher mittels der verwandten Sprachen des Orients (Arabisch und Syrisch). Schnurrer verstand sich als Schüler des Göttinger Orientalisten Johann Gottfried Eichhorn, der sich durch eine Einleitung in das AT und die berühmte »entmythologisierende« Exegese des alttestamentlichen Schöpfungsberichts (Urgeschichte, 1779, 21790) einen Namen gemacht hatte. Schnurrers Vorlesungen gingen der Interpretation der Texte, die Eichhorn mutig angegangen war, jedoch aus dem Wege, so dass einer der fortgeschrittensten seiner Hörer, der junge Schelling, seine Mitschrift einer Vorlesung Schnurrers mit dem Kommentar unterbricht: »Schnurrer entscheidet bei gar nichts« (vgl. Franz 1996, 192).
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Von ganz anderem Naturell war der junge Philosophieprofessor Johann Friedrich Flatt. Er hat sich unerschrocken in die aktuellen Debatten der Philosophie, die sich seit Mitte der 1780er Jahre um das Werk Kants (s. Kap. 12) konzentrierten, eingemischt. Höhepunkt seiner philosophischen Laufbahn war eine literarische Fehde mit Karl Leonhard Reinhold, die sich nach einer reinholdschen Rezension von Flatts Fragmentarische Beyträge zur Bestimmung und Deduktion des Begriffs und Grundsatzes der Caussalität ... (1789) ergab (vgl. Jacobs 1993, 153–172, und Franz 1996, 133–138). Es ist zu vermuten, dass die Studenten in Tübingen diese Auseinandersetzung zwischen dem führenden KantInterpreten und ihrem Professor für Logik und Metaphysik verfolgt haben. Den entscheidenden Einfluss auf die Interessen Flatts hatte der sogenannte Pantheismus-Streit gehabt. Hier schien sich, im Ausgang von den jacobischen Darlegungen Ueber die Lehre des Spinoza ..., eine philosophische Argumentationslinie entwickeln zu lassen, die der Kantischen Kritik an den traditionellen Gottesbeweisen recht geben konnte, um den gewonnenen logischen Raum nun freilich nicht dem Kantischen Vernunftglauben, sondern der über die Vernunft hinausgehenden Selbst-Offenbarung Gottes zu überlassen. Eine solche Position legte sich überall dort nahe, wo sich Widerstand gegen die naturalistische Reduktion des christlichen Glaubens formierte und der historische Charakter der biblischen Botschaft nicht als ihr Nachteil, sondern im Gegenteil als ihr Vorzug angesehen werden sollte. In diesem Sinn haben vor allem Flatts theologischer Lehrer Storr, aber auch schon zuvor andere theologische Hermeneutiker, wie z. B. Ernesti und Morus, die philosophische Interpretation der Heiligen Schrift hintangestellt und den sensus historicus der Offenbarungsschriften betont. Flatts Anteil an diesen Diskussionen bestand nun allerdings darin, dass er sich stärker auf den wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Aspekt konzentrierte, als das bei Storr oder auch bei dem JacobiAdepten Wizenmann der Fall sein konnte. Er schloss sich daher auch enger an die zweite philosophische Streitschrift Jacobis an, das Büchlein David Hume über den Glauben (1787). Um die Hände frei zu bekommen für eine offene und verschärfte Kritik der Kantischen Philosophie, hatte sich Jacobi hier nunmehr den britischen Empiristen Hume als philosophischen Destrukteur metaphysischer Ansprüche erwählt. An die Stelle der kritischen Unterminierung der Gottesbeweise war nun die empiristische Destruktion des Begriffs der Kausalität getreten und damit eine Vereitelung epistemologischer Ansprüche, die weit über das Thema der
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
Theologie im engeren Sinn hinausreichten. Flatt behandelte das Thema in seinen betont bescheiden betitelten Fragmentarischen Beyträgen zur Bestimmung und Deduktion des Begriffs und Grundsatzes der Caussalität ... (1788) weitaus systematischer und sachkundiger, allerdings auch langatmiger, als Jacobi. Seine scharfsinnigen Untersuchungen stellten zudem Anforderungen an seine Leser, denen diese zunächst kaum gewachsen waren. Dennoch fand das Buch Beachtung, wurde von den Gegnern der Kritischen Philosophie in Göttingen (Meiners) und Halle (Eberhard) lobend rezensiert. Anfang 1789 wurde es auch von Reinhold in der Jenaer ALZ – natürlich kritisch – besprochen. Die Kontroverse, die sich aus dieser Besprechung ergab, erregte immerhin soviel Aufmerksamkeit, dass der junge, über Reinhold hinausdrängende Fichte (s. Kap. 12) im Jahr 1793 noch versuchte, sich des Wohlwollens des Tübinger Philosophen zu versichern, obwohl Reinhold schon mit gewissem Erfolg Flatt als notorischen Antikantianer gebrandmarkt hatte. H. hat nach Ausweis seines Lebenslaufs im Magisterprogramm vom Herbst 1790 bei Flatt dessen Kolleg über Ciceros Schrift De Natura Deorum und die Vorlesung über Empirische Psychologie gehört. In der erstgenannten wird es, zieht man Flatts Schriften aus dieser Zeit zu Rate, wahrscheinlich um einen Aufriss der Natürlichen Theologie der Antike gegangen sein. H.s Kenntnisse bezüglich der Vorsokratiker und der stoischen Kosmo-Theologie werden sich auch aus dieser Vorlesung Flatts (jetzt publiziert in Flatt 2018, 123– 312) gespeist haben. In seiner Psychologie-Vorlesung hat Flatt drei »Wirkungen« der Seele unterschieden und nacheinander behandelt: 1. Erkenntnisvermögen, 2. Empfindungsvermögen, und 3. Begehrungsvermögen. Die Dreiteilung der Seelenvermögen (Erkenntnis-, Empfindungs-, Begehrungsvermögen) entspricht, worauf Flatt ausdrücklich aufmerksam macht, ebenso wenig der in Kants Kritik der reinen Vernunft vorausgesetzten wie die Unterteilung des Erkenntnisvermögens in »Sinnlichkeit«, »Einbildungskraft« und »Verstand«, die er sodann vornimmt. Bei Kant hat weder das Empfindungsvermögen ein eigenes Regiment im Zusammenhang der Seelenvermögen, noch die Einbildungskraft eine eigene Stelle im Rahmen des Erkenntnisvermögens. H. übernimmt die flattsche Dreiteilung des Erkenntnisvermögens schon in seinem Magisterspecimen Geschichte der schönen Künste (MA 2, 13). Aber auch an jener anticartesianischen Tradition, die auf dem epistemischen Unterschied zwischen Erkennen und Empfinden besteht, hat H. später durchgehend angeknüpft. Schon im Magisterspeci-
men über die Parallele zwischen Salomo und Hesiod erläutert er die Begriffe des Schönen und Erhabenen als ästhetische Wirkungen auf das Empfindungs-, respective das Begehrungsvermögen (MA 2, 35). Diese Erklärung knüpft an Kants frühe Ästhetik an, wo das Schöne als eine Wirkung auf das theoretische, das Erhabene als eine Wirkung auf das praktische Vermögen analysiert wird; sie lässt aber charakteristischerweise den Part des theoretischen Vermögens allein vom Empfindungsvermögen ausgefüllt sein (s. Kap. 12). Dass mit der Einsetzung der empirischen Psychologie als philosophischer Einleitungswissenschaft schon gewisse Entscheidungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Vernunft und Erfahrung gefallen sind, wird dem einen oder anderen der Verfechter dieser Methodologie klar – und lieb – gewesen sein. Auch Flatt hat im Anschluss an sein Kolleg über empirische Psychologie Metaphysik gelesen. H.s Kommilitone Klüpfel hat diese Vorlesungen Flatts nachgeschrieben und seine Nachschriften sind erhalten und publiziert (Flatt 2018). Sie zeigen, dass Flatt sich in diesen Vorlesungen sehr eingehend mit Kant auseinandergesetzt hat. Als Lehrbuch legt er sich das (lateinische) Kompendium der Logik und Metaphysik zugrunde, das der Jenaer Philosophieprofessor J. A. H. Ulrich gerade (1785) veröffentlicht hatte (Institutiones Logicae et Metaphysicae). Es war eines der ersten Kompendien, das sich ausführlich und in positivem, wenn auch nicht unkritischem Sinn mit Kants Kritik der reinen Vernunft auseinandersetzte. In der zweiten Auflage (1792) fügte Ulrich sogar noch einen Untertitel hinzu, der besagte, das Lehrbuch sei »durchgängig nach Art der Kantischen Philosophie gehalten« (perpetua Kantianae disciplinae ratione habita). Aber schon zu diesem Zeitpunkt hatte Reinhold, der in Jena als Kants Statthalter Einzug gehalten hatte, den vorsichtig Kant gefolgten Ulrich vergrätzt und zu einem erbitterten Gegner des aufkommenden Kantianismus umgewandelt. Eine ähnliche Wirkung hat Reinhold auch auf Flatt gehabt. Flatts Metaphysik-Vorlesung war obligatorisch. H. hat sie bestimmt gehört. Wenn er auf dem Gebiet der Metaphysik nur annähernd soviel Zutrauen zu Flatts begrifflichen Fähigkeiten gehabt hat wie auf dem Gebiet der empirischen Psychologie, dann wird man annehmen dürfen, dass H. von hier aus auch die Kritisierbarkeit der Kantischen Philosophie erfahren hat. Selbst unter dezidierten Kantianern wie dem Repetenten Diez waren Flatts Einwände gegen bestimmte Teile der Kantischen Theorie akzeptiert (vgl. Franz 1999, 36 Anm. 10). H. hat auch nach dem Magisterium im
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Theologiestudium intensiv die Vorlesungen des mittlerweile in die Theologie aufgestiegenen Flatt besucht (vgl. MA 2, 489: Brief an die Schwester vom 19./20. Juni 1792). Es besteht kein Grund, die persönliche Feindschaft, die der junge Schelling gegen Flatt hegte, auch H. zu unterstellen. Wie sich auch an dem Predigtentwurf von 1791 zeigen lässt, hatte H. ein mindestens »entspanntes« Verhältnis zu den Grundannahmen des Supranaturalismus, wie ihn Storr und Flatt vertraten. Die oft zitierten Invektiven Schellings über die »Tübingische Vernunft« (im Briefwechsel mit Hegel, s. Kap. 5) sind spezielle Schellingiana und vermutlich nicht einmal auf Flatt gemünzt, sondern auf kleinere Geister der Tübinger Szene. 2) Zur Magisterprüfung hatten die Kandidaten ›Specimina‹ (»Muster«) ihres bisherigen Studiums vorzulegen, d. h. Hausarbeiten, die sie während des Studiums ausgearbeitet hatten, die aber bisweilen auch unmittelbar vor dem Examen geschrieben worden sein konnten. H.s erstes Specimen, die Geschichte der schönen Künste ist wahrscheinlich schon einige Zeit vor der herbstlichen Prüfung 1790 abgefasst worden, während das zweite in Zeitnot (vgl. den Schlusssatz des Texts MA 2, 39, Z. 19) gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn der Prüfung eingereicht werden konnte. Für das erste der beiden Specimina ist die Lektüre von Winckelmanns epochalem Werk über die Geschichte der Kunst des Alterthums (Dresden 1764) der entscheidende Anstoß gewesen. Es ist schon eine beachtliche Leistung, dieses Buch auf 40 Seiten zusammenzufassen, aber H. hat, speziell bei der Behandlung der Dichter, auch andere Quellen (etwa den in ganz Europa hochgeschätzten Sulzer) benutzt und eingearbeitet. Und dennoch zeigt sich an einigen wenigen Stellen, dass H. über eigene Urteilskraft verfügt, etwa wenn er von Winckelmann stets ad hoc und separat angewendete Kategorien in ein Verhältnis setzt und so gewissermaßen die Kohärenz und Rationalität seiner Quelle supplementiert. Das geschieht exemplarisch an der These, dass die griechische Plastik einen »systematischidealischen« »Geist« entwickelt habe. Der Aufsatz beginnt mit dem konventionellen Topos vom Nutzen der schönen Künste für Kultur und Gesellschaft, der in dieser Zeit gern auch bei akademischen Festreden ausgebreitet wurde (entsprechende Reden sind erhalten z. B. von Abel, Bardili und Conz). Es folgt eine knappe Einordnung der griechischen Kunst in den zivilisatorischen Prozess der antiken Welt. Nach dem seit Winckelmann klassischen Schema war die griechische Kunst als Zähmung und Mäßigung
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der älteren, in Großartigkeit und Groteske ausschweifenden Kultur des Orients zu verstehen: griechische »Phantasie [...] macht das schauerlicherhabne Religionssystem der Aegypter menschlicher« (MA 2, 12). Die »Seelenkräfte«, mittels derer diese Leistung (ihrem Protagonisten Homer) gelingt, zählt H. auf: »Empfänglichkeit für das Schöne und Erhabne«, »Phantasie« und »Scharfsinn«. Dieser letztere Sinn ist wohl das, was sonst »Verstand« genannt wird, und die »Empfänglichkeit« für Schönes und Erhabenes muss qua »Empfänglichkeit« ein sinnliches Vermögen sein, insofern sie sich auf die ästhetischen Gegenstände (Schönes und Erhabenes) bezieht, dürfte sie wohl rechtens auch »ästhetischer Sinn« genannt werden. Hier wird die empirische Psychologie der Empfindsamkeit, die H. ja aus Flatts Vorlesung kannte, in den Dienst genommen, um den eher intuitiven Ansatz Winckelmanns plausibel zu machen. Dabei scheut H., wenn er (mit der neueren ästhetischen Theorie von Burke, Mendelssohn und Kant) ausdrücklich »Schönes« und »Erhabenes« voneinander unterscheidet, auch nicht vor einer stillen Korrektur Winckelmanns zurück, für den Schönheit letztlich auf nichts anderes hinausläuft als Erhabenheit (»Durch die Einheit und Einfalt wird alle Schönheit erhaben« 1870, 106). Die Aktualisierung Winckelmanns, die H. unter der Hand vornimmt, lässt sich am besten an einem der Höhepunkte des Aufsatzes zeigen, nämlich der Zusammenfassung des »Geistes« der griechischen Plastik. Dieser »Geist« sei »systematischidealisch« geworden, nachdem er zuerst nur »idealisch« gewesen sei. Durch die Systematisierung des Idealischen erhält dieses einen jeweiligen Ort bzw. ein Maß, indem es in das Verhältnis zum Ganzen gesetzt wird. Auf diese Weise entsteht ein Ausgleich zwischen dem Überindividuellen des Ideals und der Individuierungskraft des systematischen Zusammenhangs. Dieses Bezogensein des Individuellen auf das Ganze und umgekehrt macht dann das »Charakteristische« aus, wie H. mit einem Begriff der ihm aktuellen, d. h. aber schon postwinckelmannianischen Diskussion sagt (s. Kap. 24). Das zweite Specimen H.s, der Versuch einer Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen, zeigt den gleichen systematisierenden Zugriff wie das erste. Auch hier taucht plötzlich der Systemgedanke in den Darlegungen H.s auf und es folgen beachtenswerte Sätze zur philosophischen Situation in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s, die von einigem Kontakt mit den philosophiehistorischen Kategorien seines Jahrhunderts zeugen. Eine gewisse Brisanz lag damals freilich noch darin, dass hier ein
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Teil der Heiligen Schrift mit einem »heidnischen« Dichter verglichen werden sollte. Das implizierte natürlich, dass die Heilige Schrift denselben Vergleichsund Beurteilungskriterien unterworfen werden durfte, die man in der literaturwissenschaftlichen Behandlung von Texten anzuwenden gewohnt war. Die »historische Kritik«, die an »profaner« Literatur sich bewährt hatte, sollte auch für die Bibel gelten dürfen: gegen Ende des 18. Jh.s hatte sich eine solche Denkweise auch unter protestantischen Theologen durchgesetzt. Das Thema des Vergleichs biblischer mit heidnischen Schriften dürfte im Übrigen auch zur Sprache gekommen sein in der Vorlesung des Repetenten Bardili, die H. (s. Magisterprogramm 1790) ja besucht hatte. Im Übrigen galt auch in Tübingen Herder (s. Kap. 11) als Maßstab für den geschmackvollen und der christlichen Religion nicht abträglichen religionsphilosophischen Vergleich biblischer mit anderen antiken Texten (z. B. in seiner Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts 1774/76). Dabei ist das Thema zugleich eingebettet in den H. schon von Winckelmann her vertrauten Vergleich zwischen der griechischen Kultur und der orientalischen Welt überhaupt. Schon der antiken Kulturgeschichte seit und nach Platon war freilich die Tatsache bedeutsam geworden, dass die orientalischen Kulturen älter und also früher fortgeschritten waren als die Griechen selbst. So hatte sich schon bei Plutarch und erst recht dann in den weisheitsgeschichtlichen Konstruktionen des Neuplatonismus die Auffassung festgesetzt, dass die griechische Kultur, von den Mysterien bis zur Philosophie, ein Abkömmling der orientalischen sei. Für H. ist diese Auffassung bis in seine spätesten Reflexionen darüber in den Sophokles-Anmerkungen (s. Kap. 25) gültig geblieben. Es fällt aber auf, dass H.s Interesse auf eine »Parallele«, d. h. auf die Hervorhebung des Gleichen, Ähnlichen und Analogen bei beiden Schriftstellern geht. Diese Tendenz erklärt sich vielleicht als ein Versuch, den Geltungsvorsprung des »heiligen« Schriftstellers (Salomon) vor dem »profanen« (Hesiod) zu kompensieren. Jedenfalls betrachtet er beide Autoren als Beispiele für das, was er »ungebildete Philosophie« nennt (MA 2, 28): die Themen der beiden Schriften betreffen die »Sittenlehre« und beider »Sittenlehre ist sinnlich, populär, unmethodisch« (MA 2, 36). Hier zeigt sich die fehlende »Bildung«, ihr Kennzeichen ist die Beschränkung auf die sinnliche Erkenntnis: (»Kein System, keine Terminologie, keine Prinzipien, keine Distinktionen« MA 2, 38), sie ist also noch keine Philosophie im eigentlichen Sinn.
An diesem Punkt holt H. aus zu einer Reflexion über das Wesen der Philosophie, die Einblick gewährt in seine Grundüberzeugung ebenso wie in seine frühe philosophische Bildung: Philosophie ist einerseits nur als systematische Unternehmung sinnvoll und »wir« können »stolz« sein auf »unsere Systeme«. Denn das »Wesen« eines jeden Systems ist der »logische Zusammenhang«, ohne den kein »Studium« der Philosophie möglich ist. Andererseits besteht die Gefahr, über dem »logischen Zusammenhang« die »Realität« aus den Augen zu verlieren. Eben dies, so exemplifiziert H., sei des »großen dogmatischen Philosophen Wolfs Fall« gewesen. Christian Wolff habe nämlich »die Möglichkeit der Würklichkeit untergeschoben« (MA 2, 38). H. verrät mit dieser Kennzeichnung eine genaue Kenntnis der Grundlagen des wolffschen Systems. Tatsächlich war der entscheidende Punkt, an dem Wolff sich von der traditionell-aristotelischen ebenso wie von der leibnizschen Ontologie trennte und eigene Wege ging, seine Definition des ens: nach Wolff bedeutet »ens« nicht mehr und nicht weniger als »possibile«, der Begriff des Seienden sei der Begriff eines überhaupt Möglichen. Diese wolffsche Auffassung war natürlich Gegenstand heftiger Kritik geworden, – der sich H. hier anschließt. Er belässt es aber nicht bei einem wohlinformierten Hinweis auf Wolff, sondern fügt noch eine Erklärung zum Gang der Philosophiegeschichte an, die wiederum zeigt, dass er die Diskussionen unter den Philosophiehistorikern des 18. Jh.s um die Entstehung von Sekten (Schulen) innerhalb der Philosophie kennt. Zugleich wird aber auch deutlich, dass H. nicht nur die interne Kohäsionskraft des Systemgedankens zu schätzen weiß, sondern auch seine Exklusionstendenz nach außen bemerkt hat. Beides unterstreicht die Faszination, die der Systemgedanke schon früh auf H. ausgeübt hat. 3) Die mündliche Prüfung wurde beim Magisterium in allen fünf (bzw. sechs) Fächern, die in der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen gelehrt wurden, abgelegt, also in Metaphysik, Moralphilosophie, Geschichte, Philologische Kritik und Mathematik (incl. Physik). Die Prüfungsaufgaben bestanden jeweils aus Thesen, die der zuständige Professor ausgearbeitet hatte und die die Kandidaten abwechselnd disputieren mussten, indem sie (als Opponenten) Einwände vorbrachten oder (als Respondenten) diese zu entkräften versuchten. Diese sogenannten »Inauguralthesen« sind noch erhalten und geben einen Überblick über das Allgemeinwissen, das ein Tübinger Magister verfügbar haben musste (jetzt publiziert in Franz
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2005). Die Thesen Ploucquets zur Metaphysik sind (möglicherweise noch von ihm selbst) kurz vor der Prüfung, die im August stattfand, zusammengestellt worden. Im September starb Ploucquet nach langem Leiden. Ploucquets Lehrbuch enthielt drei Teile, eine Logik, die »Prinzipien der Schlüsse« und »Prinzipien der Methode« unter sich begreift, zweitens die Ontologie, die als »Darlegung der Begriffe und Prinzipien in den grundlegenden Wissenschaften« definiert wird und als Zwischenglied und Übergang zum dritten Teil, der Metaphysik, dient. Die Letztere enthält die Anwendung der Begriffe, Methoden und Distinktionen, die in der Logik und Ontologie aufgestellt worden sind, auf die klassischen drei Themen der Metaphysik: Gott, Welt, Mensch (vgl. den lateinischen Untertitel der vorhergegangenen Auflage des Werks: ... sive de Arte Cogitandi [= Logik], Notionibus Rerum Fundamentalibus [= Ontologie], DEO, UNIVERSO et speciatim DE HOMINE [= Metaphysik]). Berühmt war Ploucquet wegen seiner Logik, die eine ausführliche Darstellung seines logischen Kalküls enthält. Die Studenten haben diesen Kalkül bis zum Tode Ploucquets lernen müssen, aber auch der junge Schelling, der erst nach dem Tod Ploucquets anfing zu studieren, hat sich mit dem berühmten Kalkül, auf den ganz Württemberg stolz war, ausführlich beschäftigt (vgl. Plitt 1869, 28). Die Thesen des Todesjahrs 1790 stammen allesamt aus der Ontologia, also der Lehre vom Sein, die freilich mit Christian Wolff als Lehre von den grundlegenden Begriffen der Wissenschaft verstanden wird. Ploucquets wichtigste These impliziert – und ist nur von daher zu verteidigen –, dass die Intelligibilität einer Sache als »Ens« dasjenige ist, was notwendig sich gleichbleiben und deshalb ihr Wesen ausmachen muss. Dieses Verständnis von »Ens« kann man gewiss »subjektivistisch« oder vielleicht auch »transzendental« nennen. Kennzeichnend dafür ist z. B. eine These wie XII: Simplex est Ens, in quo multitudo non concipitur: »Ein Einfaches ist ein Seiendes, in dem eine Vielheit nicht (ein)begriffen werden kann«. Die Eigenschaft des »Einfachen« kommt also den Sachen insofern zu, als wir sie ihrer Verständlichkeit für uns entnehmen können. Diese philosophische Position ist ein intellektualer Idealismus, der durch die Formel gekennzeichnet werden könnte: »Esse = Intelligi«. Die 1790er Thesen beschäftigen sich weiterhin mit einigen Begriffen, die aus der aristotelischen Kategorienlehre bekannt sind (Quantität, Qualität, Handeln und Leiden), mit den Begriffen des Endlichen und Unendlichen und den damit zusammenhängenden Vorstellungen von Maximum und Minimum, schließlich mit den Begriffen des Grades,
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von Proportion, Maß und Kommensurabilität, alles auf äußerst verkürzte und verknappte Weise, so dass für die Disputanten genügend Raum blieb, die im Lehrbuch vorkommenden dazugehörigen Erläuterungen oder Exemplifizierungen in die Diskussion einzuführen. Nähere Untersuchungen zum Inhalt der Thesen liegen vor in Franz 2005. Was August Friedrich Bök, der die Schriften seines Lehrers Ploucquet zum logischen Kalkül noch einmal gesammelt veröffentlicht hatte, in der Moralphilosophie zu bieten hatte, war nicht besonders originell oder tiefschürfend. Der Ephorus Schnurrer hat in seinen Philologischkritischen Thesen solide philologische Arbeit anzubieten. Der Stoff kommt wohl aus Vorlesungen, die er zu jener Zeit hielt, so dass die Studenten wiederum gut vorbereitet sein konnten. Im Jahr 1790 hat Schnurrer im Hebräischen Thesen aufgestellt zu textkritischen und sprachlichen Problemen der Psalmen (Ps. 22; 24; 25; 27), für das Fach ›Griechisch‹ solche zur Apostelgeschichte (bes. Kap. 8–10). Nur zwei Thesen von insgesamt 27 beschäftigen sich mit einem historisch-kritisch brisanten Thema. Die erste These besagt, Ps. 22 (jener berühmte Psalm, dessen Eingangsworte »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Jesus am Kreuz zitiert) handele vom Messias, d. h. jene Gestalt, die dort als »ein Spott der Leute und verachtet vom Volke« (V. 7b) geschildert sei, sei der »Messias«. Damit ist nun gerade nicht gesagt, was die konservativorthodoxe Exegese besagte, nämlich, dass Ps. 22 eine Prophezeiung des Todes Christi sei, bzw. dass Ps. 22 von Jesus Christus handele. Indem unterschieden wird zwischen dem alttestamentlichen Messias und dem neutestamentlichen Christus, braucht die rational nicht legitimierbare Vorstellung von einer ChristusWeissagung des Alten Testaments nicht vertreten zu werden. Damit ist eines der zentralen Probleme der biblischen Hermeneutik des 18. Jh.s gelöst, bzw. erfolgreich umgangen. Im neutestamentlichen Teil der Thesen wird eine analoge Strategie verfolgt. Offenbar will Schnurrer auch hier indirekt nahelegen, dass die christliche Predigt die Anknüpfung an der jüdischen Messiasvorstellung nicht braucht. Damit kann der Weg frei werden zu einer Untersuchung der alttestamentlichen Gegenstände und Vorstellungen, die nicht von der neutestamentlichen Einrede regiert wird. Schnurrer gehörte zu jenen Professoren für orientalische Sprachen, die sich für eine solche Emanzipation der alttestamentlichen Studien eingesetzt haben. Die historischen Thesen des Professors Rößler betrafen die Geschichte des 11. Jahrhunderts. Dieses Thema war für die Studenten absehbar gewesen, denn in
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den gerade vergangenen Jahren hatte Rößler nacheinander Thesen zur Geschichte des 8., des 9. und des 10. Jh.s vorgelegt. Also war 1790 das 11. Jh. »an der Reihe«. Rößler hatte seit 1788 mehrfach in Dissertationen den Zustand der Quellenforschung zur mittelalterlichen Geschichte beklagt und Vorschläge zur Verbesserung der Lage gemacht (vgl. Fleischer in Franz 2005, 186–245). Entsprechend großen Wert legt er auch darauf, den historischen Stoff anhand der Diskussion der Quellen darzulegen. Die Zugänglichkeit dieser Quellen auch für die Tübinger Studenten des Jahrs 1790 erklärt auch die sonst meist rätselhafte Kenntnis mittelalterlicher Geschichte in H.s Späten Gesängen (vgl. Franz 1974 und 1987). Die mathematisch-physikalischen Thesen des Professors C. F. Pfleiderer spiegeln dessen vorwiegendes Interesse an der Geometrie Euklids wider. Pfleiderer war einer der besten Kenner dieses Elementarwerks griechischer Mathematik im 18. Jh. Es ist anzunehmen, dass er den Stoff, den er in den Inauguralthesen disputieren ließ, zuvor auch in seiner Vorlesung vorgetragen hatte, denn es handelt sich um sehr detaillierte Betrachtungen zu nur drei Lehrsätzen Euklids aus dem dritten Buch der Elemente (III, 24.25.26). Die extensive Art und Weise, in der die Sekundär-Literatur auch in den Inauguralthesen zitiert und diskutiert wird, lässt darauf schließen, dass Pfleiderer davon ausgehen konnte, dass die Kommentare auch von den Studenten gelesen wurden. Auf diese Weise lässt sich z. B. wahrscheinlich machen, dass H. den Kommentar des Proklus zu den Elementen des Euklid gekannt hat. Dieser »Kommentar« enthält aber im ersten Buch eine ausführliche Darlegung der platonischen Prinzipienlehre in ihrer Anwendung auf die Mathematik, die für die H.sche Begriffsbildung wichtig geworden ist (vgl. Franz 1997). 4) Die eigentliche Hauptleistung des Magisteriums sollte die Magister-Dissertation sein. In Tübingen wurden Dissertationen jedoch nur in Ausnahmefällen von den Kandidaten selbst geschrieben, sondern von den jeweiligen Professoren, ja, nicht einmal alle Magisterkandidaten verteidigten eine Dissertation eines Professors. In H.s Jahrgang (»Promotion«) verteidigten nur die ersten 10 (von insgesamt 27) eine Dissertation und nicht einmal der »Primus« Renz hat die seine selbst verfasst (wie zwei Jahre später Schelling). H. hat, gemeinsam mit Hegel und weiteren zwei Kandidaten, eine Dissertation von August Friedrich Bök verteidigt, die den Titel trug: De Limite Officiorum Humanorum Seposita Animorum Immortalitate (»Von der Grenze
der menschlichen Pflichten ohne Annahme der Unsterblichkeit der Seele«). Es geht darin um die Frage, ob eine Moral möglich ist ohne die Annahme eines »zukünftigen Lebens«, in dem das Moralisch-gewesen-sein belohnt wird. Bök findet für die Antwort einen Kompromiss in der Annahme, dass zwar eine Moral möglich ist ohne den Glauben an ein »zukünftiges Leben«, dass aber eine solche Moral so reduziert und restringiert ist, dass sie kaum den Namen verdient. Das ist nun eine Auffassung, wie sie typisch ist für die Kompromiss-Aufklärung der Mitte des 18. Jh.s. Dass diese wenig originelle und dazu noch die neue, durch Kant geschaffene Ausgangslage bezüglich der Begründung einer Moralphilosophie gänzlich ignorierende Abhandlung von Studenten wie Hegel, H. u. a., die Kant gegenüber zumindest aufgeschlossen waren, verteidigt werden musste, lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass im Jahr 1790 außer der bökschen Dissertation eben nur eine alttestamentlich-philologische von Schnurrer oder eine mathematische von Pfleiderer zur Alternative gestanden hätten. Theologiestudium Die theologische Fakultät Tübingens umfasste im Jahr 1790 die drei Ordinarien J. F. Le Bret, G. C. Storr und L. J. Uhland. Le Bret war als Kanzler der Universität, Mitglied des Stuttgarter Konsistoriums und Berater des Herzogs Karl die politisch gewichtigste Persönlichkeit, während Storr eindeutig der von allen anerkannte theologische spiritus rector war. Ganz sicher hat H. bei beiden deren Hauptvorlesungen gehört, die ja obligatorisch waren. Le Bret bot Kirchengeschichte, Dogmatik und Polemik (= Kontroverstheologie) an, Storr Dogmatik und einen Cursus exegetischer Vorlesungen zum Neuen Testament, sowie Hermeneutik des N. T. Schließlich lehrte auch Flatt seit dem SS 1792 in der theologischen Fakultät, meist über Moraltheologie, gelegentlich aber auch über theoretische Theologie (= Dogmatik) und Homiletik (= Predigtlehre). H. hat wohl vor allem Storr und Flatt gehört, daneben aber auch einiges bei Le Bret. Letzteres allein schon deshalb, weil er mit Le Brets Tochter Elise seit Sommer 1790 befreundet war (s. Kap. 4) und von dem Kanzler sichtlich gefördert wurde. Der junge Schelling hat im Winter 1792/93 eine Polemik-Vorlesung Le Brets, mit dem er im Übrigen auf keinem guten Fuß stand, mitgeschrieben und diese Nachschrift ist erhalten (publiziert in der Hist.krit. Schelling-Ausgabe Bd. II, 4) und eine gute Quelle für die Rekonstruktion der theologischen Diskussion
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gegen Ende von H.s Studium. Das Beachtlichste an Le Brets Vorlesung ist, dass er auf das eben erschienene Erstlingswerk Fichtes, den Versuch einer Kritik aller Offenbarung, wohlwollend eingeht (vgl. im Übrigen Franz 1996, 117–122). Le Bret scheint sich zwar in den wichtigen Punkten der Lehrautorität seines Kollegen Storr angeschlossen zu haben, legte aber sichtlichen Wert darauf, für »liberal« gehalten zu werden. H. und Hegel haben zum Abschluss ihres Theologiestudiums über eine Abhandlung disputiert, die Le Bret geschrieben hatte und die ins historische Gebiet fiel, auf dem Le Bret sich im Übrigen wohl am sichersten bewegen konnte. Der theologische Kopf der theologischen Fakultät war Storr und nach ihm hat auch die theologische Richtung des Supranaturalismus, die in Tübingen für zwei oder drei Generationen führend war, ihren Namen »Storr’sche Schule« erhalten. Storrs theologische Position muss als der Versuch beschrieben werden, eine Alternative anzubieten zur Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie (die von seinem Vorgänger Sartorius zementiert worden war) und dennoch keine Kompromisse einzugehen mit dem naturalistischen Deismus. Die von ihm ausgearbeitete Theolo gie sollte in erster Linie eine biblische (d. h. aus dem biblischen Fundus heraus argumentierende) Theolo gie sein, im Gegensatz zur Theologie der Orthodoxie, für die die Bibel nur als Belegstellenreservoir fungierte. Entsprechend musste der »seligmachende Glaube« ein »Geschichtsglaube« sein (Gottlob Christian Storr’s Bemerkungen über Kant’s philosophische Religionslehre. Aus dem Lateinischen. Nebst einigen Bemerkungen des Uebersezers über den aus Principien der praktischen Vernunft hergeleiteten Ueberzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung in Beziehung auf Fichte’s Versuch einer Critik aller Offenbarung. Tübingen 1794, 13). Die Geschichte allerdings durfte nicht naturalistisch reduziert werden auf das, was mit naturalen Mitteln bewirkt und mit naturalen Mitteln verstanden werden kann. Es musste Platz sein in der Geschichte für »Wunder«. Denn Storr hielt, bei aller Nähe zum Rationalismus seiner Zeit, »Wunder« für theologisch unaufgebbar. Das ist der Kern seines »Supranaturalismus« gewesen. Diese Auffassung hat der Student H. geteilt, wenn man nach den Hauptaussagen des einzigen von ihm erhaltenen Predigtentwurfs gehen darf (vgl. MA 2, 43–45). Er hat sie aber auch später Panthea am Schluss des Zweiten Entwurfs zum Empedokles in den Mund gelegt: »Denn einmal bedurften/ Wir Blinden des Wunders« (MA 1, 863).
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Die theologische Dissertation, die H. und Hegel, zusammen mit 7 anderen Kommilitonen, zum Abschluss ihres Theologiestudiums verteidigten, trug den Titel: De Ecclesiae Wirtembergicae Renascentis Calamitatibus (»Von den Schwierigkeiten der wiederentstehenden württembergischen Kirche«, vgl. Brecht in Franz 2007, 109–122). Es handelt sich um eine solide, ins Detail gehende und Partei ergreifende Darstellung der württembergischen Reformationsgeschichte bis zum Tod des Herzogs Ulrich (1540). Diesem gilt auffälliger Weise die Sympathie des Autors, fast mehr noch als seinem allgemein zu Recht höher geschätzten und beliebteren Sohn Christoph. Bemerkenswert ist in der Hauptsache die Tendenz zur Einordnung der Reformation in eine Geschichte der ›Renaissance‹, die sich in der Vermeidung des Begriffs der »Reformation«, bzw. ihrer konsequenten Ersetzung durch den Begriff der »ecclesia renascens« (s. Titel) ausdrückt. Vielleicht hängt mit dieser – wohl anti-konfessionalistisch zu verstehenden – Tendenz auch die Bestrebung zusammen, die konfessionellen Unterschiede in den dogmatischen Angelegenheiten eher herunterzuspielen, was sich beispielsweise in der Darstellung ausdrückt, Luther und die anderen Reformatoren seien, verglichen mit ihren katholischen Widersachern, einfach die »liberaleren Theologen« gewesen (Le Bret in Franz 2007, 308, bzw. 367). Solche Auffassungen passen zu dem Berater eines Herzogs, der als Katholik in einem protestantischen Land regierte und sich deshalb zunehmend das Air des in Religionsdingen über den Parteien stehenden, toleranten und aufgeklärten Monarchen gab. Literatur
Betzendörfer, Walter: H.s Studienjahre im Tübinger Stift, Heilbronn 1922. Flatt, Johann Friedrich: Philosophische Vorlesungen 1790. Nachschriften von August Friedrich Klüpfel. Hg., eingel. u. komm. v. Michael Franz und Ernst-Otto Onnasch, Stuttgart-Bad Cannstatt 2018. Franz, Michael: »Vaterländische Helden« im Spätwerk H.s, in: HJb 18 (1973/74), 133–148. Franz, Michael: Drei Miszellen, in: HJb 25 (1987), 255– 262. Franz, Michael: Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996. Franz, Michael: H.s Platonismus. Das Weltbild der ›exzentrischen Bahn‹ in den Hyperion-Vorreden, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22 (1997), 167–187. Franz, Michael: Dieter Henrichs Edition der Papiere von I. C. Diez (1766–1796), in: Philosophische Rundschau 46 (1999), H. 1, 33–42. Franz, Michael (Hg.): »... im Reiche des Wissens cavalieremente«? H.s, Hegels und Schellings Philosophiestudium
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an der Universität Tübingen (Schriften der HölderlinGesellschaft, Bd. 23/2), Tübingen 2005. Franz, Michael (Hg.): »... an der Galeere der Theologie«? H.s, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Bd. 23/3), Tübingen 2007. Hirzel: Artikel »Landexamen«, in: Encyclopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, bearbeitet von einer Anzahl Schulmänner und Gelehrten, hg. unter Mitwirkung von Prof. Dr. v. Palmer und Prof. Dr. Wildermuth in Tübingen v. Dr. K. A. Schmid, Rector des Gymnasiums in Stuttgart. IV. Bd., Gotha 1865, 117–129. Jacobs, Wilhelm G.: Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen, Stuttgart 1989. Nicolin, Friedhelm (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bd. IV.1, Dokumente und Materialien zur Biographie, Hamburg 1977. Plitt, Gustav Leonhard: Aus Schellings Leben. In Briefen. Erster Band: 1775–1803, Leipzig 1869.
Schäfer, Volker: Vom »Fakelnschimmer ... auf des Theuren Sarg« bis zu »Seiner Heiligkeit Herrn Teuffel«. Überlieferungssplitter zu F. H., in: HJb 26 (1988/89), 401–425. Sindlinger, Peter: »Einen Genius hast du der Welt erzogen«. Schelling und die Nürtinger Lateinschule, in: Beilage zum Geschäftsbericht 1996 der Volksbank Nürtingen eG, Nürtingen 1996. Stäbler, Walter: Nürtingen als Zentrum des von Bengel und Oetinger geprägten württembergischen Pietismus. Philipp Matthäus Hahn und die Lateinschule Nürtingen, in: Beiträge zur Geschichte des württembergischen Pietismus. FS für Gerhard Schäfer [...] und Martin Brecht [...], hg. v. Hermann Ehmer und Udo Sträter, Göttingen 1998, 216–251. Stahlecker, Reinhold: Allgemeine Geschichte des Lateinschulwesens und Geschichte der Lateinschulen ob der Steig, in: Geschichte des humanistischen Schulwesens in Württemberg, hg. v. der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, Bd. III.1, Stuttgart 1927, 1–288.
Michael Franz
11 Rousseau, Schiller, Herder, Heinse
11 Rousseau, Schiller, Herder, Heinse 11.1 Jean-Jacques Rousseau Die Meinungen der H.-Forschung über die Bedeutung Rousseaus für H. und sein Werk variieren von der Ansicht Jacques Mouniers (1980), Rousseau habe nur marginale Bedeutung für H., bis zu Jürgen Links (1999) Versuch, nahezu das ganze Werk und Denken H.s auf die Befassung mit Rousseau zurückzuführen, wobei »Rousseau« gewissermaßen die Speerspitze einer gegen die H.-Deutungen auf der Basis eines »säkularisierten Pietismus« gerichteten »rational-szientifischen« Deutung darstellt. Gegen Mounier spricht die Häufigkeit der Anspielungen auf Rousseau, gegen Link die Häufigkeit der Anspielungen auf andere Zeitgenossen, mit denen H. sich theoretisch oder poetisch befasst hat und die er in z. T. bedeutsame Konstellationen mit Rousseau gebracht hat (ohne deswegen sich einem säkularisierten Pietismus zu verschreiben). Die Spezialforschung zu H. und Rousseau ist neben den Genannten wenig umfangreich: Wais (1959/62), Bö schenstein (1966), de Man (1967/68), Scharfschwerdt (1970, 1971), Raynal-Mony (1975), Link (1986, 1998). Wichtig z. B. für die Interpretation de Mans sind Heideggers Hymnen-Vorlesungen (1980; s. Kap. 39); ausführlich zu Rousseau im vielfädigen Netz intertextueller Bezüge Gaier (1993, 69 f., 116 ff. u. ö.; 2017). Gelesen hat H. nachweislich den Contrat social (Brief an Neuffer, 28.11.1791), Julie ou La Nouvelle Héloïse (Zitat im ›Kallias-Brief‹ wohl 1792; Brief an Ebel, 2.9.1795), Émile ou De l’Éducation (Brief an Ebel, 2.9.1795). Aus Anspielungen in den Dichtungen lässt sich die intensive Befassung mit den Rêveries du promeneur solitaire und wohl auch mit den Confessions erschließen; mindestens der zweite Discours (Über die Ungleichheit) wird H. ebenfalls bekannt gewesen sein. Vor allem Rousseaus Leben, die Ächtung seines Werks, die Verfolgung seiner Person, der Rückzug ins Eremitenleben (Ermitage bei Mme D’Epinay, Petersinsel im Bielersee), Paranoia und Geisteskrankheit, Grab auf der Pappelinsel müssen H. als paradigmatisch für eine bestimmte, in der Moderne vergeblich versuchte Lebensform erschienen sein (sogar sein Bruder verglich H. mit Rousseau, StA 7.1, 54); mehrfach stattete er deshalb Figuren seiner Dichtungen mit Zügen Rousseaus aus – Böschenstein (1966) hat hier zutreffend von »Transfiguration« gesprochen –, zitierte markante Lebenssituationen Rousseaus, nannte den
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Namen oder redete ihn mit einer Ode Rousseau an. Ich gehe nun chronologisch die Reihe von Stellen und Werken durch, in denen der Bezug zu Rousseau markiert ist oder plausibel gemacht werden kann. Manche von Link (1999) angeführte Stellen, an denen Rousseau und H. auf bekannte Topoi zurückgreifen, werte ich nicht als Zitate oder Anspielungen. Auf 1789 datiert, ist die alkäische Ode An die Ruhe (StA 1, 92 f.) eine erste hymnische Auseinandersetzung mit dem Schicksal Rousseaus. Das Thema der Ruhe spielte offenbar, vielleicht nach Stäudlins Gedicht An die Ruhe (Böckmann 1965, 80 f.), im poetischen Wettkampf zwischen Neuffer (s. Kap. 3) und H. eine Rolle. H.s alkäisches Odenmaß betont den kämpferischen Charakter, wie auch Ruhe als Voraussetzung und als Belohnung der heldischen Tat erscheint, weil sie durch Erinnerung und Zukunftsbegeisterung Mut zum Handeln und nach vollbrachter Tat Erquickung verleiht. Nach der Sehnsucht nach Ruhe vom Kampf (Str. 3) ist das Bild des »Verachteten«, von religiöser Verfolgung und Verleumdung Angefeindeten ausführlich gezeichnet: er höhnt seinen Verfolgern, zieht sich zum Schlummer in die Natur zurück (»Veilchenthal«, »dämmernden Hain«), schöpft neuen Mut zur Aufklärung des Labyrinths und zur Bekämpfung des Dünkels. »Auf springt er, wandelt ernster den Bach hinab/ Nach seiner Hütte« zur Vollendung seines in der Seele keimenden »Götterwerks«. Einen Dankaltar baut der »Herrliche« an der Stelle seines belebenden Schlummers und wartet dort auf seinen Tod. Auch Rousseau mit seinem Grab auf der Pappelinsel – »Des Herrlichen, der, von der Pappel/ Säuseln umweht, auf der Insel schlummert.« – ist so ein Verachteter, Herrlicher; er ist zwar von der Figur im Zentrum des Gedichts durch ein vergleichendes »wie« getrennt, aber die Umstände der kirchlichen und sonstigen öffentlichen Verfolgung, des Rückzugs in eine »Hütte«, des Kraftschöpfens zu einem »Götterwerk«, das 1789 sich vollendet, der literarische Dankaltar in den Confessions und den Rêveries für die Ruhe der Eremitagen in der Natur, wo ihm immer wieder Zuflucht gewährt wurde und wo er wichtige Werke konzipierte, das alles erscheint als Phantasie über Rousseaus Leben, so dass die Schlussstrophe nur der historische Beleg für das vom sprechenden Ich entworfene Modell und, auf der Ebene des sprechenden Ich, als die tathafte Einlösung des in der begeisterten »Ruhe« entworfenen Bildes erscheint. Die Darstellung der Alpenwanderung in Kanton Schweiz (1791, StA 1, 143–145) könnte, nach den erwähnten Einzelheiten und Phasen zu urteilen, nicht
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_11
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nur tagebuchartige Beschreibung des Aufstiegs von Einsiedeln zum Haggenpaß sein (V. 21–39), sondern sich bereits an der später noch einmal zitierten Alpenwanderung St. Preux’ aus der Nouvelle Héloïse orientieren: »Ich stieg langsam und zu Fuß ziemlich rauhe Pfade hi nan. [...] Manchmal hingen ungeheure Felsentrümmer über meinem Kopf. Manchmal näßten mich hohe und tosende Wasserfälle mit ihrem dichten Wasserstaub. Manchmal öffnete ein ewiger Wildbach zu meiner Sei te einen Abgrund, dessen Tiefe die Augen nicht zu er messen wagten. [...] Nachdem ich hoch oben in den Wolken gewandert war, erreichte ich einen heiteren Ort, von dem aus man in der Gewitterzeit Donner und Wetter unter sich bilden sieht – zu schmeichelhaftes Bild von der Seele des Weisen, das in der Wirklichkeit nicht vorkommt und nur da vorkommt, von wo man die Allegorie genommen hat.« (Brief I 23, Übers. U. G.)
Dass H.s Darstellung des Aufstiegs zum Blick hinab auf »das heilige Thal [...], die Quelle der Freiheit« (V. 50) ebenfalls allegorisch zu deuten ist, liegt auf der Hand. Aber H.s Verfahren ist nicht einfache Übernahme, sondern steigernde Deutung: St. Preux kämpft sich durch die Verwirrung von Leidenschaft und subjektiver gesellschaftlicher Problematik zur Ruhe und heiteren Weisheit hinauf, während H. den schweren Weg der europäischen Völker, insbesondere des Vaterlands, von der Monarchie zur Demokratie im Blick hatte. Ein halbes Jahr später, im November 1791, meldet H. an Neuffer: »Mit dem Hymnus an die Menschheit bin ich bald zu Ende. Aber er ist eben ein Werk der hellen Intervalle, und diese sind noch lange nicht klarer Himmel! Sonst hab’ ich noch wenig gethan: Vom großen Jean Jacque mich ein wenig über Menschenrechte belehren lassen [...]« (StA 6.1, 70). Link (1999, 31 f.), macht wie Scharfschwerdt (1970, 410 f.) auf die zentrale Stelle aufmerksam, an der das von H. seiner Hymne an die Menschheit (s. Kap. 28) vorangestellte Motto aus Rousseaus Contrat social (Buch III, Kap. 12) steht: »Die Grenzen des Möglichen im Bereich der Sittlichkeit sind weniger eng als wir denken. Was sie einschränkt, sind unsere Schwächen, unsere Laster, unsere Vorurteile. Niedrige Seelen glauben nicht an große Menschen: gemeine Sklaven lächeln bei dem Wort Freiheit mit spöttischer Miene.« (Übers. U. G.) Link macht deutlich, dass die Stelle »auf Rousseaus theoretische Option gegen die parlamentarisch-repräsentative und für die direkte Plenardemokratie« vorbereitet, die das (in Athen und in Rom erprobte) Mit-
tel zur Lebendighaltung eines demokratischen Staatswesens sei. Von der Option zwischen repräsentativer und direkter Demokratie ist in H.s Hymne nichts zu finden; in diesem Sinne handelt es sich bestimmt nicht um ein »strategisches Zitat« (Link 1999, 32), wohl aber um die jetzt zu beobachtende Beseitigung der von Menschen durch Schwächen, Laster, Vorurteile aufgerichteten Schranken im Bereich der Sittlichkeit: Die Strophen 2–4 berichten mit anaphorischem »Schon« von gesteigerter Sensibilität für das Schöne, von der Wandlung der Liebe zum Kampfbund gegen gesellschaftliche Unterdrückung und Schranken, von wachsendem Befreiungswillen, Forderung von Wahrheit und Gerechtigkeit. Strophe 5 prognostiziert den quasi naturgesetzlichen Vollendungsgang dieser Entwicklung, die Strophen 6–11 antizipieren den Zustand, wenn »Den Räubern ist das Vaterland entwunden« (V. 67), wenn aber auch in jeder Hinsicht die Menschheit, d. h. das Wesen des Menschen, in den Menschen wirklich geworden und uneingeschränkt zur Erscheinung gekommen ist. Wieder geht H. weit über Rousseau hinaus; ist dessen Blick an der Stelle auf die Möglichkeit direkter Demokratie, der Verwirklichung der volonté générale in jeder volonté particulière gerichtet, so visiert H. auf die in Rousseaus Argument aufscheinende Idee: die Menschen können sich selbst erlösen, die Menschheit ist sich selbst Gott und ist dabei, sich selbst ein Reich Gottes zu stiften. In der zentralen Strophe 6 antizipiert der Sprecher: »Schon geh’t verherrlichter aus unsern Grüften/ Die Glorie der Endlichkeit hervor;/ Auf Gräbern hier Elysium zu stiften,/ Ringt neue Kraft zu Göttlichem empor.« (V. 45–48) Und direkt blasphemisch, gegen Ps. 19,2 »Die Himmel verkünden die Ehre Gottes«, der Schluss: »Die Himmel kündigen des Staubes Ehre,/ Und zur Vollendung geht die Menschheit ein.« (V. 87 f.) Das Mottozitat ist also wegen des Gedankens gesetzt, die Grenzen des Möglichen seien bei Beseitigung der von Menschen verursachten Schranken erweiterbar und diese Erweiterung realisierbar (»de l’existant au possible la conséquence me paroît bonne.« ebd., III 12). Die seit dem Contrat social (1762) eingetretenen Entwicklungen bis hin zur Französischen Revolution (s. Kap. 2) bestätigen historisch die Prognose Rousseaus (H.s »Schon«-Anapher) vom Menschen als Subjekt seiner Geschichte; in dem Sinne, dass das Begonnene nun naturgesetzlich alle Menschen ergreifen muss, ist das Motto strategisch gesetzt. Die Vorstufen des Hyperion beziehen sich neben vielen anderen Texten (vgl. Gaier 1993, 57–178) auf Rousseau, wobei die »Transfiguration« des Menschen
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Rousseau ihm eine herausragende Stellung einräumt. Der sogenannte ›Kallias-Brief‹, den die FHA mit gutem Grund dem Tübinger Ur-Hyperion zurechnet, enthält gegen Schluss kontextlos eingesprengt ein Zitat aus der Nouvelle Héloïse I 9, wo Julie den St. Preux wegen der unechten Geistreichelei und künstlichen Emotionalität seines Briefstils tadelt: »Ihr Brief selbst straft sie mit seinem munteren Stil Lügen, und Sie wären nicht so geistreich, wenn Sie weniger ruhig wären.« (StA 4, 740, Übers. U. G.) H.s Text fährt fort: »Du müßtest sehn, wie ich der ernsten Mahnung meines Herzens gar künstlich fröhliche Farben aufzwang, um sie mir erträglicher zu machen, und sie wie einen guten Einfall belächeln, und vergessen zu können!« (StA 4, 219) Wieder ist der Gestus der Überbietung erkennbar: Setzt bei Rousseau St. Preux seinen Briefstil künstliche Farben auf, um Julie, wie diese tadelt, zu täuschen, so zwingt der Schreiber bei H. der ernsten Mahnung seines Herzens, endlich das träumerische Genussleben zu verlassen, künstlich fröhliche Farben auf, um den Selbstvorwurf ertragen, belächeln, vergessen zu können – der Schreiber soll St. Preux und Julie zugleich sein, soll sich im Moment affektiver Erregung (Scham angesichts der Tatbereitschaft homerischer Helden) mit Gegengefühlen selbst manipulieren und dies alles als kalter Analytiker von außen beobachten und für den Freund beschreiben. Der in den Text gesetzte Satz Rousseaus fungiert gleichsam als Maßstab, an dem die Überbietungsleistung ermessen werden kann. Die Vorrede zum Fragment von Hyperion (1794) benutzt die in Rousseaus Anthropologie des Èmile fundamentale Opposition von facultés/désirs, puissance/ volonté und dem »vollkommenen Gleichgewicht« beider als Zustand »absoluten Glücks«, als Zustand, den »die Natur, die alles zum besten macht, anfangs eingerichtet hat« (Émile Buch II, Ausg. Classiques Garnier 1957, 63 f.): »Es giebt zwei Ideale unseres Daseyns: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zuthun, gegenseitig zusammenstimmen« (StA 3, 163). Auf Rousseau verweist hier nur das Paar Kräfte/Bedürfnisse und der Gedanke ihres Gleichgewichts; der Begriff der gegenseitigen Zusammenstimmung und die Erweiterung auf alles, »womit wir in Verbindung stehen«, verweist auf das »Naturgesetz« Christian Wolffs, der Begriff des Ideals, das in der Realität menschlichen Daseins ontound phylogenetisch nur »mehr oder weniger rein« verwirklicht wird, geht auf das Kant-Studium zurück (s. Kap. 12); der Begriff der »Organisation« weist auf
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Kants Kritik der Urteilskraft und über diesen zurück auf Herders Ideen und Gott. Durch den dissonanten Beginn jedes realen Daseins bleibt »reine Natur« ein Ideal und vermeidet die Naivität von Rousseaus Naturbegriff; »Zusammenstimmung« ist den unterschiedlichen Seinsweisen von Kräften und Bedürfnissen angemessener als »égalité parfaite«; die Zusammenstimmung mit allem, »womit wir in Verbindung stehen«, also Menschen und Umwelt, hebt in entscheidender Weise den Menschen aus der monadischen Existenz heraus, in der Rousseau ihn primär konzipiert; der Organisationsbegriff (Herder) endlich, mit dem die Fundamentalkategorie des Lebendigen expliziert wird, gewährleistet die flexible Adaption und aktive Veränderung der lebensweltlichen Beziehungen, die Rousseau mit seiner Maxime: »Messen wir die Reichweite unserer Sphäre und bleiben wir im Zentrum wie das Insekt in der Mitte seines Netzes« (Émile ebd., 65) nur statisch beschreiben kann. Die Autopoiesis des Organisationsbegriffs gibt vor allem Antwort auf die bei Rousseau unlösbare Frage, woher bei einer eingetretenen Disproportion zwischen der imaginären Welt der Wünsche und der Realwelt der Kräfte der freie Wille herkommen kann, mit dem der Überschuss der imaginierten Bedürfnisse beschnitten werden soll (ebd., 64), wo doch bei einer solcherart mechanischen Anthropologie »Freiheit« allenfalls in dem neutralen Gleichgewichtszustand zu denken ist, der erst herzustellen wäre. An diesem Beispiel sollte verdeutlicht werden, wie H. auch auf philosophisch-anthropologischem Gebiet unter anderem auf Rousseau zurückgreift, ihn aber dann deutlich hinter sich lässt. In der ›Metrischen Fassung‹ und in Hyperions Jugend wird der Erzähler Hyperion durch die Charakteristika ›weise‹, ›fremd‹, ›schön‹, ›charismatisch‹ und seinen erst seit kurzem bezogenen Wohnort, ein Landhaus im Pappelwalde, als Rousseau-Figuration gezeichnet (StA 3, 187–189, 199 f.), wenngleich die von ihm vertretenen philosophischen Ansichten vor allem hinsichtlich des von Herder gepflegten Platonismus/ Neuplatonismus nicht vollständig auf Rousseau zurückzuführen sind. Worauf es H. offenbar ankommt, ist die elegische Anfangsstimmung von »Schmerz und Wohlgefallen«, mit welcher der weise Mann wie Rousseau in der 9. Promenade der Rêveries im Kind die Beziehung zu anderen Menschen wiederentdeckt. Aus Ansätzen in den fragmentarischen Fassungen lässt sich extrapolieren, dass dieser mit »Dissonanzen« in seinem elegischen Charakter wie im endgültigen Roman beginnende Hyperion durch das Erzählen sich selbst heilen, die Dissonanzen auflösen sollte (vgl. StA
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3, 5); über den endgültigen Roman hinaus, wo Hyperion dem nicht weiter charakterisierten Bellarmin in Briefen erzählt, sollte sich in den Fragmenten der Zuhörer wohl auch durch Hyperions Erzählen wandeln, denn dieses über seinen Besuch erzählende Ich tadelt im »jetzigen« Erzählen die vor dem Besuch und im ersten Gespräch vertretene rigoristische Haltung und vertritt als »jetzt« Erzählender die humanste, avancierteste Auffassung vom Menschen. Der durch Erzählen sich selbst therapierende Elegiker par excellence ist der Rousseau der Confessions und der Rêveries. Die Confessions haben laut Vorrede dreifachen Zweck: Sie könnten »als erstes Vergleichsstück für das Studium des Menschen« dienen, sie errichteten »das einzig sichere Denkmal meines Charakters, das nicht durch meine Feinde verunstaltet worden wäre«, sie sollen Rousseau nach seinem Tod Gerechtigkeit vor der Welt verschaffen; am Ende des ersten Teils gesteht er, dass die Treulichkeit des Erzählens »mein Herz befriedigt« habe. Dient hier die Wissenschaft vom Menschen, die Rechtfertigung vor der Welt, die Reinigung des verunstalteten Individualbildes der Heilung eines traumatisierten Ich durch das Bekenntnis vor der Öffentlichkeit, so geht es dem einsamen Spaziergänger nur noch um das Selbstgespräch mit seiner Seele, »denn sie ist das einzige, was mir die Menschen nicht wegnehmen können«; er schreibt sie nur für sich, damit ihre Lektüre im späteren Alter »mich an die Süßigkeit erinnert, die ich beim Schreiben genieße, und, Vergangenes auf diese Weise wiedergebärend, sozusagen meine Existenz verdoppelt. So werde ich den Menschen zum Trotz doch den Reiz der Geselligkeit genießen können und hinfällig mit mir selbst in einem andern Lebensalter umgehen wie mit einem jüngeren Freunde.« (1. Prom., Ausg. Garnier-Flammarion 1964, 40–42) Dieser Einsiedler (solitaire), den die Gesellschaft lebendig zu begraben sich verschworen hat, dem alles fremd ist und der sich »auf der Erde wie auf einem fremden Planeten« findet (ebd., 39 f.), lernt jedoch durch den Umgang mit der Natur und sich selbst schließlich wieder den Umgang mit Menschen (9. Prom.) und den erinnernden Dank an Frau von Warens, mit der zusammenzutreffen über sein ganzes Leben entschieden hat (10. Prom.). Also auch hier Selbsttherapie durch das Erzählen im Sinne einer Selbstkonstitution zum Menschen als einem zur Geselligkeit, zu Dank und Erinnerung fähigen Wesen. – Schon in den Vorstufen zum Hyperion wird also Rousseau als derjenige in Hyperion »transfiguriert«, der in seinen letzten Werken sich selbst zu heilen und wieder zur Menschheit zurückzuführen versucht hat.
Als solcher ist auch im endgültigen Roman Hyperion zu verstehen: im schwierigen Erzählen seines Lebens und seiner Schuld heilt sich der zu Anfang zutiefst Verletzte, bis er wieder sagen kann: »Bester! Ich bin ruhig [...].« (StA 3, 150) Auch er ist »Der Eremit in Griechenland« (der Untertitel weist das Erzählen aus der Eremitage als das eigentliche Thema des Buches aus), auch er beginnt mit »Tout est fini pour moi sur la terre.« (Rêveries, 39): »Mein Geschäft auf Erden ist aus.« (StA 3, 8) Rousseau ist unter diesem Gesichtspunkt in Hyperion transfiguriert, ohne dass sich die Hyperion-Gestalt in dieser Transfiguration erschöpfen würde. Unwahrscheinlich ist deshalb aber die von Link (1986) aufgestellte These, Adamas sei als Transfiguration Rousseaus zu deuten. Wenn nun Rousseau durch sein Bekenntnis in den Confessions und den Rêveries sich vor der Welt und vor sich selbst gerechtfertigt und durch das Erzählen und die sprachliche Objektivierung beruhigt und vielleicht geheilt hat, so inszeniert H. diesen Vorgang mittels einer literarischen Figur, an deren Charakter die »Auflösung der Dissonanzen« dem Genuss, der Beobachtung und der Liebe des Lesers empfohlen wird (StA 3, 5). Hyperion wird damit zum Modell, wie auch die ihm begegnenden, ihn verändernden und durch ihn veränderten Charaktere Alabanda und Diotima Modelle und, wie H. überzeugt war, Grundtypen des modernen Menschen sind, an deren Schicksal und Selbstergreifung (in den Schlussreden Alabandas und Diotimas und im Schreiben des Hyperion) der Leser sich in seinem Eigensten erkennen und ergreifen kann. Rousseau ist in diesem Sinne im Hyperion ein Paradigma des elegisch-modernen – in Schillers Sinne des elegisch-sentimentalischen – Menschentyps, das H. als anschaulich belegenden Subtext seiner Modellfigur unterlegt. Ähnlich sind auch die Rousseau-Konnotationen in den Empedokles-Fragmenten (Link 1999, 192–222) zu beurteilen: die Empedokles-Figur ist Modell für eine Reihe historischer Persönlichkeiten, durch die und an deren Schicksal sich ein »Untergang und Übergang des Vaterlandes« vollzogen hat oder zu vollziehen im Begriff ist: Empedokles, Jesus, Napoleon (vgl. Gaier 1993, 287–320). Da sich die Arbeit am Hyperion von 1792 bis 1797 hinzog, haben wir eine wichtige Auseinandersetzung H.s mit Rousseau als Erzieher im Brief an Ebel vom 2.9.1795 nachzutragen. Mit diesem Brief legt er die Erziehungsgrundsätze dar, die er nach seinen »grausam fehlgeschlagenen Bemühungen« mit Fritz von Kalb auf seiner neuen Hauslehrerstelle in Frankfurt anzuwenden gedachte (s. Kap. 3). Ausdrücklich distan-
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ziert er sich dabei von Rousseaus Konzept der negativen Erziehung, die sich in einer städtischen Umgebung nicht realisieren lasse, und will dem Kind stattdessen »die Gegenstände zuführen, die groß und schön genug sind, sein höheres Bedürfniß, das Streben nach etwas Besserem oder wenn man will seine Vernunft in ihm zu erweken«, wobei es ihm zunächst nur um »Wirkungen aufs Herz« zu tun ist. Er stimmt insoweit Rousseau mit einem wörtlichen Zitat aus der Nouvelle Héloise zu, es komme darauf an, das Kind für das Erzogenwerden geeignet zu machen, was er als Führung aus dem Naturzustand heraus auf den Weg, »wo es der Kultur entgegenkömmt (Hervorhebung UG)«, interpretiert (StA 6.1, 177–180.) Auch da also ist er moderner als Rousseau, dessen steuerndes Geeignetmachen (rendre propre) er in ein anreizendes Wecken transformiert (vgl. auch T 3, 47–51). Der Odenentwurf Rousseau (StA 2, 12 f.), um 1800 entstanden, kennzeichnet ihn als Seher, der die Winke der kommenden Götter antizipierend deutet und ihnen als kühner Geist »wie Adler den Gewittern« vorausfliegt. Aber »Wo sind die Neuen«, »die Verheißenen«, fragt das sprechende Ich der Ode, niemand versteht seine »Einsame Rede«: »Klanglos ists, armer Mann, in der Halle dir,/ und gleich den Unbegrabenen, irrest du/ Unstät und suchest Ruh und niemand/ Weiß den beschiedenen Weg zu weisen.« So ist Rousseau den Zeitgenossen ein »Aergerniß« und gerät damit in die geschichtliche Ambivalenz: »Es muß ja Ärgernis kommen, doch weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!« (Mt. 18,7) Denn auf der einen Seite ist da die wunderbare Ankündigung der kommenden Götter; auf der andern aber, durch das Bild vom Baum angedeutet, der »Des Lebens Überfluß, das Unendliche,/ Das um ihn« ist, zu fassen sucht, nie faßt und das Leben in ihm nur in der Frucht weitergeben kann, wird bei Rousseau die Gefahr der Übereilung (»im ersten Zeichen Vollendetes schon«), des Zuvielwollens (»das Unendliche [...] erfaßt es nie«) erkannt und sein Schicksal darauf zurückgeführt. Nicht ohne Grund steht auf der Rückseite des Entwurfs ein Teil von »Wie wenn am Feiertage ...« (s. Kap. 32). Dieselbe Argumentation bringt die Ode Dichtermuth, deren Entwurf und erste Fassung (StA 2, 530 bzw. 62 f.) mit dem im Zusammenhang mit Kanton Schweiz zitierten dreifach gestuften Bild der Alpenwanderung (heimliches Tal/ schäumende Kluft/ in schweigender Wolke droben) bzw. dem dreifach gestuften Wasserbild aus der 5. Promenade der Rêveries arbeitet – »still am Gestad, oder in silberner/ Fernhintönender Fluth, oder auf schweigenden/ Wassertiefen«: »Wenn die Wooge denn auch
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einen der Muthigen,/ Wo er treulich getraut, schmeichlend hinunterzieht,/ Und die Stimme des Sängers/ Nun in blauender Halle schweigt« (StA 2.1, 62). Die drei Wasseraspekte – schmeichelnd am Gestade, gefährlich in der Woge der Brandung, unberechenbar über der Tiefe – wirken hier zusammen: die Woge zieht schmeichelnd hinunter; der Schwimmer, der »wandelt« und sich auf jeden der drei Energiezustände (und »Töne«) gesondert einzulassen vermag, stellt sich dieser Totalzumutung gegenüber auch mit seinen drei Haltungen gleichzeitig: er ist mutig, trauend und treu, also heroisch, naiv und idealisch zugleich, und geht an diesem Übermaß des Äußeren und Inneren zugrunde. Denn diese Totalität kommt nur Gott, nicht aber dem Menschen zu; Rousseau aber hatte im Zusammenhang mit dem Glückserlebnis auf dem Wasser gesagt: »tant que cet état dure on se suffit à soimême comme Dieu« (Rêveries, 102), solang dieser Zustand dauert, genügt man sich selbst wie Gott – Faust machte das Ende seiner Existenz an dem Augenblick fest, zu dem er das Rousseau-Zitat sagen würde: »Je voudrais que cet instant durât toujours« (ebd., 101), »Verweile doch! du bist so schön!« (V. 1700) Goethe und H. sahen also in dem von Rousseau in der 5. Promenade beschriebenen selbstgenügsamen Augenblick der Totalität einen dem (modernen) Menschen nicht erlaubten und seinen Tod nach sich ziehenden hybriden Übergriff. Der Tod dieses Dichters aber ist freudig: wenn auch die Halle klanglos bleibt (vgl. Rousseau!), tönt wie bei Orpheus die Natur nach, und andere Dichter werden durch die sprechend gewordene Stelle seines Todes – Grab auf der Pappelinsel mit Inschrift – gewarnt, schweigen und gehen »gerüsteter« (vgl. ausführliche Interpretation Gaier 1993, 341–359). Die letzte Nennung Rousseaus findet sich in Der Rhein (StA 2.1, 142–148), wo H. in die Reinschrift nachträglich mit Blei über V. 139 »Rousseau« und vor V. 163 »Am Bielersee« setzte. Die Reinschrift trägt den Untertitel »An Vater Heinze«; Heinse (s. Kap. 11) redete die Schlussstrophe ursprünglich an mit »mein Heinze!« (V. 212), bis auch darüber »Sinklair!« geschrieben wurde; im ersten Druck 1808 ist auch die ursprüngliche Widmung auf »An Isaak von Sinclair.« geändert. Heinse starb aber am 22.6.1803, das Gedicht musste einen andern Adressaten, eben Isaak von Sinclair (s. Kap. 5), finden. In dieselbe Verlegenheitssituation führen auch die beiden auf Rousseau bezogenen Einfügungen: Was in der 10.–12. Strophe gesagt ist, bezog sich ursprünglich nicht auf Rousseau – darauf hat z. B. auch Heidegger (1980, s. Kap. 39) seine Deutung aufgebaut –, sondern auf Heinse. Ihm wurde die
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»starkausdauernde« Seele zugesprochen, der Rückzug in den Wald (nicht am Bielersee, wohl aber z. B. mit H. in den Teutoburger Wald), das Hervorgehen am Abend. Nun, da Heinse tot war, konnte dem neuen Adressaten Sinclair nicht mit gleicher Eindeutigkeit wie Heinse nachgesagt werden, er habe »den Himmel [...] mit den liebenden Armen/ Sich auf die Schultern gehäufft«; dies kann von Rousseau gelten, weshalb er eingesetzt und mit dem angeredeten Sinclair verglichen wird. Höchstwahrscheinlich nicht Rousseau wird angeredet, denn auch er kann 1803 nicht mehr Adressat sein. Ganz eindeutig lässt es sich nicht bestimmen, da bei der Bleistift-Überschreibung nicht klar ist, ob vor »Rousseau« ein Komma steht oder nicht. Steht keines, ist Sinclair angeredet und wird mit Rousseau verglichen; steht eines, ist Rousseau angeredet. Nach meiner Lesung (vgl. auch Uffhausen) steht keines; Rousseau hat wie in Hyperion, Empedokles, Dichtermuth paradigmatische Funktion für den modernen, seiner Zeit vorauseilenden, zu viel auf einmal wollenden, in Rede, Zielen und Verhaltensweisen unverständlich und zum »Fremden« werdenden Menschen. Weder Heinse noch Sinclair noch Rousseau sind nämlich »Halbgötter« (dagegen Link 1986, 1999, 2006/07). Der Gedankengang in Str. 10 und 11 ist: Der Sprecher will Halbgötter kennenlernen; wer aber wie der Angeredete beschaffen ist, »wie nenn ich den Fremden?« (Wäre er ein Halbgott, würde es nicht an Namen fehlen.) Halbgötter, die Söhne der Erde, ertragen Totalität, lieben und empfangen »Alles« »Mühlos«. Hat ein Sterblicher dagegen Totalität zu leisten versucht und wird sich dann dessen bewusst, erschrickt er und sucht Schutz, denn wenn einer wie Götter sein will, muss er sich selbst zerstören (V. 114– 120). Rousseau kann mit Recht hier eingesetzt werden; das Bild dessen, der sich zu viel auf einmal vornimmt, der sich selbst genügen will wie Gott, der sich in die Wälder, auf die Petersinsel im Bielersee zurückzieht, der als Fremder unter den Menschen erscheint und mit dem sie nicht mehr kommunizieren, den sie verfolgen: dieses Bild trifft auf Heinse, sogar auf Sinclair, in besonderem Maße aber auf Rousseau zu; es ist das von ihm selbst entworfene Bild in den Rêveries, deren Schlusspromenaden ihn incognito fähig zeigen, wieder mit Menschen zu kommunizieren und der wenigen Jahre zu gedenken, in denen »ausgeglichen [...] eine Weile das Schiksaal« im Zusammenleben mit Mme de Warens war, bevor die Wirbel seines Lebens ihn wieder erfassten. So ist für H. Rousseau nicht ein Halbgott wie der Rhein, sondern rätselvoller Fremder, ein sterblicher Mensch, der als Prophet künftiger Prä-
senz der »Götter«, d. h. des Gemeingeistes und höheren Zusammenhangs unter den Menschen sich zu viel auf einmal zutraut und zumutet, übereilt jedes Anzeichen schon als »Vollendung« deutet und ständig in Gefahr ist, sich selbst zu genügen wie Gott. Unter anderem ist er mit der Ambivalenz dieser von ihm selbst beschriebenen Momente des absoluten Glücks neben anderen historischen Gestalten in die EmpedoklesGestalt transfiguriert. Rousseaus Selbstheilung durch Bekenntnis macht ihn zu einer der Präfigurationen des schreibenden Hyperion; an seine Rückzüge in die Eremitage erinnert schon der Untertitel des Hyperion, in Der Rhein ist es wieder der Rückzug des durch Übermaß gefährdeten »fremden« Propheten in den Schutz der Waldnacht, der die nachträgliche Einfügung Rousseaus nahelegt. Rousseau ist also eine Warnfigur für H., mit deren Schicksal er sich immer wieder auseinandersetzte und deren Schicksal er, den »Apollo geschlagen« (StA 6.1, 432), schließlich selbst erlitten zu haben glaubte. Eine Anzahl poetischer Motive – Alpenwanderung, Wasseraspekte, Glück im treibenden Boot, Julie-Figuration, Eremitage, das Grab auf der Pappelinsel – spielen auf Rousseau an; weder im Bereich der Geschichtsphilosophie noch der Staatstheorie noch der Pädagogik blieb H. bei den von Rousseau erhaltenen Anregungen stehen, sondern dachte sie konsequent weiter.
11.2 Friedrich Schiller Am 20.9.1793 wandte sich Gotthold Friedrich Stäudlin an Schiller, um für H. um Vermittlung einer Hofmeisterstelle zu erbitten. »Für die Reinheit seines Herzens und seiner Sitten, und für die Gründlichkeit seiner Kenntnisse bürge ich. Seinen Talenten brauche ich das Wort nicht zu sprechen, da seine Werke genug davon zeugen.« (StA 7.1, 467) In Stäudlins ›Musenalmanach fürs Jahr 1792‹ waren drei der Tübinger Hymnen (s. Kap. 28) und Meine Genesung erschienen, in seiner ›Poetischen Blumenlese fürs Jahr 1793‹ sechs der Tübinger Hymnen und Kanton Schweiz. Schiller hatte also genug Anschauungsmaterial, was H.s »Talente« betraf. Was Stäudlin allerdings nicht beachtet hatte: Schiller hatte seit Die Götter Griechenlandes (1788) und Die Künstler (1789) keine Lyrik mehr veröffentlicht und hatte in der Rezension Über Bürgers Gedichte (1791) nicht nur die Werke des Rezensierten guillotiniert, sondern sich auch von einem großen Teil seiner eigenen Jugendlyrik, insbesondere in der ›Anthologie‹ (1782) distanziert. Er konnte sich demnach nicht
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recht freuen an dem, was er von dem jungen Talent gelesen hatte; sein Urteil gegenüber Charlotte von Kalb, die einen Hofmeister suchte, war deshalb nicht ohne Reserve: »Er versteht und spricht auch das Französische und ist (ich weiß nicht, ob ich dies zu seiner Empfehlung oder zu seinem Nachtheile anführe) nicht ohne poetisches Talent, wovon Sie in dem Schwäbischen Musenalmanach von 1794 [sic!] Proben finden werden. Er heißt Hölderlin und ist Magister der Philosophie. Ich habe ihn persönlich kennen lernen und glaube, daß Ihnen sein Aeußeres sehr wohl gefallen wird. Auch zeigt er vielen Anstand und Artigkeit. Seinen Sitten giebt man ein gutes Zeugniß; doch völlig gesetzt scheint er noch nicht, und viele Gründlichkeit erwarte ich weder von seinem Wissen noch von seinem Betragen.« Er habe allerdings nur eine halbe Stunde mit ihm gesprochen (StA 7.1, 469). H. bekam die Stelle, allerdings in Waltershausen bei Meiningen, weit weg von Schiller und von Jena, wohin es ihn vor allem zog. Schillers Zurückhaltung lässt sich unter zwei Gesichtspunkten verstehen. Erstens kamen ihm in H.s Reimhymnen die Strophen seiner eigenen, jetzt mit Skepsis beäugten Jugenddichtungen entgegen. H. hatte sich schon in Maulbronn die zumsteegschen Vertonungen der Lieder aus Die Räuber zu besorgen versucht (StA 6, 6) und sie vielleicht schon in Maulbronn bekommen, um sie mit seinem »Geklemper« auf dem Klavier zu vergegenwärtigen (StA 6, 66). Von den 35 längeren Reimgedichten und -hymnen zwischen Der Lorbeer (1787) und An die klugen Rathgeber (1796) sind 8 auf die Doppelstrophe von Schillers Lied an die Freude zu singen (Hymne an die Schönheit wiederholt eine Zeile); 13 verdoppeln die fünffüßig trochäische Strophe Amalias im Garten (Räuber III 1), die H. so liebte (StA 6, 6); drei weitere variieren sie leicht; Amalias Schweifreimstrophe in Willst dich, Hektor, ewig mir entreißen erscheint zweimal, ein weiteres Mal variiert. Nur für sieben jambische Gedichte hat H. andere Muster benutzt. Zweitens musste Schiller beim Lesen dieser Hymnen erkennen, dass der junge Mann ihn im Gedanklichen keineswegs imitierte, sondern bei gleicher Thematik ihn korrigierte und überbot. Daher dann der Eindruck fehlender Gründlichkeit, die Schiller sich bei aller Distanz zu seinen Jugenddichtungen doch nicht auf die eigene Rechnung setzen wollte. Für ihn musste sich damit das Bild einer heimlichen Arroganz ergeben, die ihn auf dem eigenen Spielfeld zu übertrumpfen suchte. Ein Beispiel, das den mit Fragen der Ästhetik stark Beschäftigten interessieren musste, ist H.s Hymne an die Schönheit. Nicht nur übernimmt er die Strophe des Lieds An die Freude, mit Verdop-
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pelung einer Zeile in jeder Halbstrophe, sondern er übernimmt in deutlicher Anspielung aus den Künstlern Formulierungen und Reime, widerspricht jedoch Schillers Ästhetik. Dieser stellte Schönheit als äußere Erscheinungsform, als sinnliches Symbol der Wahrheit dar, H. sprach von »Schönheit in der Urgestalt«. Wenn Schiller sagt: »Der Anmut Gürtel umgewunden,/ Wird sie zum Kind, daß Kinder sie verstehn,/ Was wir als Schönheit hier empfunden, Wird einst als Wahrheit uns entgegen gehn.« (NA 2, 1, 384), so kontert H.: »Freude meinem Kindersinne/ Folgte mir zu Wies’ und Wald/ Die arkadische Gestalt -/ Ha! Und staunend ward ich inne/ Ihres Zaubers Allgewalt.« (StA 1, 153) Schönheit wird nicht als abgeleiteter und zu überwindender Vorschein der Wahrheit betrachtet, sondern als Urgestalt, deren allgewaltiger Zauber mithin auch die Wahrheit bestimmt, indem sie das Erkennen selbst zu einem ästhetischen Akt macht. H., den Schiller aufgrund seiner unüberhörbaren Anspielungen sicher für naseweis hielt, war durch seine Tübinger Philosophiestudien (s. Kap. 10), insbesondere das Kant-Studium (s. Kap. 12), das Schiller in diesen Jahren erst nachholte, zumindest dem Verfasser der Künstler hinsichtlich der neueren philosophischen Diskussion überlegen. Das Bewusstsein dieser Tatsache ändert nichts daran, dass H. Schiller noch am 20.6.1797 schreibt: »Ich habe Muth und eignes Urtheil genug, um mich von andern Kunstrichtern und Meistern unabhängig zu machen, und insofern mit der so nöthigen Ruhe meinen Gang zu gehen, aber von Ihnen dependir’ ich unüberwindlich; und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such’ ich manchmal, Sie zu vergessen, um während einer Arbeit nicht ängstig zu werden.« (StA 6, 241) So entsteht auf beiden Seiten die Doppelbindung, die H. in unüberwindlicher Abhängigkeit von Schiller und im ständigen Versuch hält, aufzubegehren, ihn zu überbieten, zu übertrumpfen oder zu vergessen (s. Kap. 36), und die Schiller einerseits von seinem »liebsten Schwaben« reden lässt, der von November 1794 bis Mai 1795 mit kurzen Abwesenheiten fast täglich ihn aufsuchen durfte und den er andererseits in seinem Höhenflug zu bremsen, in seiner Arroganz zu demütigen, nach seiner Flucht durch Nichtachtung und schließlich giftige Beurteilung seiner Arbeiten zu strafen suchte. Die Räuber studiert H. noch 1799 (StA 6, 364), der Don Karlos war »lange Zeit die Zauberwolke [...], in die der gute Gott meiner Jugend mich hüllte, daß ich nicht zu frühe das Kleinliche und Barbarische der Welt sah, die mich umgab« (StA 6, 365, vgl. 93). Das Lied an die
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Freude, Resignation, andere ›Anthologie‹-Gedichte, Die Götter Griechenlandes, Die Künstler sind Dichtungen, die H. intensiv beschäftigen und auf die er immer in eigenen Dichtungen antwortet. Aber schon in den Tübinger Hymnen, in der Antwort auf Schillers Resignation, den Verzicht auf Transzendenz und Unsterblichkeitsglauben und die Beschränkung auf das Hiesige, deckt H. mit den »Geisterköniginnen« ›Freiheit‹, ›Harmonie‹, ›Menschheit‹, ›Schönheit‹, ›Freundschaft‹, ›Liebe‹ usw. Fakta des Bewusstseins auf, die er begeistert auf die ontologischen, Denken und Handeln ermöglichenden und ihnen immer schon vorausliegenden Bedingungen alles Daseins bezog und damit schon in Tübingen Grundgedanken seiner Jenaer Philosophie vorwegnahm (s. Kap. 24). Auch poetisch antizipierte er die Forderung nach dem »ganzen Menschen« in Schillers ›Bürger-Rezension‹, gestaltete nach seiner in der Magisterarbeit über Salomon und Hesiod dargelegten Personifikations- und Mythentheorie (StA 4, 183 f.) eine »Mythologie der Vernunft« nicht nur für das Denken, sondern auch für die Sinne und die Phantasie, wo Schiller in seiner frühen Lyrik das Zustandekommen einheitlicher anschaulicher Vorstellungs- und Handlungsbilder für die behandelten Abstrakta wie »Freude« oder »Liebe« konsequent vermieden hatte. Als H. 1794 auf Vermittlung Charlotte von Kalbs das Fragment von Hyperion an Schiller schickte, räumte dieser das vorletzte Heft der ›Neuen Thalia‹, in dem z. B. ein Aufsatz Friedrich Schlegels hätte erscheinen sollen, für H.s Fragment, Das Schiksaal und einen eigenen Text, so sehr muss ihn beeindruckt haben, was H. als Frucht seines Waltershäuser Kant-, Herder-, Platon- und Vorsokratiker-Studiums (vgl. Gaier 1993, 81–108) sowie seiner intensiven Kenntnisnahme der zeitgenössischen Literatur (ebd., 109–126) geliefert hatte. Schiller war mitten in der Vorarbeit zu den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, zu deren Anthropologie, Bildungstheorie und Geschichtsphilosophie dieser junge, seine »Gründlichkeit« nun schon mit der Vorrede zum Fragment unter Beweis stellende Autor mindestens als Gesprächspartner beitragen konnte. In der Tat, die von Herder in die Geisteswissenschaften eingeführte »Systematologie«, die mit dem Organisationsbegriff die Vorrede des Fragments deutlich bestimmt hatte, erscheint schon in der ersten Briefserie der Ästhetischen Briefe und bildet mit dem »Maximum«-Begriff für die athenische Kulturblüte (Brief 6) das Fundament der neuen Schillerschen Bildungstheorie und Kulturphilosophie. H., von November 1794 an in Jena, machte Schiller darü-
ber hinaus mit seiner Kritik an Fichtes gerade im Erscheinen begriffenen Wissenschaftslehre vertraut, die Fichte wie auch Schiller zu Korrekturen und begrifflichen Verschiebungen veranlasste (Waibel 2000, zu Schiller 119–139; s. Kap. 12 u. 24). Schon in Waltershausen hatte H. bei allem Lob für Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde bemängelt, Schiller habe darin »doch auch einen Schritt weniger über die Kantische Gränzlinie gewagt [...], als er nach meiner Meinung hätte wagen sollen.« (StA 6.1, 137) Schiller hat dort die von Kant aufgestellte Grenzlinie der Subjektivität für das Erkennbare und Bestimmbare in der Weise überschritten, dass er die schöne und die erhabene Seele, die uns aus den anmutigen bzw. würdigen Handlungs- und Verhaltensweisen eines Menschen entgegentritt und die wir empathisch als schön zwischen Pflicht und Neigung spielend bzw. erhaben ihre Freiheit wahrend deuten, nur als Ideen und Zielkategorien aufstellte. Vor allem erscheint nach der Forderung des »ganzen Menschen« in der ›Bürger-Rezension‹ die schroffe Unterordnung der »Natur« unter den »Geist« als ein Rückfall sogar hinter den Kant der Kritik der Urteilskraft. Mit hoher Wahrscheinlichkeit geht die Unterscheidung der einseitigen moralischen und der vollständigen anthropologischen Schätzung im 4. Ästhetischen Brief auf H.s Einspruch zurück; sie nimmt die Entscheidung über die Frage vorweg, ob der moralische oder der schöne Mensch Ziel der Erziehung sein soll, die die Menschen zur Selbstbestimmung in Freiheit befähigt. Mit größtem Interesse nahm H. von Schiller den Gedanken der Volkserziehung auf, der ja, zur Vermeidung der Wildheit und Barbarei der Französischen Revolution, der Ausgangspunkt der Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen gewesen war. Früh muss er den Schwachpunkt in Schillers Argumentation erkannt haben: Schiller bildete den individuellen Menschen tendenziell zur Vollendung und bewirkte damit, dass dieser schöne Mensch zwar zum geselligen Austausch fähig war, anderer Menschen aber weder bedurfte noch ihnen etwas zu geben hatte. Die Rede vom ästhetischen Staat im 27. Brief ist metaphorisch, vor allem wo es sich um kleine Zirkel wie den Kreis der Weimarer Herzogin Anna Amalia handelt. Jedenfalls schrieb H. schon am 26.1.1795 an Hegel: »Ich gehe schon lange mit dem Ideal einer Volkserziehung um, u. weil Du Dich gerade mit einem Teile derselben der Religion beschäftigest, so wähl ich mir vielleicht Dein Bild und Deine Freundschaft zum conductor der Gedanken in die äußere Sinnenwelt« (StA 6, 156; s. Kap. 12). Religion, so gedachte H. den Mangel der ästhetischen Er-
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ziehung zu beheben, kann auch ganze und schöne Menschen verbinden; Diotima verkündet das Konzept einer höheren Geselligkeit in Hyperions Jugend: »Ich trage ein Bild der Geselligkeit in der Seele; guter Gott! wie viel schöner ist nach diesem Bilde, zusammen zu seyn, als einsam! Wenn man nur solcher Dinge sich freute, denk’ ich oft, nur solcher, die jedem Menschenherzen lieb und teuer sind, wenn das Heilige, das in allen ist, sich mittheilte durch Rede und Bild und Gesang, wenn in Einer Wahrheit sich alle Gemüther vereinigten, in Einer Schönheit sich alle wiedererkennten, ach! wenn man so Hand in Hand hinaneilte in die Arme des Unendlichen – Dieser Unendliche wird nicht genannt, wohl aber Heilige und Heroen aller Zeiten, deren die Feiernden gedenken wollen, die Elemente der Natur und »der Friede mit allem, was da ist!« (StA 3, 223 f.) Diese Geselligkeit überbietet umgehend die von Schiller am Schluss der soeben (Ende Juni 1795) erschienenen Ästhetischen Briefe konzipierte. Sie schafft bei voller Erhaltung der individuellen Verschiedenheit und differentiellen Vollkommenheit einen »Einklang unser Geister« und die Voraussetzung für »ihr unendlich Wachstum« (ebd.). Schiller profitierte einerseits, ärgerte sich offensichtlich andererseits über H., der nicht aufhörte, »ihm etwas seyn« zu wollen und ihm in Dichtungen, für jedermann an den Anspielungen erkennbar, am Zeug zu flicken. Mit gutem Honorar winkend trug er ihm die Übersetzung von Ovids Phaëton in Stanzen an, setzte sich auch mit Brief vom 9.3.1795 bei Cotta für den Verlag des Hyperion ein: »Er hat viel genialisches und ich hoffe auch noch einigen Einfluß darauf zu haben. Ich rechne überhaupt auf Hölderlin für die Horen in Zukunft, denn er ist sehr fleißig und an Talent fehlt es ihm gar nicht, einmal in der litterarischen Welt etwas rechts zu werden.« (StA 7.2, 31) Den Einfluss suchte sich der ästhetische Erzieher über den Phaëton zu verschaffen. H. musste übersetzen: »Nicht jeder ist für solch’ ein Loos geweiht;/ Befrage deine Kraft! Du bist ein Knabe,/ Ein Sterblicher, und forderst Göttlichkeit./ O wüßtest du! Was deine Wünsche wagen,/ Das müssen auch sich Himmlische versagen.« (StA 5, 314) Deutlicher kann man, ohne es direkt zu sagen, einem nicht beibringen, dass er zu hoch hinaus will und seinen Fähigkeiten gemäß bescheidener auftreten soll. Wenn er mit dem Sonnenwagen weiter so ungebremst aufsteige und die kosmische Ordnung gefährde, werde ihm Vater Zeus mit einem Blitz abschießen müssen. H. merkte natürlich die Absicht, übersetzte und schickte Schiller nach seiner überstürzten Abreise aus Jena im Juli 1795 den fertigen Text, den
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Schiller nicht druckte. H. war zufrieden, nannte aber dann die Aufgabenstellung »albern« (StA 6, 205). Die Spannungen wuchsen. Vielleicht ist das schwierige Verhältnis des immer selbstbewusster werdenden H. zu dem ihn als ästhetischen Zögling betrachtenden Schiller ein Grund für die von manchen so genannte Flucht aus Jena gewesen. Schiller antwortete auf mehrere werbende Briefe nicht; H. schickte Gedichte, die Schiller nicht druckte; H. wollte noch 1796 von Kassel aus ihm in seiner »ganzen Bedürftigkeit erscheinen« (StA 6.1, 214 f.), schickte aber zugleich Gedichte mit, die zwar nach Schillers späterer Ausrede für die Aufnahme in den Musenalmanach zu spät kamen, die er aber als Affront gegen sich werten musste: An die Unerkannte bekennt sich durch Bezugnahme auf ein Epigramm Herders zu diesem und nimmt damit in dem Streit zwischen Schiller und Herder, der mittlerweile über den Iduna-Aufsatz ausgebrochen war, Partei gegen Schiller. In An Herkules, das H. ohne Titel an Schiller geschickt hatte und das dieser damit auch an sich adressiert lesen konnte, bedankt sich der Sprecher bei Herkules, dass er den Knaben zum Manne gemacht habe – 1794 hatte H. an Schiller geschrieben: »Ich will zu einem Manne werden. Würdigen Sie mich zuweilen eines aufmerksamen Bliks!« (StA 6.1, 113) – »Aber kraft des eigenen Strebens/ Blikt und wuchs ich himmelan« und nun sollte Herkules den Olymp mit dem Sprecher teilen, der sich trotz sterblicher Geburt Unsterblichkeit geschworen hat; schon hier erscheint überdeutlich das Wort »Kämpferwagen« aus Schillers Reich der Schatten (StA 1, 199 f.). H. bringt es noch einmal in An die klugen Rathgeber, wo der Sprecher sich gegen die »Ärzte« auflehnt, die dem jungen Menschen verbieten, ein Risiko einzugehen, die sein Genie, den »Gott in uns« verteufeln, die ihn mit klugem Rat am ruhmlosen Leben erhalten und so in Wahrheit in seinem Herzen ermorden. Diese schärfste Abrechnung mit den ästhetischen Erziehungsmaßnahmen Schillers ist zur säkularen Auseinandersetzung zwischen heroischem Genie und kleingeistiger Aufklärung stilisiert und kann von der literarischen Öffentlichkeit so gelesen werden, aber Schiller musste sich in die Rolle Karl Eugens gegenüber den Geniestreichen des jungen Schiller versetzt fühlen. Schiller publizierte die Gedichte nicht; H. wollte Antwort erzwingen und erbat die Gedichte zurück. Schiller antwortete endlich: Nein, er habe ihn nicht vergessen, »Große Freude machte mirs, wenn ich in dem nächsten Almanache einige reife und bleibende Früchte Ihres Talents aufstellen könnte.« Das heißt, das Gelieferte ist weder reif noch bleibend; er solle
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sich Zeit nehmen, nicht so viel philosophieren, nicht so weitschweifig sein und sich ganz an Moses und die Propheten (d. h. Schiller und Goethe) als Muster halten (StA 7.1, 46). Auf diese Tropfen feinen Giftes antwortete H. erst ein Dreivierteljahr später; am 30.6.1798 gesteht er, »daß ich zuweilen in geheimem Kampfe mit Ihrem Genius bin, um meine Freiheit gegen ihm zu retten« (StA 6.1, 273). In der Tat haben viele von H.s Werken einen offenen oder verdeckten Bezug zu Werken Schillers und zeigen sich als Versuche, das Lehrund Streitgespräch von Jena weiterzuführen. Im vollendeten Hyperion setzen sich die geschichtsphilosophischen Reflexionen über Athen und Moderne, Evolution, Volkserziehung und Revolution auch mit Schillers geschichtsphilosophischen Theorien auseinander, die Scheltrede ist die Einlösung der Forderung im 9. Ästhetischen Brief, der Künstler solle aus der Idealität der griechischen Schule furchtbar reinigend in sein Jahrhundert zurückkehren. Goethe hatte diese ihm von Schiller zugedachte Orest-Rolle ironisch abgelehnt und befleißigte sich mit Schiller in den Xenien der Individualmorde an Schriftsteller-Kollegen; H. schalt, wie Schiller es eigentlich gewollt hatte, das ganze »Jahrhundert«. Schiller war mit den Horen als strengem Versuch, »sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzuziehen« und nicht Herders Forderung zu folgen, »daß die Poesie aus dem Leben, aus der Zeit, aus dem Wirklichen hervorgehen, damit eins ausmachen und darein zurückfließen muß« (NA 28, 97 f.), gescheitert; der Name der von H. geplanten Zeitschrift »Iduna« bekennt sich zu Herder und stellt sich hinsichtlich der Zeitbezogenheit der Dichtung gegen Schiller auf Herders Seite. H.s theoretische Aufsätze sollten wie die Aufsätze Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung, Über das Pathetische, Über das Erhabene poetische Gattungen aus theoretischen Grundlagen herleiten. Die Elegien H.s sind als Antworten u. a. auf Schiller zu lesen, so Der Wanderer auf Elegie/Der Spaziergang, Brod und Wein auf Probleme, die Die Götter Griechenlandes gestellt hatten, die aber mittlerweile auch von Goethe, Novalis, Schleiermacher angegangen worden waren, deren Positionen H. ebenfalls beantwortete (vgl. Gaier 1993, 381–402). Noch beim Empedokles suchte H. von Schiller durch den Bericht über intensive Beschäftigung mit Schillers früheren Dramen (StA 6.1, 364 f.) insgeheim Näheres über Schillers Behandlungsart des Tragischen im Wallenstein zu erfahren, worauf der Meister allerdings nicht einging. Auch sein letzter Brief an Schiller mit der Bitte um Vermittlung einer Professur für griechische Literatur in Jena blieb ohne Antwort.
In diesem agonalen ambivalenten Verhältnis gegenseitiger Doppelbindung, aus dem Schiller sich, arriviert und mit Goethe im kontinuierlichen Dialog, durch Schweigen schneller löste als H., ist in der Beziehung einzelner Texte aufeinander noch viel aufzudecken. H. hat sich nie ganz von Schiller gelöst, wie dies M. Mommsen in seinem höchst verdienstvollen Aufsatz optimistisch sagen zu können meinte. Bis in die letzte Homburger Zeit war in allem, was H. schrieb, ein Aspekt der Werbung und der Überbietung Schillers enthalten.
11.3 Johann Gottfried Herder Wegen des alles dominierenden Kantianismus der Zeit selbst nur unzulänglich erforscht und erst seit Mitte der 1980er Jahre ins Blickfeld einer methodisch eher adäquaten Forschung gekommen, blieb Herder auch in der H.-Forschung ohne die ihm gebührende Beachtung, obwohl er vielleicht der bedeutendste Anreger für H. als Philosoph und als Dichter gewesen ist. Die Dissertation von P. Nickel (1963) und das Buch von W. Martin (1990) sind die einzigen Monographien, behandeln aber jeweils nur einen Aspekt der Beziehung; am reichhaltigsten an Hinweisen, die aber vielfach noch auszuarbeiten sind, ist Gaier (1993; Einzeluntersuchungen HJb 1978/79, 1986/87). Philologisch nachweisen lässt sich H.s Lektüre folgender Werke Herders: Vom Geist der Ebräischen Poesie und Briefe, das Studium der Theologie betreffend werden in der Magisterarbeit über Salomon und Hesiod 1790 zitiert (StA 4, 184 f.); der Ephorus Schnurrer nahm in seinen exegetischen Vorlesungen auf die Ebräische Poesie Bezug, wie übrigens auch Conz ein großer Verehrer Herders war. – Die Schrift über Liebe und Selbstheit war in H.s Hemsterhuis-Ausgabe dem Brief über das Verlangen des holländischen Platonikers korrigierend angehängt (StA 6, 2, 629). – Da Hegel 1793 auf Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Bezug nimmt (vgl. Gaier 1993, 71), ist anzunehmen, dass H. dieses für ihn so wichtige Werk schon im Stift studierte; bei seinem Besuch in Weimar im Januar 1795 ist ihm Herder der »Verf. der Geschichte der Menschheit« (StA 6, 151). – Die Hymne Dem Genius der Kühnheit erwähnt »Nemesis« (V. 64), Herders im gleichnamigen Aufsatz dargestelltes Konzept einer sittlichen Weltordnung; der Genius der Jugend ist auf die Lehre der Verjüngung aufgebaut, die Herder in dem Aufsatz Tithon und Aurora als evolutionäre Alternative zur Revolution darlegt; daraus schreibt H. für
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Neuffer aus Waltershausen eine Passage ab (StA 6, 125) und zitiert den Mythos wieder in Der Wanderer (V. 45 f.). Der Brief an Neuffer vom Juli 1794 argumentiert mit der Sprach- und Übersetzungstheorie der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur (StA 6, 125, vgl. Gaier 1993, 88 f.). In Waltershausen muss (noch einmal) eine extensive Herder-Lektüre stattgefunden haben, denn Frau von Kalb scheint dem Hofmeister ihres Fritz Hoffnungen gemacht zu haben »in Weimar im Zirkel der grosen Männer, die diese Stadt in sich hat, [...] außer meinem Zöglinge noch einen Sohn von dem Consistorialpräsident Herder unterrichten, und in dessen Hause logiren« zu dürfen (StA 6.1, 115), ja, er bereitete sich vor, in den seit 1793 erscheinenden (und ganz von Herder verfassten) Briefen zu Beförderung der Humanität seine »Kleinigkeiten [...] aufzustellen« (StA 6.1, 120 f.); er hat die bis 1797 halbjährlich erscheinende Publikation offensichtlich verfolgt, bekennt er sich doch (was Schelling rügte) in seinem eigenen Zeitschriftenprojekt zu dem von Herder ins Zentrum gestellten Begriff der Humanität. Auch der Titel der geplanten Zeitschrift »Iduna« war, gegen den mit Herder über dessen Aufsatz Iduna in Streit geratenen Schiller, ein Bekenntnis zu Herder. Wegen des Geschichtskonzepts vom »Gang Gottes über die Nationen« von Osten nach Westen und der damit verbundenen mythischen Geographie ist das Studium der Bückeburger Geschichtschrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit sicher anzunehmen; wegen der genauen Kenntnis der Schöpfungshieroglyphe und ihrer vorderorientalischen Tradition ist die Kenntnis der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts wahrscheinlich; die Dialoge Gott sind neben Buch XV der Ideen die Voraussetzung für die System- und Organisationstheorie, die von der Vorrede des Fragments von Hyperion bis zu den Sophokles-Anmerkungen H.s philosophische Grundlage bildeten (Gaier 1998); endlich ist nicht ausgeschlossen, dass H. im Zusammenhang mit seinem späten Gesangs-Begriff z. B. den Aufsatz Volksgesang in Herders letzter Zeitschrift Adrastea zur Kenntnis nahm. H. war also insgesamt mit den wichtigsten, in die Öffentlichkeit hineinwirkenden Schriften Herders vertraut; da er sich in Waltershausen auf eine Hauslehrerschaft und engen Kontakt mit Herder vorbereitete, ist anzunehmen, dass er die in der Bibliothek der Herder-Freundin Charlotte von Kalb bis 1793 vorliegenden Schriften Herders genau studierte, um ein kompetenter Gesprächspartner des »grosen Mannes« zu werden; da Herder zudem für seine Rückgriffe auf die griechische Literatur und Philosophie, insbesondere Platon (mit
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der neuplatonischen Kommentierung Ficinos) bekannt war, ist neben Kant H.s Studium der »Griechen«, besonders des »heiligen Plato« (StA 3, 237), den er schon in Tübingen in Ficinos Deutung erarbeitet hatte (StA 6.1, 86), wohl auf das erhoffte Gespräch mit Herder zurückzuführen. Angesichts einer derartigen Fülle von Bezugstexten und der Vielfalt der von Herder bearbeiteten Gegenstände ist es sinnvoll, die Beziehung H.s zu Herder disziplinär aufzuschließen, obwohl bei beiden letztlich alles mit allem zusammenhängt. Grundlegend für beide ist die »Systematologie«, die Herder von der Allgemeinen Systemtheorie Johann Heinrich Lamberts ausgehend universell anwandte (vgl. Metzger 2002); von Lambert her sind grundlegende Eigenschaften des Systems die »Durchgängigkeit« des Auftretens von Regeln und Gesetzmäßigkeiten im Zusammenhang der Elemente des Systems, ferner schon bei mechanischen, vollends bei lebendigen Systemen (»Organisationen«) die Tendenz zur Selbsterhaltung im Sinne des labilen Gleichgewichts, das wie ein Pendel eine das Gleichgewicht störende Wirkung durch eine entsprechende Gegenwirkung ausgleicht. Der Zustand des Gleichgewichts, wo z. B. die auf zwei Waagschalen liegenden Gewichte gleich sind, heißt »Maximum« unbeschadet der Frage, wie schwer die Gewichte sind. In lebenden Systemen wird durchgängig die hippokratische Organismus-Regel »superat et superatur« angenommen (die Kant in der Teleologischen Urteilskraft darauf reduziert, dass jedes Element Zweck und Mittel zugleich sei; Kritik der Urteilskraft, § 65), die also mit »organischen Kräften« konjektural einen Zusammenhang entwirft, in dem jedes Glied eines Körpers oder Mitglied einer »Organisation« über alle andern herrscht und zugleich von allen andern beherrscht wird. Hier kann schon H.s Grunderkenntnis eingeschaltet werden: »Es ist auch gut, und sogar die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden. [...] Freilich muß aus jedem endlichen Gesichtspunct irgend eine der selbständigen Kräfte des Ganzen die herrschende seyn, aber sie kann auch nur als temporär und gradweise herrschend betrachtet werden.« (StA 6, 300 f.) Die Einführung des KraftBegriffs als konjekturale Unbekannte ermöglicht die Annahme innerer Dynamik: das System ist nicht nur passiv auf Störung von außen eingerichtet, sondern greift aus, bezieht sich aktiv auf Äußeres, um es zu vereinnahmen oder in den Organisationsbezug des Herrschens und Beherrschtwerdens mit ihm zu treten. Autopoiesis und Selbstproduktion ergeben sich aus die-
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ser Kombination von Beharrung und aktivem Ausgriff. Herder kann hier unschwer die neuplatonische Trias von monè, proodos, epistrophè, Beharrung, Hervorgehen und Rückwendung oder, wie in Gott, Beharrung, Vereinigung/Scheidung, Verähnlichung (vgl. Gaier 1993, 93) einbringen und die sogenannte Vereinigungsphilosophie begründen, die eine der zentralen Denkfiguren für H. darstellt. Dies ist auch gleichzeitig die Grundlage des von Herder in Gott dynamisierten Spinozismus: Beharrend, allgegenwärtig außerhalb Raum und Zeit ist das unendlich-ewige Eins, das uns als »Ozean« von Da-Sein umgibt, in dem alles zusammenhängt und das alles beseelt und belebt; hervorgehend in die Scheidung, Trennungen, Verbindungen des Alles ist das, was uns individuiert als raumzeitliche Welt umgibt, wo wir als erkennende Subjekte unterscheiden und auf uns selbst reflektieren; vereinigend oder verähnlichend ist die Rückwendung zum Ursprung, die Reflexion der Reflexion, die in der »Einheit des Einigen« (StA 4, 249) das Eins und das Alles vereinigt, den Allzusammenhang und die Selbständigkeit zugleich fasst. Es liegt auf der Hand, dass H. diese von Herder dynamisierte, mit naturphilosophischen, neuplatonischen und spinozistischen Elementen angereicherte Systemtheorie seiner eigenen Philosophie zugrunde gelegt und in seiner Poetik, Geschichtsphilosophie, Theologie, Kultur- und Gesellschaftstheorie verwendet hat. Über den konjekturalen Charakter der Theorie in Anwendung auf geisteswissenschaftliche und psychologische Aussagen waren sich beide im Klaren: daher die mythische Darstellungsform in vielen Bereichen; es handelt sich um Neue Mythologie, die sich den probabilistischen Status ihrer Theorieentwürfe im Bewusstsein hält (vgl. z. B. die »nothwendige Willkür des Zevs« als »der ideale Anfang der wirklichen Trennung«, StA 4, 269). Theologisch lässt sich mithin für Herder die Gottheit als »Zusammenhang aller Dinge« definieren (KHA 6, 162 f.); der Begriff des Zusammenhangs als »höherer mehr als mechanischer Zusammenhang«, »ein höherer unendlicherer Zusammenhang«, den der Mensch als »seinen durchgängigern Zusammenhang mit dem Elemente, in dem er sich regt, auch durchgängiger empfindet« (StA 4, 275 f.), dieser Begriff spielt in ›Über Religion/Fragment philosophischer Briefe‹ die tragende Rolle. Diesen Zusammenhang zu empfinden, sich vorstellend daran zu erinnern, dafür dankbar zu sein ist der Grund für die Bildung von Mythen und individuellen Religionen bei H., denn die vorstellende Erinnerung muss sich der Elemente der Lebenssphäre bedienen, in der als Epiphanie jener hö-
here Zusammenhang erfahren wurde so, dass die physischhistorischen Elemente moralisch und geistig, die intellektuellen Elemente wundersam verwirklicht erschienen, »intellectuell historisch, d. h. Mythisch« (StA 4, 280) transformiert vorgestellt werden müssen, um den allverwandelnden Charakter dieses höheren Zusammenhangs in der Vorstellung erinnerbar zu machen (s. Kap. 19). Herder hatte sich von seinen frühen Schriften an mit Mythologie befasst; die mythische Intertextualitätstheorie Vom neuern Gebrauch der Mythologie in der 3. Sammlung der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur war nicht nur für Goethe, sondern auch für H. von den Tübinger Hymnen an prägend. Insbesondere ist es die Forderung einer neuen Mythologie auf der Basis der zeitgenössischen Wissenschaften – der »neuere Gebrauch« tradierter Mythologie ist nur Behelf für den phantasiearmen Modernen –, die Herder in dem Riesenwerk der Ideen zu erfüllen suchte, wo er »Philosophie« und »Geschichte« durch wahrscheinlichste Konjekturen, intellektuell-historische mythische Entwürfe zusammenzuführen unternahm. Davon waren für H. die Ideen zur mythischen Geographie etwa der Flussläufe als HieroglyphenVorzeichnung menschlicher Kultur und zur »ausdrüklichen Bauart« des Erdballs (vgl. StA 2.1, 253, V. 47) besonders bedeutsam und haben seine ganze Fluss- und Stromdichtung, die Bedeutung der Alpen und des Meers unmittelbar inspiriert (Ideen I, Kap. 6). Mythische Idee ist auch Herders Geschichtstheorie vom »Gang Gottes über die Nationen« seit der Bückeburger Geschichtschrift, die H. aufnimmt mit Formulierungen wie »Doch, wie der Frühling, wandelt der Genius/ Von Land zu Land« (StA 2.1, 4), oder: »so kam/ Das Wort aus Osten zu uns,/ Und an Parnas sos Felsen und am Kithäron hör’ ich/ O Asia, das Echo von dir und es bricht sich/ Am Kapitol und jählings he rab von den Alpen// Kommt eine Fremdlingin sie/ Zu uns, die Erwekerin,/ Die menschenbildende Stimme.« (StA 2.1, 126)
Ganz in Herders Sinne ist die seit den Fragmenten unermüdlich betonte Individualität der kulturellen Entwicklung der Nationen, mit der er z. B. im Shakespeare-Aufsatz die Differenz griechischer und shakespearescher Tragödien und die Einheitlichkeit ihrer tragischen Wucht erklärte. Entsprechend stellte H. im Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben fest, »daß wir im Urgrunde aller Werke und Thaten der Menschen uns gleich und einig fühlen mit
11 Rousseau, Schiller, Herder, Heinse
allen, sie seien so groß oder so klein, aber in der besondern Richtung die wir nehmen« von allen unterscheiden (StA 4, 222). So noch in dem Brief an Böhlendorff: »Ich [...] weiß nun daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen.« (StA 6.1, 426) Im Shakespeare-Aufsatz setzte Herder die Tendenz der Griechen in die Vervielfältigung des Einfachen, der Moderne in die Vereinheitlichung des Mannigfaltigen; er nahm auch mit Montesquieu an, »durch seine Liebe zum Schönen ging Griechenland unter« (KHA 7, 396, vgl. StA 2, 228). Die für H.s Spätwerk entscheidende Theorie vom orientalischen (Nietzsche: »dionysischen«) Grund der griechischen Kultur, von der mit Homer eingeleiteten Schule der (»apollinischen«) Nüchternheit, umgekehrt die Lehre vom verstandesmäßig prosaischen Grund der modernen Kultur und der mit dem Christentum eingeleiteten Schule des Pathos, des Leidens und der Leidenschaft entspricht insoweit der bei Condillac, Young und vor allem Herder in den Fragmenten dargelegten Theorie der Kulturentwicklung und der bei Herder intendierten Leidenschafts- und Phantasie»Diät« für die allzu prosaisch werdenden Deutschen. H. ganz eigen ist die Anwendung der dialektischen Bewegung von Beharrung, Hervorgehen und Rückwendung auf die Entwicklung einer Kultur: Wenn, wie gesagt, Griechenland am Übermaß des »Apollinischen« zugrunde ging, so hätte es sich rechtzeitig zu seinem nationellen orientalischen Grund zurückwenden müssen, um ihn nun in Freiheit zu gebrauchen. Entsprechend müssen die prosaischen Abendländer zum freien Gebrauch des nüchtern Verstandesmäßigen zurückkehren, um ein echtes Maximum ihrer Kultur zu erzielen; daran arbeitet H. mit seinen Vaterländischen Gesängen (s. Kap. 32). Herders Anwendung der Systemtheorie auf zwischenmenschliche Beziehungen in Liebe und Selbstheit war von größter Bedeutung für H.s Konzeption von Freundschaft und Liebe im Hyperion sowie für die Beziehung zwischen Empedokles und den Agrigentinern. Der Hyperion ist der einzige Bildungsroman, in dem die Protagonisten einander gegenseitig bilden und verändern und so ein sich dynamisch veränderndes Beziehungssystem darstellen. So auch Empedokles und das Volk der Agrigentiner. Herders Abhandlung Haben wir noch das Publikum und Vaterland der Alten? in der 5. Sammlung der Humanitätsbriefe ist wie das Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft in der 2. Sammlung eine wichtige Anregung für
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die Nachweisbarkeit des »höheren Zusammenhangs« und »gemeinsamen Geistes« in großen Gruppen von Menschen, in Städten, Ländern, Nationen, ja, mit Herders Argument vom wachsenden Zusammenhang von Wissenschaft und Buchkultur, weltweit und zeitenübergreifend. Für die Bildungstheorie ist der Organisationsbe griff bei Herder und bei H. zentral. Für H. ist seit der Vorrede zum Fragment von Hyperion der Weg des Menschen ontogenetisch und phylogenetisch die Herstellung eines »Maximums« der Kräfte und Bedürfnisse oder, allgemeiner, der gegenstrebigen Tendenzen im Menschen aufgrund eigener bewusster Leistung als »Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind.« (StA 3, 163) Muster dieses Maximums ist die bei unentwickelten Kräften und Bedürfnissen ohne unser Zutun von der Natur hergestellte Organisation, deren idealer Zustand der des Zusammenstimmens der Kräfte und Bedürfnisse mit sich selbst und der Umwelt im Maximum wäre, wenngleich er in der Realität nicht vorkommt. Mit den zwei Tendenzen des Überallem-Seins und Inallem-Seins benennt H. die organismischen Tendenzen des superat et superatur, die Gefahren der Einseitigkeit und das Glück der Ausgeglichenheit. H. treibt jedoch die Analyse des Bildungswegs mit den Vorstellungen der Tendenzen, der Zurechtweisungen, der exzentrischen Bahn, der reflexiven katastrophè in der Mitte viel weiter im Sinne eines gesetzmäßigen Ablaufs als Herder dies im Allgemeinen tut. In der Bückeburger Geschichtschrift verwendet er allerdings die von ihm in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts dargestellte Schöpfungshieroglyphe als Strukturprinzip der Geschichte und deutet Geschichte damit als Selbstschöpfung des Menschen; in den Ideen ist zwar regional, etwa in der Kapitelanordnung eines Buches, die Anwendung der Schöpfungshieroglyphe zu erkennen, nicht aber in der Geschichte als Gesamtprozess, was allerdings mit dem unvollendeten Status des Werks zu tun haben kann. H. wendet die dreifach triadische dialektische Schöpfungshieroglyphe nicht nur auf die Bildungsgänge und Geschichtstheorien im Hyperion an, sondern benutzt diesen naturpoetischen Konjektural-Kalkül extensiv in seinen Dichtungen und theoretischen Schriften (vgl. Gaier 1993, Register, 494), wie übrigens Goethe, Jean Paul, Friedrich Schlegel, Novalis, Wackenroder und andere. Kaum zu überschätzen ist endlich der Einfluss von Herders Sprach-, Ausdrucks- und Dichtungstheorie auf H.; die Wechselbeziehung von Denken und Sprache, wie Herder sie annahm, war für ihn der Einsatz-
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
punkt einer Volkserziehung der Deutschen aus der prosaischen Reduktion zur Totalität des mit Sinnen, Leidenschaften, Phantasie und Verstand die Welt begreifenden »ganzen Menschen«, wie ihn die Fragmente anvisierten. Auf diesem Prinzip beruht noch der Wink für Darstellung und Sprache in der ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ (s. Kap. 19 und 24) und die Überlegungen zu Zeichen, Schriften, Buchstabe, Deutung in den späten Gesängen. Herders Ausdruckstheorie in der 3. Fragmentsammlung versucht die besondere Leistung poetischer Zeichen als unlösbarer Verbindung von Gedanke und Ausdruck unter den Schriftlichkeitsbedingungen der Moderne deutlich zu machen; H. leitet daraus die Dialogizität seiner Tonlehre (s. Kap. 15) ab, in der immer ein Doppelverhältnis von Grundton und Richtungston (»Kunstkarakter«) hörbar sein muss. – Herder lieferte in dem für die Magisterarbeit studierten Geist der Ebräischen Poesie eine vollständige Poetik (inclusive »Wechsel der Tonart«, vgl. Gaier 1993, 27–29), die H.s Lösung von Klopstock, Stolberg und Schiller in den Tübinger Hymnen ermöglichte. Für die Gattungsdefinitionen von Ode, Elegie und Epigramm fand H. bei Herder umfassendere Grundlagen als bei Sulzer oder noch bei Schiller (vgl. Gaier 1993, Register 448 f.); diese Bestimmungen rekonstruierte er theoretisch und gab ihnen Präzision und anthropologisch-poetologischen Sinn. Herder ist – um es zusammenzufassen – in der Fülle der Gebiete, auf denen H. ihm in seinem universalen Werk begegnete, einer der wichtigsten Anreger für H. gewesen.
11.4 Wilhelm Heinse Das Motto der Hymne an die Göttin der Harmonie ist aus Heinses Roman Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert (1787) entnommen: »Urania, die glänzende Jungfrau, hält mit ihrem Zaubergürtel das Weltall in tobendem Entzücken zusammen.« Die Elegie Brod und Wein ist Heinse gewidmet und fingiert ein Gespräch mit ihm; der Gesang Der Rhein war ursprünglich Heinse gewidmet und wurde erst nach dessen Tod »An Isaak von Sinclair« umadressiert. Noch ein spätes Fragment spricht offensichtlich von Heinse als »Mein ehrlich Meister« (StA 2.1, 252). Bis vor kurzem hat die H.-Forschung nur den einseitig als Apostel der Sinnlichkeit und Ekstatiker gesehenen Heinse des Ardinghello in seinem ›Einfluss‹ auf H. beachtet; ganz übersehen wurde der Musikroman Hilde-
gard von Hohenthal, in drei Bänden zwischen Oktober 1795 und Sommer 1796 erschienen, von denen der zweite, der Freundin Susette Gontard gewidmet, auf dem Tisch des Hauses lag, als H. seinen Dienst in Frankfurt antrat. Vielleicht lernte H. Heinse schon bei einem der Besuche in Frankfurt bei Sömmerrings und Gontards kennen; jedenfalls stieß Heinse, als das Heranrücken der französischen Truppen für Susette, die zwei Kinder und die zwei Erzieher eine Flucht aus Frankfurt geraten sein ließen, in Kassel zu der kleinen Gruppe, blieb auch in Bad Driburg und auf der Rückreise dabei, so dass H. vom 25.7.1796 bis Ende September Heinse täglich sehen und sprechen konnte. Eine grundlegende Umstellung seiner Poetik, die auf selbständige Anwendung von Heinses Musiktheorie auf die Dichtung zurückführbar ist, lässt sich unmittelbar danach in der Figurenkonstellation und in der Sprache des endgültigen Hyperion feststellen, dessen erster Band im Frühjahr 1797 an Cotta geliefert wurde (T 3, 185–223). Schon der Ardinghello gab H. viel zu denken, zunächst durchaus im gegenläufigen Sinne. Während Heinses Held als »Kernmensch« gestaltet ist, Künstler, Draufgänger, Frauenheld, Staatengründer einer Renaissance, von der noch Jakob Burckhardt zehrte, ist Hyperion in fast jeder Hinsicht das Gegenteil, als elegischer, konsequent moderner Charakter konzipiert. Auch Heinses Frauengestalten einschließlich Hildegards, einer starken Frau in ihren Entscheidungen und Handlungen, haben Diotima nichts gegeben. Kein Wunder also, dass Heinse über den HyperionDichter urteilt: »An Komposition poetischer Wahrscheinlichkeitscharaktere ist er bis jetzt freilich noch ein so ziemlich ungelecktes Bärlein.« (StA 7.2, 113) Was H. am Ardinghello faszinierte, war die in dem Werk vor allem von dem Philosophen Demetri vertretene Lehre eines modifizierten Spinozismus. Heinse hatte 1783–1786 in Pempelfort bei den Brüdern Jacobi gelebt und die ersten Diskussionen über den Spinozismus Lessings, über Jacobis Spinoza-Büchlein (1785) und den folgenden Streit aus nächster Nähe miterlebt, so dass der Ardinghello für H. eine wichtige Anregung wurde, vor allem für die dynamische Modifikation des auch von Heinse als statisch abgelehnten spinozistischen Systems. Der Genuss, das Schöne, die Sinnlichkeit, die Ekstase fehlen Heinse bei Spinoza, und so wandelt er zunächst wie schon Lessing die Substanz Spinozas in ein ›Hen kai Pan‹, dieses in den Gegensatz von Wesen und Form und die empedokleische Zyklik von Auflösung und Gestaltung. Im Gestaltungsprozess entstehen die Elemente Wasser, Luft, Erde, Feuer,
11 Rousseau, Schiller, Herder, Heinse
entstehen Pflanzen, Tiere und Mineralien, der »Vater Äther, aller Lebengeber« durchströmt alles; die »bildende Kraft liegt in dem Wesen und ist ein Streben nach Genuß« (Heinse 1975, 304). Das ist es ja auch, was H. das Motto vor die Hymne an die Göttin der Harmonie setzen ließ: das »tobende Entzücken« des Genusses zusammengehalten vom Zaubergürtel der Ordnung und Schönheit. Der Wunsch des Menschen ist, »Eins zu sein und Alles zu werden, was uns in der Natur entzückt« (ebd., 309); diese Beziehung auf das Eins und Alles erzeugt verschiedene Formen von Religion – die des Eins, »die allerreinste Weltmonarchie«, die sich auch im Christentum zeigt, und die des Eins-und-Alles, die sich in verschiedenen Formen der »Aristokratie«, die des reinen Alles, die sich in atomistischer »Demokratie« des Göttlichen ausbildet. Von hier ist es nicht weit zu der begeisterten Rede Diotimas in Hyperions Jugend (StA 3, 224), zu der Erd- und Sonnenreligion im Hyperion oder den Hexameterhymnen An den Frühling, An den Aether, Der Archipelagus; auch die großen Strommythen der späten Gesänge sind vorbereitet, wenn sie auch ihren weltund kulturgeschichtlichen Sinn erst durch Einbezug von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit erhalten. Denn obwohl Heinses Romane jeweils auch räumlich eine historische Kultur-Rückkehr beschrieben – die bildende Kunst der Renaissance wendet sich nach Griechenland zurück, die Musik der Gegenwart orientiert sich an der italienischen Musik der Renaissance (vgl. Gaier 1998) –, blieben sie angesichts der leidvollen Probleme der Gegenwart, die H. bedrückten und denen er als Dichter antworten wollte, eigentümlich stumm. Das scheint H. Heinse auch vorgetragen zu haben, dem er bei aller Verehrung »Kindereinfalt« attestierte (T 3, 186 f.) und den er mit der Frage »Wozu Dichter in dürftiger Zeit?« provozierte, entweder das höhere Geheimnis hinter seiner »Einfalt« und historischen Sorglosigkeit aufzudecken oder endlich zum Bewusstsein der Notwendigkeit des Leides in der Welt zu kommen. Denn von dem Griechenland, das Ardinghello utopisch aufrichtet, war realiter wenig mehr da als Schutt, die alte Freiheit und Religiosität waren unterdrückt, und Neues Revolutionäres zu versuchen endete, wie der Hyperion realgeschichtlich ins Gedächtnis gerufen hatte, in noch stärkerer Unterdrückung. »Heinse« gibt denn auch in Brod und Wein eine das sprechende Ich zwar tröstende, aber immer noch eigentümlich unhistorische »einfältige« Antwort: Die Dichter in der dürftigen Zeit sind wie Christus- oder Dionysospriester in der Zeitennacht unter-
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wegs, um mit den gestifteten Zeichen Brot und Wein das Gedächtnis an die Anwesenheit der Götter, das Gelingen eines kulturellen Zusammenhangs zu wahren und die Hoffnung auf ein neues kulturelles Maximum wachzuhalten. Diese Aufgabe macht das Tun der Dichter zwar sinnvoll, aber sie trägt nicht zu der Veränderung der Lage bei, die Heinse offenbar sogar der Mitwirkung der Menschen entzogen annahm, so jedenfalls die Position des zum Geschichtsmoment und seiner Deutung Stellung nehmenden »Heinse« am Ende der Elegie. Das mag auch die Haltung des zunächst in Der Rhein angeredeten Heinse erklären – für den später Sinclair (s. Kap. 5) und/oder Rousseau (s. Kap. 11) eingesetzt wurden. Heinse, der sich selbst gern mit dem Rhein identifizierte (Böschenstein, HJb 26), wird hier von den Halbgöttern abgesetzt und als Fremder bezeichnet, der aus heiliger Fülle bacchantisch spricht (vgl. die Dionysos-Priester in Brod und Wein) und, plötzlich durch das herkulische Übermaß der Aufgabe erschreckt, sich im Wald versteckt und bei Nachtigallen Nachtgesänge lernt (V. 139–165). Heinse, der im Ardinghello mit der Neugründung eines Idealstaats wenn auch utopisch, so doch deutlich politisch argumentiert hatte, wandte sich mit den Nachtigallenliedern seines Musikromans nach der Französischen Revolution politisch neutralen Themen zu und zog sich beim Einmarsch der Franzosen mit der kleinen Flüchtlingsgesellschaft um Susette Gontard in den Teutoburger Wald zurück, um mit H. den Schauplatz der Hermannsschlacht zu besuchen und damit einer vaterländischen Befreiungstat zu gedenken. Heinses Haltung zur Französischen Revolution ist umstritten – aus H.s Deutung lässt sich eher die Hoffnung auf Selbstbestimmung der Deutschen unabhängig von der Einflussnahme Frankreichs erschließen, die H. seit seinen Rastatter Enttäuschungen ohnehin suspekt war. Das Lernen bei Nachtigallen, das Singen in kultureller ›Nacht‹ in Vorbereitung des erhofften vaterländischen Tags ist in der Tat etwas, das H. und Heinse im Teutoburger Wald besprochen haben müssen. Denn unmittelbar nach H.s Rückkehr greift jene Veränderung der Poetik, von der die Rede war: die Lehre vom Wechsel der Töne wird konzipiert und bildet das Konstruktionsprinzip der Figuren und Figurenbeziehungen im Hyperion wie auch der Darstellung im laufenden Text des erzählenden Hyperion, darüber hinaus sind die Gedichte und der Empedokles, H.s poetisches Schaffen bis in die letzte Homburger Zeit danach gestaltet, wie noch die Kurzformulierungen über den gesetzlichen Kalkül am Anfang der Anmerkun-
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
gen zu beiden Sophokles-Übersetzungen (s. Kap. 27) erkennen lassen. Auf Heinses Plädoyer in der Hildegard von Hohenthal hin verwendete H. von Ende 1796 an mit Ausnahme der wenigen Absage-Gedichte an Schiller und eines Geburtstagslieds für Landauer keine Reime mehr, sondern antike Metren oder die prosaischen Verse der Vaterländischen Gesänge, offenbar nach der Klopstockschen Wortfuß-Metrik organisiert, die Heinse im 2. Band der Hildegard von Hohenthal mit Klopstocks Charakterisierung der Stimmungswerte der einzelnen Wortfüße reproduziert und deutscher Dichtung und ihrer Vertonung zugrunde gelegt wissen wollte (HJb 31, 129–138). Besonders wichtig war aber Heinses Musiktheorie für H., denn sie gestattete das aus der Rhetorik altbekannte Prinzip der »Abwechslung des Tons« aus dem Status der bloßen gefühlsmäßigen Anmutung in eine systematische Darstellung zu überführen. Heinse interpretierte musikalische Intervallschritte und mithin Tonzusammensetzungen zu Akkorden als Spannungszustände relativ zu einem jeweiligen Grundton. Heinses Beschreibungen können hier nicht wiederholt werden, vor allem aus der Beschreibung der mit den verschiedenen Tonarten gegebenen Modifikationen von Terzen und Quinten (Heinse ging von nichttemperierter Stimmung aus) werden die Beschreibungen H.s für den naiven, den heroischen, den idealischen Ton mit den Modifikationen besonders des heroischen und des idealischen Tons deutlich. Klar wird außerdem, dass immer mindestens zwei Töne hörbar sein müssen, Grund und Ausdruck oder Richtung, denn immer geht es darum, das Intervall als die Anoder Abspannungsstufe als Energie hörbar zu machen; »traurigfroh« oder »zärtlichgroß« sind besonders dichte Formulierungen solcher Energie-Intervalle. Es ist zu vermuten, dass H. die Sprache auf allen Ebenen auf diese von Heinse als Grundlage der Musik (die ohnehin schon als allgemeinste Sprache galt) entdeckte Systematik der Energien bezog und demnach wie Heinse die Metren und Wortfüße als Spannungsund Lösungsprozesse begriff, die den Körper unmittelbar erfassen und mit Minimalbewegungen wie ein Instrument zum inneren Tönen bringen; sicher fasste er Metaphern, Allegorien, »kühnere fremdere Gleichnisse« als Spannungsformen einfach auszudrückender Vorstellungen und Benennungen auf; sicher fasste er Inversionen, Formen der Umwendung (Katastrophé), Sprünge und Brüche als Spannungszustände des Denkens auf, so dass sich die im Gedicht auf allen Sprachebenen komponierten energetischen Zustände und Prozesse dem Menschen als Lebenskraft und Da-
seinsmacht vom Körper über die Gefühle und Vorstellungen bis ins Denken mitteilen. Dieser Grund und eigentliche Sinn von H.s Poetik bedarf noch der umfassenden Untersuchung; als sicher kann gelten, dass die mit Heinse über zweieinhalb Monate geführten musiktheoretischen, poetologischen und vaterlandsbezogenen Gespräche ursächlich für die radikale Wandlung von H.s Poetik waren und die Formel »Mein ehrlich Meister« rechtfertigen. Literatur
Böschenstein, Bernhard: Die Transfiguration Rousseaus in der deutschen Dichtung um 1800: H. – Jean Paul – Kleist, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1 (1966), 101– 116. Böschenstein, Bernhard: »Was nennest du Glück, was Unglück ... mein Vater!« Heinse in H.s Dichtung, in: HJb 26 (1988/89), 1–19. De Man, Paul: H.s Rousseaubild, in: HJb 15 (1967/68), 180– 208. Gaier, Ulrich: H. Eine Einführung, Tübingen 1993. Gaier, Ulrich: H. und die Theorie der Organisation. Eine Skizze, in: Text und Kritik, Sonderband VII/96 (1997), 51–61. Gaier, Ulrich: Herders Systemtheorie, in: AZP 23 (1998), 3–17. Gaier, Ulrich: »Mein ehrlich Meister«. H. im Gespräch mit Heinse, in: Theile, Gert (Hg.): Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst, München 1998, 25–54. Gaier, Ulrich: »an der warnenden Stelle«. H. und Rousseau, in: Hölderlin Texturen 1.2 (2017), 416–433. Heinse, Wilhelm: Ardinghello und die glückseligen Inseln, hg. v. Max L. Baeumer, Stuttgart 1975. Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden [KHA], hg. v. Günter Arnold u. a., Frankfurt a. M. 1985–2000. Link, Jürgen: H. – Rousseau: Inventive Rückkehr, Opladen 1999. Link, Jürgen: »Trauernder Halbgott, den ich meine!« H. und Rousseau, in: LiLi 63 (1986), 86–114. Link, Jürgen: Spiralen der inventiven ›Rückkehr zur Natur‹. Über den Anteil Rousseaus an der Tiefenstruktur des Hyperion, in: Bay, Hansjörg (Hg.): Hyperion – terra incognita. Expeditionen in H.s Roman, Opladen 1998, 94–115. Link, Jürgen: Äther und Erde. Naturgeschichtliche Voraussetzungen von H.s Geologie, in: HJb 35 (2006/07), 120– 151. Martin, Wolfgang: Mit Schärfe und Zartheit. Zu einer Poetik der Sprache bei H. mit Rücksicht auf Herder (Literatur und Reflexion NF 6), Bonn 1990. Metzger, Stefan: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert, München 2002. Mounier, Jacques: La fortune des écrits de Jean-Jacques Rousseau dans les pays de langue allemande de 1782 à 1813, Paris 1980. Nickel, Peter: Die Bedeutung von Herders Verjüngungs-
11 Rousseau, Schiller, Herder, Heinse gedanken und Geschichtsphilosophie für die Werke H.s, Masch. Diss. Kiel 1963. Raynal-Mony, Gérard: H. et Rousseau (Thèse, unveröffentl.), Paris 1975. Scharfschwerdt, Jürgen: H.s ›Interpretation‹ des Contrat social in der Hymne an die Menschheit, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), 397–436.
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Ulrich Gaier
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
12 Kant, Fichte, Schelling 12.1 Kant »Philologiae, inprimis graecae, et philosophiae inprimis Kantianae, et litterarum elegantiorum assiduus cultor.« (StA 7.1, 479) Mit diesem Satz wird H. im Tübinger Abgangszeugnis von 1793 sein herausragendes Interesse an der griechischen Literatur und der Philosophie Kants bestätigt (s. Kap. 3 und 10). Und auch der Repetent am Tübinger Stift, Carl Philipp Conz, und H.s Freund Christian Ludwig Neuffer erinnern sich noch 1829 an H.s Tübinger Hymnen (s. Kap. 28) als »hervorgegangen aus einem vieljährigen Streben, abstracte Ideen, besonders von Plato und Kant, ins Gewand der Dichtkunst zu hüllen« (StA 7.1, 457). Und an Hegel schreibt H. im Juli 1794 aus Waltershausen: »Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lectüre. Mit dem ästhetischen Theile der kritischen Philosophie such’ ich vorzüglich vertraut zu werden.« (StA 6, 128; vgl. ebd., 84) In H.s Nürtinger Büchernachlass sind nur zwei Schriften von Kant verzeichnet: Die Critik der reinen Vernunft in der dritten Originalausgabe von 1790, die sich nur geringfügig von der zweiten Auflage (1787) unterscheidet und die Critik der Urtheilskraft in einem Nachdruck der Erstausgabe (1790) von 1792 (vgl. StA 7.3, 390). In einem Brief vom 16. Januar 1794 erwähnt H. »die neuste Schrift von Kant«, also Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), die die Gesellschafterin von Charlotte von Kalb, Wilhelmine Kirms (s. Kap. 4), bei ihm abgeholt habe (StA 6, 105 und 655–658). Demnach hatte entweder H. selbst oder Charlotte von Kalb die Schrift gekauft. Überdies war H. auch mit Kants Moralphilosophie schon früh vertraut, wie seine mehrfachen Appelle an das Pflichtbewusstsein praktischer Vernunft in Briefen an den Bruder Karl Gock bezeugen (vgl. Brief vom 21. August 1794 und vom 13. April 1795, StA 6, 131 und 162/163). Auch die theoretischen Texte H.s Über das Gesez der Freiheit (Es giebt einen Naturzustand ...) und Über den Begriff der Straffe sind als eigenständige Auseinandersetzungen mit Kants Moralphilosophie und dem Sittengesetz, das Kant zuweilen selbst als Gesetz der Freiheit bezeichnet, anzusehen (s. Kap. 24). H. erinnert sich in späteren Briefen an die ersten zögernden Schritte der Auseinandersetzung mit Kants Philosophie. So schreibt er 1795 aus Jena an den Bruder, dass er durch das »Studium der Kantischen Philosophie gewöhnt war, zu prüfen, ehe [er] annahm.« (StA 6, 164; vgl. StA 6, 254) So zögernd und bedacht H.
Kants Philosophie in seine Überzeugungen aufgenommen hat, so hat sich ihm »dieser herrliche Geist« doch immer mehr enthüllt (StA 6, 119), bis er ihn schließlich als den »Moses unserer Nation« begrüßt, der die Deutschen »aus der ägyptischen Erschlaffung in die freie einsame Wüste seiner Speculation führt, und der das energische Gesez vom heiligen Berge bringt.« (StA 6, 304) Johann Friedrich Flatt, Professor der Philosophie in Tübingen von 1785–1792, hat während H.s Studienzeit fast jedes Semester seit dem Sommersemester 1789 Vorlesungen angekündigt, in denen Themen der Philosophie Kants ausdrücklich Berücksichtigung fanden, wie aus dem Ordo praelectionum cum publicarum tum privatarum in perantiqua studiorum Universitate Tubingensi Eberhardino-Carolina für die Jahre 1788–1793 zu ersehen ist (s. Kap. 10). Mit Immanuel Carl Diez, der von 1790–1792 Repetent am Tübinger Stift war und den man als »kantischen enragé« bezeichnete (Henrich 1997, XXV), hatte die Begeisterung für Kants neue Philosophie in Tübingen eine Stimme, der sich Friedrich Immanuel Niethammer (»der sich nur meinen Freund nannte, da er doch auch mein Lehrer war«, so H. am 22. Dezember 1795 an Niethammer; StA 6, 190), anschloss. Doch gab es auch verhaltenere oder gar vehemente Gegenstimmen gegen die neue »Kantomanie« in H.s Freundes- und Wirkungskreis in Tübingen, wie die des Repetenten Carl Philipp Conz oder von Rudolf Magenau (vgl. StA 7.1, 389 und StA 7.2, 94). Kants Kritik der reinen Vernunft Magenaus Bericht über das Tübinger Studium, demzufolge Kants Philosophie die Köpfe schwindeln machte und »die Canzel wiedertönte von Zeit u. Raum, und dergleichen« (StA 7.1, 386), bezeichnet mit wenigen Worten die eigentümliche Spannung zwischen dem Ort theologischer Studien auf der Lehr- und Kirchenkanzel und dem, was dort nicht allein, aber auch gelehrt wurde, nämlich Kants kritische Grundlegung des Verstandes- und Vernunftdenken. In den frühen, überlieferten Texten H.s ist von Kants Lehre von Raum, Zeit und Kategorien zunächst jedoch wenig dokumentiert. Dafür scheint Kants Widerlegung der Beweise der traditionellen Metaphysik vom Dasein Gottes im 3. Hauptstück der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft und Friedrich Heinrich Jacobis wirkungsmächtiges Bekenntnis zum Glauben an einen personalen Gott für H. von großer Bedeutung gewesen zu sein. Der Mutter schreibt H. im Februar 1791:
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_12
12 Kant, Fichte, Schelling »Ich studirte denjenigen Theil der Weltweisheit, der von den Beweisen der Vernunft für das Dasein Gottes und von seinen Eigenschaften, die wir aus der Natur erkennen sollen, handelt, mit einem Interesse dafür, dessen ich mich nicht schäme, wenn es gleich auf eini ge Zeit mich auf Gedanken führte, die Sie vieleicht un ruhig gemacht hätten, wenn Sie sie gekannt hätten. Ich ahnete nemlich bald, daß jene Beweise der Vernunft fürs Dasein Gottes, und auch für Unsterblichkeit, so unvollkommen wären, daß sie von scharfen Gegnern ganz oder doch wenigstens nach ihren Haupt theilen würden umgestoßen werden können. In dieser Zeit fielen mir Schriften über und von Spinoza, einem großen edeln Manne aus dem vorigen Jarhundert, und doch Gottesläugner nach strengen Begriffen, in die Hände. Ich fand, daß man, wenn man genau prüft, mit der Vernunft, der kalten vom Herzen verlassenen Ver nunft auf seine Ideen kommen muß, wenn man nem lich alles erklären will. Aber da blieb mir der Glaube meines Herzens, dem so unwidersprechlich das Ver langen nach Ewigem, nach Gott gegeben ist, übrig. [...] Das ist seit einem Jare der Gang meiner Erkenntnisse von der Gottheit.« (StA 6, 63/64 und 578)
Welche Schriften der traditionellen Metaphysik, die das Dasein Gottes und der Unsterblichkeit zu beweisen suchen, H. außer Spinozas Ethik auch immer studiert haben mag, die Gedanken, die die Mutter beunruhigt hätten, dürften ganz wesentlich Kants Widerlegung der Möglichkeit eines Beweises vom Dasein Gottes geschuldet sein. Kant typisierte alle möglichen Gottesbeweise der spekulativen Vernunft nach drei Beweisarten, den physikotheologischen, den kosmologischen und den ontologischen (vgl. KrV AA 3, B 618/619). Er zeigt, dass keiner der drei Beweise der spekulativen Vernunft hinreicht, um das Dasein Gottes unwiderleglich zu beweisen. Dieses Resultat schließt jedoch auch die Tatsache ein, dass kein schlüssiger Beweis gegen die Möglichkeit der Annahme vom Dasein Gottes geführt werden könne. Die damit aufgewiesene Grenze der reinen spekulativen Vernunft in der Frage nach dem Dasein Gottes weist über sich hinaus auf die praktische Vernunft und die Moraltheologie, die, so Kant, »eine Überzeugung vom Dasein eines höchsten Wesens ist, welche sich auf sittliche Gesetze gründet.« (KrV AA 3, B 660, Anm.) Es war Jacobi, der Lessings Bekenntnis zu Spinozas Philosophie in seiner Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785, 1789 erheblich erweitert) öffentlich bekannt machte
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und damit den maßgeblichen Anstoß zu einer regen Auseinandersetzung mit Spinoza und dem Atheismus gab. H. hat aus der Schrift einige Seiten exzerpiert (vgl. StA 4, 207–210). Jacobi selbst verstand Spinoza als den konsequentesten aller dogmatischen Atheisten, gegen den nur ein »salto mortale« vom Kopf zurück auf die Füße möglich sei. Den leeren Abstraktionen dogmatischer Philosophie hält er als »Prinzip aller Erkenntniß [...] lebendiges Daseyn« entgegen, dass »unmittelbar durch das Bewußtseyn unserer eigenen Causalität, das ist, unseres Lebensprinzips« sich als Vernunft offenbart. Dabei ist es Jacobis Pointe, dass, um überhaupt Intelligenz anzunehmen, ein »durchaus unabhängiges, supramundanes und persönliches Wesen gedacht werden muß, als das erste und einzige Prinzip, als das wahre Urwesen« (Jacobi, Spinoza 1789, 402 und 430). H. ließ sich offenkundig von Jacobis Bekenntnis zum Glauben des Herzens als Alternative gegen den kalten Verstand in Fragen der letzten Dinge leiten. Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft Einige Briefe und die kurzen Texte Über das Gesez der Freiheit und Über den Begriff der Straffe spiegeln H.s Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie wider. Da in H.s Nürtinger Büchernachlass keine Schrift Kants zur praktischen Philosophie verzeichnet ist, kann man nur mutmaßen, welche der Schriften Kants H. um diese Zeit studiert hat, ob also die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) oder die Kritik der praktischen Vernunft (1788); Kants Metaphysik der Sitten erschien erst im Januar und August 1797 in zwei Teilen. Mit Sicherheit aber studierte H. in Waltershausen auch Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (vgl. StA 6, 105), die sich ebenfalls mit Fragen der Moralität beschäftigt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass H. zunächst vor allem Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten studiert hat, da Kant dort explizit die Wendung »Gesetz der Freiheit« benützt, wie H. sie in seinem Fragment wiedergibt. Im ersten Absatz der Vorrede teilt Kant die materiale Philosophie (im Gegensatz zur formalen, der Logik) in zwei Gebiete ein, die entweder »Gesetze[n] der Natur, oder der Freiheit« folgten (AA 4, 387). Die Formel vom »Gesetz der Freiheit« findet sich auch in der Religionsschrift (vgl. AA 6, 23 Anm. und 191) und dann erst wieder in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten von 1797 (vgl. AA 6, 214). Seit der Zeit in Waltershausen mehren sich die Briefe, in denen H. auf den jüngeren Bruder, Karl
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
Gock, im Geist von Kants praktischer Philosophie belehrend und erziehend einwirken will. So unterrichtet er den Bruder im Brief vom 21. August 1794: »unter der unerschütterlichen Maxime, in Beurteilung aller möglichen Behauptungen und Handlungen, in Be urteilung ihrer Rechtmäßigkeit und Vernunftmäßigkeit schlechterdings keine Autorität anzuerkennen, son dern selbst zu prüfen, unter der heiligen unerschütterli chen Maxime, sein Gewissen nie von eigner oder frem der Afterphilosophie, von der stokfinstern Aufklärung, von dem hochwolweisen Unsinne beschwazen zu las sen, der so manche heilige Pflicht mit dem Namen Vor urteil schändet« (StA 6, 131; vgl. ebd., 162/163).
H. weist hier auf die für Kants praktische Philosophie bezeichnende Unterscheidung der bloßen Legalität und der eigentlich anzustrebenden Moralität im Sittlichen hin, die in den beiden Fragmenten Über das Gesez der Freiheit und Über den Begriff der Straffe explizit zum Austrag kommt: »Das erstemal, daß das Gesez der Freiheit sich an uns äußert, erscheint es strafend. Der Anfang all’ unsrer Tugend geschieht vom Bösen. Die Moralität kann also niemals der Natur anvertraut werden. Denn wenn die Moralität auch nicht aufhörte Moralität zu sein, so bald die Bestimmungsgründe in der Natur und nicht in der Freiheit liegen, so wäre doch die Legalität, die durch blose Natur hervorgebracht werden könnte, ein ser unsicheres, nach Zeit und Umständen wandelbares Ding.« (StA 4, 212)
Kants Ästhetik in der Kritik der Urteilskraft Ein wichtiges Zeugnis von H.s Beschäftigung mit Kant ist die Nachricht seines Plan zu einem Aufsatz für Conz’ Journal Museum für die griechische und römische Litteratur. Nachdem H. schon im Mai Kant als seine einzige Lektüre bezeichnet und im Juni außer der Lektüre der Kantischen Philosophie nur noch die Griechen nennt (vgl. StA 6, 119 und 120), schreibt er am 10. Oktober 1794 an seinen Freund Neuffer: »Vieleicht kann ich Dir einen Aufsaz über die ästhetischen Ideen schiken; weil er als ein Kommentar über den Phädrus des Plato gelten kann, und eine Stelle des selben mein ausdrüklicher Text ist, so wär’ er vieleicht für Konz brauchbar. Im Grunde soll er eine Analyse des Schönen und Erhabnen enthalten, nach welcher die Kantische vereinfacht, und von der andern Seite viel
seitiger wird, wie es schon Schiller zum Theil in s. Schrift über Anmuth und Würde gethan hat, der aber doch auch einen Schritt weniger über die Kantische Gränzlinie gewagt hat, als er nach meiner Meinung hätte wagen sollen. Lächle nicht! Ich kann irren; aber ich habe geprüft, und lange und mit Anstrengung ge prüft.« (StA 6, 137)
H. stellt hier seinen ehrgeizigen Plan vor, die Schönheitskonzeptionen von Platon, Kant und Schiller verbinden und zugleich überbieten zu wollen (der Aufsatz ist freilich weder in Conz’ Journal noch an einem anderen Ort erschienen). Das ästhetische Urteil zeichnet sich nach Kant dadurch aus, dass es auf einem begriffslosen, interesselosen, zweckfreien Wohlgefallen beruht, das, obwohl subjektiv – weil nicht begrifflich, sondern durch ein Gefühl der Lust begründet –, gleichwohl allgemeingültig und einem jeden anzusinnen ist. Diese Bestimmungen waren für H.s Suche nach einem Leben und Geist tragenden Prinzip von höchstem Interesse. H. sieht jedoch über Kant und Fichte (s. Kap. 12) hinaus in der Schönheit ein höchstes Prinzipium alles Denkens und Handelns und zählt sie zu den »cacumina rerum« (StA 6, 206; vgl. ebd., 208). In der Vorrede zum Hyperion der vorletzten Fassung und in der Darstellung der philosophischen Reflexionen Hyperions beim Besuch der Ruinen Athens zusammen mit Diotima skizziert H. eine Konzeption im Ausgang vom Prinzip des Schönen, die Leben und Philosophie gleichermaßen tragen soll (vgl. StA 3, 76–90; vgl. zu diesem Brief auch Waibel 2017). Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft und die Antinomie der Freiheit »Daß Du Dich an die Religionsbegriffe machst«, schreibt H. in seinem Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, »ist gewis in mancher Rüksicht gut und wichtig. Den Begriff der Vorsehung behandelst Du wohl ganz paral lel mit Kants Teleologie; die Art, wie er den Mechanis mus der Natur (also auch des Schiksaals) mit ihrer Zwekmäsigkeit vereiniget, scheint mir eigentlich den ganzen Geist seines Systems zu enthalten; es ist frei lich dieselbe, womit er alle Antinomien schlichtet. Fichte hat in Ansehung der Antinomien einen ser merkwürdigen Gedanken, über den ich aber lieber Dir ein andermal schreibe. Ich gehe schon lange mit dem Ideal einer Volkserziehung um« (StA 6, 156).
12 Kant, Fichte, Schelling
H. spricht in seinem Brief an Hegel explizit zwei Kontexte an, in denen Antinomien eine Rolle spielen, die Vereinigung von Mechanismus und Zweckmäßigkeit, die den ganzen Geist von Kants System enthalte und Fichtes Gedanken über Antinomien, über die er ausführlicher zu schreiben verspricht. Überliefert ist eine solche Darstellung leider nicht. Auch in Hegels Philosophie nimmt die Thematik der Antinomien bald eine wichtige Rolle ein, die sein dialektisches Denken mitbestimmt. Es war jedoch H., der zuerst und mit bedeutsamer Geste auf Kants Teleologie und Kants und Fichtes Antinomik wies (vgl. dazu auch Waibel 2015 und Waibel 2017). Für diesen Zusammenhang kommt insbesondere Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft und die Dritte Antinomie von Notwendigkeit und Freiheit der Kritik der reinen Vernunft in Betracht. Schließlich ist auch H.s »Ideal einer Volkserziehung« im Hyperion im Licht der Antinomienproblematik zu skizzieren. Der Ort, an dem Kant eine Antinomie der teleologischen Urteilskraft ins Spiel bringt, um sie im Folgenden auch aufzulösen, oder, wie Hölderlin sagt, zu vereinigen, ist der Paragraph 70 (und die nachfolgenden) der Kritik der Urteilskraft. Nach Kant gibt es bei der teleologischen Betrachtung der Natur nur Maximen der Beurteilung, nicht aber kategorial bestimmte Gesetze des Denkens, wie etwa die der Kausalität. Gleichwohl kann es leicht geschehen, dass die Urteilskraft sich verleiten lässt, ihre regulativen Grundsätze bei der Betrachtung der Natur in konstitutive Sätze zu verwandeln, die sie wie objektive Prinzipien der Erkenntnis der Natur gebraucht und die in folgender Weise in Widerstreit geraten: 1. »Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muß als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden.« 2. »Einige Produkte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden (ihre Beurtheilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der Causalität, nämlich das der Endursachen).« (KU AA V, 387)
Die Allaussage des ersten Satzes geriete dann in Konflikt mit den besonderen Fällen, die im zweiten Satz thematisiert werden, wenn der erste den zweiten ausschließen würde, wie es vordergründig verstanden werden könnte. (Manche Forscher glauben ohnehin, dass hier keine echte Antinomie vorliegt; das kann hier nicht vertieft werden.) Nun ist Kant aber der Ansicht, dass der Kausalmechanismus der Natur zwar
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tatsächlich für alle Gegenstände der Natur gilt. Gleichwohl zeigt er in mehreren Argumentationsgängen, dass es Gegenstände in der Natur gibt, die durch den Kausalmechanismus nicht angemessen beurteilt werden können. Es sind dies die Lebewesen in der Natur, deren innere Organisiertheit als ein Verhältnis zu denken ist, in dem alle Teile zueinander, sowie das Ganze im Verhältnis zu seinen Teilen und umgekehrt sich wechselseitig Ursache und Wirkung sind. Selbst dann, wenn ein Organismus bis ins kleinste Detail nach dem Mechanismus der Natur bestimmt werden könnte, wäre er als Organismus, als Prinzip des Lebens nicht hinreichend bestimmt. Daher bedarf es des Beurteilungsprinzips der Finalursachen. Überdies sieht sich die Urteilskraft veranlasst, nicht bloß organisierte Lebewesen, sondern auch größere Einheiten, schließlich das Ganze der Natur durch die Annahme einer inneren Zweckmäßigkeit zu begreifen. Während der Kausalmechanismus eine objektiv geltende konstitutive Erkenntnis ermöglicht, führt die Zweckmäßigkeit der Natur zu einer objektiv bloß unbestimmten, daher nur regulativ geltenden Erkenntnis. Regulativ deshalb, weil sie nur die Verhältnismäßigkeit der Teile zu dem Ganzen zu bestimmen vermag, ohne ihren Ermöglichungsgrund, den Zweck oder die Idee des Ganzen und seiner Teile näherhin bestimmen zu können. Unter Angabe des jeweiligen Geltungsbereichs und seiner Grenzen lassen sich so causa efficiens und causa finalis vereinen, wie es Hölderlin in seinem Brief an Hegel nennt. Die causa efficiens kann einen höheren Grad der Verbindlichkeit ihrer Erkenntnis beanspruchen, vermag aber nur einzeln und in sukzessiven Reihen Relationen von Ursachen und Wirkungen zu bestimmen. Die causa finalis vermag nur Verhältnismäßigkeit mit unbestimmtem Grund zu stiften, kann dafür aber weit komplexere Zusammenhänge bis hin zum Ganzen der Natur gedanklich umfassen. Kants Dritte Antinomie der Kritik der reinen Vernunft stellt den Grundtypus dar, an dem sich auch die teleologische Antinomie orientiert. Erstere lässt zudem H.s »Ideal einer Volkserziehung« im Licht der Antinomienlehre besser verstehen. Die Sätze der Dritten Antinomie lauten: »Thesis. Die Causalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesammt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Causalität durch Freiheit zur Erklärung der selben anzunehmen nothwendig.« »Antithesis. Es ist keine Freiheit, sondern alles in der
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.« (KrV AA III, B 472 f.)
Die Auflösung dieser Antinomie ist ähnlich strukturiert wie die des Mechanismus und der Zweckmäßigkeit der Natur. Die scheinbar kontradiktorisch einander ausschließenden Sätze lassen sich als bloß konträr verstehen und können unter anzugebenden Bedingungen nebeneinander bestehen. Kant zeigt, dass nicht bloß das Geschehen in der Natur, sondern auch alle Handlungen und Wirkungen von Handlungen, hervorgebracht durch den menschlichen Willen, ja selbst die Bestimmungsgründe des Willens selbst nach bloß kausalmechanistischen Gesetzen gedacht werden können müssen. Demnach ist der Satz richtig, wonach alles in der Welt bloß nach Gesetzen der Natur geschieht. Dennoch ist Kant der Meinung, dass die Gesetze der Natur die Handlungen der Vernunft und des menschlichen Willens nicht hinreichend erklären. Zu ihrer vollständigen Erklärung muss zusätzlich eine Kausalität der Freiheit angenommen werden, die der durchgängigen ersten Erklärungsart nicht widerspricht, sondern diese vielmehr ergänzt. Dies ist deshalb möglich, weil einerseits alle Wirkungen der Vernunft, seien sie bloß gedachte Gedanken oder Handlungsimpulse, die Wirkungen in der Welt der Erscheinungen zur Folge haben, in der Sukzession der Zeit oder gar im Auseinandersein der Erscheinungen des Raumes wirklich werden. Vernünftigkeit an sich als normative Verbindlichkeit, ja auch ihr Gegenteil, die Unvernunft, was immer ihr besonderer Gehalt sein mag, steht für Kant andererseits jedoch außer der Zeit. Willensäußerungen müssen daher sowohl zeitimmanent nach dem Zusammenhang der Naturgesetze in den Erscheinungen der Welt, als auch als Moment eines absoluten Anfangs in der Zeit nach dem Gesetz der Freiheit begriffen werden. Demnach gelten auch in dieser Antinomie beide Sätze gleichermaßen nach den je unterschiedlichen Bedingungen der Verstandeserkenntnis einerseits, der Vernunfterkenntnis andererseits. H.s Ideal der Volkserziehung im Licht von Kants Antinomie der Freiheit Wenn H. seine Mutmaßungen, Hegel gehe mit den Religionsbegriffen wie Kant mit der teleologischen Antinomie um, mit der Bemerkung beschließt, er selbst »gehe schon lange mit dem Ideal einer Volkserziehung um«, so drängt sich die Frage nach dem Zusammenhang dieses Ideals mit den vorausgehenden Überlegungen auf. H.s Ideal der Volkserziehung steht im
Brennpunkt mannigfaltiger Beziehungen, so zu Rousseaus (s. Kap. 11) Pädagogik, zu Fichte, zu Schiller. Im Hyperion wird deutlich, dass der Volkserzieher kein anderer als der Dichter ist. Die Antinomie von Notwendigkeit und Freiheit, die H. schon im Brief an Hegel anwendbar auf den Gang des menschlichen Lebens sah, wird im Wechsel der schicksalhaften Gegebenheit des Maschinengangs und der Not einerseits, in der gezielten Wendung des seiner Freiheit bewussten und sie ergreifenden Menschen gegen das schicksalhaft Gegebene andererseits entfaltet. Der Gegensatz von schicksalhaftem Mechanismus und der aus den Quellen der selbsttätigen Freiheit schöpfenden Subjektivität trägt Form und Gehalt des Hyperion. Der Protagonist muss lernen, dass selbst vernünftige Handlungsimpulse angesichts der überall herrschenden Not scheitern können, dass auch die Aufforderung Diotimas, Erzieher des eigenen Volks zu werden nicht genug ist. Am Ende, im letzten Brief, im Zustand tiefster Verzweiflung, erkennt Hyperion schließlich, dass ihm trotz der erlittenen Niederlagen durch eigenen Willensentschluss und durch eigene Kraft noch immer die Möglichkeit offen steht, seine eigentlichste Aufgabe, die des Dichters als Volkserzieher, zu ergreifen und zu realisieren. Kants Theorie der Freiheit, der zufolge ein neuer Anfang der Geschehnisse in der Zeit durch vernünftige Normen, die selbst nicht zeitlich verfasst sind, möglich ist, wird von H. bejaht, im Kunstwerk zur Form der inneren Entwicklung gemacht und zugleich überboten durch die gestaltgewordene Einsicht, dass die ästhetische Freiheit sich als ständig schaffender Prozess begreifen und instanziieren muss. Der Hyperion erkundet damit nicht zuletzt die Ermöglichungsbe dingungen des Dichters als Volkserziehers, die die »Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Karakter«, so die Vorrede des Hyperion (StA 3, 5), fordert. Kants Antinomienlehre und Fichtes Theorie der Wechselbestimmungen werden in H.s vielzitierten Worten des Romanschlusses in eins gefasst und dichterisch fortgedacht: »Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.« (StA 3, 160)
12.2 Fichte »Fichte ist jezt die Seele von Jena. Und gottlob! daß ers ist. Einen Mann von solcher Tiefe und Energie des Geistes kenn’ ich sonst nicht.« (StA 6, 139) Und Hegel
12 Kant, Fichte, Schelling
berichtet im Januar 1795 an Schelling: »H. schreibt mir zuweilen aus Jena, [...]; er hört Fichte’n und spricht mit Begeisterung von ihm als einem Titanen, der für die Menschheit kämpfe und dessen Wirkungskrais gewis nicht innerhalb der Wände des Auditoriums bleiben werde.« (StA 7.2, 19) Als Hofmeister bei Charlotte von Kalb zunächst in Waltershausen, dann in Jena und Weimar (s. Kap. 3) hatte H. Gelegenheit, im Wintersemester 1794/95 Fichtes Hörer zu sein und seine Schriften zu studieren (vgl. StA 6, 140, 141, 142 und 152). Fichte las nicht, wie zumeist üblich, nach einem schon verfügbaren Lehrbuch eines anderen Philosophen, wie es noch Kant zeit seines Lebens getan hatte, sondern er trug sein eigenes philosophisches System vor, das er nur wenige Monate vor seiner Berufung nach Jena im Winter 1793/94 in Zürich auszuarbeiten begonnen hatte. Da Fichte den gesamten Lehrstoff neu konzipierte, sah er sich veranlasst, die Arbeit an der allgemeinen praktischen Philosophie auf den Winter zu verschieben. Im Wintersemester 1794/95 kündigte er privatim 1. Theoretische Philosophie, 2. Praktische Philosophie und öffentlich eine Vorlesung »Über die Pflichten der Gelehrten« an. Hinzu kam ein philosophisches Konversatorium am Samstagnachmittag und eine weitere Vorlesung über »Logik und Metaphysik«, der Fichte die Philosophischen Aphorismen von Ernst Platner in der »ganz neuen Ausarbeitung« von 1793 (vgl. GA 2.4, 4) zugrunde legte. Sie ist als Platner-Vorlesung bekannt und diente auf Wunsch der Studenten als Hinführung zur Wissenschaftslehre (vgl. GA 3.2, 212). Da Fichte diese Vorlesung von Montag bis Freitag täglich abends von 6–7 Uhr hielt und H. davon spricht, abends in Fichtes Kolleg zu gehen, kann man mit großer Sicherheit annehmen, dass er die PlatnerVorlesung besucht hat, zumal es auch inhaltliche Gründe für diese Annahme gibt. Zu vermuten ist, dass H. auch das philosophische Konversatorium Fichtes besucht hat. Fichte hat im Wintersemester 1794/95 eine Vorlesung »Über die Pflichten des Gelehrten« erst vier Wochen nach Semesteranfang, am Sonntag, dem 9. November 1794, morgens von 9–10 Uhr zu lesen begonnen. Wegen der geltenden ›Sabbat-Mandate‹ geriet er mit dem Konsistorium in Konflikt und musste bis zur Beilegung des Streits im Februar 1795 die Vorlesung aussetzen (vgl. GA 1.3, 4–6 und 10). Ton und Gehalt von H.s Brief an Neuffer vom Anfang oder Mitte November 1794 über Fichtes Wirken in Jena (»Fichte ist jezt die Seele von Jena«, vgl. StA 6, 139) machen es sehr wahrscheinlich, dass er die Sonntagsvorlesungen im November gehört hat. In den erhalte-
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nen Teilen der Vorlesung spricht Fichte der Aufklärung und einer freiheitlichen Gesinnung emphatisch das Wort. Der akademische Lehrer und der Gelehrte hätten die Pflicht, sich durch Freiheit der Prinzipien des Wissens zu bemächtigen, und sie dann durch die Handlungsweise und durch Ausübung des Rechts unter den Menschen zu verbreiten. Fichte weist auf das seltene Gut der Möglichkeit einer freien Lehre in Jena im Vergleich mit anderen Städten, und wie leicht dies in Gefahr geraten könne, preisgegeben zu werden. Wiederholt betont er, dass die gegenwärtige freiheitliche Lehre einem liberalen Fürsten zu verdanken sei und wie bedrohlich nahe die vormalige Finsternis noch immer sei. Eindringlich appelliert er an die einsichtige Vernunft aller aufgeklärten Geister, die Freiheit immer mehr zu festigen (vgl. GA 2.3, 357–367). Dieser Vortrag und auch der nicht erhaltene zweite waren es wohl, die H. zu seinen begeisterten Äußerungen über Fichte veranlassten. »Fichte bestätiget mir« H. scheint in Jena manche Gelegenheit zur direkten philosophischen Auseinandersetzung mit Fichte gehabt zu haben. Prägnant dokumentiert dies H.s Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, der nach den Worten »Fichte bestätiget mir« (StA 6, 156) abgerissen und sein Inhalt daher nicht überliefert ist. Schon vom ersten Aufenthalt in Jena im November und Dezember 1794 berichtet H. von Fichte: »Ich hör’ ihn alle Tage. Sprech’ ihn zuweilen.« (StA 6, 140) Nach der Rückkehr aus Weimar Mitte Januar 1795 wohnte er »neben dem Fichtischen Hauße« (StA 6, 149) und mag auch durch die räumliche Nähe zu Fichte Gelegenheit zu gemeinsamen Gesprächen gehabt haben. Die diesen Worten vorausgehenden Überlegungen erlauben eine Rekonstruktion dessen, was Fichte ›bestätigt‹ haben könnte: »Fichtens spekulative Blätter – Grundlage der ge sammten Wissenschaftslehre – auch seine gedrukten Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten wer den Dich ser interessiren. Anfangs hatt’ ich ihn ser im Verdacht des Dogmatismus; er scheint, wenn ich mut maßen darf auch wirklich auf dem Scheidewege ge standen zu seyn, oder noch zu stehn – er möchte über das Factum des Bewußtseins in der Theorie hinaus, das zeigen ser viele seiner Äußerungen, und das ist eben so gewis, und noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten – sein absolutes Ich (= Spinozas Sub
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
stanz) enthält alle Realität; es ist alles, u. außer ihm ist nichts; es giebt also für dieses abs. Ich kein Object, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußt sein ohne Object ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Object bin, so bin ich als solches notwen dig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit seyn, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Be wußtsein denkbar, als absolutes Ich hab ich kein Be wußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, in sofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts. So schrieb ich noch in Waltershausen, als ich seine ers ten Blätter las, unmittelbar nach der Lectüre des Spi noza, meine Gedanken nieder; Fichte bestätiget mir / [Lücke] / Seine Auseinandersezung der Wechselbe stimmung des Ich und Nichtich (nach s. Sprache) ist gewis merkwürdig; auch die Idee des Strebens p. p. [...] Fichte hat in Ansehung der Antinomien einen ser merkwürdigen Gedanken, über den ich aber lieber Dir ein andermal schreibe.« (StA 6, 155/156)
Dieser Text repräsentiert zwei zeitliche Ebenen und damit zwei Schichten der Aneignung von Fichtes Wissenschaftslehre: Das Referat der schon in Waltershausen niedergeschriebenen Kritik (»So schrieb ich noch in Waltershausen«) und die Passagen des Briefes vom 26. Januar 1795. Demnach konfrontiert H. in dem Brief die erste kritische Perspektive auf die Wissenschaftslehre mit derjenigen aus der Zeit der Niederschrift des Briefes und der Auseinandersetzung mit Fichte im Gespräch. Fichte scheint etwas zu bestätigen, das H. nicht nur, wie hier, Hegel mitteilt, sondern das er auch Fichte vorgetragen haben muss. H. kritisiert, dass Fichte in der Theorie über das Ich hinausgehen wolle. Er erlaubt sich daher, Fichtes absolutes Ich mit Spinozas Substanz gleichzusetzen und dies, obwohl Fichte schon im ersten Paragraphen der Grundlage die Differenz seines ersten Prinzips der Philosophie gegen das von Spinoza betont hatte (vgl. GWL GA 1.2, 263). Dass H. eben diesen Abschnitt gelesen haben muss, zeigt sich daran, dass er in seiner Argumentation gegen Fichte einige der Theoreme anspricht, die dieser selbst in seiner Kritik gegen Spinoza geltend gemacht hatte. H.s Argumentation gegen Fichte folgt somit einer Überbietungsstrategie, die jedoch auch für Fichtes Spinoza-Kritik in der Grundlage charakteristisch ist. Fichte glaubt nämlich zeigen zu können, dass sein eigenes System dem von Spinoza überlegen sei, obwohl Spinozas System absolut konsequent gedacht sei (vgl. GWL GA 1.2, 264). H. sucht zu zeigen, dass Fichtes System demjenigen von Spinoza in Wahrheit doch
nicht überlegen sei, da es ähnliche Mängel aufweist, wie die es sind, die Fichte Spinoza nachzuweisen suchte. Schließlich kommt H. mit seiner Kritik zu dem Ergebnis, dass Fichtes Begriff des absoluten Ich noch näher an Spinoza herangerückt werden müsse, als dieser es von sich aus tat, so dass Fichte in H.s Augen noch konsequenter als der konsequenteste Dogmatiker, also »noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten«, erscheinen muss. Es gibt Indizien, die die Annahme zulassen, dass Fichte H.s Kritik wenn nicht anerkannt, so doch zumindest positiv aufgenommen und im Gang der Ausarbeitung des praktischen Teils der Wissenschaftslehre im Winter 1794/95 berücksichtigt hat. Nicht nur H., sondern auch Friedrich Immanuel Niethammer verdächtigte Fichte des Transzendentismus hinsichtlich der Konzeption des absoluten Ich, worauf Fichte am Ende von § 5 reagiert (vgl. GWL GA 1.2, 414/415). In der Absicht, den Kritiken (in Fichtes Augen Missverständnissen) zu begegnen, nahm er Modifikationen in seiner Konzeption des Ich vor, die sich als tiefgreifender erweisen sollten, als Fichte zunächst absehen konnte. In Fichtes Kritik an Spinoza ebenso wie in H.s Kritik an Fichte wird erwogen, ob nicht die jeweils höchsten Prinzipien, also Substanz und absolutes Ich, statt theoretisch besser praktisch zu rechtfertigen seien. Der Fehler Spinozas liegt nach Fichte »bloß darin, daß er aus theoretischen Vernunftgründen zu schließen glaubte, wo er doch blos durch ein praktisches Bedürfniß getrieben wurde: daß er etwas wirklich gegebnes aufzustellen glaubte, da er doch bloß ein vorgestektes, aber nie zu erreichendes Ideal aufstellte.« (GWL GA 1.2, 263) H. seinerseits spricht gegen Fichte den Verdacht des Dogmatismus aus, weil dieser »über das Factum des Bewußtseins in der Theorie« hinauswolle. Gerade deshalb, weil Fichte in § 1 der Grundlage in keiner Weise zu erkennen gibt, ob und wie das absolute Ich für die praktische Philosophie relevant werden wird, musste die Bemerkung Fichtes, der Gedanke der absoluten Substanz sei bei Spinoza in Wahrheit nicht theoretisch fundiert, sondern bloß durch ein praktisches Bedürfnis motiviert, für H. von besonderem Interesse sein. Ein reines oder absolutes Ich schien H. auch mit Bezug auf Fichtes System bestenfalls durch ein praktisches Bedürfnis, als eine in der Vernunft begründete Idee dessen, was der Mensch sein soll, denkbar. Das Ich als Idee und Normativität der Vernunft stände jenseits zeitlicher Verfasstheit, während ein Ich, das seiner bewusst ist, auch beschränkt ist und in
12 Kant, Fichte, Schelling
der Zeit steht (»so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit seyn«). Kant hat in der Widerlegung des Idealismus gezeigt, dass das Ich nur dann Erkenntnis und Bewusstsein von sich haben kann, wenn es auf äußere, von ihm unterschiedene Objekte bezogen ist. Innere Erfahrung ist nur möglich durch äußere Erfahrung (vgl. KrV AA 3, B 274–279). Dass das absolute Ich dem widerspricht, ihm also keine von ihm unterschiedenen Objekte gegeben sein können, es also kein Bewusstsein hat, mochte sich für H. daraus ergeben, dass Fichte in § 3 der Grundlage die These vertritt, dass aufgrund des Begriffs der Teilbarkeit »im Bewußtseyn alle Realität« sei (GWL GA 1.2, 271). Fichtes Satz: »Dem absoluten Ich entgegengesezt [...] ist das Nicht-Ich schlechthin Nichts« (GWL GA 1.2, 271), lässt den Schluss zu, dass das absolute Ich Alles ist, also auch alle Realität und außer ihm Nichts ist. Ohne gegebene Objekte, ohne Differenz von Subjekt und Objekt kann das Ich nicht für sich sein, es kann also kein Bewusstsein haben. So kommt H. zu dem Schluss: »also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich hab ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts.« Für H. ist damit nicht nur nachgewiesen, dass Fichtes absolutes Ich von eben der Kritik betroffen ist, die Fichte selbst gegen Spinoza richtete, nämlich die notwendige Einheit von absolutem und endlichem Ich nicht ausreichend theoretisch fundiert und zugleich übersehen zu haben, dass das absolute Prinzip praktisch (oder ästhetisch, aber nicht theoretisch; vgl. StA 6, 181) zu begründen ist. Die Weise, wie Fichte das Verhältnis von absolutem und endlichem Ich sowie die Frage nach dem Fürsichsein und dem Realitätsgehalt des Ich im zweiten »genetisch« geführten Beweis des § 5 zu lösen versucht, legt es nahe, darin einen Bezug zu H.s Fichte-Kritik zu sehen. Die Lösung sieht Fichte in der Forderung, dass das Ich aus sich herausgehen müsse, und dass es sich für sich selbst setzen müsse, weil es sonst für sich nichts sei. Schon diese Wendung, dass das Ich gegebenenfalls »für das Ich Nichts« sei (GLW GA 1.2, 405), deutet auf eine direkte Aufnahme von H.s Kritik. Das Herausgehen des Ich aus sich ermöglicht eine neue Erklärung des Zusammenhangs von absolutem und endlichem Ich, da es nun das absolute Ich selbst ist, das die Möglichkeit in sich enthalten soll, sich selbst zu beschränken und über sich zu reflektieren: »Das Ich muß – und das liegt gleichfalls in seinem Begriffe – über sich reflektiren, ob es wirklich alle Realität in sich fasse.« (GWL GA 1.2, 409) Wichtig ist, dass in
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dem Zusammenhang auch das absolute Ich erstmals als Idee bezeichnet wird, wodurch es mit dem damit verbundenen Sollensanspruch praktische Bedeutung gewinnt. Nicht nur nähert sich damit das absolute Ich als Idee jenem »praktische[n] Bedürfniß«, aus welchem sich Fichte Spinozas Substanz in kritischer Absicht erklärt hatte. Wenn das Ich über sich reflektieren muss, ob es alle Realität in sich fasse, erhält die ursprüngliche Behauptung, es enthalte »alle Realität« einen andren Sinn. Es kann nur Idee sein. Es wird auch der Vorwurf entkräftet, dass das absolute Ich als allbefassende Realität keinen Übergang zum endlichen Ich ermögliche. H.s Intentionen gemäß zeigt Fichte nun, dass es das praktische Ich ist, das die Frage zu lösen vermag, ob es »wirklich alle Realität in sich fasse«. Von Anfang an war es zwar Fichtes Meinung, dass die Theorie des absoluten Ich nur durch das praktische Ich zu vollenden sei, und der praktischen Philosophie auch ein Primat gegenüber der theoretischen Philosophie zukomme. Doch die Konzeption der ersten drei Paragraphen der Grundlage hat diese Intention Fichtes zunächst verstellt und so auch verständlicherweise die Kritik auf sich gezogen, die H. als erster formuliert hat. In der Wissenschaftslehre nova methodo, die Fichte seit dem Wintersemester 1796/97 in Jena vortrug und in wenigen Texten im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten von 1797 veröffentlichte, setzen den in § 5 begonnenen Impuls fort, der nicht unwesentlich durch die Gespräche mit H. in Gang gekommen sein dürfte. »Urtheilung« – »ursprünglich Theilen« Fichtes »Auseinandersezung der Wechselbestimmung des Ich und Nichtich (nach s. Sprache) ist gewis merkwürdig« schreibt H. am 26. Januar 1795 an Hegel (StA 6, 156). Die Wechselbestimmung trägt die gesamte Methodologie des theoretischen Teils der Wissenschaftslehre, dessen Ziel die Deduktion des Schwebens der Einbildungskraft (s. Kap. 19) ist. Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass die Wechselbestimmung fortan für H.s Weise, Gegensätze philosophisch und dichterisch fruchtbar zu machen, die Extreme ihrer Relate zu beleuchten und die Möglichkeit ihrer Koexistenz aufzusuchen, eine grundlegende Denkfigur geworden ist. Noch im poetologischen Räsonnement über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes von 1800 ist Fichtes Konzeption der sich selbst als Wechselbestimmung darstellenden Einbildungskraft zu erkennen. H.s Betrachtung über das Urteil in seiner frühen Systemskizze Urtheil und Seyn (1795) (s. Kap. 24), der
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
die falsche Etymologie des Urteils als »Ur-theilung« zugrunde liegt, steht damit im Zusammenhang. Sie hat ein Pendant in der von ihm besuchten Platner-Vorlesung Fichtes. Fichte notierte sich: »Urtheilen, ursprünglich theilen; u, es ist wahr: es liegt ein ursprüngl. Theilen ihm zum Grunde. Es gehören dazu 2. Begriffe. Ein drittes vorab gleich gewähltes [muß] auf sie bezogen werden: d. i. an welches beide gehalten werden.« (GA 2.4, 182) Fichte hatte diese etymologisierenden Überlegungen zum Begriff des Urteils als einer ursprünglichen Teilung gegen Ende der Vorlesung, also wohl im Februar oder März 1795, in einer freien Entwicklung seiner Gedanken im Anschluss an Platners Aphorismen »Von den Urtheilen«, §§ 505–543, angestellt. H., der diese Vorlesung gehört haben muss, war offensichtlich beeindruckt von diesem Gedanken Fichtes und nahm ihn zum Anlass, sehr viel weitreichendere Spekulationen daran anzuschließen. Das Ergebnis von Fichtes tastenden Äußerungen über das Wesen des Urteils aus der Etymologie einer ursprünglichen Teilung (zur wahren Etymologie vgl. Duden – Das Herkunftswörterbuch. Eine Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim 1963, 733) kann man auf folgende Weise zusammenfassen: Ein Urteil besteht aus zwei Begriffen (Subjekt und Prädikat), die auf einen dritten bezogen sind. Mit der Wahl eines Prädikates, gleich ob es positiv oder negativ bestimmt ist, wird der dritte Begriff als Sphäre gesetzt, wie Fichte sagt. Was Fichte Sphäre des Prädikates nennt, lässt sich als ein übergeordneter Klassifikationsbegriff identifizieren (also rot – Farbe; süß – Geschmacksempfindung etc.). Mit jedem Setzen eines bestimmten Prädikats ist demnach zugleich der übergeordnete Klassifikationsbegriff (»Sphäre«) gegeben, durch dessen Bezugsrahmen nicht bloß eine Bestimmung (Setzung), sondern auch alles dieser Bestimmung Widersprechende und also Ausgeschlossene (Entgegensetzung) festgelegt ist. So kann Fichte resümieren: »Bei jedem Ausschließen ist ein Setzen. [...]; u. das negative Urtheil kann daher auch betrachtet werden, als ein positives. Bei jedem Setzen ist auch ein Ausschließen u. das positive Urtheil kann auch betrachtet werden als ein negatives.« (GA 2.4, 184) Somit liegt nach Fichte die Kategorie der Wechselbestimmung implizit in der Form des Urteils durch das Ur-teilen der Sphäre in deren Bestimmungen und Ausschließungen. H.s Idee ist es, die als so »merkwürdig« (also des Merkens würdig) angesehene Kategorie der Wechselbestimmung auf den Begriff des Urteils selbst in der von Fichte vorgenommenen Etymologisierung eines ursprünglichen Teilens, H. sagt Trennens, anzuwenden. Der Begriff der »Urtheilung« stellt
durch die logische Form der Wechselbestimmung eine Relation zwischen den Produkten der Trennung und dem Ausgangzustand vor der Trennung her. So verweist der Gedanke der »Urtheilung« als ursprünglicher Teilung (= Bewusstsein) auf ein ihm vorausgesetztes Ganzes, wo »Subject und Object schlechthin, nicht nur zum Theil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Theilung vorgenommen werden kan, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verlezen« (StA 4, 216). H. nennt dieses Relat der Wechselbestimmung, das aus dem Vollzug des Gedankens der »Urtheilung« hervorgeht, das »Seyn schlechthin«. Das andere Relat der »Urtheilung« ist dieselbe als Produkt im Vollzug der Teilung, denn H. sagt, dass der Satz »›Ich bin Ich‹ [...] das passendste Beispiel zu diesem Begriff der Urtheilung, als Theoretischer Urtheilung« sei (StA 4, 216). Aus dieser Formulierung ergibt sich die doppelte Bedeutung der Weise, in der H. von der »Urtheilung« spricht. Sie ist Akt des Vollzugs des ursprünglichen Trennens und sie ist dessen Produkt. Als Akt ist sie zugleich die Relation, als Produkt ist sie eines der beiden Relate. Indem für das eine Relat der Satz »Ich bin Ich« als »passendstes Beispiel« angegeben wird, und dieser Satz ganz offensichtlich von H. als Fichtes erster Grundsatz identifiziert wird (genauerhin nennt Fichte seinen ersten Grundsatz »Ich bin«), ist mit der Bestimmung des Satzes »Ich bin Ich« als Produkt der »Urtheilung« H.s Kritik an Fichtes erstem Grundsatz erneut untermauert. Fichtes Satz ist demnach nichts anderes, als der erste Satz des als Trennung beschriebenen Bewusstseins. Dieses Bewusstsein aber, das der Sphäre der »Urtheilung« angehört, ist nach H. in etwas gegründet, das selbst nicht Bewusstsein ist und das demnach auch nicht in Urteilen zur Darstellung gebracht werden kann. Auf dieses Bewusstsein, das Relat der ursprünglichen Teilung ist, ist, sofern es als Trennung beschrieben wird, seinerseits wieder der Begriff der Wechselbestimmung anzuwenden. So gelangt man zu einer Vereinigung, die nicht unteilbar ist, wie das schlechthinnige Sein, sondern zur Identität. So sind in H.s Systemskizze zwei Betrachtungsebenen aufs engste miteinander verbunden, die sich noch auf eine andere Weise unterscheiden lassen. Auf der Ebene der »Ur-Theilung« ist eine menschheitsge schichtliche Dimension bedacht, auf der Ebene der »Ur-Theilung« eine erkenntnistheoretische und begriffslogische. In der historischen Dimension ist die gegenwärtige Menschheit bestimmt durch den Zustand des Bewusstseins, der als Trennung gefasst wird. Ihm voraus geht der jenseits des Bewusstseins stehen-
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de Zustand schlechthinniger Einheit. Aus der Einsicht in die Differenz des Vormals und Jetzt, die durch eine offensichtliche Wertdifferenz markiert ist, leitet sich der Sollensanspruch ab, den Urzustand, der als verloren gilt (vgl. StA 3, 236), wiederherzustellen. In Ur theil und Seyn sind die theoretischen Fundamente dazu gelegt, ausgeführt finden sich diese Gedanken in späteren Texten. Dort wird das transzendente Ideal als möglich gedacht in der Immanenz, wenn auch nur auf Zeit, durch Freiheit, Friede, Schönheit. In der Vorrede zum Thaliafragment des Hyperion nimmt H. den Gedanken des Seins durch die Vorstellung vom Urzustand der »Organisation der Natur« und dem Endzustand der »Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind« (StA 3, 163) wieder auf. Auch in der Vorrede des Hyperion der vorletzten Fassung kehrt der Gedanke wieder: »Die seelige Einigkeit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Ev και Παν der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst.« (StA 3, 236) Es gilt, die Trennungen des einseitigen Verstandesmenschen, d. h. den »ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all’ unseres Strebens« (StA 3, 236). Fichtes ›Antinomie‹ von Ich und Nicht-Ich und das »Schweben der Einbildungskraft« H. deutet im Brief an Hegel vom 26. Januar 1795 vielsagend an, Fichte habe »in Ansehung der Antinomien einen ser merkwürdigen Gedanken« und verspricht, darüber ein andermal zu schreiben. Ein anderer Brief zu diesem Thema ist nicht überliefert und vermutlich auch gar nicht geschrieben worden. Fichtes merkwürdiger, d. h. bemerkenswerter Gedanke zu Kants Antinomienlehre findet sich in der Grundlage explizit nur einmal am Ende der »Deduktion der Vorstellung« ausgesprochen, die den § 4 beschließt. Die Stelle sei wegen ihrer zentralen Bedeutung für H. ausführlich zitiert: »Das Ich ist in der Selbstbestimmung so eben, als be stimmend und bestimmt zugleich, betrachtet worden. Wird vermittelst der gegenwärtigen höhern Bestim mung darauf reflektirt, daß das, das schlechthin be stimmte bestimmende ein schlechthin unbestimmtes seyn müsse; ferner darauf, daß das Ich und Nicht-Ich schlechthin entgegengesezt sind, so ist, wenn das Ich
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als bestimmt betrachtet wird, das bestimmende unbe stimmte das Nicht-Ich; und im Gegentheil, wenn das Ich als bestimmend betrachtet wird, ist es selbst das unbestimmte, und das durch dasselbe bestimmte ist das Nicht-Ich, und hieraus entsteht folgender Wider streit: Reflektirt das Ich auf sich selbst, und bestimmt sich dadurch, so ist das Nicht-Ich unendlich und unbe gränzt. Reflektirt dagegen das Ich auf das Nicht-Ich überhaupt (auf das Universum) und bestimmt es da durch, so ist es selbst unendlich. In der Vorstellung ste hen demnach Ich und Nicht-Ich in Wechselwirkung; ist das eine endlich, so ist das andere unendlich; und um gekehrt; eins von beiden ist aber immer unendlich. – (Hier liegt der Grund der von Kant aufgestellten Antinomien.)« (GWL GA 1.2, 383/384)
Für Kant, so lässt sich resümieren, besteht der Konflikt der Antinomien in der Missachtung des jeweils durch den Verstand oder die Vernunft gegebenen Umfangs und der Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten. Fichtes Analyse zufolge sieht er den antinomischen Widerstreit zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich und deren jeweiliger Bestimmtheit oder Unbestimmtheit gegeben. Diesen Zusammenhang entwickelt er in der Selbstkonstruktion des Begriffs der Einbildungskraft. In ihr spiegelt sich Kants Dritte Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit, da nach Fichte das auf Anschauung gerichtete Subjekt durch die Relation der Substanzialität des Ich mit sich (Freiheit als Spontaneität des Ich) und der Kausalität (Notwendigkeit des Affektionsmechanismus des Gegenstandes) begriffen werden muss. Der Grundlage zufolge ist die Einbildungskraft ein Vermögen, das die einander gänzlich fremden und sich ausschließenden Sphären des Bewusstseins und des Seins, des Subjektiven und Objektiven, des Ich und des Nicht-Ich, des Anschauenden und des Angeschauten, der Freiheit und Notwendigkeit, in einem »Schweben« zusammenfasst und zusammenhält. »Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt; [...] Dieses Schweben der Einbildungskraft zwischen unvereinbaren, dieser Widerstreit derselben mit sich selbst« (GWL GA 1.2, 360) ist der Widerstreit des anschauenden Subjekts, das einerseits durch einen Affektionsmechanismus eine Bestimmung durch das Nicht-Ich in der Zeit erfährt, andererseits aber seinem Wesen nach nichts als Freiheit und Spontaneität ist. »Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt – ein Wech
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
sel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jezt das unend liche in die Form des endlichen aufzunehmen ver sucht, jezt, zurükgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft. // Hierdurch wird nun vollkommen vereinigt Zusammentreffen, und Zu sammenfassen. Das Zusammentreffen, oder die Gren ze ist selbst ein Produkt des Auffassenden im, und zum Auffassen.« (GWL GA 1.2, 359)
Das Schweben der Einbildungskraft ermöglicht als Widerstreit ein ewiges Fortschreiten, als Vereinigung ein Festhalten, Verweilen. Bewegung und Ruhe im Wechselverhältnis zueinander erzeugen Zeitlichkeit. H. knüpft daran an, um seine Poetologie in der Verfahrungsweise des poëtischen Geistes zu begründen, die aus dem Wechsel des je Neuen dichterischer Schöpfung und dem Stiften des Bleibenden der Dichtung, dem Stiften der Erinnerung, lebt (s. Kap. 19). Wechselbestimmung von Endlichem und Unendlichem Eine »Haupteigentümlichkeit der Fichte’schen Philo sophie« stellt H. seinem Bruder folgendermaßen dar: »Es ist im Menschen ein Streben in’s Unendliche, eine Thätigkeit, die ihm schlechterdings keine Schranke als immerwährend, schlechterdings keinen Stillstand möglich werden läßt, sondern immer ausgebreiteter, freier, unabhängiger zu werden trachtet, diese ihrem Triebe nach unendliche Thätigkeit ist beschränkt; die ihrem Triebe nach unendliche unbeschränkte Thätigkeit ist in der Natur eines Wesens, das Bewußtseyn hat (ei nes Ich, wie Fichte sich ausdrükt), nothwendig, aber auch die Beschränkung dieser Thätigkeit ist einem We sen, das Bewußtseyn hat, nothwendig, denn wäre die Thätigkeit nicht beschränkt, nicht mangelhaft, so wäre diese Thätigkeit alles, und außer ihr wäre nichts, litte also unsere Thätigkeit keinen Widerstand von außen, so wäre außer uns nichts, wir wüßten von nichts, wir hätten kein Bewußtseyn; wäre uns nichts entgegen, so gäbe es für uns keinen Gegenstand; aber so nothwen dig die Beschränkung, der Widerstand und das vom Wi derstande bewirkte Leiden zum Bewußtseyn ist, so nothwendig ist das Streben in’s Unendliche, eine dem Triebe nach gränzenlose Thätigkeit in dem Wesen, das Bewußtseyn hat, denn strebten wir nicht, unendlich zu
seyn, frei von aller Schranke, so fühlten wir auch nicht, daß etwas diesem Streben entgegen wäre, also fühlten wir wieder nichts von uns verschiedenes, wir wüßten von nichts, wir hätten kein Bewußtseyn.« (StA 6, 164)
Der kleine Text stellt eine prägnante Zusammenfassung von Fichtes praktischem Teil der Wissenschaftslehre dar, auch wenn H. Fichtes Pointe, in Ergänzung zur bloß intelligiblen Tätigkeit der Einbildungskraft mit dem Begriff des Streben eine Theorie intentionalen Handelns vorzulegen, die gleichfalls auf dem Wechsel von Endlichem und Unendlichem beruht, nicht beachtet, wahrscheinlich auch nicht erkannt hat. H. eignete sich den Gedanken vom Wechsel des Triebs nach dem Absoluten und nach Beschränkung dichterisch im Jenaer Hyperion-Fragment der metrischen Fassung und dem Prosa-Entwurf an. In einer freien Anwendung des fichteschen Prinzips der Wechselbestimmung gibt er dort den Platonischen Mythos von der Geburt des Eros wieder (vgl. StA 3, 192–194). Der Gedanke der Wechselbestimmung, der in den Überlegungen zur »Urtheilung« theoretisch begründet wird, erweist sich in der Skizze für den Bruder und in der Deutung des Platonischen Mythos als Wesensmoment der Verfasstheit von Bewusstsein überhaupt. Dem Ich muss etwas entgegenstehen, ein Gegen-Stand, damit es fühlen und erkennen kann. In gleicher Weise ist ein Streben ins Unendliche, also nach Erfüllung höchster Ideen, nicht denkbar, ohne das gleichzeitige Streben nach Beschränkung, also danach, die mangelhafte Bedingtheit des Daseins anzuerkennen. Mit Hilfe dieser Logik der Wechselbestimmung bestätigt sich für H. erneut die Kritik an Fichte im Brief an Hegel, denn sie fordert, ein Absolutes nicht ohne Widerständigkeit zu denken, denn »wäre die Thätigkeit nicht beschränkt, nicht mangelhaft, so wäre diese Thätigkeit alles, und außer ihr wäre nichts«. Durch diese Wechselbestimmung wird auch die Liebe in einer eigentümlichen Weise bestimmt, denn sie entsteht in dem Moment, in dem die »freie volle Kraft« gebrochen wird und »zum erstenmale leidend ward«. Zugleich aber wird von der Liebe gesagt, dass sie die einander widerstrebenden Triebe vereinige (StA 3, 192). Die Liebe geht demnach aus einer ursprünglichen Einigkeit des Bewusstseins hervor. Sie findet sich in einem Zustand des Widerstreits entgegengesetzter Kräfte vor, die ihrerseits nach Vereinigung drängen. »Wir müßten untergehn im Kampfe dieser widerstreitenden Triebe. Aber die Liebe vereiniget sie. [...] Jenes höchste Bedürfnis unseres Wesens, das uns dringt, der Natur eine Verwandtschaft mit dem Unsterblichen in uns beizulegen, und in der
12 Kant, Fichte, Schelling
Materie einen Geist zu glauben, es ist diese Liebe.« (StA 3, 194) Die erstrebte Vereinigung ist dadurch zu erreichen, dass die gegensätzlichen Kräfte einerseits bei sich bleiben und die jeweilige Eigenart bewahren und andererseits und zugleich aufeinander zugehen. Die Natur bleibt Natur und dennoch soll ihr in einer gewissen Rücksicht »Verwandtschaft« beigelegt werden mit dem Unsterblichen; die Materie bleibt Materie und dennoch soll in ihr ein Geist geglaubt werden. Am vollkommensten scheinen wir dort »in der Materie einen Geist zu glauben«, wo »die schönen Formen der Natur uns die gegenwärtige Gottheit verkündigen.« (StA 3, 192) Die Poetologie der Wechselbestimmung von Geist und Stoff Fichtes Begriff der Einbildungskraft und die Struktur ihrer Selbstkonstruktion erlauben, auch H.s Frage nach der Reproduktion des Geistes im Gedicht und der Rezeptivität des Stoffes in seinen poetologischen Reflexionen der Verfahrungsweise des poëtischen Geistes zu erhellen. So wie für Fichte das »Schweben der Einbildungskraft zwischen unvereinbaren, dieser Widerstreit derselben mit sich selbst« (GWL GA 1.2, 360) Subjektives und Objektives, Form und Stoff zusammenhält, bezeichnet H. Bedeutung und Form des Gedichts als »Metapher« und »Übergang« (StA 4, 243) zwischen Geist und Stoff. Der Kategorie der Wechselbestimmung kommt im Gang von H.s Darstellung eine herausragende Bedeutung zu. Für beide steht der tätige Geist in einem Widerstreit, durch den er zur Reproduktion seiner selbst, vermittelt durch den Stoff der Vorstellung, gelangt. In der Verfahrungsweise werden sowohl Geist (Subjekt) als auch Stoff (Objekt) zunächst nach der Struktur des Gehaltes und der Form unabhängig voneinander untersucht, bis schließlich eine Synthesis der gegensätzlichen Bestimmungen im Gedicht als dem Übergang zwischen Geist und Stoff erfolgt. Es ergeben sich im ersten Abschnitt sechs zu unterscheidende Instanzen: Das Subjekt als geistiger Gehalt, als geistige Form, das Objekt als stofflicher Gehalt, als stoffliche Form, das Gedicht als objektiver Gehalt, als objektive Form. Jede dieser sechs Instanzen ist überdies (vereinfacht gesagt) entweder als »Wechsel« und »Fortschritt« oder als »Einheit« und »Verweilen« bestimmt. Während mit dem Wechsel notwendig eine Vielfalt von Teilen einhergeht, da sonst kein Fortschreiten von einem zum andern möglich ist, wird die ruhende Einheit auch als Ganzheit qualifiziert. Die Spannung zwischen Bewegung und Ruhe, zwi-
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schen Teil und Ganzem, die H. mit Fichte »Widerstreit« nennt, bestimmt den konstruktiven Gang der Reproduktion des Geistes. Ein solcher Widerstreit besteht zwischen der »ursprünglichsten Forderung des Geistes, die auf Gemeinschaft und einiges Zugleichseyn aller Theile« geht und der anderen Forderung des Geistes, »welche ihm gebietet, aus sich heraus zu gehen, und in einem schönen Fortschritt und Wechsel sich in sich selbst und in anderen zu reproduciren« (StA 4, 241). Spiegelbildlich zum Widerstreit von Form und Materie des Geistes gibt es auch einen Widerstreit von Form und Materie des Stoffes. Zwar ist der Geist des Subjekts natürlicherweise Agens der Handlungen, doch dank der Rezeptivität des Stoffes ist der Stoff als wechselnder Gehalt und einheitlicher Form selbst als bestimmendes Moment an der Reproduktion des Geistes beteiligt, wodurch eine wesentliche Differenz zur Konzeption bei Fichte trotz aller Strukturparallelen markiert ist. Darüber hinaus sollen die Materie des Geistes als »Gemeinschaft« und »Zugleichseyn« und die Form des Geistes als »Fortschritt und Wechsel«, wie es heißt, »fühlbar« werden (StA 4, 241). Das Fühlbarwerden geschieht dadurch, dass dem »Verweilen« des geistigen Gehalts der Wechsel des stofflichen Gehaltes und dem »Fortstreben« der geistigen Form die in »allen Theilen identisch« bleibende Form des Stoffes entgegengesetzt werden (StA 4, 241/242). Die Forderung des Fühlbarwerdens hat demnach zur Folge, dass Geist und Stoff in ein Verhältnis zueinander treten. Vier ursprüngliche Instanzen, – geistige Form, geistiger Gehalt, stoffliche Form, stofflicher Gehalt – stehen vier Resultaten gegenüber, von denen jedoch nur zwei genannt sind, der objektive Gehalt und die objektive Form. Objektiver Gehalt und objektive Form treten als Resultate des geistigen Widerstreits hervor, während die Resultate des stofflichen Widerstreits keinen Namen haben und letztlich mit objektivem Gehalt und objektiver Form verschmelzen. Die Reproduktionskraft des Geistes wie die Rezeptivität des Stoffes sind aufeinander angewiesen. Ihr wechselseitiges Verhältnis ist es, das ein gelungenes Gedicht ermöglicht. H. bezeichnet es seiner Form nach als »Übergang«, seinem Gehalt nach als »Metapher« (StA 4, 243). Strukturell gleicht damit das Gedicht demjenigen, was Fichte als »Schweben der Einbildungskraft« im Anschauen bezeichnet, indem diese einen Übergang von der Tätigkeit des Geistes zur Tätigkeit des dem Geist fremdartigen Stoffes und umgekehrt schafft. Hinterfragt man die von H. in den Wechsel einbegriffenen sechs Instanzen von Geist, Stoff und Gedicht und der ihnen zugeordneten Prädikate der Iden-
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
tität und des Wechsels nach ihrem konkreten Sinn, so lassen sie sich folgendermaßen deuten. Die geistige Form, als »Wechsel aller Theile« (StA 4, 241) bezeichnet, lässt sich als Diskursivität des Geistes, als Bewegung des Denkens sowie als Fortschreiten von einem Moment zum anderen identifizieren. Der geistige Gehalt, als »Gemeinschaft und einiges Zugleichseyn aller Theile« oder auch als »Verwandtschaft aller Theile« (StA 4, 241) bezeichnet, kann als Zusammenhang eines Ganzen, einer Idee als Ausdruck eines Ganzen verstanden werden. Es ist dasjenige, was die Gemeinschaft einer Summe von Teilen charakterisiert, die nicht bloß zufälliges Aggregat sind, sondern als Teile auf ein Ganzes hin konzipiert sind. Das Organismusmodell, für H. schon früh von Herder (s. Kap. 11) her von Bedeutung, stellt den klassischen Fall einer solchen Gemeinschaft dar. Ferner soll nach H. gelten, dass der sinnliche Gehalt als »Verschiedenheit« bezeichnet wird, die sinnliche Form hingegen »in allen Theilen identisch bleibe« (StA 4, 241 und 242). Diese Unterscheidung legt es nahe, den sinnlichen Gehalt als stoffliche Mannigfaltigkeit zu verstehen, die strukturell der Diskursivität der Form des Geistes entspricht. Mit der sinnlichen Form hingegen muss H. den jeweiligen Grundton im Blick haben, also das Lyrische, Epische, Tragische, mit denen jeweils bestimmte Stimmungen des Gedichts, aber auch bestimmte Bedeutungen verknüpft sind. Der objektive Gehalt steht im Gegensatz zur geistigen Form und ist wie der geistige Gehalt »Verwandtschaft und Einigkeit der Theile«, während die objektive Form im Gegensatz zum geistigen Gehalt ein »materielle[r] Wechsel« ist (StA 4, 242). Mit dem objektiven Gehalt steht die Bedeutung des Gedichts im Blick, die objektive Form hingegen ist die sprachliche Gestalt des Gedichts, die Träger der Bedeutung des objektiven Gehalts ist. Das Gedicht, seinem Gehalt nach Metapher eines Idealischen, seiner Form nach Übergang, verrät seiner systematischen Struktur nach die Nähe zur Einbildungskraft als einem Schweben zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen Subjektivem und Objektivem.
12.3 Schelling Schelling klagt in einem Brief an Hegel vom 6. Januar 1795: »H. – ich vergeb es seiner Laune, daß er unsrer noch nie gedacht hat.« (StA 7.2, 18) Hegel erwidert darauf Ende Januar in seinem Antwortbrief: »H. schreibt mir zuweilen aus Jena, ich werde ihm wegen
Deiner Vorwürfe machen« (StA 7.2, 19; vgl. ebenda, 41). Ob Schelling und H. nach Ende Januar 1795 Briefe austauschten, ist zwar nicht mit Sicherheit auszuschließen, doch eher unwahrscheinlich, da kein Zeugnis überliefert ist, das einen solchen Briefwechsel auch nur erahnen lässt. Statt zu einem Briefwechsel kam es jedoch am oder nach dem 24. Juli 1795 zu Gesprächen zwischen H., der zu der Zeit in Nürtingen weilte, und Schelling in Tübingen (vgl. StA 6, 575 und 175 und StA 7.2, 46–48). Von diesen Gesprächen ist folgende Notiz überliefert: »Auf dem Heimweg nach Nürtingen begleitete ihn Schelling; sie sprachen von Philosophie und Schelling klagte, wie weit er noch darin zurück sei. Da tröstete ihn H. mit den Worten: ›Sei du nur ruhig, du bist grad’ soweit als Fichte, ich habe ihn ja gehört« (StA 6, 771). Hegel hatte in Bern von H.s Besuch in Tübingen gehört, denn er schreibt am 30. August 1795 an Schelling: »H. höre ich, sei in Tübingen gewesen; gewiß habt Ihr angenehme Stunden mit einander zugebracht; wie sehr wünschte ich, der dritte Mann dazu gewesen zu sein!« (StA 7.2, 48) H. und Schelling trafen sich noch einmal zu gemeinsamen Gesprächen vor H.s Abreise nach Frankfurt, wie der Brief H.s an den gemeinsamen Freund Niethammer, Herausgeber des Philosophischen Journals einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten und damit von Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus, vom 22. Dezember 1795 erkennen lässt: »Schelling ist, wie Du wissen wirst, ein wenig abtrünnig geworden, von seinen ersten Überzeugungen. Er gab mir diese Woche viele Empfehlungen an Dich auf.« (StA 6, 191) Dieser Notiz zufolge müssen sich H. und Schelling im Dezember 1795 noch einmal getroffen haben. Bestätigt wird dies durch einen weiteren Brief an Niethammer vom 24. Februar 1796: »Schelling, den ich vor meiner Abreise sah, ist froh, in Deinem Journal mitzuarbeiten und durch Dich in die gelehrte Welt eingeführt zu werden. Wir sprachen nicht immer accordirend miteinander, aber wir waren uns einig, daß neue Ideen am deutlichsten in der Briefform dargestellt werden können. Er ist mit seinen neuen Überzeugungen, wie Du wissen wirst, einen besseren Weg gegangen, ehe er auf dem schlechteren ans Ziel gekommen war. Sag mir Dein Urtheil über seine neuesten Sachen.« (StA 6, 203) Ein drittes Mal trafen sich die beiden im April 1796 in Frankfurt, als Schelling H. dort während seiner Durchreise auf dem Weg nach Leipzig besuchte (vgl. StA 6, 787). Die Gespräche von H. und Schelling waren, wenn sie auch »nicht immer accordirend miteinander« sprachen (StA 6, 203), vermutlich für beide sehr fruchtbar.
12 Kant, Fichte, Schelling
Ein Widerhall davon scheinen Schellings in Niethammers Journal erscheinende Philosophische Briefe und H.s Skizze einer Metaphysik (Brief an den Bruder vom 2. Juni 1796) zu sein, zumal die Abfassung beider Texte in die Zeit der gemeinsamen Gespräche fällt. Ursprünglicher Widerstreit des Geistes Es ist auffallend, dass Schelling insbesondere im 3. und 4. der Briefe über Dogmatismus und Kriticismus von einem ursprünglichen Widerstreit im Menschen spricht, den zu lösen das Grundproblem jeder Philosophie sei. Dieses Problem, das Schelling in dieser Weise zuvor nicht formuliert hatte, lässt sich auf H.s Theorie der »Urtheilung« beziehen, die dieser in Jena im Anschluss an Fichtes Urteilslehre in dessen Platner-Vorlesung niedergeschrieben und danach vielfach durchgespielt hat. Eng damit verknüpft ist die Frage nach dem Primat entweder der theoretischen oder der praktischen Philosophie, die Schelling mit Fichte und Kant zugunsten der praktischen Philosophie entscheidet, während H. auf eine Gleichursprünglichkeit von Theorie und Praxis dringt, der das Sein als Schönheit, Freiheit, Friede vorauszudenken ist. Schelling sandte die ersten vier Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus am 13. August 1795 an Niethammer (vgl. F. W. J. Schelling, Briefe und Dokumente 2 (1775–1809), hg. v. Horst Fuhrmans, Bonn 1962, 53). Da die fraglichen Gespräche mit H. um den 24. Juli stattfanden, hatte Schelling noch zwei bis drei Wochen Zeit, schon vorhandene Briefe vor dem Hintergrund der Gespräche mit H. zu überarbeiten und neue in ihrem Geist zu schreiben. Der dritte und vierte Brief ist in auffallender Anlehnung an Gedanken H.s abgefasst. Es ist nicht sicher, seit wann Schelling an diesen Briefen arbeitete. Eine erste Aufforderung zur Mitarbeit an Niethammers Journal scheint schon Ende 1794 an Schelling durch Niethammers Freund Immanuel Carl Diez ergangen zu sein (vgl. Henrich, 1997, 337). Erst am 21. Juli 1795 spricht Schelling von einer baldigen Veröffentlichung seiner Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, irrtümlicherweise unter Angabe des Erscheinens im 5. statt im 7. Heft des Philosophischen Journals, in dem sie dann tatsächlich erschienen (vgl. WW 1.3, 7). »Hätten wir bloß mit dem Absoluten zu thun,« schreibt Schelling im dritten der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, »so wäre niemals ein Streit verschiedner Systeme ent standen. Nur dadurch, daß wir aus dem Absoluten he
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raustreten, entsteht der Widerstreit gegen dasselbe, und nur durch diesen ursprünglichen Widerstreit im menschlichen Geiste selbst der Streit der Philosophen. [...] // Die Kritik der reinen Vernunft begann auch wirk lich ihren Kampf nur von jenem Punkte aus. Wie kommen wir überhaupt dazu, synthetisch zu urtheilen? fragt Kant gleich im Anfang seines Werks, und diese Frage liegt seiner ganzen Philosophie zu Grunde, als ein Problem, das den eigentlichen gemeinschaftlichen Punkt aller Philosophie trifft. Denn anders ausgedrückt lautet die Frage so: Wie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus, und auf ein Entgegengesetztes zu gehen? // Synthesis nämlich entsteht nur durch den Widerstreit der Vielheit gegen die ursprüngliche Einheit. Denn ohne Widerstreit überhaupt ist keine Synthesis nothwendig, wo keine Vielheit ist, ist Einheit schlechthin: und wenn nicht Einheit, sondern Vielheit das Ursprüngliche wäre, so würde jene ursprüngliche Handlung nicht Synthesis, sondern Zerstreuung sein.« (WW 1.3, 59/60)
Diese Passage über einen ursprünglichen Widerstreit im Geist ist verwandt mit den Überlegungen, die H. zuerst durch den Gedanken der »Urtheilung« in Ur theil und Seyn (s. Kap. 24) formulierte und den er in einem Brief an den Bruder vom 2. Juni 1796 erstmals auch auf Kants erste Kritik bezieht: »Die Vernunft legt den Grund mit ihren Grundsäzen, den Gesezen des Handelns und Denkens, insofern sie blos bezogen werden auf den allgemeinen Widerstreit im Menschen, nämlich auf den Widerstreit des Strebens nach Absolutem und des Strebens nach Beschränkung. [...] Sind nun die Grundsäze der Vernunft, welche bestimmt gebieten, daß der Widerstreit jenes all gemeinen, sich entgegengesezten Strebens soll vereiniget werden (nach dem Ideal der Schönheit), sind diese Grundsäze im Allgemeinen ausgeübt an jenem Widerstreit, so muß jede Vereinigung dieses Wider streits ein Resultat geben, und diese Resultate der all gemeinen Vereinigung des Widerstreits sind dann die allgemeinen Begriffe des Verstandes« (StA 6, 208/209).
H. scheint sich durch diese Gespräche veranlasst gesehen zu haben, seine Kenntnisse der Kritik der reinen Vernunft zu vertiefen. Im Februar 1796 berichtet H. aus Frankfurt an Niethammer, er habe sich »Kant und Reinhold vorgenommen« (StA 6, 202). Er verknüpft den fichteschen Widerstreit zweier Strebensrichtungen mit dem neuen Gedanken, dass dessen Vereinigung die kantischen Kategorien hervorbringe. Diesen
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
Impuls dürfte er Schelling verdanken. Dieser sucht in den Briefen die Kritik der reinen Vernunft gegen den Tübinger Dogmatismus zu verteidigen, interpretiert aber auch Kants kritisches Programm der Begründung synthetischer Urteile a priori im Licht von H.s Theorem der Urteilung und des ursprünglichen Widerstreits im Geist. Die ersten beiden der Philosophischen Briefe sind noch kaum berührt von H.s Einfluss, vielmehr lassen sie sich als Fortführung von Schellings Klagen über die Tübinger Orthodoxie und deren Vereinnahmung von Kants kritischer Philosophie lesen (s. Kap. 10), über die Schelling in einem Brief an Hegel vom 6. Januar 1795 berichtet (vgl. F. W. J. Schelling, Briefe und Dokumente 2 (1775–1803), hg. v. Horst Fuhrmans, Bonn 1973, 56/57). Gegen den Missbrauch der Postulatenlehre durch die Tübinger Orthodoxie, durch die kurzerhand Dogmen der Theologie zu Postulaten erklärt wurden, um sie so gegen die Angriffe der kritischen Philosophie zu schützen, richtet sich Schellings Polemik nicht nur im Brief an Hegel, sondern auch in den ersten beiden der Philosophischen Briefe, die somit als Streitschriften gegen den Dogmatismus, genauer, gegen den »Dogmaticismus« Tübinger Ausprägung gelten können. Um den Missbrauch des Kantischen Ansatzes deutlich zu machen, reflektiert Schelling auf das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft. Er kommt zu dem Schluss, dass Kants Kritik den Dogmatismus nur negativ widerlegen konnte, weil die erste Kritik sich darauf beschränkt, Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis aufzuweisen, die dogmatische Annahme von Gott aber durch ein moralisch-praktisches Bedürfnis geleitet ist. Demnach scheint die erkennende, theoretische Vernunft zu »schwach« zu sein, gemessen an den eigentlichen Bedürfnissen des Menschen: »Der Kriticismus [...] hat nur schwache Waffen gegen den Dogmatismus, wenn er sein ganzes System nur auf die Beschaffenheit unsers Erkenntnißvermögens, nicht auf unser ursprüngliches Wesen selbst gründet.« (WW 1.3, 56) Die Philosophie auf das ursprüngliche Wesen des Menschen, auf das »Dasein« zu gründen, wie Schelling in dem Zusammenhang auch sagt, ist Ausdruck von Schellings Bekenntnis zum Spinozismus. Das zeigt deutlich der siebte der Philosophischen Briefen in der zweiten Lieferung dieser Schrift »Das Hauptgeschäft der Philosophie besteht in Lösung des Problems vom Dasein der Welt« (WW 1.3, 82). Schelling bekennt sich in den Philosophischen Briefen eindeutig, mit Fichte und mit Kant, aber gegen H., zum Primat des Praktischen. Die theoretische, erkennende Vernunft setzt, so Schelling, nicht nur zum Vorteil des kri-
tischen Vernunftgebrauchs Grenzen fest, durch sie geraten auch grundlegende Bedürfnisse des Menschen außerhalb des Gebietes der kritischen Philosophie. Angesichts dieser Thesen stellte sich Schelling selbst bereits mit der Ich-Schrift und ihrer im Anschluss an Jacobi entfalteten These, dass vom Unbedingten auszugehen sei (vgl. Sandkaulen 1990), außerhalb der Grenzen der theoretischen Vernunft. Eine Ethik nach dem Vorbild Spinozas schreiben zu wollen, ist ebenso früher Ausdruck, dem Praktischen den Primat zuzusprechen. Zugleich sollen dadurch die der Kantischen Kritik vorgeworfenen Mängel behoben werden. Während jedoch die Tübinger Orthodoxie willkürliche Glaubenssätze zu Postulaten erklärte, geht Schelling von jenem Unbedingten aus, das die theoretische Vernunft, so Schelling, selbst erzeugt habe. »Die theoretische Vernunft geht nothwendig auf ein Unbedingtes: sie hat die Idee des Unbedingten erzeugt, sie fodert also, da sie das Unbedingte selbst, als theoretische Vernunft, nicht realisiren kann, die Handlung, wodurch es realisirt werden soll.« (WW 1.3, 65) Die These, synthetische Urteile a priori durch einen ursprünglichen Widerstreit im Geist zu erklären, wodurch ihr eine ursprüngliche Einheit vorausgedacht wird, die wieder herzustellen dem Menschen Bedürfnis ist, ist offenkundig mit Kants Theorie nicht vereinbar. Dennoch sieht sich Schelling zu dieser Annahme durch Kant selbst legitimiert. Die Philosophie geht nach Kant zwar nicht vom Absoluten aus, kann aber gemäß der Ideenlehre der transzendentalen Dialektik durch eine Reihe von Prosyllogismen vom Bedingten zum Unbedingten fortschreiten (vgl. WW 1.3, 63; vgl. KrV AA 3, B 387/388). In Anlehnung an Kant hält Schelling den Anfang der Philosophie mit einer Kritik der Erkenntnisvermögen für unhintergehbar. In Übereinstimmung mit H. diagnostiziert er ein Zerfallensein der gegenwärtigen Zeit mit dem Absoluten. Das Heraustreten aus dem Absoluten, der Verlust des Ursprungs (»Hätten wir bloß mit dem Absoluten zu thun, so wäre niemals ein Streit verschiedner Systeme entstanden«, s. o.), das Losreißen vom »friedlichen Εν και Παν der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst« (StA 3, 236), ist auch H.s Gedanke in seiner Nürtinger Vorrede zur Vorletzten Fassung des Hyperion. Schelling bezieht diesen Gedanken dadurch auf Kants Kritik, dass er behauptet, Kants Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, sei eigentlich die Frage, wie es überhaupt möglich sei, synthetisch zu urtheilen. Schellings Kant reformulierende Antwort ist, dass Synthesis notwendige Folge des ursprünglichen Widerstreits ist, der durch das Herausgehen aus dem Absoluten entstand. Dieser Widerstreit
12 Kant, Fichte, Schelling
setzt demnach ursprüngliche Einheit voraus und macht nachträgliche Synthesis notwendig. Kants Kritik, so Schelling, konnte »nicht zu jener absoluten Einheit aufsteigen, weil sie, um den Streit der Philosophen zu schlichten, gerade nur von demjenigen Factum ausgehen konnte, von welchem der Streit der Philosophie selbst ausgeht. Ebendeßwegen aber konnte sie auch jene ursprüngliche Synthesis nur als ein Factum im Erkenntnißvermögen voraussetzen.« (WW 1.3, 60) Was H. betrifft, so ist zu bemerken, dass er im Brief an den Bruder vom 2. Juni 1796 nun selbst den ursprünglichen Widerstreit auf Kantische Prinzipien anwendet. Dies geschieht jedoch nicht wie bei Schelling im Hinblick auf die Frage nach den synthetischen Urteilen a priori, sondern im Zusammenhang der Deduktion der Kategorien. Die schon in Jena ausgearbeitete Theorie der »Urtheilung« als Begründung für den ursprünglichen Widerstreit des Geistes wird in der Skizze an den Bruder vom 2. Juni 1796 als Grund für die Entstehung auch der reinen Verstandesbegriffe des Geistes gedeutet: »Sind nun die Grundsäze der Vernunft, welche bestimmt gebieten, daß der Widerstreit jenes allgemei nen, sich entgegengesezten Strebens soll vereiniget werden (nach dem Ideal der Schönheit), sind diese Grundsäze im Allgemeinen ausgeübt an jenem Wider streit, so muß jede Vereinigung dieses Widerstreits ein Resultat geben, und diese Resultate der allgemeinen Vereinigung des Widerstreits sind dann die allgemei nen Begriffe des Verstandes, z. B. die Begriffe von Sub stanz und Accidens, von Wirkung und Gegenwirkung, Pflicht und Recht etc.« (StA 6, 208/209)
Da H. die so erzeugten Begriffe die »allgemeinen Begriffe des Verstandes« nennt, deutet dies auf Kants Kategorientafel und die »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« in der Kritik der reinen Vernunft. Kants reine Verstandesbegriffe der theoretischen, aber auch der praktischen Vernunft sind H. zufolge durch die durch Fichte angeregte Theorie der »Urtheilung« als einem ursprünglichen Widerstreit des Geistes zu gewinnen. Kategorien sind somit nicht mehr nur ursprüngliche, die Erkenntnis bestimmende Synthesisregeln des Geistes. Sie sind wie bei Fichte auch, theoretische Erzeugungen des Geistes, die dynamisch aus elementarsten Tätigkeiten des Geistes hervorgehen. Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang, dass H. nicht nur »die allgemeinen Begriffe des Verstandes«, also die Kategorien der Relation, wie die der Substanz und des Akzidenz, oder die der Wirkung und Gegen-
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wirkung als Resultate der zur Vereinigung gebrachten Widerstreite anführt, sondern auch allgemeine Vernunftbegriffe wie Pflicht und Recht, die dem Gebiet der praktischen Philosophie zuzurechnen sind. Es ist anzunehmen, dass H. im Blick hat, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft »Kategorien der Freiheit« kennt (vgl. Kant, KrV AA III, B 106; Kant, KpV AA V, 66). In dieser Kategorientafel der Freiheit findet man zwar die Modalität der »Pflicht« (und des Pflichtwidrigen), das »Recht« aber wird nicht explizit aufge führt. Man darf dieses aber mit den Quantitäten verschiedener Verbindlichkeiten der Geltung identifizieren, nämlich den »Willensmeinungen«, »Vorschriften« und schließlich den »Gesetze[n]«. Genau genommen ist zu sagen, dass in Kants ursprünglicher Kategorientafel der Kritik der reinen Vernunft »Wirkung und Gegenwirkung« nicht explizit vorkommt. Dieses Begriffspaar dürfte, Fichtes zentrale Kategorie der Wechselbestimmung im Blick habend und sie umdeutend, auf Kants Kategorie der Gemeinschaft anspielen, mit der die Wechselwirkung von Substanzen gedacht wird. Das dem Erkenntnisvermögen vorausgesetzte Faktum der Einheit kann nach Schelling nur formal vorausgesetzt werden. Die Wiederherstellung der Einheit ist einem unendlichen Prozess unterworfen. Sie ist nicht im Wissen, sondern nur im Handeln, als ewige Forderung, als ein Sollen zu realisieren. Hiergegen setzt H. die These, wonach die Einheit, das Sein schlechthin, in der Schönheit für uns gegenwärtig sei, wenn auch nur auf Zeit. Dies dürfte einer der Gründe für einen bleibenden Dissens zwischen den beiden Freunden geblieben sein, demzufolge sie nicht immer »accordirend« sprachen. Literatur
Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (KrV: Kritik der reinen Vernunft nach der ersten und zweiten Originalausgabe von 1781 und 1787 (A und B); KpV: Kritik der praktischen Vernunft; KU: Kritik der Urteilskraft) [AA]. Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962 ff. (GWL: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre) [GA]. Friedrich Wilhelm Josef Schelling: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Hans Michael Baumgartner u. a., StuttgartBad Cannstatt 1976 ff. [WW]. Der Frankfurter Hegel in seinem Kontext. Hegel-Tagung in Bad Homburg vor der Höhe im November 2013, hg. von Thomas Hanke und Thomas M. Schmidt, Frankfurt a. M. 2015. Waibel, Violetta L.: Kants Lehre der Antinomien »scheint
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
mir den ganzen Geist seines Systems zu enthalten« – Anmerkungen zu H. und Hegel und ein Rekurs auf Fichte. Beitrag für die Festschrift für Andreas Arndt zum 65. Ge burtstag, in: Schmidt, Sarah/Dimitris Karydas/Jure Zovko (Hg.): Begriff und Interpretation im Zeichen der Mo derne. Mit Zeichnungen von Nader Ahriman, Berlin 2015, 33–50. Waibel, Violetta L.: Kant und Fichte über die Antinomie der Freiheit: Was bleibt?, in: Danz, Christian/Michael Hackl (Hg.): Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, Göttingen 2017, 183–215.
zu H. und Idealismus
Altman, Matthew C. (Hg.): The Palgrave Handbook of German Idealism, Hampshire, New York 2014. Bubner, Rüdiger: Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995. Feger, Hans/Gloria Dell’Eva (Hg.): Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Würzburg 2016. Franz, Michael: Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von H., Schelling und Hegel, Tübingen 2012. Henrich, Dieter: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu H.s Denken (1794–1795), Stuttgart 1992.
zu H. und Kant
Brecht, Martin: Die Anfänge der idealistischen Philosophie und die Rezeption Kants in Tübingen (1788–1795), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477– 1977, Tübingen 1977, 381–428. Henrich, Dieter (Hg.): Immanuel Carl Diez. Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise, Tübingen–Jena (1790–1792), Stuttgart 1997. Stiening, Gideon: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem
in Friedrich Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«. (Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext: Frühe Neuzeit, 105), Tübingen 2005. Strack, Friedrich: Ästhetik und Freiheit. H.s Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit, Tübingen 1976. Waibel, Violetta L.: Metaphysik des Schönen und Erhabenen im Hinblick auf das Tragische bei Kant, Schiller und H., in: Kant und die Folgen. Die Herausforderung in Ästhetik, Ethik, Religionsphilosophie. Wiener Jahrbuch der Philosophie XLVIII, 2016, hg. von Rudolf Langthaler und Michael Hofer, Wien 2017, 34–101.
zu H. und Fichte
Reisinger, Peter: H. zwischen Fichte und Spinoza. Der Weg zu Hegel, in: Bachmeier, Helmut/Thomas Rentsch (Hg.): Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Poesie in der Epoche Goethes und H.s, Stuttgart 1987, 15–69. Waibel, Violetta L.: H. und Fichte. 1794–1800, Paderborn 2000.
zu H. und Schelling
Franz, Michael: Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996. Franz, Michael: Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von H., Schelling und Hegel, Tübingen 2012. Hühn, Lore: Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenze des menschlichen Wissens, Stuttgart 1994. Sandkaulen, Birgit: Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Göttingen 1990.
Violetta L. Waibel
13 Goethe
13 Goethe 13.1 Biographisches Die Beziehung H.s zu Johann Wolfgang Goethe ist vor allem in seiner biographischen Dimension beleuchtet worden (vgl. Doering 2011). Berühmt ist insbesondere jene erste persönliche Begegnung in Jena, als der vierundzwanzigjährige H. im Haus Schiller Goethe vorgestellt wurde, seinen Namen überhörte und ihn lange ignorierte, vertieft wie er war im Gespräch mit dem »Meister«. Erst später, als er das Haus verlassen hatte, erfuhr H. den Namen des »Fremden«. Wie peinlich dies dem jungen Dichter anmutete, gesteht er in einem Brief an seinen Freund Ludwig Neuffer vom November 1794, in der von einer »Unglüksstunde« die Rede ist: »Schiller nannte mich ihm, nannt’ ihn auch mir, aber ich verstand seinen Nahmen nicht. Kalt, fast one einen Blik auf ihn begrüßt ich ihn, und war einzig im Innern und Äußern mit Schillern beschäftigt [...]. Der Himmel helfe mir, mein Unglük, u. meine dummen Streiche gut zu machen, wenn ich nach Weimar komme« (StA 6.1, 140). Diese Stelle wurde oft als Schlüsselparabel für das Verhältnis H.s zu Goethe stilisiert, dessen Wahrnehmung förmlich durch Schiller aufgehoben zu sein scheint. Goethe ist der Fremde »im Hintergrunde«, der laut- und mienenlos – ein Bühnenrequisit, möchte man meinen – dem inneren und äußeren Dialog mit Schiller beiwohnt und H. fast stört. Für diesen Fremden hat der junge Dichter kein Auge und kein Ohr. Seine Aufmerksamkeit gilt allein dem »kolossalische[n] Geist« Schillers. Die Distanz des Außenseiters H. zu dem ›Dichterfürst‹ Goethe scheint durch eine weitere berühmte Begegnung bestätigt zu sein, die am 22.8.1797 in Frankfurt stattfand. Auch in diesem Fall wurde das Treffen von Schiller initiiert, der H. empfohlen hatte, sich Goethe vorzustellen, nicht ohne didaktische Absichten, denn es ging ihm darum, seinen »Schützling« auf den rechten Weg zu bringen. Schon vor dieser Begegnung hatte Schiller Goethe darum gebeten, die Gedichte An den Äther und Der Wanderer im Hinblick auf ihre Publikation in den Horen zu prüfen, ohne den Namen des Autors zu nennen. Goethe erblickte darin »ein sanftes, in Genügsamkeit sich auflösendes Streben«, aber bemängelte die zu abstrakten Bilder und fand, dass der Dichter gut getan hätte, »ein ganz einfaches Idyllisches Factum« zu wählen (StA 7.2, 96– 97). Eine solche Kritik bestätigte Schiller in seiner Meinung. H. wurde einer besonderen Autorentypolo-
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gie zugeschrieben, die noch Siegfried Schmid und Jean Paul einschloss: »Ich möchte wissen, ob diese Schmidt, diese Richter, diese H.s absolut und unter allen Umständen so subjectivisch, so überspannt, so einseitig geblieben wären, ob es an etwas primitivem liegt, oder ob nur der Mangel einer aesthetischen Nahrung und Einwirkung von außen und die Opposition der empirischen Welt in der sie leben gegen ihren idealischen Hang diese unglückliche Wirkung hervorgebracht hat« (StA 7.2, 107). Goethe reagierte entsprechend und stellte sich H. gegenüber als »kluger Ratgeber« vor, der ihm den rechten Weg der Dichtung zu weisen hatte. Davon gibt er prompt Rechenschaft in einem Brief an Schiller. Der junge Dichter, der die »Schule« Schillers verrät, erscheint ihm »etwas gedrückt und kränklich [...], aber er ist wirklich liebenswürdig und mit Bescheidenheit, ja mit Ängstlichkeit offen [...] Ich habe ihm besonders gerathen kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen« (StA 7.2, 109). Inwiefern sich H. an diese ›gutgemeinten‹ Hinweise hielt, sei jedoch dahingestellt. Werden einerseits die sogenannten Frankfurter Kurzoden in Zusammenhang mit dieser empfohlenen Poetik gebracht (vgl. FHA 5, 489), so lassen sich andererseits manche Verse gerade als Replik darauf interpretieren: »Der Jüngling an die klugen Rathgeber// Ich sollte ruhn? Ich soll die Liebe zwingen,/ Die feurigfroh nach hoher Schöne strebt?/ [...]/ Versucht es nicht, das Sonnenroß zu lähmen!/ Laßt immerhin den Sternen ihre Bahn!/ Und mir, mir rathet nicht, mich zu bequemen,/ Und macht mich nicht den Knechten unterthan« (StA 1.1, 225–226). Die erste Fassung dieses Gedichts, das den Titel An die klugen Rathgeber trägt, geht allerdings auf das Jahr 1796 zurück. H. hatte es am 24.7. an Schiller geschickt, der es jedoch nicht in seinen Musenalmanach aufnahm. Ein Jahr später legte er das überarbeitete Gedicht einem Brief bei, der nach Schillers Kalender am 24.8. einging. Die neue Fassung dürfte also kurz vor dem Besuch bei Goethe verfasst worden sein und kann sich kaum auf dessen Urteil beziehen, obwohl der Text zweifellos beide Dichter und ihre ästhetischen Positionen attackiert (vgl. dazu Strack 2001, 135–137). Wie immer H. zu den Ratschlägen Goethes gestanden haben mag, so sind bei dieser emblematischen Episode die Rollen klar verteilt und definiert: Schiller und Goethe vertreten eine Ästhetik, die sich durchsetzen und neue Anhänger gewinnen will, während H. als widerspenstiger Schüler dasteht. Einmal mehr tritt
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_13
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
Goethe nur in Zusammenhang mit Schiller auf, und zwar als seine Projektion, als eine Instanz, deren Autorität die Lehre des »Meisters« bekräftigen soll. Es besteht freilich kein Zweifel daran, dass H.s persönliches Verhältnis zu Schiller weitaus intensiver als das zu Goethe war. So dürfte sich H. brieflich nie an Goethe gewandt haben. Ein Schreibentwurf, den Adolf Beck als einen an Goethe gerichteten sehen wollte (StA 6.1, 349–350), lässt keinen eindeutigen Adressaten erkennen und scheint in der Tat nur ein Musterbrief zu sein, der eine allgemeine Einladung zur Mitarbeit an der geplanten Zeitschrift Iduna enthält. Es fällt deshalb schwer, von einer wirklich persönlichen Beziehung zu sprechen. Soll man aber daraus schließen, dass Goethe für H. nichts anderes war als ein strenger Richter, ein Bundesgenosse Schillers, der dem jungen Dichter den Weg zur poetischen Emanzipation versperrte und sonst nicht wahrgenommen wurde? Eine solche Annahme lässt sich durch die zahlreichen intertextuellen Bezüge auf die Schriften Goethes in H.s Werk relativ einfach widerlegen. Obwohl Spuren dieser Art nicht systematisch untersucht wurden, wird auch bei einer nur kursorischen Textanalyse offenkundig, dass Goethes Œuvre für H. sehr wohl präsent war und zwar jenseits der persönlichen Begegnung und unabhängig von der Beziehung zu Schiller. Wenn man den oben zitierten Brief an Neuffer genauer betrachtet, so wird offenkundig, dass Goethe für H. keineswegs unbedeutend war. Im Gegenteil, das Peinliche ist ja eben genau die Tatsache, dass der junge Dichter unbewusst eine von ihm geschätzte Persönlichkeit nicht beachtet hat. Das mag vielleicht erklären, warum H. Neuffer eine zweite Begegnung mit Goethe in Weimar so erzählt, als wäre sie die erste Gelegenheit gewesen, mit dem Dichter Bekanntschaft zu schließen, der ihm wie ein »recht herzgute[r] Vater« erscheint (StA 6.1, 151). Und in einem Brief an Hegel vom 26.1.1795 stellt H. diese Begegnung triumphal als Höhepunkt seines Weimarer Aufenthalts dar (StA 6.1, 150).
13.2 Werthers Spuren in Hölderlins Werk Das Werk Goethes, mit dem sich H. am intensivsten auseinandergesetzt hat, ist zweifelsohne Die Leiden des jungen Werthers. Wie sehr dieser Roman auf die Vorstellungswelt der um 1770 geborenen Generation wirkte, lässt sich am Beispiel eines Briefs Rudolf Magenaus an H. zeigen. Aus Markgrönigen, wo er die Fe-
rien verbrachte, schilderte er am 3.6.1792 dem in Tübingen gebliebenen Kollegen seinen Gemütszustand: »so frei u. zufriden kost ich den Freuden Becher u. seine minniglichen Weines. Ich möchte, mit Göthe zu reden, zum Maienkäfer werden, um alle die 1000. Reizze u. Wonnen dieses schönen Maien aufzusaugen« (StA 7.1, 28). Es handelt sich offenkundig um eine Anspielung auf den Werther-Brief vom 4. Mai, in dem die Hauptfigur seine Sehnsucht offenlegt, sich in einen Maikäfer zu verwandeln. In dem Roman findet die neue Generation einen Bildercode, mit dem die eigenen Gefühle zum Ausdruck gebracht werden können. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kann man bei H. die Lektüre des Werther voraussetzen. Es ist anzunehmen, dass Magenau die zweite, 1787 erschienene Romanfassung kannte. Im gleichen Jahr entdeckt der junge H. die Lieder Ossians und berichtet davon enthusiastisch seinem Freund Immanuel Nast. Man kann sich fragen, ob dieses Interesse für Ossian nicht aus einer Lektüre des Romans Goethes hervorgeht, in dessen zweiten Teil die elegischen Lieder Macphersons für die Hauptfigur bekanntlich identitätsstiftend werden. Ein von Ossian inspiriertes Szenario lässt sich in einem Jugendgedicht H.s wiederfinden. Da gibt es ein Tal, »wo zu der Väter Zeit/ Helme klangen, und Schilde«. Darüber hängen »schauerlich Wald und Fels«; »stille Erhabenheit« blickt »ernst und düster« herunter. Dieses Tal ist allerdings durchaus friedlich geworden und scheint in einen locus amoenus verwandelt worden zu sein. Ein Nebenfluss des Neckars durchquert es und neben anderen bukolischen Erscheinungen tritt eine Frau auf, deren Namen »des Getümmels Ohr/ nicht zu kennen verdient«. Die »Gute«, die »stille, der Tugend bekannt/ Und der sanfteren Lust, wandelt«, heißt in der Reinschrift zunächst Lotte. Durch eine spätere Korrektur wird jedoch dieser Name durch jenen Amalia (eine offenkundige Anspielung auf Schillers Räuber) ersetzt (vgl. FHA 1, 300–301). In diesem Jugendgedicht, das nachträglich auf 1786 datiert wurde (wobei die Ossian-Bezüge eher an 1787 denken lassen), sind die berühmtesten Frauenfiguren des Sturm und Drang austauschbar, Platzhalter in einer Phantasie, in der sich die schwäbische Landschaft mit der Landschaft Ossians überlagert. Solch eine jugendlich-bunte Verquickung ist kulturhistorisch indes von Bedeutung. H. liest Ossian durch Goethe und verleiht Lotte den Rang einer Muse. Werther-Wortschatz und Stil wirken in den Jugendbriefen H.s an mehreren Stellen nach. Es sind Symptome einer Faszination, die lange andauern wird. H. erkennt sofort die Bedeutung des Romans, der die
13 Goethe
Stigmata einer ganzen Epoche trägt. Spuren des Werther sind vor allem in Hyperion zu finden, dessen Textur wesentlich von der Konfrontation mit Goethe geprägt ist. Beiden Werken ist die Briefstruktur gemeinsam, was manches Mal zu Urteilen geführt hat, die nicht immer zutreffend waren. So wurde Hyperion von Friedrich Theodor Vischer z. B. als »griechischer Werther« bezeichnet (vgl. StA 3, 430). Zu Recht wurde aber bemerkt, dass sich gerade das Erzählmodell H.s von jenem Goethes unterscheidet (vgl. Ryan 1970). Bezieht sich Werther in seinen Briefen auf Ereignisse, die soeben stattgefunden haben, so erinnert sich Hyperion an eine Vergangenheit, die er aus einer zeitlichen, geographischen und emotionalen Ferne betrachtet. Während der Erzähler Werther mit dem Held seiner Erzählung übereinstimmt, erkennt sich Hyperion in seinen eigenen Handlungen nicht mehr wieder. Es ist diese schmerzliche Distanz, die für die Poetik des Romans konstitutiv ist. Die Trennung vom Erlebten, die das Schreiben Hyperions an Bellarmin voraussetzt, ist Werther völlig fremd. So verschieden die Erzählmodelle sind, so unterschiedlich sind auch die Romanfiguren. Das gilt vor allem, wenn man Werther mit dem Erzähler Hyperion vergleicht. Wie steht es aber mit dem Helden der Briefe, mit dem jungen Hyperion, von dem sich der Erzähler distanzieren will? Spricht er zuweilen nicht dieselbe Sprache wie der junge Werther? Schon im dritten Brief erzählt Hyperion von seinen Jugendtagen in Griechenland und seiner damaligen Naturauffassung in einer Weise, die ihre Herleitung unverkennbar aus dem Werther-Brief vom 10. Mai zeigt, der oft als Musterbeispiel einer pantheistischen Konzeption aufge fasst wurde. Abgesehen von dieser markanten und oft kommentierten Stelle weist Hyperion noch diverse intertextuelle Bezüge zu der Goetheschen Vorlage auf. Sie betreffen sowohl einzelne Bilder und Gleichnisse als auch den Stil und den Rhythmus der Prosa (vgl. Reitani 2015). Für H. bietet der Roman Goethes ein Reservoir an Stilelementen, Bildern und sprachlichen Formulierungen, die refunktionalisiert werden. Wenn die Figur Hyperions in ihrer Entwicklung jener Werthers nicht entsprechen kann, so ist dessen Stimme im Roman doch präsent. Diese Stimme wird H. immer wieder beschäftigen. Eine letzte, wenig beachtete Spur des Werther findet sich in einem seiner berühmtesten Gedichte, in Hälfte des Lebens (1804, vgl. Silz 1969). In der zweiten Strophe fragt sich das Subjekt, wo er im Winter Blumen finden kann. Nun begegnet Werther im zweiten Teil des Romans einem Menschen, der an einem windigen
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Wintermittag »zwischen den Felsen herumkrabbelte und Kräuter zu suchen schien« (Brief vom 30. Nov.). Werther fragt ihn, was er suche: »Ich suche, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, Blumen – und finde keine«. Werther, der gleich etwas »Unheimliches« merkt und bald begreift, einen Geisteskranken vor sich zu haben, wird von dessen Mutter erfahren, dass der Grund seines Wahnsinns eine unglückliche Liebe ist. Der verzweifelte Mensch, der im Winter Blumen sucht, ist deshalb eine Art Doppelgänger Werthers, und sein Wahnsinn ist die tragische Variante einer gemeinsamen Pathologie. Goethe dürfte sich seinerseits auf eine Stelle in Shakespeares Hamlet (IV, 5, V. 180 ff.) bezogen haben, in der die verrückt gewordene Ophelia glaubt, Blumen und Kräuter zu pflücken. In beiden Textstellen ist die unmögliche Suche nach Blumen mit einer unglücklichen Liebe verbunden, die bis zum Wahnsinn führt. Insofern scheint die Szene fast ein Topos für die dramatisch-lyrische Darstellung der Geisteskrankheit zu sein. Bei Goethe ist allerding die Winterlandschaft neu und im Werther die Suche nach Blumen im Winter das poetische Bild einer ›Dissonanz‹ geworden. Wenn diese intertextuelle Assoziation stimmt, so lässt sich schließen, dass die WertherFigur – samt ihrem Doppelgänger auf der Suche nach den Blumen im Winter – für H. ein unheimliches und bedrohliches Gespenst darstellte, das ihn noch in späteren Jahren verfolgen wird.
13.3 Weitere intertextuelle Bezüge Die Lektüre von Wilhelm Meisters Lehrjahre, die H. seinem Freund Neuffer mitteilt (StA 6.1, 151), bringt den Dichter wahrscheinlich dazu, die Briefform seines Romanprojekts vorläufig aufzugeben und Hyperions Jugend zu verfassen. Der Bildungsroman Goethes wirkt noch in der Feiertags-Hymne nach (vgl. Strack 2001). In der ersten Fassung der Empedokles-Tragödie erinnert die Exposition stark an diejenige von Goethes Tasso: In beiden Stücken sprechen zwei Frauen in einem Garten über die Hauptperson, deren Auftritt somit vorbereitet wird. Mit der Figur Tassos wollte übrigens Susette Gontard ihren Freund identifizieren (StA 7.1, 80). Motivik und Topoi von Menons Klagen um Diotima gehen u. a. auf Goethes Elegie Euphrosyne zurück (vgl. Reitani 2003, 34–37). Überhaupt sind H.s Versuche auf diesem Gebiet ohne die Kenntnis der Liebeselegien Goethes nicht denkbar (vgl. Burdorf 2013). Bei seinem gründlichen Studium der Werke Goethes strebt H. systematisch danach, sein Modell zu
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überbieten. Goethes Zitate dienen als Folie, von der sich H.s Texte abheben. Verse von Gedichten wie Prometheus oder Mahomets Gesang werden von H. oft variiert (vgl. Mason 1975, 31–32). Das Parzenlied aus der Iphigenie in Tauris, das der Tübinger Dichter mehrmals zitiert, dient – wie Jochen Schmidt nachgewiesen hat (1998) – als Modell für das Schiksaalslied im Roman Hyperion. Ein Zitat aus Grenzen der Menschheit steht als rhetorisches Argument im ersten Brief an Böhlendorff. Auf Hermann und Dorothea antwortet das Versepos Emilie vor ihrem Brauttag. Mag die biographische Figur Goethes für H. »im Hintergrunde« geblieben sein, so verweisen seine Texte immer wieder auf das Werk des Weimarer Dichters, auf eine tiefgehende Auseinandersetzung, die für die geistige und künstlerische Entwicklung H.s zentral gewesen sein dürfte. Literatur
Burdorf, Dieter: Goethes und H.s Liebeselegien, in: Rohde, Carsten Rohde/Thorsten Valk (Hg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800, Berlin/Boston 2013, 299–319. Doering, Sabine: »so fand ich ihn«. Goethe und H. – Stationen einer komplizierten Begegnung, in: Goethe-Jahrbuch 128 (2011), 170–187. Gaier, Ulrich: H.: Eine Einführung, Tübingen/Basel 1993.
Gaier, Ulrich: H. und Goethe, in: T 2 (1995), 147–154. Jamme, Christoph: H. Friedrich (1770–1843), in: Dahnke, Hans-Dietrich/Regine Otto (Hg.): Goethe-Handbuch, Bd. 4: Personen, Sachen, Begriffe. Teil 1: A–K, Stuttgart/ Weimar 1998, 489–491. Mason, Eudo C.: H. and Goethe, hg. v. P. H. Gaskill, Bern/ Frankfurt a. M. 1975. Reitani, Luigi: H.s ›Nänie‹. ›Menons Klagen um Diotima‹ als ästhetische Replik auf Schiller, Udine 2003. Reitani, Luigi: H. als Leser des ›Werther‹, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2015, 259–288. Ryan, Lawrence: H.s ›Hyperion‹: Ein »romantischer« Roman? In: Jochen Schmidt (Hg.): Über H., Frankfurt a. M. 1970, 175–212. Schmidt, Jochen: H.s Übersetzung von ›Iphigeniens Parzenlied‹ in Hyperions ›Schicksalslied‹, in: Stadler, Ulrich (Hg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, Stuttgart/Weimar 1998, 347–353. Silz, Walter: H.’s ›Hyperion‹. A critical Reading, Philadelphia 1969. Strack, Friedrich: Von Goethe und Schiller verkannt und gegängelt? H.s Auseinandersetzung mit der Weimarer Klassik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2001, 122–150. Vollmer, Hartmut: »Worte sind hier umsonst«. Die Beschreibung des Unbeschreiblichen in Goethes ›Werther‹ und H.s ›Hyperion‹, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), 481–508.
Luigi Reitani
14 Hölderlin und die Frühromantik
14 Hölderlin und die Frühromantik Die theoretischen Positionen H.s und der Jenaer Frühromantiker weisen auffällige Ähnlichkeiten auf. Dies mag verwundern, weil es keinen gedanklichen Austausch zwischen ihnen gegeben hat. H. hatte Jena schon verlassen, bevor sich die Schlegels dort niederließen. Für die inhaltlichen Parallelen lassen sich drei Gründe geltend machen: Ihre Arbeiten sind aus derselben historisch-geistigen Situation heraus entstanden; sie beziehen sich auf gleiche Quellen und Anknüpfungspunkte; und sie haben vergleichbare theoretische Interessen und Ambitionen. Die folgende Betrachtung bringt H. und die Frühromantik in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang, wodurch wechselseitige Zugänge zu den theoretischen Ansätzen dieser Autoren eröffnet werden können. Zur Frühromantik zählt der enge Kreis um die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich Schlegel (1772–1829), der sich in Jena 1796 konstituiert und dessen Ende angesetzt wird etwa mit dem Einstellen des Erscheinens des Athenäum (1800), der Zeitschrift dieses Kreises, sowie durch den frühen Tod Friedrich von Hardenbergs (Novalis; 1772–1801). Eine wichtige Rolle für die Frühromantik spielen die Lebensgefährtinnen der Brüder Schlegel: Caroline Michaelis (1763–1809) geht mit A. W. Schlegel 1796 die Ehe ein, trennt sich jedoch wenige Jahre später von ihm, um fortan mit Schelling zu leben. F. Schlegel lernt 1797 Dorothea Veit (1763–1839) kennen, sie heiraten 1804. Als Frühromantiker gelten weiterhin L. Tieck (1773–1853) und W. H. Wackenroder (1773–1798). Zum näheren Umfeld gehören als ständige Gesprächspartner und Vertraute in dieser Zeit F. D. E. Schleiermacher (1768–1834) und auch Schelling (1775–1854). Die folgende Darstellung der Frühromantik bezieht sich speziell auf Friedrich Schlegel (im Folgenden nur noch als Schlegel) und Novalis.
14.1 Bezugnahmen Der wohl einzige persönliche Kontakt zwischen H. und einem Vertreter der Frühromantik war das Aufeinandertreffen von H., Novalis und Fichte im Hause Niethammer im Frühsommer 1795 (vgl. StA 7.2, 27), von dessen Verlauf und Gesprächsinhalt allerdings nichts überliefert ist. Dennoch lassen sich gemeinsame theoretische Quellen und Bezugspunkte nachweisen: die Vorliebe für Platon, die Debatten um Spinoza, das intensive Studium der Schriften Kants und Fichtes.
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Schelling (s. Kap. 5) spielt eine wichtige Vermittlungsrolle. Als Studienfreunde teilten sich H. und Schelling ihre theoretischen Ansichten mit. Für 1795 und 1796 sind drei Treffen dokumentiert (vgl. StA 6.2, 757). Schelling liest ab Wintersemester 1798 an der Jenaer Universität und verkehrt seit dieser Zeit auch im Kreise um die Brüder Schlegel. Im Jahr 1798 weilen die Schlegels, Novalis, Schelling und Fichte zu einem gemeinsamen Sommerurlaub in Dresden. Die Beziehung zwischen Schelling und den Frühromantikern ist dabei eher kritisch und distanziert, obwohl von beiden Seiten wichtige Impulse ausgehen. Außerdem hat Schiller (s. Kap. 11) eine große Wirkung ausgeübt. Zum einen sind seine ästhetischen Schriften eingehend rezipiert worden. Zugleich ist H. mit Schiller, den er zutiefst verehrt, persönlich bekannt. Auch die Brüder Schlegel, die anfangs in Schillers Zeitschrift Horen publizieren dürfen, verkehren mit Schiller, doch kommt es bald zum Bruch. F. Schlegel insbesondere sieht in Goethes Wilhelm Meister das Ideal des modernen Romans und diskutiert dieses Werk im Zusammenhang mit seinem eigenen Poesiekonzept. Die dokumentierten wechselseitigen Bezugnahmen aufeinander sind äußerst spärlich. Inwieweit eine gegenseitige Kenntnis der Publikationen gegeben ist, lässt sich bis auf wenige Ausnahmen kaum rekonstruieren. Im Brief an seine Mutter vom März oder April 1799 berichtet H. von einer Erwähnung einiger seiner Gedichte in der Jenaer Literaturzeitung durch A. W. Schlegel (StA 6.1, 320 f.). A. W. Schlegel hat auch seine Zusage zur Mitarbeit an H.s geplantem Journal gegeben (ebd., 357). F. Schlegel erwähnt H. in seiner Rezension des Schillerschen Musen-Almanach. Er hält es für unangebracht, junge Künstler wie »einen Neuffer oder Hölderlin« und »erfahrne Meister« wie Schiller »nach demselben Maßstabe zu würdigen« (KFS 2, 3). Also ist H. Schlegel schon 1796 bekannt. In Schillers Musenalmanach für das Jahr 1796 sind von H. erschienen: Hymne an den Genius der Jugend und Der Gott der Jugend. Schiller nimmt 1797 in seine Horen (6. Stück) H.s Der Wanderer auf. Schlegels Rezensionen der Horen des Jahres 1796 sowie von Niethammers Philosophischem Journal dürften H. bekannt sein. Anzunehmen ist auch, dass H. das Athenäum der Brüder Schlegel kennt. Manche Interpreten (z. B. Böhm, 1, 439 sowie die Hg. der StA, vgl. 6.2, 940) gehen davon aus, dass H. sein eigenes Journalprojekt, das er in den ersten Monaten des Jahres 1799 vortreibt, in Abgrenzung gegen das Athenäum konzipiert. Sie stützen sich dabei zum einen auf ein erhaltenes Bruchstück der Ankün-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_14
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digung H.s zu seinem Journal, in dem es heißt: »Gelehrte Kritiken und Biographien, so wie alle Spekulation, die nur in den Streit gehört, liegen außerhalb unseres Zweks. Bonhommie nicht kalte Frivolität, leichte klare Ordnung, Kürze des Ganzen – nicht affectirt muthwillige Sprünge und Sonderbarkeiten.« (StA 4.1, 220) Zum zweiten könnte ihrer Meinung nach auch H.s Formulierung in einem Brief an Steinkopf vom 18. Juni 1799 als Kritik am Athenäum gelesen werden, wenn es darin heißt, dass es anderen Versuchen »an gehöriger Unparteilichkeit, entweder aus Leidenschaft oder aus Unkunde gefehlt [hat], man hat wieder übertrieben, hat wieder zu einem Extrem gegriffen, ist unverständlich dadurch und den Andern übertrieben anstößig geworden« (StA 6.1, 335). Anfang August 1806 besucht Schlegel Sinclair in Homburg. Es gibt zwar kein Zusammentreffen mit H., mit Sicherheit aber ist er Gesprächsthema. Denn in zwei Briefen informiert Sinclair über die Wertschätzung H.s durch die Frühromantiker. In einem Brief an Prinzessin Marianne vom 26. Sept. 1806 berichtet Sinclair darüber, dass er die Bekanntschaft Schlegels, Tiecks und Brentanos gemacht habe. Sie »sind die größten Bewunderer Hölderlins u. weisen ihm eine der ersten Stellen unter allen Dichtern Teutschlands zu« (StA 7.2, 355). Ähnlich schreibt er am 23. Mai 1807 an Hegel: Schlegel und Tieck schätzten H.s Veröffentlichungen in Seckendorfs Musenalmanach als »für das höchste ihrer Art in der ganzen modernen Poesie« (StA 7.2, 382). In eigenartigem Kontrast hierzu steht aber, dass z. B. Schlegel weder in seinem Artikel Literatur von 1803 (KFS 3), in dem er einen Überblick über die zeitgenössische deutsche Literatur gibt, noch in seiner Vorlesung über Geschichte der alten und neuen Literatur von 1812 (KFS 6) H. überhaupt erwähnt. Eine breite Rezeption des Dichters H. setzt in der zweiten Romantikergeneration, vor allem bei Bettine und Achim von Arnim, ein. Letzterer würdigt in seiner kleinen Schrift Ausflüge mit Hölderlin (1828) diesen als den »größten aller elegischen Dichter der Deutschen« (6, 866) und moniert, dass H. zu Unrecht bisher wohl noch in keiner Ästhetik vorkomme. Er bespricht anlässlich einer Ausgabe der Gedichte H.s bei Cotta (1826) einzelne Gedichtpassagen. Dass er auf mehrere Gedichte verweisen kann, die in der Sammlung nicht vorkommen, belegt seine gründliche Kenntnis von H.s dichterischem Werk. Bettine von Arnim kommt in ihrem Günderode-Roman (1840) mehrfach auf H. zu sprechen. Hierin spielt z. B. auch St. Clair (Sinclair; s. Kap. 5) eine Rolle, den die Auto-
rin im Roman ebenfalls über H. sagen lässt: »es ist doch gewiß, daß er der größte elegische Dichter ist« (159). Beide Arnims verklären H.s »Verrücktheit« als Entrücktheit von allem Irdischen und dadurch erlangte Nähe zum Göttlichen. So endet A. v. Arnims Darstellung mit dem Gedanken: »was ihn erleuchtet, kommt aus weiter Ferne, wir ersehen es an einzelnen Ausdrücken heiliger Schriften, die sich vielleicht erst spät und überraschend ihm eröffneten, daß er hier nur zu glauben brauchte, um zu dichten« (6, 872). Und bei Bettine kann man lesen: »Gewiß ist mir doch bei diesem Hölderlin, als müsse eine göttliche Gewalt wie mit Fluten ihn überströmt haben« (290).
14.2 Theoretische Positionen H., Schlegel und Novalis beschäftigen sich intensiv mit Philosophie, die sie als eine tragende geistige Kraft des Zeitalters verstehen, sowie mit Fragen der Ästhetik und speziell der Dichtungstheorie. Schlegel hat bis ans Ende seines Lebens immer wieder auch philosophische Vorlesungen gehalten, die einen Aufriss seines Denkens geben. Novalis bekennt in einem Brief an Schlegel vom 8. Juli 1796: »Filosofie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigenen Selbst.« (KFS 23, 319) H. erwägt anfangs auch eine philosophische Karriere. Doch sein Herz gehört der Dichtung. Ein philosophischer Beruf wäre für H. die zweite Wahl gewesen. So erklärt er in einem Brief an Niethammer (24. Febr. 1796): »Die Philosophie ist eine Tyrannin, und ich dulde ihren Zwang mehr, als daß ich mich ihm freiwillig unterwerfe.« (StA 6.1, 203) Und an Neuffer schreibt H. (12. Nov. 1798), dass seine eigentlichen Ambitionen dem Lebendigen in der Poesie gälten und die Philosophie nur ein Hospital sei, »wohin sich jeder auf meine Art verunglükte Poët mit Ehren flüchten kann« (StA 6.1, 289). Das zentrale Anliegen der drei Autoren besteht darin, an einer umfassenden Synthese der geistigen Kräfte der Zeit mitzuwirken, vor allem aber Philosophie, Poesie und Religion zu verbinden. Zugleich wenden sich insbesondere H. und Novalis (zeitweise auch Schlegel) in Abgrenzung gegen den Aufklärungsrationalismus der Naturphilosophie (in Anknüpfung an Spinoza und Schelling) zu. Schlegel und Schelling bringen den Gedanken einer »Neuen Mythologie« in die Diskussion ein. Den sozialgeschichtlichen und politischen Hintergrund dieser Ansätze bildet die mit der Französischen Revolution verbundene Hoffnung auf eine gerechte und in ihren Wider-
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sprüchen versöhnte Gesellschaft, die v. a. bei H. und Novalis sozialutopische Züge annimmt. Anknüpfung an Platon H. und Schlegel schätzen von Jugend an Platons Dialoge. Der von H. im Brief an Neuffer (10. Okt. 1794) angekündigte »Aufsaz über die ästhetischen Ideen« sollte »ein Kommentar über den Phädrus des Plato« sein und zugleich auf Kants Ästhetik und Schillers Schrift Über Anmut und Würde eingehen. (StA 6.1, 137) H. verbindet mit Platon vorrangig eine Fundierung seiner Auffassung vom Wesen des Schönen und von der vereinigenden Kraft der Liebe, zu der auch die Rezeption Spinozas beigetragen hat (s. Kap. 24: Frühe Aufsätze). Auf H.s Anknüpfung an die »ontologisch-mathematische Prinzipienlehre des Platonismus« macht Franz (1997, 168) aufmerksam. Schlegel findet in Platon einen kongenialen Philosophen, dessen Werk seinen eigenen Vorstellungen weitgehend entspricht. Zu den wichtigsten gemeinsamen Grundorientierungen zählt Schlegel die Einsicht in die Unerreichbarkeit des Absoluten, damit verbunden ein approximatives Philosophieren in dialogisch-literarischer, allegorisierender Form, aber auch die Betonung der vereinigenden Kraft des Eros. Schlegel plant um 1799 die Übersetzung und Publikation der Werke Platons, wozu er auch Schleiermacher gewinnen kann. Das Projekt wird Schleiermacher jedoch alleine ausführen, weil Schlegel seine Teile schuldig bleibt. Novalis nimmt auf Platon selten direkt Bezug. Anknüpfung an Kant Das intensive Studium der Schriften Kants begleitet den theoretischen Weg H.s und der Frühromantiker. Sie rezipieren Kants praktische Philosophie als Freiheitslehre, so H. in seiner Studie Über das Gesez der Freiheit (1794), und als Verteidigung des Republikanismus wie z. B. Schlegel in seiner kleinen Schrift Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796). Große Wirkung übt Kant durch seinen weitreichenden kritischen Ansatz aus. H. äußert in seinem Brief an den Bruder vom 13. April 1795, dass er durch das Studium Kants gewöhnt sei, »zu prüfen«, bevor er etwas annehme (StA 6.1, 164). Speziell für Schlegel ist Kants Kritikbegriff bedeutsam für die Modellierung eines eigenen Konzepts sowohl der philosophischen als auch der Literaturkritik. Im Brief an Hegel vom 10. Juli 1794 erklärt H., dass seine Hauptbeschäftigung den Griechen und Kant gel-
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te. »Mit dem ästhetischen Teile der kritischen Philosophie such ich vorzüglich vertraut zu werden.« (StA 6.1, 128) Kants Ästhetik kann in dreifacher Hinsicht als bedeutsam für H. und die Frühromantik angesehen werden. Zum ersten weist Kant der Ästhetik einen eigenständigen Platz gegenüber Wissenschaft, Ethik und Religion zu. Das ästhetische Urteil gehorcht eigenen Prinzipien. Zum zweiten hat Kant mit der Auffassung vom »freien Spiel der Erkenntniskräfte« die Individualität und Kreativität des Kunstschaffens herausgestellt. Zum dritten gesteht Kant zu, dass das ästhetische Urteil als Geschmacksurteil zwar nicht beliebig, aber dennoch subjektiv sei. Eine explizite Kantkritik trägt Schlegel vor. Sie gilt dem von Kant nicht gelösten Problem der durch die Kritik der Urteilskraft in Angriff genommenen Vermittlung von theoretischer und praktischer Philosophie sowie von Sinnlichkeit und Denken, an dessen Bewältigung schon die Kantianer bis hin zu Fichte angesetzt haben. Zugleich wendet er sich gegen den ab strakten Formalismus der Transzendentalphilosophie und fordert immer wieder deren Historisierung; später polemisiert er sogar gegen die kritische Begrenzung der Vernunft, »weil der Vernunft gar keine Gränzen gegeben werden können« (KFS 12, 96). Anknüpfung an Fichte Die Philosophie Fichtes (s. Kap. 12) bildet für H. und die Frühromantiker den wohl wichtigsten theoretischen Anknüpfungspunkt. Im Zentrum ihrer Rezeption stehen die Bestimmung des Menschen durch Freiheit und Selbsttätigkeit, die Funktion des absoluten Ich – zum einen als transzendentaler Ausgangspunkt des Systems, zum anderen hinsichtlich der Frage nach seiner Selbsteinsichtigkeit (Selbstbewusstsein) –, das Modell vom unendlichen Progress des menschlichen Handelns, das geknüpft ist an die freie Aktivität der Einbildungskraft, und die dialektische Methode. H. und die Frühromantiker rezipieren Fichtes im Modell der Einbildungskraft verarbeitete Auffassung menschlicher Tätigkeit, die als das eigentlich kreative Vermögen in immer neu ausgreifenden Produktionen ins Unendliche verweist. Fichte zeigt auf, dass die Unendlichkeit des Ichs aus dem konstitutionellen, unaufhörlichen ›Streben‹ des Ich resultiert. Er geht aus von einer ins Unendliche gerichteten Potenz des Ich, die aber in der Konkretion jeder Tätigkeit immer wieder verendlicht wird. »Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Be-
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stimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt« (Gesamtausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., 1.2, 360). Diese Funktionsbestimmung menschlicher Tätigkeit als Vermittlung von Endlichkeit und Unendlichkeit findet sich auch bei H., Schlegel und Novalis. Zugleich ist Fichtes Methode der Wechselbestimmung von besonderem Interesse, wonach die beiden Pole eines Gegensatzes nur in ihrer wechselseitigen Bestimmung ihre Funktion und ihren Inhalt erhalten. Dieses dialektische Denken liefert H. und den Frühromantikern ein wichtiges methodologisches Instrumentarium und wird von ihnen immer wieder erörtert und mit eigenen begrifflichen Vorschlägen untersetzt. So spricht H. vom ›Harmonischentgegengesetzten‹ und von der ›hyperbolischen Methode‹. Er hebt hervor, dass der poetische Geist sowohl Entgegensetzung als auch Verbindung herstellen können muss. Dieser Gedanke kehrt immer wieder: »Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.« (StA 3, 160) Schlegel verwendet speziell sein Konzept von Ironie als dialektische Vermittlung, dem Schweben zwischen Extremen. An deren Stelle tritt später die Liebe als synthetisierende Kraft. Auch bei Novalis durchziehen die Überlegungen zur Methodik der Synthesis nicht nur seine umfangreiche Sammlung von Skizzen und Notizen, die 1795/96 entstanden und inzwischen als Fichte-Studien bekannt sind, sondern auch seine anderen Fragmentsammlungen und seine Dichtungen. Bis hin zur Theorie des Märchens lässt sich dies verfolgen (Nov. 2, 697, 989). Speziell mit seinem Topos des »ordo inversus«, (Frank übersetzt als »reflexive Inversion«, 1977, 78), schließt sich Novalis an die dialektische Methode Fichtes an. Übrigens spricht auch H. von »Inversion« der Worte bzw. Perioden (StA 4.1, 233). Mit Fichte geht es um die Synthese von Form und Stoff, Gefühl und Reflexion. Dabei ist die Leitidee eine wechselseitige Bestimmung des Strebens nach Einheit und des Strebens nach Mannigfaltigkeit, eine »höhere Synthesis der Einheit und Mannichfaltigkeit selbst hervorgebracht – durch die Eins in Allem und Alles in Einem ist« (Nov. 2, 378, 274). Ein weiterer wichtiger Aspekt der Fichteaneignung durch H., Schlegel und Novalis ist der Versuch, Fichte und Spinoza zu verbinden. Henrich (1992) weist dies an H.s Konzeption von Urtheil und Seyn auf. Auch anhand vieler Fragmente Schlegels und Novalis’ lässt sich dies belegen, speziell aber in Schlegels Vorlesung
über Transcendentalphilosophie, gehalten als frisch habilitierter Philosoph an der Universität Jena im Wintersemester 1800/01, die explizit auf einer Synthese von Fichte und Spinoza basiert. Bei aller Verehrung ist das Verhältnis H.s, Schlegels und Novalis’ zu Fichte durchaus kritisch. Die prinzipielle Kritik an Fichtes Wissenschaftslehre richtet sich gegen ein deduktives Philosophieren aus einem ersten Grundsatz und dem damit verbundenen Konzept einer Philosophie als System. Die Auseinandersetzung mit dem Systemmodell bringt drei wesentliche Einwände vor. Der erste betrifft die Möglichkeit von Philosophie als deduktivem System überhaupt, der zweite die Frage nach dem Anfang der Philosophie (Grundsatzproblem), der dritte die Methode der Deduktion, der gegenüber v. a. Schlegel einen Methodenpluralismus geltend macht. In dem kleinen Dialog Hermokrates an Cephalus (1794/95) thematisiert H. die Frage nach einem System als »Ideal des Wissens« und bezweifelt, ob »gerade diese Art des sterblichen Strebens ein Vorrecht hätte, wenn gerade hier die Vollendung, die jedes sucht und keines findet, vorhanden wäre« (StA 4.1, 213). Gegen eine deduktive Grundsatzphilosophie, gegen die »Grundwut« (vgl. KFS 2, 155, 66) und die »Grundsucher« (vgl. KFS 18, 19, 5), macht Schlegel geltend: »Daß die Form der Philosophie unendlich ist – enthält schon das in sich daß es unendlich viele Anfänge der Philosophie giebt« (KFS 18, 407, 1049). Schlegel findet die Wissenschaftslehre zu mechanisch, nicht organisch genug. Novalis setzt ebenfalls hier an: »Das eigentliche Philosophische System muß Freyheit und Unendlichkeit, oder, um es auffallend auszudrücken, Systemlosigkeit, in ein System gebracht, seyn.« (Nov. 2, 288 f., 648) Diese Systemkritik wird bei Schlegel und Novalis selbst umgesetzt durch die starke Orientierung auf das Fragment als philosophische Darstellungsform. Endlichkeit – Unendlichkeit Die Sehnsucht nach dem Unendlichen, nie Erreichbaren ist ein wesentliches Signum der Romantik überhaupt. Diese Unendlichkeitssehnsucht ist nicht eine weltfremde, verträumte, mystifizierende Abwendung von der Realität, sondern Ausdruck der künstlerischen Kreativität, Metapher für die konstitutive Unbestimmtheit des Menschen, wesentliche Komponente der hermeneutischen Wissensrelativierung und Triebkraft der menschlichen Bildung. Nicht nur alle geistigen Leistungen – Poesie, Philosophie, Religion – sind in das Korrelationsverhältnis von End-
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lichkeit und Unendlichkeit eingebunden und nur aus diesem zu erklären, sondern auch die Natur selbst als Realisierung des Göttlichen. Sicherlich unter dem Eindruck der Platonlektüre spricht schon der junge Schlegel in einem Brief an seinen Bruder (4. Okt. 1791) von der »Sehnsucht nach dem unendlichen« (KFS 23, 24), die ihn zur Tätigkeit antreibe. Der Bezug zum Unendlichen ist ihm Ausdruck der freiheitlichen Verfasstheit des Menschen: »die Vernunft ist frei und selbst nichts anders als ein ewiges Selbstbestimmen ins Unendliche« (KFS 2, 269, 131). Weil aber die Erkenntnis dem Unendlichen nie angemessen sein könne, sei alle Wahrheit relativ und alles Wissen symbolisch (KFS 12, 9), Philosophie prinzipiell nur Approximation. H. stellt in einem kurzen Aufriss zur Erklärung der Fichteschen Philosophie zur Information für seinen Bruder heraus, dass ein bewusstes Wesen ausgezeichnet sei sowohl durch eine unbeschränkte Tätigkeit, »ein Streben ins Unendliche«, als auch durch eine »Beschränkung dieser Tätigkeit«, welche dem Bewusstsein erst einen Gegenstand gebe (Brief an den Bruder, 13. April 1795; StA 6.1, 164). Wegen dieses Bezugs zum Unendlichen sieht er in der neueren Philosophie die einzig mögliche »Philosophie der Zeit« (Brief an den Bruder, 1. Jan. 1799; StA 6.1, 304). In seinem nicht fertiggestellten Entwurf Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes (s. Kap. 24) arbeitet H. mit einem Modell vom Harmonischentgegengesetzten, bei dem die gegensätzlichen Momente des Geistes weder zu einer unterschiedslosen Einheit verschmelzen noch in isolierte Bestandteile auseinanderfallen. Das Verbundene müsse in seiner Einheit und in seiner Entgegensetzung vorhanden sein, dann sei der Geist »in seiner Unendlichkeit fühlbar« (StA 4.1, 249 f.). Hierzu sei es notwendig, dass der Geist »einen unendlichen Gesichtspunct sich gebe«, nämlich den einer »unendlichen Einheit« (StA 4.1, 251). Für H. bewirkt das Poetische, nicht die Theorie, eine Einheit, die aufgrund ihrer immanenten Disjunktion immer in Bewegung bleibt und auf eine unendliche Tätigkeit der Vermittlung verweist. Bei Novalis heißt es: »Durch Poësie entsteht die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und des Unendlichen.« (Nov. 2, 322, 31) Die Realisierung der Beziehung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit durch eine »synthetische Kraft« (Nov. 2, 204, 651) mit versöhnender Wirkung wird im letzten Drittel des 18. Jh. oft dem Gefühl der ›Liebe‹ zugesprochen. Hierbei spielen neben dem Bezug auf Pla-
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ton sowohl Hemsterhuis als auch Spinoza, weiterhin Herder und Schiller eine große Rolle (s. Kap. 11). Im Hyperion (Metrische Fassung) gilt H. die Liebe als Bezug der Endlichkeit zum Unendlichen, als versöhnende Kraft und als transzendierendes Streben (Eros). »Wir können den Trieb, uns zu befreien, zu veredlen, fortzuschreiten ins Unendliche, nicht verläugnen. Das wäre thierisch, wir können aber auch den Trieb, bestimmt zu werden, zu empfangen, nicht verläugnen, das wäre nicht menschlich. Wir müßten untergehn im Kampfe dieser widerstreitenden Triebe. Aber die Liebe vereiniget sie.« (StA 3, 194) In einem Augenblick der Liebe wird das »Göttlichschönste in der Natur« (StA 3, 55) empfindbar. Und dieses »Schönste ist auch das Heiligste« (ebd., 56). Das Schöne als Sinnbild des Göttlichen ist zugleich Inhalt der Poesie. Liebe wird so zu einem Medium, in dem Natur, Gott und Poesie in ihrem Zusammenhang sichtbar werden. Sie kann damit als Wesensmerkmal des Menschen überhaupt verstanden werden. »Nur durch die Liebe und durch das Bewußtsein der Liebe wird der Mensch zum Menschen« (KFS 2, 264, 83), meint Schlegel, und er bezeichnet die Liebe als den »Kern, das Wesen aller Gefühle« (KFS 12, 66). Sie ist »göttliche Freude« und entspricht deshalb der Schönheit (ebd.). »Nur Schönheit ist der Gegenstand der Liebe.« (KFS 18, 286, 1069) Damit hat Liebe nicht nur eine Funktion als vereinigende Kraft, die dem Chaos Gestalt gibt, sondern sie hat dadurch auch eine ästhetische Dimension und – wie Novalis den Bogen noch weiter spannt – auch eine geschichtsphilosophisch-teleologische Funktion als »der Endzweck der Weltgeschichte – das Unum des Universums« (Nov. 2, 480, 50). Philosophie und Poesie Ein zentrales Anliegen H.s und der Frühromantiker besteht darin, Philosophie und Poesie, dementsprechend auch philosophisches Denken einerseits und Gefühl, Phantasie, Imagination als für das poetische Schaffen konstitutiver Vermögen andererseits, zu verbinden und in ihrer spezifischen Leistung zu befruchten und zu potenzieren. Sie wenden sich damit sowohl gegen einen auf analytische Rationalität reduzierten Vernunftbegriff als auch gegen eine Gefühlsmetaphysik. Konzeptionellen Überlegungen zur Synthese von Philosophie und Poesie, bzw. allgemeiner von Wissenschaft und Kunst, haben besonders Schlegel beschäftigt. So formuliert er in einem Lyceums-Fragment: »Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist
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ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.« (KFS 2, 161, 115) Poesie verkörpere das Individuell-Historische, Philosophie das Allgemeine. Beide Vermögen sollen durch Kombination erhöht werden: »Die Poesie die Potenz der Philosophie, die Philosophie die Potenz der Poesie.« (KFS 16, 170, 1027) Diese Vereinigung wirke sich auf Philosophie und Poesie gleichermaßen aus. Sie führe zu einer reflexiven Poesie und zu einer poetischen, d. h. für Schlegel einer nicht mehr abstrakt-entleerten, sondern gehaltvollen Philosophie. Während dabei aber Philosophie zwar tendenziell aufs Unendliche gehe, dieses aber weder systematisch erörtern noch mitteilen könne, habe Poesie nach Schlegel den Vorzug, dass sie das Unendliche mit ihren Mitteln (z. B. der Allegorie) zur Darstellung bringe. In diesem Sinne meint Schlegel: »Vollendeter Idealismus ist Poesie« (KFS 18, 473, 27). Eine reflexive Poesie bezeichnet Schlegel als ›Transzendentalpoesie‹. Diese sei nicht nur Poesie, sondern eine ›Poesie der Poesie‹ in Anlehnung an die Transzendentalphilosophie der Fichteschen Wissenschaftslehre, die dieser als »Reflexion der Reflexion« oder »Wissen des Wissens« beschrieb. Er knüpft damit direkt an Fichte an, der von zwei »Reihen der Reflexion« spricht (Fichte 1, 222), und dabei »eine einfache Reflexion über die Erscheinung« und die philosophische »Reflexion über jene Reflexion« unterscheidet (Fichte 1, 162). Entsprechend dieser zwei Ebenen des Denkens hat Transzendentalpoesie für Schlegel die Funktion, nicht nur das literarische Werk zu schaffen, sondern zugleich die geistigen Bedingungen seiner Hervorbringung aufzuklären und die Maßstäbe der kritischen Beurteilung bereitzustellen (KFS 2, 204, 238). Auch Novalis thematisiert die Verbindung von Philosophie und Poesie. »Die transscendentale Poësie ist aus Philosophie und Poësie gemischt.« (Nov. 2, 325, 47) Die Philosophie denke das Allgemeine, die Poesie dichte das Besondere. (vgl. Nov. 2, 102, 276) Novalis spricht wie Schlegel von einer Vereinigung von Poesie und Prosa, von einer Verwissenschaftlichung der Poesie und Poetisierung der Wissenschaften, d. h. einer Freilegung des schöpferisch-konstruktiven Charakters auch der Wissenschaften. In H.s Überlegungen spielt der Zusammenhang von Philosophie und Poesie ebenfalls eine Rolle, so wenn er im Hyperion schreibt, dass die Dichtung Anfang und Ende der Philosophie sei (StA 3, 81). Im Brief an den Bruder vom 4. Juni 1799 zieht H. eine Parallele
zwischen Philosophie, Poesie und auch Religion. Er sieht als Trieb des Menschen an, das Vorgefundene zu vervollkommnen. »Die Philosophie bringt jenen Trieb zum Bewußtseyn, zeigt ihm sein unendliches Object im Ideal, und stärkt und läutert ihn durch dieses. Die schöne Kunst stellt jenem Triebe sein unendliches Object in einem lebendigen Bilde, in einer dargestellten höheren Welt dar; und die Religion lehrt ihn jene höhere Welt gerade da, wo er sie sucht und schaffen will, d. h. in der Natur, in seiner eigenen, und in der ringsumgebenden Welt, wie eine verborgene Anlage, wie einen Geist, der entfaltet seyn will, ahnden und glauben.« (StA 6.1, 329) Die Thematisierung einer wechselseitigen funktionalen Bereicherung von Philosophie und Poesie tritt aber in den theoretischen Schriften hinter den Erörterungen über das Verhältnis der menschlichen Vermögen, das Verhältnis von Geist und Sinnlichkeit, Denken und Empfinden zurück, das H. in nahezu allen seinen Schriften thematisiert. Mit dem Konzept des »Geistigsinnlichen« in seinem Entwurf Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes macht er ein Angebot, wie Denken und Poesie als eine widerspruchsvolle Einheit zu verstehen sind. Darüber hinaus kann die philosophisch gehaltvolle Dichtung H.s und auch Novalis’ als praktische Umsetzung des Programms einer Vereinigung von Philosophie und Poesie gelesen werden. Religion und Neue Mythologie Religion spielt für H., Novalis und Schlegel eine große Rolle, nicht nur als individueller Glaube, sondern auch als sozialer Hoffnungsträger und als Ideal und Sinnbild menschlichen Schaffens. So ist für Schlegel »das Verhältnis des wahren Künstlers und des wahren Menschen zu seinen Idealen durchaus Religion« (KFS 2, 242, 406). Der frühromantische Begriff von Religion bricht in weiten Teilen mit den orthodoxen religiösen Lehren. H., Novalis und Schlegel geht es um eine individuelle, von der kirchlichen Institution unabhängige, wohl aber gesellschaftlich wirksame Religion. Das innovative Potential dieser neuen Religion bringt Novalis auf den Begriff einer »Experimentalreligionslehre« (Nov. 2, 762, 74). Deutlich ist zugleich der Bruch mit dem aufklärerischen Konzept einer reinen Vernunftreligion. Betont wird die Funktion des Gefühls, der Ahnung und Phantasie, wie dies auch Schleiermacher in seinen Reden Über die Religion (1799) vertritt. Im Hyperion heißt es: »O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er
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nachdenkt« (StA 3, 9). Und Novalis schreibt: »Vernunft und Fantasie ist Religion – Vernunft und Verstand ist Wissenschaft.« (Nov. 2, 167, 492) Schlegel bestimmt Religion als »Beziehung des Menschen aufs Unendliche« (KFS 2, 263, 81). Und auch H. verwendet ein vergleichbares Modell, wenn er die »Vergegenwärtigung des Unendlichen« als »göttliche(n) Moment« (StA 4.1, 251) bezeichnet. Dieser Bezug zum Unendlichen prägt auch Philosophie und Poesie, er ist quasi der in ihnen enthaltene Anteil an Religion, der Ideenüberschuss des Religiösen gegenüber der Realität, der das eigentlich Poetische eines Werks ausmacht und der die Differenz zwischen Wissenschaft und Philosophie markiert (vgl. KFS 2, 257, 11). Aufgrund dieser gemeinsamen Orientierung aufs Unendliche stehen Poesie, Philosophie und Religion in enger Relation. Novalis formuliert: »Religion ist Synthesis von Gefühl und Gedanke oder Wissen[.] ReligionsLehre ist also eine Synthesis von Poëtik und Philosophik.« (Nov. 2, 661, 780) Hierbei soll aber nicht nur die Religion für Poesie und Philosophie einen Horizont bereitstellen, sondern können umgekehrt Poesie und Philosophie als Korrektive der Religion dienen. So heißt es bei Schlegel: »Ohne Poesie wird die Religion dunkel, falsch und bösartig; ohne Philosophie ausschweifend« (KFS 2, 271, 149). Der Vorstellung einer solchen funktionalen Beziehung zwischen Religion, Poesie und Philosophie entsprechen auch einige Belege im Werk H.s. Schon in seinem Brief an Niethammer vom 24. Febr. 1796, in dem H. von seinem Projekt berichtet, »Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« zu schreiben, kündigt er an: »Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poësie und Religion kommen.« (StA 6.1, 203) H. betont als gemeinsamen Urgrund alles Geistigen die Natur. Im Brief an seinen Bruder vom 4. Juni 1799 erklärt er, dass alle menschliche Tätigkeit aus der Natur hervor- und in sie zurückgehe. Diesen Weg zu zeigen, »das ist das Geschäft der Philosophie, der schönen Kunst, der Religion«. »Philosophie und schöne Kunst und Religion, diese Priesterinnen der Natur« (StA 6.1, 329) sind zentrale Elemente in H.s Dichtung. Dabei trägt Religion stark pantheistische Züge als Vergöttlichung der Natur. »Eines zu seyn mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.« (StA 3, 9) Hierbei spielt das ästhetische Gefühl, der Sinn für das Schöne, eine besondere Rolle. Es stellt die Verbindung zwischen Mensch, Natur und Gott her. Schönheit kann dementsprechend als Vermittlungsinstanz zwischen Mensch und Gott fungieren; im ästheti-
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schen Gefühl ist nicht nur das Schöne, sondern auch das Göttliche präsent. »Es wird nur Eine Schönheit seyn; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit.« (StA 3, 90) Für H. zeigt Schönheit sich in Kunst und in Religion gleichermaßen. »Religion ist Liebe der Schönheit« (ebd., 79). Allein »in schöner heiliger, göttlicher Empfindung« wäre die Einheit der vielfältigen Empfindungen gegeben. (StA 4.1, 259) Auch für Schlegel ist Schönheit das Symbol des Göttlichen. »Das Wesen des Schönen ist die göttliche Bedeutung« (KFS 19, 90, 79). Die bei H., Schlegel und Novalis mit der Religion, Poesie und idealistischen Philosophie verbundene Hoffnung auf eine Zentrierung der geistigen Kräfte bringt den Gedanken einer ›Neuen Mythologie‹ in die Diskussion. Hiermit ist nicht eine Erneuerung der Mythologie im Sinne der griechischen Antike gemeint, sondern die Auffassung davon, dass alles Religiöse, einschließlich einer pantheistisch verstandenen Natur, angemessen nur in poetisierter Form zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Forderung einer Neuen Mythologie wird im frühromantischen Umfeld zunächst von Schelling erhoben. Im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (StA 4.1, 297–299), das in Hegels Handschrift vorliegt, aber inhaltlich eher Schelling zugeschrieben wird, sind eventuell auch Gedanken H.s eingegangen. Hierin wird die Idee, die alles Geistige vereinigt, als die »Idee der Schönheit« postuliert, der höchste Akt der Vernunft als »ästhetischer Akt«. Und es wird gefordert, dass der Philosoph ebenso viel ästhetische Kraft besitzen solle wie der Dichter. »Die Poësie bekömmt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit«. Diese Ästhetisierung wird angesehen als eine »Mythologie der Vernunft«. Schlegel beginnt, beeinflusst nicht zuletzt von Fichtes 1798 erschienenen Briefen Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie, ganz parallel seine Rede über Mythologie (1799) mit der Feststellung, dass der modernen Poesie ein Mittelpunkt fehle, den es erst zu schaffen gelte. Diesen Mittelpunkt der Poesie solle eine neue Mythologie bilden, deren Funktion darin bestehe, alles Wirken und alle geistigen Kräfte aufeinander zu beziehen und im Sinne des Enthusiasmus einen über das Endliche hinausweisenden Bezug auf das Göttliche, das Unendliche, zu gewährleisten. »Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe? Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig
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III Voraussetzungen, Quellen, Kontext
flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten« (KFS 2, 318). Schlegel wendet sich zugleich gegen die weitverbreitete Auffassung der Aufklärung, dass die Mythologie Form eines prärationalen Denkens sei, das die frühe Entwicklungsphase der europäischen Geistesgeschichte charakterisiere, aber inzwischen als historische Gestalt keine Funktion mehr habe. Für Schlegel hat jedes Zeitalter seine »eigne Mythologie« (KFS 18, 344, 276). Bei Novalis findet sich zwar der Terminus der Mythologie eher selten, doch auch bei ihm spielt das hierin manifestierte Anliegen eine große Rolle. So kann man folgendes Fragment durchaus mythologisch lesen: »Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben. Und/ sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen?« (Nov. 2, 255 f., 71) H. verwendet den Terminus ›Mythologie‹ kaum. Das Anliegen einer neuen Poesie und Religion findet sich im Sinne des Mythologieprojektes aber durchaus auch bei ihm. Als Indiz kann, abgesehen von möglichen Einflüssen H.s auf das schon erwähnte Älteste Systemprogramm, auch auf den Text Über Religion (Fragment philosophischer Briefe) verwiesen werden. Hier spricht H. davon, dass »alle Religion ihrem Wesen nach poëtisch« (StA 4.1, 281) sei. Und er erklärt die dichterische Ehrung Gottes zur mythischen Feier des Lebens (ebd.; s. Kap. 16 und 24). Das Interesse an einer poetisch-religiösen Mythologie hängt zusammen mit dem kritisierten Ungenügen bloßer Rationalität als Welt- und Sinnerschließungskraft. An Stelle einer »reinen Vernunft« wird eine Neue Mythologie als gesellschaftliche Legitimationsund Versöhnungsinstanz beschworen. Dies geschieht durch die Universalisierung der Dichtung »zu einem neuen, Gesellschaft stiftenden Mythos der Moderne« (Frank 1982, 194). Das Ansinnen einer neuen Religion und Mythologie mündet in die sozialutopische Hoffnung auf ein kommendes »goldenes Zeitalter«. Bildung des Individuums und Geschichtsutopie Die Französische Revolution bewirkt in Deutschland am Ende des 18. Jh. eine deutliche Politisierung des intellektuellen Diskurses. In die Revolutionszeit fallen bei H. und den Frühromantikern die Jugend- und Studentenjahre und die Suche nach einem eigenen Lebensweg. Sie sind begeisterte Anhänger der Revolution, sie alle verbinden ihre eigenen Ideen mit denen der Revolution. Alle theoretischen Überlegungen
werden auf die Frage nach den Möglichkeiten und Zielvorstellungen einer Veredlung der Menschheit bezogen. »Wir sind auf einer Mißion: zur Bildung der Erde sind wir berufen.« (Nov. 2, 241, 32) Dabei korrespondieren die Vorstellungen von der Höherbildung der Menschheit denen von der Bildung des Einzelnen. Die mit der Revolution verbundene Auflösung der feudalen Ständehierarchie, die bisher den sozialen Status und Wirkungskreis des Einzelnen festlegte, führt zur optimistischen Hoffnung darauf, dass künftig die Bildung des Einzelnen seinen Platz in der Gesellschaft bestimmen könne. H. schreibt 1793 an seinen Bruder: »Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage. Diese Keime von Aufklärung, diese stillen Wünsche und Bestrebungen Einzelner zur Bildung des Menschengeschlechts werden sich ausbreiten und verstärken, und herrliche Früchte tragen. Sieh! lieber Karl! diß ists, woran nun mein Herz hängt. Diß ist das heilige Ziel meiner Wünsche und meiner Tätigkeit – diß, daß ich in unserm Zeitalter die Keime weke, die in einem künftigen reifen werden.« Und er formuliert als sein Ziel »Bildung, Besserung des Menschengeschlechts«. (StA 6.1, 92 f.) Der aus der Aufklärung überkommene Perfektibilitätsgedanke (in seiner doppelten Dimension als Entwicklungsoffenheit des Individuums und der Gattung, d. h. der Geschichte) wird zu einem wichtigen Moment dieses neuen Welt- und Selbstverständnisses. In Abgrenzung von der natürlichen Organisation versteht H. Bildung als »die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind« (StA 3, 163). Demnach gibt es keine fixe Wesensbestimmung des Menschen, sondern der Mensch ist Produkt seiner eigenen Tätigkeit und Selbstbestimmung: »Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles« (ebd., 184). Auch Schlegel sieht Bildung als Grundbestimmung des Menschen an. »Bildung oder Entwicklung der Freiheit ist die notwendige Folge alles menschlichen Tuns und Leidens, das endliche Resultat jeder Wechselwirkung der Freiheit und der Natur.« (KFS 1, 230) Bildung erst ermögliche dem Menschen, seine Menschlichkeit zu entfalten, sich als Mensch zu entwickeln. »Nur durch die Bildung wird der Mensch, der es ganz ist, überall menschlich und von Menschheit durchdrungen« (KFS 2, 262, 65). Eingebettet ist die Bildungsgeschichte des Einzelnen in die Entwicklung der Gattung. »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte.« (KFS 2, 201, 222)
14 Hölderlin und die Frühromantik
H. formuliert: »Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungen, die alles Bisherige schaamroth machen wird.« (Brief an Ebel, 10. Jan. 1797; StA 6.1, 229) Dabei ist die Vorstellung einer neuen Zeit integriert in ein triadisches Geschichtsmodell, wonach die Entwicklung ausgehe von einer glücklichen, naturwüchsigen Urzeit, diese dann abgelöst werde durch eine Verfalls- und Entfremdungsepoche und schließlich in ein Goldenes Zeitalter münde. Diese Zukunftsvision prägt auch das Denken Novalis’, deutlich speziell in seinem Essay Die Christenheit oder Europa, den er 1799 im Kreis der Frühromantiker in Jena vorgetragen hat. Hierin geht er aus von einer ursprünglich homogenen, gläubigen, friedenstiftenden Gesellschaft. Der Verfall sei mit der Spaltung der christlichen Kirche eingetreten. Von da an sei auch der Geist auseinandergetreten in verschiedene Bereiche, trennten sich Glaube und Wissenschaft. Für die Gegenwart sieht Novalis die Anzeichen einer neuen Entwicklung, die v. a. von Deutschland ausgehe. Eine »neue goldne Zeit« breche an, »eine profetische wunderthätige und wundenheilende, tröstende und ewiges Leben entzündende Zeit«, »eine große Versöhnungszeit« (Nov. 2, 745). Auch Schlegel meint um die Jahrhundertwende, das Zeitalter »deutet auf eine große Auferstehung der Religion, eine allgemeine Metamorphose« (KFS 2, 261, 50). Diese neue Zeit ist auch für H. nur zu denken als eine Vereinigung der geistigen Kräfte: »die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein« (Hyperion, StA 3, 63). Literatur
Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971 [Fichte]. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler u. a., Paderborn 1956 ff. [KFS]. Novalis, Schriften, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, München 1978/Darmstadt 1999 [Nov.].
Allgemein
Behler, Ernst: Frühromantik, Berlin 1992. Böhm, Wilhelm: H., Halle 1930. Frank, Manfred: H.s philosophische Grundlagen, in: Kurz, Gerhard u. a. (Hg.): H. und die Moderne, Tübingen 1995. Heise, Wolfgang: Schönheit und Geschichte, Berlin 1988. Henrich, Dieter: Der Grund im Bewußtsein, Stuttgart 1992. Roth, Stefanie: F. H. und die deutsche Frühromantik, Stuttgart 1991.
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zu Platon
Franz, Michael: H.s Platonismus. Das Weltbild der ›exzentrischen Bahn‹ in den Hyperion-Vorreden, in: AZP 22 (1997), 167–187. Franz, Michael, Schelling und H., in: HJb 31 (1998/99), 75–98. Frischmann, Bärbel: Friedrich Schlegels Platonrezeption und das hermeneutische Paradigma, in: Athenäum 11 (2001). Krämer, Hans: Fichte, Schlegel und der Infinitismus der Platondeutung, in: DVjs 62/1988.
zu Kant
Frischmann, Bärbel: Kritik der Kritik. F. Schlegels frühromantisches Programm einer kritischen Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 43 (2001), 83–111.
zu Kant und Fichte
Frischmann, Bärbel: Kant und Fichte: Zwischen Transzendentalphilosophie und Wissenschaftslehre, in: Endres, Johannes (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017.
zu Fichte
Fichte-Studien Bd. 12, Amsterdam/Atlanta 1997. Frank, Manfred/Gerhard Kurz: Ordo inversus, in: Geist und Zeichen (FS f. A. Henkel), hg. v. Herbert Anton u. a., Heidelberg 1977. Frischmann, Bärbel: Zur Fichte-Rezeption und Fichte-Kritik in F. Schlegels frühromantischem Philosophiekonzept, Bremen 2002. Loheide, Bernward: Fichte und Novalis, Amsterdam 2000. Summerer, Stefan: Die Fichterezeption in den Fragmenten und Aufzeichnungen F. Schlegels und Hardenbergs, Bonn 1974. Waibel, Violetta L.: H. und Fichte, Paderborn 2000.
zu Philosophie und Poesie
Bachmaier, Helmut u. a.: Transzendentale Reflexion der Poesie, Stuttgart 1979. Kreuzer, Johann: Erinnerung, Königstein/Ts. 1985. Kurz, Gerhard: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei H., Stuttgart 1975.
Zu Religion und neue Mythologie
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Bärbel Frischmann
IV Poetologie
15 Wechsel der Töne Mit Entschiedenheit begreift H. seine Dichtung als »Gesang«. Die besonders im Verlauf des ersten Homburger Aufenthalts zutage tretende Reflexion auf eine Doktrin vom »Wechsel der Töne« gibt darum Gelegenheit, nicht nur den enormen Schwierigkeiten dieser Lehre selbst sowie ihrer Anwendung und Manifestation in H.s eigener Poesie (nebst fremden Dichtungen, die H. im Lichte der Lehre untersucht) nachzugehen, sondern ferner auch zu erwägen, in welchem Maße jener Begriff von Gesang konkret und streng wörtlich gemeint sein möchte. Der erste Anhaltspunkt für die Fragen einer solchen Poetik, bei der die Charaktere aller drei Dichtungsgattungen als gleichsam ineinandergreifend und -»tönend« betrachtet werden, findet sich erstaunlich früh: in der Tübinger Magisterarbeit von 1790, in der Bemerkung über den Hymnus des Pindar als »Summum der Dichtkunst«, insofern dieser in seiner »gedrängten Kürze die Darstellung des Epos und die Leidenschaft des Trauerspiels vereinigt« habe und darum vom Leser »so viel Kräfte und Anstrengung« erfordere (StA 4, 202 f.). Vorerst schlägt indes die folgende Entwicklung im Zeichen der modernen, schillerschen Reimstrophen eine Gegenrichtung ein; von da an bleibt H. das dichterische Problem der Abstraktion und Ein-Tönigkeit gegenwärtig – auch die poetologische Theorie selber ist ein Aspekt davon –, um dann in Frankfurt und Homburg wieder aufgegriffen und geschichtlich vertieft zu werden. Auch die Bewandtnisse des H.ischen ›Spätstils‹ verknüpfen sich damit, während Grad und Art des Fortwirkens einer Töne-Poetik dort umstritten bleibt. Das erste Problem beim Verständnis der Kunstlehre ist nun offenbar das der Theorie selbst: des begrifflichen Status und der theoretischen Ambition solcher Reflexion, wenn der Dichter z. B. über die »Begründung« der Poesie nachdenkt: Was ist Zweck, was Mittel? In welchem Sinn bedarf es des Grundes, wozu, gemäß welcher Forderung, um welche Verbindlichkeit geht es? Darin liegt also die prinzipielle Frage des Verhältnisses von Philosophie, Poetik, Kosmologie (nicht ›Weltbild‹) und dichterischer Praxis oder »Gesang«. Dringlich erscheint es umso mehr, als heute H. fast naiv als Philosoph genommen wird, dessen Theorie ih-
re Relevanz im Horizont der Frühgeschichte des deutschen Idealismus habe: so dass als philosophisch primär bedeutsam von vornherein die theoretische Homburger Prosa (und nicht, wie es noch Heideggers Meinung entsprach, die Dichtung selbst; s. Kap. 39) angesetzt wird und man sich bei ihrer Erörterung auf die wirkliche Poesie gar nicht erst beziehen muss. Die Lehre von den drei »Tönen« steht in evidentem Bezug zur Problematik der Dreiheit poetischer Gattungen: umso ausgeprägter, als H.s Augenmerk vor allem der griechischen Poesie gilt, und zwar deren »Strenge und Schärfe der Form«, wie sie mit der Strenge des Unterscheidens zwischen den Dichtarten einherging (StA 6, 381). Reflex dessen ist H.s eigene Produktion: mehrfache Krisen und Wandlungen der Lyrik, ein jahrelang bearbeiteter und umgestalteter Roman, ein abgebrochener Tragödien-Plan demonstrieren die Brisanz und Anspruchshöhe des H.schen Gattungsdenkens. Dass es um anderes geht als um die gewohnten Angelegenheiten literarischer Genres, zeigt sich nun sofort im Begriff der »Töne«. »Ton« bedeutet Tonart, also modus (d. i. ēthos), deutet mithin auf eine von uns üblicherweise eher der Musik zugeschlagene Kategorie, stünde also vorerst einmal am nächsten der antiken »Ethos«-Lehre: Ton-Fügungsweisen oder Harmonien der Modi, die mit anthropologischaffektiven und kosmischen Elementar-Strukturen in Beziehung stehen (dies, nach späterer Unterscheidung, auch ›ohne Worte‹, aneu logou, Arist. probl. XIX) und derart, ›modulierend‹, Hervorbringung und Werkcharakter des Gesanges regeln. Selbstverständlich besteht aber die Poesie nicht ohne das »Wort« und dessen Fügungen und Progressionen; und H. ist, fern allem selbstgefälligen Klassizismus, spätestens seit 1790 der bewussteste aller modernen Dichter. So ist also nach dem spezifischen Sinn der »Töne« zu fragen.
15.1 Ausgangspunkte Unter den schwer zu präzisierenden Gegebenheiten, die den jungen H. – »er sang sehr schön«, erinnerte sich der alte Schelling (s. Kap. 5), und noch im Homburger Folioheft lautet ein Stichwort Cäcilia – in die Richtung von Gesang weisen mochten, ist auch die Bedeutung des Nürtinger Diakons Köstlin (s. Kap. 10).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_15
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IV Poetologie
So ist die Vermutung nicht unerlaubt, durch diesen Freund Oetingers schon sei H. mit dessen Traktat Von der schönen Schreibart aus Vergleichung mit der Musik, und mit der dort exponierten Forderung einer »allerfreiesten Abwechslung einer gewissen Melodie« der Rede, bekannt geworden; auch von salomonischer Spruchrede, wie sie H. in seiner Magisterarbeit beschäftigte, war dort gehandelt, verknüpft wiederum mit der Doktrin einer Dreiheit von Gemütsvermögen, die mit der später von H. aufgegriffenen Terminologie seines Lehrers Conz (Empfindung, Phantasie, Leidenschaft: vgl. FHA 14, 323) verwandt sein könnte (vgl. Gaier 1962, 350 ff.). Conz seinerseits mag in der Stiftszeit schon die Auseinandersetzung mit dem ihm von Jugend an befreundeten Schiller (dem Autor der Theosophie des Julius und ihrer ›Vereinigungsphilosophie‹; s. Kap. 11) begünstigt haben, längst vor dessen Weimarer Poetologie. Die bleibende Einwirkung der varietas antiker Rhetorik und Stilistik auf H. darf aus dem Schulunterricht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Dennoch zeigt sich z. B. im Falle des viel berufenen Ps.-Longinus und seiner Schrift Vom Erhabenen, dass H. gerade die dort abgegebenen Urteile über Pindar und Sophokles souverän umkehrt: gegen den Tadel des feurigen Dahinstürmens, unerwarteten Erlöschens und unglücklichen Abfallens (33, 5) erkennt er sofort die Schönheit des »Wechsels« (vielleicht schon 1790: s. o.); wie zur Bekräftigung tritt bei ihm genau jenes ins Zentrum der Poetik, was eben dem Redner als bloße »Bilder und unechte Nachahmungen«, als unnatürlich widerraten wird: der »Wechsel der Töne« (39, 2). Dazu fügt sich die später ausgeprägte Differenz zu Platon im Begriff der »Harmonie« (s. u.), nicht weniger zu deren neuplatonisch-augustinischer Spielart (de vera rel. 32, 59; empfohlen von Diderot im Schönheits-Artikel der Enzyklopädie); Einfluss des pädagogischen Musters von Platons ›Staat‹ auf H.s Denkform vermutet gleichwohl Gaier (2014, 262 f.). Dass für den ›Gesang‹-Charakter nach H.s Theorie und Erfahrung mit dem Einfluss von Heinse (vgl. Gaier 1996, 195 ff.) und von Rousseau (vgl. Link 1999, 105 ff.; s. Kap. 11) zu rechnen sei, ist eine intuitiv ansprechende Hypothese, wenn auch bisher nicht untermauert. In jedem Fall ist der romantische, von Wackenroder und Tieck ausgehende Begriff von ›Musik‹ als Instrumentalmusik (mit seinem Korrelat, dem ›Wort‹ als Rhetorik) von H.s Überlegungen fern zu halten; nützlich wäre hierbei auch der Blick auf die (H. bis zum Plagiat hin nachempfundene) Abhandlung Über dichterische Composition überhaupt, und über ly-
rische insbesondere des Freundes Sinclair (vgl. Hof 1954, 221 ff., s. Kap. 5).
15.2 Umfang und Wurzel der Tonlehre Fragt man nach Ursprung und Frühgeschichte von H.s Tönelehre im engeren Sinn, so fällt auf, dass die emphatische Rede von den Tönen neu und spezifisch mit der letzten (Frankfurter) Umgestaltung des Hyperion, also wohl von 1796 an, verbunden ist. Bekannt ist die Sentenz: »Lebendige Töne sind wir« (StA 3, 159). Im komplementären Gegensatz (nicht: in Analogie) zu den Sternen stellen wir, so sagt Diotimas Abschiedsbrief, »im Wechsel das Vollendete« dar: »in wandelnde Melodien theilen wir die großen Akkorde der Freude« (ebd., 148), was wie eine Vordeutung auf das Ideal der Gemeinschaft klingt: einiges Zugleichsein der Teile im Progress, poetische Folgerungsweise. Die Stilforderung der Varietas erhält neues Gewicht, indem sie jetzt – deutlich abgehoben von dem bisherigen Modell Plato – als durch das vom Griechen Heraklit gefasste Wesen der Schönheit unterfangen gedacht wird: Dem Platonischen Ideal des »Ungemischten« (Resp. 397 B ff.), verkörpert in Schillers Distinktion zwischen Naiv und Sentimentalisch, tritt gegenüber das Schönheitswesen, Heraklitisch bestimmt als das »Eine in sich selber unterschiedne« (StA 3, 81); es gibt die Harmonie des Gegensätzlichen selbst. Wie sich nämlich in der Diotima des Romans das entscheidende Moment der Frankfurter Schönheitser fahrung verkörpert, so auch zugleich in dem Neuan satz lyrischer Poesie, die bis ans Ende von jener Heraklitischen Konzeption des Schönen bestimmt bleiben wird: diesen Zusammenhang deutet das Reim-Gedicht Diotima (1796/97, mehrfach umgestaltet) – das einzige seiner eignen Gedichte, dessen »Stil« von H. mit der Tönelehre in Verbindung erwähnt wird (s. u.): »und sprossen mir/ Des Gesanges Blumen wieder« – nach dem Schönheits-Augenblick kommt es zu der Rückkehr »zu Sterblichen« (V. 2 f., 84). Um dieselbe Zeit entsteht der Prosa-Entwurf zu der Elegie An den Aether, der auffälliger Weise mit dem Diotima-Gedicht in handschriftlichem Zusammenhang steht: dort erscheint zum ersten Mal der Gedanke einer Dreiheit von Elementen: Erde, Licht und Äther, welcher fortan mit der Töne-Trias von Naiv, Heroisch und Idealisch in Beziehung steht (Gaier 1962, 290). Dies wird manifest in der – wiederum Susette Gontard (s. Kap. 4) geltenden – Ode Ihre Genesung (in Frankfurt, vielleicht
15 Wechsel der Töne
noch 1797, entstanden), in deren dreistrophiger Folge erstmals der (vierstufige) Tonwechsel – von einem Anruf der Natur zum andern zyklisch fortgehend – mit der Nennung der »Lüfte des Aethers«, der »Quellen des Sonnenlichts« und der »Blumen der Erd« stattfindet. Die »Wechsel«-Spannung in der Progression zwischen Krankheit und Gesundheit scheint sich dafür auch thematisch anzubieten. Verschärft wird der Widerstreit beim Verlust der Geliebten, um dessentwillen H. (vermutlich bald nach dem Weggang aus Frankfurt, Spätjahr 1798) die Elegie Achill dichtet: er vergleicht sich dort mit dem am Meer trauernden homerischen Heros, um sich dann als Ungetrösteter von ihm zu unterscheiden. Das Gedicht steht wiederum in handschriftlichem Zusammenhang mit den Aufsatz-Entwürfen über Achilleus, die zugleich mit der Analyse von dessen »Charakter« den Wesensmerkmalen des epischen Stils am Beispiel der Ilias nachfragen. Es lässt sich denken, dass aus diesen Homer-Erwägungen das bis in den Herbst 1799 verfolgte Projekt einer Zeitschrift ›Iduna‹ hervorgeht, die solche Aufsätze in Briefform bringen sollte (s. Kap. 24). Thematischer Brennpunkt dieser Poetologie ist demnach der »Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben«: in einer so betitelten, programmatischen Skizze über Menschheit, »Bildungstrieb« und Kunstformen notiert H. am Rand: »NB. In den Briefen über Homer erst Charaktere, dann Situationen, dann die Handlung, [...] da von dem Wechsel der Töne« (FHA 14, 89). Durch den Blick auf die Ilias erhellt sich am leichtesten ein zwiefach paradoxer Anschein der TöneLehre. Zum einen die Frage nach dem »Altertum«, wo das H.sche Interesse offenbar gerade auf Gegenwart und Zukunft der Poesie gerichtet ist: Nichts wünscht der mit einer Tragödie befasste Dichter weniger, als selbst »Homeride zu sein«. Doch das antike Epos erlaubt einmal, neu zu prüfen, was diese Dichtung par excellence (den »Einzigen« nennt Homer schon die Magisterarbeit: StA 4, 191) zur Dichtung macht; und ferner, wie es sich von anderen Gattungen unterscheidet: die Strenge dieser Unterscheidung ist das Lehrreiche an den Griechen (s. o.). Dies leistet eben die Lehre der »Töne«, indem sie – zum andern – den Charakter der »paradoxen Helden« Homers betrachtet (Epos ist Charaktergemälde): in dem Kontrast, der zwischen ihrer heroischen Passion und der epischen, breit-ruhig erzählenden homerischen Darstellungsweise besteht. In diesem »naiven« Stil spricht sich also der entgegengesetzte, feurig-leidenschaftliche Charakter der heroischen Hellenen aus, nämlich der
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»Zorn des Achilleus« als wahres Thema des Epos; und H. verallgemeinert dies dahin, dass – je verschieden nach den Gesetzen der Dichtarten – ein jeder der drei »Töne« (d. h. Tonarten: modus, nicht tonus, s. o.) sich nur in Gestalt seines Gegensatzes äußern könne. Dieses Kontrastverhältnis ist das von »Grundton« (auch »Bedeutung« genannt) und »Kunstcharakter« (auch »Stil«, »Schein« oder »Sprache« genannt). So verweist seinerseits der gespannte, »heroische« Stil der Tragödie auf eine intellektuelle, »idealische« Anschauung der Einigkeit mit allem Lebendigen: die höchste Freude, die sich in der Dissonanz ausspricht, während der »idealisch« sich aufschwingende Stil des lyrischen Gedichts auf den darin sprechenden »naiven« Grundton deutet. Die Dreiheit der Töne wird (in spärlichen Ansätzen) von H., außer den Gattungen, auf weitere Sphären bezogen: wie erwähnt die Elemente, dann auch menschliche Charaktere oder die Modalkategorien Wirklichkeit (naiv), Notwendigkeit (heroisch) und Möglichkeit (idealisch); besonders aber die Gemütsvermögen des Menschen, die sich dann im »Wechsel« des Gedichtverlaufs (s. u.) in verschiedene Bezüge zueinander setzen: Empfindung (naiv), Leidenschaft (heroisch) und Phantasie (idealisch), so dass im Laufe des Gedichts – gesetzt, es sei ein »lebendiges Ganzes« – der ganze Mensch in wechselnder Konfiguration beansprucht wird. Kein Moment oder »Teil« ist für sich vollkommen, jedes ruft nach seiner jeweiligen Ergänzung im gesetzlichen Ablauf oder »Kalkul«. Zugleich ist aber in jedem Ton, der erklingt, der in ihm »eigentlich« sprechende der »Grundstimmung« mitzuhören (oder, wie H. sagt, zu »fühlen«); diese Anforderung an die poetische Wahrnehmung hat man nicht ohne Grund verglichen mit dem Bezogensein von Akkordstufen auf einen »Grundton« (Tonika) in der tonalen europäischen Musik, welches in allen jeweils erklingenden Tonarten als ›harmonischer Rhythmus‹ mitgehört werden muss (vgl. Walser 1962, 187 ff.). Zusätzlich zum Verhältnis Grundton-Kunstcharakter (also etwa wie Hintergrund-Vordergrund) tritt dabei nun noch der jeweils dritte Ton auf, den H. als »Geist« bezeichnet, und der die beiden andern vereinigt, indem er deren Widerstreit im Wechsel »auflöst« (s. u.); derart erklingen im Gedicht alle drei Modi fortwährend zusammen. Das Gefüge der Töne gilt dem Dichter offenbar als übergeschichtlich; seine gleichmäßige Anwendung auf alte und moderne Poesie erlaubt es dann, deren je verschieden geschichtlichen Charakter erst zu ermessen (wofür es sonst, so meint H., noch gar keine zulänglichen Maßstäbe gibt).
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IV Poetologie
15.3 Der poetische Geist in seinem Werk Von der großen Abhandlung Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist (s. Kap. 19 und 24) lässt sich hier nur selektiv, auf den Tönewechsel beschränkt, Einiges herausgreifen. Im Ganzen scheint darin vor allem ein Streit mit Schillers Konzeption des Zusammenhangs von Poesie und allgemeiner »Bildung« (s. Kap. 11) – d. h. der »Bestimmung des Menschen« – stattzufinden (bei primär an Fichte denkenden Auslegern oft übersehen). Die Terminologie ist weitgehend Kantisch (Rezeptivität, durchgängig, Zusammenhang, Wechselwirkung, Form/Materie, Ich, Erkennen, Reflexion, Darstellung u. a.); andere Begriffe (Metapher, Übergang, Hyperbel, Episode, mythisch) bleiben dunkel (s. Kap. 12). Thema ist der Weg des »poetischen Geistes«, wie er, vom Augenblick des Ergreifens der »gemeinschaftlichen Seele« an, bis zum »gelungenen Werk« eine schöne Progression des »Wechsels und Fortstrebens« durchläuft, bei welcher das künftige Gedicht zuerst seine »Begründung« (Festlegung des dem »Stoff« gemäßen Grundtons, der Dichtart und der daraus folgenden Kunstgesetze) und dann, durch eine Reihe von »Vollendungen«, seine Sprachwerdung erfährt. Mit der Wahl des Gegenstands geht auf dem Weg zur Ausführung einher die Selbst-Erkenntnis des poetischen Ich »in seiner dreifachen Natur«, damit die Selbst-Reproduktion des Geistes. Indes heißt es bei H. genauer, der Geist reproduziere sich in sich selber »und in anderen«, welch Letzteres vorläufig unerklärt ist. Die Stoff-Arten werden nach ihrer Eignung für die Gattungen dreifach (nach den »Tönen« des Kunstcharakters) eingeteilt: Begebenheiten, Anschauungen, als Wirklichkeiten »malend« (episch oder naiv); Bestrebungen, Vorstellungen, Leidenschaften, als Notwendigkeiten »bezeichnend« (dramatisch oder heroisch); Phantasien als Möglichkeiten »bildend« (lyrisch oder idealisch) – die jeweiligen Grundtöne heißen hier Bestrebung (naiv), Sache (her), Empfindung (id). Im Wechsel fortstrebend gelangt der poetische Geist an den »Mittelpunkt«, wo er in einer »Erinnerung« sich gegenwärtig bleiben muss, da »die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment« stattfindet; während er darüber als dreifaches Ich sich selbst in »schöner, heiliger, göttlicher Empfindung« erkennt (in dieser vereinigen sich alle drei Kräfte in Wechselwirkung), kommt es durch eine Reihe von drei »Vollendungen« schließlich zum gelungenen »Werk«. Gang und Bestimmung »des Menschen überhaupt« und der Poesie hängen derart konstitutiv zusammen. Die Andeutung, indem der Geist die (allen gemeine,
jedem eigne) »Seele« ergreife, reproduziere er sich auch »in anderen« (StA 4, 241), zeigt, dass der von H. gemeinte Weg nichts mit dem Platonischen, von allem abstrahierenden »Insich-gehen« zu tun hat, welches bei Fichte und Schelling das Wesen der »intellektuellen Anschauung« (nämlich als Selbst-Anschauung) bildet: umgekehrt ist diese bei H. bestimmt als ein Modus des Ergreifens unter andern, nämlich der gattungsspezifische Grundton des tragischen Gedichts. Der Geist, der sich je und je erst im »Wechsel« selbst als »Ich« konstituiert (Konrad 1967, 105, Ryan 1969/70, 340), ist von der Pythagoreisch-Heraklitischen Art der »Harmonie« (dem Schönheits-Gefüge jener »lebendigen Töne«), gegen welches sich gerade der Platonische Sokrates stets wendet (Symp. 187 A, Phaed. 91 C). Das Endziel jener Selbst-Reproduktion, »dem Menschen seine Liebe und sein Herz und seiner Welt den Dank wiederzubringen«, entspricht der Mitte in der »Erinnerung« des göttlichen Moments und dem Anfang mit der Wahl der »Sphäre«; und es erweist sich als gleichbedeutend mit H.s Konzept der Poesie und ihres Werkbegriffs – spezifisch unterschieden von den Progressionen von Philosophie und Politik – als Begründung der »Menschenharmonie«, »in anderen«. Der Aufsatz über die Verfahrungsweise scheint deshalb, anders als oft vermutet, im Zusammenhang von H.s Denken um die Jahreswende 1798/99 anzusiedeln, d. h. im Hintergrund der drei Briefe vom 12. November 1798 (an Neuffer, über »Töne«), vom 24. Dezember (an Sinclair, über Wechsel und Gleichgewicht der Kräfte, sowie die Unmöglichkeit rein positiver Offenbarung) und vom 31. Dezember 1798/1. Januar 1799 (an den Bruder, über die »Menschenharmonie«). Da der neu entdeckte Brief an Ebel vom 6. Juli 1799 bereits auf genau diese Reflexionen als schon Geleistetes zurückblickt (vgl. gleichzeitig an Schelling), wobei er übrigens die Formeln des Neujahrsbriefs nach 6 Monaten wieder aufgreift (HJb 31, 1998/99, 21 ff.), so darf man sie am ehesten mit dem einsetzenden »Raisonnement«, bei Stocken der Empedokles-Arbeit (vgl. StA 6, 291), einschließlich der TöneSystematik im ersten November-Drittel 1798 beginnen lassen (der Iduna-Plan dürfte ebenfalls dann entstanden sein; über den Termin der faktischen Niederschrift von Wenn der Dichter ... abschließend zu entscheiden, ist hier nicht nötig). In der Sache endet mithin der Aufsatz zur Verfahrungsweise beim gelungenen »Werk«: dort, wo die anderen Homburger Ausführungen mit ihren Zergliederungen vorliegender Werke einzusetzen pflegen. Produktion und Rezeption des »Schönen« – des Dichtwerks als eines »lebendigen Ganzen« (das Ungeschick
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zu dessen Hervorbringung definiert nach H. die Schwäche der modernen Poeten) – wird aber in eins gesetzt durch die Maxime des Neujahrsbriefs, »Wie die Ursache, so die Wirkung« (StA 6, 306). Erfüllbar ist die politische Aufgabe einer »Vereinigung« oder »Bildung« der Menschen, gegen die Herrschaft des »Egoismus«, vermöge der Ganzheit der Poesie qua Poesie (wieder am besten zu ermessen an der Polemik gegen Schillers Konzept des ästhetischen Staats und der zugeordneten Begriffe: der drei »Zustände«, des »Spiels« und des »ästhetischen Scheins«, nach H. ein grenzenloser Missverstand: ebd., 305), also vermöge des im »Wechsel der Töne« gestifteten poetischen Werk-Charakters allein. Es wird also nicht die höchste Bestimmung des Menschen, sei es absichtsvoll oder nicht, mit der des »Gelehrten« gleichgesetzt (diesen hatte Fichtes 1794 von H. gehörte Jenaer Vorlesung zum KulturAufseher ernannt). Der »schöne Progreß« des Werks in seinem aktualen Vollzug ist durch nichts ersetzbar (vgl. Jähnig 1955, 61 u. ö. zu dem in der »Bildung« implizierten. ›aktiven Hören‹): unter den von H. notierten Themenkreisen für »belehrende« Aufsatzprojekte der Iduna erscheint auch, neben dem Schönen überhaupt, die »Deklamation« (StA 6, 324, 35 f.). An Schiller schreibt H. im September 1799 (wieder im Rückblick auf seine poetologischen Überlegungen anspielend): seit er »die tragische Schönheit etwas gründlicher« erkenne, sei ihm z. B. »die Composition der Räuber, und besonders die Scene an der Donau, als Mitte des Gedichts« aufgegangen (ebd., 364).
15.4 Tonstruktur und Gattungspoetik Mit der Analyse vorliegender, offenbar vor allem griechischer Paradigmen (Homer, Sophokles, Pindar; s. Kap. 25, 26 und 27) auf den Ton-Charakter hin ist dagegen der traditionell Über den Unterschied der Dichtarten genannte Komplex von Notizen befasst (s. Kap. 24). Es wird das lyrische, epische und tragische Gedicht aufzählend-kontrastierend beschrieben als »Metapher« des jeweiligen Kunstcharakters (naives »Gefühl«, heroische »Bestrebungen«, tragische »intellektuelle Anschauung«: s. o.). Da die Toncharaktere nun in sämtlichen drei Gattungen vorkommen, erweist es sich, dass die Tonlehre vor allem zur Unterscheidung der »Stile« innerhalb jener dienen (Ryan 1960, 64). Ferner kann der Grundton nach beiden anderen Stimmungen hin mit zusätzlichem Akzent gleichsam abgestuft sein: danach variiert der faktische Anfangston. Als Beispiel eines lyrischen Gedichts he-
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roischerer Anlage (das im Exordium folglich naiv anfangen kann) nennt H. Pindars 7. Olympische Ode. Im Fall des Epos vertritt die Ilias die heroisch-epische Stilart von idealischerem Grundton, die sogleich »im höchsten Feuer« vom Zorn des Achilleus heroisch spricht. Idealisch beginnt die naivere Variante, bei der man vielleicht an die Odyssee denken mag, wie bei der heroischeren (also eigentlich-epischen) womöglich an Hesiods Werke und Tage (mit dem Rechts-Streit gegen den Bruder Perses im Zentrum). Dabei wird nun – zum einzigen Mal – von dem jeweils dritten Ton, dem »Geist des Gedichts« gesprochen: als »das, was den Grundton und den Kunstcharakter eines Gedichts vereiniget und vermittelt« und darum am meisten »gehalten« werden müsse (StA 4, 267). Dessen Sinn ist umstritten. Im Kontext des Epos jedoch, »da dieser Geist im epischen Gedichte das Idealische ist«, darf man dies gewiss mit der langen Kampfenthaltung des zürnenden Helden Achilleus über zwei Drittel des Gedichts (auf die H. als zentrales Gestaltungsmittel des »Charaktergemäldes« auch in den Homerbriefen weist, s. o.) in Verbindung bringen. Gegenüber dem »Verweilen« beim Geist fällt »Richtung« und »Nachdruck« jeweils auf Grundton und Kunstcharakter. Offenbar durch die Arbeit am Empedokles-Trauerspiel bedingt, steht im Brennpunkt der Überlegung das Problem des »energischen Gedichts« (dazu auch, vielleicht gleichzeitig, der Passus über den Tönewechsel der tragischen Ode im Zusammenhang mit dem ›Grund zum Empedokles‹, s. u.). Hauptgedanke ist, dass in den schärfsten Dissonanzen von Übermaß, Trennung und Spannungen, wie sie den Stil, das »Ausgesprochene« des heroischen Gedichts ausmachen, das »Ganze« selbst der Einigkeit mit allem was lebt, der Grundton der »intellektuellen Anschauung«, am deutlichsten fühlbar werde. Warum H. für diesen Sachverhalt, mitten im theoretischen »Räsonnement«, abrupt die mythisch klingende Formel einer »Willkür des Zeus« hereinbringt, hat man sich bisher kaum gefragt (ebd., 269; s. u.). Darum lagern sich hochkomplexe Erwägungen der tragischen Form, in unerklärten Begriffen wie Mittelpunkt oder Zentrum, Trennbares, Unendliches, Spannung, Haupt- und Nebenteile, Bilden, Reagieren, Reproduzieren, Konzentrieren, Ausgehen u. a. Der Tönewechsel charakterisiert also nicht nur die Dichtarten, Verfassung und Verankerung der Poesie in ihrer Sphäre im weitesten Sinne, sondern er regelt auch Aufbau und Ablauf des einzelnen Gedichts in einer für Kunstfreunde (wie z. B. Adorno, s. Kap. 40) oft befremdlichen Akribie des »gesetzlichen Kalkuls«.
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Dies ist die Bedeutung der hochabstrakten von H. notierten Tabellen und Schemata, deren Verständnis teils erschwert, teils erleichtert wird durch die Frage, wo, wie und inwiefern die Homburger Poetologie in der gleichzeitigen und späteren Dichtung konkret praktiziert werde (vgl. vor allem Ryan, ebd.). Bauart und kalkulable Kunstgesetze hängen mit der Realität des ausgestalteten poetischen Werks offenbar vor allem über die »Begründung« des Anfangstons – in der Regel also des Kunstcharakters (und damit der jenen hervortreibenden Grundstimmung) – zusammen. Das Gedicht ›moduliert‹ dann, indem an zweiter Stelle der bisher im Hintergrund klingende Grundton nach vorne tritt, während latent der dritte Ton oder »Geist« als Grundton dieser Phase spricht, welcher dann seinerseits auf der nächsten Stufe vor dem jetzt als Grundton latenten Anfangston prägend heraustritt. Nach dieser dritten Phase geschieht jedoch, in der Mitte des Gedichts, ein Umschlag, nach H.s Ausdruck die »Katastrophe«. Es ist der entscheidende Punkt des Ganzen, wo, indem der Tonwechsel sich umkehrt, eine Rückkehr (nach vier oder sieben Stufen) in den Anfangston stattfindet: Von hier an tritt der Kunstcharakter-Ton einer Stufe auf der folgenden in den Hintergrund zurück. Aufgrund der »Katastrophe« klingt aber der Anfangston als Kunstcharakter am Ende nicht mehr vor dem ersten, dem Grundton des Gedichts, sondern vor dem dritten Ton (dem »Geist«). Dass somit das Gedicht nicht ›zyklisch‹, sondern nach einer bestimmten Dynamik verläuft, ist Motiv mancher Debatten der Ausleger über die ›Dialektik‹ solcher Poesie, womöglich als einen Prozess der ›Vergeistigung‹. Dass nach der Tönelehre der dichterisch entscheidende Moment in der »Katastrophe« liegt (also in der Mitte), beim tragischen Gedicht wie auch sonst, schafft zusätzliche Schwierigkeiten. Eine von H.s Tabellen (in der Notiz Die Empfindung spricht im Gedicht idealisch, StA 4, 270 f.), welche die Ton-Trias von Grundton, Sprache (= Kunstcharakter) und Wirkung (= Geist) in Beziehung zu den Gemütsvermögen Empfindung (naiv), Leidenschaft (her) und Phantasie (id) bringt und so die verschiedenen Stile durchspielt, hat die Eigenheit, dass in ihr die Umkehr fehlt. Dies ist umso nachteiliger, als im Zusammenhang damit H.s einziger Verweis auf ein eigenes Gedicht als Beispiel des Tönewechsels: »Styl des Lieds Diotima«, beim lyrischen oder idealischen Gedicht, in seiner Verständlichkeit beeinträchtigt wird (s. u.; vgl. Corssen 1951, 24 ff.; Ryan ebd., 141 ff.). Den Widerspruch versucht die FHA (14, 323) aus früherer Entstehung zu erklären; wir müssten dann vermuten,
bis tief in das Jahr 1799 hinein bleibe dem Dichter unklar, dass in der attischen Tragödie die von Aristoteles behandelte ›Peripetie‹, dass in der antiken Stillehre der ›Omphalos‹ oder dass in der Ilias Zorn und Versöhnung Achills von fundamentaler Bedeutung sind. Hinzu kommt, dass in den (vermutlich frühen: s. o.) Homer-Notizen der Begriff der Katastrophe schon gebraucht und vorausgesetzt wird (zur Praxis der Ode Ihre Genesung s. o.; zu Pindar schon in Frankfurt: Der Mensch; vgl. Seifert 1981, 51 ff.). Der jeweils dritte Ton (der »Geist des Gedichts«) fällt nicht als »Wirkung« mit dem Grundton mehr oder weniger zusammen (vgl. Ryan ebd., 51 ff.; dagegen Simon 1967, 23), noch ist er in der Eigenschaft, den »Widerspruch« von Grundton und Kunstcharakter »aufzulösen«, mit der anderwärts von H. beschriebenen »Vollendung« des Dichters identisch (wie es Szondi 1970, 139 annimmt), da er im Tonwechsel in der Mitte und an 6. Stelle erscheint; eher erklärt oder begründet er jenen Widerspruch als solchen, indem er »am meisten gehalten« wird. Bei aller Dunkelheit der Konzeption (vgl. Schwarz 1994, 152 Anm. 39) kann man im Falle des Ilias-Epos dessen »Geist« darin vermuten, dass zuletzt doch nicht der Zorn des Achill den »eigentlichen Gegenstand« bildet, sondern es »vielmehr dem Vater Jupiter als Achilln oder einem andern zu Ehren gesungen sei« (Heroine-Rezension, StA 4, 289), womit auf die Vollendung von »Zeus’ Ratschluß« (Ilias 1, 5) und damit auf den Sinn von Achills KampfEnthaltung gedeutet wäre. Die tragischepische Stilvariante der Ilias käme mithin auch an dem (in den Homer-Briefen – s. o. – bedachten) Schlusston (naiv Heroisch) zu Tage, dessen Art des Ausgleichs »über den natürlichen Ton hinausgeht«: da sich selbst »der alte Priamus [...] noch vor dem Heroen [...] zu verjüngen« scheint (StA 4, 231). Von da aus ließen sich Folgerungen für die »gemeinschaftliche Seele, die allem gemein und jedem eigen ist« und für jene »Willkür des Zeus« erwägen, die den Grundton der Tragödie bildet. Auch angesichts ihrer grundlegenden Bedeutung für H.s Spekulation (vgl. Ryan ebd., 29) hat man sich nicht nach dem präzisen Sinn der Wendung gefragt (vgl. aber BennholdtThomsen 1996/97, 27): Welche Bedeutung von Willkür (zwischen Freiheit des Wählen-Könnens und tyrannischem Übermut) ist gemeint? Das zuhöchst trennbare »Eine«, der Inhalt der in der Tragödie sprechenden (»intellektuellen«, d. h. nicht-sinnlichen) »Anschauung«, artikuliert sich nicht in einem Platonisch selbstbeobachtenden oder kontemplativ-ruhenden Insichgehen, sondern im Gegenteil – und darum
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gattungsspezifisch – im »höchsten Feuer« der energischen Dissonanzen, wo sich der Dichter selbst mehr denn je verbirgt (vgl. Simon ebd., 68). Es ist darum, nach der Einsicht von Kranz (1949, 205), aus dem Bezug zu Heraklits Fragment 32 DK zu begreifen, dessen »Weises«, das alle Gegensätze in sich schließende, weise »Eine«, mit dem Namen des Zeus zu nennen sei. Anlass war womöglich das Heraklit-Zitat von der »Harmonie des Zeus« im äschyleischen Prometheus (V. 551; so Kranz ebd., 371 Anm. 42a); seinerseits erscheint der Prometheus unter den Themen des IdunaPlans (StA 6, 323). Den »Geist des Gedichts« betreffend ergibt sich hier, dass es also nicht der idealische Ton als solcher ist, dem sich die »vermittelnde Vereinigung der anderen beiden Tonarten« verdankte (Franz 1998/99, 97), da diese Vereinigung, oder Auflösung des »Widerspruchs«, im Falle der Tragödie durch den naiven Ton stattfindet (so wie in der Lyrik durch den »Geist« des Heroischen). Unzulängliche Zuordnungen, etwa des Idealischen an die Sonne, erfolgen andernfalls (vgl. Szondi ebd., 132 Anm. 63 und 138 Anm. 90). Es verkörpert sich z. B. in Hämon die naive Mitte der lyrischtragischen Antigone. Was dem etwa im sophokleischen Ajax entsprechen könnte, hat man nicht gefragt; so bleibt der in H.s Tabelle festgehaltene »Stil«Gegensatz zwischen den beiden Stücken ungeklärt. Wie sich H. die Katastrophe des lyrischen Gedichts (etwa am Beispiel von Pindars 7. Olympie) oder die epische der Ilias gedacht haben könnte, wäre von Belang auch für die Frage, in welchem Ausmaß der Tonwechsel in seinen eigenen Dichtungen besonders nach 1800 realisiert oder vielmehr aufgegeben werde (vgl. Corssen ebd., 45; Ryan ebd., 176). Wie die Katastrophe von der tragischen »Zäsur« scharf zu unterscheiden ist, so auch der Tonwechsel vom Prinzip der (triadischen) Strophengliederung (Szondi ebd., 154 Anm. 160): sonst entstehen romantisch-vitalistische Vorstellungen z. B. Pindarischer Poesie als eines »ins prälogische Medium hinab« wollenden »strömenden Kontinuums von Bildern« (ebd., 156). Es bleibt auch die Frage, was die (moderne) Tragödie »epischer« behandeln (StA 6, 426) hieße, falls die Stil-Variante des epischtragischen Dramas im Sophokleischen Ajax zu erblicken sein sollte (vgl. Ryan ebd., 121).
15.5 Versuche der Anwendung In der Frage der poetischen Konkretion des Tonwechsels im einzelnen Gedicht H.s ist man seit der bahnbrechenden Arbeit von Ryan nicht wesentlich
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fortgeschritten. Sei es das Vorherrschen philosophiehistorischer Interessen, sei es eine germanistische Methodik, welche aus kontextentfremdeten Exzerptstücken des Dichters ›Weltbild‹ zusammenzusetzen trachtet: das Phänomen der künstlerischen Einheit eines H.schen Gedichts – also eben jenes »lebendige Ganze«, um dessentwillen die Tönelehre existiert (s. o.), die Strenge und Schärfe des Formbewusstseins als »heilige Schicklichkeit« – scheint derzeit weniger fassbar als vor Jahrzehnten. Gelehrte Axiomatik projiziert zumeist auf ihr Objekt das theologische »Widerrufs«-Schema und andere Figuren von Zurücknahme oder »Scheitern«, was dem Verständnis jener gesetzlichen »Verfahrungsart, wodurch das Schöne hervorgebracht wird« nicht günstig gewesen ist. Da nicht nur die Geschichtsphilosophie, sondern auch der Begriff des »Textes« selbst (und dementsprechend stummes Lesen) der realen Erfahrung von »Tönen« im Wege steht (vgl. Beißner ebd., 145 f.), hat man die Frage nach der Präsenz der Töne in H.s Poesie (also nach dem »Rhythmus im höheren Sinn«) erst jüngst wieder aufzugreifen vermocht: obwohl an diesem Problem der ›Aufführungspraxis‹ gewiss auch das des »Sinns für gemeinschaftliches Eigentum« – also jene Reproduktion des poetischen Geistes »in anderen« – hängt, wie es in der Zeitschrift ›Iduna‹ behandelt werden sollte. Die Hauptfiguren des Hyperion-Romans – Diotima, Alabanda und den Titelhelden – als Verkörperungen der drei Töne Naiv, Heroisch und Idealisch aufzufassen, liegt nahe, auch weil Hyperion selbst im Vorwort als »elegischer« (d. h. idealischer) »Charakter« bezeichnet wird (vgl. Hof ebd., 284 f.); aufschlussreich ist, dass er andererseits – im Zuruf des Adamas (»Sei, wie dieser!« im 4. Brief) wie schon im Namen ›Hyperion‹ deutlich – die heroische Richtung auf die Sonne in sich trägt. Diese prägt auch das »Lied Diotima«, das in H.s Töne-Tabelle erscheint (s. o.). Angesichts der schwierigen Töne-Zuordnung (vgl. Hof ebd., 229 ff., Ryan ebd., 141 ff.) fällt auf, dass die Endfassung des Gedichts gerade mit dem Schluss-Vergleich zwischen Ich und Sonne in den Anfang (»Goldner Tag!« V. 2) zurücklenkt. Damit ergibt sich zudem auch eine Umkehr in der Mitte, wie sie für den Tonwechsel des idealischen Gedichts gefordert ist; so dass tatsächlich das Lied nicht nur wie eine Annäherung an die Normalform des Tonwechsels (Corssen ebd., 24), sondern schon wie dessen Gestaltung anmutet. Für die in Frankfurt und Homburg wiedereinsetzende Oden-Poesie lässt sich (in der H. hauptsächlich interessierenden tragischlyrischen Stilart) das fünf-
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strophige, alkäische Gedicht Der Zeitgeist als Beispiel ansehen. Ryan (ebd., 77 ff.) analysiert ihren Tonwechsel als vierphasig, indem der heroische Ton (in welchem die idealische Grundstimmung spricht) über die ersten zwei Strophen herrscht, wonach im Aufblick zu dem Zeitgott als »Vater« (naiv Idealisch), dann in eine »bescheidenere Innigkeit« (heroisch Naiv) fallend, mit der erneuten Hinwendung zum »Erschütterer« der heroische Anfangston wieder gewonnen wird. Eine andere Deutung, welche die gebräuchlichen Maßstäbe der »Ton«-Einteilung nach Wortfeldern und Motivbausteinen ergänzt durch den Blick auf die unterschiedliche Rhythmisierung in Satz- und Verston (vgl. Beißner 1964) und Strukturen des »Ethos«, stellt dem gegenüber die These eines vollständigen (siebenstufigen) Wechsels, wonach die tragische »Katastrophe« in der Mitte des Gedichts sich in den naiven »Geist« auflöst (Hornbacher 1995, 109 ff.). Von Interesse sind ferner die Versuche, für die nicht ganz vollendet und in zweifelhafter Strophenfolge überlieferte Ode Der Frieden mittels der Tönelehre die korrekte Ordnung zu bestimmen (Beißner 1961 und Kirchner 1967, vgl. ferner MA 1, 232 f.). Bei einem (in der Nachbarschaft zum Aufsatz Wenn der Dichter einmal ...) projektierten Gedicht-Titel Gesang der Musen [Lesart: Horen] am Mittag ist notiert: »Katastr. Phaeton [Lesart: Ikarus]«. Ein weiterer Gedicht-Entwurf Ovids Rückkehr nach Rom notiert neben der Tönereihe »id.n.her. id.n. h.id.« die thematischen Stichwörter »Klima – Heimat – Skythen – Rom – Tiber Völker – Heroen – Götter«, meint also wohl den Kunstcharakter des lyrischen Gedichts. Den Bezug der Töne-Lehre zum Projekt des Empedokles-Trauerspiels untersucht die zu Unrecht vernachlässigte Arbeit von Simon (ebd.). Dass es H., entgegen dem Augenschein, gar nicht um drei, sondern um vier Töne zu tun sei (wo nach Pythagoreischer Weise zu Thesis-Antithesis-Synthesis die Analysis träte), ist die Meinung von George (1999). Die Aussicht, die Gesetze des Tonwechsels vor allem im späteren Werk H.s angewandt zu finden, hängt naturgemäß von der Auffassung dieser Gesetze selbst ab. Um deren theoretisch-philosophischen Status zu klären, fragt man vorzüglich nach Parallelen im benachbarten Denken; so beherrscht, neben und in dem neuplatonischen Schema von Insichsein, Ausgang und Rückkehr, das frühidealistische Theorem von Thesis, Antithesis und Synthesis – trotz begründeten Einwänden – die Diskussion. Im Falle von Der Rhein tritt als tertium comparationis hinzu H.s bekannte Randbemerkung vom »Gesetz dieses Gesanges« nach »Progreß und Regreß«. Identifiziert man dieses mit
dem Tonwechsel (Hof ebd., 200), so lässt sich, in einer vom Naturhaften zum Geistigen aufsteigenden Sequenz von »Halbgöttern« – nach dem (heroischen) Rhein und dem naivpoetischen Rousseau (s. Kap. 11) – der stets wache »Weise« Sokrates als »Synthesis«, Zielpunkt des Hymnus und Beleg für H.s Platonismus gewinnen (so wie anderwärts der idealische Halbgott Christus als vereinigend-aufhebende Synthesis des naiven Dionysos und des heroischen Herakles angesehen wird). In der ausführlichen Erwiderung Ryans hierauf (vgl. ebd., 249 ff.) ergibt sich ferner der prinzipiell bedeutsame Hinweis auf die Unabhängigkeit des Tonwechsels von der Strophen-Einteilung des Gedichts (259 Anm. 114); zugleich der kritische Vorbehalt gegen eine katalogisierende Forschungsweise, welche sich begnügt mit einer »schematischen Aufstellung, die im Wesentlichen nicht als Ausdruck eines von innen formenden Gesetzes aufgezeigt wird« (279 Anm. 129). Von linguistischen Kategorien Jakobsons ist demgegenüber ein Versuch geleitet, den Tönewechsel in H.s späterer Stromdichtung aufzusuchen, und also den »Wechsel« und den »Stromgeist« – zwei exemplarische Ausprägungen seines Dichtungsgedankens – konkret auf einander zu beziehen (Schwarz ebd., 155 ff.), wo man einen Zusammenhang bislang mehr erhofft als nachgewiesen hat. Die Figur von Progress und Regress, das »Gesetz« der Rheinhymne, wird als gleichfalls auf (s. Kap. 32) Am Quell der Donau (vgl. auch Ryan ebd., 314) und Der Ister anwendbar vorausgesetzt; es ergibt sich eine Folge von Tonkombinationen, welche (vor allem in den zweiten Gedichthälften) H.s Festlegungen nicht mehr ähnelt (vgl. Schwarz ebd., 175), während auch, eher als der »Widerstreit« im Gedichtrhythmus, eine Parallelisierung von poetischem Verfahren und »Inhalt« (196) im Blickpunkt steht. Was die erste (überlieferte) Strophe von Am Quell der Donau mit ihrem begeistert-ergriffenen Tonfall betrifft, so verbindet sie mit diesem offensichtlich idealischen Ausdruckston den weitgespannten »Wie wenn – so«Vergleich, der sonst, seiner homerischen Herkunft nach, als episch-»naiv« par excellence gilt (zu Pindars 7. Olympischer Ode s. o.; vgl. Seifert ebd., 421, dem indessen Pyth. 1, 1 ff. – also das Proömium für H.s dritte Hymnenstrophe – als »Vorbild« gilt). Wenn die Auseinandersetzung mit der Rheinhymne ergibt, dass zuletzt die Progress-Regress-Figur doch kein Gesetz des Tonwechsels bildet (vgl. Ryan ebd., 274), so steht eigentlich die Frage nach der Präsenz des Letzteren im Spätwerk immer noch am Anfang; doch wäre auch das bisher Gedachte erst einmal
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neu anzueignen und insgesamt zu prüfen. Scheint z. B. die für die Odendichtung bezeichnende Art des scharfen »Widerstreits« von Grund- und Ausdruckston in den Elegien zu fehlen, so wäre dies mit der Suche nach einer gattungspoetisch bedingt spezifischanderen Modalität im Elegischen zu beantworten. Gerade im Falle des zweiten Heinse gewidmeten Gedichts, Brod und Wein (der »idealischen« unter den drei großen Elegien), würde sich wohl – mit dem Bezug zur Rheinhymne zusammen – das Phänomen der Mitte oder Umkehr und der Rückgang in den Anfang (also der Tonwechsel) präziser herausstellen, wenn man den zum Schluss genannten »Syrier« nicht länger mit einem auf den Typhon treffenden Christus in eins zu setzen versuchte. Weitere Schlüsse aus dieser Einsicht stünden dann der Erwägung offen. Literatur
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Holger Schmid
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16 Geschichtserfahrung und poetische Geschichtsschreibung 16.1 Die Zeitlichkeit des Absoluten und die Genese des Problemfeldes »Geschichte« Vollzieht man jenen spekulativen Schritt »über die kantische Gränzlinie«, bei dessen Durchführung H. Schiller schon früh mangelnde Konsequenz vorwirft (MA 2, 551, s. Kap. 11), konsequent mit, dann stellt sich das Problem einer »poetische(n) Ansicht der Geschichte« (MA 2, 928) in ganz anderer Weise, als das einer theoretischen Geschichtsbetrachtung. Schon die Tatsache, dass H.s Dichtung und Philosophie zwar zutiefst von Geschichte betroffen ist, ihr Begriff bei ihm aber keine Rolle spielt, macht deutlich, dass Geschichte hier nicht zum Gegenstand theoretischer Überlegungen wird, sondern als ein offenes Problem sein Denken unaufhörlich neu herausfordert und ihm Veränderungen aufnötigt, die sich methodisch kontrollierten Operationen nicht fügen. Die Vielschichtigkeit und radikale Offenheit »lebendiger« geschichtlicher Erfahrung, deren Ansprüche H. poetisch, philosophisch und biographisch herausfordern, kann auch seine Interpretation nicht unberührt lassen: analog zu Hegels Kritik an einer bloß »geschichtlichen Ansicht philosophischer Systeme« (Hegel, Bd. 2, 15 ff.) verlangt sie, über eine Erörterung des im Text sich anbietenden Geschichtsbegriffes hinaus nach der Genese und den Veränderungen des Geschichtsproblems zu fragen, das sich in den Texten gleichsam verdichtet, aber keineswegs erschöpft. Sofern sich dieses Problem nicht auf den Gegenstandsbereich theoretischer Operationen beschränken lässt, eignet ihm der Charakter eines »absoluten«, von operativen Unterscheidungen unabhängigen und auf diese übergreifenden Anspruches. Ein Denken, das sich auf einen solchen Anspruch einlässt und ihn nicht von vornherein theoretischen Prämissen und Unterscheidungen unterwirft, muss sich daher in einem radikalen Sinn selbst als zeitlichen und veränderlichen Erfahrungsvollzug begreifen (s. Kap. 19): in einem Sinn, der auch die dualistische Unterscheidung zwischen realer und begriffener Geschichte nicht unberührt lässt, die das historische Denken bestimmt. Fichte, der die »kantische Gränzlinie« ausdrücklich respektiert (s. Kap. 12), gelangt im § 7 seiner Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre zu einem Begriff des Denkens als ›Historiographie‹ des mensch-
lichen Geistes, und er nennt hier auch die Voraussetzung einer solchen, am Modell einer ›pragmatischen Geschichtsschreibung‹ orientierten transzendentalen Denkform: »Das Dargestellte und die Darstellung sind in zwei verschiedenen Reihen.« (GA 1.2, 149) In seiner Auseinandersetzung mit Fichte erkennt H., dass dieser Gesichtspunkt einer dualistischen Unterscheidung zwischen begrifflicher Form und begriffenem Inhalt im »absoluten Ich« zwar deren Einheit in Anspruch nimmt, diese aber nur als vorausgesetzte »Identität« vorab unterschiedener Momente zu denken vermag (MA 2, 49 f.; s. Kap. 24). Die Identität von Subjekt und Objekt ist hier ebenso konstitutiv für die ›ur-theilende‹ theoretische Erkenntnis, wie ihre Unterscheidung, sie bleibt dieser aber stets vorausgesetzt: Identität ist nur als Negation der Differenz denkbar und diese bezeugt stets nur die Abwesenheit einer vorausgesetzten Einheit. Über diese Abhängigkeit des »absoluten Ich« von einer impliziten Unterscheidung hinaus, will H., der in einem Brief vom 24.2.1796 an Niethammer (s. Kap. 5) sein Projekt eines poetischen Denkens skizziert, »das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existiren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung [...]« (MA 2, 614 f.). Die noch von Fichte beeinflusste Terminologie dieser Skizze H.s darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der hier formulierte Anspruch auch vor der Unterscheidung zwischen dem gesuchten »Prinzip« und dem von ihm abgeleiteten »Widerstreit« nicht Halt machen kann. Wollte man das »absolute Seyn« dieses Prinzips als Gegenstand oder als das Andere des Denkens auffassen, dann geriete es erneut in eine Abhängigkeit von einer im Denken getroffenen Unterscheidung, da es ja dann am Endlichen, das es nicht ist, seine Grenze fände. Es ist daher als immanent und darstellbar zu denken. Diese Konsequenz verwickelt das Denken in labyrinthische Konsequenzen: Denn als immanente Voraussetzung des Denkens aufgefasst, hätte man es unter der Hand doch als dessen eminentes und ihm unerreichbares »Ideal« bestimmt und vom Gesichtspunkt eines »Urtheils« auf eine Unterscheidung festgelegt. Folgt man dem Anspruch der Immanenzidee, d. h. eines intensiven Zusammenhangs von Darstellung und Dargestelltem, so müsste seine Darstellung – und dieser Gedankenschritt hat tiefgreifende Konsequenzen für den Begriff des Denkens als einer theo-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_16
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retischen Operation und für sein Verhältnis zum Gedachten – geradezu als ein genetisches und konstitutives Moment des Absoluten begriffen werden: nicht nur die Darstellung des Absoluten, sondern auch dieses ›selbst‹ hätte demnach eine zeitliche Genese. Nicht zufällig kommen H., Hegel und Schelling (s. Kap. 5) im Zusammenhang mit dem Problem des Absoluten immer wieder auf Jacobis Begriff des »Lebens« zurück: ebenso wenig wie die unerschöpfliche Totalität des Lebens auf eine bestimmte Form reduzierbar ist, lässt sie sich von der Vielfalt ihrer individuellen Formen abstrahieren. Sie ist ihnen immanent, insofern jede Lebensform das Leben ungeteilt und intensiv verkörpert, und sie transzendiert zugleich ihre jeweils aktualisierten Formen, insofern sie vielfältige Zusammenhänge und ein unaufhörliches Werden ihrer Formen beinhaltet. Wie aber ist die paradoxe Idee eines immanenten Absoluten denkbar und wie wäre sie darstellbar, wenn Denken immer schon die Form begrifflicher Unterscheidungen beinhaltet? Muss man nicht davon ausgehen, dass ein spekulatives Denken des Absoluten seinen ihm immanenten Gehalt wie die Lebensform das Leben in einem schöpferischen Sinn hervorbringt und insofern zugleich poetisch sein muss? Über einen theoretischen Befund hinaus, von dem das Denken als einer »Voraussetzung« ausgehen könnte (Henrich 1992), verschärft die Idee der Immanenz des Absoluten den Problemanspruch einer ›Einheit‹ der »Trennungen, in denen wir denken und existieren«. Denn diese Einheit kann nicht in einem numerischen Sinn verstanden und den Trennungen vorausund entgegensetzt werden, da sie dann selbst von einer unverarbeiteten Unterscheidung abhängig wäre, sie darf sich aber ebenso wenig in den Trennungen verlieren, soll sie in der Lage sein, deren »Widerstreit verschwinden zu machen.« Hegel fasst die innere Problematik der Immanenz des Absoluten zur Zeit seines gemeinsamen Aufenthaltes mit H. in Frankfurt in die Worte: »Das Ideal können wir nicht außer uns setzen, sonst wäre es ein Objekt, – nicht in uns allein, sonst wäre es kein Ideal.« (Hegel, Bd. 1, 244) Das hier angesprochene Problem besteht nunmehr in der Denkbarkeit eines vom Endlichen unterschiedenen Absoluten, das sich aufgrund dieser Unterscheidung auf ein bloßes Objekt und ohne sie auf ein bloß relatives Moment innerhalb des Endlichen reduzierte. Damit verstrickt uns der Anspruch einer »absoluten«, von begrifflichen Unterscheidungen unabhängigen und doch denk- und darstellbaren ›Einheit‹ der Trennungen in eine Sprachnot, der die spekulativen
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und poetischen Texte Schellings, Hegels und H.s in unaufhörlichen Veränderungen und Umarbeitungen zu entsprechen suchen. Es ist diese Suche, die dem Denken, das sich auf einen solchen Anspruch einlässt, seine Darstellung zum Problem werden lässt und ihm eine poetische Dimension gibt. Diese Sprachnot – und auch darin liegt ein Motiv für die spekulative Anknüpfung an Jacobis Begriff des Lebens – ist zugleich auch der Ausdruck einer tiefer liegenden existentiellen Problematik, die H. in einem Brief vom November 1798 an Neuffer (s. Kap. 5) eindringlich formuliert hat (MA 2, 710 ff.): »Das Lebendige in der Poesie ist jetzt dasjenige, was am meisten meine Gedanken und Sinne beschäfftiget. Ich fühle so tief, wie weit ich noch davon bin, es zu tref fen, und dennoch ringt meine ganze Seele danach und es ergreift mich oft, daß ich weinen muß, wie ein Kind, wenn ich um und um fühle, wie es meinen Darstellun gen an einem und dem andern fehlt, und ich doch aus den poëtischen Irren, in denen ich herumwandele, mich nicht herauswinden kan. Ach! die Welt hat mei nen Geist von früher Jugend an in sich zurück gescheucht, und daran leid’ ich noch immer [...]; ich fürchte, das warme Leben in mir zu erkälten an der eis kalten Geschichte des Tags.«
Die Konsequenz, die H. aus seiner Einsicht in die Zwänge zieht, in die ihn seine idealistische Verneinung der Wirklichkeit verstrickt, diese Konsequenz hat – und dies ist für das Problem einer spekulativen »Darstellung des Absoluten« ebenso von Bedeutung wie für seinen Zusammenhang mit dem »poetischen« Umgang mit Geschichte – biographische, poetische und philosophische Dimensionen. Biographisch muss es ihm in der Aporie, in die ihn der Anspruch seines »Ideals« verstrickt, darum gehen, die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt zu transformieren, die seine poetische Produktivität blockiert. Er muss, wie er weiter schreibt, »den Dingen, die auf mich zerstörend wirken, einen Vortheil abzugewinnen suchen [...] Ich muß sie wo ich sie finde, schon zum voraus als unentbehrlichen Stoff nehmen, ohne den mein Innigstes sich niemals völlig darstellen wird.« Die hier angesprochene Dimension der »Darstellung« des Innigsten, läßt sich als dessen biographische Verkörperung auffassen. Sie ist den Ansprüchen »der eiskalten Geschichte des Tags« ausgesetzt, die in zunehmendem Maß in seine poetische Produktion gleichsam einzudringen beginnt. In der poetischen Konsequenz dieser Problemstel-
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lung sieht sich H. genötigt, die als zerstörerisch erfahrene, das Ideal negierende Welt in sich aufzunehmen, um sie, wie er fortfährt, »gelegentlich (als Künstler, wenn ich einmal Künstler seyn will und seyn soll) als Schatten zu meinem Lichte aufzustellen, um sie als untergeordnete Töne wiederzugeben, unter denen der Ton meiner Seele umso lebendiger hervorspringt. Das Reine kann sich nur darstellen im Unreinen und versuchst Du, das Edle zu geben ohne Gemeines, so wird es als das Allerunnatürlichste, Ungereimteste dastehn«. Diese ›gereimte‹ Dimension der Darstellung absoluter Gehalte, welche diese in einem schöpferischen Sinn hervorbringt, ist deren poetischer Ausdruck. Für ihn liefert die geschichtliche Erfahrung gleichsam den Stoff und die Farben, die das »Innigste« aber nicht nur abbilden, sondern sprachlich verdichten und verwirklichen. Daran schließt sich im Brief eine philosophische Problemformulierung an, die das Verhältnis des darzustellenden Ideals zu seiner Darstellung nicht als Relation im Horizont einer Unterscheidung, sondern genetisch zu begreifen sucht: H. schreibt weiter, dass »das Edle selber, wie es zur Äußerung kömmt, die Farbe des Schiksaals trägt, unter dem es entstand, weil das Schöne, so wie es sich in der Wirklichkeit darstellt, von den Umständen, unter denen es hervorgeht, nothwendig eine Form annimmt, die ihm nicht natürlich ist, und die nur dadurch zur natürlichen Form wird, daß man die Umstände, die ihm nothwendig diese Form gaben, hinzunimmt«. Diese dem Absoluten zunächst »unnatürliche« Form, die sich erst durch die Erinnerung der Formgenese mit ihm verbindet, können wir als dessen Re-präsentation bezeichnen. Sie verweist auf eine notwendige und konstitutive Bedeutung der geschichtlichen Umstände für die Genese des Schönen, die unter dessen Anspruch nicht nur als poetischer Stoff eine Form annehmen, sondern ihm zugleich eine Form geben und seine Verwirklichung einem zeitlichen Werden aussetzen. In dieser Problemstellung mit ihrer biographischen, poetischen und philosophischen Dimension hat die Idee des Absoluten nun vollends den Charakter eines gegenständlich vorliegenden und seiner Darstellungsform vorausgesetzten Seins abgestreift zugunsten einer intensiven Komplikation von Darstellung und Dargestelltem. Für H. stellt sich das Problem dieser Komplikation als eine Verbindung zweier in sich gegenläufiger Prozesse: desjenigen in dem der absolute Anspruch schöpferischer Inspiration »nothwendig« eine Form annimmt und dem poetischen Gestaltungsprozess, der ihm ebenso »nothwendig« eine Form gibt. Es geht einer solchen Darstellung nicht mehr um die for-
male Thematisierung eines idealistisch vorausgesetzten Absoluten, sondern um eine Transformation der dualistischen Unterscheidung zwischen Darstellung und Dargestelltem. Wir wohnen gleichsam einem »gedoppelten Prozeß« (Hegel, Bd. 3, 43) bei: dem ZurWelt-Kommen des dichterischen Ich und seines »Innigsten«, das hier eine geschichtliche Gestalt annimmt, und zugleich und in einem damit dem Zur-SpracheKommen der geschichtlichen Welt, in dem der scheinbar faktische Unterschied zwischen der Innigkeit des Ideals und einer es negierenden Außenwelt als Produkt einer veränderlichen Unterscheidung und als zeitliche Form eines absoluten Zusammenhangs erinnert wird. In den Differenzierungen ihres ›absoluten‹ Anspruches ist Geschichte für H. deshalb nicht einfach ein Gegenstandsbereich des Denkens und keine Realität, die ›außerhalb‹ oder unabhängig von den individuellen Formen ihrer Erfahrung gegeben wäre. Der absolute Anspruch geschichtlicher Zeit besteht eher in einem Insistieren, das in jeder Erfahrung und in jedem Denken unaufhörlich an die Veränderbarkeit ihrer Unterscheidungen und Voraussetzungen erinnert und sie daran hindert, ihre Unterscheidungen zu fixieren und gegen Veränderungen zu verabsolutieren.
16.2 Die poetische »Mythe«: Geschichte als lebendiger Zusammenhang Im sogenannten Fragment philosophischer Briefe (s. Kap. 24), das als Versuch gelesen werden kann, das im Brief an Niethammer skizzierte Projekt eines poetischen Denkens zu konkretisieren, macht H. deutlich, dass für ihn die dualistische Unterscheidung von Denken und Gegenstand die Erfahrung und Formulierung »absoluter« und »lebendiger« Beziehungen verstellt: »Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt, wohl aber in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgiebt.« (MA 2, 51) Geschichtliches Sein fügt sich diesen Sätzen zufolge nicht den Unterscheidungen historischer Ordnungskategorien, sondern macht sich im vielfältigen Insistieren »lebendiger« Erfahrungsansprüche geltend: von Ansprüchen, die, wie H. im Verlauf des Textes betont, nicht unabhängig von der schöpferischen und individuellen »Verfahrungsart« gedacht werden können, mit der die Antwort auf diese Ansprüche erfolgt (MA 2, 54 f.).
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Die Idee eines immanenten Gottes, der sich nicht von seinen endlichen Modifikationen abstrahieren lässt, sondern sich in ihren »lebendigen Beziehungen« verkörpert, diese Idee beinhaltet Konsequenzen, die mit dem »Maschinengang« eines kausal fortschreitenden Werdens nicht zu vereinbaren sind. Denn wie immer man die Konzeption kontinuierlich fortschreitender Zeit auch fasst, sie setzt immer eine Unterscheidung voraus, der sie die Zeit unterwirft: die Unterscheidung zwischen einem zeitlosen Grund bzw. Telos geschichtlichen Werdens, ohne das der Fortschritt seine Richtung und seinen Zusammenhang verlöre und der Vielheit seiner stets vorläufigen und vergänglichen Darstellungsformen (Kurz 1975, Hühn 1997). Dieser historischen Konzeption geschichtlichen Werdens, die aus der neuplatonischen Emanationsidee hervorgeht und sich im christlichen Schöpfungsgedanken fortsetzt, stellt die spinozistisch inspirierte Idee des immanenten Gottes eine ganz andere Konzeption des Werdens entgegen. Diese setzt dem Werden keinen göttlichen Grund voraus und sie radikalisiert den trinitarischen Gedanken der Menschwerdung eines eminenten Schöpfergottes im Sinne eines zeitlichen, sich in seinen Modifikationen verwirklichenden und insofern seinerseits von ihnen hervorgebrachten Gottes, dessen Werden mit jeder Lebens- und Daseinsform einen neuen, individuellen Gesichtspunkt erhält: »Und jeder hätte demnach seinen eigenen Gott, in so ferne jeder seine eigene Sphäre hat, in der er wirkt und die er erfährt, und nur in so ferne mehrere Menschen eine gemeinschaftliche Sphäre haben, in der sie menschlich, d. h. über die Nothdurft erhaben wirken und leiden, nur in so ferne haben sie eine gemeinschaftliche Gottheit.« (MA 2, 51 f.) Gibt es keine übergreifende, ihren individuellen Formen vorausgesetzte und von ihnen abstrahierbare göttliche Sphäre, so drückt jede Lebens- und Daseinsform Gottes ihn intensiv und ungeteilt aus. Keiner Form fehlt etwas vom göttlichen Leben und insofern setzen neue Formbildungen sein Werden nicht in einem linearen Sinn fort, sondern modifizieren und transformieren es auf eine individuelle und irreversible Weise. Die Tragweite dieser Konsequenz für das Problem der Geschichte wird vor dem Hintergrund der historischen linearen Zeitauffassung noch deutlicher. Denn in dieser wiederholt sich die Aporie des fichteschen Ich, das als ›Historiograph des menschlichen Geistes‹ sowohl ein vorübergehendes und leibliches Moment von dessen Entwicklung ist, als auch »absolutes«, von der Zeit nicht betroffenes Ich, welches das Werden des Geistes einer Unterscheidung
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zwischen zeitlicher Darstellung und zeitlos Darge stelltem unterwirft. Dieser cartesianischen Denkweise folgend, trennt auch der Blick des Historikers die Realität der geschichtlich vergehenden Zeit methodisch von der Form ihrer Darstellung – ohne diese Trennung wäre Geschichtswissenschaft nicht möglich –, und er muss doch zugleich ihre Einheit voraussetzen: die Zeitlichkeit der Begriffsform und die Erzählbarkeit zeitlicher Realität, ohne die wiederum jene methodische Unterscheidung nicht möglich wäre. Im Horizont dieser Unterscheidung konstituiert sich eine reversible Erfahrung der Zeit im Sinne eines linearen Prozesses, der gleichsam vor den Augen eines beobachtenden Ich abläuft, das prinzipiell jederzeit jede Stelle im Fortschrittskontinuum erreichen und bestimmen kann. Eine ganz andere Zeiterfahrung beinhaltet das von H. thematisierte lebensgeschichtliche Eingebundensein in eine individuelle und vergängliche geschichtliche »Sphäre«, das es nicht mit einem reversiblen Zeitverlauf zu tun hat. Selbst eingebunden in die Zeit und auf eine »eigentümliche Sphäre« (MA 2, 53) im geschichtlichen Werden beschränkt, kann das Ich eine bestimmte zeitliche Entwicklung nicht jederzeit auf dieselbe Weise betrachten, da jeder Versuch, eine Stelle der Vergangenheit zu erreichen, seine Zeiterfahrung als ganze modifiziert: sie verändert die Gegenwart seiner individuellen Sphäre, die durch die Erinnerung eine andere wird, und sie verändert seine unermessliche Vergangenheit, die zur Vergangenheit einer anderen Gegenwart wird und dieser andere Aspekte enthüllt. Deshalb stellt sich für H. das Problem eines »gemeinsamen Gottes« bzw. einer »gemeinsamen Sphäre«, die über die biographische Befangenheit in einer »besonderen Sphäre« hinausweist, als Problem der Erinnerung (MA 2, 53; s. Kap. 19). Die Idee eines »höheren Geschiks«, die es erlaubte, eine Beziehbarkeit der individuellen Sphären zu denken, wie sie auch die geschichtliche Erinnerung voraussetzt, diese Idee lässt sich nicht durch eine Abstraktion von der unerschöpflichen Vielfalt individueller Sphären erreichen: sie kann, schreibt H., »niemals ohne einen besonderen Fall, niemals abstract gedacht werden«, da sie außerhalb ihre »innige(n) Verbundenheit« mit der sie hervorbringenden Sphäre, einer verallgemeinerten Unterscheidung unterworfen wäre und ihre zeitliche »Eigentümlichkeit« zur abstrakten Form gerinnen müsste (MA 2, 54 f.). Geschichte lässt sich, mit anderen Worten, nicht auf das historische Zeitkontinuum beschränken, wie es etwa Schiller in seiner Jenaer An-
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trittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? formuliert. Vielmehr verweist das für den modernen Begriff der Geschichte konstitutive Konzept der »Universalgeschichte« selbst auf eine zeitliche Genese und es unterliegt unvorhersehbaren Veränderungen in der Zeit. Wenn aber jeder Zeit- und Geschichtsbegriff auf eine zeitliche Genese verweist, die sich seinen Unterscheidungen nicht fügt, so hat sich ein Denken von Geschichte, das seiner Geschichtlichkeit eingedenk ist, mit einem »absoluten« Anspruch »ungeschriebener« zeitlicher »Geseze« auseinanderzusetzen: mit einem schicksalhaften Betroffensein von geschichtlicher Veränderung, die sich nicht vergegenständlichen lässt und sich der Kontrolle theoretischer Unterscheidungen eines Beobachters entzieht. Diese schicksalhaften »Geseze« und »Beziehungen« lebendigen Werdens, so H., »können zwar auch gedacht, aber nicht nur blos gedacht werden; der Gedanke erschöpft sie nicht, und wenn es höhere Geseze giebt, die jenen unendlichern Zusammenhang des Lebens bestimmen, wenn es ungeschriebene göttliche Geseze giebt, [...] so sind sie, in so fern sie blos für sich und nicht im Leben begriffen vorgestellt werden, unzulänglich [...]« (MA 2, 54). Ebenso wenig wie ›das Leben‹ sich von seinen individuellen Formen abstrahieren lässt, lassen sich die »ungeschriebenen Geseze« seines Werdens, die Erinnerung, Erfahrung und Geschichte ermöglichen, unabhängig von den Formen individueller Erfahrung begreifen, in denen sie die ›gesetzmäßige‹ Konsequenz und erinnerbare Konsistenz von Erfahrungsprozessen überhaupt erst erhalten. Aber andererseits sind diese »lebendigen« Gesetze auch nicht auf bestimmte Formen begrenzbar, da sie den für jede Form konstitutiven und unerschöpflichen Lebenszusammenhang betreffen und eine unaufhörliche Veränderung der jeweils aktualisierten Beziehungen und Erfahrungen implizieren. Es ist das paradoxe Problem einer selbst vergänglichen Darstellung vergehender Zeit und der Betroffenheit von einer unaufhörlich sich ereignenden Veränderung, die H. am Schicksalsbegriff der griechischen Tragödie zunehmend interessiert (s. Kap. 17). Es geht ihm dabei um eine Dimension geschichtlicher Erfahrung, deren ›absoluter‹ Anspruch noch jede Form ergreift und auf unvorhersehbare Weise deformiert – ein Anspruch, der sich keineswegs nur dem tragischen Zeitbewusstsein einer vergangenen Epoche zuordnen lässt, sondern auch im modernen Geschichtsbewusstsein nicht aufhört, zu insistieren. Denn die Erfahrung zeitlichen Werdens, sofern wir
sie nicht von vornherein der Vorstellung eines raumzeitlichen Fortschrittskontinuums unterwerfen, ist durchaus paradox. In ihr durchdringen sich werdende, gewordene und vergehende Zeit ununterscheidbar in jedem Moment. Ohne innezuhalten ist Werdendes in jedem Moment zugleich auch schon vergangen und ist Vergangenes zugleich unaufhörliches Werden: Werdendes ist nicht ›jetzt‹ Gegenwart um ›dann‹ Vergangenheit zu sein, denn diese Vorstellung beruht bereits auf einer Eintragung räumlicher Unterscheidungen ins zeitliche Werden, die stets eine niemals ganz zu schließende »Lüke« (MA 2, 73) zwischen ›jetzt‹ und ›dann‹ bestehen lässt. Aber das bloße Werden kann, konsequent weitergedacht, auch nicht so aufgefasst werden, als sei es wie ein eminentes Geschehen den werdenden und vergehenden Formen vorausgesetzt. Es verlangt geradezu unaufhörlich nach Formen und impliziert diese, soll es sich nicht selbst hinwegheben, ja niemals gewesen sein. Umgekehrt spielt sich aber auch zeitliches Werden keineswegs unter der Voraussetzung des Seins von bestehenden Formen ab, die als sein Substrat gedacht werden könnten. Denn die Formen sind in ihrer Bestimmtheit selbst nur als Gewordene und Vergängliche möglich und denkbar, so dass sie ihrerseits das Werden immer schon implizieren. Man muss also – wie im intensiven Zusammenhang des ›absoluten‹ Lebens mit der Vielfalt seiner Formen – von einer paradoxen und wechselseitigen Implikation von zeitlichem Werden und zeitlichen Formen sprechen, und eben diese wechselseitige Implikation der tragisch erfahrenen vergehenden Zeit und der geschichtlich fortschreitenden Zeit ist es, der H. sich mit seiner Zuwendung zur antiken Tragödie geradezu aussetzt. Denn die ›geistige Wiederhohlung‹ (MA 2, 54 f.) und Erfahrung geschichtlichen Werdens kann nun nicht mehr einfach im modernen Sinn als Repräsentation einer gegebenen Realität im Gedanken verstanden werden, wie es die dualistische Auffassung der cartesianischen Denktradition nahelegt. Diese Wiederholung hat vielmehr immer schon eine schöpferische Dimension, da sie als Erinnerung das Werden nicht einfach abbildet und verlängert, sondern ihm einen neuen Gesichtspunkt gibt und es als ganzes verändert. Geschichtliche Erfahrung folgt, mit anderen Worten, nicht einfach einer vorgegebenen Realität, sondern bringt ›Geschichte‹ mit ihren vielfältigen Erfahrungsansprüchen zugleich auch schicksalhaft hervor: weder ist geschichtliche Realität bloß gegebener »Stoff«, denn dieser ist bereits das Produkt einer Unterscheidung und hat insofern an der Sprache teil,
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noch ist ihre Darstellung ein lediglich fiktiver »Vortrag«, denn die Form ihrer Unterscheidungen bringt reale Ein- und Ausschlussverhältnisse hervor, die ein zeitliches »Geschik« konstituieren. H. nennt diese zeitlich-zeitigende Form geschichtlicher Erfahrung »mythisch« (MA 2, 56). Sie ist von einer »intellectualen moralischen rechtlichen« Ordnung geschichtlicher Veränderung einerseits und von einem »physischen mechanischen historischen« Umgang mit gegenständlicher Realität andererseits dadurch unterschieden, dass sie zeitliche Veränderung keinen begrifflichen Unterscheidungen unterwirft, sondern sich als Erinnerung der Veränderlichkeit ihres Gesichtspunktes bewusst bleibt. Über eine dualistisch konzipierte theoretische Geschichtsbetrachtung hinaus, schließt ein »mythisches« bzw. poetisches Verhältnis zur Geschichte immer schon eine kreative Antwort auf die unaufhörlich sich erneuernden Ansprüche zeitlicher Veränderung ein. Selbst zutiefst ›geschichtlich‹, ist es zugleich und in einem Repräsentation und Vergegenwärtigung der zeitlichen Tiefenschichten seines Gewordenseins, schöpferischer Ausdruck eines Werdens, das sich in ihm auf individuelle und unteilbare Weise verdichtet und lebendige Verkörperung des »Geschiks« zeitlicher Veränderung, von dem es unaufhörlich neu betroffen wird. Um diesen differenten Modi eines »lebendigen«, veränderlichen Zusammenhangs von individueller geschichtlicher Erfahrung und zeitlichem Werden Rechnung zu tragen und diesen Zusammenhang nicht erneut dem vorausgesetzten Gesichtspunkt eines »absoluten Ich« zu unterwerfen, unterscheidet H. zunächst den Gesichtspunkt der »epischen Mythe«, der die »persönlichen Theile« der Dichtung, deren »Innigstes« (MA 2, 712), im Modus historischer Begebenheiten darstellt, vom Gesichtspunkt der »dramatischen Mythe«, der das Verstricktsein des Innigsten in die Ansprüche der sich verändernden Außenwelt als Konflikt zwischen Personen anspricht. Es ist aber kein Zufall, dass die Bestimmung des »lyrischmythischen«: der Stimme des Dichters im Zusammenhang von poetischer Innen- und geschichtlicher Außenwelt hier noch offen bleibt.
16.3 Poetische Geschichtsschreibung und Geschichtlichkeit der Poesie Ungeachtet seiner Intention, den genetischen Zusammenhang von individueller geschichtlicher Erfahrung und der Totalität geschichtlichen Werdens in einer »le-
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bendigen« und von den Unterscheidungen eines vorausgesetzten Ich unabhängigen Weise zu formulieren, macht sich im Fragment philosophischer Briefe in seiner Idealisierung der antiken poetischen Religion gegenüber dem prosaischen »Maschinengang« des modernen Denkens zugleich auch eine bestimmte geschichtliche Zuordnung und Unterscheidung geltend. Ebenso wie H.s Unterscheidung zwischen »höheren« und »blos mechanischen« Zusammenhängen entspricht sie einem idealistischen Blickwinkel, der auch seine selbstkritische Einsicht im Brief an Neuffer noch bestimmt und die Ansprüche der spinozistischen Immanenzidee unterläuft. Im Brief spricht sich dies in H.s Schwierigkeit aus, sich von der als problematisch erkannten Trennung zwischen dem »warme(n) Leben in mir« und »der eiskalten Geschichte des Tags« zu lösen. Die von ihm hier erkannte Notwendigkeit, einen Austausch und »lebendigen Zusammenhang« von poetischer Innen- und realer Außenwelt anzuerkennen, birgt in der Tat Konsequenzen, die sehr viel weiter reichen, als er selbst ahnt, wenn er davon ausgeht, er könne »den Dingen, die auf mich zerstörend wirken, einen Vortheil abzugewinnen suchen« (MA 2, 711): Konsequenzen, die nicht nur die Entzweiung zwischen Innen- und Außenwelt betreffen, sondern auch deren Begriffe, die ihnen von dieser Trennung zugewiesen werden. Die Ansprüche der Außenwelt im Prozess schöpferischer Erfahrung lassen sich nämlich keineswegs auf den »unentbehrlichen Stoff« reduzieren, der dem poetischen Ich lediglich das Material liefert, um der Inspiration durch sein Innigstes Konturen zu geben. Die dramatischen biographischen Veränderungen nach H.s Trennung vom Hause Gontard und das Scheitern seines Trauerspiels tragen jedoch dazu bei, die Insistenz dieser Ansprüche zu verschärfen. Hatte er im Trauerspielprojekt das Problem geschichtlicher Veränderung noch im Horizont der Unterscheidung von »Natur und Kunst« am dramatischen Schicksal eines exemplarischen Protagonisten dargestellt, der dem eminenten Werden der Natur unterlag (s. Kap. 17), so verwies diese Unterscheidung, ebenso wie die zwischen Innen- und Außenwelt, auf den Blick eines poetischen Ich, das dem Anspruch zeitlicher Veränderung in der exemplarischen Rolle des Dichters begegnet, der in dieser Veränderung seinen »Stoff« und seinen »Vortheil« findet. H.s Feiertagshymne (s. Kap. 32) formuliert noch einmal dieses an Klopstock erinnernde Selbstverständnis des Dichters als exemplarischen Vermittlers zwischen Göttern und Menschen: »Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern/ Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,/ Des Vaters Stral,
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ihn selbst, mit eigner Hand/ Zu fassen und dem Volk’ im Lied/ Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen.« (MA 1, 262, V. 56–60) Doch schon im Verlauf der Hymne hält dieses Selbstverständnis den Ansprüchen ihres vermeintlichen »Stoffes« – zeitlicher Veränderung und ihrer poetischen Erfahrung – nicht mehr stand und bricht mit der Einsicht in die hybride Selbstüberschätzung ihres Dichters ab (s. Kap. 40): »Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen,/ Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden/ Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich/ Das warnende Lied den Gelehrigen singe./ Dort« (MA 1, 264, V. 69–73). In einem Text, dessen Niederschrift unmittelbar an das abgebrochene Empedokles-Projekt anschließt, thematisiert H. das Problem zeitlichen Werdens und seiner Transformation in geschichtliche Erfahrung auf eine Weise, die jetzt auch den Blickwinkel des poetischen Ich der Veränderung aussetzt. Dabei fasst er die Wechselwirkung von Natur und Kunst, deren Unterscheidung und dramatischer Zusammenhang die Problemstellung des Trauerspiels bestimmt hatte, nun als veränderliche Form eines untergehenden Vaterlandes bzw. einer besonderen geschichtlichen »Welt und Verbindung der Dinge« auf (MA 2, 72). Man hat diesen Text bisher vor allem als geschichtsphilosophischen Entwurf H.s aufgefasst (Hühn 1997, Kurz 1975), aber auch vorgeschlagen, ihn als poetologische, auf sein Trauerspiel beschränkte Reflexion zu lesen (T. Birkenhauer 1996, Mögel 1994). Unter der Voraussetzung dieser Unterscheidung führen beide Interpretationen zu einer Sichtweise, die ›Geschichte‹ entweder auf einen Gegenstand theoretischer Reflexion festlegt, oder sie der poetischen Behandlung preisgibt, die in beiden Fällen aber den »lebendigen« und intensiven Zusammenhang zwischen der schöpferischen Genese von ›Geschichte‹ und der Geschichtlichkeit ihrer Darstellung dem Form-Inhalt-Schema unterstellt. Der Versuch, diesen Zusammenhang vom Gesichtspunkt einer implizit vorausgesetzten dualistischen Unterscheidung zu formulieren, wird in H.s Fragment Das untergehende Vaterland [...] als Trennung zwischen »Natur und Menschen« thematisch, die eine bestimmte Konzeption ihrer »Wechselwirkung« voraussetzt. Von ihr heißt es, dass sie eine »besondere idealgewordene Welt und Verbindung der Dinge« darstelle, die sich »insofern« auflöse, um aus den ausgeschlossenen, für ihre besondere Form konstitutiven Formen und Formmöglichkeiten eine neue Welt freizusetzen (MA 2, 72). Auflösung und geschichtlicher Wandel wird hier nicht als lineare Folge
aus einer festgewordenen historischen Form begriffen, die deren Bestehen ablöst und die Geschichte gleichsam verlängert. Diese Auffassung linearen zeitlichen Fortschreitens könnte den Gesichtspunkt des »untergehenden Vaterlandes« gar nicht verlassen, da sie die Zeit einer räumlichen Unterscheidung zwischen ›jetzt‹ und ›dann‹ unterwift und so niemals zu einem Verständnis der Veränderung als solcher gelangt. Zeitliche Auflösung und Veränderung folgen nicht auf das Bestehen einer geschichtlichen Lebensform, sie sind vielmehr einer jeden Form immanent (s. Kap. 19). Die Einsicht, dass sich zeitliches Werden und zeitliche Form nicht voneinander abstrahieren lassen und diese sich, wie H. schreibt, »insofern« auflöst, entspringt einer Veränderung jenes Gesichtspunktes, der die bestehende Ordnung als untergehende gleichsam noch aus der Binnenperspektive ihrer besonderen Unterscheidung wahrgenommen hatte. Stellt sich von diesem Gesichtspunkt aus geschichtliche Veränderung entweder als Fortschritt im Sinne einer »ideal gewordenen« Begrifflichkeit oder als Untergang dar, so löst sich für den neuen Gesichtspunkt die Möglichkeit einer solchen Unterscheidung auf: für ihn folgt die Auflösung nicht dem Bestehen einer Form, sondern geschichtliches Werden ist unaufhörliche Auflösung und als solche die immanente Bedingung jedes Entstehens aus dem »unerschöpfte(n) und unerschöpfliche(n)« aller »Beziehungen und Kräfte« (MA 2, 72 f.). Diese neue Erfahrung der Zeit als unaufhörlicher Auflösung ergibt sich aus dem Eindringen ausgeschlossener Möglichkeiten in die alt ge wordenen Unterscheidungen einer ›vaterländischen‹ Ordnung. Sie transformiert deren »ideal gewordene« Erscheinungsweise, indem sie den Zusammenhang ihrer Ein- und Ausschlussverhältnisse entdeckt, welche jede Form in den Tiefenschichten ihres Bestehens konstituieren: es sind das »überbleibende Geschlecht und die überbleibenden Kräfte der Natur«, deren bisher ausgeschlossene Realität sich in der »ideal gewordenen« Ordnung geltend macht, um eine »neue Welt« zu ermöglichen (MA 2, 72). Die katastrophische Erfahrung der Auflösung der Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt, die mit der Einsicht in die »Idealität« und Vergänglichkeit jeder Form zur Realität wird, impliziert, wie H. schreibt, ein »immerwährendschöpferische(s)« Moment, aber auch eine melancholische Erinnerung, die in den geschichtlich gewordenen Formen immer nur »Aufgelöstes«: die Ruinen vergangener Schöpfungsprozesse gewahren kann (MA 2, 73). Aber so radikal sich diese Erfahrung vergehender Zeit auch dem Eindringen zeitlicher
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Veränderung öffnen mag, so hält sie doch an der für sie selbst konstitutiven Unterscheidung fest zwischen der Realität zeitlicher Auflösung und der Form ihrer »Erinnerung« und »Empfindung«: Diese Unterscheidung ermöglicht es ihrem Ich, sich in der Realität der Auflösung als Subjekt von deren Erfahrung zu erhalten. An dieser Stelle berührt der Text auch H.s »poëtische Irren«, von denen der Brief an Neuffer berichtet, so dass die Konsequenz einer erneuten Transformation des poetischen Gesichtspunktes, die er nun zieht, zugleich eine Antwort auf seine biographische und poetische Krise beinhaltet. Wenn auch die radikalisierte Erfahrung der Zeit als unaufhörlicher Auflösung noch vom Gesichtspunkt einer Unterscheidung abhängt, so ist die als real aufgefasste Auflösung keineswegs nur ein eminentes, schicksalhaftes und sprachloses Geschehen, sondern schließt eine ansprechbare Logik ein. Als Auflösung bestimmter »ideal gewordener« Formen und genetisch mit diesen verbunden, ist sie einer Erinnerung zugänglich, die über die kraftlose melancholische »Erinnerung des Aufgelösten« hinausweist: einer Erinnerung, die ihre eigene Form als schöpferische Fortsetzung der Auflösung begreift, um dieser eine Zukunft zu geben. Hatte die gegenstandsbezogene und immer nur auf Vergangenes gerichtete Erinnerung aufgelöster Formen die Auflösung als reales Geschehen begriffen, so wird diese in der »freien Kunstnachahmung« nun zum »idealischen Object« (MA 2, 73) und als solches in ihrer sprachlichen Konstitution durchschaubar. Die Kunst, die das Geschehen zeitlicher Auflösung ›nachahmt‹ und im Medium sprachlicher Darstellung »wiederhohlt« (MA 2, 54), vergegenständlicht das Werden nicht, sondern lässt es überhaupt erst als einen formgenerierenden und an Form gebundenen Prozess hervortreten und erfahrbar werden: erst in der schöpferischen Erfahrung der »Kunstnachahmung« erschließen und verwirklichen sich die Formimplikationen zeitlichen Werdens und nimmt die lebendige und absolute ›Einheit‹ von geschichtlicher Auflösung und Neubildung eine geschichtliche Gestalt an. Alles andere als die fiktive Nachahmung einer vorausgesetzten Realität, verdichtet die Kunst im »idealischen Object« die Erfahrung realer geschichtlicher Auflösung und die kreative Transformation dieser Erfahrung. Der neue Gesichtspunkt der »idealischen«, als Erfahrung begriffenen und in ihrer Genese erinnerten Auflösung unterscheidet sich, so H., von der gegenständlich aufgefassten und daher nur »sogenannt wirklichen« Auflösung dadurch, dass »jene vom Unendlichen zum Endlichen gehet, nachdem sie
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von Endlichem zum Unendlichen gegangen war« (MA 2, 75): die Kunst entspricht m. a. W. jenem »gedoppelten Prozeß«, in dem das Endliche sich in der ›absoluten‹ Zeit verändert und auflöst und diese eine wirkliche und erfahrbare Form gewinnt. Aus der Erfahrung der Realität zeitlicher Auflösung hervorgegangen, hat die Kunst diese Erfahrung keineswegs ›hinter sich‹. Aber sie hat sie in ihrer Sprachgebundenheit erkannt und ist deshalb in der Lage, ihr eine andere Richtung zu geben. Kurz, es geht einer »poetischen Ansicht der Geschichte« nicht um die Fiktionalisierung einer vorausgesetzten geschichtlichen Realität, sondern darum, ihre vielfältige Betroffenheit von zeitlicher Veränderung in eine schöpferische Erfahrung zu transformieren. Wenn sie diese in ein »idealisches Object« verdichtet, so ist ein solches Objekt nicht mehr als ein veränderliches Bild der zugrundeliegenden Erfahrungsprozesse und nicht weniger als ein Zeugnis der Wirklichkeit und der ›absoluten‹ Insistenz der Zeit selbst, gegen die wir keine uns noch so vertrauten Unterscheidungen dauerhaft aufrechterhalten können: »Denn die Welt aller Welten, das Alles in Allen, welches immer ist und aus dessen Seyn alles angesehen werden muß, stellt sich nur in aller Zeit – oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar, und dieser Untergang ist wie die Sprache, Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendigen aber besondern Ganzen [...].« (MA 2, 72) Der Anspruch der Idee des Absoluten wäre in der Vorstellung eines außerzeitlichen Telos ebenso verfehlt, wie in der von zeitimmanenter endloser Dauer, denn in beiden Fällen wird er an den Horizont der räumlich konzipierten Sukzession gebunden, dem er entweder vorausgesetzt sein oder nachfolgen soll. Insofern ist das, was »immer ist« kein Dauerndes. In endloser Dauer könnte sich auch gar kein Gesichtspunkt ergeben, aus dem, wie H. schreibt, »alles angesehen werden muß«. Wenn wir also seinem Text zugestehen, dass er unsere geläufigen, von vorgefaßten begrifflichen Unterscheidungen abhängige Vorstellungen sukzessiver Zeit und eines außerzeitlichen »Absoluten« durchbricht, dann werden wir die hier angesprochene Idee eines immanenten und radikal zeitlichen Absoluten und das Paradox seiner Darstellung »in aller Zeit« nicht im Sinne von »Geschichte« als einer teleologisch gerichteten endlosen Fortdauer auffassen dürfen. Ein poetischer Gesichtspunkt sub specie aeternitatis, wie Spinoza ihn nannte, verlangt keinen zeitlosen Überblick über »alle Zeit«, sondern ein erinnerndes Vordringen in die Tiefenschichten
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zeitlichen Werdens, das sich unteilbar in seinen individuellen Formen verdichtet und in ihnen einen neuen Gesichtspunkt erhält. Bei diesem Licht besehen, besteht der Ertrag einer »poetischen« gegenüber einer theoretischen Ansicht der Geschichte in einer vertieften Einsicht in den »absoluten« Charakter der Zeit: während die theoretisch erschlossene und gegenstandsbezogene Erfahrung geschichtlicher ›Realität‹ die Zeit »ideal gewordenen«, vorausgesetzten und der Veränderung entzogenen Unterscheidungen unterwirft, gründen die veränderlichen Unterscheidungen der Poesie im wirklichen und »lebendigen Zusammenhang« des unaufhörlich sich differenzierenden zeitlichen Werdens. Literatur
Birkenhauer, Theresia: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und H.s Empedokles, Berlin 1996, 567. Hegel, G. W. F., Theorie-Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1971. Henrich, Dieter: Der Grund im Bewußtsein, Untersuchungen zu H.s Denken (1794–95), Stuttgart 1992, 485–591.
Hühn, Helmut: Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in H.s Denken, Stuttgart 1997, 67–165. Kreuzer, Johann: Erinnerung. Zum Zusammenhang von H.s theoretischen Fragmenten Das untergehende Vaterland und Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist, Königstein/Ts. 1985, 45–105. Kurz, Gerhard: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei H., Stuttgart 1975, 126 ff., 163–208. Mögel, Ernst: Natur als Revolution. H.s Empedokles-Tragödie, Stuttgart 1994, 60. Szondi, Peter: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils, in: Ders.: H. Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1970, 37–62. Volker Rühle, der diesen Beitrag für die erste Auflage des Handbuchs verfasst hat, ist am 9. Oktober 2017 verstorben. Sein Beitrag erscheint hier – abgesehen von der Umstellung auf die neue Rechtschreibung – in unveränderter Form. J. K.
Volker Rühle†
17 Tragische Erfahrung und poetische Darstellung des Tragischen
17 Tragische Erfahrung und poetische Darstellung des Tragischen 17.1 Genese und Problematik eines modernen Trauerspiels Bereits zur Zeit der Arbeit am Hyperion-Roman hatte H. den Plan für ein Trauerspiel gefasst, das er, wie er im Oktober 1794 an Neuffer schrieb, »nach den Idealen der griechischen Dramen« bearbeiten wollte (MA 2, 550). Über der Abfassung des Romans und den dramatischen Änderungen von H.s Lebensumständen im Verlauf seiner Fertigstellung sind diese Ideale zunehmend mit zeit- und lebensgeschichtlichen Gehalten durchwirkt worden, so dass im Empedokles-Projekt nun die Begegnung der antiken Ideale mit den modernen Bedingungen ihrer Artikulation und Verwirklichung ihre poetische Konkretisierung bestimmt. Im Unterschied zum dualistisch konzipierten Idealismus Schillers (s. Kap. 11) hat H. die im Begriff des »Ideals« mit- und vorausgesetzte Unterscheidung von der Wirklichkeit einer Außenwelt von Anfang an als »Entzweiung«, d. h. als einen Widerspruch erfahren, dessen innere Logik tragische Züge aufweist. Während der klassizistische Symbolbegriff Schillers die »Sphäre der Wirklichkeit«, wie es im neunten der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen heißt, von vornherein dem »Verstande« überlässt, um das Ideal reiner Schönheit in der Abkehr von dieser Sphäre zu suchen, stellt sich H. in dieser »Entzweiung« von Ideal und Wirklichkeit zunehmend das Problem eines schicksalhaften Zusammenhangs. Vier Jahre später ist er über der Arbeit an seinem Trauerspiel in eine Krise geraten, die auch sein poetisches Ideal in Mitleidenschaft zieht. Am 12. November 1798 teilt er Neuffer mit, dass er sich in »poëtische Irren« verstrickt habe, als deren Ursache er seine Unfähigkeit nennt, sein »Innigstes« der »eiskalten Geschichte des Tags« auszusetzen (s. Kap. 16). Die poetische und philosophische Dimension dieser Problemstellung lässt eine durchaus tragisch zu nennende Logik erkennen, die das poetische Ideal »nothwendig« mit seiner Darstellung verbindet. Tragisch ist die Unterscheidung des »Innigsten« von der Außenwelt deshalb, weil sie das Ideal von den Bedingungen seiner Verwirklichung isoliert und es damit der Zerstörung aussetzt, vor der es die Flucht in die Innerlichkeit doch gerade bewahren wollte. Denn diese Flucht reduziert das Ideal »lebendiger« Poesie auf die ungereimte und esoterische
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Gewissheit eines Ich, die durch den Gegensatz, der das Ideal bestimmt, unaufhörlich verneint wird. Diese Erkenntnis nötigt H., wie er Neuffer mitteilt, nicht nur die persönliche Konsequenz auf, die Außenwelt als den unentbehrlichen »Stoff« der poetischen Verwirklichung des »Innigsten« bejahen zu lernen, sie zeitigt auch Folgen für das Ideal der Kunstschönheit und die Logik seiner poetischen Hervorbringung: »Das Reine kan sich nur darstellen im Unreinen und versuchst Du das Edle zu geben ohne Gemeines, so wird es als das Allerunnatürlichste, Ungereimteste dastehn, weil das Edle selber, so wie es zur Äußerung kömmt, die Farbe des Schiksaals trägt, unter dem es entstand, weil das Schöne, so wie es sich in der Wirklichkeit darstellt, von den Umständen unter denen es hervorgeht, nothwendig eine Form annimmt, die ihm nicht natürlich ist, und die nur dadurch zur natürlichen Form wird, daß man eben die Umstände, die ihm nothwendig diese Form gaben, hinzunimmt.« (MA 2, 712) Ein Ausweg aus den »poëtischen Irren« wäre demnach dadurch zu finden, dass man die Notwendigkeit der Formgebung zum Schönen als ein konstitutives Moment seines Hervortretens »hinzunimmt«: so hinzu nimmt und hinzu denkt, dass beide, Darstellung und Dargestelltes, von dieser Notwendigkeit betroffen und schicksalhaft miteinander verbunden sind. Dieses Problem in das H. mit der Arbeit an seinem Trauerspielprojekt geraten ist, geht über den frühen sogenannten Frankfurter Plan hinaus, der die Genese des Schönen noch klar gegen die »menschliche Dürftigkeit« seiner äußeren Umstände abgegrenzt hatte (MA 1, 765). Nunmehr ist der Verlauf von H.s Arbeit am Trauerspiel von dem als »nothwendig« eingesehenen Versuch bestimmt, dieses Schicksal nicht nur, wie im frühen Konzept, aus dem »innersten Wesen« eines tragischen Protagonisten hervorgehen zu lassen (MA 1, 766), sondern zugleich auch die äußeren Umstände als konstitutives Moment seiner Verwirklichung zu begreifen. H. entfaltet diese Problemstellung in seinem Trauerspiel am dramatischen Wechselverhältnis von »Natur und Kunst«. Die Forschung hat dabei ihr Augenmerk bisher vor allem auf dessen historische oder geschichtsphilosophische Inhalte gerichtet (Gaier 1993, Kurz 1977, Söring 1973), aber auch in kritischer Abkehr von diesen Deutungen die formale Entwicklung der dramatischen Komposition untersucht (Birkenhauer 1996). H.s Problemstellung, wie sie der Brief an Neuffer artikuliert, fordert nun aber auch eine Verbindung beider Sichtweisen, welche die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt der Poesie nicht unberührt lassen kann.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_17
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In seinen Reflexionen zum Empedoklesdrama macht H. deutlich, dass die Unterscheidung zwischen »Natur und Kunst« keineswegs eine zeitlose Voraussetzung für die theoretische Erfassung schöpferischer Genese ist, sondern dem Gesichtspunkt der »Erkenntniß« und seinem Bedürfnis nach Darstellung entspringt. Für das »Gefühl« sind Natur und Kunst hingegen genetisch und intensiv miteinander verbunden und sie lassen sich ebenso wenig voneinander abstrahieren wie die Lebensform vom Leben: »Die Kunst ist die Blüthe, die Vollendung der Natur; Natur wird erst göttlich durch die Verbindung mit der verschiedenartigen aber harmonischen Kunst, wenn jedes ganz ist, was es seyn kann, und eines verbindet sich mit dem andern, ersezt den Mangel des andern, den es nothwendig haben muß, um ganz das zu seyn, was es als besonderes seyn kann, dann ist die Vollendung da, und das Göttliche ist in der Mitte von beiden.« (MA 1, 868) Im Grunde ihrer formalen Unterscheidung sind Natur und Kunst genetische Momente einer »harmonischen Entgegensezung«, d. h. eines intensiven Zusammenhanges wechselseitiger Konstitution: eines Zusammenhanges, der ebenso wenig wie das Leben als Relation ›zwischen‹ seinen Formen, sondern als unaufhörliche Differenzierung in ihnen besteht. Erkennbar jedoch – und damit nimmt das Drama des »reinen Lebens« seinen Lauf – erkennbar wird das Leben als Zusammenhang nur, indem es sich unterscheidet und einen endlichen Gesichtspunkt erhält. Denn wenn es nicht außerhalb seiner Formen denkbar und von ihnen real unterscheidbar ist, so wird es seiner in seinen Formen und Differenzierungen gleichsam inne – wie Empedokles, dessen Tragödie damit beginnt, dass er das von ihm ungeteilt verkörperte Leben als Lebensform erkennt und sich seiner Begrenztheit gegenüber seinem »Innigsten« bewusst wird: »[...] in mir/ In mir, ihr Quellen des Lebens, strömtet ihr einst/ Aus Tiefen der Welt zusammen [...]/ [...] es ist vorbei!« (MA 1, 779) Diese Einsicht löst einen dramatischen Erfahrungsprozess aus, in dessen Verlauf Empedokles lernen muss, nicht nur die Begrenztheit einer Form als konstitutive Bedingung der Totalität des Lebens zu bejahen, sondern auch ihre Vergänglichkeit und ihren Tod. Das Leben der Natur, so entwickelt H. diese Dialektik, verwirklicht sich und besteht ungeteilt in seinen individuellen Formen, aber keine Form erschöpft seine Totalität, die in ihr unaufhörlich auf Deformation und Veränderung insistiert. In dieser Erkenntnis ist gleichsam die Zeit in H.s frühe »Ideale der griechischen Dramen« eingedrun-
gen und beginnt, die einstige idealisierende Sichtweise dieser Dramen als einer vergangenen Höhe der Kunst zu verändern und zugleich sein Empfinden für die unverminderte Insistenz ihres Anspruches in der Gegenwart zu vertiefen. Nach der Lektüre des Diogenes Laertius teilt H. Sinclair (s. Kap. 5) seine Erfahrung mit, »daß mir nemlich das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast tragischer aufgefallen ist, als die Schiksaale, die man gewöhnlich allein die wirklichen nennt.« (MA 2, 722) Hier kommt eine Betroffenheit der poetischen Darstellungsform vom Schicksal natürlichen Werdens und Vergehens zum Ausdruck, der die Vorstellung einer inhaltsbezogenen Form nicht mehr genügt. Schöpferisches Werden, um dessen Formulierung und Begründung es in H.s Trauerspiel geht, ist mit seiner Darstellung auf eine komplexere und intensivere Weise verbunden, als es das Form-Inhalt-Schema erfassen kann. Die »tiefste Innigkeit« des schöpferischen Zusammenhangs von Natur und Kunst, schreibt H., drückt sich »im tragischdramatischen Gedicht« aus (MA 1, 866): sie ist ihrer Form immanent und ›außerhalb‹ ihrer nicht denkbar. Aber der poetische Ausdruck erschöpft die Innigkeit nicht, so dass man zugleich und von einem anderen Gesichtspunkt davon sprechen muss, dass er sie in »den fremden analogischen Stoff« einer Darstellungsform überträgt: einer gleichsam verfremdeten Form, die eine inhaltliche Festlegung des dargestellten »Innigsten« verweigert und ihre Differenz zu ihm deutlich macht. Eine neuerliche Veränderung der Perspektive zeigt zudem, dass diese Übertragung nicht der Willkür eines poetischen Ich folgt, sondern sich aus der von ihm verkörperten Lebenserfahrung ergeben, dass sie »aus des Dichters eigener Welt und Seele hervorgegangen seyn muß, weil sonst überall die rechte Wahrheit fehlt, und überhaupt nichts verstanden und belebt werden kann.« (MA 1, 866 f.) In der Komplexität des hier angesprochenen Darstellungsverhältnisses, das die poetische Formgenese als Ausdruck, Übertragung und Verkörperung des Ideals begreift und als ein zugleich schöpferisches und vergängliches Moment in den dargestellten Zusammenhang von Natur und Kunst einbindet, ist H.s Trauerspiel schließlich ins Stocken geraten. Die tragische Konzeption schöpferischen Werdens kann, wie sich zeigt, nicht allen Aspekten dieses Verhältnisses Rechnung tragen. Denn sie bindet dieses Werden an das eminente »Geschik« einer göttlichen Natur, die gegenüber dem »Geschik« der künstlichkünstlerischen Formgebung stets die Ältere ist und dieser vorausgesetzt bleibt: in diesem Sinne spricht H.s Ode
17 Tragische Erfahrung und poetische Darstellung des Tragischen
Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter diesen, den Gott der »Geseze« und der Formgebung, als den »Sohn der Zeit« an und fordert ihn auf, »dem Aelteren«, dem Vater Kronos als dem Ursprung der Zeit zu dienen (MA 1, 285). Dieses tragische Verhältnis eines natürlichen schöpferischen Werdens gegenüber der aus ihr abgeleiteten vergänglichen Kunstform ist nicht umkehrbar. Vom Gesichtspunkt dieser Unterscheidung, dem Gesichtspunkt des »tragische(n) Dichter(s)« (MA 1, 867), entzieht sich daher die Innigkeit schöpferischer Inspiration der Sprache, die ihr gegenüber ein fremdes Element bleibt, so dass sich die Begründung der Poesie letztlich nur auf das »Wunder« einer einmaligen und exemplarischen Teilhabe der Dichtung an dieser Innigkeit berufen kann: »So mußt es uns geschehn./ So will es der Geist/ und die reifende Zeit/ Denn einmal bedurften/ Wir Blinden des Wunders.« (MA 1, 863) Dieser Nachruf auf Empedokles, der die von diesem verkörperte Erfahrung tiefster Innigkeit lediglich aus esoterischer Einsicht als ein Wunder entgegennimmt, enthält auch das Problem von H.s eigenem Selbstverständnis als »tragischer Dichter«. Denn auch er vermag die Genese seiner Poesie nur aus einer eminenten Inspiration abzuleiten, deren Quelle er voraussetzt. Aber er vermag sie nicht eigentlich mitzuteilen und ihr damit eine Zukunft zu geben: Der Dichter fasst, wie es in der Feiertagshymne (s. Kap. 32) heißt, als Vermittler zwischen Göttern und Menschen »Des Vaters Stral, in selbst, mit eigner Hand«, um »dem Volk’ ins Lied/ Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen.« (MA 1, 263) Der Ausblick auf die ›Ahnung‹ neuen Lebens, das sich im Tod des Empedokles als Erfahrung mitteilen soll, dieser Ausblick, mit dem H. auch den dritten Trauerspielentwurf schließlich abbricht, bleibt daher auf eine konzeptionelle Fußnote beschränkt, die sich der poetischen Konkretisierung verweigert: die tragische Unterscheidung zwischen Natur und Kunst lässt die Dichtung nicht über die Ahnung und ›Verkündigung‹ (MA 1, 903 Anm.) eines schicksalhaften und sich der Sprache entziehenden natürlichen Werdens hinausgelangen. Vom Gesichtspunkt dieser Unterscheidung ausgehend, ist es H. weder möglich, das ›natürliche‹ Schicksal seines Protagonisten mit den ›künstlichen‹ Umständen seiner Außenwelt zu verbinden, noch seine eigene poetische Innerlichkeit zur Welt kommen zu lassen, wie er es im Brief an Neuffer von sich verlangt. Die Ansprüche der Außenwelt bleiben in diesem begrifflichen Rahmen auf den »unentbehrlichen Stoff« beschränkt, ohne den, wie er schreibt, »mein Innigstes sich niemals völlig darstellen wird« und in dem die
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poetische Erfahrung jederzeit auf ihren »Vortheil« hoffen kann (MA 2, 711 f.). So ist der Abbruch seines Trauerspielprojekts zugleich auch ein poetischer Ausdruck für die Mitteilungsproblematik von H.s Dichtung selbst. Er kann die »tiefste Innigkeit« seiner Erkenntnis nur unter Berufung auf das eminente ›Geschik‹ göttlicher Inspiration und ein »Wunder« der Sprachwerdung begründen und übersieht die konstitutive Rolle, welche die sprachliche Form seiner Unterscheidung zwischen Natur und Kunst in der Genese der tragischen Erfahrung spielt.
17.2 Die zeitgenössische Insistenz der tragischen Erfahrung In einem späteren kleinen Text führt H. Die Bedeutung der Tragödien auf ein »Paradoxon« zurück (MA 2, 114): »Das Ursprüngliche, der verborgene Grund jeder Natur«, so schreibt er, kann »nur in seiner Schwäche erscheinen.« Das absolute, von begrifflichen Unterscheidungen und Vergegenständlichungen unabhängige und diese generierende Leben verkörpert sich in seinen Lebensformen nur auf eine vergängliche Weise: diese sind nichts anderes als flüchtige »Zeichen« eines eminenten schöpferischen Werdens. Das Paradoxon der Tragödie besteht demnach darin, dass sie, um das Leben in seiner ganzen Intensität zu erreichen, es in der Verneinung seiner Formen darstellt und aus ihrem Zerbrechen gleichsam freisetzt: »insofern aber das Zeichen an sich selbst als unbedeutend = 0 gesezt wird, kann auch das Ursprüngliche, der verborgene Grund jeder Natur sich darstellen.« Man hat diese Überlegung zur Tragik der poetischen Darstellung, die eng mit der Formbrechung und -verneinung der romantischen Spekulation verwandt ist, bisher stets als poetische Konzeption des tragischen Dichters H. interpretiert (Bachmaier 1979, Kurz 1977, Szondi 1970c). Aber die Auffassung der Tragödie »aus dem Paradoxon« entspricht keineswegs der Sichtweise eines »tragischen Dichters«, sondern fasst diese von einem veränderten Gesichtspunkt ins Auge. Es geht m. a. W. in diesem Text nicht um eine inhaltliche Bestimmung der Tragödie zur Begründung des eigenen poetischen Programms, sondern um eine Verständigung über ihre Bedeutung, welche die tragische Sicht transformiert: »Das tragische, dem Schein nach heroische Gedicht«, schreibt H. in seinen Überlegungen zum poetischen Wechsel der Töne, »ist in seiner Bedeutung idealisch.« (MA 2, 102) Vom Gesichts-
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punkt der Einsicht in die Bedeutung der Tragödien zeigt sich, dass die tragische Darstellungsform die Innigkeit des Absoluten durchaus nicht in ihrer vollen Intensität hervorbringt, da sie diese – wie es auch H.s Trauerspiel getan hatte – einer »idealischen« Unterscheidung zwischen einer eminenten unvergänglichen »Natur« und seinen künstlichen und vergänglichen »Zeichen« unterwirft. Die idealische Bedeutung der Tragödien ist demnach aus dem Blickwinkel des in dieser Unterscheidung befangenen tragischen Dichters gar nicht zu erkennen. Sie erschließt sich erst, wenn man dessen Gesichtspunkt und seine Voraussetzungen in einem Wechsel der Perspektive selbst sichtbar macht und die Abhängigkeit der tragischen Erfahrung von einer sprachlichen Setzung erkennt: »insofern aber das Zeichen an sich selbst als unbedeutend = 0 gesezt wird, kann auch das Ursprüngliche [...] sich darstellen.« (MA 2, 114, Hervorh. V. R.) Während die tragische Erfahrung schöpferischer Formgenese aus einem eminenten Geschick göttlicher Inspiration deren Intensität und »Innigkeit« in der Verneinung der Darstellungsform zu erreichen meint, erkennt H. von seinem neu gewonnenen Gesichtspunkt aus in dieser Verneinung eine für die Verwirklichung des »Ursprünglichen« konstitutive Setzung. Diese Blickwendung ist für seine Poesie von größter Bedeutung, denn mit ihr befreit er sich von den Voraussetzungen des tragischen Blickwinkels und beginnt, die konstitutive Bedeutung von Sprache und Formgebung im Prozess schöpferischen Werdens zu erkennen. Mit dieser Erkenntnis wird das poetische Ich und werden die Unterscheidungen, die seine Sichtweise konstituieren, nun vollends in den Prozess einer schöpferischen Erfahrung einbezogen, in dem es keineswegs mehr auf seinen »Vortheil« hoffen kann, sondern mit den autonomen Ansprüchen einer radikal zeitlichen Veränderung seiner jeweiligen Sichtweise konfrontiert ist. Die genetische Darstellungsform eines Wechsels einander reflektierender und aufeinander verweisender Gesichtspunkte, zu der H. nunmehr vordringt, ist, bei diesem Licht besehen, nicht nur eine anwendungsbezogene, von einem Autor-Ich operational entworfene poetische »Lehre« (s. Kap. 15). Sie schließt vielmehr Lehren und Ansprüche schöpferischer Erfahrungsprozesse ein, die sich mit jeder Formgebung neu stellen und deren Ausgang zu keinem Zeitpunkt abzusehen und methodisch zu kontrollieren ist. Der Doppelsinn einer durch Erfahrung erlittenen und einer aus ihr gezogenen und poetisch mitgeteilten »Lehre«, wie er sich in H.s Ausdruck »Geschik« verdichtet, bestimmt auch seine Forderung nach einem
poetischen Kalkül, der die Anmerkungen zur OedipusTragödie einleitet (s. Kap. 25). Der tiefere Grund für diese Forderung und für die kommentierte Übersetzung der sophokleischen Tragödien liegt in einer Veränderung seiner poetischen Verfahrensweise, die sich nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Problematik des »poetischen Ich« vom Gesichtspunkt eines vorausgesetzten Autor-Ich befreit hat, welches das poetische Verfahren kontrollieren und in ihm seinen »Vortheil« finden könnte. Aufgrund seiner Einsicht in die Aporien des fichteschen »absoluten Ich« gelangt H. zur ›Aufhebung‹ eines dem poetischen Prozess vorausgesetzten produzierenden Ich, das er nun nach seiner »dreifachen Natur« und seiner veränderlichen Stellung im Verlauf seines schöpferischen Erfahrungs- und Transformationsprozesses differenziert (MA 2, 88 f.; s. Kap. 12 und 24): Die »Empfindung« der Erfahrung als von ihr betroffenes Ich, ihre ›Vor- und Darstellung‹ im tätigen Hervorbringen und das erinnernde »Räsonnement« ihres genetischen Zusammenhangs werden dabei zu veränderlichen und aufeinander verweisenden Momenten eines autono men schöpferischen Transformationsprozesses, dessen »poetische Logik« in den Sophokles-Kommentaren H.s eine zentrale Rolle spielt (MA 2, 309 f., 369; Kurz 1988). Diese in der antiken Tragödie exemplarisch entfaltete poetische Logik, die H. der zeitgenössischen »philosophischen Logik« entgegensetzt, begründet die Brisanz und das unaufhörliche Insistieren der tragischen Erfahrung auch und gerade unter den Bedingungen der Moderne. Denn die moderne »philosophische Logik«, der auch die klassische Dichtung Schillers folgt, trennt die Momente der Erfahrung – »Vorstellung und Empfindung und Räsonnement« (MA 2, 310) – als Urteilskraft, Sinnlichkeit und Vernunft bzw. Verstand strikt voneinander und belässt ihren gleichwohl vorausgesetzten Zusammenhang im Dunkel des nicht Erfahrbaren. Insofern sie zugleich beansprucht, die Bedingungen möglicher Erfahrung »überhaupt« zu formulieren, zwingt sie schöpferischen Erfahrungsprozessen das zeitlose Korsett ihrer Unterscheidungen und Voraussetzungen auf, deren zeitliche Genese und Veränderbarkeit sie nicht mehr zu denken vermag. Im Horizont ihrer zeitlosen Einteilung gelangt die »philosophische« Logik daher zu einem Prozess- und Zeitverständnis, das Veränderung von vornherein auf die Ordnung kontinuierlicher und reversibler Fortschrittsprozesse festlegt. Demgegenüber will H.s Übersetzung der tragischen Erfahrung dem in der Moderne in Vergessenheit geratenen Insistieren der vergehenden und »rei-
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ßenden« Zeit, der sich keine konstruktive Ordnungsleistung entziehen kann, eine zeitgemäße Sprache zurückgeben. Die »poetische Logik«, der die Tragödie folgt, erfasst die in der cartesianisch inspirierten Moderne getrennten und nur von einem vorausge setzten abstrakten »Ich« zusammengehaltenen Erfahrungsdimensionen als genetische Momente eines Erfahrungs- und Veränderungsprozesses, mit dem sich das Problem der »Einheit« der Erfahrung bzw. der »Identität« des erfahrenden Ich auf ganz neue Weise stellt (s. Kap. 19). Denn in der Erfahrungsveränderung von Ödipus und Antigone geht es gerade nicht um die abstrakte Identität eines vorausgesetzten und sich in der Zeit erhaltenden Ich, sondern um die genetische, sich differenzierende ›Einheit‹ eines sich in der Zeit konstituierenden und verändernden unteilbaren Individuums. Diese Problemstellung der Tragödie zielt auf die Erinnerung und Formulierung einer zeitlichen Einheit des vielfältigen Ich, welche die philosophische Logik im Dunkel einer vom Denken nicht einholbaren Voraussetzung belassen muss: »die Poesie«, so H., behandelt »die verschiedenen Vermögen des Menschen, so daß das Zusammenhängen der selbständigeren Theile der verschiedenen Vermögen der Rhythmus, im höhern Sinne, oder das kalkulable Gesez genannt werden kann.« (MA 2, 369) Während die »philosophische Logik« des zeitgenössischen transzendentalen Erfahrungsbegriffes auf eine Unterscheidung der Seelenvermögen abzielt, um, wie Kant sich ausdrückt, »den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit« der aus ihnen jeweils gewonnenen Erkenntnis festzustellen (KrV A 57/B 81), wird der »poetischen Logik« der Tragödie eben diese Unterscheidung und Selbständigkeit der Seelenvermögen zum Ausgangspunkt einer radikal schöpferischen Erfahrung, die keine zeitlos gültigen Unterscheidungen kennt: in dieser Erfahrung geht es darum, den verselbständigten Gesichtspunkt eines besonderen Seelenvermögens im Zusammenhang der für ihn konstitutiven Ein- und Ausschlussverhältnisse sichtbar zu machen und seine anfänglichen Voraussetzungen einem schicksalhaften Veränderungsprozess, einem Lebensrhythmus auszusetzen, der unweigerlich auch den Tod der bestimmten Erfahrungsform einschließt. Gerade die sophokleischen Tragödien veranschaulichen für H. eine schöpferische Logik der Veränderung, die im Wechsel und in der Transformation gegeneinander verselbständigter Gesichtspunkte eine genetische Darstellungsform findet: Eine bestimmt vorausgesetzte, von der Selbsterhaltung diktierte »Vorstellung« der tragischen Pro-
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tagonisten evoziert eine »Empfindung«, in der sich die Ansprüche der von ihnen ausgeschlossenen Außenwelt geltend machen und die Form der anfänglichen Vorstellung zunehmend auflösen. Dieser zunächst als eminentes Schicksal erfahrene Deformationsprozess erhält im erinnernden »Räsonnement« der Logik der erlittenen Veränderung einen neuen, zukunftsweisenden Gesichtspunkt, den die tragische Darstellung formuliert. Insofern ist die Tragödie der Logik eines poetischen Kalküls verpflichtet, dessen »sichere Regel« die genetische Entwicklung des Schicksals nicht von vornherein festlegt, sondern die Abhängigkeit seiner Konsequenz von jeweils vorausgesetzten und verselbständigten Vorstellungen erkennbar macht. Daher steht auch das Ich der »poetischen Logik« im Unterschied zum transzendentalphilosophisch begründeten Autor-Ich keineswegs als kalkulierende Instanz über der von ihm hervorgebrachten Erfahrungsgeschichte. Es erfährt vielmehr deren Eigenmacht gegenüber vorformulierten begrifflichen Unterscheidungen im Widerstand der entstehenden Darstellungsform gegen seine anfänglichen Intentionen gleichsam am eigenen Leibe: der Dichter wählt einen Stoff, wie es in einer poetologischen Reflexion H.s heißt, um von seinem »Object durchaus angemessen bestimmt zu werden und es zu bestimmen.« (MA 2, 90) Im Kommentar zur Oedipus-Tragödie macht H. deshalb deutlich, dass der »gesezliche Kalkul« der poetischen Produktion alles andere ist als ein Gesetz, das sich im Sinne operativer Anwendung handhaben ließe: »Das Gesez, der Kalkul« ist für ihn gleichbedeutend mit der »Art wie ein Empfindungssystem, der ganze Mensch, als unter dem Einflusse des Elements sich entwikelt« (MA 2, 309 f.). Die irreversible Entwicklungslogik eines »ganzen«, von Veränderungen, Brüchen und »Cäsuren« (MA 2, 310) bestimmten Lebensrhythmus fügt sich den vorgängigen Unterscheidungen eines Beobachters ebenso wenig wie den Intentionen eines poetischen Autor-Ich. Deren Voraussetzungen werden sich vielmehr in dem Maße transformieren müssen, wie sie sich auf die Logik der tragischen Zeiterfahrung einlassen, deren »Transport«, wie H. schreibt »eigentlich leer, und der ungebundenste« ist (MA 2, 310): leer und unbestimmt ist diese Logik, weil sie sich erst nach dem Maß der Voraussetzungen und der Ein- und Ausschlussverhältnisse entfaltet, mit denen eine bestimmte »Vorstellung« sie hervorbringt, und »sicher« und unerbittlich ist sie zugleich, insofern sie sich den Intentionen und Manipulationen des sie hervorbringenden Ich entzieht.
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IV Poetologie
17.3 Die Transformation der tragischen Erfahrung in moderne Poesie Die tiefgreifende Transformation der poetischen Verfahrensweise H.s, die sich im Verlauf seiner Arbeit am Trauerspiel (Empedokles) über die poetischen Reflexionen (s. Kap. 24) bis hin zu den Sophokles-Übersetzungen (s. Kap. 27) und den sie begleitenden Anmerkungen vollzieht, ist von den biographisch-historischen und philosophischen Dimensionen dieser Erfahrung nicht zu trennen. Dies wird auch deutlich in dem wichtigen Brief H.s vom 4.12.1801 an Böhlendorff, der zugleich eine Begründung dafür enthält, dass er sich der antiken Tragödie nunmehr als Übersetzer zuwendet. Dieser Brief dokumentiert den schwierigen Wandel, der sich von einer idealisierenden Auffassung der tragischen Kunstform hin zu einer im tiefsten Sinn ›zeitgemäßen‹ Sichtweise vollzogen hat (Szondi 1970 a): zur Sichtweise dessen, der nicht mehr nur als moderner Nachfolger vergangener Größe nacheifert, sondern das unaufhörliche Insistieren der Vergangenheit auch und gerade unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart erkennt und erinnert. Den Griechen, schreibt H., sei es gelungen, dem ihnen angeborenen »heilige(n) Pathos« durch Übersetzung der »abendländische(n) Junonische(n) Nüchternheit« eine Sprache zu geben (MA 2, 912): eine Sprache, die den schicksalhaften stummen Tod der tragischen Helden in eine kollektive Mitteilungsform zu übertragen vermochte. Unschwer ist hier jenes Problem wiederzuerkennen, vor dem H. sein Trauerspielprojekt aufgeben mußte. Aus der Sicht des Briefes an Böhlendorff lässt sich nunmehr erkennen, dass er sich dabei vorschnell vom griechischen Ideal hatte verführen lassen, die »Junonische Nüchternheit« der abendländischen Sprache dem Pathos poetischer Innigkeit entgegenzusetzen und ihm gegenüber als ein »fremdes Element« zu bestimmen (MA 1, 866 f.). Aber was für die Griechen eine Anreicherung des ihnen eigenen Pathos durch Übersetzung der fremden prosaischen Nüchternheit gewesen war, dies musste den modernen Dichter H. von seinem modernen Ausgangspunkt zu einer Verneinung bzw. Abwertung der Nüchternheit prosaischer Formgebung gegenüber der idealisierten poetischen Innigkeit führen. Aus dem Scheitern des Trauerspiels, das die Eigentümlichkeit seines modernen Ausgangspunktes verfehlt hatte, kann er daher jetzt die Konsequenz ziehen: »Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde. Deßwegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen
nicht nachkommen, weil [...] der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist.« (MA 1, 913) Nicht die Formulierung des poetischen Pathos ist demnach der griechischen Tragödie abzulernen, wie H. es im Trauerspiel noch versucht hatte, sondern der freie Gebrauch der abendländischen Nüchternheit und Formstrenge – als schöpferisches Moment und nicht nur als »fremdes Element« poetischer Produktion. Denn solange nüchterne Formstrenge nur als reale Voraussetzung zeitgenössischer Kunst empfunden und nicht als das der Moderne Eigene in ihrer zeitlichen Relativität poetisch beredt gemacht wird, solange wird sie dem dichterischen Pathos das klassizistische Korsett ihrer vermeintlich zeitlosen Kunstauffassung aufzwingen. Im Licht des hier aufscheinenden weitreichenden Anspruches von H.s Poesie ist die Tragödie weit mehr als eine nachahmenswerte Kunstform oder ein »Ton« innerhalb einer poetischen Konzeption. Denn insofern es den tragischen Dichtern gelungen war, die Nüchternheit der abendländischen Formidee im freien poetischen Gebrauch in ein schöpferisches Spannungsverhältnis zum poetischen Pathos zu setzen, konfrontiert uns die Tragödie gleichsam spiegelbildlich und »per contrarium« (MA 2, 851) mit einem schöpferischen Erfahrungsanspruch, dem die auf ihren Voraussetzungen beharrende zeitgenössische Moderne historisch, poetisch und philosophisch bisher ausgewichen ist. Alles andere als der Ausdruck eines vergangenen und ›hinter uns‹ liegenden Zeitraumes, alles andere aber auch als das zeitlose Maß einer klassischen Kunstform, wird daher gerade die Tragödie für den modernen Dichter zum konstitutiven Moment eines zukunftsweisenden schöpferischen Erfahrungs- und Sprachfindungsprozesses. Ihre »Darstellung«, schreibt H. in seinen Anmerkungen zum Oedipus (s. Kap. 25), »beruht vorzüglich darauf, daß das Ungeheure, wie der Gott und Mensch sich paart, und gränzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes im Zorn Eins wird, dadurch sich begreift, daß das gränzenlose Eineswerden durch gränzenloses Scheiden sich reinigt.« (MA 2, 315) Die »Darstellung des Tragischen« hat das Tragische nicht zum Gegenstand, sie »beruht« vielmehr auf der tragischen Erfahrung, ja sie ist ein schöpferisches Moment dieser Erfahrung: ein Moment, ohne das diese, wie das Pathos der tragischen Protagonisten, mit einem Klagelaut erstürbe. Die tragische Darstellungsform geht genetisch aus dem Pathos poetischer Inspiration hervor und verwirklicht es als eine sich begreifende Erfahrung, die damit über den Gesichtspunkt persönli-
17 Tragische Erfahrung und poetische Darstellung des Tragischen
cher schicksalhafter Betroffenheit hinaus zur Mitteilung gelangt. Darstellung und Sprache sind daher für die antiken Tragiker sehr viel mehr als nur Formen für einen gegebenen »Stoff«: »heilige Schiklichkeit, womit sie in göttlichen Dingen verfahren mußten« (MA 2, 851) und das heißt: eine unumgängliche schöpferische Antwort auf das Insistieren einer schicksalhaften Erfahrung der Auflösung vorausgesetzter menschlicher Maßstäbe. Als schöpferische Antwort selbst in die dargestellte Veränderung verstrickt, erreicht die Tragödie eine Tiefenschicht zeitlicher Erfahrung, die über die operativen Unterscheidungen des modernen historischen Ich hinausweist. Sie wird, so H., zur transformierenden »Sprache für eine Welt, wo unter Pest und Sinnesverwirrung und allgemein entzündetem Wahrsagergeist, in müßiger Zeit, der Gott und der Mensch [...] in der allvergessenden Form der Untreue sich mittheilt« (MA 2, 315 f.). Die übersetzende Beschäftigung mit der Tragödie – und ein anderer als dieser in die Zeit involvierte Umgang mit ihr wäre gar nicht angemessen – muß daher über ihren historischen Wortlaut hinaus zu diesem unaufhörlichen Insistieren der Erfahrung vergehender, »reißender Zeit« vordringen, das auch unter den Voraussetzungen des modernen Erfahrungshorizontes fortschreitender Zeit alles andere als Vergangenheit ist. Wenn »das tragische bei uns«, wie H. im Brief an Böhlendorff schreibt, darin besteht, »daß wir ganz stille in irgend einem Behälter eingepakt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn« (MA 2, 913), so hat das Insistieren der tragischen Erfahrung auf dem Vergehen der Zeit gerade auch vor der modernen Version eines tragischen, weil stummen, ja verdrängten Todes keineswegs aufgehört. In der Tragödie, der Darstellung dieser Erfahrung, ist, so H., »der Gott, in der Gestalt des Todes gegenwärtig« (MA 2, 373). Er teilt sich im Untergang und in den Entzweiungen der endlichen Lebensformen mit, so dass der Gott und seine sterbliche Gestalt einander gleichsam in der Darstellungsform der Tragödie begegnen und einander erfahrbar werden lassen: »Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich, – lebend einander ihren Tod, ihr Leben einander sterbend.« (Heraklit, Fr. B 62) Während sich für das antike Pathos diese Begegnung in den Entzweiungen dramatischer Rede und Gegenrede faktisch vollzieht, müsste eine moderne Übersetzung auf der Grundlage der ihr eigenen prosaischen Sprach- und Denkform diese Begegnung dadurch zu erreichen suchen, daß sie über den Text der Tragödie hinaus, das in ihm verdichtete Pathos »trifft«, »da das Schiksaallose, das δυσμορον, unsere Schwä-
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che ist.« (MA 2, 374) Der Anspruch der tragischen Erfahrung konfrontiert, mit anderen Worten, den modernen Gesichtspunkt mit seiner eigenen Schwäche und fordert eine poetische Transformation seiner vermeintlich zeitlosen Voraussetzungen und Unterscheidungen. Ebenso wie die Tragödie das Produkt einer Übersetzungsleistung ist, die dem tragischen Pathos eine Sprache gibt, geht es auch H.s Übersetzung darum, über den eigenen, modernen Erfahrungshorizont hinauszugelangen und die diesem fremde Erfahrung faktischer Betroffenheit von der vergehenden Zeit als genetisches Moment seiner eigenen Form zu erinnern. Weit über ein historisches Verhältnis zur Antike als einer vergangenen Epoche hinaus, dringt H. mit seinen Sophokles-Übersetzungen in eine Tiefenschicht der zeitlichen Genese schöpferischer Erfahrung vor, in der sich die tragische Erfahrung vergehender, »reißender Zeit« mit der »humanen Zeit« der modernen Fortschrittserfahrung intensiv verbindet (MA 2, 375; s. Kap. 25). Die Erinnerung des unauflöslichen, »absoluten« Zusammenhanges beider Erfahrungsdimensionen und die Transformation ihrer modernen Unterscheidung setzt die zukunftsweisende Poesie der »vaterländischen Gesänge« frei. Deren Genese – und diese Einsicht H.s ist nicht ein der Tragödie entnommener Gehalt, sondern eine Frucht des übersetzenden Umgangs mit ihr – vollzieht sich in einer »vaterländischen Umkehr« der jeweils eigenen Voraussetzungen als deren irreversible und von den Prämissen der »philosophischen Logik« nicht mehr kontrollierbare Transformation. Es sind Erfahrungsprozesse mit radikal offenem Ausgang, die H. anspricht wenn er schreibt: »Und in vaterländischer Umkehr, wo die ganze Gestalt der Dinge sich ändert, und die Natur und Nothwendigkeit, die immer bleibt, zu einer andern Gestalt sich neiget, sie gehe in Wildniß über oder in neue Gestalt, in einer solchen Veränderung ist alles blos Nothwendige partheiisch für die Veränderung [...]« (MA 2, 375) Die Darstellungsform der Tragödie, die sich aus einer irreversiblen, nicht mehr vom Standpunkt eines Beobachters abhängigen und von seinen theoretischen Unterscheidungen kontrollierbaren Veränderung ergibt, ist, wie H. hervorhebt, ›poetisch‹ in einem zutiefst »politischen« Sinn. Denn sie gibt dem unaufhörlichen Insistieren zeitlicher Veränderung eine schöpferische Sprache, in der Veränderung sich auf eine nicht festgelegte, selbst zeitliche und veränderliche Weise artikulieren und in der Mitteilung individuell erfahrbar werden kann. Als poetische Ausdrucksform schicksalhafter Veränderung setzt sie diese nicht nur
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linear fort, sondern gibt ihr einen neuen Gesichtspunkt und eine neue, zukunftsweisende Richtung: »Die Vernunftform«, die sich im Drama der Begegnung von Kreon und Antigone zwischen »förmlichem und gegenförmlichem« Prinzip der Erfahrungsgenese »bildet«, ist, so H. »politisch und zwar republikanisch« (MA 2, 376). Diese neue, aus der Sicht des antiken Pathos zukunftsträchtige Erfahrung hat sich in der Moderne zu einer formalen Voraussetzung verfestigt, die ihre genetische und schöpferische Vorgeschichte historisch vergegenständlicht und ihre eigene Veränderbarkeit vergessen hat. Deshalb genügt es dem modernen Übersetzer, der aus der abendländischen Nüchternheit in die genetische Vorgeschichte von deren Voraussetzungen vordringt, nicht, gleichsam als historischer Beobachter »den Geist der Zeit verstehen zu lernen«: Hatte das Verstehen der »reißenden Zeit« den Griechen einen neuen Gesichtspunkt geschichtlicher Fortsetzung erschlossen, so muss der moderne Übersetzer auf der Grundlage historisch verstandener Zeit nun seinerseits über dieses ›Verstehen‹ hinausgelangen, um den Geist der Zeit und sein unaufhörliches Werden »festzuhalten und zu fühlen, wenn er einmal begriffen und gelernt ist.« (MA 2, 376) Auf dem modernen Standpunkt historisch begriffener Zeit stellt sich dem Übersetzer der tragischen Zeiterfahrung die poetische Aufgabe, die schicksalhafte und unberechenbare Betroffenheit von Veränderung in jedem Augenblick »festzuhalten und zu fühlen«. Die hier unter dem Doppelaspekt von Konstruktion und Empfindung angesprochene Darstellungsform wird eine andere sein müssen, als die moderner Theorie, welche die Zeit der historischen Ordnung unterwirft. Sie wird auf ihre Weise noch einmal die zukunftsträchtige Leistung der antiken Tragödie zu erbringen und der historischen Zeitordnung den poetischen Gesichtspunkt schöpferischer Veränderung zurückzugeben haben: den Gesichtspunkt eines poetischen Denkens, dessen »Festhalten« und
Darstellen der Zeit seiner eigenen Zeitlichkeit inne wird, weil es aus einem betroffenen »Fühlen« der Zeit hervorgeht, um dieses in die Form einer mitteilbaren Erfahrung zu transformieren. Literatur
Bachmaier, Helmut: Theoretische Aporie und tragische Negativität. Zur Genesis der tragischen Reflexion bei H., in: Ders./T. Horst/P. Reisinger (Hg.): H.: Transzendentale Reflexion der Poesie, Stuttgart 1979, 83–145. Birkenhauer, Theresia: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und H.s Empedokles, Berlin 1996. Gaier, Ulrich: H., Tübingen 1993, 287–321. Heraklit: Fragmente, Griech. und dt., hg. v. Bruno Snell, München/Zürich 1986. Kurz, Gerhard: Poetik und Geschichtsphilosophie der Tragödie bei H., in: Text & Kontext 5.2, München 1977, 15–36. Kurz, Gerhard: Poetische Logik. Zu H.s Anmerkungen zu Ödipus und Antigone, in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. H.s letzte Homburger Jahre (1804–1806), Bonn 1988, 83–103. Ryan, Lawrence: H.s Lehre vom Wechsel der Töne, Stuttgart 1960. Söring, Jochen: Die Dialektik der Rechtfertigung. Überlegungen zu H.s Empedokles-Projekt, Frankfurt a. M. 1973. Szondi, Peter: Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in: Ders.: H.-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1970, 95–119 (a). Szondi, Peter: Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie. Mit einem Exkurs über Schiller, Schlegel und H., in: Ders.: H.-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1970, 119–170 (b). Szondi, Peter: Die Bedeutung der Tragödien. Text und Kommentar, in: Ders.: H.-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1970, 170–173 (c). Volker Rühle, der diesen Beitrag für die erste Auflage des Handbuchs verfasst hat, ist am 9. Oktober 2017 verstorben. Sein Beitrag erscheint hier – abgesehen von der Umstellung auf die neue Rechtschreibung – in unveränderter Form. J. K.
Volker Rühle†
18 Rhythmus
18 Rhythmus 18.1 Vorüberlegungen Nicht die Bewegung selbst, sondern die Strukturierung der Bewegung bezeichnet Rhythmus in Archilochos’ Fragment 67. Sowohl Musik als auch Sprache bilden durch den Rhythmus ihre Form aus. Entsprechend orientiert sich die Erziehung in Platons Wächterstaat in seiner Schrift Politeia am »Lebensrhythmus eines ordentlichen und tapferen Mannes« (Pol. 400a). Der Versfuß hat »auf diesen Rhythmus zu achten und ihm zu folgen, aber nicht umgekehrt« (Pol. 400b). Wenn Sokrates im Gespräch mit dem Musikverständigen Glaukon so tut, als ob er sich nur vage an die unterschiedlichen Versfüße erinnert, welche er von Damon gelernt hat, kann er der metrischen Nomenklatura nicht viel abgewinnen, setzt aber Haltung und Rhythmus in ein Wechselverhältnis (Pol. 400c), welches im Wächterstaat kontrolliert werden soll, damit die Grundstruktur von Musik und Sprache der ›Gutartigkeit‹ dient. Aristoteles anerkennt zwar dieses Wechselverhältnis, stellt es aber in einen wertfreien Rahmen der Mimesis, welche alle Dichtarten einschließt. Die Mimesis differenziert neben dem Stoff den Rhythmus der Dichtung (Poetik 1447a). In diesem Spannungsfeld zwischen architextueller Unterscheidung sowie Bezugnahme einerseits und ethischem Anspruch andererseits ist H.s Dichtung zu situieren: Ein vorgegebenes Versmaß, das Metrum, ist sowohl äußere Form, welche eine gewisse Tradition mittransportiert, als auch Rahmen für die Entwicklung rhythmischer Eigendynamik. Darum ist das Metrum im ersten Fall rhythmische Vorgabe, im zweiten die rhythmische Folge. H.s Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte implizit über die Frage nach dem Rhythmus: Konzentriert sich Heideggers ideologisch nicht allzu sehr überformtes Interesse auf das Fließende der Elegien und der Gesänge Der Rhein oder Der Ister, verweist Adorno dagegen auf die syntaktische Form der Parataxe. Selbst die musikalische Definition von Rhythmus in der Nachkriegszeit insistiert auf der Zäsurierung, Unterbrechung und Stauung als Eigenschaften des Rhythmischen (Seidel 1980). In der Forschung bleibt die Frage weiterhin ungeklärt, ob Rhythmus als Wiederholung eines Gleichen oder als Abweichung vom Vorhersagbaren definiert werden soll (Schrumpf 2011, 19). Jedenfalls ist Rhythmus kein »Fremdwort, das den Schallstil unserer [der deutschen] Sprache stört« (Heusler 1956, 18) und deshalb nicht einfach zu
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ersetzen durch Metrik oder spezifischer durch Metrum oder Takt. Rhythmus steht nicht einfach in einem Verhältnis zu einem vorgegebenen Schema, indem er dieses individuell realisiert. Rhythmus steht nicht »in relativer Freiheit zu einem Metrum, also zu einer Ordnung der Zahlen«, sondern ist »ein ermöglichendes, Zeit und Raum gebendes Verhältnis« (Etzold 2016, 31). Denn Rhythmus wird immer dort relevant, wo das Verhältnis zwischen ›Form‹ und ›Inhalt‹ ein Darstellungsproblem hat, insbesondere im Akt der reinen Erinnerung, an der »Grenze der Re-präsentation [sic]«, der »ausge löschte[n] Referenzialität« (Mohagheghi 2016, 65). So bleibt Rhythmus auf eine Struktur bestimmter, aber nicht nur metrischer Einheiten bezogen und geht nicht in absoluter Präsenz auf (Menke 2005). Da aber Rhythmus unmittelbar »an den Leib gebunden« ist, kann er nicht einfach Gegenstand philosophischer Anschauung sein: »zu groß die Gefahr, mitfortgerissen zu werden« (Forrer 2016, 229). Dieser Gefahr ist sich H. bewusst. Entsprechend ist Rhythmus bei H. immer in doppelter stofflich-formaler Hinsicht metarhythmisch zu verstehen: Einerseits thematisiert der Stoff seine Form und damit den sprachlich-rhythmischen Vollzug, zum anderen setzt sich die sprachlich realisierbare Form immer von der rhythmischen Vorgabe in ihrer zeitgenössischen und historischen Bezugnahme ab.
18.2 Eingrenzung Der intuitive Zugang zu H.s Dichtung weiß um ihre Sprachmächtigkeit zunächst jenseits einer semantischen Festlegung und Nachvollziehbarkeit. Oder wie Bettine von Arnim ihren Dichter in der »Günderode« formulieren lässt, »daß eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, daß nur im Rhythmus seine Sprache liege« (von Arnim 1840, 416). Ebenso ist die abstrakt formalisierbare Seite der Dichtung eine ›inhaltliche‹ (Endres 2011, 2). Die Dichtung wirkt durch ihren eigenwilligen Rhythmus – manchmal unterstützt, manchmal durchbrochen von Versgrenze, Zäsur oder Kolon (Reuß 1990, 91). Abgesehen von der enthusiastischen Frühdichtung und den abgeklärten Turmgedichten im oft gereimten jambischen Versmaß zeichnet sich H.s Dichtung durch die Übernahme und Weiterentwicklung vorhandener Versformen aus: Dazu zählen in erster Linie antike Muster wie Hexameter und in Kombination mit dem Pentameter elegisches Distichon in Anlehnung an die Diskussionen um die
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_18
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Übertragbarkeit griechischer Metren ins Deutsche bei Klopstock und Voß; die drei Formen von asklepiadeischer, alkäischer und – eigentlich nur einmal in Reinform – sapphischer Ode; die Chordichtung antiker Dramen oder Pindars Dichtung, welche vor allem in die eigenrhythmischen Gesänge Eingang finden. Dazu gehören ebenso der Dramenvers aus dem deutschen und angelsächsischen Sprachraum wie der Blankvers oder der Alexandriner aus dem Französischen, wobei dieser auch mit dem antiken Trimeter zusammenfallen kann. Trotz dieser Varianz, die man bei H. antrifft, verweisen die vorgegebenen Muster auf ihre jeweils eigene Architextualität und auf ihr damit verbundenes Genre und ihre Tradition. Während Analysen und Überlegungen zu Rhythmus und Metrum von Hebung und Senkung, Länge und Kürze, aber auch von Variabilität einzelner Silben, ihrer Unterscheidbarkeit innerhalb einer kontextualisierenden Semantik und Rhetorik sowie von grammatischen Hierarchien und einzelnen Phonemen und Graphemen abhängen, zielen H.s poetologische Überlegungen, wenn sie das »kalkulable Gesez« als »Rhythmus, im höhern Sinn« (Ant.A, 102) oder den Wechsel der Töne thematisieren, auf großformale Einheiten – welche zwar im semantisch-philosophischen Kontext zu verstehen, aber nicht von der sprachlich-rhythmischen Qualität von H.s Dichtung zu lösen sind. Darauf beruht ein wesentlicher Teil der Forschung, sei es in Bezug auf Zeit und Erinnerung (Kreuzer 1985), Vorstellung zum Kalendarischen (Honold 2005) oder zur großformalen Zäsur in der Dramatik (Kasper 2000). Rhythmus im metrischen Spannungsfeld meint sprachlichen Rhythmus, der hier bei H. nachgezeichnet werden soll. Die Forschung kommt nicht umhin, von H.s binär ausgerichteter Abstraktionsform sprachlichen Rhythmus’ auszugehen – wie man sie im Stuttgarter Foliobuch antrifft: Neben dem Rhythmus der Parodos aus der Antigonä notiert er ganz im Usus seiner Zeit die Hebungen und Senkung als antike Längen und Kürzen sowie die Zäsuren in der klassischen sapphischen Ode (Stuttgarter Foliobuch, 104). Obwohl die deutschsprachige Phonetik des 20. Jahrhunderts den Sinn für eine graduelle Akzentabstufung schärft, hat sich die historisch informierte Analyse des Rhythmus zunächst auf die dichotomische Reduktion und Gleichsetzung von Länge mit Akzent und Kürze ohne Akzent einzulassen. Erst auf diesem Hintergrund ist H.s Sonderstellung genauer zu situieren: Zwar folgt er den Vorgaben seiner Zeitgenossen wie Voß oder Schiller weitgehend, nimmt diese aber nur als Ausgangspunkt, um die binäre Struktur wiederum gezielt zu un-
terlaufen. Damit kommt es auch auf mikroformaler Ebene zu gegenrhythmischen Unterbrechungen (s. unten) und zu einer Eigendynamik des Mitausdrucks des Silbenmaßes (Klopstock 1989, 172). Im Wissen darum, dass H.s Schaffen sämtliche auch genretypischen Grenzen von Rhythmus und Metrum überschreitet und seine intensive Auseinandersetzung mit antiken Mustern 1795, später mit den freien Rhythmen 1800 einsetzt und diese meist parallel verläuft, soll entlang von H.s Formrepertoire die rhythmische Spezifik seiner Dichtung exemplarisch nachgezeichnet werden – und dies anhand der Schwerpunkte Elegie, Oden, Übersetzungen sowie Eigenrhythmus (vgl. dazu Previšić 2008).
18.3 Elegie Betont werden zwar die soziokulturelle Einbettung und die historische Formung von Rhythmus (Schrumpf 2011, 29). Doch reicht die Takteingrenzung im elegischen Distichon bei H. nicht aus, um seine Bezugnahme auf die antike Vorgabe und seine Abgrenzung von zeitgenössischen Umsetzungen genauer nachzuzeichnen. Nicht nur sind die besondere Mechanik zwischen Hexameter und Pentameter, die hexametrischen Sonderformen (wie Holodaktylus oder Holospondeus) und Zäsuren (wie Penthemimeres oder die bukolische Dihärese, welche die Schlussformel im Adoneus hervorhebt) zu berücksichtigen. Ebenso gibt es »Versmaße, die in der Elegie als ›Wortfüße‹ gehört werden können« (Groddeck 2012, 325). Und dies gilt in gleicher Weise für den dreisilbigen Daktylus wie für den neunsilbigen Hipponakteus und alle Zwischenformen. So hat das »poetische Schreiben [...] die Spannung zwischen deutschen Wortfüßen und antiken Versfüßen zu bedenken« (Endres 2014). Baut sich im Griechischen und im Latein die rhythmische Struktur von der kleinsten Einheit der kurzen Silbe her auf, bestimmt die »grammatische Hierarchie« der einsilbigen und die Betonung der mehrsilbigen deutschen Wörter und syntaktischen Einheiten den Rhythmus. Die Anordnung von »Haupt- und Nebenideen« (Moritz 1786) kollidiert mit dem griechischen Schema von Hexameter und Pentameter, in denen auf der unbetonten Position zwei Kürzen meist durch eine Länge ersetzt werden können. Dadurch entsteht zwar eine große Varianz in der Kombinierbarkeit von Daktylus und Spondeus. Doch die Länge der Takte bleibt sich gleich. Die metrische Gleichförmigkeit der antiken Vorgabe erhält durch die Wort-
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füße und ihre entsprechende Rhythmisierung im Deutschen einen Kontrapunkt. Das antike metrische Schema hält H. genauer als seine Zeitgenossen ein. Gleichzeitig nutzt er die Varianz bereits in der antiken Zäsurierung, um die Eigendynamik des dichterischen Vollzugs im Deutschen noch präziser zu exponieren. Bereits H.s erste Elegie Der Wanderer zeugt von einem hohen Bewusstsein für den elegischen Architext, aber auch vom Eigensinn, wie er sich gegenüber Goethe und Schiller behauptet, und entfaltet gleich in der ersten Strophe eine Antiidyllik zwischen »Afrikanischer Wüste« und Nordpol durch die kaskadenhaft wiederholten »Negationen« (Goethe). Der Austausch zwischen Schiller und H. sowie zwischen Schiller und Goethe im Zusammenhang mit einer Veröffentlichung in den Horen ist in der FHA weitgehend aufgearbeitet (FHA 6, 35–61). Er kulminiert in Schillers Umarbeitung von H.s Versen. Am eindrücklichsten kommt die Differenz der beiden Dichter bereits im vierten Distichon der ersten Strophe zum Ausdruck, wo es zunächst in H.s Reinschrift heißt: »Hier frolokten die Jünglinge nicht, die stürzenden Bäche/ Ins jungfräuliche Thal hoffend und liebend herab.« (FHA 6, 55) Besonders auffallend sind die Zäsur nach der vierten Betonung (Hephtemimeres) und das umso stärkere Enjambement, welches Hexameter und Pentameter verbindet. Das ›Stürzen‹ der Bäche erfährt die direkte rhythmische Umsetzung. Ebenso typisch für H.s Ton ist die Tendenz zur Vermeidung einer zu eindeutigen Taktierung, indem der Spondeus als Setzung zweier aufeinanderfolgender Längen genutzt wird. Zu Beginn der Verse (»Hier fro[]«/ »Ins jung[]«) kommt diese Verfahren besonders prägnant zum Ausdruck: Im ersten Fall folgen zwei Silben, im zweiten Fall zwei kurze Silben direkt aufeinander, wobei die Silbe »jung« von »jungfräulich« noch in ein gleichwertiges Betonungsverhältnis zur Silbe »fräu« gesetzt wird, und behaupten dadurch ihre spondeische Gleichwertigkeit in direkter Konfrontation miteinander. Die besonderen Eigenschaften des Deutschen, in dem auch eine kurze Silbe betont werden und somit auf der Position der antiken Länge stehen kann oder umgekehrt eine lange Silbe nicht besonders zu akzentuieren ist, nutzt H., um die antike Vorgabe als performative Vorlage zu nutzen. Daraus ergibt sich der für H. typische schwebende Ton, nicht, weil er unbestimmbar wäre, sondern weil er einen Möglichkeitsraum eröffnet, der das sprachliche Material in seiner Widerständigkeit wieder in die vorgegebene Form zurückspielt. Dieser Ton verlässt die seit Opitz geltende deutsche Prosodie einer ein-
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deutigen und entsprechend schematisierbaren Akzentuierung. Im vorliegenden konkreten Fall hat nicht einmal die syntaktische Einheit aufzugehen, woran sich Schiller neben der sexuellen Anspielung gestört haben wird. So schreibt er das Distichon um: »Bäche stürzten hier nicht in melodischem Fall vom Gebirge,/ Durch das blühende Thal schlingend den silbernen Strom« (nach FHA 6, 59). Die Spannung zwischen den Silben, das Wechselspiel zwischen vorgegebener antiker Länge und deutschsprachiger Akzentuierung entfällt, weil der Trochäus den Spondeus jeweils zu Versbeginn konsequent ersetzt: »Bäche«/ »Durch das«. Eine deutlich schwächere Zäsur (als Penthemimeres nach »nicht«) ersetzt die vormals viel stärkere. Dafür koinzidiert die Hauptzäsur unspektakulär mit dem Hexameterende, und H.s hoch elaborierte rhythmische Struktur fällt Schillers Vorstellung von elegischer Metrisierung zum Opfer. Die drei großen Elegien Heimkunft, Brod und Wein und Stutgard eröffnen das Homburger Folioheft (1–4; 5–10; 11–15). Darin sind in der Folge nur noch eigenrhythmische Gesänge versammelt. Besonders in Heimkunft werden die in Der Wanderer erprobten Verfahren noch prägnanter, so dass das vorgegebene Maß des elegischen Distichons durch den Wortrhythmus fast gesprengt und neue rhythmische Einheiten generiert: »Denn es wächst unendlicher dort das Jahr und die heilgen/ Stunden, die Tage, sie sind kühner geordnet, gemischt.« Die meist spondeisch schwebende und daher langsam erscheinende erste syntaktische Einheit bis »Jahr« steht im völligen Kontrast zu dem holodaktylischen Muster des Resthexameters und des darauf folgenden Pentameters, dessen Mittelzäsur durch den Einlass eines Pherekrateus (»sie sind kühner geordnet«) zum Verschwinden gebracht wird. Dieses Distichon steht exemplarisch dafür, wie in vorgegebene Metren metrische Rhythmen der äolischen Odendichtung eingelassen werden. Wie Wolfram Groddeck zu Brod und Wein bemerkt, bildet die Metrik ein »wesentliches Element« und »ein kalkuliertes System temporaler Bewegungsdarstellung«; und im Rhythmus verbindet sich metrisches Schema »mit den poetischen Aussagen der Elegie« (Groddeck 2012, 18).
18.4 Oden Im Unterschied zur Elegie bildet die Odenform streng genommen keine metrische Struktur. Sie ist nicht kata metron, sondern setzt sich aus äolischen Perioden zusammen, die nicht skandiert oder zäsuriert werden.
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Dabei bleiben sich Längen und Kürzen, abgesehen von den Auftakten, immer gleich und erzeugen auf diese Weise einen über mehrere Silben verteilten Rhythmus. Erfindet Klopstock eine breite Palette mit eigenen Odenstrophen, konzentriert sich H. in den epigrammatischen Gedichten zu Beginn um 1797 auf die längenreiche und somit sehr gesetzte asklepiadeische Ode. Je länger die Oden werden, desto eher verfasst sie H. im flüssigeren alkäischen Muster. Dies gilt insbesondere für die Spätdichtung nach 1806. Die Typisierung der beiden Odenformen unterstreicht, wie basal der Sprachrhythmus für die dichterische Makrostruktur und geradezu entscheidend für die groß angelegten sowie triadisch organisierten Gedichte wie die Elegie Brod und Wein oder der eigenrhythmische Gesang Der Rhein sein kann. Besonders prägnant artikuliert sich das Formproblem im Umbau von der einen in eine andere Odenform, so von der asklepiadischen Ode An die Deutschen in die alkäische Ode Rousseau. Dabei bildet das Ende der erweiterten ersten Ode den Anfang der zweiten; die vormalige Trennung zwischen einer ›sehnenden‹ Zeitauffassung und einem trauernden Du (FHA 5, »An die Deutschen«, 534, Str. 12, V. 46) wird im sich sehnenden Du aufgehoben (FHA 5, »Rousseau«, 787, Str. 2, V. 6) und in eine neue äolische Periodik eingebunden. Ebenso könnte man mit Platon festhalten, dass erst der neue alkäische Rhythmus Rousseaus Konkretisierung ermöglicht. In der Weiterentwicklung der Stromoden, von Der Main zu Der Nekar und von Der gefesselte Strom zu Ganymed, kann man zum einen von einer horizontalen, in der zeitlichen Sukzession aufgehenden, melodischen Beschleunigung sprechen. Gleichzeitig trifft man insbesondere in Ganymed als letzter Ode innerhalb der zehn ›Nachtgesänge‹ vor dem eigenrhythmischen Gedicht Hälfte des Lebens auf die meisten Regelverstöße. In der kalkulierten Abweichung von der vorgegebenen Form verweist das Gedicht auf seine rhythmische Eigenständigkeit und etabliert dadurch eine harmonikal gedachte Vertikale, vergleichbar mit dem Akzent einer dissonanten musikalischen Akkordik. Die sapphische Ode nimmt bei H. in der NichtRealisierung ihrer Reinform eine Sonderstellung ein. Schreibt sich H. insbesondere mit der alkäischen Ode in ihre architextuelle Tradition ein, die Horaz bereits mit seiner expliziten Bezugnahme und poetologischen Reflexion der griechischen Vorbilder evoziert, erscheint Sappho meist da, wo sie nicht direkt genannt wird – so vor allem in rhythmischen Versatzstücken der großen Gesänge. Einen Hinweis auf das genuin
rhythmische Problem erhält man in der einzigen realisierten sapphischen Ode Unter den Alpen gesungen: Zu einen variiert bereits Klopstock die klassische sapphische Odenstrophe, indem er den wandernden Daktylus einführt. Damit kann H. nicht auf eine ungebrochene Tradition zurückgreifen und reagiert darauf, indem er Klopstocks Vorgabe nochmals verschärft. Unter den Alpen gesungen setzt mit einem Adoneus ein, der im zweiten Vers um eine Betonung nach hinten versetzt wird. Seine sapphische Ode lässt H. schließlich mit zwei Adoneen ausklingen, so dass im Strophenenjambement gleich drei Adoneen hintereinander erklingen. Entsprechend bildet die Strophengrenze den Punkt maximaler Beschleunigung: »So mit den Himmlischen allein zu seyn, und/ Geht vorüber das Licht, und Strom und Wind, und/ Zeit eilt hin zum Ort, vor ihnen ein stetes/ Auge zu haben,// Seeliger weiß und wünsch’ ich nichts, [...].« (FHA 5, Unter den Alpen gesungen, 846, Str. 5 f.; kursiv = Adoneus: BP) Zum anderen birgt dieser zäsurlose Rhythmus die Gefahr einer haltlosen Entgrenzung und Beschleunigung. Eine rhythmische Verabsolutierung liegt nicht in der Absicht von H.s Dichtung. Vielmehr sucht sie ihre Verortung zum einen im Regelverstoß, zum anderen in der weiterentwickelten Rückbesinnung des Eigenen auf das Fremde in der Übersetzung und des Fremden im Eigenen des Eigenrhythmus. Zäsurlose Rhythmisierung mit der Tendenz sich entgrenzender Beschleunigung weist freilich weit in jenes Fragilwerden von Wahrnehmungsformativen hinein, das spätestens ab dem 20. Jahrhundert zur Signatur kollektiven Erfahrens wird.
18.5 Übersetzter Rhythmus Auffallend in H.s Übersetzungen ist die Diskrepanz zwischen denjenigen, in denen der Rhythmus vordergründig keine Rolle zu spielen scheint, und den anderen, welche gerade darauf abzielen und diesen auch noch weiterentwickeln. Zur ersten Gruppe gehören die Wort-für-Wort-Übersetzungen von Pindar, obwohl sich die daraus entstehende eigenwillige und neuartige deutsche Syntax auch auf H.s Duktus überträgt. Weder lehnt er sich an bestimmte rhythmische Vorgaben an, noch bildet er wiederholbare Muster aus, welche für die Übersetzung formbildend wären. In bescheidenerem Ausmaß gilt das für die Figurenreden in den beiden Sophokles-Dramen, in Ödipus und Antigonä. H. überträgt sie vom antiken Dramen-
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vers des jambischen Trimeters in den Blankvers angelsächsischer Provenienz. Selbst im eigenen Drama »Empedokles« verwendet H. meist diesen Vers. Dies gilt aber nicht für die Chorlieder. Sie sind zur zweiten Gruppe zu zählen. Exemplarisch dafür ist das metrische Schema der Antigonä-Parodos im Stuttgarter Foliobuch (104). Irritierend sind die wahrscheinlich erst nachträglich eingetragenen vertikalen Taktstriche, welche auf eine sowohl für Oden als auch Chöre unübliche Skandierung hindeuten. Die Chorlieder weisen wie die Oden zwar wiederholte, aber auf die Horizontale ausgerichtete Rhythmen auf. Darauf, dass sich H. dessen bewusst gewesen sein muss, deuten die notierten Abweichungen vom Griechischen in Länge und Kürze in den jeweils ersten beiden Verssilben. Im vollständigen Pherekrateus, Glykoneus oder Hipponakteus sind die ersten beiden Silben frei auffüllbar oder sogar auf eine Silbe zu reduzieren. Darum die Abweichungen im metrischen Schema der Parodos, darum die zum Teil schwer zu bestimmende und daher meist schwebende Skansion in den späteren Gesängen jeweils zu Versbeginn. Leider ist keine Übersetzung überliefert, welche auf genau diesem metrischen Schema basieren würde. Hingegen gibt Friedrich Beißner in Bezug auf die Übersetzung des zweiten Chorlieds der Antigonä zu bedenken, dass »diese Wiedergabe metrisch ist, zum mindesten metrisch gemeint ist« (Beißner 1922/1961, 90), und bemerkt den »glykonischen Fall« (ebd., 99) in der übersetzten Antigonä-Parodos. Im Unterschied zum Ödipus findet H. in den Chören der Antigonä zu einem einheitlicheren und gebundeneren Rhythmus (ebd., 117), der sich an die Modulierbarkeit zwischen äolischen Perioden und choriambischen Passagen anlehnt. Im Unterschied zum alternierenden jambischen Trimeter bzw. Blankvers der Figurenrede ist das entscheidende Merkmal in den Chören die Doppelsenkung (hintereinander zwei Kürzen bzw. unbetonte Silben). Sie klingt entweder äolisch ›weich‹ aus – so im Glykoneus (»Und des (Meeres) salzigen Meers Geschlecht«, Chor der Antigonä, Str. 2, V. 4, Vgl. FHA Suppl. II, 73) und im Pherekrateus (»mit listiggeschlungenen Seilen«, ibd., V. 5) – oder in hart ausklingenden Daktyloepitriten (»Bergebewandelndes Wild«, ebd., V. 8) . Der Chor der Sophokleischen Tragödie als rhythmisches Vorbild ist für H.s Übernahme in den Eigenrhythmus des freien Verses besonders interessant, weil er die beiden antiken Traditionen von äolischer Liebesdichtung und daktyloepitritischen Heldengesängen verbindet. Diesen rhythmischen Antagonismus
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arbeitet H. in einer der letzten Übersetzungen vom ersten Stasimon »Ungeheuer ist viel...« aus der Antigonä (FHA 16, 299) heraus und verdeutlicht ihn über die griechische Vorgabe hinaus. Die relativ schematische Modulation im Original von vier Glykoneen (V. 1–4) über einen Pherekrateus (V. 5) und zwei jambische Verse (V. 6 und 7) zum Daktyloepitrit (V. 8), zum Anapäst und schließlich zum Ithyphallikus, zur typischen Schlussformel bei Pindar (V. 11) variiert und verschärft H. zusätzlich.
18.6 Eigenrhythmus Die selbst heute noch z. T. gebräuchliche Form des freien Verses bzw. des freien Rhythmus ist bei H. problematisch – und dies in zweifacher Weise. In den metrisch oder rhythmisch nicht gebundenen Formen ist der Rhythmus deutlicher zum einen von der sprachlichen Konstitution, zum anderen von der auditiv wahrnehmbaren rhythmischen Struktur abhängig. Darum ist es wahrscheinlich sinnvoller, von Eigenrhythmus zu sprechen. In den als abgeschlossenen Einheiten überlieferten Gesängen Die Wanderung, Germanien, Der Rhein, Friedensfeier und Patmos werden sämtliche rhythmischen Verfahren auf unterschiedliche Weise eingesetzt. Im Gegensatz zu den übersetzten Chorliedern wiederholen sich die rhythmischen Strukturen von Strophe und Antistrophe nicht mehr. Ebenso wenig ist innerhalb einer Strophe eine Tendenz von ›weichen‹ äolischen Perioden hin zu ›harten‹ Daktyloepitriten auszumachen. Vielmehr etabliert sich bereits zu Beginn der Konstituierung von H.s Eigenrhythmus in Die Wanderung der auftaktige Pherekrateus als Strophenklausel, die sich in der Heimat des Dichters etablieren – hier gleich dreimal hintereinander innerhalb der Versgrenzen aufgehoben, aber syntaktisch gebrochen: »An Nekars Weiden, am Rheine/ Sie alle meinen, es wäre/ Sonst nirgends besser zu wohnen.« (FHA 8, 617, 2. Str., V. 10–12) Eigenrhythmus ist nicht als etwas aus dem Griechischen Gewonnenes und Abgeleitetes, sondern als etwas ihm Vorgängiges zu verstehen. So findet in Germanien der Adler als Kulturträger aus dem Osten erst in Suevien gelandet zu seiner eigenen Sprache. Während in der ersten Hälfte der Beschreibung der alternierende Blankversfuß vorherrscht, muss der Adler gegen Schluss der vierten Strophe ein »ander Wort erprüfen«. Darauf folgt ein Feuerwerk an sapphischen Perioden wie den akephalen um einen Daktylus erweiterten Pherekrateus (»Doch Fülle der goldenen
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IV Poetologie
Worte«, Str. 5, V. 9) oder den doppelten, zuerst akephalen, dann vollständigen Pherekrateus (»Und Wetter im Wald und dem Namen derselben«, Str. 7, V. 3) bis hin zur vorletzten und letzten Strophenklausel im akephalen Hipponakteus: »Unschuldige, muß es bleiben« (Str. 6, V. 16), »Den Königen und den Völkern« (Str. 7, V. 16). Germanias Beschwörung durch den Adler überbordet geradezu in sapphischen Perioden, so auch in der Klausel der fünften Strophe mit auftaktigem Pherekrateus, Modulation und akephalem Pherekrateus: »So ist von Lieben und Leiden/ Und voll von Ahnungen dir/ Und voll von Frieden der Busen« (Str. 5, V. 14–16). Zum einen paart sich die sapphische Periodik mit der für das Deutsche typischen Alliteration auf vier Lautebenen: »Lieben«, »Leiden«/ »von«, »voll«, »von«, »voll«, »von«/ dreimal »und« sowie dreimal »de[]«. Zum anderen wird an den beiden letzten Versen erahnbar, wie weit sich rhythmische Perioden bei H. ausdehnen können und wie sehr sie dabei an der Versgrenze überhaupt nicht Halt machen, kehrt doch derselbe Rhythmus identisch und dann leicht verkürzt in den Strophenklauseln von Hälfte des Lebens wieder. Wie in »Germanien« mit den Alliterationen angedeutet, welche ebenso strukturierend im siebten und damit ersten eigenrhythmischen ›Nachtgesang‹ des Zyklus sind, überformt den Rhythmus bei H. die spezifische Kombination der Signifikanten. Dies gilt nicht nur in extremis für die Turmdichtung (Jakobson/Lübbe-Grothues 1981), sondern auch für Gesänge wie Friedensfeier. Die »still wiederklingenden [...] Töne« (Str. 1, V. 1 f.) beziehen sich auch auf den eigenen Raum der Dichtung. Rede und Gegenrede artikulieren und manifestieren sich in bestimmten Vokalen, die sich an Wortfeldern einer ›i-Sphäre‹ der ersten Strophe (wie »Liebe«, »Stille«, »Himmel« oder »Frieden«) bzw. einer ›a-Sphäre‹ der zweiten Strophe (wie »Palme«, »Stadt«, »Sprache« oder »aber«) orientieren. Erst in der Mitte des Gesangs werden die beiden Sphären miteinander verbunden: »Schiksaalgesez ist diß, daß Alle sich erfahren,/ Daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei.« (Str. 7, V. 5 f.) Die signifikante Scharnierfunktion übernimmt hier »Schiksaal«. Ebenso strukturiert der Eigenrhythmus die triadische Form der Friedensfeier insgesamt. Auf diese Weise spiegeln sich die ›Vokalsphären‹ in den Strophenklauseln. In die Augen springt jeweils die Überlänge der Strophe 3, 6, 9 und 12 mit fünfzehn satt zwölf Versen. Während in der ersten Hälfte bis zur sechsten Strophe der sapphische akephale, um einen Daktylus erweiterte Pherekrateus vorherrscht, kommt es auch
rhythmisch in der bereits genannten Strophe 7 mit dem »Schiksaalgesez« zum Bruch. Zum einen prägt die ganze Strophe ein alternierender Rhythmus, zum anderen findet sie selbst in der Klausel nicht richtig in den äolischen Klang, sondern bleibt im prosaischen Stil: »von hier an bis zum Himmel« (Str. 7, V. 15). Dies gilt für die dritte Triade (von Str. 7 bis 9), obwohl die Strophenklauseln wieder im Pherekrateus aufgehen. Erst die letzte Triade (von Str. 10 bis 12) prägt ein feierlicher, durchwegs sapphischer Klang äolischer Periodik. Noch deutlicher strukturiert ist H.s mit seinen 15 Strophen längster eigenrhythmischer Gesang Der Rhein. Die beiden Großzäsuren nach der zweiten und vierten Triade markieren die Strophenklauseln im alternierenden halben Trimeter (»In Städten, die er gründet«, Str. 6, V. 14) und Hipponakteus (»Zur heutigen Erde der Tag sich neiget«) und nicht wie in den übrigen Strophenklauseln der Pherekrateus, der im Übrigen durchgängig syntaktisch strukturierend für Satzenden im ganzen Gesang eingesetzt wird. In der vorletzten Niederschrift 315 definiert H. das »Gesez dieses Gesanges«, »daß die zwei ersten Parthien der Form [nach] durch Progreß und Regreß entgegengesezt, aber dem Stoff nach gleich« seien, während es sich in Triade 3 und 4 umgekehrt verhält und erst die Triade 5 »mit durchgängiger Metapher alles ausgleicht« (FHA 7, 160). In der letzten Umarbeitung wird dieses »Gesez« nochmals genauer herausgearbeitet, wie in der doppelten Analyse von »Form« und »Stoff« nachgezeichnet werden kann (Previšić 2008, 161–184). Rhythmus entpuppt sich dabei als das Form-»Gesez« par excellence. Weder die äolische ›weibliche‹ Periodik oder ein sapphisches Ideal (Menninghaus 2005), noch die harten Daktyloepitrite aus Pindars Tradition bzw. das alternierende dramatische Versmaß prägen per se die Form, sondern ihre gegenrhythmische Unterbrechung innerhalb der Grenze von Vers und Syntax und darüber hinaus. So ist es immer die »Form«, die auf den »Stoff« verweist, indem sie ihn exponiert. Und es ist immer der »Stoff«, der auf die »Form« rekurriert, indem er in ihr aufgeht oder sich dagegenstellt. Eine Interpretation von H.s Dichtung, die den Rhythmus nicht aktiv miteinbezieht, dürfte mit größter Wahrscheinlichkeit dem Anspruch der Gesamtanlage nicht gerecht werden. Natürlich ist auch eine historische Perspektive unabdingbar, welche untersucht, mit welchen Rhythmus-Begriffen das 20. Jahrhundert operiert hat. Dies gilt für Dilthey, Helling rath, aber auch für Gadamer, der in H.s Rhythmus als
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Musik des Stammelns und Verstummens den Nerv der Moderne ausmacht. (Castellari 2016) Dies gilt aber vor allem für die Sprech- und Rezitationsbildung, in der das Bewusstsein für die unterschiedlichen Skansionen, Längen und Kürzen, Vokale, Alliterationen usw. geschärft werden soll, welche nur schon für Hälfte des Lebens eine hochkomplexe Anlage bilden (Groddeck 2015). Sie in andere Sprachen zu übertragen, ist nochmals eine eigene Herausforderung, weil jedes Idiom in einer anderen architextuellen Tradition steht. Es kommt zu einer neuen poetischen Verhältnisbestimmung zwischen Original und Übersetzung, in welcher die Fremdheit des Originals nochmals akzentuiert werden kann (Utz 2017). H. reaktiviert in seiner Poetologie und in seiner Dichtung ein musikalisch-dichterisches Akzentmodell, das sich von einer reinen akustischen Sukzessivität abhebt, wie sie Lessing oder Herder propagieren (Previšić 2017). Ihn interessiert »in der rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen« weniger ihr »reißende[r] Wechsel«, also weniger der reine Rhythmus. Ihn interessiert vielmehr »die gegenrhythmische Unterbrechung«, so dass »die Vorstellung selber erscheint« (Anmerkungen zum Ödipus, FHA 16, 249–258, 250). Der Akzent in H.s Dichtung zielt auf »harmonisch-entgegengesetzte [...] Stimmungen« (Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ..., FHA 14, 179–322, 305) und versteht sich so auch als vertikale Dissonanz einer musikalischen Akkordik, in welcher die unterschiedlichen Töne in der Synkope gleichzeitig aufeinanderprallen. H. sucht die »Receptivität« seiner Dichtung (ebd.) in der kontrapunktischen Setzung verschiedener metrischer Vorgaben. Daraus entwickelt sich nicht einfach die individuelle Stimme des Dichters oder eines lyrischen Ich. Es sind vielmehr Stimmen, in dem ein polyphones Geflecht simultaner Pluralität zur Sprache kommen, seine Sprache finden will: »Statt offener Gemeine sing’ ich Gesang.« (vgl. FHA 7, 114; 8, 561/566).
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Literatur
Beißner, Friedrich: H.s Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 1933/1961. Castellari, Marco: Lebensrhythmus und harte Fugung. Der H.-Ton der Moderne, in: Massimo Salgaro (Hg.): Mythos Rhythmus. Wissenschaft, Kunst und Literatur um 1900, Stuttgart 2016, 143–155. Endres, Martin: »Poëtische Individualität«. H.s Empedokles-Ode, Berlin 2014. Etzold, Jörn: Formen des Unbeständigen. Zur Einführung, in: Etzold, Jörn/Moritz Hannemann (Hg.): Rhythmos. Formen des Unbeständigen nach H., Paderborn 2016, 13–35. Fischer, Saskia: Selbstvergewisserung durch Traditionsbezug. Zur H.-Rezeption bei Bertolt Brecht, in: Kocziszky, Eva (Hg.): Wozu Dichter? Hundert Jahre Poetologien nach H., Berlin 2016, 217–230. Forrer, Thomas: Rhythmischer Transport. Zur Tropik von Rhythmus, in: Etzold, Jörn/Moritz Hannemann (Hg.): Rhythmos. Formen des Unbeständigen nach H., Paderborn 2016, 209–230. Groddeck, Wolfram: Zahl, Maß und Metrik in H.s Gedicht Hälfte des Lebens, in: Bergermann, Ulrike/Elisabeth Strowick (Hg.): Weiterlesen. Literatur und Wissen, Bielefeld 2015, 159–173. Jakobson, Roman/Grete Lübbe-Grothues: Ein Blick auf die Aussicht von F. H., in: Ders.: Selected Writings, Bd. III, Den Haag/Paris/New York 1981, 388–446. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, hg. v. Winfried Menninghaus, Frankfurt a. M. 1989. Menninghaus, Winfried: Hälfte des Lebens. Versuch über H.s Poetik, Frankfurt a. M. 2005. Menke, Bettine: Rhythmus und Gegenwart. Fragmente der Poetik um 1800, in: Primavesi, Patrick/Simone Mahrenholz (Hg.): Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen 2005, 193–204. Mohagheghi, Yashar: Zäsur der Zeit und Poetik der Tragödie. Zum Verhältnis von Rhythmus und Gedächtnis im Anschluss an H.s Sophokles-›Anmerkungen‹, in: Etzold, Jörn/Moritz Hannemann (Hg.): Rhythmos. Formen des Unbeständigen nach H., Paderborn 2016, 63–84. Moritz, Karl Philipp: Versuch einer deutschen Prosodie (1786), Darmstadt 1973. Previšić, Boris: H.s Rhythmus. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008. Seidel, Wilhelm: Rhythmus/numerus, in: Riethmüller, Albrecht/Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.): Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Stuttgart 1980. Utz, Peter: »Nachreife des fremden Wortes«. H.s Hälfte des Lebens und die Poetik des Übersetzens, Paderborn 2017.
Boris Previšić
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19 Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung 19.1 Bezugspunkte Der Zusammenhang von ›Zeit – Sprache – Erinnerung‹ ist für H.s Poetologie von zentraler Bedeutung. Die Frage nach der Wirklichkeit dessen, was Erinnern in Relation zu Zeit als Form und Bedingung geschichtlicher Erfahrung und Realität bedeutet, sowie die Einsicht in die Sprachbedürftigkeit eben dieses Vermögens der Erinnerung umgrenzen den Anspruch, den seine Dichtung ab der Peripetie 1799/1800 und nach der Rückkehr aus Frankreich (s. Kap. 6) in verstärktem Maße stellt. Eindringlich formuliert diesen Anspruch die berühmte Verstrias aus den Entwürfen zu Mnemosyne: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos/ Schmerzlos sind wir, und haben fast/ Die Sprache in der Fremde verloren.« (FHA-Suppl. III, 117) Wenn Dichtung angesichts dieser Fremde als ein Akt der Sprachfindung der Erinnerung zu begreifen ist und es solcher Sprachfindung immer von neuem bedarf – H.s Verse legen dies nahe –, dann ist das nur möglich in Beziehung zur Zeit als Form und Bedingung geschichtlichen Daseins. ›Zeit‹ ist somit kein Defekt, sondern eine wesentliche, wenn man so will: innere Bedingung der Verfahrungsweise des poetischen Geistes. Ihr Produkt ist zu verstehen als artikulierte Zeitlogik. Vor allem in Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... hat H. diese Verfahrungsweise des poetischen Geistes zum Gegenstand gemacht (s. Kap. 12 und 24). Nachdem die »subjectiven Arten des Begründens« durchlaufen wurden, heißt es im achten Abschnitt dieses Fragments, dass in der Verfahrungsweise des poetischen Geistes »noch ein wichtiger Punct« fehle, da das reine poetische Leben »vermöge des Harmonischen überhaupt und des zeitlichen Mangels [...] sich durchaus einig« bleibe (vgl. WdD, in: ThSch, 45). Dieses ›Sich-durchaus-einig-Bleiben‹ ist als Einwand gemeint: ihm mangelt Zeit – fast im gleichen Atemzug spricht H. vom »Mangel in der Einigkeit«. ›Zeitlicher Mangel‹ bedeutet also nicht, dass Zeit – als Bedingung der Sinnlichkeit und Endlichkeit – einen (durch das poetische ›Geschäft‹ gegebenenfalls zu überwindenden) Mangel mit sich führe. Was Verfahrungsweise des poetischen Geistes heißt, muss sich vielmehr durch Zeit bestimmen lassen – erst vermöge einer solchen zeitlichen Bestimmung gibt der poetische Geist »seinem Geschäffte nicht die Stimmung, den Ton, auch
nicht die Bedeutung und Richtung, aber die Wirklichkeit« (WdD, 45). Die ›subjektiven‹, zeitvergessen(d)en Arten des Begründens leisten das nicht. Mit ihnen kann die Verfahrungsweise des poetischen Geistes denn auch nicht hinreichend erklärt werden. Im Übrigen auch nicht mit dem ›Wechsel der Töne‹. Mit der Lehre vom ›Wechsel der Töne‹ (s. Kap. 15), die H. ab ca. 1798/99 zu systematisieren begonnen hat, fängt in den Abschnitten 2 bis 6 die poetologische Selbstverständigung von WdD an. H. referiert sie wie ein ausgearbeitetes System. Zugleich aber relativiert die Feststellung, dass mit den Formen des subjektiven Begründens in der Verfahrungsweise des poetischen Geistes ›noch ein wichtiger Punkt fehlt‹, ihren Geltungsbe reich. Der Wechsel der Töne formuliert ein Prinzip bzw. eine Matrix für die Notationssysteme, mit dem bzw. der sich die Struktur poetischer Gebilde gleichsam generativ beschreiben lässt (vgl. etwa die auf WdD folgenden Poetologischen Aufzeichnungen, ThSch, 63– 73). Aber die Begründung des Gedichts verlangt nach mehr als der bloßen Generierung der Modi, wie von einem »subjectiven Grund des Gedichts aus« und wie auf ihn »zurükgegangen wird« (vgl. WdD, 44), sie verlangt mehr als bloße Harmonie. Die Beschreibung poetischer Verfahren stellt keine Begründung der Verfahrungsweise des poetischen Geistes dar. Diese verlangt nach einer Logik, die erklärt, dass »derjenige Act des Geistes, welcher in Rüksicht auf die Bedeutung einen durchgängigen Widerstreit zur Folge hatte, ein ebenso vereinigender« wird (WdD, 47). Er ist für die Verfahrungsweise des poetischen Geistes unverzichtbar. Mit dem zeitlichen Mangel bloßer Harmonie kann sie »unmöglich enden« (WdD, 46). Zu H.s Forderung, den zeitlichen Mangel der ›subjektiven Arten des Begründens‹ aufzuheben, gibt es eine wichtige Parallele in Kants Kritik der reinen Vernunft. Dort heißt es im Schematismus-Kapitel nach der Exposition der Schemata nach »Zeitreihe, Zeitinhalt, Zeitordnung und Zeitinbegriff«, dass die »Schemate der reinen Verstandesbegriffe« als »transzendentale[...] Zeitbestimmung[en]« und »transzendentales Produkt der Einbildungskraft [...] die wahren und einzigen Bedingungen [sind], diesen [den Verstandesbegriffen] eine Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen.« (KrV, B 178, B 181, 184/85) Ohne transzendentale Zeitbestimmung sind die Kategorien als logische Funktionen zwar analysierbar, aber bedeutungslos. Dem, was ihnen Bedeutung gibt, ist ein Zeitfaktor eigen. H. fragt im gleichen Sinn danach, was »dem Gedichte seine Bedeutung giebt« (WdD, 46). Ohne dieses »Verbin-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_19
19 Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung
dungsmittel zwischen Geist und Zeichen« erweist sich der Geist des Gedichts als ebenso bedeutungslos, wie seine Bedeutung ohne innere zeitliche Bestimmung geistlos bleibt. – Eine zweite Parallele zu H.s Frage nach dem Verbindungsmittel zwischen Geist und Zeichen findet sich in jenem Text, der von früh an das Zentrum jener »kantischästhetischen Beschäftigungen« gebildet haben dürfte, von denen H. Neuffer im Juli 1794 berichtet (vgl. MA 2, 539): die Kritik der Urteilskraft. Im § 49 definiert Kant, dass »Geist, in ästhetischer Bedeutung, [...] das belebende Prinzip im Gemüte [heißt].« Dieses Prinzip sei »nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann« (KU, B 192/93). Daraus folgt dann, dass »die ästhetische Idee [...] die einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft [ist], die [...] zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken lässt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt, und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.« (KU, B 197) Da es bei der Verbindung, nach der Kant hier fragt, um die Verbindung von Geist und Sprache geht, liegt es nahe, wenn er folgert, dass es »eigentlich die Dichtkunst (ist), in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann.« (KU, B 194) Die in der KrV geforderte Zeitlogik der Einbildungskraft wie die in der KU gegebene Bestimmung der Sprachlichkeit des Vermögens ästhetischer Ideen sind, von Kant her gesehen, die termini post quem für H.s Poetologie. Diese stellt, anders gesagt, die poetische Konsequenz transzendentallogischer Einsichten dar (s. Kap. 12). Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass H. bei der Antwort auf die Frage nach dem Verbindungsmittel zwischen Geist und Zeichen an Fichtes Äußerungen über das »wunderbare Vermögen der Einbildungskraft« anknüpft, »ohne welches gar nichts im menschlichen Geiste sich erklären« lässt, wie es in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre heißt: denn der »Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich und unendlich zugleich setzt [...] ist das Vermögen der Einbildungskraft.« (GWL, zit. nach: Fichte 1971, I, 208, 215). H.s Überlegungen setzen bei dem Desiderat ein, wie das »Schweben der Einbildungskraft« aufzufassen ist. Er kehrt Fichtes Argument, dass die Einbildungskraft ein Zustand des Ich sei, in welchem dieser Zustand in ihm »zu einem Zeitmoment ausgedehnt werde« (vgl. ebd., 217), um, indem er die Bestimmung
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des ›Schwebens der Einbildungskraft‹ durch den Begriff der (vom Gedächtnis zu unterscheidenden) Erinnerung konkretisiert (s. u.: »Gedächtnis und Erinnerung«). Der Sinn der Erinnerung besteht nicht darin, dass dabei ein Zustand des Ich zu einem Zeitmoment ausgedehnt würde. Das war (oder ist) gerade der ›zeitliche Mangel‹ des ›subjektiven Begründens‹, der mit der Vorstellung vom Ich als einer ebenso extramemorialen wie zeitenthobenen Instanz verbunden ist. Was dem Gedicht aber (und nicht nur dem Gedicht) seine Identität und Bedeutung gibt, ist keine solche ›res cogitans‹, sondern etwas, was sich im Vorübergehen von Zeit als Verbindung des zeitlich Verschiedenen erst bildet. H. nennt das »poetische Individualität«. Sie, nicht ein Ich, ist das ›Subjekt‹ der Dichtung. »Alles unendliche Einigkeit, aber in diesem Allem ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott!« – schreibt er im März 1801 an den Bruder (vgl. MA 2, 898). Erinnern ist seiner Form wie seinem Inhalt nach Ausdruck jener unhintergehbaren Relationalität, die Fichte mit dem Begriff der »Wechselwirkung« gefasst hat. Wechselwirkung heißt, dass die »Möglichkeit, ein Seyn an sich von einem Seyn im Wechsel abzusondern, [...] geläugnet [wird]: beide sind gesetzt als Wechselglieder, und sind ausser dem Wechsel gar nicht gesetzt« (GWL, 181). H. dynamisiert diese Bestimmung, indem er sie durch die zeitliche Semantik des Erinnerns konkretisiert. Erinnern bedeutet eine Verbindung von zeitlich Verschiedenem nicht jenseits, sondern im Vorübergehen der Zeit. Es bedeutet eine relationale Synthesis. Der Sinn des Erinnerns unterscheidet sich deshalb sowohl vom Gedächtnis wie von der intellektuellen Anschauung. Das Gedächtnis ist die Vorstellung eines zeitlosen inneren Vorstellungsspeichers – die intellektuelle Anschauung die Vorstellung zeitfreier Harmonie. Beiden eignet der von H. attestierte »zeitliche Mangel«: das Gedächtnis wird ohne jene innere zeitliche Bestimmtheit gedacht, die für das Erinnern gerade zentral ist – die intellektuelle Anschauung soll jenseits von Zeit als Bedingung der Erfahrung führen. Der zeitliche Mangel des Gedächtnisses sowohl wie der der intellektuellen Anschauung bedeuten eine Reduktion dessen, was Erinnern ist: Sie reduzieren es auf eine zweistellige Logik, als gäbe es einen zeitlosen mentalen Bewusstseinsinnenraum, der dem Wechsel der Zeit nicht unterliegt. Dem gegenüber besteht der Sinn des Erinnerns gerade in einer selbst zeitlich bestimmten Verbindung von zeitlich Verschiedenem im Vorübergehen von Zeit. Fichte kommt auf diese zeitgesättigte
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Dynamik des Sinns der Erinnerung anlässlich der »productiven Einbildungskraft« zu sprechen: »Dieses fast immer verkannte Vermögen ist es, was aus steten Gegensätzen eine Einheit zusammenknüpft, – was zwischen Momente, die sich gegenseitig aufheben müssten, eintritt, und dadurch beide erhält; – es ist dasjenige, was allein Leben und Bewusstseyn, und insbesondere Bewusstseyn als eine fortlaufende Zeitreihe möglich macht« (GWL, 204/05). Weder das zeitunabhängig vorgestellte Ich noch das als Speicher von Wahrnehmungen gedachte Gedächtnis machen Bewusstsein als fortlaufende Zeitreihe möglich. Denn für beide ist Zeit etwas bloß Äußerliches, eine Abfolge von Zeitpunkten. Erinnern hingegen begründet eine Einheit des Bewusstseins nicht im Gegensatz zur Zeit, sondern gerade als Verbindung von zeitlich Verschiedenem. Auch hier zeigt sich, dass H.s poetische ZeitLogik als Konsequenz transzendentalphilosophischer Einsichten zu verstehen ist.
19.2 Gedächtnis und Erinnerung (Religion) Es ist deshalb kein Zufall, dass die Frage nach Sinn und Bedeutung des Erinnerungsvermögens ab da, wo H.s Werk eigenständige Konturen gewinnt, in dessen poetologisches Zentrum rückt. Die Identität des Selbstbewusstseins ist auf die Beziehung Entgegengesetzter angewiesen. Das ist der Grundgedanke jener relationalen Bewusstseinstheorie, die H. in unmittelbarer Reaktion auf Fichtes Wissenschaftslehre in Seyn, Urtheil, ... formuliert hat (s. Kap. 12 und 24). Im Fragment philosophischer Briefe beginnt er diesen Grundgedanken einer relationalen Bewusstseinstheorie zu konkretisieren. »Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt, aber wohl in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgiebt.« (ThSch, 10) Der Komparativ ist hier – wie in H.s anderen theoretischen Schriften – wichtig. Wenn er im Folgenden von Religion und Poesie spricht, so begreift H. deren Verhältnis zur Realität des »wirklichen Lebens« nicht als Gegensatz, sondern als komparativische Beziehung. Was ›Geist‹, was ›Gott‹ ist in der Welt – die Sphäre, die höher ist als die der Not: die Wirklichkeit der Freiheit –, ist begründet in und vermittelt mit der Realität des wirklichen Lebens selbst. Die Frage, wie sich diese Wirklichkeit der Freiheit, in der sich der Mensch über die »physische und mora-
lische Nothdurft« (ebd., 11) erhebt, erhalten kann, wird zu der Frage danach, warum wir uns »eine Idee oder ein Bild machen müssen, von ihrem Geschik, das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege« (ebd.). H. antwortet auf die Frage nach diesem höheren Geschick mit der Einsicht, »daß der Mensch auch in so fern sich über die Noth erhebt, als er sich seines Geschiks erinnern, als er für sein Leben dankbar seyn kann und mag« (ebd.). Erinnernd begreifen wir unsere Endlichkeit und transzendieren sie, indem wir auf sie zurückkommen und sie wiederholen. Dieses Zurückkommen-Können ist mit dem Dank des Erinnerns gemeint. Er schließt eine zeitliche Dimension in sich. Denn ohne (zeitliche) Differenz bedürften wir seiner nicht. Der Dank des Erinnerns setzt das Vorübergehen von Zeit nicht außer Kraft, sondern voraus. Dadurch unterscheidet sich die Wiederholung des Erinnerns sowohl vom Gedächtnis wie von den ›Gedanken‹. Die »Befriedigung«, die der Dank des Erinnerns bedeutet, kann »weder bloß in Gedanken, noch bloß im Gedächtniß wiederhohlt werden.« (ebd., 12) Gedächtnis ist die Vorstellung eines inneren Informationsspeichers unberührt von Zeit – was H. hier Gedanke nennt, sind die darauf beruhenden und der Zeit vermeintlich entrückten Verstandesbegriffe, Regeln und Gesetze. Beides sind Abstraktionen gegenüber dem wirklichen Leben. Nicht weil es ›irrational‹ wäre, sondern weil es eben dieser zeitlichen Bedingung unterliegt, »erschöpft der Gedanke [...] die unendlicheren mehr als nothwendigen Beziehungen des Lebens« nicht (vgl. ebd., 13). Mag für das Gedächtnis wie für die zeitentrückte Logik der Verstandesbegriffe zutreffen, dass sie der Sprache nicht bedürfen, so gilt dies nicht für das Erinnern. Denn von seinem ›Geschick‹ müssen wir uns, da es mit den Gegenständen, auf die es sich bezieht, nicht zusammenfällt, eine Idee oder ein Bild machen, damit es ›vor den Sinnen liegt‹. Aus diesem Grund ist es »Bedürfniß der Menschen, [...] ihre verschiedenen Vorstellungsarten vom Göttlichen [...] sich einander zuzugesellen, und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muß, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten (bzw. von Lebensweisen) begriffen ist« (ThSch, 11). Das »menschlich höhere Leben« der Erhebung über die physische und moralische Notdurft erfüllt und erhält sich erst in den Akten gelingender Verständigung. Sie entsprechen dem höheren Geschick, dem der Dank des Erinnerns gilt. Medium dieses Sich-einander-Zugesellens ist Spra-
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che. Sie ist ein ursprünglich sinnschöpferisches, d. h. poetisches Vermögen – darauf haben insbesondere Herder (s. Kap. 11) und Hamann hingewiesen. Es ist die Sprache, in der wir uns des Geschicks der Erinnerung zu entsinnen vermögen. Von dieser Sprachwirklichkeit der Erinnerung spricht H. als »Mythe«. Deren Bedürfnis ist Sinndeutung durch Erzählung. Eben dies ist das Bedürfnis der »Religion«. Das religiöse Vorstellen transponiert die Fakten der Geschichte in erzählte Geschichte. Dem liegt das poetische Vermögen der Sprache zugrunde. »So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poёtisch.« (ThSch, 15) Denn erst in der Sprache – bzw. durch Sprache – vermag sich Erinnern zu erhalten. Die Wiederholung des wirklichen Lebens ist kein Akt der Inwendigkeit. Erinnern gibt es nur in den Formen seiner Äußerung.
19.3 Erinnerung und Zeit (Geschichte) Gegen Ende von H.s erstem Aufenthalt in Bad Homburg bereitet sich die entscheidende Peripetie in seinem Werk vor. Dieser Umbruch stellt die Antwort auf die tiefgreifenden Enttäuschungen dar, die die geschichtsphilosophischen Sicherheiten und Gewissheiten, von denen die Arbeit am Empedokles getragen war, »so ziemlich erschüttert« haben (Brief an Ebel vom November 1799, MA 2, 846). Das Fragment, das mit »Das untergehende Vaterland, Natur und Menschen, insofern sie in einer besondern Wechselwirkung stehen« beginnt (vgl. DuV, in: ThSch, 33), dokumentiert diesen Umbruch. Es steht am Ende der Arbeit am Empedokles-Projekt. Dessen Zentrum bildeten in theoretischer Hinsicht die Begriffe der »höchsten Innigkeit« und der »intellectualen Anschauung« (vgl. Die tragische Ode [Grund zum Empedokles], ThSch, 80 ff.). An ihre Stelle setzt H. die Frage, wie geschichtliche Veränderung wirklich zu denken ist. Hier gewinnt die Frage nach Funktion und Bedeutung des Erinnerungsvermögens ihre zeitphilosophische Signatur. Zugleich tritt damit die Reflexion des Zusammenhangs von ›Zeit, Erinnerung und Sprache‹ in ihr entscheidendes Stadium. H. geht dabei von einer im Fragment philosophischer Briefe erreichten Einsicht aus: Der »Dank« des Erinnerns verbindet zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Er fragt nun weiter, was die Bedingungen der Möglichkeit dieser Verbindung sind. Was impliziert ›Verbindung‹, erkennt man an, dass Zeit nicht nur einen Gegenstand für das Bewusstsein (etwa als reine Form der Anschauung) bedeutet, sondern etwas
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ist, in dem Bewusstsein sich geschichtlich-real wie faktisch existierend vorfindet? Erinnern geschieht weder außerhalb der Zeit: es konserviert nicht – noch bezieht es sich (nur) auf abgeschlossene historische Dinge: es ist nicht vergangenheitsgebunden. Erinnern geschieht vielmehr im Vorübergehen des Zeitlichen – im Prozess geschichtlicher Veränderung. Was leistet der Sinn der Erinnerung und inwiefern kann durch ihn die Erfahrung geschichtlichen, d.h. sich zeitlich begreifenden Bewusstseins erklärt werden? Wenn die Erinnerung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem verbindet, dann schließt sie mit dieser Verbindung zugleich eine Differenz in sich. Davon geht H. aus. Geschichtlich-real bedeutet diese Differenz Übergang, d.h. die Auflösung einer alten ›Welt und Verbindung der Dinge‹ und die Herstellung einer neuen. Was als ›alte‹ Wechselwirkung von Natur und Menschen zu denken ist, löst sich auf, damit sich aus ihr und aus dem überbleibenden »Geschlechte und den überbleibenden Kräften der Natur, [...], eine neue, aber auch besondere Wechselwirkung, sich bilde« (DuV, 33). Was ist, wenn wir auf einen solchen Übergang bzw. solche Übergänge nicht allein als etwas historisch Abgeschlossenes zurückblicken, sondern den Übergang selbst als Geschehen begreifen? Wie ist das Übergehen, d.h. die Erfahrung wirklicher Veränderung als qualitative Wende der Zeit zu begreifen? Bei dieser Frage geht es nicht mehr nur um die Formen geschichtlichen Übergangs, auf die wir als vergangene zurückblicken können, sondern um das Vorübergehen des Gegenwärtigen. Zu beantworten ist, wie ein solches Übergehen gedacht werden kann als Wende der Zeit, die trennt und verbindet zugleich – und zwar in zeittheoretischer wie bewusstseinsphilosophischer Hinsicht. Der geschichtsphilosophische Ansatz erweitert sich damit zu einer Zeittheorie des Bewusstseins. Ihr Bezugspunkt ist die Analyse des Vermögens der Erinnerung: die Diskussion dessen, dass Erinnern als qualitative Zeiterfahrung und wie es als Bewusstsein sich wendender Zeit zu begreifen ist. Die Klärung von Funktion und Bedeutung des Erinnerungsvermögens im Zusammenhang realer geschichtlicher Veränderung ist das eine Thema von DuV. Das andere – poetologisch grundlegende – ist die Analogie zwischen diesem im Vermögen der Erinnerung gründenden Bewusstsein geschichtlicher Veränderung und der Bestimmung der Sprache. Was sich »im Untergange oder im Moment, oder genetischer im werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar[stellt]«, ist – so H.s These – »wie die Sprache, Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendi-
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gen aber besondern Ganzen, welches eben wieder in seinen Wirkungen dazu wird« (DuV, 33). Wovon H. hier als Sprache spricht, meint offenkundig weniger ein fertiges Gebilde als ein Geschehen. Sprache bedeutet einen Akt der Sprachfindung. Nur so lässt sich die Analogie zur Bestimmung realer geschichtlicher Veränderung erklären. Ebenso wenig wie sich der Übergang in seiner ›Mitte‹ erfüllt – dem »realen Nichts« (DuV, 34) der Destruktion von Realität –, sondern in die Herstellung einer neuen, aber »auch« und wieder besonderen Wechselwirkung von Natur und Menschen überschritten werden muss, kann bei jener Auflösung stehengeblieben werden, die H. »idealische« nennt (vgl. DuV, 35). Was ›zwischen‹ den Formen der Realität ist, muss analog der Notwendigkeit zur Herstellung einer neuen geschichtlichen Realität zu einer Form der Darstellung finden, soll aus dem, was als lebendiger Grund des lebendig Bestehenden gedacht werden muss – die »Unendlichkeit«, die im Übergang wirklich ist –, eine »Wirkung« resultieren. Ginge der »Zustand zwischen Sein und Nichtsein, in dem das sich Auflösende im Notwendigen begriffen ist« (vgl. DuV, 34), nicht in eine endliche Wirkung über, bestünde diese Unendlichkeit in der Auflösung als einem rein destruktiven Aufheben der Möglichkeit lebendigen Bestehens. Sie bliebe ihr bloßer Gegensatz. Nur dadurch, dass der ›Zwischenzustand‹ der Auflösung selbst aufgelöst oder überschritten wird, geht durch ihn »als Unendlichkeit die endliche Wirkung hervor[...]« (DuV, 33). Im Zusammenhang realer Auflösung ist das »der nächste Schritt, der dem Vergangenen folgen soll« (DuV, 35). Aber auch die idealische Auflösung verlangt nach einer endlichen Wirkung. Diese endliche Wirkung ist Sprache. Sie übersetzt die Realitätslosigkeit reinen Erinnerns in Formen der Äußerung. Sprache ist als Akt der Sprachfindung ›Ausdruck, Zeichen‹ und – gelingt sie – ›Darstellung‹ dieses sich selbst in ein bewahrendes Aufheben überschreitenden Auflösungsgeschehens. Die Realitätslosigkeit reinen Erinnerns – das ›Schweben der Einbildungskraft‹ (vgl. o.) – bedarf der Übersetzung in Formen der Äußerung. Erst in ihnen erhält sich Erinnern wirklich. Das heißt nicht, dass es dabei wie etwas bewusstseinsintern Gegebenes nur noch in eine äußere Form gebracht würde. Erinnern kann sich vielmehr nur in Relation zur endlichen Objektivität empirischer Zeichen, z. B. sprachlicher Formen mitteilen. Dieses Argument enthält die implizite Verknüpfung zeitphilosophischer Reflexionen mit einer Theorie des Bewusstseins. Zugleich hat es die poetologische Konsequenz, dass sich das Verhältnis von Erinnerung und
Sprache als die mehrstellige Logik von ›Zeit, Erinnerung und Sprache‹ erweist. Denn ohne die Objektivität sprachlicher Formen, die der Zeit unterliegende endliche Wirkungen bedeuten, ist es unmöglich, dass wir auf unser Erinnern selbst zurückkommen. Das »unendliche Lebensgefühl« idealischen Erinnerns entspricht gerade hier der realen Erscheinungsweise des »Alles in Allen, welches immer ist« (DuV, 33): es kann sich nur in und mittels der Zeit darstellen – es ist, indem Zeitliches vorübergeht. Zeit ist weder bloß ein Gegenstand für das Bewusstsein noch kann es ihr gegenüber einen externen Standpunkt einnehmen. Bewusstsein bedeutet vielmehr etwas, was sich in Relation zu Zeit erst bildet. H. radikalisiert diese Zeittheorie des Bewusstseins, indem er die Bestimmung der Gegenwärtigkeit dessen, was Übergang heißt, und die Notwendigkeit der Bewusstseinsfindung der Erinnerung durch Sprache von der Erfahrung des Tragischen – »des unbegreifbaren, des Unseeligen der Auflösung, und des Streites des Todes selbst« (DuV, 34) – her thematisiert. Denn hier wird in »origineller« Weise bewusst, was das »Harmonische, Begreifliche Lebendige« der Sprachwerdung der Erinnerung ist und was es impliziert (s. Kap. 17 und 25). Die entscheidende Konklusion lautet: »Im Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn wird aber überall das Mögliche real, und das wirkliche ideal, und diß ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer aber göttlicher Traum.« (DuV, 34) Was ahmt Kunst nach? – und was macht oder setzt sie durch diese Nachahmung frei? H. spricht von einem ›furchtbaren, aber göttlichen Traum‹. Damit lässt er das Pathos und den Enthusiasmos göttlicher Begeisterung hinter sich, der vom Neuplatonismus der Renaissance zur Genie-Ästhetik der frühen Neuzeit führte. Platons Phaidros-Dialog spielte hier eine wichtige Rolle. Ihm galt von früh an – (vgl. den Brief an Neuffer vom Juli 1794, MA 2, 550) – H.s Interesse. Emphatisch formulieren die Ästhetik einer Alleinheits-Begeisterung die berühmten Verse aus der Feiertagshymne (s. Kap. 32): »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,/ Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort./ [...]/ Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht,/ Und hoch vom Ae ther bis zum Abgrund nieder/ Nach vestem Geseze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,/ Fühlt neu die Begeisterung sich,/ Die Allerschaffende wieder.« (FHA Suppl. II, 61)
Mit diesem Heroismus der Begeisterung ist ein (idealistischer) Kunst- bzw. Dichtungsbegriff verbunden,
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der H. in der Krise der Epochenschwelle 1800 zugrunde geht. H. erkennt, wie fragil die Voraussetzungen gerade in bewusstseinsphilosophischer wie zeittheoretischer Hinsicht sind, von denen dieses neuplatonische Pathos der Begeisterung ausgeht. Auf Platons Phaidros, in dem vom Wahn- bzw. Wahrsinn göttlicher Begeisterung die Rede ist, der gerade auch der Dichtung zugrunde liegt (vgl. Phdr. 245a, 249d), spielt H. an: »Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern/ Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen« (FHASuppl. II, 63; vgl. Phdr. 243b: gymnē kephalē). Doch genau nach dieser, die Dichtung (zur »himmlischen Gaabe«) beinahe sakralisierenden Berufung auf den Enthusiasmos göttlicher Begeisterung erfolgt die Zäsur des Abbruchs der Hymne. H. vollzieht damit eine Selbstkritik hymnischen Sprechens (vgl. Szondi 1967). Ohne den Bezugsrahmen einer transzendenten Ordnung verliert das Hymnische seinen Sinn (s. Kap. 20). Ein Aspekt dieser Selbstkritik ist die Erkenntnis, dass eine Begründung der Rolle des Dichters von einem Standpunkt außerhalb oder jenseits der Bedingung der Endlichkeit – jener Endlichkeit, die gerade in der Dichtung zur Sprache finden soll – illusorisch ist. Sie ist illusorisch insbesondere dann, wenn es die »Erinnerung« ist, die die Notwendigkeit der Sprachfindung der Kunst begründet – wenn »schnellbetroffen« die Seele des Dichters, »Unendlichem/ Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung/ Erbebt« (FHA-Suppl. II, 62). Denn von Erinnerung zu erbeben heißt nicht allein, Zeit als Bedingung der Endlichkeit zu transzendieren. Es heißt vor allem, die eigene Endlichkeit zu begreifen. Weil Zeitliches vorübergeht, müssen wir erinnern. Unter der Bedingung dieses Vorübergehens steht Erinnern für die Notwendigkeit der Verbindung von zeitlich Verschiedenem durch uns. Genau das wird im »Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn« (DuV, 34) bewusst. Wenn H. von diesem Zustand als einem ›furchtbaren, aber göttlichen Traum‹ spricht, dann ist das auch eine Reminiszenz an Rousseaus Reveries du promeneur solitaire, inbesondere die fünfte Promenade, in der von der Dissoziation der Erfahrung von Zeit die Rede ist – einem Zustand, in dem man sich fühle »comme Dieu«. Dieser zeitentrückte Traum ist realiter objektlos: in ihm »herrscht keine Beziehungsart, und Stoffart vor«. Jede bestimmte (beschränkte) Realität ist in ihre Elemente aufgelöst (vgl. DuV, 33). Traum ist der Zustand, in dem die Elemente der Realität dissoziiert sind. Es ist ein Zustand, in dem sie zu neuer Form gebildet werden können. Insofern ist dieser Traum ›göttlich‹. Worauf er sich bezieht, ist die Bedingung
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der Möglichkeit der Erfahrung aller Realität, »das Alles in Allen, welches immer ist und aus dessen Seyn alles angesehen werden muß« (DuV, 33). Dieses ›Seyn‹ ist erinnert als das, was die Formen geschichtlicher Realität als endliche Wirkungen begreiflich werden lässt. Seine eigene Wirklichkeit besteht oder zeigt sich in den Momenten der Auflösung dieser Formen geschichtlicher Realität wie der Beschränkungen, die sie notwendig bedeuten. Denken lässt sich diese »Welt aller Welten« als schöpferischer Inbegriff dessen, wovon die Sphäre endlicher Wirkungen die Erscheinung ist. Die ›idealische Auflösung‹ entspricht dem, was mit dem »Unerschöpfte[n] und Unerschöpfliche[n] der Beziehungen und Kräfte« als Grund aller Realität zu denken ist – dem, was als »Unendlichkeit« inmitten der Zeit der endlichen Wirkungen erscheint (vgl. DuV, 33). Wird dieser ›göttliche‹ Traum der idealischen Auflösung freilich nicht mehr damit zusammengebracht, dass lebendiges Bestehen nur in der Zeit möglich ist und unter der Bedingung von Zeit alles lebendige Bestehen notwendig endlich ist, dann wird dieser Traum »furchtbar«. Seine Objektlosigkeit wie die Dissoziation der Elemente der Realität und ihrer Bedingung ›Zeit‹ kehren sich dann gegen sich selbst. Sie bedeuten die Negation der Möglichkeit lebendigen Bestehens. Gerade an dieser Furcht wird umgekehrt der Sinn der Erinnerung bewusst: er besteht in der Notwendigkeit der Verbindung des zeitlich Verschiedenen durch dessen bewahrendes Aufheben. In Beziehung auf die Erfahrung des Übergangs gewinnt die Erinnerung ihre zeit- wie geschichtsphilosophische und (daraus abgeleitet) ihre poetologische Bedeutung. In den Augenblicken der Erinnerung werden uns die selbst realitätslosen Bedingungen der Konstitution von Realität bewusst. H. spricht von der »Nothwendigkeit eines Objects im vollendetsten Zustande« (DuV, 35). ›Werden‹ ist die Wirklichkeit des Übergangs, der für H. »transcendental«, d. h. Bedingung der Möglichkeit des ›Seins‹ geschichtlicher Realität ist. ›Transzendental‹ ist dabei präzise in dem Sinn zu verstehen, dass als Bedingung der Möglichkeit etwas wirklich erst dann ist, wenn es zu der Wirkung führt, der gegenüber es als unerschöpfter Möglichkeitsgrund gedacht wird. Das »Bestehende« gewinnt »in eben dem Grade an Geist, jemehr es als entstanden aus jenem Übergange oder entstehend zu jenem Übergange gedacht wird, so daß die Auflösung [...] nicht als vernichtende Gewalt, sondern als Liebe und beedes zusammen als ein (transcendentaler) schöpferischer Act erscheint« (DuV, 36/37). Die Erinnerung – die »umgekehrterweise vom Unendlichen zum Endlichen [...],
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nachdem sie von End lichem zum Une n d l i c h e n g e g a n g e n w a r « (DuV, 36) – verknüpft das ›Transzendentale‹ des Übergangs mit dem ›Isolirten‹ der Momente geschichtlicher und bewusstseinstheoretischer Realität, die die ›Materie des Übergangs‹ bilden. Dieser (re)produktive Akt idealischer Auflösung, der Zeit als Bedingung der Werdens mit dem Gewordenen und dadurch zeitlich Bestimmbaren verbindet, liegt freier Kunstnachahmung zugrunde. Sie ist als Nachahmung von etwas zu begreifen, was sich erst durch diese Nachahmung mitteilt, d. h. sich zu erhalten vermag. Er ist das, was sie nachahmt und zur Sprache bringt. Das ist das für den Zusammenhang ›Zeit, Erinnerung, Sprache‹ entscheidende Resultat. Nur in freier Kunstnachahmung erhält das, was die Erfahrung sich wendender Zeit »eigentlich« ist (vgl. DuV, 35), eine Dauer und eine Gestalt. Der »Traum« des Zustandes zwischen Sein und Nichtsein bedarf der Übersetzung in Formen der Äußerung. Erst in ihnen vermögen wir uns des reproduktiven Aktes der Erinnerung zu entsinnen. Gelingt dies, so erweist sich die Sprache als »Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendigen aber besondern Ganzen, welches eben wieder in seinen Wirkungen dazu wird.« (DuV, 33) Notwendig sind nicht nur die »endlichen Wirkungen« in der Sphäre realer Geschichte. Notwendig ist auch, dass Erinnern selbst zur endlichen Wirkung der Sprache findet. Das Gelingen dieser Sprachwerdung ist durch keine externe Instanz garantiert. Ihm steht sogar der »ewig menschenfeindliche Naturgang« (vgl. Ant.A., 106) entgegen (Sophokles-Anmerkungen). Dies zu erkennen: darin besteht das »durchaus originelle jeder ächttragischen Sprache« (DuV, 34). Jeder Satz der Sprache freier Kunstnachahmung ist ein Satz über den Abgrund der Sprachverlorenheit bloßer Natur. Wenn der Dichter dieses Geistes der Erinnerung mächtig ist, kommt ihm alles auf ihre Sprachfindung an.
19.4 ›Eine Erinnerung haben‹ Die Diskussion der Verfahrungsweise des poetischen Geistes setzt genau an dem Punkt ein, mit dem DuV schließt. Heißt es hier, dass »auch während des Überganges Geist und Zeichen, mit anderen Worten die Materie des Überganges mit diesem und dieser mit jener (transcendentales mit isolirtem) wie beseelte Organe mit organischer Seele Eines« sind (vgl. DuV, 37), so schließt H. nun die Frage an, was daraus folgt, wenn der Dichter dieses »Geistes mächtig« ist (vgl. WdD, in: ThSch, 39). Die Verklammerung der beiden Fragmen-
te zeigt sich darüber hinaus an der Frage nach dem »Verbindungsmittel zwischen Geist und Zeichen« (vgl. WdD, 46). Ohne dieses Verbindungsmittel, das den »zeitlichen Mangel« bloßer Harmonie behebt, kann die Verfahrungsweise des poetischen Geistes »unmöglich enden« (vgl. WdD, 45, 46). Dies ist eine der wenigen Stellen, an denen H. mit der Emphase der ersten Person Singular feststellt: »ich sage, so ist nothwendig, daß der poëtische Geist bei seiner Einigkeit, und harmonischem Progreß, auch einen unendlichen Gesichtspunct sich gebe, [...] und es ist seine lezte Aufgabe, beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung zu haben« (WdD, 49). Was heißt es, ›eine Erinnerung zu haben‹ – die Betonung liegt auf ›haben‹, was mehr bedeutet, als etwas oder auch sich zu erinnern? Die Antwort auf diese Frage erklärt zugleich, wie die »poëtische Individualität« zu denken ist – der allein die »Identität der Begeisterung, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben« sei (vgl. WdD, 49). Es ist die Zeitstruktur des Sinns der Erinnerung, die erklärt, was als Identität des Bewusstseins gedacht wird – und gedacht werden muss, »wenn das Einige nicht entweder [...] als ein Ununterscheidbares sich selbst aufheben und zur leeren Unendlichkeit werden soll, oder wenn es nicht in einem Wechsel von Gegensäzen [...] seine Identität verlieren, also nichts Ganzes und Einiges mehr seyn, sondern in eine unendlichkeit isolirter Momente (gleichsam eine Atomenreihe) zerfallen soll« (WdD, 48/49). Erinnern ist ein Akt der Verbindung, der Sinn der Erinnerung ist Synthesis. Was diese Verbindung ist, kann auch nur als ein Akt der Beziehung wiedergegeben werden: nicht wie das, was in seinem zeitlichen Verschiedensein verbunden wird. Es gibt Erinnern nur, indem und insofern es objektiviert – an einem Objekt in seiner uneinholbaren Differenz zu eben diesem Objekt bewusst – wird. Nur, indem wir es von den Formen seiner Objektivierung unterschieden begreifen, begreifen wir, was Erinnern ist. Wir begreifen es aber auch nur durch diese Formen der Objektivierung (nicht inwendig: weder als den ›inneren Logos‹ einer ›res cogitans‹ noch reflexionslogisch). Es ist kein actus purus reflexiver Selbstbeziehung, sondern bedarf der Verdinglichung oder (wie H. sagen wird) der ›empirischen Individualisierung durch die Wahl eines äußeren Objekts‹. H. bringt hier Fichtes Gedanken der Wechselwirkung – Wechselwirkung bedeutet die Unmöglichkeit, »ein Seyn an sich von einem Seyn im Wechsel abzusondern« (GWL, 181) – konsequent zur Anwendung (s. Kap. 12). Bezüglich Form wie Gehalt
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der Erinnerung heißt das, dass gerade deren ›Sein‹ nicht positiv gegeben ist – auch nicht als jenes ›Sein‹ jenseits der Bedingung der Zeit, »wie das bei der intellectualen Anschauung« als »der Fall« seiend gedacht wird (vgl. H. in Seyn, Urtheil, ... , ThSch, 7). Es gibt Erinnern nur als Form und in der Form von Beziehung: ihm eignet negative Präsenz. Eine Erinnerung zu haben heißt deshalb nicht, Erinnertes gleichsam an der Bedingung von Zeit vorbei zu behalten. Erinnern erschöpft sich weder im Kopieren noch im Konservieren gegebener Daten. Eine Erinnerung zu haben heißt oder verlangt vielmehr, den Akt des Erinnerns transparent oder plastisch werden zu lassen. Dieser Akt kann nicht benannt, sondern nur dargestellt werden. Dazu ist es erforderlich, dass die negative Präsenz des Erinnerns »als ein durch eine Wahl bestimmtes, empyrischindividualirtes und karakterisirtes betrachtet« werden kann (vgl. WdD, 52). Für diese empirische Individualisierung ist ›Zeit‹ nicht nur eine äußerliche, bloß hinzukommende Begleiterscheinung, sondern wesentliche Bedingung. Es gilt, im zeitlich Verschiedenen eine Verbindung zu bewahren und zwar nicht durch den Versuch einer Stillstellung des Vorübergehens von Zeit. Eben dies, dass ein Bewusstsein sich in der Verschiedenheit seiner Akte erkennt, ist der zeitliche Sinn der Erinnerung. Die Synthesis, die sie leistet, ist eine Synthesis durch Differenz. »Entgegengeseztes und Einiges ist in ihr unzertrennlich. [...] [S]ie kann der Reflexion weder als entgegensezbares Einiges, noch als vereinbares Entgegengeseztes erscheinen, sie kann also gar nicht erscheinen, oder nur im Karakter eines positiven Nichts, eines unendlichen Stillstands« (WdD, 50). Damit ist das Moment reiner Übergängigkeit, das H. in seinem (geschichtlichen) Realitätsbezug als ›Zustand zwischen Sein und Nichtsein‹ bestimmt hat, poetologisch formuliert. In erkenntnistheoretischer Hinsicht dient ihm das Postulat, »eine Erinnerung zu haben« dazu, den »durchgängigen Widerstreit« zu lösen, in die sich (stellvertretend für jedes Bewusstsein) die Versuche einer subjekttheoretischen Begründung poetischer Individualität verstricken (vgl. WdD, 43–46). »Eine Erinnerung zu haben«, ist das Postulat, Beziehungauf-sich nicht als bloße Selbstbeziehung zu verstehen. Wo »das Einige als Wechselwirkung« in poetischer Individualität »als Eines begriffen« wird, »in diesem Acte kann und darf sie schlechterdings nicht durch sich selbst begriffen, sich selber zum Objecte werden« (WdD, 49/50). Durch sich selbst begriffen und sich selber zum Objekt wird sie in der Form theoretischer Erkenntnis. Deren Grenze ist es, dass Erinnern wie ei-
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ne mentale Innenwelt, das aber heißt wie Erinnertes gedacht wird. In einer Zwischenüberlegung treibt H. den Versuch, Identität »innerhalb der subjectiven Natur des Ich« zu denken, auf die Spitze und demonstriert in bestimmter Negation die Unmöglichkeit einer in der bloßen Selbstbeziehung eines »absoluten Ich« gründenden Identität. Die poetische Individualität wirklichen Erinnerns erschöpft sich nicht in der Selbstbeziehung bloßer Subjektivität, sondern bedarf eines Objekts, durch das sie »empyrischindividualisirtes« und selbst »zum Objecte« wird (vgl. WdD, 52). H. konkretisiert und dynamisiert den Gedanken der Wechselwirkung durch die Zeitsemantik der Erinnerung. Bedeutet die Erinnerung als Wechselwirkung die Verbindung von zeitlich Verschiedenem, dann bedarf die Reproduktion dieser Wechselwirkung einer ebenfalls zeitlichen Entsprechung. Denn ohne eine solche Entsprechung lässt sich allein bestimmen, dass Erinnern Wechselwirkung ist, es lässt sich aber nicht als Wechselwirkung mitteilen. Soll Erinnern als Wechselwirkung wiedergegeben werden, so bedingt das eine relationale Struktur, die H. »transcendentale Empfindung« nennt (vgl. WdD, 57). Von ihr unterscheidet er die »intellectuale Anschauung und ihr mythisches bildliches Subject Object« (WdD, 57) ausdrücklich. Deren »Harmonie« hat einen ›zeitlichen Mangel‹. Erst durch die sich in der Wahl eines Objekts äußerlich materialisierende Verschiedenheit des Zeitlichen wird man des »eigentlich Unendlichen, welches durch sie als eine bestimmte wirkliche Unendlichkeit, als außerhalb liegend bestimmt wird, [...] empfänglich und (größerer) Dauer fähig« (vgl. WdD, 57). Die intellektuelle Anschauung ist einer »Einseitigkeit ausgesezt« (vgl. ebd.). H. verwirft die intellektuelle Anschauung nicht. In ihr ist das Bedürfnis nach einer »Einheit mit allem, was lebt«, zu erkennen (vgl. Das lyrische dem Schein nach ..., ThSch, 70). Aber dieses Bedürfnis intellektueller Anschauung ist nur ein Moment »transcendentaler Empfindung«. Diese erschöpft sich in keiner logischen (reflexionsphilosophischen) Innenwelt. »Transcendental« ist vielmehr das Bewusstsein, dass es Erinnern als Beziehung-aufsich nur in einer wirklichen Beziehung-auf-Äußeres gibt. Es bedarf einer Entsprechung. Diese Entsprechung, der Erinnern als Wechselwirkung bedarf, ist (nicht nur aus etymologischen Gründen) Sprache. Nur in der äußeren Form der Sprache findet sich, was Erinnern ist, in einer nicht bloß gedachten Beziehung wieder. Nur »in der Äußerung kann gefunden werden«, was nicht bloß »Ideal« ist und »außerhalb der Äußerung nur in dem aus ihrer bestimmten ursprüng-
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IV Poetologie
lichen Empfindung hervorgegangenen Ideale gehofft werden kann.« (WdD, 60) Sprache als unhintergehbar zeitliches Gebilde ist die Form, in der Erinnern erscheint. Deshalb H.: »So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntniß« (WdD, 58).
19.5 Die schöpferische Reflexion der Sprache Die Erinnerung ist kein Gegenstand der Verfahrungsweise des poetischen Geistes, sondern das Verbindungsmittel, auf dem sie beruht. Aus ihm ergibt sich die Zeitlogik, daraus folgt die Verbindlichkeit poetischer Sprache. Dieser Zeitlogik von H.s Verfahrungsweise des poetischen Geistes ist einzig Hegels Konzept des spekulativen Satzes vergleichbar. – In der Phänomenologie des Geistes ist vom »Konflikt der Form eines Satzes überhaupt [...], die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs« die Rede, die »dem ähnlich [ist], der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem Akzente stattfindet. Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beider.« (PhG, 46) Rhythmus, Metrum, Akzent: das sind alles Bestimmungen, die ohne Zeit nicht denkbar sind. Hier klingen die Gespräche mit H. nach, die folgende Notiz (H.s) protokolliert: »Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muß aber dann die Inversion der Perioden selbst seyn. Die logische Stellung der Perioden [...] ist dem Dichter gewiß nur höchst selten brauchbar.« (ThSch, 17) In den Vorlesungen über die Ästhetik im Abschnitt über die »rhythmische Versifikation« analysiert und erläutert Hegel das Zeitmoment und die Zeitverhältnisse sprachlicher Darstellung. Von »Akzent und Zäsur« heißt es, dass sie das »Belebende für das rhythmische Zeitmaß« hervorbringen und dem »Taktrhythmus in der Musik parallel gehen« – vom »Wortakzent«, dass er »einen Gegenstoß gegen den Versrhythmus hervorbringen« kann (vgl. Vorlesungen über Ästhetik, 297, 299). Diese Bestimmungen zeigen, dass gerade der logische Kern spekulativer Darstellung auf Zeitrelationen beruht. Relationale Zeitlogik: das ist das tertium comparationis, in dem die spekulative Logik mit der Logik poetischer Darstellung übereinkommt. Doch ist Hegel im reifen System mit der Vorstellung vom Geist, der ›von Hause‹ aus in sich zurückgeht, hinter die eigenen Einsichten, die der Konzeption des
spekulativen Satzes zugrunde liegen, zurückgefallen. Indiz wie Voraussetzung dafür ist schon der Schluss der Phänomenologie des Geistes. Mit dem Pathos des Bindestrichs und im Anschluss an Plotin fasst Hegel das Vermögen der »Er-Innerung« auf als ein »Insichgehen, in welchem (der Geist) sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt« (vgl. PhG, 530). Sie schrumpft zum noetisch-mentalen Innenraum und fungiert, von Einbildungskraft und Phantasie getrennt, nur noch als »Schacht der Intelligenz« (vgl. Enzyklopädie (1830), § 454). Die Vorstellung vom ›Schacht der Intelligenz‹ verräumlicht die Erinnerung zum bloßen Gedankenspeicher oder Archiv des Geistes. Zugleich wird der Sprachaspekt für die Logik des Begriffs äußerlich. Mit ihm wird es auch die Zeit. H. hingegen hat an beider ursprünglicher Einsicht festgehalten: der Einsicht, dass Erinnern weder mit seinen Gegenständen zusammenfällt noch sich im erkennenden Rückbezug des Denkens erschöpft, der Zeit in sich meint tilgen zu können (vgl. Kreuzer 2008). Die Einsicht, dass die Erinnerung die Kraft ihrer selbst bewusster Endlichkeit bedeutet, markiert im Übrigen den Übergang zu einer nachidealistischen Auffassung des Bewusstseins. Für diesen Übergang gibt es ein Vorbild, dessen philosophiegeschichtlicher Ort die Epochenschwelle der Spätantike ist. Hier hat Augustinus – und das gehört zur Signatur des Endes antiker Denkhaltung – die Erinnerung als »Kraft des Lebens im sterblich lebenden Menschen« (vgl. Confessiones X, 17, 26) aufgefasst. Sie ist der Sinn für Zeit und selbst zeitlich bestimmt. Daran knüpft H. der Sache nach an. Eine Verwirklichung der Wechselwirkung von Sprache und Erinnerung ist analog dazu, dass die Zeitbestimmungen als ›transzendentales Produkt der Einbildungskraft die wahren und einzigen Bedingungen sind, den Funktionen des reinen Denkens eine Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen‹ (vgl. o.), allein in der Zeit (»empyrischindividualisirt«) möglich. Diese unhintergehbare Zeitbedingtheit ist somit kein Defekt, sondern die logische Konsequenz, mit der die poetische Verfahrungsweise aus der Selbstreflexion des Denkens folgt. Das Logische ist ein Moment der Verfahrungsweise des poetischen Geistes. Das sagt der Satz: »So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntniß.« (WdD, 58) Erst in der Form der Sprache vermögen wir uns dessen zu entsinnen, was Erinnern wirklich ist. Sie stellt die Wirklichkeit sinnvoll werdender, sich-entsinnender Erinnerung dar. Dieses Sich-Entsinnen ist kein sich schließender Kreis, kein In-sich-Gehen: in
19 Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung
der Rückkehr des Geistes in eine ›Identität‹ reiner Selbstbeziehung bleibt es unerfüllt. Erfüllt findet es sich erst in Akten der Sprachfindung, die »nicht Glük, nicht Ideal, sondern gelungenes Werk, und Schöpfung« sind, und alleine in Formen »der Äußerung gefunden werden« können (vgl. WdD, 59/60). Die Reflexion, die diesen Akten der Sprachfindung zugrunde liegt, nennt H. »belebende Kunst, wie sie zuvor vergeistigende Kunst war« (60). Sie entspricht Hegels Einsicht in der Phänomenologie, dass die dialektische Bewegung des Satzes, sofern sie bloß gedacht wird, nur eine »innerliche Hemmung« bedeutet und »ausgesprochen und sinnlich dargestellt« werden muss (vgl. PhG, 48). Die Wirklichkeit des Gesanges stellt die logische Konsequenz der Form des Begriffs dar. Sprache ist die Wirklichkeit der Erinnerungsarbeit, kein Austausch von Gedächtnisgehalten. Diese Erinnerungsarbeit entsteht und vollzieht sich, wenn uns Zeichen beredt werden. Deshalb heißt es gegen Ende von WdD, dass die schöpferische Reflexion des Künstlers darin besteht, »daß er aus seiner Welt aus der Summe seines äußern und innern Lebens, das mehr oder weniger auch das meinige ist, daß er aus dieser Welt den Stoff [nimmt, J. K.], um die Töne seines Geistes zu bezeichnen, aus seiner Stimmung das zum Grunde liegende Leben durch diß verwandte Zeichen hervorzurufen, daß er al so, in so fern er mir dieses Zeichen nennt, [...] mich ver anlaßt, diesen Stoff in das Zeichen überzutragen« (WdD, 61).
Zeichen materialisieren das Erinnerungsgeschehen – und machen es selbst erinnerungsfähig: nicht wie Erinnertes, aber am Erinnerten als die Differenz des Verstehens. Das Subjekt dieses Prozesses – das, was sich in der Darstellung mitteilt – ist kein Ich, sondern die poetische Individualität des Sinns der Erinnerung. »Das Product dieser schöpferischen Reflexion ist die Sprache.« (WdD, 61) Sie tilgt den Wechsel des Zeitlichen nicht, sondern hat ihn zur Voraussetzung und lässt ihn »ausdrücklich und sinnlich« werden. H.s Terminus technicus für diesen Anspruch wie das Verfahren der schöpferischen Reflexion der Sprache ist – ähnlich wie bei Jean Paul (Vorschule der Ästhetik, § 69) – die »poetische Prosa eines allbegränzenden Moments wohin und worinn sich negativ und eben deswegen ausdrücklich und sinnlich alle genannten Stüke beziehen und vereinigen« (WdD, 62). Zeit selbst wird zur inneren Bestimmung und zur Notwendigkeit von Sprache. Sie wird zur inneren Form der Sprache auf
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Grund der Erinnerung. Diese erhält sich (»negativ und ebendeswegen ausdrüklich und sinnlich«), indem sie zwischen dem, was benannt werden kann, sozusagen im Oszillieren der Denkbewegung sinnlich und bestimmt erscheint.
19.6 Poetische Logik Zur Erkenntnis des Zusammenhangs von ›Zeit, Erinnerung und Sprache‹ gehört, dass das Gelingen (das »Glück[en]«) der schöpferischen Reflexion der Sprache durch keine erinnerungsexterne Instanz gesichert ist. Erinnern gründet in keiner und begründet keine Welt jenseits der Zeit. Die Sprachwerdung der Erinnerung hebt das Vergehen von Zeit nicht auf, sondern lässt es plastisch werden. Das Erfordernis und die Ungesichertheit dieses Übersetzungsgeschehens werden zum Signum von H.s ›Spätwerk‹ – der reinen und immer konkreteren Transparenz einer artikulierten Logik der Erfahrung von Zeit, in der sich die Sprachfindung dessen bezeugt, was es meint, ›eine Erinnerung zu haben‹. Insbesondere in den Sophokles-Anmerkungen hat H. diesen strukturellen Zusammenhang von Erinnerung, Sprache und Zeit von seinem geschichtlich-formativen Herkommen her befragt. Die Erfüllung der Forderung, ›eine Erinnerung zu haben‹, entzieht sich jener zweistelligen Logik, die einen mentalen Bewusstseinsinnenraum dem Wechsel der Zeit gegenüberstellt. Diese Logik reduziert die Philosophie darauf, dass in ihr »Vorstellung und Empfindung und Räsonnement« voneinander isoliert behandelt werden, »so daß die Darstellung dieses Einen Vermögens ein Ganzes macht, und das blose Zusammenhängen der Glieder dieses Einen Vermögens Logik genannt wird« (Ant.A., in: ThSch, 101/02). In solcher ›Logik‹ schließt die Sukzession der verschiedenen Vermögen ihre Verbindung aus. Der Gedanke der Einheit wird dem zeitlichen Nacheinander gegenübergestellt. Die Logik dieses Gedankens besagt, dass etwas deshalb, weil es nacheinander ist, niemals auch zugleich sein kann. Damit wird die Irreversibilität objektiver Zeit auf die Modi ihrer Erfahrung übertragen. Das Faktum des Erinnerns widerlegt diese Annahme. Ihm entspricht die »poëtische Logik«, in der die Darstellung der »verschiedenen Vermögen ein Ganzes macht, und das Zusammenhängen der selbstständigeren Theile der verschiedenen Vermögen der Rhythmus, im höhern Sinne, oder das kalkulable Gesez genannt werden kann.« (Ant.A., 102) Die Opposition, die H. hier vorführt, ist die zwischen Einheit statt Verschiedenheit
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IV Poetologie
auf der einen Seite und Einheit durch Verschiedenheit auf der anderen. Einheit statt Verschiedenheit nennt er die Logik der Philosophie, Einheit durch Verschiedenheit bedeutet das kalkulable Gesetz poetischer Logik. Die Erscheinung dieses kalkulablen Gesetzes ist der Rhythmus. Er stellt die Verbindung von zeitlich Verschiedenem dar, eine Verbindung, die a) die Selbständigkeit – d. h. zeitliche Differenz – der Teile voraussetzt und b) durch Formen der Artikulation eine Erfahrung von Zeit als gegliedertes oder rationales, d. h. logisches Sinnganzes sowohl ermöglicht wie bedeutet. Spricht H. vom »Rhythmus im höhern Sinne«, dann meint er diese Gesetzlichkeit oder Logizität der Gliederung von Zeit durch Artikulation. Für Pindar wie Platon (vgl. Nomoi 656d–657a, 700a–b) war das die ursprüngliche Bedeutung von »nómos«. (Es ist der Nómos, von dem jenes berühmte Pindar-Fragment handelt, das H. in »Das Höchste« kommentiert hat, vgl. ThSch, 133/14). Eine der Stellen, an denen dieser Nómos als Begreiflichwerden von Zeit durch Artikulation angesprochen wird, ist Pindars Zwölfte Pythische Ode. Teile hat H. übersetzt (s. Kap. 27). Von der Erfindung des »pámphonon mélos« ist dort die Rede als Erfindung des »kephalān pollān nómos« (P. XII. 19–23). In H.s Übersetzung lautet diese Definition der »Kunst (téchna)« des Gesangs: »Der Flöten stiftete allstimmigen Sang,/ (Pallas Athana) [...]./ Es erfand die Göttin; aber da sie erfunden hatte/ den sterblichen Männern zur Haabe/ Nannte sie der vielen Häupter Gesez« (FHA 15, 327). Der Rhythmus des Gesangs – sein ›schwebender Sinn‹ – stellt eine Gesetzmäßigkeit dar, die durch eine in ihrem Verhältnis zur Zeit begriffene Tätigkeit entsteht und diese reproduziert. Gerade hier wird Pindar für H. zum Vorbild. Denn es ist Pindar, der den nómos als jene Relation zur Zeit (dem chrónos) begriffen hat, in der ›Harmonie‹ besteht. Diesen nómos wiederzugeben ist die Bestimmung und das Geschick der Kunst. Die Regeln dieses Geschicks sind die mechane (machanā), von der H. zu Beginn der Anmerkungen zum Oedipus (s. Kap. 25) sagt, dass es »gut seyn« wird, »wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Verfassungen abgerechnet, zur μηχανη der Alten erhebt.« (Oed.A., in: ThSch, 94) Das Geschick der Poesie gibt dem eine Wirklichkeit, was vornehmlich die – damit beginnt Pindar die Achte Pythische Ode – »freundlichgesinnte Ruhe [...] Zu rechter Zeit« wirkt (so H.s Übersetzung von »kairós«, vgl. FHA 15, 281). Die »Kunst« des Gesangs gilt den Augenblicken dieses immer von neuen, d. h. »neuesten Schönen« (vgl. Pyth. VIII. 33). Daraus folgt die Be-
stimmung poetischer Sprachfindung, die Pindar in P.VIII. 67–69 formuliert. H. übersetzt: »Mit willigem aber/ Wünsch ich mit dem Gemüthe// Nach der Harmonie zu sehen/ Jedes, worauf/ Ich komme.« (FHA 15, 289) Der Gesang beruht auf der gerade in zeitlicher Hinsicht gegenstrebigen Fügung der ›Harmonie‹ und gibt sie in Beziehung zum chrónos der »werdenden Zeit« – so H.s Übersetzung von »méllon chrónos« (Olymp. X. 7, vgl. FHA 15, 177) – wieder. ›Harmonie‹ lässt sich überhaupt nur durch eine Kunstform wiedergeben, die sich in Relation zur Objektivität der Zeit des chrónos begreift. Welcher Art »Tüchtigkeit« (aretá) auch gewährt wird, »ich weiß«, so Pindar, »daß fortschreitend die Zeit sie ihrer Bestimmung gemäß ans Ziel bringen wird«. Daraus folgert er unmittelbar, dass es die Bestimmung des ›Liedes‹ (mélos) ist, »auch dies sogleich« in lydischer Harmonie »auszuweben« (Nem. IV. 43–45). Es ist die Kunstfertigkeit des Gesangs – und sein Geschick –, dass sich in ihm die Augenblicke, in denen die Zeitbedingung des chrónos transzendiert zu sein scheinen, mit dem treffenden Wort wiedergegeben finden. Dass dieses Geschick des Gesangs nicht die zeitjenseitige ›Harmonie‹ intellektueller Anschauung bedeutet, sondern sich von der Zeit bestimmt weiß, verdeutlicht H.s Übersetzung der Schlussverse von Pindars Zwölfter Pythischer Ode: »Aber es wird seyn eine Zeit/ Eine solche, welche nachdem sie auch einen in Hofnungslosigkeit geworfen,/ Wieder Rath zum Theile geben wird, zum Theile niemals.« (FHA 15, 329) Das ist die »Erinnerung ursprünglicher Noth«, von der H. in seinem Kommentar zu Die Asyle (Pindar-Fragmente, s. Kap. 26) sagt, dass der Mensch »froh ist da, wo er sich halten kann.« (ThSch, 116) Die Modi der Erinnerung sind die »Ruhestätten«, von denen es weiter heißt, dass »an ihnen das Wirken und das Leben der Natur sich konzentrirte, und ein Ahnendes um sie, wie erinnernd, dasselbige erfähret, das sie vormals erfuhren« (vgl. ebd.). Die Zeit des Gesangs ist die Wirklichkeit dieser Ruhestätten der Erinnerung. Diese Ruhestätten bringen ein logisches Verhältnis zur Zeit als der Form des Vorübergehens veränderlicher Natur zur Sprache. ›Logisch‹ heißt, nach ›Maßen‹ (metra) bestimmbar und als zahlhafte Ordnung beschreibbar. Deshalb spricht H. vom »kalkulablen Gesez« poetischer Logik. Schon in der Zeit seiner Hauslehrertätigkeit im Hause Gontard hatte er notiert: »deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisirtes Gefühl keine Vortreflichkeit, kein Leben.« (Frankfurter Aphorismen, ThSch, 19) Was H. als poetische Logik konzipiert, ist die Darstellungs-
19 Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung
form einer sich in ihrer zeitlichen Bedingtheit begreifenden Bewusstseinslogik. Dies führt zum letzten der hier zu diskutierenden Aspekte des Zusammenhangs ›Zeit, Sprache, Erinnerung‹. Denn H. versucht, die Genealogie dieser Zeit-, Bewusstseins- und Sprachlogik an der Tragödie – paradigmatisch an Sophokles’ Oedipus und Antigonä – zu begreifen (s. Kap. 17 und 25). Die Kunstform der attischen Tragödie dokumentiert den geschichtlichen Übergang, in dem »unter Pest und Sinnesverwirrung« (Oed.A., 101) die Entgegensetzung zum »ewig menschenfeindlichen Naturgang« (Ant.A., 106) bewusst und so Bewusstsein selbst konstituiert wird. Bewusstsein als Entgegensetzung zu Natur, die Erfahrung von Zeit als Bedingung von Geschichte, Sprache schließlich als der Akt, in dem sich der »Geist« (vgl. Ant.A., 106) geschichtlichen Bewusstseins zu fassen vermag: dies sind die Daten, die Sophokles’ Tragödien dokumentieren. Soll sich dem ›ewig menschenfeindlichen Naturgang‹ entgegen die »heilige lebende Möglichkeit des Geistes« (Ant.A., 104) erhalten können, so ist es notwendig, dass die Erfahrung von Zeit als »reißende[r] Naturmacht«, die »in die exzentrische Sphäre der Todten entrückt« (vgl. Oed.A., 95/96), überschritten wird in einer Form des Bewusstseins, die ein ›Bleiben‹ ermöglicht. Am »zornigen Unmaaß [...], das zerstörungsfroh, der reißenden Zeit nur folgt« (Oed.A., 97), wird Zeit (und analog der Raum) nicht nur als Form der Anschauung und des inneren Sinns, sondern auch als Bedingung der Möglichkeit, dass Bewusstsein in der Unterscheidung von Natur sich selbst erhält, exponiert. »In der äußersten Grenze des Leidens besteht nemlich nichts mehr als die Bedingungen der Zeit oder des Raums. In dieser vergißt sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist [...].« (Oed.A., 101) Weder das reine Kontinuum des chrónos – die Irreversibilität objektiver Zeit, in der sich ›der Gott vergißt‹, weil er ›nichts ist als Zeit‹ – noch die reine Punktualisierung der Erfahrung von Zeit in diskrete, miteinander unverbundene Atome – subjektiv erfüllte Momente, in denen ›sich der Mensch vergißt‹ – kann die Identität des Bewusstseins in einem zeitlichen Sinn erklären. An diesem doppelten Vergessen wird die Notwendigkeit bewusst, im Vorübergehen des Zeitlichen und durch seine Form – jenem »Transport« des Zeitlichen, der in seiner »ungebundensten Form leer« ist (vgl. Oed.A., 95) – eine Verbindung, eine Einheit zu erhalten. Weder die »reißende Zeit des ewig menschenfeindlichen Naturgangs« noch eine andere Instanz leistet das. »Göttliche Untreue« ist deshalb »am besten zu behalten« (vgl. 101), weil uns an
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ihr die Notwendigkeit der Verbindung des Zeitlichen durch uns bewusst wird. Die Bewusstseinsleistung, die Identität im Vorübergehen von Zeit begreifen und behalten lässt, erklärt H. damit, dass die Zeit immer dann »berechenbarer« ist, wenn »das Gemüth [...] dem Wandel der Zeit mitfühlend folgt, und so den einfachen Stundengang begreift, nicht aber der Verstand von Gegenwart auf die Zukunft schließt.« (Ant.A., 105) Die wirklichen – nicht in tragischen Untergang führende – Kairoi sind die, in denen wir bemerken, was uns dem einfachen Stundengang sukzessiv folgen und im Wandel der Zeit bleiben lässt. Das sind die ›Ruhestätten der Erinnerung‹ und die Wirklichkeit der Sprache, die sie ermöglichen. Diese Ruhestätten der Erinnerung sind freilich keine unverlierbaren ›Besitzstände‹. Sie müssen immer von neuem erhalten und vergegenwärtigt werden. Das ist die geschichtspoetologische ›Tiefendimension‹ jener Logik der Zeit, die am »durchaus originelle(n) jeder ächttragischen Sprache« (vgl. DuV, 34) bewusst wird. Was Erinnerung heißt, ist nichts Anderes als ein Selbstverhältnis sich in ihrer Endlichkeit begreifender Natur. Der Sprachraum, der die Grenzen tragischer Unmittelbarkeit transzendiert und den die Ruhestätten der Erinnerung ermöglichen, ist insofern vermittelt in der Natur selbst. H. kommt darauf anlässlich des Fragments Vom Delphin (Pindar-Fragmente) zurück, wenn er vom »Gesang der Natur« und der »Witterung der Musen« spricht: »Um diese Zeit gibt jedes Wesen seinen Ton an, seine Treue, die Art, wie eines in sich zusammenhängt.« (ThSch., 113) Ton bedeutet zeitliche Erstreckung. Nur in ihr kann ›die Art, wie eines in sich zusammenhängt‹, sich äußern und Identität praktisch werden als individuelle Treue. Die »Trennung in der Natur«, dass etwas »mehr Gesang und reine Stimme ist, als Accent des Bedürfnisses oder auf der anderen Seite Sprache« (ebd.), bedarf der Zeichen, die sie hervorruft und ›empirisch individualisiert‹: gelingt dies, wird »bestehendes gut/ Gedeutet« (vgl. Patmos, 1. Fass., V. 225/26; FHA 7, 444).
19.7 Sprache und Erinnerung: Logik der Zeit Die Erinnerung ist kein Gegenstand der Verfahrungsweise des poetischen Geistes, sondern das Verbindungsmittel, auf dem sie beruht. Sie fällt weder mit ihren Gegenständen zusammen noch erschöpft sie sich im erkennenden Rückbezug des Denkens, der Zeit in der »Er-Innerung« des Geistes (PhG., 530) meint tilgen zu können. Von dieser Form reflexiver Selbst-
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IV Poetologie
beziehung unterscheidet sich die poetische Individualität der Erinnerung. Sie erschöpft sich nicht in einer mentalen Innenwelt. Was die Erinnerung zum Verbindungsmittel zwischen Geist und Zeichen werden lässt, bedarf vielmehr empirischer Formen der Objektivation. Darin gründet die Notwendigkeit freier Kunstnachahmung. Nur durch sie vermag sich die schöpferische Reflexion der Sprache zu verwirklichen. Das ›Subjekt‹ dieser schöpferischen Reflexion ist die poetische Individualität des Erinnerns. Mit ihm ist das aus den Bedingungen seiner Endlichkeit sprechende Ich allein. Es gibt keinen positiv verfügbaren Sinnhorizont, von dem her das Gelingen (das Glück) der Sprachfindung der Erinnerung abgesichert werden könnte. Das unterscheidet den der Endlichkeit gerade auch des eigenen Sprechens eingedenk bleibenden ›Gesang‹ von Formen hymnischen Sprechens (s. Kap. 20). Die schöpferische Reflexion der Sprache kann sich auf das, was sie sinnvoll werden und glücken lässt, nicht wie auf etwas Gegebenes, Erinnerungstranszendentes berufen. Durch ihre empirische Individualisierung muss sie diesen Sinnhorizont vielmehr selbst erst erzeugen. Gerade dies macht Kunstnachahmung ›frei‹. Aus dem Verbindlichkeitsschwund der Formen geglaubter oder gedachter Transzendenz folgt, dass sich die Augenblicke der Sprachfindung, die Dichtung sind, als die Bedingungen der Endlichkeit transzendierende und insofern als göttliche Akte der Sinnstiftung erweisen. Hier wird Pindar für H. zum konzeptionellen Vorbild. Denn Gesang ist die Sprache, die sich in Relation zur Objektivität der Zeit – und das Vorübergehen des Zeitlichen in sich – begreift. Gerade hier nun gilt, dass im Hinblick auf die Unumkehrbarkeit der Zeit das Ich des Gesangs mit seinem Erinnern allein ist. »Viele sind gestorben/ Feldherrn in alter Zeit/ Und schöne Frauen und Dichter/ Und in neuer/ Der Männer viel/ Ich aber bin allein«, beginnt H. seinen Entwurf Die Titanen nach der Eingangsgnome: »Nicht ist es aber/ Die Zeit. Noch sind sie/ Unangebunden.« (FHA Suppl. III, 54) Nur in der Sprache gelingt es dem Ich, das mit seinem Erinnern allein ist, der Tendenz zum Ungebundenen entgegen – »Und immer/ Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht« (vgl. Reif sind ..., FHA Suppl. III, 116) – ›eine Erinnerung zu haben‹. Sprache ist die Form der Selbstbesinnung der zeitlichen Natur der Geschichte. Deshalb H. in Die Titanen (s. Kap. 34) »Denn manches von ihnen ist/ In treuen Schriften überblieben und manches/ In des Raumes Grenzen in Gestalten der Zeit./ Viel offenbaret der Gott.« (FHA Suppl. III, 55) Die schöpferische Reflexion der Sprache bedeutet die Entsprechung der zeitli-
chen Natur der Geschichte. Sprache als Entsprechung zu begreifen heißt, dass sie kein Produkt des Bewusstseins ist, sondern ein Prozess, in dem sich Bewusstsein gerade in zeitlicher Hinsicht selbst vorfindet. Sie entspricht dem lebendigen Grund dieses Prozesses: »Und es wurzelt vielesbereitend heilige Wildniß« (FHA Suppl. III, 55). An der Ambiguität dieser »Wildniß« – »Heiß ist der Reichtum. Denn es fehlet/ An Gesang, der löset den Geist« (ebd.) – lässt sich begreifen, wie notwendig die »heilige lebende Möglichkeit des Geistes« ist (Ant.A., 104). Es ist der Geist der Sprache, der die Ruhestätten der Erinnerung möglich und selbst erinnerungsfähig macht. Die Realisierung dieser Möglichkeit ist freilich durch nichts garantiert. H. scheint ihre Gefährdung immer tiefer empfunden zu haben. So heißt es eingangs von Das Nächste Beste: »offen die Fenster des Himmels/ Und freigelassen der Nachtgeist/ Der himmelstürmende, der hat unser Land/ Beschwäzet, mit Sprachen viel, unbändigen, und/ Den Schutt gewälzet/ Bis diese Stunde.« Es sind die »undichtrischen/ unfriedlichen/ unbündigen« und schließlich »unbändigen Sprachen« (FHA Suppl. III, 99), die sich an die Stelle des um die Zeit seiner Endlichkeit wissenden Erinnerns setzen. Gäbe es nur sie, bliebe nur die »manchen Gesang [...] weggezehret« habende »Schwermuth« (FHA Suppl. III, 90). Aber es gibt nicht nur diesen »Nachtgeist«, der die versteinerten Verhältnisse der Gegenwart durch Selbstaffirmation (»beschwäzet, mit Sprachen viel«) zur »bleiernen Zeit« (vgl. Der Gang aufs Land, FHA 6, 286; Elegien s. Kap. 30) werden lässt. Der die Endlichkeit seiner Gegenstände begreifende Sinn des Erinnerns schließt auch ein Wissen um die Veränderungsfähigkeit eben solcher versteinerter Gegenwarten ein. »Wildniß« markiert in diesem Sinn das »Unerschöpfte und Unerschöpfliche« (vgl. DuV, 33) des in die Zukunft hinein offenen Selbstverhältnisses der Wechselwirkung von Natur und Menschen, deren Form sich als Geschichte zeigt. Auf den S. 65/66 des Homburger Foliohefts ist im Zusammenhang der Menschwerdung des Göttlichen (»und wenn in heiliger Nacht/ Der Zukunft einer gedenkt«) von den »keimenden Tagen« die Rede. Auf einem beigefügten Doppelblatt lauten die Anfänge der Strophen, die H. ergänzt: »Zu lange dauert die Dürre// Nichts ists das Böse.// Vor allem, daß man schone/ Der Wildniß göttlichgebaut« (vgl. StA 2.1, An die Madonna, 213/14; MA 1, 410/11; FHA 7, 386). ›Wildnis‹ bedeutet nicht nur die Gefahr des Rückfalls ins Amorphe und die Sprachverlorenheit bloßer Natur. ›Wildnis‹ steht auch für den offenen Zeithorizont möglicher Zukunft, d. h.
19 Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung
die Erinnerung des Lebendigen und das Wissen um die Veränderbarkeit einer zur Fremde gewordenen ›bleiernen‹ Gegenwart. Es ist die Erinnerung der Veränderungsfähigkeit, die zum Grund qualitativer Zeiterfahrung wird. Deshalb heißt es in der späten Überarbeitung von Brod und Wein (s. Kap. 30): »Herrliches Zeichen auch singen, bei Tag und bei Nacht,/ (Neues geschieht) Witterungen. So komm! daß wir das Offene schauen,/ Daß ein Lebendiges wir suchen, so weit es auch ist.« (FHA Suppl. III, 32; 6, 259) Die Methode dieses Suchens ist die poetische Prosa der Sprachwirklichkeit des Gesangs. In ihr teilt sich die Zeitlogik der Dichtung mit. Literatur Texte H.s
J. Ch. Fr. Hölderlin. Theoretische Schriften. Mit einer Ein leitung und Anmerkungen hg. v. Johann Kreuzer, 2., überarb. u. erg. Aufl., Hamburg 2020 [ThSch]. – Darin: Anmer kungen zur Antigonä [Ant.A.], Das untergehende Vaterland ... (Werden im Vergehen) [DuV], Anmerkungen zum Oedipus [Oed.A.], Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist (Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes) [WdD].
weitere Quellentexte
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Johann Kreuzer
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20 Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge? Ob H.s »lyrische größere Gedichte« (StA 6, 435), die er dem Verleger Wilmans ankündigt und zu denen mindestens Friedensfeier, wahrscheinlich aber die vollendeten und die Fragment gebliebenen von Der Mutter Erde an zu zählen sind, als »Hymnen« wie bei vielen Forschern, als »Vaterländische Gesänge« (StA) oder »Gesänge« (FHA) zu bezeichnen sind, ist eine Frage, die man sich erst in jüngster Zeit stellt, nachdem Hellingrath die Bezeichnung »Hymnen« eingeführt und kanonisiert hatte (s. Kap. 1 und 37). Noch die Jahrestagung der H.-Gesellschaft zum Thema »Hymne« im Jahr 2000 meinte wie selbstverständlich die späten Dichtungen zusammen mit den Tübinger Hymnen, und ein Kolloquium »H.s späte Hymnik« befasste sich ausschließlich mit ihnen. Hymnen im Sinne der Gattungsbezeichnung waren für H. in Tübingen sinnvoll, wo es ihm um die Vertiefung der Hymnen der Französischen Revolution ging (Frühe Hymnen); sie waren als Hexameterhymnen in der Nachfolge Stolbergs Mitte der neunziger Jahre für ihn sinnvoll, weil H. die begeisternde Kraft aus der Natur feiern konnte; Hymnen im Sinne der Gattung sind ihm freilich nach 1800 nicht mehr möglich (vgl. Gaier, 2000/01). »Hymne« ist nämlich seit dem antiken hymnos das Kultlied eines Gottes oder Heros und ist es durch die Geschichte hindurch geblieben. Ein Blick nach Frankreich oder England macht deutlich, dass der Gattungsbegriff hymne, hymn für das Gemeindelied im kirchlichen Ritus verwendet wurde, das Gleiche gilt am Ende des 18. Jahrhunderts auch für Deutschland. Säkularisation des Hymnus-Begriffs setzte im Gebrauch der Deisten und der Freimaurer ein, die statt an den kirchlich verehrten Gott des Christentums Hymnen an die Personifikationen der Freundschaft, der Liebe, der Gerechtigkeit, der Tugend, Beständigkeit, Zufriedenheit, Ordnung sangen und von bedeutenden Komponisten wie z. B. Mozart vertonen ließen. Melodien, Themen, oft sogar Texte gingen in die französischen Revolutionshymnen bruchlos über, weil deren Komponisten und Texter meist aus maurerischen Kreisen kamen. Hier wird der Gattungsname Hymne gebraucht, weil man in der Tat diese Vernunftideen zu göttlichen Wesen erhob und bei den Revolutionsfesten feierte. In diesem Sinne dichtete H. seine sogenannten Tübinger Hymnen an die Unsterblichkeit, Menschheit, Schönheit, Freiheit und so weiter. Dies sind die Dichtungen, denen er den Gattungsnamen Hymne gab, sicher in Anlehnung an
die säkularisierte Religiosität der französischen Revolutionshymnen. Der Gattungsname bleibt mit den personifizierten Vernunftbegriffen und ad hoc erfundenen Göttinnen weg, als H. sich von der terreur der nachrevolutionären Jahre abwendet. Für die nach 1800 geschriebenen Dichtungen hat H. den Gattungsnamen Hymne nie verwendet; er spricht im Brief vom Dezember 1803 an den Verleger Wilmans von »Nachtgesängen«, die er durchsehe, setzt den müden Flug der Liebeslieder, über die man mit Ausnahme des Messias von Klopstock und »einiger Oden« nicht hinausgekommen sei, gegen »das hohe und reine Frohloken vaterländischer Gesänge« (StA 6, 436). Aus dieser Stelle geht nicht einmal eindeutig hervor, ob er die späten großen Dichtungen wie Patmos oder Friedensfeier selbst als »vaterländische Gesänge« bezeichnet und ihnen dieses »hohe und reine Frohloken« zugeschrieben hätte (es ist deshalb zu fragen, ob die StA mit ihrem Terminus »Die Vaterländischen Gesänge« die H. gemäße Bezeichnung wählt; eher in seinem Sinn betitelt die FHA die entsprechenden Bände mit »Gesänge«). Man kann mit guten Argumenten dafür plädieren, dass es sich dabei um Vorbereitung des Gesangs handelt, der zwar auch hin und wieder als Gesang bezeichnet wird, aber allenfalls Vorspiel, Antizipation und noch nicht Vollzug des Chorgesangs einer Gemeinde ist. Man muss hier genau sein, nicht wegen des Begriffs »Gesang«, der ja auch nur eine Übersetzung des griechischen hymnos sein könnte, sondern weil H., hätte er in seinem und damit auch seiner Zeitgenossen Sinne »das hohe und reine Frohloken vaterländischer Gesänge« leisten können, wohl nicht zerbrochen wäre. Denn darum geht es: was ist Hymne, was Hymnik oder hymnisches Sprechen, wie weit ist es ihm nach 1800 noch möglich?
20.1 Hymne und hymnisches Sprechen Hymne: das ist ein Kultlied, das einen Gott, einen Heros, wenigstens eine zur Gottheit erhobene Personifikation als Adressaten voraussetzt. Ferner gehört dazu eine Gemeinde, für die das angesungene Numen ein Gegenstand des Glaubens und der kultischen Verehrung ist. Das Kultlied wird von dieser Gemeinde im Chor, von einem Vorsänger im Wechsel mit der Gemeinde, allenfalls von einem Vorsänger stellvertretend für sie gesungen. Drei Sprechakte konstituieren seit alters die Hymne: Anrufung, Rühmung, Bitte oder Gelübde. In der Anrufung wird die Verbindung zu dem geglaubten Numen hergestellt, seine Aufmerk-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_20
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samkeit geweckt, seine Präsenz erwünscht. In der Rühmung werden die Wesenseigenschaften des Numens, seine Taten, Macht und Heiligkeit mythisch erzählend in Erinnerung gebracht, immer diejenigen mit Vorrang, die zum gegebenen Anlass der kultischen Handlung passen. Diese Struktur bleibt auch noch gewahrt, wenn im 18. Jahrhundert die englischen Deisten nach Paul Frys Beobachtung »wegen des völligen Mangels an anerkannten, hymnisch autorisierten Welten gezwungen waren, ständig ihre Odengegenstände aus dem Nichts zu schöpfen.« (Fry 1980, 130 f.) William Collins zum Beispiel schrieb odes, d. h. in England nicht-kirchliche Hymnen, Ode to Evening, Ode to Simplicity, Ode to Pity, Ode on Poetical Character, wobei er immer nach der Anrufung »einen genealogischen Mythos folgen lässt, der in einen erzählenden Überblick über den Beitrag der angerufenen Macht zur Geschichte übergeht. Das führt zur Versicherung, die angerufene Macht werde gerade jetzt im lyrischen Ich und in England gebraucht, und daraus folgt naturgemäß Bitte und abschließendes Gelübde.« (ebd., 98) Diese dreigliedrige Struktur, natürliche Folge der Sprechakte religiöser Verehrung, erscheint auch in vielen Gedichten H.s, ohne dass man, wie das einige getan haben, gleich auf den Einfluss Pindars schließen müsste, der ja z. B. bei den Tübinger Hymnen (s. Kap. 28) noch nicht anzunehmen ist. Das eigentliche Problem aber zeigt sich in der zitierten Feststellung, dass den Dichtern anerkannte, hymnisch autorisierte Welten fehlten und dass sie ständig gezwungen waren, »ihre Odengegenstände aus dem Nichts zu schöpfen«. Warum schreiben die Dichter dann überhaupt ihre hymnischen Oden, wenn sie keine Gottheit mehr haben, die sie ansingen können, und keine Gemeinde mehr, die ihnen ihre aus dem Nichts geschöpfte Gottheit glaubt? Was für einen Sinn hat eine Hymne ohne Adressat und ohne Kultgemeinde? In der letzten Strophe der Elegie Heimkunft beschreibt H. das Problem: »Wenn wir seegnen das Mahl, wen darf ich nennen und wenn wir/ Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring’ ich den Dank?/ Nenn’ ich den Hohen dabei? Un schikliches liebet ein Gott nicht,/ Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein./ Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen,/ Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?« (StA 2, 99)
Den Sprechakten des Hymnischen ist also der gewohnte Inhalt abhandengekommen, dem Anruf der Name, der Rühmung der Mythos der Taten und der
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Macht des Genannten, der Bitte oder dem Gelübde die angemessene Form. Dennoch gibt es ihn noch, den Hohen, das ist die Antwort auf den Zweifel am Sinn des hymnischen Sprechens; die Störung in dem Verhältnis liegt offensichtlich bei den Menschen und speziell dem sie vertretenden Dichter, der sich über den Namen und die Art der Anrede und des Danks unsicher ist und den unbekannten Gott nicht mit Unschicklichem brüskieren darf. Zwei Gründe nennt der Sprecher für die Störung: »Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein« –, d. h. die Begeisterungsfähigkeit der Menschen für den Gott und seine Epiphanie ist zu schwach. Oder: »Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen,/ Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?« Die schlagenden Herzen beweisen die Ergriffenheit und Freude, aber es fehlt der Name und die rühmende Rede. Kälte oder Sprachlosigkeit bei den Menschen sind also die Gründe für die Störung; das sind ohne Zweifel Folgen der Säkularisation einerseits, die den Sinn für das Unendliche (mit Schleiermacher zu reden) geschwächt und die Fähigkeit zu staunen in der rational erklärten Welt verkümmert haben, und Folgen der Entmythologisierung andererseits, die den Himmel und die Hölle von Personen und Geschichten leergefegt hat. H. schließt die Elegie: »Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele/ Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.« (StA 2, 99) Es ist der Dichter, auf dem die Verantwortung lastet, »aber die anderen nicht«, also nicht wie früher die Theologen und Priester und nicht die Mitglieder der Gemeinde, die ja ebenfalls nicht mehr lebendig ist und allenfalls in einem sonntäglichen Kirchgang gewohnheitsmäßig weiterlebt. Denn der Dichter stellt an den Bezug zum Heiligen ganz andere Ansprüche: »O säumt nicht,/ Kommt, Erhaltenden ihr! Engel des Jahres! Und ihr,/ Engel des Haußes, kommt! in die Adern alle des Lebens,/ Alle freuend zugleich, theile das Himmlische sich!/ Adle! verjünge! damit nichts Menschlichgutes, damit nicht/ Eine Stunde des Tags ohne die Frohen und auch/ Solche Freude, wie jezt, wenn Liebende wieder sich finden,/ Wie es gehört für sie, schiklich geheiliget sei.« (StA 2, 99)
Die erkalteten Adern des Lebens sollen durchglüht und durch das Himmlische überall veredelt und verjüngt werden, damit die Momente der Humanität oder der Vereinigung des Getrennten, ja nicht einmal die beliebigen Stunden des Tags ohne Heiligung sind. Es geht also um eine alldurchdringende Religiosität,
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für die der Dichter verantwortlich ist. Aber wie besprochen, es fehlen heilige Namen und eine Sprache, die den Menschen vermittelt, ihnen ankündigt, was sein könnte und wie es wäre, wenn dieses Verhältnis bestünde. Engel des Jahres und Engel des Hauses ruft er an, das sind Boten, angeloi, die das Heilige in der Zeit und Geschichte einerseits, im Haus, also dem bewohnten irdischen Raum andererseits verkünden und fühlbar machen. Auch diese Engel sind nicht da: »O säumt nicht!« ruft er sie; auf die Präsenz der Gottheit selbst ist keine unmittelbare Hoffnung möglich. Wozu, könnte man fragen, bedarf es denn einer solchen Religiosität und Heiligung des Lebens, wenn offenbar weder die Menschen noch der Dichter noch die Himmlischen, wenn es sie denn gibt, dazu bereit und fähig sind? Hier antwortet H. im Archipelagus: »Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Or kus,/ Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben/ Sind sie geschmiedet allein, und sich in der to senden Werkstatt/ Höret jeglicher nur und viel arbei ten die Wilden/ Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch im mer und immer/ Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.« (StA 2, 110)
Die Individuation, die Monadisierung der Existenz hatte im Lauf des 18. Jahrhunderts tendenziell alles aufgelöst, in Frage gestellt, allenfalls in tote äußere Schale verwandelt, was bis dahin lebendige Bindung unter den Menschen hergestellt hatte: die Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft erstarrte, wie Lessing erfahren musste, zu einer verholzten Orthodoxie oder wich einer rücksichtslosen Freigeisterei; der absolutistische Staat wurde tendenziell durch die aufgeklärte Monarchie in Frage gestellt, die die Entscheidungen des Fürsten vor dem Forum der Vernunft kritisierbar machte, oder er wurde in der Französischen Revolution gestürzt und der König hingerichtet; das Wirtschaften des Einzelnen war immer weniger durch die Zünfte geregelt, sondern geschah auf eigene Initiative und eigenes Risiko. »Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerriß ner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesezte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, in
dessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?« (StA 3, 153)
So schrieb H. im berühmten Scheltbrief des Hyperion; die Klage geht einerseits gegen die Monadisierung und Teiligkeit der Existenz, andererseits gegen den Verlust des Menschseins unter der hektischen Betriebsamkeit des funktionalisierten Daseins, das der Maßgabe einer sich selbst instrumentalisierenden Vernunft unterworfen wird. Auch die Tugenden der Deutschen seien nur »Nothwerk [...], aus feiger Angst, mit Sclavenmühe, dem wüsten Herzen abgedrungen« (ebd., 154), d. h. auch die Aspekte des Lebens, die auf die gesellschaftliche Gleichheit und Gesetzlichkeit zielen, sind Zwangseinrichtungen, die nicht aus Überzeugung und geselliger Neigung kommen, sondern als Notverordnungen das Nebeneinanderexistieren zu sichern haben. Der große Widerspruch des 18. Jahrhunderts zwischen Individualität und Allgemeinheit, Selbstverwirklichung und Gesetzestreue, liberté und égalité tut sich hier auf, und die fraternité, die Freundschaft, Liebe, Menschlichkeit gehen zwischen diesen entgegengesetzten Tendenzen verloren. Die heilige Einheit, Ursprung und Ziel des Einzelnen wie des Allgemeinen, der Allzusammenhang, der versöhnende Geist, das Alllebendige und Allbelebende, »Die seelige Einheit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts« (StA 3, 236) verschwinden als Eines und Einigendes zwischen diesen Gegensätzen, ja: »Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unend lichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Worts, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu ver einigen, wir dächten und wir handelten nicht, es wäre überhaupt gar nichts, (für uns) wir wären selbst nichts, (für uns) wenn nicht dennoch jene unendliche Vereini gung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhan den wäre. Es ist vorhanden – als Schönheit; es wartet, um mit Hyperion zu reden, ein neues Reich auf uns, wo die Schönheit Königin ist.« (StA 3, 236 f.)
Hier ist die Antwort auf die Frage, wozu es denn überhaupt einer Religiosität und Heiligung des Lebens bedürfe: heilig ist das Leben selbst als Bedingung der Existenz und des Selbstbewusstseins, des Denkens und Handelns. Wer nicht aus dieser heiligen Erfahrung heraus lebt, versetzt sich selbst in physischen und moralischen Notzwang. H. hat den Zusammenhang zwischen Sein, Bewusstsein und Schönheit, der eben zitiert wurde, 1795 in der Metrischen Fassung des Hyperion erstmals for-
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muliert (StA 3, 193). 1797 blieb er nicht mehr bei dem wohl auf gemeinsamer Diskussion mit Schiller beruhenden ästhetischen Staat oder Reich der Schönheit stehen, sondern setzte in vertiefter religionsphilosophischer Reflexion bei dem Problem der momentanen epiphanischen Erfahrung des Allzusammenhangs und des Mythos als der erinnernden Vorstellung dieses momenthaften Aufgehobenseins im unendlichen Sein an. Er formuliert diese Gedanken in einer Stellungnahme zu dem von Hegel aufgeschriebenen sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, wo die Forderung nach neuer Mythologie als einer didaktischen Vermittlung zwischen den Vernunftbegriffen der Philosophen und der Lebenswelt des Volks aufgestellt wurde. H. dagegen argumentiert im Fragment philosophischer Briefe/Über Religion folgendermaßen: Der Mensch kann in seiner durch den physischen mechanischen kausalen Zusammenhang und durch den intellektuellen moralischen rechtlichen Zusammenhang bestimmten Lebenssphäre die Erfahrung eines höheren, unendlicheren, mehr als mechanischen und mehr als rechtlichen Zusammenhangs machen. Dieser höhere Zusammenhang, einmal erfahren, sei den Menschen »ihr heiligstes [...], weil sie in ihm sich selbst und ihre Welt, und alles, was sie haben und [sind], vereiniget fühlen«; die Frage ist nun, »warum sie sich den Zusammenhang zwischen sich und ihrer Welt gerade vorstellen, warum sie sich eine Idee oder ein Bild machen müssen, von ihrem Geschik, das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege«, d. h. weder der intellektuellen noch der sinnenhaft historischen Seite ihrer Lebenssphäre angehört. Während den Menschen diese Epiphanie in seinem wirklichen Leben überrascht, erschreckt und zugleich unendlich beglückt, kann er sie als Bild in seinem geistigen Leben wiederholen, um sich daran zu erinnern, dafür zu danken und den höheren Zusammenhang darin durchgängiger zu empfinden. Ersehnte Empfindung, Erinnerung und Dank entsprechen den drei Sprechakten der Hymne, Anrufung, Rühmung und Gelübde oder Bitte. In der Tat wird hier das religiöse Verhältnis begründet, die religiösen Vorstellungen werden als Komplemente der wirklichen Erfahrung im geistigen Leben erläutert, durch die der Mensch sich ebenfalls über die »Nothdurft« erheben kann, nun aber über die Zwänge des Denkens in kausalen Beziehungen und gesetzlichen Vorschriften, d. h. über die »physische und moralische Nothdurft« (vgl. StA 3, 275). Denn die Vorstellungen, die der durch die Epiphanie betroffene Mensch sich über dieses Erlebnis macht, speisen sich
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nach H.s kulturhistorischer Einsicht aus dem Lebenskreis des betroffenen Menschen, der sich im Augenblick der Epiphanie durch den höheren Zusammenhang, unter dem alles erschien, von Grund auf gewandelt hatte: das Physische und das Moralische, die Kausalität und die Freiheit waren momentan eins gewesen, die Materie vergeistigt und der Geist verkörpert; deshalb lässt sich auch der höhere Zusammenhang der Sphäre weder recht denken noch liegt er vor den Sinnen, sondern muss in Idee oder Bild vorgestellt werden. In H.s Formulierung: »daß die religiösen Verhältnisse in ihrer Vorstellung weder intellectuell noch historisch, sondern intellectuell historisch, d. h. Mythisch sind, sowohl was ihren Stoff, als was ihren Vortrag betrifft.« (StA 4, 280) Und die Folgerung lautet: »So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poëtisch.« (StA 4, 281) Umgekehrt heißt das für die ernsthafte Poesie, dass sie religiöse Verhältnisse zu gestalten hat und dass der Dichter berufen ist, Menschen über gemeinschaftliche religiöse Verhältnisse zu vereinigen. Denn dadurch, dass die Epiphanie als höherer Zusammenhang der individuellen Lebenssphäre erfahren wird, entstehen die religiösen Vorstellungen zunächst im privaten Bereich und bilden die Gefahr, dass die Monadisierung sich nun in die Ideen, Bilder und Mythen religiöser Verhältnisse hinein fortsetzt. Und hier kommt der Gedankengang, der H.s Spätwerk von dieser Seite her erschließt: »Und jeder hätte demnach seinen eigenen Gott, in so ferne jeder seine eigene Sphäre hat, in der er wirkt und die er erfährt, und nur in so ferne mehrere Menschen eine gemeinschaftliche Sphäre haben, in der sie menschlich, d. h. über die Nothdurft erhaben wirken und leiden, nur in so ferne haben sie eine gemein schaftliche Gottheit; und wenn es eine Sphäre giebt, in der alle zugleich leben, und mit der sie in mehr als nothdürftiger Beziehung sich fühlen, dann, aber auch nur in so ferne, haben sie alle eine gemeinschaftliche Gottheit.« (StA 4, 278)
Menschen, die in der Aufklärungsepoche gelernt haben, in der tosenden Werkstatt tendenziell nur sich selbst zu hören, haben kein Sensorium für eine gemeinschaftliche Sphäre, »in der sie menschlich, d. h. über die Nothdurft erhaben wirken und leiden«, und sie entwickeln aus ihrer Privatsphäre heraus keine Bildvorstellung und Sprache für die gemeinschaftliche Gottheit. Hier liegt die Aufgabe des Dichters. Er mag wie in dem Gedicht für den Freund Landauer (Das Ahnenbild) die Privatreligion, den »eigenen Gott« ei-
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nes Menschen formulieren und feiern – das ist die individuell bezogene Rede und Mythologie der Oden –; auf mehrere Personen und den Abgleich ihrer Vorstellungen in einer gemeinschaftlichen Sphäre etwa zwischen H. und Siegfried Schmid oder Wilhelm Heinse oder den Verwandten zielen die Elegien, und die späten Gesänge beziehen sich auf die »Sphäre [...], in der alle zugleich leben, und mit der sie in mehr als nothdürftiger Beziehung sich fühlen«, und suchen die »gemeinschaftliche Gottheit« zu fassen.
20.2 Gesänge als Vorspiel Diesen Versuchen wenden wir uns jetzt zu. Dem Verleger Wilmans kündigt H. am 8. Dezember 1803 an. »Einzelne lyrische größere Gedichte 3 oder 4 Bogen, so daß jedes besonders gedrukt wird weil der Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit, will ich Ihnen auch noch diesen Winter zuschiken.« (StA 6, 435) Man kann vermuten, dass z. B. Friedensfeier dem Verleger vorgelegen hat. Wichtig ist an der Ankündigung, dass H. keine Gattungsbezeichnung wählt, sondern nur »lyrische größere Gedichte« avisiert, und die Themenrichtungen, als entweder unmittelbar das Vaterland angehend oder die Zeit, benennt. In der Tat, betrachtet man die Titel der Gesänge, von denen vollendete Fassungen vorliegen, so erkennt man: vier erschließen den vaterländischen Raum und setzen ihn in Bezug zu anderen Kulturräumen, drei erschließen die »poëtische Ansicht der Geschichte« (StA 6, 437), von der H. am 12. März 1804 an Seckendorf schrieb (s. Kap. 16). Die Wanderung fingiert eine Reise des Dichters nach Ionien, ins »Land des Homer«, um die Grazien nach Suevien, der schwer zugänglichen Mutter, einzuladen; diese Wanderung wiederholt eine Siedlungswanderung deutscher Vorfahren ans Schwarze Meer, die kulturelle Verschwisterung mit dem dort lebenden Volk und die Begründung der griechisch-ionischen Kultur. Der Rhein handelt von dem Fluss, der die vaterländische Kultur stiftet, und von der Funktion der Halbgötter und Menschen als Zwischeninstanzen zwischen Himmel und Erde. Germanien betrifft das Vaterland, in dem sich nach dem »Vorspiel rauherer Zeit« die Götter niederlassen werden und das »auserwählt« ist, eine führende Rolle in der Erneuerung der abendländischen Kultur einzunehmen. Andenken lebt nicht aus der räumlichen Beziehung von Suevia nach Griechenland und dem Orient, sondern legt mit dem Nordwestwind von der Heimat nach Bordeaux
und weiter nach Amerika eine den »Gang Gottes über die Nationen« (s. Kap. 11) von Ost nach West fortsetzende Achse fest. An diese raumerschließenden, die »poëtische Ansicht« der Erde unmittelbar entfaltenden Dichtungen schließen sich die Fragment gebliebenen Der Mutter Erde, Am Quell der Donau, Der Ister und andere problemlos an: es sind im Sinne der Mythos-Theorie des Fragments philosophischer Briefe/ Über Religion mythopoetische Erschließungen der Lebenssphäre der in Suevia, dem alten Herzogtum Schwaben, und darüber hinaus in Deutschland lebenden Menschen. Besonders interessant ist hier Das Nächste Beste, wo es ganz im Sinne der »Lesung« des Lebensraums heißt: »Abendlich wohlgeschmiedet/ Vom Oberlande biegt sich das Gebirg, wo auf hoher Wiese/ die Wälder sind wohl an/ Der bairischen Ebne. Nemlich Gebirg/ Geht weit und streket, hinter Amberg sich und/ Fränkischen Hügeln. Berühmt ist dieses. Umsonst nicht hat/ Seit wärts gebogen Einer von Bergen der Jugend/ Das Gebirg, und gerichtet das Gebirg/ Heimatlich.« (StA 2, 238)
In dieser Dichtung sollte an den Staren, die, wenn der Nordost weht und »Die Luft sich bahnt«, aus der Charente »Ek um Eke« immer »sich genau an das Nächste« haltend nach Deutschland zurückfliegen, der ornithologische Nachweis des sinnvollen Baus des irdischen Lebensraums geführt werden: »Menschlich ist/ Das Erkentniß. Aber die Himmlischen/ Auch haben solches mit sich, und des Morgens beobachten/ Die Stunden und des Abends die Vögel.« (StA 2, 238) Die »poëtische Ansicht« der Erde ist also nicht etwa fiktiv, sondern schafft im Sinne der poiesis das Werk des »Einen« nach. Dasselbe unternimmt H. mit der Zeit – der Inhalt seiner größeren lyrischen Gedichte soll ja »das Vaterland angehn oder die Zeit«. Friedensfeier bezieht sich auf den, wie er hofft, ganz Europa befriedenden Vertrag von Lunéville 1801. Der Einzige befasst sich mit der »Rüstung«, der Natur, Handlungsweise und dem Schicksal von Halbgöttern, die die Kulturentwicklung eines Volks steuern und sich dabei auf die Natur dieses Volks einstellen müssen; Christus wird mit Herakles und Dionysos in Vergleich gestellt. Patmos thematisiert die Lesbarkeit der Welt, die Sprachen des Himmels von dem Spalt in »Des Feldes Fläche« auf Patmos (StA 2, 167) über die lebendigen grünen Bilder an den Bergen (ebd., 168), die Söhne des himmlischen Vaters und ihr Schicksal, insbesondere Chris-
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tus, bis hin zur Heiligen Schrift, von der Johannes auf Patmos die Offenbarung schreibt; im gleichen Sinne oder Gegenzug wird gefragt, wie diese Sprachen des Himmels in der Raumgestalt der Welt, in der Geschichte, in der Schrift treulich und sinngemäß gelesen werden können. Mnemosyne sollte die Funktion der Erinnerung in Zeiten der Wende und Verjüngung der Kultur vor Augen führen, ein Thema, das auch der Aufsatz Das Werden im Vergehen/Das untergehende Vaterland (s. Kap. 19) mit dem Gedanken der idealischen Auflösung thematisiert. In ähnlichem Sinne kann man inhaltlich alle späten Gesänge, die vollendeten, überarbeiteten, Fragment gebliebenen (s. Kap. 34), den Aufgaben des Dichters zuordnen, die »poëtische Ansicht« des Raums und der Zeit, des Vaterlands und anderer Kulturräume, vor allem des griechischen, und der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart aus den Elementen dieser gemeinschaftlichen Lebenssphäre zu gestalten (s. Kap. 16). Diese Aufgabe steht deutlich in Zusammenhang mit der Neuen Mythologie, die durch das Fragment philosophischer Briefe/Über Religion begründet wurde. Es geht hier um nichts weniger als um die Vorbereitung der Menschen auf eine gemeinsame Gottheit und über diese auf eine neue Form des Zusammenlebens. Die zitierte Abhandlung kennt ja nicht nur den Weg von der überraschenden unverhofften Epiphanie des höheren Zusammenhangs der Lebenssphäre zur nachträglichen bildlichen Vorstellung mit Hilfe der Elemente aus der Lebenssphäre, sondern ausdrücklich wird gesagt, »daß der Mensch auch in so fern sich über die Noth erhebt, als er sich seines Geschiks erinnern, als er für sein Leben dankbar seyn kan und mag, daß er seinen durchgängigern Zusammenhang mit dem Elemente, in dem er sich regt, auch durchgängiger empfindet« (StA 4, 275). Erinnerung ist der Fall der nachträglichen Vorstellung, was den Menschen überrascht hat, aber der Dank für das Leben in der Sphäre und die Empfindung des »durchgängigern Zusammenhangs mit dem Elemente, in dem er sich regt«, werden durch den Mythos induziert. Die Sprache, die Erzählung, die »poëtische Ansicht« des höheren Zusammenhangs in der Sphäre sollen, so H.s Hoffnung, durchgängige Empfindung und Dank wecken und durch Erinnerung den Gedanken an eine vielleicht unbeachtete Epiphanie sowohl anregen wie bewahren helfen. Hier erhebt sich der Mensch also nicht unversehens, sondern aktiv über den physischen Zwang und die rechtliche Gesetzmäßigkeit. Und dies kann nun nicht nur in der individuellen Sphäre, oder im Raum des geselligen Ge-
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sprächs geschehen, sondern auch für das Volk, für alle Menschen einer Kultur. Wenn diesen, so hofft H., ihr Lebensraum als Vaterland, als sinnvoller und geschichtsträchtiger Raum vorgestellt wird, dann lässt sich die »gemeinschaftliche Gottheit« benennen, dann ist dieses Vaterland eine »Sphäre [...], in der alle zugleich leben, und mit der sie in mehr als nothdürftiger Beziehung sich fühlen« (StA 4, 278). Dies wäre eine Sphäre, »in der sie menschlich, d. h. über die Nothdurft erhaben wirken und leiden« (ebd.), hier würden sich die Menschen nicht mehr als Funktionen in einer mechanischen Gesellschaft, nicht auf einseitige Tätigkeiten reduziert begegnen, wie es der Scheltbrief des Hyperion anklagt, sondern als freie ganze Menschen. H.s Idealvorstellung vom Zusammenleben in dieser allumfassenden Sphäre wird im Fragment philosophischer Briefe/Über Religion (s. Kap. 24) so beschrieben: »Also, wie einer die beschränkte aber reine Lebenswei se des andern billigen kann, so kann er auch die be schränkte, aber reine Vorstellungsweise billigen, die der andere von Göttlichem hat. Es ist im Gegentheil Bedürfniß der Menschen, so lange sie nicht gekränkt und geärgert, nicht gedrükt und nicht empört in ge rechtem oder ungerechtem Kampfe begriffen sind, ih re verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem eben wie in übrigem Interesse sich einander zuzuge sellen, und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muß, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen ist, und zugleich, eben, weil in jeder besondern Vorstellungsart auch die Be deutung der besonderen Lebensweise liegt, die jeder hat, der nothwendigen Beschränktheit dieser Lebens weise ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem har monischen Ganzen von Lebensweisen begriffen ist.« (StA 4, 279)
Innerhalb des vom Dichter eröffneten und von den Menschen empfundenen vaterländischen Lebensraums geben sie einander gegenseitig die Freiheit zur eigenen Lebensweise und zur individuellen Vorstellung der Gottheit. Die fraternité als vermittelnde Synthese von liberté und égalité ist hier religions- und kulturphilosophisch begründet; dabei spielt Dichtung eine initiierende Rolle. Sofern, wie zitiert, »in jeder besondern Vorstellungsart auch die Bedeutung der besonderen Lebensweise liegt, die jeder hat«, müsste es gelingen, in magischem Idealismus durch die intensive Vorstellung des Lebensraums aller als Vaterland und des Geschichtsmoments als Anbruch der Epipha-
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IV Poetologie
nie des höheren Zusammenhangs und Ankündigung des kommenden Gottes die Begeisterung zu wecken, die die Menschen über ihr Leben in Bedürfnis, Zwang und Not erhebt. »Voll ist die Luft von Fröhlichen jezt und die Stadt und der Hain ist/ Rings von zufriedenen Kindern des Him mels erfüllt./ Gerne begegnen sie sich, und irren unter einander,/ Sorgenlos, und es scheint keines zu wenig, zu viel./ Denn so ordnet das Herz es an, und zu athmen die Anmuth,/ Sie, die geschikliche, schenkt ihnen ein göttlicher Geist.« (StA 2, 86)
Dies ist, in der Elegie Stutgard, die klimatischlandschaftliche Erscheinung eines solchen Zustandes, und die mythische Begeisterung der Landschaft geht so weit, dass Wanderer und Berge ein einziger dionysischer Triumphzug werden: »Aber die Wanderer auch sind wohlgeleitet und haben/ Kränze genug und Gesang, haben den heiligen Stab/ Vollgeschmükt mit Trauben und Laub bei sich und der Fichte/ Schatten; von Dorfe zu Dorf jauchzt es, von Tage zu Tag,/ Und wie Wagen, bespannt mit freiem Wilde, so ziehn die/ Berge voran und so träget und eilet der Pfad.« (StA 2, 86) Hier erkennt man auch deutlich die mythische Lesung der Landschaft: Berge und Pfade sind personifiziert und handeln, der physisch-kausale Zusammenhang ist vergeistigt und macht den unendlicheren Zusammenhang einer verwandelten Welt und Lebenssphäre erfahrbar. So kann sich der in dieses Vaterland eingeholte Freund Siegfried Schmid schon von dem durchwanderten Land her in einer von den Göttern »freudig« gemachten, mit Gastmahl, Wein, Früchten und dem »purpurnen Licht zu Festgesängen« beschenkten vaterländischen Landschaft fühlen. Denn: »Eins nur gilt für den Tag, das Vaterland und des Op fers/ Festlicher Flamme wirft jeder sein Eigenes zu./ Darum kränzt der gemeinsame Gott umsäuselnd das Haar uns,/ Und den eigenen Sinn schmelzet, wie Per len, der Wein./ Diß bedeutet der Tisch, der geehrte, wenn, wie die Bienen,/ Rund um den Eichbaum, wir si zen und singen um ihn,/ Diß der Pokale Klang, und da rum zwinget die wilden/ Seelen der streitenden Män ner zusammen der Chor.« (StA 2, 87)
Der Chor singt vaterländischen Gesang, und dieser zwingt die wilden Seelen der streitenden Männer zusammen, denn im gemeinsamen Singen, ob einstimmig oder in Harmonie, trägt jeder zum Gesang bei und bekennt sich in gewisser Weise zu seinem Ton
und zu seiner Aussage. Wildheit, Eigensinn, Streit werden der festlichen Flamme des Opfers zugeworfen. Dies ist der Resonanzraum der oft zitierten Formulierung aus Friedensfeier: »Viel hat von Morgen an,/ Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,/ Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.« (StA 3, 536) Das Gespräch kann »tieferes Freundesgespräch« sein wie in Stutgard mit Siegfried Schmid erhofft (StA 2, 86), es kann und muss Meinungsverschiedenheiten, Präferenzen und divergente Vorstellungsarten austragen wie das Gespräch zwischen dem sprechenden Ich und Heinse in Brod und Wein; es kann auch eigensinniger Streit wilder Seelen sein wie in der zitierten Stelle. Gesang aber ist der Ausdruck und Vollzug der Erfahrung des höheren Zusammenhangs und der Zusammenstimmung in einer gemeinschaftlichen Sphäre. Es erhellt auch die Formulierung, dass »wir« Gespräch sind bzw. Gesang sein werden: zitiert wurde vorhin, dass »in jeder besondern Vorstellungsart auch die Bedeutung der besonderen Lebensweise liegt, die jeder hat«, d. h. die Vorstellungsart über das Verhältnis zur Sphäre bestimmt auch die Vorstellung, die jeder von sich selbst hat, was er für sich ist und wie er in seiner Sphäre lebt. Gilt dies, muss der Dichter nur daran arbeiten, die Vorstellungsarten der Menschen von sich und ihrem Verhältnis zueinander zu verändern, und die Gesellschaft, das reale Zusammenleben der Menschen untereinander und mit der Natur wird sich verändern. In diesem Sinne schreibt H. an Johann Gottfried Ebel am 10. Januar 1797: »Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird. Und dazu kann Deutschland vieleicht sehr viel beitragen. Je stiller ein Staat aufwächst, um so herrlicher wird er, wenn er zur Reife kömmt.« (StA 6, 229) »Eine künftige (Herv. U. G.) Revolution« – H. ist insofern Realist, spricht allenfalls von Vorboten und Ahnungen. Er beobachtete ja ständig mit äußerster Gespanntheit die politische und gesellschaftliche Lage und ist in trügerischer Hoffnung ihretwegen vielleicht aus Hauptwil und Bordeaux vorzeitig abgereist, um im Vaterland zu sein, wenn man ihn dort brauchen sollte. Aber nie konnte er eine dauerhafte Veränderung zum Besseren in seinem Sinne ablesen. Den Hoffnungen steht deshalb häufiger die Verzweiflung gegenüber. Vor der Reise nach Bordeaux schrieb er am 4. Dezember 1801 an Böhlendorff (s. Kap. 5): »Ich bin jezt voll Abschieds. Ich habe lange nicht ge weint. Aber es hat mich bittere Thränen gekostet, da
20 Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge? ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlas sen, vielleicht auf immer. Denn was hab’ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen.« (StA 6, 427 f.)
Auch die Zeitgenossen, die Freunde lasen nichts in den Zeitungen, wofür H. als Dichter einer wirklich eingetretenen neuen Zeit, einer Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, mit Hymnen für die neuen Götter hätte gebraucht werden können. Im Gegenteil: in Württemberg zum Beispiel nahmen die Spannungen zwischen dem absolutistischen Kurfürsten Friedrich II. und dem Landtag zu, den er 1804 auflöste (s. Kap. 2); Sinclair (s. Kap. 5) wurde durch seine Kontakte zu revolutionären Kreisen in einen Hochverratsprozess hineingezogen: das Vaterland, der Freund, ja H. selbst waren in Gefahr, der Willkür eines von Napoleon dann auch noch zum König gemachten Fürsten anheimzufallen. Diese Erfahrungen belasteten ihn so, dass er auch von den Freunden als »Rasender« angesehen und nach Tübingen ins Autenriethsche Klinikum verbracht wurde (s. Kap. 7). Das heißt also: es gibt keinen äußeren Grund zur hymnischen Feier. Die Nacht der Zeit wird eher finsterer, der kommende Gott bleibt aus, die Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten scheint sich eher nach rückwärts zu drehen zu einem Caesarismus Napoleons und zum Absolutismus des neugebackenen Königs Friedrich I. von Napoleons Gnaden. Die Befassung mit dem Bild des guten Fürsten, die Herausarbeitung des Prinzips der »strengen Mittelbarkeit« und Gesetzlichkeit etwa im Kommentar zu dem Pindar-Fragment Das Höchste (StA 5, 285) wertet für das gesellschaftliche Leben das auf, was in dem Fragment philosophischer Briefe/Über Religion noch die moralische und rechtliche »Nothdurft« gewesen war: das Gesetz war in der Lebenssphäre nicht nur Nötigung und Begrenzung der individuellen Freiheit, sondern auch Schutz gegen die Willkür des Mächtigen, wenn es sich gegen ihn behaupten konnte. Deshalb galt es für H., durch seine Dichtung das Bewusstsein dieses Schutzes zu erzeugen. Es ist der Hintergrund dieser politischen Tatsachen, die zwischen 1800 und 1806 ein immer düstereres Bild vom Zustand des Vaterlandes und von der Aussicht auf die Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten entstehen ließen, vor dem sich die Frage stellt, ob man von den »lyrischen größeren Gedichten«, die H. 1803 Wilmans anbot und mit denen mindestens einige der von vielen sogenannten »späten Hymnen« oder »vaterländischen Gesänge« gemeint waren, wirklich als von Hymnen reden darf.
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Wenn Hymne im damaligen Wortgebrauch ein antikes Kultlied oder ein christliches Gemeindelied oder einen Preisgesang auf eine Vernunftgottheit der Französischen Revolution bezeichnet, dann nennt man H.s Tübinger Hymnen, die ja auch meist den Gattungsnamen im Titel tragen, zu Recht so, denn hier erfindet er für seine Personifikationen der Liebe, Freundschaft, Freiheit den Status der Göttin und eine Geschichte, mithin die Adressatin für die drei Sprechakte Anruf, Rühmung und Bitte oder Gelübde (s. Kap. 28). Immer, und das ist zentral, sind diese Göttinnen existent als zeitunabhängige »Geisterköniginnen« (StA 1, 165), werden durch die Anrufung präsent und manchmal unmittelbar redend eingeführt. Diese Präsenz einer Gottheit fehlt durchgängig in den späten Gesängen, ja nicht einmal die Existenz einer neuen Gottheit kann behauptet werden. Den Gedichten fehlt der durch die Anrufung in die Präsenz zu holende hymnische Adressat. Zweitens fehlt ihnen die gläubige Gemeinde, die sich zum Kult der in die Präsenz zu rufenden Gottheit versammelt. Der Dichter, der ein lyrisches Ich sprechen lässt, muss beides, Gottheit und Gemeinde, in einem poetischen Akt schaffen. Dieser Akt ist am leichtesten zu leisten bei den Oden, die eine individuelle Sphäre und das Verhältnis eines Menschen zu ihr im Licht des höheren Zusammenhangs zeigen; hier spricht das lyrische Ich monologisch. Schwieriger ist der poetische Akt bei den Elegien, die einen Dialog, etwa zwischen Heinse (s. Kap. 11) und H. oder den Landsleuten und H., im Licht des höheren Zusammenhangs einer die Partner übergreifenden Sphäre bewältigen müssen; hier wird Gespräch vorgeführt wie in Brod und Wein oder impliziert wie in der zweiten Fassung des Wanderer, in Stutgard, Der Gang aufs Land, Heimkunft. Am schwierigsten ist der Gesang; wenn damit der Chor der vielen gemeint ist, der die streitenden Männer zusammenzwingt, findet er nirgends statt. »Nachtgesänge« hat H. 1803 an Wilmans geschickt (StA 6, 436); es sind neun kurze Gedichte wie z. B. Hälfte des Lebens, Der Winkel von Hahrdt (Nachtgesänge, s. Kap. 31) – es sind Gesänge (s. Kap. 32) etwa des einsamen Mannes in der ersten Strophe der Elegie Brod und Wein, der mit seinem Saitenspiel in der Nacht »Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit« (StA 2, 90). Am Beginn des Fragments Der Mutter Erde lässt H. die Rollenfigur Ottmar es ganz deutlich aussagen: Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang. So spielt von erfreulichen Händen Wie zum Versuche berühret, eine Saite
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Von Anfang. Aber freudig ernster neigt Bald über die Harfe Der Meister das Haupt und die Töne Bereiten sich ihm, und werden geflügelt So viele sie sind und zusammen tönt es unter dem Schlage Des Wekenden und voll, wie aus Meeren schwingt Unendlich sich in die Lüfte die Wolke des Wohllauts. Doch wird ein anderes noch Wie der Harfe Klang Der Gesang seyn Der Chor des Volks. Denn wenn er schon der Zeichen genug Und Fluthen in seiner Macht und Wetterflammen Wie Gedanken hat der heilige Vater, unaussprechlich wär er wohl Und nirgend fänd er wahr sich unter den Lebenden wieder Wenn zum Gesange nicht hätt ein Herz die Gemeinde. (StA 2, 123)
Ottmar singt statt der Gemeinde, die noch kein Herz dazu hat, und somit findet auch der heilige Vater »nirgend [...] wahr sich unter den Lebenden wieder« (ebd.). So ist auch für das Ich von Am Quell der Donau der eigene Gesang offenbar Vorspiel wie das der Orgel, dem dann »Der Chor der Gemeinde« antwortet, und am Ende vergleicht das Ich seinen Gesang mit einer »Sage der Liebe«, die ihm »mit Erröten, Erblassen,/ Von Anfang her gegangen« sei (StA 2, 126, 129). Sage der Liebe ist einerseits Geständnis, das nicht weiß, ob es erhört wird, andererseits Erzählung eines vergangenen wundersamen Zustands – in beiden Fällen nicht der hymnische Preisgesang, der die göttliche Präsenz rühmt, sondern »seeligweinend« und unsicher das einsame Lied eines Einzelnen, der mit sich und seinem Gesang »aber [...] allein« ist (vgl. StA 2, 217). Die drei hymnischen Sprechakte Anruf, Rühmung, Bitte oder Gelübde, die sich in diesen Gesängen noch finden, bleiben imaginär. Sie restituieren eine dem Subjekt des Gesangs positiv verfügbare Transzendenz der/einer Gottheit nicht mehr. Schon die dionysische Verwandlung der Landschaft, die vaterländische Begeisterung und chorische Gemeinschaft unter der Eiche bei Stuttgart: alles wird am Schluss der Elegie dementiert – »o kommt! o macht es wahr! denn allein ja/ Bin ich und niemand nimmt mir von der Stirne den Traum?« (StA 2, 89) Das einsam sprechende Ich hat alles, die verwandelte Lebenssphäre, das abendliche Fest, ja die Anrede
an den Freund Siegfried Schmid imaginiert, denn das Ich will ihm erst an die Landesgrenze entgegeneilen, und der Beleg dafür, dass die Freunde noch nicht zusammengetroffen sind, ist die Rede in der 3. Person, in der Schmid erscheint, wenn es heißt: »ich muß die Landesheroën ihm nennen« (StA 2, 87). Alle Erlebnisse, Erfahrungen, Reden dieses Tages sind imaginiert, ein Traum, den niemand dem einsamen Ich von der Stirne nimmt und wahr macht. Oder nehmen wir Friedensfeier, den Gesang, dessen Titel schon die Einlösung der Hoffnungen, die Präsenz der Gottheit, mithin den echten und gelingenden Anruf ankündigt. In der Tat finden wir Anrufe und Anreden. Aber wenn es heißt: »Und dämmernden Auges denk’ ich schon,/ Vom ernsten Tagwerk lächelnd,/ Ihn selbst zu sehn, den Fürsten des Fests« (StA 3, 533), dann ist mit dem »denk’ ich« und der Bedingung des »dämmernden Auges« ein starkes Moment der Unsicherheit eingezogen: es kann heißen ›ich nehme an, dass er es ist, den ich sehe‹, ›ich nehme an, dass ich ihn sehe‹, ›ich stelle mir vor, dass ich ihn sehe‹, ›ich erträume mir, wie es ist, wenn ich ihn sehe‹, ›ich erträume mir, wie es wäre, wenn ich ihn sähe‹. Die ganze Spanne von einer unsicheren Identifikation bis zu einer rein imaginären Begegnung ist in der Formulierung enthalten. Dennoch folgt die Anrede: »Doch wenn du schon dein Ausland gern verläugnest/ Und als vom langen Heldenzuge müd,/ Dein Auge senkst, vergessen, leichtbeschattet,/ Und Freundesgestalt annimmst, du Allbekannter, doch/ Beugt fast die Knie das Hohe.« (StA 3, 533) Das heißt, dass magisch idealistisch die Imagination sich vor die Wirklichkeit schiebt und vom Sprecher behandelt wird, als wäre sie die Wirklichkeit. Das geschieht ein zweites Mal in der dritten Strophe, wo es heißt: »Und manchen möcht’ ich laden, aber o du ...« (StA 3, 534). Derjenige, dessen Einladung hier erst erwogen wird, wird sogleich als gegenwärtig angeredet. Noch einmal, auf dem Höhepunkt der Dichtung: denn darum rief ich Zum Gastmahl, das bereitet ist, Dich, Unvergeßlicher, dich, zum Abend der Zeit, O Jüngling, dich zum Fürsten des Festes; und eher legt Sich schlafen unser Geschlecht nicht, Bis ihr Verheißenen all, All ihr Unsterblichen, uns Von eurem Himmel zu sagen, Da seid in unserem Hauße. Leichtathmende Lüfte Verkünden euch schon,
20 Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge? Euch kündet das rauchende Thal Und der Boden, der vom Wetter noch dröhnet, Doch Hoffnung röthet die Wangen. (StA 3, 536 f.)
Großer hymnischer Anruf mit dem anaphorischen »dich«, und danach wird deutlich, dass die Unsterblichen durch Naturerscheinungen erst verkündet werden. Der hymnische Anruf geschieht also an ein imaginiertes Numen, sucht das Imaginäre in die Realität zu zwingen. Wirklich ist das Abziehen des Wetters, d. h. des Krieges, die Friedenslaute, die den verhallenden Aufruhr übertönen, die leichtatmenden Lüfte, das Tal, der Boden und die Mutter, die vor der Tür mit ihrem Kind den Frieden schaut. Alles Weitere ist imaginär. Und hier liegt die Leistung, das geistige Leben dieser Dichtung: empfunden wird zunächst in Geschichtsereignis und Natur der Friede; man weiß vom Abschluss eines Vertrags, die Kampfhandlungen hören auf, die Truppen ziehen ab. Diese epiphanische Verwandlung der Lebenssphäre ist es, was nach dem Fragment philosophischer Briefe/Über Religion die Vorstellung, das Bild, die Idee hervorrufen kann. Damit das geschieht, damit Dank, Erinnerung, durchgängigere Empfindung möglich werden und über die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Gottheit oder, wie hier, der Götterversammlung zur Feier des Friedens ein gemeinschaftliches höheres Leben in gegenseitiger Gewährung der Freiheit und individuellen Vorstellungsart und Lebensweise entsteht, muss der Dichter den gemeinschaftlichen Mythos entwerfen. Die mehrfachen Übergänge von Anzeichen in der Wirklichkeit in die imaginäre Anrede und Präsenz geschehen gleichsam zur Übung des Übergangs von der realen Lebenssphäre und ihren widersprüchlichen kausalen und moralischen Zusammenhängen in die mythische Sphäre des höheren Zusammenhangs. Das einzeln sprechende Ich sucht seine Zuhörer, mit denen es wenigstens im Gespräch ist, herüberzuführen in den Lebensraum, der Gesang ermöglicht. Denn für das Ich ist die Verwandlung des Lebensraums schon vorfühlbar, die Epiphanie könnte, müsste sich allen offenbaren. Aber es kommt auf die Eröffnung ihrer Fühlfähigkeit an: deshalb muss der Dichter den Mythos der gemeinschaftlichen Gottheit, die Antizipation ihrer Anwesenheit oder wenigsten unmittelbar bevorstehenden Ankunft entwerfen. Mythos, Stoff des zweiten hymnischen Sprechakts der rühmenden Erzählung, kann in diesem Fall nicht Vergangenheitserzählung sein wie in den überlieferten Mythen von Göttern und Heroen, sondern wird zur konjekturalen Erschließung möglicher Zukunft.
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So wie der alte Mythos bestmögliche Konjektur der göttlichen Macht war, die in der Vergangenheit ein bestauntes Faktum der Gegenwart bewirkte, so ist der neue Mythos bei H. in diesen Gesängen, die das Staunen erst erzeugen wollen, eine vielfältige, aus Erinnerung an Vergangenes, aus Argumentation und konjekturaler Vermutung über Gegenwärtiges und Allgemeines, die Struktur religiöser Verhältnisse Betreffendes, endlich aus antizipatorischer Imagination über Zukünftiges zusammengesetzte Rede, die jedoch nicht zu exakt und zwingend sein darf, um die Bildung individueller Vorstellungen über die erhoffte Epiphanie nicht zu stören. So erinnert Friedensfeier an die Erscheinung Jesu und das tödliche Verhängnis seines Todes, erklärt dies theologisch und geschichtsphilosophisch mit der Verlaufsstruktur einer momentanen sparsamen Epiphanie in der Gestalt eines Gottes, der der Kultur einen Richtungsstoß gibt und dann verschwindet, um als »Ruhigmächtiger«, als Meister in der Werkstatt ein Bild zu vollenden und endlich in neuer Gestalt hervorzutreten. Das ist nicht mehr der Jesus, der durch sein Wirken und Sterben die hesperische Kultur in Gang gebracht hat, es ist ein in diesem Sinne der kulturellen Meisterschaft Erkannter, aber in seiner jetzigen Gestalt und zukünftigen Funktion noch Unbestimmter. Es bleibt deshalb wohl absichtlich unklar, ob der »Fürst des Fests« – auch nur eine Funktionsbezeichnung! – dieser gewandelte Christus oder ein anderer, vielleicht gar Napoleon ist, wie manche beim »Streit über den Frieden« vermutet haben: die gutmütigen Leser dieser Dichtung sollten ja nur in Erwartung einer Epiphanie gesetzt werden. Sie sollte den höheren Zusammenhang in ihrer Lebenssphäre schlagartig erhellen; für sie durfte H. mit der Ankündigung aller Götter und darunter eines heroischen Fürsten dieser Feier nur eine strukturelle Angabe machen, deren spezifische Vorstellung jeder aus seiner individuellen Sicht der gemeinschaftlichen Lebenssphäre sich bilden sollte, wenn die Epiphanie eingetreten war. Die Bemerkung von der »apriorität des Individuellen über das Ganze« (StA 2, 339) gilt seit dem Fragment philosophischer Briefe/Über Religion zumindest in Bezug auf die Vorstellungsart und die dadurch bedingte Lebensweise der Menschen. Auch der hymnische Sprechakt, die Bitte oder das Gelübde, ist angesichts des antizipatorischen konjekturalen Charakters des Mythos schon gar nicht an eine feste Gottheit gerichtet, aber auch nicht mit Bestimmtheit ausgesprochen. Die Schlussbitten der späten Gesänge, soweit sie auf das sprechende Ich referieren, sind meist von einer bemerkenswerten Unsicherheit
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getragen. So redet in Am Quell der Donau der Sprecher die guten Geister an, deren epiphanische Präsenz oftmals den Menschen als »die heilige Wolk umschwebt«: »Da staunen wir und wissens nicht zu deuten./ Ihr aber würzt mit Nectar uns den Othem/ Und dann froh loken wir oft oder es befällt uns/ Ein Sinnen, wenn ihr aber einen zu sehr liebt/ Er ruht nicht, bis er euer einer geworden./ Darum, ihr Gütigen! umgebet mich leicht,/ Damit ich bleiben möge, denn noch ist man ches zu singen [...]« (StA 2, 129)
Das Staunen über die Epiphanie bewirkt je nach tonus, Spannungszustand des Betroffenen idealisches Frohlocken, naives Sinnen oder heroische Selbstaufgabe. Darum bittet der Sprecher, nur leicht »umgeben«, nicht im Innersten berührt zu werden, damit er bleiben und seine Aufgabe erfüllen kann. Auch das Ende seines »seeligweinenden« Gesangs »wie eine Sage der Liebe [...] mit Erröthen, Erblassen« ist nicht Abschluss eines Gelübdes oder Gebets an ein klar bestimmtes hymnisch gepriesenes Numen. Es ist vielmehr Eingeständnis der Unsicherheit, des Bewusstseins der prekären Lage und Aufgabe eines Dichters, der immer in Gefahr ist, als »falscher Priester« vorzugeben, er habe die Himmlischen geschaut (StA 2, 120) oder könne »von dem Gotte/ Das Bild nachahmen« (StA 2, 170), wo er doch andererseits die Menschen über die Grenze zum »höheren Zusammenhang« führen soll. Auch Die Wanderung, die an sich mit dem hymnischen Anruf »Glükseelig Suevien, meine Mutter« beginnt (StA 2, 138) und doch gleich zum Entschluss führt: »Ich aber will dem Kaukasos zu!« (ebd.), endet nach Anrufen an das »Land des Homer«, »Ionia«, »ihr Inseln [...], Ihr Mündungen der Ströme, o ihr Hallen der Thetis,/ Ihr Wälder, euch, und euch, ihr Wolken des Ida!« unversehens mit der Anrede an »euch, ihr Gratien Griechenlands«, die der Sprecher »einzuladen« gegangen sei, »Daß, wenn die Reise zu weit nicht ist,/ Zu uns ihr kommet, ihr Holden!« (StA 2, 140 f.) Die Bitte ist ganz vorsichtig, denn die Gratien sind »wunderbar,/ Wie alles Göttlichgeborne./ Zum Traume wirds ihm, will es Einer/ Beschleichen und straft den, der/ Ihm gleichen will mit Gewalt;/ Oft überraschet es einen,/ Der eben kaum es gedacht hat.« (StA 2, 141) Auch der Dichter darf es nicht »beschleichen« oder ihm »mit Gewalt« gleichen wollen, er muss es in der Schwebe zwischen realer und imaginärer Anrede halten, denn wenn der höhere Zusammenhang überraschend sich offenbart, »Wenn milder athmen die Lüfte,/ Und liebende Pfeile der Morgen/ Uns Allzuge-
dultigen schikt,/ Und leichte Gewölke blühn/ Uns über den schüchternen Augen,/ Dann werden wir sagen, wie kommt/ Ihr, Charitinnen, zu Wilden?« (StA 2, 141), dann ist es nicht nur der einzelne Sprecher, der die Ankunft vorsichtig antizipiert, sondern »Dann werden wir sagen«, allen ist die Präsenz und die Identität der Charitinnen zusamt der eigenen Verfassung als »Wilde« überraschend bewusst. Man kann, um die Ergebnisse dieser Überlegungen an den späten Gesängen H.s zusammenzufassen, bei ihnen nicht von Hymnen sprechen, denn dazu fehlen alle Bestandteile: die von allen präsent geglaubten oder stellvertretend herbeizurufenden Gottheiten, ihre heiligen Namen, ihr Mythos und ihre Kultgemeinde. Der Dichter antizipiert die Epiphanie eines höheren Zusammenhangs in einer gemeinschaftlichen Lebenssphäre, entwirft eine Annäherung an einen neuen Namen, entwirft einen neuen Mythos erstens aus sinnenhaft spürbaren Veränderungen in der Lebenssphäre, zweitens aus religions-, kultur- und geschichtsphilosophischer Erläuterung auch anhand tradierter Mythologeme, und drittens aus der wiederholten Imagination eines sogleich als real antizipierten Geschehens; die Kombination dieser konjekturalen Argumentationsformen ermöglicht den Rezipienten den rationalen Übergang aus der Alltagsnormalität der Lebenssphäre in den höheren Zusammenhang und kann damit, so H.s Hoffnung, die »Gemeinde« schaffen, zu der die neue Gottheit einkehrt und die statt des jetzigen »Gesprächs« wirklich »Gesang« ist. Hymnische Anrufe werden deshalb in H.s späten Gesängen überhaupt selten. Ihr Sinn ist, die Begeisterung auszudrücken, in die der einsame Dichter sich in seiner imaginären Antizipation hineinsteigert. Sie sind also wieder ein Mittel, den Rezipienten zum Überstieg in den höheren Zusammenhang ihres Lebens und damit zur Freiheit in ihren Beziehungen und Lebensweisen zu verlocken. Aus diesem Grund ist es nicht angemessen, von H.s später Hymnik zu sprechen. Mit Vorspiel, mit Antizipation haben wir es zu tun: mit dem Gesang eines Einzelnen, der darauf hofft, dass ihm der Chor der Gemeinde, durch seinen Gesang erst konstituiert, antworten wird. Weil dieser Chor nie geantwortet hat, weil dieser Einzelne keine frohlockenden oder flehenden Hymnen zu den von allen anwesend geglaubten Gottheiten singen durfte, weil er immer nur »im Vorspiel rauherer Zeit« (StA 2, 150) das Feld bereitete und doch zur bitteren Einsicht kommen musste, dass man ihn nicht brauchen konnte, ist H. im Kampf mit der »Uralten Verwirrung« (StA 2, 148) an seiner säkularen Aufgabe zerbrochen.
20 Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge? Literatur Allgemein
Vgl. Ulrich Gaier: »Heilige Begeisterung«. Vom Sinn des Hymnischen um 1800, in: HJb 32 (2000/01). Der hier vorliegende Handbuchbeitrag fasst das dort Gesagte und Nachgewiesene zusammen. Zudem stellt er die überarbeitete Fassung dar des Vortrags »›Bald sind wir aber Gesang‹: Vom Sinn des Hymnischen nach 1800«, den der Verf. bei dem Kolloquium »H.s späte Hymnik« im Oktober 2001 in Hagen gehalten hat und der erschienen ist in: Jamme/Lemke 2004 (s. u.), 177–195.
Forschungsliteratur
Gaier, Ulrich: H. und der Mythos, in: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, 295–340. Gaier, Ulrich: Mythos und Mythologie, in: Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.): Kritische Revisionen. Gender und Mythos im literarischen Diskurs, München 1998, 185–204.
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Gaier, Ulrich: Anthropologie der Neuen Mythologie. Zu Funktion und Verfahren konjekturalen Denkens, in: Garber, Jörn/Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, 193–218. Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos, 2 Bde., Darmstadt 1991. Jamme, Christoph/Anja Lemke (Hg.): »Es bleibet aber eine Spur/ Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie F. H.s, München 2004. Kreuzer, Johann: H.s Rede von Gott, in: Denkwege. Philosophische Aufsätze, Tübingen 2004, 119–166. Kreuzer, Johann: »Die Sphäre die höher ist, als die des Menschen: diese ist der Gott«. H. und die natürliche Theologie, in: Göcke, Benedikt Paul/Margit Wasmaier-Sailer (Hg.): Idealismus als Chance für die natürliche Theologie, Freiburg/München 2011, 238–257. Vöhler, Martin: H.s Fragment »Der Mutter Erde«, in: HJb 39 (2014/15), 110–123.
Ulrich Gaier
V Werk
21 Hyperion
21.2 Entstehung
21.1 Work in progress und Zeitroman
Insgesamt lassen sich sieben Arbeitsphasen unterscheiden: 1) Noch im Stift schreibt H. 1792 an einem Hyperion betitelten Roman und schickt im Juli 1793 einige Auszüge davon an Gotthold Stäudlin (1758–1796) zur Beurteilung. Gleichnamige Hauptperson des Werks ist – nach den Worten Rudolf Magenaus an Christian Ludwig Neuffer im November 1792 – »ein freiheitsliebender Held, u. ächter Grieche, voll kräftiger Principien« (StA 7.1, 435). Als Modell erwähnt Magenau Friedrich Bouterweks Graf Donamar, dessen erste zwei Bände 1791 und 1792 erschienen waren (ein dritter Band kam 1793 heraus). Zu dieser allerersten Phase, die sonst nicht überliefert ist, gehört wahrscheinlich das Bruchstück Ich schlummerte, mein Kallias ... (MA 1, 485 f.). 2) Auf Schloss Waltershausen, wo H. Ende 1793 Hauslehrer bei der Familie von Kalb wird, verwirft er das schon Geschriebene und fängt seinen Briefroman angeblich von neuem an (vgl. Brief an Neuffer vom 10.10.1794, StA 6, 137). Auf Veranlassung Schillers veröffentlicht H. 1794 in dessen Zeitschrift [Neue] Thalia ein Fragment von Hyperion (MA 1, 489–510), das aus einem Vorwort und fünf Briefen besteht. Als Vorstufe bzw. unveröffentlichtes Material zu dieser Arbeitsphase gilt das sogenannte Waltershäuser Paralipomenon (Ich sollte das Vergangne ..., MA 1, 487 f.). 3) Wahrscheinlich im März 1795 (für die kontroverse Datierung vgl. Stiening 2005, 128–130) arbeitet H. in Jena an einem epischen Gedicht (die sog. Metrische Fassung, MA 1, 511–522), deren Personen und philosophische Gespräche kurz darauf Eingang in eine neue Fassung des Romans finden, der Hyperions Jugend heißt und die Briefform zugunsten einer in Kapiteln gegliederten Ich-Erzählung aufgibt (MA 1, 523– 556). Inwiefern die bruchstückhaft erhaltene Verserzählung eine radikale Umformung des Romanprojekts darstellt oder als selbständiger Entwurf (vielleicht als Beitrag für Schillers Horen) betrachtet werden soll, lässt sich nicht genau bestimmen. Sicher ist jedoch, dass dem Autor die in den Versen entworfenen Themen und Gedanken wichtig genug erschienen, um in die Romankonstruktion aufgenommen zu werden. Ob H. nach seiner Rückkehr nach Nürtingen Ende Mai 1795 dann noch an Hyperions Jugend arbeitete, ist
Nach Berichten von Ernst Zimmer und Christoph Theodor Schwab (vgl. StA 7.2, 565–567) hat H. im Frühjahr 1823 täglich in seinem Roman gelesen. Ein Manuskript aus dieser Zeit (StA 3, 290–291), das einen Prosaversuch in Briefform enthält, legt die Vermutung nahe, der Dichter habe noch einmal an das veröffentlichte Werk anknüpfen wollen. Bedenkt man, dass die ersten Spuren des Romans auf das Jahr 1792 zurückführen (vgl. StA 7.1, 435), so scheint es, dass sich H. mit diesem Werk mehr als drei Jahrzehnte beschäftigt hat. Wie dem auch sei, es besteht kein Zweifel daran, dass Hyperion für den Autor ein intensives und langanhaltendes Projekt gewesen ist: die Arbeit, der er die meiste Zeit und Kraft gewidmet hat. In ihr spiegeln sich die Auseinandersetzungen mit den politischen Ereignissen der Französischen Revolution und den Koalitionskriegen, die beunruhigende Wirkung des Werthers, die Faszination für Rousseau, die Aufnahme des Spinozismus Jacobis, der Anthropologie Herders und der Ästhetik Schillers, die ›Entdeckung‹ des klassischen Griechenlands und der Philosophie Platons, die Begeisterung für Fichte und der Versuch, ihn im Streitgespräch mit Schelling zu überbieten. So ist Hyperion ein zugleich historischer, politischer, psychologischer und philosophischer Roman, ein work in progress, das auf seine Zeit und deren zentrale Fragen zu antworten versucht. Neben den Übersetzungen aus Sophokles ist Hyperion überdies das einzige Werk, das H. in Buchform drucken ließ. Trotz der eingeschränkten Verbreitung verlieh die Veröffentlichung dem Autor eine gewisse Anerkennung, so dass H. im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem als Dichter des Hyperion wahrgenommen wurde. Allerdings blieben die Vorstufen des Romans weitestgehend unbekannt, so dass seine komplexe und langwierige Entwicklung nicht sichtbar wurde. Erst mit der Aufwertung der Lyrik H.s nach dem Ersten Weltkrieg verlor Hyperion seinen zentralen Stellenwert für die Interpretation des Gesamtwerks H.s, während allmählich die Nachlassmaterialien ediert und untersucht wurden.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_21
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ebenfalls nicht eindeutig zu klären. Auch von dieser Fassung sind nur Teile überliefert. 4) Noch bevor H. Ende 1795 nach Frankfurt zog, um seine Stelle als Erzieher im Haus Gontard anzutreten, schickte er aus Nürtingen das Manuskript des ersten Romanbandes an den Verleger Cotta, mit dem er schon im April durch die Vermittlung Schillers einen Vertrag abgeschlossen hatte. Es ist die sogenannte Vorletzte Fassung (MA 1, 557–571), in der H. zur Briefform zurückkehrt und die von einer neuen Vorrede eingeleitet wird. Von dem ursprünglichen, reinschriftlichen Konvolut, das die 200 Seiten überschritten haben dürfte, sind nur 28 Seiten übriggeblieben (davon vier in der Abschrift Karl Gocks). 5) Nachdem Cotta um eine Kürzung des Romans gebeten und das Manuskript zurückgeschickt hatte, arbeitete H. seinen Text zwischen Oktober 1796 und Januar 1797 um. Aus dieser Revision entsteht der erste Band des Romans Hyperion oder der Eremit in Griechenland, der im April 1797 erscheint. 6) Erst nach der Veröffentlichung des ersten Bandes beginnt H. die Arbeit an dessen Fortsetzung, die er frühestens im Herbst 1798 beendet. Der zweite Band erscheint dann im November 1799. Neben dem veröffentlichten Text sind diese letzten zwei Arbeitsphasen durch eine Reihe von Handschriften dokumentiert, welche als Vorstufe der (Beißner) oder Entwürfe zur (Knaupp) endgültigen Fassung ediert wurden (MA 1, 572–608). Beide Bezeichnungen sind jedoch irreführend, da es sich dabei um drei unterschiedliche Textgruppen handelt: a) Bearbeitungen der Vorletzten Fassung zum ersten Band; b) Erste, weggelassene Entwürfe zum zweiten Band; c) Reinschriften zum zweiten Band, die sich kaum von der gedruckten Fassung unterscheiden. 7) Schwierig einzuordnen ist die schon erwähnte lückenhaft tradierte Handschrift mit einem Prosatext und einem Gedicht (Wenn aus der Ferne ...), die wahrscheinlich auf das Jahr 1823 zurückgehen (MA 1, 910– 913). In diesen Bruchstücken kommt es noch einmal zu einem brieflichen Austausch zwischen Hyperion und seiner geliebten Diotima. Es ist denkbar, dass der kranke Dichter damit an die zweite, 1822 erschienene Ausgabe des Romans anschließen wollte.
21.3 Quellen H.s Roman bezieht sich auf den russisch-türkischen Krieg von 1768–1774 und auf die damit verbundene griechische Revolte von 1770, also auf Ereignisse, die
zur Zeit der Entstehung noch frisch in Erinnerung waren. Wichtigste Quelle dafür ist eine schon 1770 in Venedig veröffentlichte umfangreiche Chronik von Domenico Caminer, die bald darauf ins Deutsch übersetzt wurde (Geschichte des gegenwärtigen Kriegs zwischen Rußland, Polen und der Ottomannischen Pforte, Leipzig 1771–1775, 36 Teile in 6 Bänden). Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Griechen erhielten neue Brisanz durch das Versprechen der Französischen Republik, die Freiheit der Völker unterstützen zu wollen. Wenige Monate nach der Veröffentlichung des ersten Romanbands landeten auf der Insel Korfu französische Militäreinheiten, die von der Bevölkerung enthusiastisch begrüßt wurden, so dass Napoleon dem Direktorium mitteilen konnte, dass auch die anderen griechischen Inseln hofften, mit Hilfe der Französischen Republik ihre Freiheit und Kultur wiederzuerlangen (le Moniteur, Nr. 305 vom 23.7.1797). Von diesem historischen Kontext ausgehend hat Christoph V. Albrecht (1998) die These aufgestellt, dass bestimmte Züge Hyperions dem Modell des griechischen Dichters und Revolutionärs Rigas Velestinlis (1757–1798) nachgebildet worden seien. Auch ohne einen solchen, schwer nachzuweisenden Bezug ist der Roman von einer politischen Aktualität, die in der zeitgenössischen deutschen Literatur ihresgleichen sucht. H., der nie nach Griechenland kam, beschreibt dessen Landschaft und Orte auf Basis von Reiseberichten in deutschen Übersetzungen. Eine entscheidende Rolle spielen die Bände des britischen Archäologen Richard Chandler (1738–1810): Reisen in Kleinasien (Leipzig 1776; engl. Originalausgabe 1775) und Reisen in Griechenland (Leipzig 1777; engl. Originalausgabe 1776). Hinzu kam noch die Reise des Grafen von Choiseul-Gouffier [1752–1817] durch Griechenland (Gotha 1780). Der französische Diplomat berichtete in diesem Buch über einige Kriegser eignisse aus dem Jahr 1770, die Eingang in den zweiten Band des Romans fanden. Unschätzbar für eine ganze Generation ist ferner die Bedeutung der Voyage du jeune Anacharsis en Grèce, dans le milieu du quatrième siècle avant l’ère vulgaire (1788; die deutsche Übersetzung erschien 1790) von Jean-Jacques Barthélemy (1716–1795). Diese phantastische ›Zeitreise‹, die zu dem für die revolutionären Strömungen so wichtigen Genre des utopischen Romans gehört, schilderte ausführlich das perikleische Zeitalter und war eine Fundgrube für eine weiterführende Kenntnis des antiken Griechenland, welche sonst über die Texte Winckelmanns und die Parallelbiographien Plutarchs vermittelt wurde. Im Tübinger Stift trugen
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schließlich die Bücher des Repetenten Carl Philipp Conz zum Bild Griechenlands bei. Neben den Texten spielt bei der von H. imaginierten Romantopographie auch das Bildmaterial eine nicht unwesentliche Rolle; so die zahlreichen Karten zu den Bänden Chandlers und vor allem die Zeichnungen von Johann Stuart (1713–1788) und Nicholas Revett (1720–1804) zu ihren großformatigen Bänden The Antiquities of Athens (1. Bd. 1762, 2. Bd. 1798, 3. Band 1794), die erstmals eine wirklichkeitstreue Darstellung der Dinge zu geben vermochten.
21.4 Frühe Konzepte und Entwürfe (1792/93) Schon in dem einzig überlieferten Zeugnis der frühesten Arbeitsphase ist die von dem Briefschreiber empfundene Diskrepanz zwischen dem antiken und dem gegenwärtigen Griechenland zentral. Daneben lassen sich in dem einseitigen Entwurf noch andere Themen finden, die in den späteren Fassungen des Romans signifikant erscheinen: die Liebe zu einer ideale Frau (die in dem Fragment Glycera heißt), die platonische Philosophie, die intensive Lektüre Homers, der Wille zu einer politischen Emanzipation. Auch die Reflexion über die Briefform findet einen Platz. Interessant ist ein in der Handschrift vorkommendes französisches Zitat aus Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse (Julie oder Die neue Heloise, 1761), das in der Textkonstitution von allen Editoren als nicht zugehörend gestrichen wird. In deutscher Übersetzung: »Ihr Brief dementiert Sie durch seinen spielerischen Stil; und Sie wären auch nicht so witzig, wenn Sie weniger unbesorgt wären« (vgl. FHA 10, 36). Das zeigt, inwieweit H. sich über die psychologischen Möglichkeiten des Genres Gedanken machte. In einem Brief an Neuffer vom Juli 1793 bezeichnete H. den Roman als eine »terra incognita« (StA 6, 87) und meinte damit eine fast experimentelle Gattung, deren ästhetischer Wert noch nicht ganz anerkannt wurde und unter dem Verdacht stand, bloße Unterhaltung zu sein. Wie der Bezug auf Rousseau beweist, orientierte sich der Autor dennoch an präzisen Vorlagen, zu denen neben dem Roman des französischen Denkers sicher noch Goethes Werther und Friedrich Heinrich Jacobis (1743–1819) Eduard Allwills Briefsammlung (1792) zählten. Wesentlich ist in dem Brief an Neuffer das Insistieren auf die »Entwiklung eines vestgefaßten Karakters« (ebd.). Diese Begrifflichkeit lässt an den Versuch über den Roman (1774) Christian
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Friedrich von Blanckenburgs (1744–1796) denken, dessen zentrale These ist, ein Roman habe die »innre Geschichte eines Charakters« zu erzählen (vgl. Reitani 2015, 30).
21.5 ›Fragment von Hyperion‹ (1794) Zusammen mit dem Gedicht Das Schicksal veröffentlichte H. sein Prosastück in dem vorletzten Heft der Zeitschrift [Neue] Thalia, das sonst noch Schillers Aufsatz Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände enthielt. Es ist die erste bedeutende Publikation des Dichters, die Beachtung fand. Bemerkenswert ist, dass das Fragment anonym im Brünner Allgemeine[n] europäische[n] Journal (1. Jahrgang, Heft 12, Dezember 1796, 97–118) nachgedruckt wurde. Susette Gontard, die H. später kennenlernen sollte, erhielt Ende 1794 eine Abschrift des Textes, die ihr Schweizer Bekannter und Verehrer Ludwig Zeerleder (1772–1840) für sie angefertigt hatte (vgl. StA 7.1, 93). Das Fragment ist vor allem ein psychologisches Porträt Hyperions, eines jungen Griechen aus Smyrna (das heutige türkische Izmir), der sich in die fremde Melite verliebt. Obwohl ihre Beziehung von keinen äußeren Umständen verhindert wird und das Mädchen die Neigung Hyperions prinzipiell nicht ablehnt, scheitert die Liebe an der Überspanntheit des Helden, der zwischen Euphorie und Schwermut schwankt und sich nicht ganz zu offenbaren vermag. Als Hyperion von einer Reise in die Troas in Begleitung eines Fremden namens Adamas zurückkommt, ist Melite verschwunden und unerreichbar. Nur in der Erinnerung an ihre erste Begegnung kann der Protagonist noch den Schatten eines für immer verlorenen Glücks wiederfinden. Erzählt wird diese Geschichte retrospektiv in einer Reihe von Briefen, die Hyperion aus verschiedenen griechischen Orten an seinen Freund Bellarmin schickt, den er in Rom kennengelernt hatte (auch in den späteren Fassungen wird der Briefadressat mit diesem Namen, der wohl auf den germanischen Helden Arminius anspielt, erwähnt). Weniger als eine selbstbewusste Reflexion über das Geschehene, die zur Reifung des Erzählers führt, scheint der Bericht der Versuch zu sein, die eigene psychologische Situation, die keine Entwicklung kennt, zu objektivieren. Hyperion ist auf der Suche nach einer Totalität, die sich ihm entzieht und ihn als unbedeutend erscheinen lässt: »Wir sind nichts; was wir suchen ist alles« (MA 1, 509). Solche philosophischen Verallgemeinerungen des psychischen Zustands sind auf die Anthropologie
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Herders zurückzuführen, der in seinem Aufsatz Liebe und Selbstheit (1781) eine Theorie des Verlangens entwickelt hatte, die als kritischer Kommentar zu den Schriften des niederländischen neuplatonischen Philosophen Franz Hemsterhuis dienen sollte (vgl. dazu Kurz 1975, 21–24). Der Mensch, so Herder, strebe nach Genuss und das Verlangen (bei Hemsterhuis: désir) treibe ihn zur Vereinigung mit seinesgleichen. Insofern sei es das Schöne, was Genuss gewährt, während die Liebe als Grundprinzip der sozialen Dynamik gelten könne. Der unmittelbare Genuss zerstöre indes das Objekt des Verlangens. Die dauerhafte Lust entspringe vielmehr einem immateriellen Objekt. Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung sei deshalb nur die geistige Liebe. Das grenzenlose Verlangen könne hingegen destruktiv sein. Der Mensch, der alles genießen möchte, verliere am Ende sich selbst, da er unausweichlich in eine zahllose Vielfalt an Empfindungen zerrinne. Indem er seine Selbstheit verspiele, könne er auch nicht mehr wirklich genießen. So sei die Erfüllung, die dem Verlangen ein Ende setzt, eine zentripetale Kraft, welche die Stabilität des Subjekts ermögliche. Eine totale Erfüllung, d. h. die Vereinigung des Subjekts mit dem Kosmos, behauptet Herder, sei aber nur als unendliche Annäherung denkbar, vergleichbar mit jener der Hyperbel mit ihrer Asymptote: ein Bild, das H. in seinem Werk nicht von ungefähr mehrmals verwendet (vgl. MA 1, 558; 2, 51). Herders Interpretation von Hemsterhuis wird zu einer tröstenden Philosophie des Endlichen, in der die sinnliche Liebe sublimiert wird und sich in Freundschaft verwandelt. Nichtsdestotrotz stellt eine solche Anthropologie das désir ins Zentrum der individuellen Psychologie und der gesellschaftlichen Entwicklung und fokussiert somit eine wesentliche Frage zur Zeit der Französischen Revolution. Dass sich H. mit der Entsagungsethik Herders nicht zufriedengeben konnte, liegt auf der Hand. Schon im Fragment von 1794 ist Hyperion dadurch gekennzeichnet, dass er auf das Absolute hinzielt. Seine pathologische Melancholie ist nur die andere Seite seines unendlichen Begehrens nach dem Allen, das zugleich die Sehnsucht zum Ausdruck bringt, in Allem enthalten zu sein. Der Verlust der Selbstheit erscheint wünschenswert. Der Wille zur Macht schlägt in Nihilismus um und lässt den Wunsch nach einer Selbstauflösung entstehen. Im Vorwort zum Fragment bringt H. die Dialektik des Begehrens/Sich-Verlierens durch ein lateinisches Zitat auf den Punkt: »non coerceri maximo, contineri tamen a minimo« (»nicht eingeschränkt werden vom Größten, jedoch umschlossen werden vom Kleins-
ten«). Dies, erläutert der Autor, »kann eben so die alles begehrende, alles unterjochende gefährliche Seite des Menschen, als den höchsten und schönsten ihm erreichbarsten Zustand bezeichnen« (MA 1, 489). Obwohl die potentiell zerstörerische Dimension des Eros nicht verleugnet wird, erscheint er als Treibkraft des menschlichen Glücks. Es stehe nur dem »freie[n] Wille« zu, so das Vorwort, den richtigen Weg einzuschlagen. Die Freiheit des Menschen ist die Voraussetzung für dessen Glück. Im Vorwort zum Fragment schließt die LoyolaSentenz eine allgemeine entwicklungspsychologische und zugleich geschichtsphilosophische These über jene »exzentrische Bahn« ab, die sowohl die einzelnen Menschen als auch die ganze Menschheit durchlaufen. Am Anfang und am Ende einer solchen »Bahn« steht der Zustand einer existentiellen Harmonie des Menschen mit sich selbst und mit seiner Umwelt. Während aber der ursprüngliche Zustand der bloßen Einwirkung der Natur zuzuschreiben ist, wird am Ende die ersehnte Harmonie durch die Bildung erreicht. H.s Auffassung gründet auf der deutschsprachigen Rezeption von Rousseau, der zuerst einen idealen und durch die Zivilisation verlorenen Naturzustand postuliert hatte. Ebenfalls weit verbreitet ist die Parallele zwischen der Entwicklung des Menschen (vom Kind zum Erwachsenen) und die Geschichte der Menschheit (von einer primitiven zu einer komplexen Gesellschaft). Auf Herder und auf Schiller ist wiederum der entscheidende Wert der Bildung zurückzuführen, durch die der verlorene harmonische Zustand in neuer Gestalt wiederhergestellt werden kann. Zentral ist jedoch, dass für H. der Weg von der »höchsten Einfalt« zur »höchsten Bildung« nicht linear verläuft, sondern »exzentrisch« ist. Die Bedeutung dieses Ausdrucks ist umstritten. Für Ryan (1965) meint die »exzentrische Bahn« eine Situation, in der der Mensch aus seinem Zentrum herausgerissen ist. Dafür spricht eine Parallelstelle in der Anmerkung zum Oedipus (MA 2, 310–311), die allerdings viel später geschrieben wurde. Schadewaldt (1952) und Franz (1997) haben dagegen auf die semantischen Felder der Astronomie bzw. der Geome trie hingewiesen, in denen diese Bildmetapher eine genauere Valenz annimmt (vgl. Metzger 2002, 348– 355). Unleugbar ist in der Tat, dass die Bahn der Kometen von Kant und Herder als »exzentrisch« bezeichnet wurde. Wie immer man sie interpretieren will, bezeichnet die »exzentrische Bahn« auf jeden Fall einen Weg, der aus Irrungen und Korrekturen besteht, auch wenn seine »wesentlichen Richtungen, immer
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gleich zu seyn« scheinen (MA 1, 489). Die menschliche Existenz ist für H. der Gefahr des Versagens ausgesetzt, eben weil ihr Grundtrieb der Eros ist. Im Leben und in der Geschichte kennt der Mensch keine feste Orientierung, die ihm hilft, den verlorenen Naturzustand wiederzugewinnen. H.s Geschichtsphilosophie impliziert eine Rückkehr zum Ursprung, deren Erfolg nicht von vornherein gesichert ist. Vielmehr steht es dem Einzelnen (und der Menschheit) zu, das eigene Glück (wieder) herzustellen. Herders Theorie des Verlangens wird umgedeutet. Die unendliche Annäherung der Hyperbel mit ihrer Asymptote erscheint als utopisches Ziel, für das es sich lohnt zu kämpfen, wenngleich das Ende des Kampfes ungewiss ist. »Es muß heraus, das große Geheimniß, das mir das Leben giebt oder den Tod«, heißt es am Schluss des Fragments (MA 1, 510).
21.6 ›Hyperions Jugend‹ (1795) In Jena arbeitet H. 1795 seinen Roman grundlegend um. Zu dieser Entscheidung trägt sicher das geistige Klima der Stadt bei. H. liest Goethes Wilhelm Meister, tritt in engeren Kontakt mit Schiller und ist vor allem von Fichte, die »Seele von Jena« (StA 6, 139), angezogen, dessen Lehrveranstaltungen er intensiv verfolgt. Neben der Form und dem Titel ändert sich das anthropologische Modell, das der Erzählung zugrunde liegt. Im Zentrum des ersten Kapitels steht ein philosophisches Gespräch, in dem ein weiser Mann dem jüngeren Ich-Erzähler seine eigene Denkart erläutert. Dabei übernimmt H. fast wortwörtlich Passagen aus dem Entwurf eines epischen Gedichts, das in der Forschung als Metrische Fassung bekannt ist. Kämpft der Ich-Erzähler gegen die Natur, um die absolute Freiheit des Geistes durchzusetzen, so warnt der ältere Mann vor den zerstörerischen Konsequenzen, die ein solcher schonungsloser Kampf haben kann und verweist auf den »verborgnen Sinn«, den »das Schöne« enthält (MA 1, 525). Insofern ist die Natur nicht ein Gegenpart des Geistes, sondern sein Verbündeter. H. inszeniert hier eine Auseinandersetzung zwischen den Positionen Fichtes und jenen Schillers, dessen Gedicht Die Künstler an exponierter Stelle zitiert wird. Obwohl sich H. offenkundig auf die Seite Schillers stellt, geht er in seinen Argumentationen auf die Thesen Fichtes ein. Diese Konfrontation erfolgt noch immer in einem neuplatonischen Rahmen. Um seine Gedanken zu erläutern, erzählt der weise Mann im Roman (und in der sog. Metrischen Fassung) den Mythos
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der Geburt der Liebe aus der Vereinigung der Armut mit dem Überfluss. Auf diesen Mythos, der aus Platons Symposion stammt, hatte schon Herder in seinem Aufsatz Liebe und Selbstheit hingewiesen. Entscheidend ist dabei, dass der Eros als Bedürfnis und mithin als leidvolle und nicht zu erfüllende Sehnsucht erscheint: »Nun fühlen wir die Schranken unseres Wesens, und die gehemmte Kraft sträubt sich ungeduldig gegen ihre Fesseln, und der Geist sehnt sich zum ungetrübten Aether zurük« (MA 1, 525–526). Die Liebe ist jedoch auch Tochter des Überflusses und als solche schließt sie auch den entgegengesetzten Trieb ein, »beschränkt zu werden, zu empfangen« (ebd., 526) . Diese Polarisierung der menschlichen Grundtriebe – die in der Goethezeit in unzähligen Variationen und unter unterschiedlichen Namen vorkommt – geht vor allem auf Schiller zurück. In seinem Aufsatz Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (insbesondere im 12. Brief, der in den Horen Ende Februar 1795 erschienen war, so dass dieser Zeitpunkt als Terminus post quem der Entstehung der Metrischen Fassung betrachtet werden kann) hatte der Dichter die komplementären und wechselwirkenden Kräfte des Form- und des Sach- bzw. Stofftriebs aufgezeigt. Entspricht der Formtrieb dem in Hyperions Jugend dargelegten Willen, »die widerstrebende Natur, dem Geiste, der in uns herrscht, zu unterwerfen« (MA 1, 524), so ist der Stofftrieb mit der hier verteidigten sinnlichen Aufnahme der Natur gleichzusetzen. Der Bezug auf die Anthropologie Schillers hat bei H. die Funktion, Fichtes Philosophie zu erwidern. Dadurch wird auch die Begehrungstheorie von Herder und Hemsterhuis ersetzt. Das neue anthropologische Modell subsumiert jedoch die wesentlichen Elemente des alten. Die Art, in der H. Schillers Trieblehre wiedergibt, ist noch immer mit der Loyola-Sentenz im Fragment vereinbar, während Fichtes Begriff des Strebens als eine Potenzierung des ›désir‹ aufgefasst wird. Wer sind aber im Roman der Ich-Erzähler und der ältere Mann? Und vor allem, wer von den beiden ist Hyperion? Die Lücken in den Handschriften lassen keine eindeutigen Antworten zu. In der Forschung hat sich die Einsicht Friedrich Beißners durchgesetzt, dass der ältere Mann Hyperion sei, der ab dem zweiten Kapitel seine eigene Jugend erzählt. Das scheint durch eine Stelle bestätigt, in der der Ich-Erzähler sich neugierig zeigt, die Geschichte seines Gastgebers zu erfahren (MA 1, 531). So ist oft von einer Rahmenerzählung die Rede, in der der Ich-Erzähler des ersten Kapitels bloß eine einleitende Funktion hat und eigentlich als der fiktive Herausgeber des Buchs zu betrachten wäre (auf
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der handschriftlichen Titelseite wird dieser Herausgeber mit der Person des Autors angegeben). Allerdings kommt diese Figur in der überlieferten Fortsetzung des Romans nicht mehr vor. Aus diesem Grund hat Marie Joachimi-Dege schon 1908 die These aufgestellt, dass der Ich-Erzähler Hyperion sei (vgl. auch Strack 1975). In diesem Fall wäre der ältere Mann der Freund und Lehrer, den Hyperion später vermissen wird (MA 1, 532–533). Interessant ist weiter, dass diese Figur in einer Umgebung und Pose dargestellt wird, die an Rousseau denken lässt (vgl. T 1.2, 430–431). Wäre also der weise Mann der alte Hyperion, der sich an seine Jugend erinnert, so trüge er Züge von Rousseau. Seine Beziehung zu dem jüngeren Ich-Erzähler würde auf der Rahmenebene die Lehrer-Schüler-Beziehung reproduzieren, welche in der Binnengeschichte eine wesentliche Rolle spielt. Ob Hyperions Jugend tatsächlich als raffinierte Rahmenerzählung mit Mise en abyme gelten kann, sei dahingestellt. Ebenso legitim erscheint jedenfalls die Ansicht, dass die Begegnung mit dem älteren, Rousseau-ähnlichen Mann nur die erste Station der Geschichte des Ich-Erzählers, d. h. von Hyperion sei. Trotz der gewichtigen Fragen, die im Anfangsgespräch aufgeworfen werden, ist Hyperions Jugend dennoch keine philosophische Abhandlung in romanhafter Verpackung. Im Zentrum der Handlung stehen die Psychologie des Protagonisten und dessen Liebesgeschichte mit Diotima, wie jetzt seine Geliebte heißt, in Anspielung auf die Liebespriesterin in Platons Symposion. Ulrich Gaier (1993, 155) hat unterstellt, dass H. auf diesen Namen erst durch die Lektüre des Aufsatzes Über die Diotima von Friedrich Schlegel (Juli-August 1795) aufmerksam wurde. Das würde allerdings bedeuten, dass sich die Arbeit am Roman auch nach der Rückkehr H.s nach Nürtingen Ende Mai 1795 fortgesetzt habe. Der Name Diotima war indes schon bei Hemsterhuis (Simon) und Jacobi (Eduard Allwills Briefsammlung) zu finden. Jedenfalls lässt sich aufgrund der lückenhaften handschriftlichen Überlieferung nicht feststellen, ob im Roman die Liebe Hyperions zu Diotima erwidert wird und wie sie sich weiterentwickelt. Im Vergleich zum Fragment zeigt Hyperions Jugend eine veränderte Sensibilität für die griechische Landschaft, die neben der Psychologie der Hauptperson zentral wird. Vor allem das Aufblühen der Natur gewinnt an Konturen. Und so erhält der Roman eben in dieser Arbeitsphase seine eigentümliche Beschwörungskraft. Griechenland erscheint nicht nur als Ort einer verschwundenen Welt, sondern auch als exotischer und verführerischer Orient.
21.7 ›Vorletzte Fassung‹ (1795) Welche Gründe H. veranlasst haben mögen, in fortgeschrittenem Arbeitsstadium sein neues Konzept aufzugeben und zur Briefform zurückzukehren, ist unklar. Sowohl die politisch-historischen Umstände als auch neue philosophische Lektüren dürften eine Rolle gespielt haben. Fakt ist, dass sich H. in einem Brief an seinen Bruder vom 11.2.1796 ungeduldig hinsichtlich der Reaktion des Verlegers zeigt, dem er mit höchster Wahrscheinlichkeit schon aus Nürtingen das Manuskript des ersten Romanbandes geschickt hatte. Die neue Fassung enthält eine »Vorrede«, die sich vom Vorwort zum Fragment stark unterscheidet. Die Loyola-Sentenz wird nicht mehr erwähnt und die Metapher der »exzentrischen Bahn« verliert in der rhetorischen Argumentation ihre Relevanz. Theoretische Grundlage der »Vorrede« ist nun ein ausgesprochen kosmotheistischer Ansatz: die Zerrissenheit der Menschheit entsteht aus der verlorenen Einheit mit dem Kosmos, zu der jeder einzelne Mensch auch strebt. »Die seelige Einheit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Εν και Παν der Welt, um es herzustellen, durch uns selbst« (MA 1, 558). Die griechische Formel vom »Eins und Alles« geht auf das sogenannte Corpus Hermeticum zurück, eine Schriftensammlung, die in der Renaissance entdeckt wurde und durch die lateinische Übersetzung von Marsilio Ficino breite Resonanz fand. Als prägnante Synthese einer pantheistischen Auffassung der Welt wurde diese Formel zuerst von Ralph Cudworth in seinem Hauptwerk The True Intellectual System of the Universe (1678) verwendet, dessen lateinisch kommentierte Übersetzung von Johann Lorenz von Mosheim 1713 in Jena erschien. Durch diese Vermittlung wurde die Formel in Deutschland in Gelehrtenkreisen rezipiert. Berühmt wurde sie aber erst durch die Streitschrift Jacobis Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785, erw. zweite Aufl. 1789). Hier berichtet Jacobi, dass sich Lessing zu Ende seines Lebens als Spinozist erklärt und sich das »Eins und Alles« als eigenes Motto gemacht hätte. Auch im Roman Eduard Allwills Briefsammlung zitiert Jacobi die griechische Formel. Im Tübinger Stift wurde die Streitschrift Jacobis intensiv besprochen. Im Stammbuch Hegels notierte H. das griechische Motto am 12.2.1791 (FHA 1, 557). Der Dichter exzerpierte einige Auszüge aus dem Buch Jacobis (vgl. MA 2, 39– 43) und besaß ein Exemplar der zweiten Auflage.
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Die Reaktivierung der griechischen Formel und der damit verbundenen Positionen im Rahmen der neuen Fassung des Romans ist noch in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung H.s mit Schelling zu stellen, die im Sommer 1795 begonnen hatte. In seinem Buch Vom Ich als Princip der Philosophie oder das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795) nimmt Schelling wiederholt Bezug auf Jacobi und auf Spinoza und versucht damit, Fichtes Philosophie zu überbieten. Die Vorstellung, dass der Mensch in seiner eigentümlichen Tätigkeit, welche ihn nach Fichte als freies und selbständiges Wesen kennzeichnet, nach dem Absoluten strebt, von diesem kommt und zu diesem zurückkehren möchte, erscheint als Schüssel, um das Problem der Subjektivität (des sog. »absoluten Ich«) zu lösen. Die Freiheit des Menschen wird aus seiner göttlichen Natur abgeleitet, die sich aber in ihm erst in Ansätzen offenbaren kann. Mag die Tätigkeit des Menschen auch als Irrtum erscheinen, so ist das Streben, das ihr innewohnt, göttlich. Die »unendliche Vereinigung« mit der Natur kann zwar nicht stattfinden, ist jedoch für das menschliche Tun maßgebend. Wie lässt sich aber diese innere Zugehörigkeit des Menschen zur Totalität des göttlichen Kosmos beweisen? Schelling hielt dies durch die sogenannte »intellectuale Anschauung« für bestätigt und sah darin die Legitimation der menschlichen Freiheit. In der »Vorrede« zur Vorletzten Fassung ist der Zugang zur Totalität (zum »Seyn«) eine ästhetische Wahrnehmung, die durch die Schönheit ermöglicht wird. Neben dem Symposion steht dafür als wichtigste Quelle Platons Phaidros, in dem die Wahrnehmung der irdischen Schönheit ein Abglanz der überhimmlischen Schönheit und mithin die Erinnerung an eine Zeit ist, als der Mensch eins mit dem Allen war. So ist die Erfahrung des Schönen nicht nur sinnlich, sondern intellektuell, die Erlösung aus einem Zustand von Ungewissheit und Unbehagen, der nichts anderes ist als die Kehrseite seines Willens zur Macht. In der Schönheit zeigt sich das »Seyn« und ihre Wahrnehmung ist als Epiphanie zu verstehen. Man kann davon ausgehen, dass H. seine »Vorrede« im Dezember 1795 verfasste und dass sie gleichzeitig mit der Glosse Urtheil/Seyn entstand, die – wie Friedrich Strack überzeugend nachgewiesen hat (2013, 14–18) – auf dem Coverblatt eines Separatabdrucks von Schellings Philosophische Briefe über Dogmaticismus und Kriticismus geschrieben wurde. Beiden Schriften H.s ist die Erkenntnis gemeinsam, dass die Identität nicht mit »dem absoluten Seyn« zu verwechseln ist. Im Gegenteil bedeutet die Vereinigung mit dem Allen (»wie es bei der intellectualen An-
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schauung der Fall ist«, MA 2, 49) eine Auflösung der Identität. Während also für Schelling die intellektuelle Anschauung die ontologische Grundlage des absoluten Ichs darstellt, ist sie für H. ein ästhetischer und gleichsam ›mystischer‹ Zustand, in dem zwar den Zugang zum Absoluten vermittelt scheint, der aber das Ich aufhebt. Wenn die Geschichte des Menschen die Geschichte seines Selbstbewusstseins, seiner Emanzipation und seiner Freiheit ist, so kann diese Geschichte weder das Leiden noch die konstitutive Zerrissenheit des Lebens abschaffen, die einer »ursprünglichen Trennung« (MA 2, 50) des Subjekts von seinem Objekt entspringen. Es kann deshalb nicht überraschen, dass die überlieferten Seiten der Vorletzten Fassung in erster Line eine Leidensgeschichte erzählen, die darüber hinaus von der Sehnsucht nach Liebe und Glück geprägt ist. Die Bruchstücke lassen nur Teile der Handlung rekonstruieren, die auf der Kykladeninsel Insel Tenos spielt. Hyperion hat einen heftigen Streit mit seinem Freund Adamas, der ihn sogar umbringen will; vernimmt mit Besorgnis die Klage seines Dieners Stephani über die Hungersnot, die die Einwohner der Insel plagt; lernt den jungen und geschickten Notara kennen und wird von diesem wegen seines allzu schwärmerischen Phantasierens über das alte Griechenland verhöhnt; verfällt in eine düstere Melancholie und schließt sich von seiner Umwelt ab; vermisst einen alten Freund, der den Ort verlassen hat; verliebt sich schließlich in ein Mädchen, die ihm »heilig und hold, wie eine Priesterin der Liebe« (MA 1, 570; die selbe Wendung kommt schon im Fragment vor, vgl. MA 1, 492) vorschwebt. Obwohl in diesen Briefen nicht nur berichtet, sondern auch reflektiert wird, lässt sich hier nicht eindeutig eine spezifische Erzählebene identifizieren, welche die Situation des Erzählers zur Zeit des Berichtsdarstellen würde. Hyperion schreibt über seine Vergangenheit und nicht über seine Gegenwart.
21.8 ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹. ›Vorrede‹ und Aufbau Die meisten kritischen Editionen verweisen auf die Paginierung der Erstausgabe, die auch in dem vorliegenden Beitrag mit der Angabe des Bandes und der Seite zitiert wird. Aus den vielfältigen und signifikanten Unterschieden zu der Vorletzten Fassung geht deutlich hervor, wie tiefgreifend H. seinen Roman im Herbst und Winter 1796 nochmals umgestaltet hat.
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In der neuen »Vorrede« der Druckfassung fällt die Metapher der »exzentrischen Bahn« vollkommen weg, während die Loyola-Sentenz als Motto erscheint, wobei der elliptische Satz jetzt durch das Prädikat »divinum est« ergänzt wird. Der Text beginnt mit einer polemischen Ansprache des Autors an die Deutschen, von denen er fürchtet, dass sie sein Werk nicht verstehen werden (eine paradoxe Form von captatio benevolentiae). Damit wird erstmals der politische Charakter des Romans hervorgehoben. Die philosophischen Theoreme, welche sowohl das Vorwort zum Fragment als auch die »Vorrede« zu der Vorletzten Fassung kennzeichnen, werden zugunsten eines poetologischen Bekenntnisses aufgegeben. Ziel des Autors ist nun, »die Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter« (1, 3) aufzuzeigen; dies – präzisiert der Autor – sei weder als reine Unterhaltung (»leere Lust«) noch als trockene Lehre (»bloße[s] Nachdenken«) aufzufassen. Solch eine musikalische Metapher, die im Laufe der Erzählung wiederaufgenommen wird, ist noch der These Blanckenburgs verpflichtet, der Roman soll die »innre Geschichte eines Charakters« beleuchten. Im Unterschied zu allen früheren Fassungen spielt nun die Geschichte auf zwei abwechselnden Zeitebenen. Einerseits berichtet Hyperion über seine Jugend, andererseits reflektiert er über seinen aktuellen Zustand. Der erzählende Hyperion markiert somit seine Distanz zu dem erzählten Hyperion, zu der handelnden Romanperson. Von dieser werden die Lebensereignisse und -Zustände mitgeteilt, von jenem wird die innere Entwicklung dargestellt. Der eine betrachtet sich als »Eremit« auf der Erde, außerhalb des Weltgeschehens, auf der Suche nach einer inneren Ruhe und einem schwierigen Gleichgewicht; der andere ist von seinen Idealen zerrissen, von der politischen Tat angezogen, in Diotima verliebt, von dem Freund Alabanda fasziniert: er fühlt sich zur einer historischen und existentiellen Aufgabe berufen. Zwischen den zwei Erzählebenen besteht ein Zusammenhang. Indem er seine eigene Geschichte in Erinnerung ruft, verändert sich auch der Erzähler. In dieser Hinsicht ist Hyperion oder der Eremit in Griechenland auch – und vielleicht vor allem – die Geschichte einer Selbstwerdung. Was das Lesen des Textes komplex macht, hat seinen Grund darin, dass der Geschichtsverlauf ständig durch Reflexionseinschiebungen unterbrochen wird. Nicht von ungefähr warfen die ersten Rezensenten dem Autor vor, dass im Roman wenig stattfinden würde, und trugen damit zu dem noch anhaltenden Stereotyp einer »lyrischen Prosa« bei, in der die Ereignisse eigentlich unbedeutend seien. In der Tat ist der Roman – ins-
besondere im zweiten Band – reich an abenteuerlichen Motiven: vom Schiffbruch Alabandas zum Geheimbund der Nemesis, vom Kriegsmassaker in Misistra bis zum Tod der Geliebten. Diese Ereignisse werden aber oft als Prüfsteine vorgeführt, durch die der Erzähler sein Selbstbewusstsein erlangt. Es mag deshalb überzeugend erscheinen, nur die Reflexionsebene als die einzige signifikante Erzählschicht zu betrachten. Verfährt man so, werden dennoch der Plot und die Bedeutung der anderen Figuren vernachlässigt. Interpretiert man den Roman nur durch die Sichtweise seines Erzählers (und des Autors der »Vorrede«), so bleibt unberücksichtigt, dass gerade diese Sichtweise durch die erzählten Episoden in Frage gestellt wird. Gewiss ist Hyperion kein Candide, aber kann man wirklich den Bekenntnissen einer Gestalt vertrauen, die wiederholt als naiver Träumer erscheint? Soll man als Leser und Interpret auch nicht diese Figur hinterfragen? Ist die Lehre, die Hyperion aus seinen Erfahrungen zieht, als eine Art moralische Schlussfolgerung, die aus dem Buch zu ziehen ist, oder ist sie eine ideologische Konstruktion, die nicht ganz zu überzeugen vermag? Die Druckfassung weist einen viergegliederten symmetrischen Aufbau auf. Jeder Band ist in zwei »Bücher« aufgeteilt und enthält insgesamt dreißig Briefe; jedem Band ist ein fremdsprachiges Motto vorangestellt. In dieser aufmerksam komponierten Struktur stecken einige Asymmetrien. Der Ort, von dem aus der Erzähler seine Briefe schreibt, ändert sich im zweiten Buch des ersten Bands (von Korinth zu der Insel Salamis) und bleibt derselbe im zweiten Band. Der Schluss des zweiten Bandes entspricht nicht jenem des ersten, sondern dem des ersten Buches. Die Anzahl der Briefe im ersten und im zweiten Buch jedes Bandes ist ungleich, ebenso wie ihre Länge. Das erste Buch des ersten Bandes ist durch eine graphische Trennlinie zweigeteilt. Darüber hinaus ist die Symmetrie in der Anzahl der Briefe nur dadurch möglich, dass ein Brief im zweiten Band zwei weitere Briefe umfasst (davon einer in mehreren »Fortsetzung[en]«). Während der erste Band nur Briefe Hyperions an Bellarmin enthält, wird im zweiten Band der Roman polyperspektivisch und schließt auch die Korrespondenz zwischen Hyperion und Diotima sowie einen Brief des Freundes Notara ein. Erster Band. Erstes Buch Kein Ereignis wird in den ersten zwei Briefen des Romans dem fernen Freund Bellarmin mitgeteilt. Hyperion, der in seine Heimat zurückkehrt ist und in Ko-
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rinth lebt, berichtet über seinen bewegten seelischen Zustand, ohne auch nur ein Wort über die äußeren Umstände zu verlieren. Kontrapunktisch zu diesem psychologischen Selbstporträt steht die Beschreibung der Landschaft, die in ihrer Blüte und Fülle dargestellt wird. Hyperion stellt sich als Wanderer vor, der nach einer langen Reise heimkehrt und sich unter den Menschen fremd fühlt. Empfangen wird er vielmehr von der Natur, die ihn herzlich aufnimmt, »als öffnet’ ein verwandter Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsamkeit sich auf in’s Leben der Gottheit« (1, 10). Das »Eins und Alles«, von dem die »Vorrede« zur Vorletzten Fassung spricht, steht jetzt im Mittelpunkt der Erzählung. Hyperions Ideal ist nämlich, »Eines zu seyn mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren in’s All der Natur« (ebd.). Dieses Programm wird aber sofort in Frage gestellt. Die Vereinigung des Subjekts mit der Natur stellt sich als Täuschung heraus, sobald ein »Moment des Besinnens« (1, 11) eintritt. Die »intellektuelle Anschauung« (oder vielmehr: die ästhetische Wahrnehmung der Totalität) ist mit der Logik der Erkenntnis unvereinbar; Bewusstwerden ist schmerzhaft. Der Anfang kennzeichnet den Erzähler als einen enttäuschten Träumer, der in den Zustand eines »Bettler[s]« gefallen ist oder sogar eines »misrathene[n] Sohn[s], den der Vater aus dem Hause stieß« (1, 12), da er nicht nur sich selbst, sondern auch andere betrogen hat. Die Forschung hat oft auf den ›therapeutischen‹ Wert eines solchen Bekenntnisses hingewiesen, wobei das Leben Hyperions immer noch als »exzentrische Bahn« gedeutet wird. Es gilt aber zu betonen, dass diese Metapher in der Druckfassung nicht mehr gebraucht wird. Stattdessen beabsichtigt der Autor, »die Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter« zu zeigen. Nicht ein wie immer gearteter Lebensweg, sondern ein psychologischer, nicht zeitlich zu determinierender Prozess steht im Zentrum der Geschichte. Die Überleitung zu dem eigentlichen Bericht erfolgt im dritten Brief, in dem Hyperion Bellarmin dankt, der ihn gebeten hat, von sich zu erzählen. Die Erinnerung an die Kindheit und an »die Zeit des Erwachens« (1, 14) ist jedoch an kein bestimmtes Ereignis gebunden, sondern an besondere psychische Zustände, die dem Verhältnis des Subjekts mit seiner Umwelt entspringen. Ganz im Zeichen von Rousseau erscheint die Kindheit als eine Zeit, die sich dem Zwang und dem Schicksal entzieht. Das Kind ist »ein göttlich[es] Wesen«, in ihm ist »Freiheit«, »Frieden« und »Reichtum« und seine Lage ist mit jener der ersten Menschen im
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Garten Eden vergleichbar (1, 13); wie diese wird auch es aus dem Paradies vertrieben. Entscheidend ist die Vorstellung der Ganzheit des Kindes, die der Zerrissenheit des erwachsenen Menschen gegenübersteht. Anders steht es mit der Jugend. Um den Vitalismus darzustellen, der sie charakterisiert, rekurriert H. auf eine berühmte Stelle in Goethes Werther (Brief vom 10.5.), die bis auf einzelne Details nachgeahmt wird (1, 15). Es ist der erste einer Reihe intertextueller Bezüge auf diesen Roman, der durch seine Form und seine Themen Hyperion am nächsten steht (vgl. Reitani 2015b). Die Verwandtschaft der Texte ist evident. Ihre Syntax besteht in einer langen Kette von temporalen Nebensätzen, die durch eine rhetorische Steigerung den emphatischen Ausruf des Hauptsatzes einführen. In beiden Fällen liegt der Held im Gras und bewundert aus dieser Perspektive die Welt, deren Elemente in einem ›Katalog‹ aufgezählt werden; er fühlt sich von den Naturkräften umarmt und wendet sich in Gedanken an den Schöpfer, der mit seiner Schöpfung identifiziert wird. Trotz dieser markanten Ähnlichkeiten unterscheiden sich die Texte dennoch in wesentlichen Punkten. Der Blick auf die Welt geht in Hyperion von unten nach oben, während in Werther eine horizontale Wahrnehmung geschildert wird, die auch in den winzigen Elementen, im Mikrokosmos, die Gegenwart des Schöpfers auffindet. Die Umarmung der Natur hat bei Goethe eine ausgesprochen erotische Konnotation, die bei H. fehlt. Anders ist aber vor allem der Schluss. Schlägt für Werther die erotische Wonne der Naturumarmung in die Angst ihres raschen Vergehens, in das ungelöste Problem ihrer Unsagbarkeit um, so ist für den jungen Hyperion die Bewunderung der hierarchischen Ordnung der Schöpfung die Bestätigung des eigenen Gnadenzustandes. Dies gilt jedoch nur für den jungen Hyperion. Im Unterschied zu Werther ist nämlich der Hyperion-Text konsequent im Präteritum geschrieben, wobei der Erzähler seinen damaligen Gemütszustand so einführt und relativiert: »Daß der Mensch in seiner Jugend das Ziel so nahe glaubt! Es ist die schönste aller Täuschungen, womit die Natur der Schwachheit unsers Wesens aushilft« (1, 15). Die Dramatik des Werther-Textes wird somit bei H. durch die Reflexion des Briefschreibers wiedergegeben, der die vermeintliche Seligkeit des Subjekts als Täuschung entlarvt. Für den erzählenden Hyperion hat das Gefühl der Einigkeit mit dem Kosmos eine unheimliche und fast psychotische Facette. Wenn er endlich glaubt, den »Geist der Welt« erfassen zu können, so muss er feststellen, dass er dazu kei-
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nen Zugang und nur sich selbst dahinein projiziert hat. Wie bei Werther bleibt das Gefühl der Teilnahme an der Natur unsagbar: »Es ist, als säh’ ich, aber dann erschrek’ ich wieder, als wär’ es meine eigne Gestalt, was ich gesehn, es ist, als fühlt’ ich ihn, den Geist der Welt, wie eines Freundes warme Hand, aber ich erwache und meine, ich habe meine eignen Finger gehalten« (1, 16). In dieser Hinsicht ist die Kritik des erzählenden Hyperion an seinem jugendlichen Gemütszustand, indem er sich einig mit dem Kosmos fühlte, eine Kritik, die sich nicht nur auf den Werther bezieht, sondern ihn auch interpretiert. Der implizite, selbstzerstörerische Narzissmus, der die Goethesche Figur prägt, wird in Hyperion zu einem expliziten Moment der erzählerischen Reflexion. Die stilistische und thematische Wiederaufnahme des Werther-Briefs vom 10.5. im dritten Brief des Hyperion, d. h. an einer ähnlichen Position des Romans, wirkt als Kontrafaktur. Der Vitalismus der Jugend wird als Allmachtswahn umgedeutet. Erst im vierten Brief fängt Hyperion an, über die äußeren Umstände seiner Jugend zu berichten. Sie wird von zwei Menschen geprägt, die im Zentrum des ersten Buches stehen: der Lehrer Adamas und der Freund Alabanda. Es sind beide höchst affektbeladene Beziehungen. So wird das Verhältnis Hyperions zu Adamas mit jenem Platons zu seinem Schüler Stella verglichen (1, 16). Die Figur des Erziehers, der den Held unterrichtet und ihn in die Werte und Ideale des klassischen Altertums einführt, wird schon in Hyperions Jugend entworfen, wo der Erzieher auch Vater Diotimas ist (MA 1, 542). In Der Eremit in Griechenland begleitet diese Figur Hyperion auf eine Reise durch Griechenland. Gemeinsam besteigen Lehrer und Schüler den Berg Kynthos auf der Insel Delos und bewundern dort den Sonnenaufgang. Für Hyperion bedeutet dies die Einweihung in das Erwachsenenleben, zumal Adamas ihn auffordert, wie die Sonne zu sein (1, 24). Auch für diese Szene gibt es eine bekannte literarische Vorlage (vgl. Honold 2002, 117–119). In Rousseaus Èmile oder Über die Erziehung (1762) wird empfohlen, Naturexkursionen zu unternehmen, die der guten Erziehung dienen sollen. Das Betrachten des Sonnenaufgangs wird zu diesem Zweck für besonders geeignet gehalten und dessen Beschreibung im dritten Buch der pädagogischen Abhandlung zählt zu den schönsten und bekanntesten Seiten des französischen Denkers. H. bezieht sich auf diese paradigmatische Erziehungsepisode, die seinen Lesern nicht unbekannt sein durfte, und lädt sie mit weiteren Assoziationen auf. Die Insel Delos war dem Kult Apollons gewidmet, der u. a. als Sonnengott rezipiert wird, und
selbst der Name ›Hyperion‹ lässt sich in Verbindung mit der Sonne setzen (so z. B. bei Ovid, Fasti 1, V. 385). Im Roman heißt es weiterhin über die Insel: »In Flu then der Freude und Begeisterung warfen hier, wie Achill in den Styx, die griechische Jünglinge sich, und giengen unüberwindlich, wie der Halbgott, hervor« (1, 9). Delos erscheint als Initiationsort, der in der Antike den Übergang zum Erwachsenensein markiert. Die (in den unterschiedlichen Fassungen des Romans vorkommende) Erwähnung des Mythos von Achill, der von seiner Mutter in den infernalischen Fluss Styx geworfen wurde, um unverwundbar zu werden, ist übrigens eine weitere Anspielung auf Rousseaus Èmile. Dort nämlich wird Bezug auf eben diesen Mythos genommen, der als Beispiel für eine korrekte Erziehung gedeutet wird: um ihre Kinder auf die Schwierigkeiten des zukünftigen Lebens vorzubereiten, sollen die Mütter sie nicht von den harten Proben der Natur fernhalten. Das mythologische Exempel war für Rousseau so relevant, dass das Frontispiz der Bucherstausgabe es abbildete. Durch Adamas und seine Erziehung im Zeichen Rousseaus kommt also Hyperion zu seiner Selbstbestimmung, die zugleich eine Initiation in eine mythologische Welt ist, die derjenigen der Gegenwart entgegensteht. Das führt ihn allerdings in eine Isolation, die nur teilweise von dem »Wirbel der Freude« (1, 30), in den Hyperion sich stürzt, kompensiert wird. Der ständige Wechsel von Begeisterung zu Schwermut, von depressiven zu euphorischen Gemütszuständen, der den Held schon im Fragment kennzeichnete, ist auch in der Druckfassung eine Konstante der Erzählung. Eine Trennlinie markiert im ersten Buch das Ende der Erziehungsjahre Hyperions. In den darauffolgenden Seiten wird der Handlungsort von Tenos, wo der Held geboren wurde, nach Smyrna verlegt. Trotz der Liebe zur Landschaft, in die die Stadt eingebettet ist, leidet Hyperion unter der Heuchelei und Oberflächlichkeit ihrer Einwohner. Hierin spiegelt sich die Kritik Rousseaus an der städtischen Zivilisation wider, wie sie u. a. in seinem Roman Julie ou La Nouvelle Héloise vorgetragen wird. So bleibt die zwischen Hoffnung und Trauer oszillierende Situation Hyperions gleich. Das ändert sich, als er den fremden Alabanda kennenlernt, dessen Erscheinungsbild hervorsticht: »Wie ein junger Titan, schritt der herrliche Fremdling unter dem Zwergengeschlechte daher, das mit freudiger Scheu an seiner Schöne sich waidete, seine Höhe maß und seine Stärke, und an dem glühenden verbrannten Römerkopfe, wie an verbotner Frucht mit verstohl-
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nem Blike sich labte« (1, 40). Schon die Umstände, welche zur Freundschaft führen, sind heroischer Art. Beide Helden müssen sich gegen einen Räuberangriff verteidigen. Es entsteht eine starke Verbindung, in der sich Hyperion zum ersten Mal verstanden fühlt. Gegen das »Joch«, das Griechenland unter der Herrschaft der Ottomanen trägt, wollen die Freunde rebellieren, und Alabanda nennt Hyperion seinen »Waffenbruder« (1, 47). Durch Alabanda werden in die Handlung typische Motive des Abenteuerromans eingeführt, die die Statik der vorhergehenden Briefe unterbrechen. Wie sich im Laufe der Geschichte herausstellen wird, war Alabanda Seeräuber, hat einen Schiffbruch überlebt und wurde Mitglied eines Geheimbundes. Er ist ein Mann der Tat, der für die Tat lebt. Vor allem ist Alabanda der erste politische Revolutionär in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Neben Diotima, mit der er in einer merkwürdigen Konkurrenz steht, ist er die bedeutendste Nebenperson im Roman. Schon im Fragment stellt die Freundschaft ein wichtiges Moment im Entwicklungsprozess Hyperions dar. Bis zur Vorletzten Fassung heißt der Freund und Mitstreiter des Helden Adamas. Mit diesem ›sprechenden‹ Namen, der die Bedeutung von ›Diamant‹ hat, wird nun der ältere Lehrer Hyperions benannt. Dass H. zu dem neuen Namen Alabanda kommt, ist in mancher Hinsicht kurios. Alabanda war nämlich der Name einer der wohlbekanntesten Figuren der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert, und zwar in Wielands Roman Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian, dessen zweite geänderte Ausgabe 1794 erschienen war. Dort ist Alabanda indes die schöne Favoritin eines orientalischen Prinzen, die mit ihren Launen den Staat zugrunde richtet. Mit diesem Roman hatte Wieland den Höhepunkt seines Ruhms erreicht. Dass H., der sich in einem Brief an Neuffer vom November 1794 abwertend gegenüber Wieland äußert, ausgerechnet den Namen einer seiner Figuren verwendet, dazu mit einer männlichen Identität, mag verwundern. Ob H. den Roman Wielands kannte und ob er mit dieser seltsamen Wiederverwendung eine polemische Absicht verfolgte, muss dahingestellt bleiben. Der Name Alabandas durfte bei beiden Autoren jedenfalls die gleiche Herleitung haben. In der Antike war unter diesem Namen ein roter Edelstein bekannt, der aus einer ebenfalls gleichnamigen Stadt in Kleinasien kam. Durch Plinius (Naturalis historia, 36, 62; 37, 92) wird der Name alabanda weiter tradiert und wandert in die Steinbücher des Mittelalters, so z. B. bei Marbods von Rennes De Lapidus (ca. 1090). Beson-
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ders erwähnenswert ist, dass in Wolfram von Eschenbachs Parzival (792, V. 1–20) der Stein alabandâ zusammen mit dem adamas in einem Steinkatalog angeführt wird. Die Bedeutung der Mineralogie für das Wissen des 18. Jahrhunderts und die symbolische Faszination der Edelsteine in der europäischen Literatur der Zeit brauchen nicht erläutert zu werden. Ein roter Edelstein, der laut Plinius nicht anders als der märchenhafte Karfunkel ausgesehen haben soll, hat die Phantasie der Schriftsteller entfachen müssen. Wird aber der Edelstein bei Wieland mit einer sinnlichen Frau assoziiert, so steht dessen Namen bei H. für einen feurigen und männlichen Revolutionär. Allerdings enthält auch die Beziehung des Helden zu Alabanda im Roman H.s erotische Konnotationen. Die Freundschaft zwischen beiden endet jedoch unerwartet, als Hyperion von dem Geheimbund erfährt, zu dem Alabanda gehört. Die Beschreibung der Mitglieder des Bundes, die Alabanda noch im fernen Smyrna auffinden, enthält eindeutige Anspielungen auf die Symbolik der Freimauerei (vgl. dazu Macor 2006, 90–106). Hyperions und H.s Kritik an den von Alabanda vertretenen ideologischen Positionen schließt sich an die Debatte über die Auflösung des Illuminatenordens an. So ist die Entdeckung der Zugehörigkeit Alabandas zu dem Geheimbund zwar Auslöser, der zum Bruch führt, der politische Streit zwischen den Freunden indes hatte schon früher begonnen. Während einer Ausfahrt nach Chios diskutieren sie über die Rolle des Staates, dem nach den Worten Hyperions Alabanda »zu viel Gewalt« (1, 53) einräumt. Gegen den ›Jakobinismus‹ des Freundes verteidigt Hyperion die liberale These, der Staat sei »die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nicht anders« (ebd.). Offenkundig klingt hier die Erfahrung der Französischen Revolution an: »der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte« (ebd.). Eine solche Ansicht deckt sich mit den Vorstellungen, die Wilhelm von Humboldt schon 1792 in der [Neuen]Thalia erschienenen Schrift Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken? dargelegt hatte, in der auch die Pflanzenmetapher vorkommt. Auf die Frage aber, wie ohne die Staatsgewalt eine Erneuerung der Gesellschaft möglich sei, verfällt Hyperion in einen schwärmerischen Idealismus, von dem sich Alabanda kalt distanziert. H. stellt hier ein politisches Hauptdilemma dar. Auf der einen Seite steht der Jakobiner Alabanda, der seine politischen
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Ziele auch durch Gewaltmittel erreichen will; auf der anderen Seite der Schwärmer Hyperion, der von der »neue[n] Kirche« träumt (1, 54), von einer Palingenese, die nicht nur politisch, sondern vor allem theologisch gemeint ist. Diese Konfrontation zeigt, inwiefern H. die Revolutionstheorien seiner Zeit besorgt beobachtet. Er ist vom Jakobinertum fern, rückt aber auch seine Hauptfigur in ein kritisches Licht. Insofern ist der Streit mit Alabanda im Roman von zentralem Belang, denn die Grenzen der Sichtweise Hyperions, und zwar des erzählenden Hyperions treten hier klar zutage. Seine Perspektive erscheint nicht weniger naiv als diejenige der erzählten Figur. Nach dem endgültigen Bruch mit Alabanda kehrt Hyperion nach Tenos zurück. In den letzten Briefen des ersten Buches wird über kein äußeres Ereignis mehr berichtet und der Gemütszustand des Protagonisten, seine innere Welt, rückt wieder in den Mittelpunkt. Hyperion verfällt ein weiteres Mal in Gleichgültigkeit, Melancholie und Passivität. Mit der Wiederkehr des Frühlings kommt dann die Hoffnung zurück und mit ihr der Schmerz. Hyperion schreibt dreimal an »seinen bis in den Tod geliebten« (1, 76) Alabanda, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Der letzte Brief des ersten Buchs artikuliert eine pessimistische, ja nihilistische Weltanschauung, die die Gedanken Hyperions zu diesem Zeitpunkt der Geschichte wiedergibt. In mancher Hinsicht steht dieser Brief im Gegensatz zu dem zweiten, der die Suche des Menschen nach Totalität thematisiert. Dagegen wird nun behauptet, »daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben an’s Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mälig überzugehen in’s Nichts« (1, 78). Die Umkehrung des »Eins und Alles« in »Nichts und Alles« ist programmatisch und drückt einen Gedanken aus, der sich schon bei Jacobis Allwill zeigt und das ganze Fragment prägt. Sobald sie sich dem Menschen entzieht, kann die Totalität zur absoluten Leere werden. Allerdings distanziert sich der Erzähler von diesen Gedanken, die er als unbegreiflich abstempelt (1, 80). Erster Band. Zweites Buch Das zweite Buch des ersten Bandes ist ganz der Figur Diotima gewidmet. Nachdem der Held seine Erziehung bei Adamas vollendet, und durch den Bund mit Alabanda die Komplexität der Freundschaft kennengelernt hat, erlebt er nun die Liebe. Schauplatz der Handlung ist jetzt die Insel Kalaurea. Drei sind also im ersten Band die Personen, die auf Hyperion einwir-
ken, drei die Hauptstationen seiner Entwicklung (Erziehung, Freundschaft, Liebe), drei die zentralen Orte des Romans. Im Unterschied zu den früheren Fassungen, in denen die Begegnung mit der Geliebten mit dem Ankommen des Frühlings am Geburtsort des Helden zusammentraf, wird diese Episode im Eremiten in Griechenland mittels einer Fahrt nach Kalaurea vorbereitet, die den Charakter einer Initiierung aufweist. Hyperion wird von einer dem Sprechen sich verschließenden und gerade deshalb zur Sprache drängenden Ekstase ergriffen. Diotimas Auftritt wird sogleich mit der hermetischen Formel des »Eins und Alles« in Verbindung gebracht. Durch ihre Schönheit offenbart sich die verborgene Harmonie der Schöpfung. Die Bedeutung dieses ersten Anblicks lässt sich nicht mehr auf eine Wahlverwandtschaft der Seelen beschränken, sondern wird zu einem ekstatischen Zugang zum Sein. Die vom Erzähler am Anfang geäußerte Skepsis gegenüber dem menschlichen Streben, »Eines zu seyn mit Allem, was lebt«, sowie der radikale Nihilismus des letzten Briefes des ersten Buches weichen zugunsten einer bejahenden und begeisterten Empfindung. Die erstrebte Vereinigung mit der Natur erscheint möglich, obwohl sie als verloren gilt. Man könnte daraus schließen, dass sich in Diotima die vollkommene Schönheit des Kosmos widerspiegelte. Der Roman bleibt aber vage, wenn es darum geht, die geliebte Frau zu beschreiben. Von ihr wird gesagt, dass »nur, wenn sie sang, erkannte man die liebende Schweigende, die sich so ungern sich zur Sprache verstand. Da, da gieng erst die himmlische Ungefällige in ihrer Majestät und Lieblichkeit hervor« (1, 99). Die Schönheit Diotimas liegt deshalb nicht so sehr in ihrer Statik, in ihren Eigenschaften und Proportionen (wie es bei Alabanda der Fall war), sondern in ihrer Dynamik, in ihrem Verhältnis zu den Mitmenschen und zur Natur. In dieser Hinsicht ist ihre Schönheit nicht allzu fern von der Anmut, wie sie Schiller begriffen hatte. Gleichzeitig schließt die Schönheit Diotimas auch das Erhabene ein. An einer signifikanten Stelle wird sie in einer Gefahrensituation dargestellt: »Nun trat sie weiter vor, und sah die schroffe Felsen wand hinab. Sie hatte ihre Lust daran, die schrökende Tiefe zu messen, und sich hinab zu verlieren in die Nacht der Wälder, die unten aus Felsenstüken und schäumenden Wetterbächen herauf die lichten Gipfel strekten. Das Geländer, worauf sie sich stüzte, war et was niedrig. So dürft’ ich es ein wenig halten, das Rei zende, indeß es so sich vorwärts beugte. Ach! heiße zit ternde Wonne durchlief mein Wesen und Taumel und
21 Hyperion Toben war in allen Sinnen, und die Hände brannten mir, wie Kohlen, da ich sie berührte.« (1, 97–98)
Der Abgrund und dessen Anblick gehören zum Kanon des Erhabenen in der europäischen Kultur des 18. Jahrhunderts. Die »Wonne«, die Hyperion spürt, als er Diotima stützt, wird durch die Gefahr verdoppelt, der sie ausgesetzt ist. Ihre Furcht vor dem Abgrund wird zum »vermischten Gefühl« des Erhabenen, und das männliche Subjekt nimmt sowohl die weibliche als auch seine eigene, durch den physischen Kontakt versursachte Lust wahr. Das Schöne und das Erhabene treten gleichzeitig in derselben ästhetischen Erfahrung auf, die H. später als Dimension des Aorgischen bezeichnen wird. In der Angst und Freude der Geliebten offenbart sich das absolute Sein. Insofern ist die Beziehung zu Diotima ein wesentlicher Handlungskomplex, der den Wert einer unio mystica annimmt. Hyperion verführt Diotima, die sich darüber wundern wird, wie ihre Liebe zu ihm sie selbst verändert hat. Während ihre Symbiose mit der Natur zu Ende ist und sie ihre eigene Individualität entdeckt, kann sich Diotima jetzt nur noch durch den Geliebten einen Zugang zur Einheit der Dinge verschaffen (1, 135). Ausschlaggebend ist, dass sich die Liebe als Idylle erweist und nicht als Zerreißprobe, welche Unglück verursacht, wie es bei den früheren Fassungen noch der Fall war. Damit wird auch die Distanz zum Genre des sentimentalen Liebesromans markiert, bei dem die Liebe der Hauptfiguren verhindert wird. Kein Hindernis steht zwischen Hyperion und Diotima, die ihre Liebe ungestört genießen können. Aus dieser Liebesbeziehung erhält Hyperions schwärmerischer Heroismus neue Kraft. Seine Begeisterung wirkt endlich glaubwürdig und er bemüht sich, die griechische Vergangenheit als Ideal der Zukunft darzustellen. Das zweite Buch endet mit einer Pilgerfahrt der Geliebten und ihrer Freunde nach Athen. Während der Schifffahrt entsteht ein Gespräch über die Gründe, die die Überlegenheit der griechischen Stadt auslösten, und die Hyperion auf die Freiheit der Athener zurückführt. Der Text enthält hier eine eingehende kulturhistorische Darlegung und folgt in diesem Punkt dem Modell des gelehrten Romans, der z. B. von Wilhelm Heinse praktiziert wurde. Das Gespräch speist sich vor allem aus den verbreiteten Thesen und Argumenten Winckelmanns, der in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) die griechische Kultur des Perikleischen Zeitalters als Höhepunkt der Menschheitsgeschichte dargestellt hatte.
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Dabei dürfte H. auch das übertragen haben, was er in einem Brief an Niethammer vom 24.2.1796 angekündigt hatte, und zwar den Versuch, den »Widerstreit [...] zwischen Vernunft und Offenbarung« aufzulösen, und »von der Philosophie auf Poësie und Religion zu kommen« (StA 6, 203). Hyperion erklärt nämlich, wie in der griechischen Kunst »der Mensch und seine Götter Eins« waren, »da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war« (1, 142). Dabei handelt es sich insofern um »Mysterien«, als sich in ihnen die Absolutheit des Seins offenbart: »Ich spreche Mysterien, aber sie sind.« (ebd.) Im Wortschatz der transzendentalen Philosophie entspricht dieser Erfahrung die sogenannte »intellektuelle Anschauung«. Das Wesen der Schönheit ist somit durch das Wort von Heraklit zum Ausdruck gebracht: »das Eine in sich selber unterschiedne« (1, 145). Diese erste Spur einer Rezeption der Vorsokratiker, die für H. im Laufe der Jahre an Bedeutung gewinnen wird, steht noch immer im Rahmen jener pantheistischen (bzw. kosmotheistischen) Philosophie, die unter dem Motto von »Eins und Alles« subsumiert wurde. Der Name Heraklit vertritt eine Traditionslinie, die durch Jacobi auf Spinoza und vor allem auf Giordano Bruno verweist, Denker, die wegen ihrer Positionen als ›Ketzer‹ galten. Vor allem Bruno wird in jener Zeit auch wegen seiner ›obskuren‹ Sprache immer wieder mit Heraklit assoziiert. Die mysteriengleiche Erfahrung einer Einheit des Seins, die der Kunst entspringt, ist aber für Hyperion nicht das Ergebnis, sondern der Ausgangspunkt der Philosophie, die immer Zweifel und Forschung bedeutet, und die die Aufgabe hat, zu untersuchen und zu zerlegen, zu entwerfen und zu dekonstruieren, ohne beanspruchen zu dürfen, etwas zu beweisen, das unbeweisbar bleibt. »Der Zweifler findet darum nur in allem, was gedacht wird, Widerspruch und Mangel, weil er die Harmonie der mangellosen Schönheit kennt, die nie gedacht wird. Das trokne Brod, das menschliche Vernunft wohlmeinend ihm reicht, verschmähet er nur darum, weil er ingeheim am Göttertische schwelgt« (ebd.). Ohne Poesie gäbe es deshalb keine Philosophie, die nur in der Poesie ihren »Grund« finden kann. Da aber der Mensch in der Zeit und in der Geschichte lebt, kann er nicht umhin, auf die Wissenschaft und auf die Philosophie zu rekurrieren, die jedoch nur unendliche Annäherung gewähren und kein vollkommenes Ergebnis liefern können. Nur angesichts dieser Erkenntnis, die die Unzulänglichkeit des menschlichen Verstands voraussetzt, hat das Selbstbewusstwerden der Menschen einen Sinn (1, 149).
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In Athen angekommen, muss Hyperion indes gleich zur Kenntnis nehmen, dass die zeitgenössische Misere weit entfernt von der Pracht der klassischen Kultur ist. Unter den Ruinen der Akropolis weiden die Stiere und die »zerstümmelten Götter« (1, 153) dienen als »Bänke[n] vor der Bauerhütte«, so, als wollte der Text die erhabenen Gespräche auf dem Schiff verhöhnen und vollends dementieren. Keine Epiphanie ist möglich und die Götter scheinen für immer verschwunden zu sein. Nochmals werden Hyperions Träume von der Wirklichkeit vernichtet. Ihm zu Hilfe kommt Diotima, die ihm eine Zukunft als Erzieher des griechischen Volkes vor Augen führt. Eine solche pädagogische Perspektive übersteigt wesentlich jene, die Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen für möglich hielt, da sie einen starken utopischen Wert aufweist und als Ziel die Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur hat. Der erste Romanband schließt also mit einer hoffnungsvollen Vision, die die Bitterkeit der Gegenwart aber nicht ganz aufzuheben vermag, so dass der Leser schon zu diesem Zeitpunkt vermuten kann, dass der wiederholte Idealismus des Helden (und Diotimas) eigentlich nur eine erneute Träumerei sei, das Ergebnis einer Zwangsspirale, in der Hoffnungen systematisch enttäuscht werden und Verzagtheit als Reaktion neue Täuschungen hervorruft. Zweiter Band. Erstes Buch Der zweite Band von Hyperion wird erst im November 1799 erscheinen, zweieinhalb Jahre nach der Veröffentlichung des ersten. Ob diese Verspätung dem Verleger oder dem Autor zuzuschreiben ist, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Unter den Entwürfen führen einige Textträger auf den Herbst 1798 zurück und keine ist vor 1797 entstanden. In dieser Zeitspanne hat der Autor das erste Szenario einer Tragödie über Empedokles niedergeschrieben und seine philosophischen Projekte ruhen lassen. Dass der zweite Band einen anderen Ton anschlägt, wird schon am Motto deutlich, das die berühmte Sentenz des Silen nach Sophokles (Ödipus auf Kolonos, V. 1224–1227) zitiert: »Nicht geboren zu sein, ist weitaus das beste; doch wenn es so weit gekommen ist, dann ist das zweitbeste, schnellstens dorthin zu gehen, woher einer gekommen ist«. Fasste das Loyola-Epitaph die Dialektik des Willens zur Macht zusammen, und kam durch die Worte Heraklits eine esoterische Weisheit zum Ausdruck, so weist das neue Motto auf die Tragik der Existenz hin. Zum ersten Mal entnimmt H. aus
der griechischen Kultur eine pessimistische Weltanschauung. Die Handlung lehnt sich an die historischen Ereignisse des russisch-türkischen Krieges von 1770 an und erhält dadurch Lebendigkeit. Hyperion vergisst, was er Diotima versprochen hat, und kann der Versuchung nicht widerstehen, sich dem Unabhängigkeitskampf der Griechen anzuschließen, zu dem ihn Alabanda gerufen hat. Im Streit mit der Geliebten muss nun der Held den ›gerechten Krieg‹ als Zweck, der die Mittel heiligt, verteidigen. Diotima sieht indes die Gefahr einer solchen Vorgehensweise und vertritt jenen Standpunkt, den Hyperion im ersten Band in der Kontroverse mit Alabanda einnahm. »Du wirst erobern, rief Diotima, und vergessen, wofür? wirst, wenn es hoch kommt, einen Freistaat dir erzwingen und dann sagen, wofür hab’ ich gebaut? ach! es wird verzehrt seyn, all’ das schöne Leben, das daselbst sich regen sollte, wird verbraucht seyn selbst in dir!« (2, 9) In dieser und in den folgenden Szenen erweist sich Hyperion weniger als ein von Vaterlandsidealen befeuerter Held, als ein vom Zauber des Abenteuers verführter Jüngling, der vor seiner Geliebten weint, um ihr Einverständnis zu erlangen. Stimmt nämlich Diotima der Entscheidung Hyperions endlich zu, heißt dies noch nicht, dass sie seine Gründe teilt. Vielmehr scheint sie sein Handeln aufgrund seines Charakters zu rechtfertigen. In der melodramatischen Abschiedsszene, in der das Motiv der allumfassenden Natur wieder auftaucht, bittet Diotima Hyperion, »einiges von Agis und Kleomenes zu erzählen«, dessen Genius »das Abendroth des griechischen Tages« (2, 15) gewesen sei. Bedenkt man, dass das Schicksal beider Könige Spartas tragisch endete, und dass ihre, wie Plutarch berichtete, landwirtschaftlichen Reformen blutig scheiterten und die Stadt daraufhin verfiel, so mutet die Bitte Diotimas seltsam an und es ist schwer nachzuvollziehen, wieso ein jeder sich am Ende der Erzählung »stärker und höher« habe fühlen können (ebd.). Aus der Perspektive der nachfolgenden Ereignisse wirkt die Bitte Diotimas nicht als Ermunterung, sondern als Mahnung. Hyperion will dies indes nicht merken, beschäftigt wie er damit ist, seine Heldenreise zu inszenieren, bei der er der Geliebten die Rolle der »Priesterin« zuweist und ihr verbietet, mit ihm in den Kampf zu ziehen. Zuletzt muss er allerdings feststellen, dass er alles um sich herum getötet hat und dass Diotima neben ihm wie »ein Marmorbild« (1, 18) erstarrt ist. Ausgerechnet bei dieser Erinnerung, als es keinen Zweifel mehr über den Ausgang der Geschichte geben kann, gesteht nun Hyperion dem Freund Bellarmin,
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wie seine Seele im Laufe der Erzählung »täglich stiller wird und stiller« (2, 21). Der Briefschreiber, der sich zu diesem Zeitpunkt auf der Insel von Salamis befindet, behauptet, seine Ruhe und Frieden wieder zu gewinnen. Der Zauber der Insel, die in allen Romanfassungen mit der Figur von Ajax und dem Sieg der Athener gegen die Perser in Verbindung gebracht wird, wird in einem Paralipomenon der sogenannten Entwürfe zur endgültigen Fassung, geschildert, in der Salamis in einer das Gemüt Hyperions beruhigenden Idylle erscheint (MA 1, 605–606). Der gewonnene Zustand Hyperions ist nicht von der therapeutischen Wirkung der Erzählung verursacht, sondern von der Natur und Geschichte der Insel ausgelöst. Im Paralipomenon ist Hyperion sich jedoch bewusst, dass eine solche Idylle nicht dauerhaft sein kann. Hier entschließt sich Hyperion dazu, die Insel zu verlassen, um nach Kalaurea und Tenos zu fahren, selbst auf Kosten seiner inneren Ruhe. In der Druckfassung leitet die Reflexion Hyperions zu seiner Korrespondenz mit Diotima über. Damit wird die monologische Erzählperspektive gebrochen. Die an die Geliebte kurz gefassten Briefe werden als Dokumente angeführt, die die Empfindungen Hyperions zur Zeit des Geschehens unmittelbar wiedergeben. Die Reflexions- und Erinnerungsebene ist aufgehoben; die Geschichte wird im Präsens erzählt. Der Held berichtet begeistert von dem »Bergvolk«, das »voll rächerischer Kräfte« ist, und fühlt sich nun »überreif zur Arbeit« (2, 23 und 24). Die Wiederbegegnung mit dem gealterten Alabanda wird mit dem Wortschatz und der Topik eines ersehnten Liebestreffens erzählt, bei dem Diotima und der alte Waffenbruder auf gleicher Stufe stehen. »Wer bin ich dann, ihr Lieben, daß ich mein euch nenne, daß ich sagen darf, sie sind mein eigen, daß ich, wie ein Eroberer, zwischen euch steh’ und euch, wie meine Beute, umfasse. O Diotima! o Alabanda! edle, ruhiggroße Wesen!« (2, 30) Auch in diesem Fall zeigen die Paralipomena, wie zwischen den Romanfiguren ein ungewöhnliches affektbeladenes Dreieck entsteht, so dass Hyperion zunächst zögert, dem Freund sein Verhältnis zu Diotima anzuvertrauen, worauf Alabanda mit Erstaunen reagiert, das nicht frei von Eifersucht erscheint (vgl. MA 1, 594–595). Es kann deshalb nicht verwundern, dass Diotima in ihrem ersten Antwortbrief neben der Sorge, zu verwelken, ihre Traurigkeit gesteht, obwohl sie sich bemüht, an die Wichtigkeit der Aufgabe ihres Geliebten zu glauben. Der gänzlich asymmetrische Kommentar Alabandas (»da ists wohl der Mühe werth, für unser Griechenland zu streiten, wenn es solche Gewächse
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noch trägt!«, 2, 35–36) weist auf die Diskrepanz hin zwischen der männlichen Projektion der Heldin als Muse der Auferstehung und Priesterin der Natur, und ihrer schmerzhaften Wirklichkeit, die von Desorien tierung und Entfremdung gekennzeichnet ist. Ab dem 15. Brief wird die Erzählung zu einer Chronik der Kriegsereignisse auf der Basis der Schilderungen, die H. dem Reisebericht von Choiseul-Gouffier in der nicht ganz neutralen Übersetzung von Reichard entnehmen konnte. Angesichts des Massakers, das die griechischen Aufständischen in Misistra ausgeführt haben, entlarvt sich die naive Begeisterung, mit der Hyperion seine und Alabandas Trunkenheit in den Briefen an Diotima in heroischen und idyllischen Tönen beschrieben hat, als entsetzliche Selbsttäuschung: »Es ist aus, Diotima! unsre Leute haben geplündert, gemordet, ohne Unterschied, auch unsre Brüder sind erschlagen, die Griechen in Misistra, die Unschuldigen [...] Aber ich habs auch klug gemacht. Ich habe meine Leute gekannt. In der That! Es war ein außerordentlich Project, durch eine Räuberbande mein Elysium zu pflanzen.« (2, 45)
In den Paralipomena sind die Szenen des Gemetzels so grell und voll von grausamen Einzelheiten, dass Hyperion nicht den Mut hat, den Brief an Diotima abzuschicken und es bevorzugt, ihn an seinen Freund Notara zu adressieren. H. zeigt sich hierhin fähig, das Erzählregister zu wechseln und einen kruden realistischen Ton anzuschlagen. Dies erfolgt im Rahmen einer bewusst aufgebauten rhetorischen Strategie. Die Ereignisse von Misistra stellen das Programm Hyperions in Abrede und wirken als scharfe und sarkastische Verspottung dessen, was sich der junge Held und Alabanda vorgenommen hatten: »Zum Ziele, rief ich, wo der junge Freistaat dämmert und das Pantheon alles Schönen aus griechischer Erde sich hebt« (2, 29). Dieser eklatante Gegensatz zwischen Ideal und Realität lädt zu einer Neubewertung der Ansichten Hyperions ein. Die Romanstruktur rückt nicht nur die Differenz zwischen einem naiven Charakter und einem bewussten Erzähler in den Vordergrund, sondern dekonstruiert überhaupt den Status des Helden. Sein Pathos enthüllt sich als tragisch-grotesk, gleich dem des Ajax, an den in den verschiedenen Fassungen des Romans mehrmals erinnert wird und der in der Tragödie von Sophokles ein Gemetzel anrichtet, weil er eine Viehherde mit seinen Feinden verwechselt. Aus dieser Perspektive muss auch das Verhältnis zu Diotima anders betrachtet werden. Stellt für Hyperion
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die Geliebte bis zuletzt eine ideale Gestalt dar, Sinnbild für Schönheit und Erscheinung des Göttlichen, sprechen hingegen ihre Briefe von der melancholischen Verwandlung einer Frau, die den »heitre[n] Blik in die Welt und die freie Lust an allem Lebendigen« (2, 43) verloren hat, und sich nur mit Mühe davon überzeugen kann, in Hyperion einen »Herold« der griechischen Unabhängigkeit gefunden zu haben, den sie unermüdlich mahnt, den Frieden als oberstes Ziel anzusehen. Marlies Janz (1980/81) hat die These aufgestellt, dass im Roman der Tod Diotimas durch Hyperion verursacht sei, und im Grunde einem Mord gleichkäme. Diese Sichtweise beleuchtet, wie im Roman zwischen den Figuren-Projektionen des Erzählers und den Figuren als solchen, sowie zwischen der Rekonstruktion der Ereignisse durch Hyperion und den Tatsachen, unterschieden werden kann und muss. In dem an Diotima gerichteten Abschiedsbrief Hyperions, der beschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, gibt es, neben der Verzweiflung desjenigen, der meint, eine nicht wieder gutzumachende Schuld sühnen zu müssen, auch den versteckten Stolz, sich der Geliebten zugleich als Opfer und als Held darbieten zu wollen, und ihr somit die Rolle einer Vestalin zu übertragen, die verpflichtet ist, das tragische Schicksal ihres Geliebten in Erinnerung zu behalten. Die erhabene Geste des Helden verlangt die unbedingte Bewunderung der idealen Frau. Zweiter Band. Zweites Buch Ab dem 23. Brief wendet sich der Erzähler erneut an Bellarmin und berichtet im Präteritum über die Folgen seiner Entscheidung. Im Rahmen dieser Korrespondenz werden noch zwei Briefe von Diotima an Hyperion, ein Antwortbrief von ihm sowie ein Brief Notaras an ihn per extenso zitiert (26. und 28. Brief). Es ist eine – kalkulierte oder unbewusste – Ironie der Erzählung, dass während Hyperion sich vor dem Untergang des russischen Schiffes gerettet hat, auf dem er, kämpfend, den Tod gesucht hatte und langsam wieder zur Lebensfreude zurückkehrt, Diotima hingegen im Schmerz vergeht, aufgezehrt von einer nicht zu bestimmenden Krankheit. Dem Mann, der auf sie verzichtet hat, um in den Tod zu gehen, verweigert die Frau sicherlich nicht Liebe und Verständnis, aber ihr Bild von Hyperion unterscheidet sich stark von seiner Selbstdarstellung. Diotima hat nämlich verstanden, dass Hyperions Streben keine Befriedigung finden kann und dass die Stunden des Glücks für ihn nur vereinzelte Momente in einem Zustand fortwährenden
Unzufriedenseins sind. Unter den Ruinen Athens hat sie begriffen, dass die Antike für immer vorbei ist, und dass sich die Erschütterung Hyperions, in einer Zeit ohne Götter zu leben, nicht auslöschen lässt. Dennoch hat Diotima an die Überlegenheit des Geliebten geglaubt, hat geglaubt, dass er der Erlöser ihres Volkes werden könne. Jetzt muss sie sich eingestehen, dass dies der schönste Traum war, dem sie sich hat hingeben wollen, eine süße Illusion. Und sie akzeptiert nicht nur das tragische Schicksal des Hyperion, sondern auch das ihrige (2, 72–73). Hyperion kann aber in diesem dramatischen Brief nicht das auf sie Zukommende erkennen und phantasiert sogar über ein neues gemeinsames Leben voll von herrlichen und idyllischen Momenten, in denen eine blühende Landschaft als Kulisse für das Glück der Liebenden dient, als wären solche seriellen Bilder Zwangsvorstellungen, Ergebnis eines obsessiven Syndroms, das das Subjekt in eine Traumwelt einschließt (2, 76–77). Auch Alabanda zeigt sich in diesem letzten Romanteil als jemand, der sich von dem Bild unterscheidet, das Hyperion von ihm hat. Der 27. Brief liest sich fast als autonome Erzählung, die Motive wie die Seeräuberei, die Reise in fremde Länder und den Gemeinbund, wie sie in der pikaresken Literatur verbreitet sind, wieder aufnimmt. Das Leben Alabandas zeigt das Problem eines Lebens, das im Zeichen von Freiheit und Selbstbestimmung gelebt wurde, und das sich am Ende als eines von anderen bestimmtes Leben herausstellt (wobei hier Parallelen mit Goethes Wilhelm Meister eindeutig sind). Der Held, den Hyperion so sehr bewundert, kann sich nur durch den Tod aus seinen Bindungen befreien. Außerdem begreift Alabanda, dass es in der Dreieckkonstellation mit Diotima keinen Platz für ihn gibt. Während er sich in den Paralipomena eifersüchtig zeigte, gesteht er nun, sich in Diotima verliebt zu haben, bzw. in die Gefühle, die sein Freund für sie empfindet. Schließlich bringt er seine tiefsten Überzeugungen zum Ausdruck: »Ich glaube, daß wir durch uns selber sind, und nur aus freier Lust so innig mit dem All verbunden [...] Was wär auch, fuhr er fort, was wär auch diese Welt, wenn sie nicht wär’ ein Einklang freier Wesen? wenn nicht aus eignem frohem Triebe die Lebendigen von Anbeginn in ihr zusammenwirkten in Ein vollstimmig Leben, wie hölzern wäre sie, wie kalt? welch herzlos Machwerk wäre sie?« (2, 90–91) Zweifellos klingt in diesen Worten die Philosophie Fichtes an. Alabandas geistiges Vermächtnis ist aber nur der letzte Versuch, vor dem Freund seine Niederlage zu sublimieren. In der Tat scheint die Welt, aus der
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sich Alabanda verabschiedet, kein »Einklang freier Wesen« zu sein und gleicht vielmehr einem »hölzern[en]«, »kalt[en]« und »herzlos[en] Machwerk«, das von Brutalität und Zynismus beherrscht wird, in dem sich selbst die revolutionäre Ideologie als niederdrückend und grausam zeigt. An dieser entscheidenden Stelle der Handlung singt Hyperion die berühmten Verse des Schiksaalslieds, das als Nänie vorgestellt wird, welche er in seiner Jugend durch Adamas gelernt hat. Es wäre zweifelsohne naiv, darin einen lyrisch kondensierten Sinn des gesamten Romans erkennen zu wollen. Das Lied gibt den Gemütszustand des Protagonisten wieder, nachdem er sich von Alabanda getrennt hat und darauf wartet, sich nach Kalaurea einzuschiffen. Der Dualismus zwischen Göttern und Menschen, der den Versen innewohnt, lässt sich schwer mit der kosmotheistischen Auffassung des Romans vereinbaren, in der die Götter in keinem Jenseits leben und Naturkräfte darstellen. So weisen die Interpreten, die den Eremiten in Griechenland im Zeichen der »Auflösung der Dissonanzen« auffassen, auf die Überwindung dieser psychologischen Phase im Laufe der Handlung hin. Es ist jedoch unleugbar, dass diese Verse in der polyphonischen Struktur des Romans eine eminente Rolle spielen, und es kann auch nicht verwundern, dass sie zu den bekanntesten H.s gehören. Im Lied erscheint der Mensch einer konstitutiven und immer andauernden Unsicherheit ausgesetzt; sein Lebensweg gleicht keiner »exzentrischen Bahn« mehr: statt nach dem Absoluten zu streben, stürzt er in den Abgrund. Aber vielleicht ist dieses Fallen nur die Kehrseite des Strebens, seine andere Hälfte. Durch das Gedicht wird ein neues Element in das vielseitige Porträt des Protagonisten hinzugefügt. Dem Idealisten und Schwärmer, der träumte, die griechische Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, sein Volk zu erziehen und es von der türkischen Herrschaft zu befreien, dem Philosophen des Hen kai Pan gesellt sich nun der schmerz- und leidenskundige Sänger, der seiner Unruhe eine lyrische Stimme verleiht. In diesem Zustand erhält Hyperion den Brief Diotimas, die ihm den unaufhaltbaren Verlauf ihrer Krankheit anvertraut, und den Brief Notaras, der ihm die Nachricht ihres Todes mitteilt. Diotima ist sich bewusst, dass sie aus Liebe stirbt, dass sie den Geist des Geliebten introjiziert hat und dass diese »Flamme« sie aufzehrt. Sie weiß, dass sie von der gleichen Sehnsucht überwältigt worden ist, die Hyperion dazu getrieben hat, den Tod im Kampf zu suchen. Sie weiß schließlich auch, dass sie in den ungewissen Abgrund ihrer gemeinsamen Leidenschaft gestürzt ist. Und dennoch
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hinterlässt sie Hyperion ihr geistiges Vermächtnis. Sie lädt ihn dazu ein, die Einheit des Seins nicht als Täuschung, sondern als Gewissheit zu betrachten, und den Lauf des Lebens als einen Triumph der Natur über den Tod wahrzunehmen. Deshalb kann sie dem Geliebten am Schluss ihres Briefes »dichterische Tage« prophezeien, er soll nämlich »Priester [...] der göttlichen Natur« (2, 104) werden. Ryan (1965, 222–223) hat hierin die zukünftige Bestimmung Hyperions als Dichter seines Volks gesehen. Der Höhepunkt des Romans sei in dem Moment erreicht, als der erzählende Hyperion den Tod seiner Geliebten in Erinnerung ruft und das Leid als eine nicht auszuschaltende Komponente des Seins und seiner Geschichte annimmt: »Und du fragst, mein Bellarmin! wie jetzt mir ist, in dem ich diß erzähle? Bester! Ich bin ruhig, denn ich will nichts bessers ha ben, als die Götter. Muß nicht alles leiden? Und je tref licher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? O meine Gottheit! Daß du trauern könntest, wie du see lig bist, das könnt’ ich lange nicht fassen. Aber die Wonne, die nicht leidet, ist Schlaf, und ohne Tod ist kein Leben. Solltest du ewig seyn, wie ein Kind und schlummern, dem Nichts gleich? Den Sieg entbehren? Nicht die Vollendungen alle durchlaufen? Ja! ja! Werth ist der Schmerz, am Herzen der Menschen zu liegen, und dein Vertrauter zu seyn, o Natur! Denn er nur führt von einer Wonne zur andern, und es ist kein andrer Ge fährte, denn er.« (2, 106–107)
Zu Recht hat Jochen Schmidt (KA 2, 964) festgestellt, dass diese Stelle eine Widerlegung des Schiksaalslieds ist, von dem nicht zufällig das Bild des schlummernden Kindes wieder aufgenommen wird. Hyperions »exzentrische Bahn« würde somit von einer im Laufe des Schreibprozesses gereiften Erkenntnis abgeschlossen. Die Peripetie der Hauptfigur wird aber noch weiterverfolgt. Der an Notara antwortende Hyperion ist nämlich noch immer vom Tod der Geliebten gebrochen und zieht daraus tragische Schlussfolgerungen, »denn es kann der Mensch nichts ändern und das Licht des Lebens kommt und scheidet, wie es will« (2, 112). Nachdem sich der Protagonist zunächst in Sizilien aufhält, wo er den Ätna besteigt und an das Schicksal Empedokles denkt (2, 109), zieht er nach Deutschland ins Exil und wird von seinem Briefadressaten Bellarmin empfangen. Im berühmten vorletzten Brief des Romans greift Hyperion vehement die Deutschen an, die ihm Ausdruck einer Zivilisation zu sein scheinen,
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in der sich der Mensch von der Natur vollkommen entfremdet und seine Ganzheit verloren hat, um lediglich seinen sozialen Pflichten und Arbeiten nachzukommen. Hinter dieser Polemik steht nochmals Rousseau, der in seinen Schriften die französische Gesellschaft mit ähnlichen Argumenten angeprangert hatte. Als Referenzmodell kommen noch die Persischen Briefe von Montesquieu in Frage, in denen zwei orientalische Reisende über die Sitten des Abendlandes ironisch berichten. Nachdem Hyperion dem deutschen Bellarmin das von der Türkei beherrschte Griechenland beschrieben hat, schildert er jetzt Deutschland in erbarmungslosen Worten. Entscheidend ist der Perspektivenwechsel. Die eigene Welt lässt sich nur durch einen fremden Blick verstehen. Im Gegensatz zu der verlorenen Harmonie der klassischen Vergangenheit stehen also die Deutschen beispielhaft für die Zerrissenheit der modernen Welt. Die Distanz zwischen dem Idealen und der Wirklichkeit, die den Roman in allen Phasen seiner Entstehung prägt, wird nicht mehr in einem elegischen sondern in einem satirischen Ton thematisiert, als wollte H. die gemeinsamen Wurzeln beider Ausdrucksformen hervorheben, die für Schiller zu der »sentimentalischen« Dichtung gehören und zueinander in einem komplementären Verhältnis stehen. So ist der vorletzte Brief nicht als ein einseitiger Angriff alleine auf die Deutschen aufzufassen. Vielmehr liegt hier der Akzent auf der Entmenschlichung, die der modernen Arbeitsteilung innewohnt. Es handelt sich um eine Kritik, die schon bei Rousseau und Schiller vorkommt und die später von Karl Marx in ähnlicher Weise aufgenommen werden wird. Allerdings ist die Scheltrede Hyperions so vehement, dass sogar einige der engsten Freunde H.s daran Anstoß nahmen (vgl. StA 7.1, 151). Sie zeigt, wie dringend H. eine politische und kulturelle Erneuerung Deutschlands für nötig hielt. Nicht weit davon entfernt ist übrigens in der Thematik der Brief, den H. am 1.1.1799 an seinen Bruder schrieb und der wahrscheinlich in derselben Zeit der Scheltrede verfasst wurde. Beiden Schriften ist die Ansicht gemeinsam, dass die Deutschen »an ihre Erdscholle gefesselt« und deshalb unfähig seien, sich »über den eigenen engen Lebenskreis« (StA 6, 303–304) zu erheben. In der Scheltrede erarbeitet H. Gedanken, die seiner politischen Gesinnung genau entsprechen. In der Erzählkonstruktion steht diese Kritik auf der Zeitebene der Reflexion. Die vorher formulierte Bereitschaft, das Leid der Natur und der Geschichte anzuerkennen, ist deswegen nicht mit Resignation und unkritischer Akzeptanz der Verhältnisse zu verwechseln.
Der Roman schließt mit einem Brief, der die Vergangenheit erneut in Erinnerung ruft. Berichtet wird über eine ekstatische Erfahrung, der sich Hyperion in Deutschland beim Frühlingserwachen »fast zu endlos« hingegeben hat. In der erneuten Idylle glaubt er, die Stimme Diotimas zu hören, die ihm ihre Zugehörigkeit zum kosmischen Sein mitteilt. So kommt der Protagonist zum Schluss: »Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder« (2, 124). Die »Vereinigungsphilosophie« von Hemsterhuis und Herder erfährt damit eine letzte Verwandlung. Sie scheint weiter mit Motiven Heraklits vereinbar und wird im Rahmen der musikalischen Metapher der Dissonanzen dargelegt. Hyperion erklärt aber, dass er so dachte, und lässt die Frage offen, ob er nach der Rückkehr nach Griechenland eine solche Denkweise noch teilt. »Nächstens mehr« (2, 124), heißt es am Schluss des Romans, der der existentiellen Suche der Hauptfigur somit kein Ende setzt. Ihre Bewusstseinszustände sind als vorläufige Stationen in einem fortwährenden Prozess anzusehen und implizieren keine vollkommene Reifung. Nachdem H. seinen Helden zunächst als Schüler, Schwärmer, Liebhaber und Krieger gezeigt hat, stellt er ihn in den letzten drei Briefen des zweiten Bandes als tief getroffenen Sänger, als Stoiker, als Propheten, der die Heimat und seine Zeit schilt, und zuletzt als Visionär vor. Die menschliche Existenz ist einmal ein ewiges Stürzen ins Ungewisse, einmal das Bewusstsein des »Seufzens der Schöpfung« (Paulus, Röm. 8.22/23), einmal Kampf gegen Barbarei und Stumpfsinnigkeit, einmal Teilnahme am Geheimnis des Seins und an seiner verborgenen Harmonie. Der Dichter verwendet eine ausgesprochen breite Ausdruckspalette, die von der lyrischen Klage über die Satire und die Idylle bis zur philosophischen Gnome reicht. Diese grandiose Vielfalt an Stilmitteln, philosophischen Ansichten und Motiven bleibt nicht ohne Aporien. Wenn Hyperion oder der Eremit in Griechenland bis heute die Forschung entzweit, hängt dies nicht zuletzt mit der Vielschichtigkeit zusammen, die den Roman kennzeichnet. Das Werk erscheint als Fragment, nicht weil es unvollendet geblieben ist, sondern weil es überreich an Elementen ist. Unendlich ist sein generatives Prinzip. Noch im Turm wird der kranke, vom Streit mit seinen Gedanken verfolgte Dichter (vgl. StA 7.3, 250) ein Gespräch zwischen Hyperion und der verstorbenen Diotima inszenieren (MA 1, 910–913).
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Luigi Reitani
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22 Empedokles 22.1 Chronologie und Textkonstitution Wie die Arbeit am Hyperion erstreckt sich auch H.s Arbeit an seinem einzigen dramatischen Werk über mehrere Jahre. Aber anders als der Roman wird H.s Empedokles nicht vollendet. Den Plan, ein Trauerspiel zu schreiben, äußert H. zum ersten Mal 1794, allerdings ist hier der Protagonist noch Sokrates. Drei Jahre später, im September 1797, skizziert er ein Szenario für »ein Trauerspiel in fünf Acten«, den Frankfurter Plan, der den Titel Empedokles trägt. Erst im Winter 1798/99 schreibt H. mit dem Ersten Entwurf die mit über 2000 Versen längste Ausführung, im Juni 1799 kündigt er eine Publikation des Textes im Rahmen der von ihm neu herausgegebenen Zeitschrift Iduna an, nun unter dem Titel Der Tod des Empedokles. Die Zeitschriftenpläne scheitern. Im Herbst 1799 schreibt H. eine ausführliche poetische Studie, den Grund zum Empedokles, und ein neues szenisches Exposé, den Plan zum Dritten Entwurf, eine Titelnotiz lautet nun Empedokles auf dem Ätna. Aber nur drei Auftritte des Dritten Entwurfs werden ausgeführt; im Anschluss skizziert H. einen Plan zur Fortsetzung, der jedoch nicht realisiert wird, und schreibt einen weiteren poetologischen Text (s. Kap. 24), Das untergehende Vaterland (s. Kap. 19). Aus dem Zeitraum von 1796 bis ca. 1800 sind mithin drei verschiedene Pläne, drei unabgeschlossene Ausführungen, zwei poetologische Grundlegungen sowie drei verschiedene Titel überliefert – aber kein abgeschlossenes Drama. Publiziert wurde zu Lebzeiten H.s nur ein Bruchteil dieser umfangreichen Arbeiten. Als 1826 die erste Gedichtausgabe erschien, fand sich auf den letzten dreißig Seiten ein bis dahin völlig unbekannter Text: Der Tod des Empedokles. Fragmente eines Trauerspiels – eine Kompilation aus den verschiedenen Manuskripten. Der Entwurfscharakter hat dazu geführt, dass die Trauerspiel-Texte nicht nur unter verschiedenen Titeln, sondern auch als sich erheblich unterscheidende Lesetexte ediert wurden. In der StA hat Beißner die von ihm erstmals rekonstruierte Abfolge der handschriftlichen Entwürfe unter dem Titel Der Tod des Empedokles als Erste, Zweite, Dritte Fassung herausgegeben (StA 4, 1–142), ergänzt um Pläne und Grundlegung des Trauerspiels (StA 4, 143–168). H.s Be- und Überarbeitungen, seine Anmerkungen und Notate sind separat als »Lesarten« in mühsam zu entziffernder Form wiedergegeben (StA 4, 433–713).
Umgekehrt verfährt die FHA, sie ermöglicht entsprechend ihren Editionsprinzipien eine Transparenz der endgültigen Textkonstitution: in FHA 12 sind in chronologischer Reihenfolge die handschriftlichen Manuskripte aller Texte des Empedokles-Projektes durch Faksimiles und Umschriften der Handschrift dokumentiert; FHA l3 enthält eine Phasenanalyse der Manuskripte und eine auf dieser Basis von Sattler vorgenommene Textedition. Sie weicht von der Beißners deutlich ab; so umfasst der Erste Entwurf in der StA 2054 Verse, in der FHA 1864 (Grätz 1995). Während Beißner auch aufgegebene Textpassagen aufnimmt, Titel, Personenverzeichnisse, Akt- und Auftrittseinteilungen ergänzt, beruht Sattlers Textedition zum Teil auf einer eigenwilligen Interpretation der Korrekturzeichen und Notizen H.s. Auch in jüngeren Werkausgaben finden sich neu edierte Lesetexte; orientiert an der FHA, mit einigen Korrekturen, ist die Edition von S. Zwiener in der MA; orientiert an der StA, auch wenn die Unabgeschlossenheit der Entwürfe stärker betont wird, ist die von K. Grätz in der KA. Aufgrund weitreichender Einwände gegen die vorliegenden Neueditionen (Groddeck 1995) wird im Folgenden unter Berücksichtigung der geäußerten Bedenken auf die Lesetexte der StA zurückgegriffen. Die Basis der Lektüre bilden die handschriftlichen Entwürfe in der FHA. Seitdem es möglich ist, sich anhand der faksimilierten Handschriften in der FHA H.s komplizierten Arbeitsprozess zu vergegenwärtigen, erklären sich nicht nur die konträren und umstrittenen Texteditionen. Sichtbar wird, wie wenig die Leseausgaben den Manuskripten gleichen, an denen H. gearbeitet hat. Hier stehen überarbeitete Passagen neben aufgegebenen, Regieanweisungen gibt es ebenso wie Akt- und Auftrittsbezeichnungen nur sporadisch, Anmerkungen und Korrekturzeichen verweisen auf die Vorläufigkeit des Geschriebenen, Diagramme auf die kompositorische Struktur. Versteht man dies jedoch nur als Indiz für das Unfertige, so entgeht einem die Möglichkeit, mit dem Einblick in H.s Arbeitsprozess auch den gedanklichen Prozess zu erkennen, der sein Schreiben bestimmt hat. Nicht der jeweils von den Herausgebern edierte Lesetext, sondern allein die Untersuchung der handschriftlichen Entwürfe gibt Aufschluss über die konzeptionelle und poetische Entwicklung des Empedokles-Projektes. Auf der einen Seite gibt es ein dramatisches Werk, das in jeder Phase unvollständig bleibt; auf der anderen Seite die Kontinuität eines gedanklichen Projektes, das H. mehr als drei Jahre beschäftigt. An den Bearbeitun-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_22
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gen und Umformungen des poetischen Materials, den Anmerkungen und Notizen wird die Kontinuität einer Fragestellung deutlich – H.s Auseinandersetzung mit der Poetik und Darstellungsstruktur tragischer Dichtung (s. Kap. 17). Unter den Fragen, die H.s Empedokles-Texte aufwerfen, stand und steht die nach den Gründen für die Nichtvollendung im Vordergrund. Musste H. die Arbeit abbrechen? Haben ihn biographische Umstände gezwungen, waren historisch-politische Entwicklungen verantwortlich? Oder hat H. das Trauerspielprojekt freiwillig aufgegeben? Lange hat sich die Auseinandersetzung konzentriert auf die These vom ›Scheitern‹ des dramatischen Werks und nicht wenige Interpretationen führen es auf eine fehlende Disposition H.s zum dramatischen Dichter zurück. In der Abfolge der jeweils unvollendeten Entwürfe erkannte man vor allem das ›Ringen‹ des Autors um die zureichende Begründung eines Todes, der als freiwilliges Selbstopfer der Konfliktstruktur tragischer Dichtung widerspreche (Söring 1973; 1988–1989). So gilt das ›gescheiterte dramatische Projekt‹ als ein Durchgangsstadium, ein idealistisches Interim, das H. durch den Verzicht auf Vollendung überwinden musste, bevor er zur Form seiner späten Lyrik finden konnte (Szondi 1970, Grätz 1995). Zwar erhält auf diese Weise der Abbruch des Dramenprojekts eine Erklärung, nicht jedoch die Form der vorhandenen Texte. Diese gelten denn auch als formlose »Bruchstücke«. Misst man H.s Empedokles-Entwürfe an einem vorausgesetzten Begriff des Tragischen, muss dieser Eindruck entstehen. Doch H. realisiert mit den Entwürfen eine Form, die sich von aufklärerischen Tragödientheorien ebenso unterscheidet wie vom klassizistischen Verständnis des Dramas. Das Interesse für die Figur Empedokles ist von Anfang an verknüpft mit dem poetischen Experiment einer neuen Form tragischer Dichtung, mit der H. zunehmend auf dramatische Handlungselemente verzichtet.
22.2 Der Wechsel des Protagonisten Schon der Beginn von H.s Trauerspiel ist kompliziert. 1794 – noch während der Arbeit am 1. Band des Hyperion – schreibt er aus Waltershausen an Neuffer: »Ich freue mich übrigens doch auf den Tag, wo ich mit dem Ganzen im Reinen sein werde, weil ich dann unverzüglich einen andern Plan, der mir beinahe noch mer am Herzen liegt, den Tod des Sokrates, nach den Idealen der griechischen Dramen zu bearbeiten versuchen
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werde.« (B 88, MA 2, 550) 1797 heißt es mit ähnlicher Ungeduld in einem Brief an den Bruder: »Mein Hyperion hat mir schon manches schöne Wort eingetragen. Ich freue mich, bis ich vollends mit ihm zu Ende bin. Ich habe den ganz detaillirten Plan zu einem Trauerspiele gemacht, dessen Stoff mich hinreißt.« (B 142; MA 2, 661) Die Ankündigung bezieht sich nun auf das Szenario, das H. in einem aufgegebenen Schulheft seines Schülers Henry Gontard notiert. Über diesem Plan steht jedoch als neuer Titel ein anderer Name: Empedokles. Es sieht so aus, als habe H. lediglich das Sujet geändert: statt den Tod des Sokrates wähle er nun den des Empedokles, der sich einer überlieferten Legende zufolge freiwillig in den Krater des Ätna gestürzt haben soll. Das Interesse für den Tod des Sokrates hat man auf H.s intensive Beschäftigung mit Platon (s. Kap. 10) zu dieser Zeit zurückgeführt (Beck 1982). Ein Jahr zuvor, 1793, hatte er Neuffer die Grundzüge seines Platonverständnisses mit einem Bild erläutert, in dem er die Dialoge Phaidros, Timaios und das Symposion verbindet (B 60; Franz 1992–1993). Bei der Ankündigung des Dramenprojekts aber unterbleiben nähere Ausführungen. Ob H. sich auf die Schilderung des sokratischen Sterbens in Platons Phaidon oder in dessen Apologie bezieht, weiß man ebenso wenig wie die Gründe, die ihn zum Verzicht auf diesen Plan bewegt haben. Warum also Empedokles und nicht Sokrates? Die Frage hat vielfältige Antworten gefunden, kann man doch alle Unterschiede des Typus, der Philosophie und des Todes der beiden Griechen zur Erklärung heranziehen. So habe sich H. als ›Dichter‹ für den vorsokratischen Dichter Empedokles entschieden; er wähle statt den weisen Moralphilosophen den freiheitlichen Politiker, statt den zum Tod Verurteilten den freiwillig Sterbenden. Diese Erklärungen beruhen auf einer heutigen Sicht der beiden Figuren; fragt man nach dem zeitgenössischen Kontext, verändert sich das Bild. Die Ankündigung H.s weist über seine Platon-Lektüre hinaus auf Diskussionen, die im 18. Jh. über Sokrates geführt wurden. Auf diesem Hintergrund erscheint es eher als ein Anachronismus, dass H. noch 1794 einen ›Tod des Sokrates‹ schreiben wollte. Im 18. Jh., das sich selbst das sokratische nannte, gab es kaum einen Autor, der diesen Tod nicht ausgelegt, kritisch kommentiert oder auch karikiert hätte. Der ›Tod des Sokrates‹ war Paradigma schlechthin für den Tod des Philosophen: als Tod des Märtyrers, der für die Freiheit des Philosophierens stirbt; Tod des Aufklärers, der gegen Fanatismus und Aberglauben kämpft; Tod des Tugendhelden, der stoische Sterbens-
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kunst lehrt; Tod des Weisen, dessen Sterben die Überzeugungskraft seiner philosophischen Rede noch überbietet; Tod des Religionsstifters, der den christlichen Erlösertod präfiguriert (Böhm 1929). Am Ende des 18. Jh.s haben sich unterschiedliche Deutungsmuster dieses Todes ausgeprägt, der zwar als historischer Tatbestand eindeutig überliefert, dessen Bedeutung aber keineswegs unverbrüchlich gegeben ist. Sie ist Produkt einer Lektüre, Ergebnis von Auslegung. So gibt es eine Vielzahl von Bildern dieses Todes, die sich gegenseitig relativieren und zugleich das Todesmotiv als bedeutungsstiftende Form entwerten. Insofern ist weniger der Titel in H.s Ankündigung aufschlussreich, als die dramaturgische Option, »den Tod des Sokrates nach den Idealen der griechischen Dramen zu bearbeiten«. H.s Bearbeitungsvorschlag zeigt, dass er mit den Kontroversen um die Auslegung dieses Todes vertraut war. Er widerspricht nicht nur dem verbreiteten Verständnis dieses Sterbens als Märtyrertod, er knüpft zugleich an die Diskussion – bei Lessing, Herder, Diderot und Rousseau (s. Kap. 11) – an, die Sokrates’ Tod entschieden nicht als christlichen, sondern als griechischen Tod begreifen – als das schöne Sterben eines republikanischen Lehrers. In unmittelbarer Nähe H.s diskutiert Hegel (s. Kap. 5) die Bedeutung des sokratischen Sterbens. In den frühen religionsphilosophischen Schriften, die noch in die gemeinsame Studienzeit des Stifts zurückreichen, wird am Paradigma des Sokrates der Zusammenhang zwischen freiheitlicher Lehre und Leben und Tod des Philosophen entwickelt. Entsprechend hat man H.s Interesse für diese Figur direkt auf eine Anregung Hegels zurückgeführt und dessen Sokratesbild auch für H. geltend gemacht (Wagmann 1939). Wie Hegel sich von Sokrates als Vorbild ab- und Jesus zuwende, um nach der Figur des Stifters einer »Volksreligion« zu fragen, so gebe H. den Sokratesplan auf und wähle Empedokles, um den freiwilligen Tod im Ätna als Akt der Stiftung einer neuen Religion, als Symbol der Vereinigung mit der Natur zu begründen (Jamme 1983). Doch H.s Abschied von Sokrates ist nicht mit der Entwicklung Hegels zu parallelisieren; sie ist im Gegenteil eine Antwort darauf. Wer ist Empedokles? In welchem Verhältnis steht H.s Empedokles zur historischen Figur? Die Antworten auf diese Frage lassen sich in zwei Positionen resümieren. Zum einen wird der Bezug als radikale Aktualisierung verstanden: H. wähle die antike Gestalt, weil er in den Berichten über die politischen Aktivitäten von Empedokles zeitgenössische Bezüge erkennt, die er neu interpretiert, indem er Empedokles zum »Re-
formator« (StA 4, 158) macht, der die sozialrevolutionären Ideen der französischen Revolution propagiert (Bertaux 1969; Prignitz 1985). Nach der zweiten Lesart sind es vor allem philosophische Affinitäten, die H. mit der historischen Figur verbindet (Wagner 1937, Kranz 1949, Hölscher 1965). Hölscher sieht eine Entwicklung in H.s Auseinandersetzung: während in der ersten Phase allein die Todeslegende wichtig gewesen sei, werde mit der weiteren Ausführung die Philosophie des vorsokratischen Dichters immer wesentlicher. An dieser Stelle erfolgt zumeist der Verweis auf H.s wichtigste ›Quelle‹, Diogenes Laertios’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Dort werden im VIII. Buch verschiedene »Meinungen« über die Lehre und das Leben des griechischen Philosophen Empedokles aus Akragas (5. Jh. v. Chr.) referiert, so auch die Legende vom Selbstmord im Ätna. So nahe es liegt, zunächst die Frage nach der historischen Figur zu stellen und dann die nach H.s Darstellung, so unzureichend ist ihre Beantwortung durch die Quellen. Der Verweis auf den historischen Empedokles suggeriert die zeitlose Präsenz der »antiken Gestalt« in den Texten und übergeht die historisch unterschiedlichen Konstruktionen dieser Figur. Dass H.s Texten ein hermeneutisches Verfahren zugrunde liegt, eine Lektüre, aber auch eine implizite Revision der Bilder, die das 18. Jh. mit dem historischen Empedokles verbunden hat, kann so nicht deutlich werden. Empedokles’ Tod im Feuer des Vulkans, so die andere oft variierte These, sei das eigentliche Motiv für H.s Abkehr von Sokrates. H. habe vor allem Empedokles’ Todesart fasziniert. Anders als der Tod des Sokrates sei dieser Tod tragisch, anders als der Tod durch das Gift in hohem Maße symbolisch und zugleich nicht durch vielfache Bearbeitungen vorgeprägt (Schadewaldt 1966). Wenn H. ein Trauerspiel schreibe, dann um die Legende vom Freitod so zu dramatisieren, dass dieser Tod einen neuen Sinn erhalte. Die These vom Faszinationspotential des Ätnatodes beruht auf der Annahme, der Tod des Empedokles sei ein gegebenes Sujet, gehöre gleichsam zu den ›Stoffen und Motiven der Weltliteratur‹. Nahegelegt ist die Vorstellung, die Legende sei ein verfügbarer Stoff, der H. lediglich das Material für eine Dramatisierung entnommen habe. Mit Blick auf das 18. Jh. erweist sich diese Vorstellung als Projektion der uns heute geläufigen – entscheidend durch H. geprägten – Überlieferung. Sie hat dazu geführt, das eigentlich Neue zu übersehen: dass H. diesen »Stoff« überhaupt erst entdeckt, ihm symbolische Dignität zuerkennt, indem er ihn als einen dramatischen Stoff behauptet.
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22.3 Empedokles im 18. Jahrhundert Im 18. Jh. war die Legende vom Selbstmord des Empedokles zwar bekannt, aber anders als der Tod des Sokrates war der des Empedokles weder ein Dramensujet, noch ein prestigeversprechender ›Titel‹. In der gelehrten Öffentlichkeit gab es keine Auseinandersetzung um den Tod des Empedokles, die der um Sokrates’ Sterben vergleichbar gewesen wäre. Zwar gab es Texte, Anmerkungen und Kommentare, aber eher am Rande der intellektuellen Debatten, in den Abhandlungen der Philosophiehistoriker. Dort lässt sich allerdings eine Diskussion beobachten, die dazu führt, dass die Todeslegende am Ende des 18. Jh.s nicht mehr als diskussionsfähig und philosophiewürdig erachtet wird. Anders als der Tod des Sokrates ist der Tod des Empedokles nicht einmal historisch eindeutig überliefert: Diogenes Laertios führt sechs verschiedene Todesarten auf, darunter, in zwei Versionen, den freiwilligen Sturz in den Vulkan. Den verwirrend gegensätzlichen Berichten über den Tod entsprechen die unterschiedlichen Porträts des Empedokles, der ein demokratischer Politiker, aristokratischer Einzelgänger, physikalisch kundiger Arzt, Magier, Prophet, Dichter und Naturphilosoph gewesen sein soll. Als Diogenes im 3. Jh. Berichte über das Leben und die Lehre des Empedokles zusammenträgt, greift er auf unterschiedlichste Quellen zurück: doxographische Texte, Aufzeichnungen von Geschichtsschreibern, biographische Romane und populäre Legenden. Die Überlieferung der Vita von Empedokles ist zu dieser Zeit bereits verkümmert (Bidez 1894). Schon bei Diogenes ist die Ätnalegende Anlass zu Spott: sie zeige Empedokles als einen prätentiösen Magier, der mit seinem Verschwinden im Krater des Vulkans eine Apotheose nach dem Vorbild des Herakles habe vortäuschen wollen. Ähnlich urteilt Horaz in der Ars Poetica (V. 462–468). Hier gilt der Spott jedoch dem »wahnsinnigen Dichter«, der durch den spektakulären Tod einen Mangel an poetischem Genie zu kompensieren sucht. Ein anderer Spötter, Lukian (Das Lebensende des Peregrinus Proteus, Die entlaufenen Sklaven, Totengespräche), sieht Empedokles durch ein Übermaß an schwarzer Galle zu diesem überheblichen Selbstmord verführt. Es ist dieses durch Horaz und Lukian überlieferte Bild des Empedokles, das im 18. Jh. populär ist; es findet sich, leicht variiert, in den großen Lexika (Moréri 1674, Budde 1709, Zedler 1734, Iselin 1747) und in den kommentierten Übersetzungen der Ars poetica
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von Gottsched und Wieland: Empedokles gilt als Scharlatan, ruhmsüchtiger Schwärmer oder erfolgloser Dichter; der Tod im Ätna als Ausdruck ehrgeiziger Selbstüberhebung, melancholischer Disposition oder als infames Betrugsmanöver. Gegen Ende des 18. Jh.s verändert sich das Bild von Empedokles in einer Diskussion, die durch neue Perspektiven der Philosophiegeschichtsschreibung entsteht. Die Befragung der Kriterien, nach denen die Geschichte der Weltweisheit zu schreiben sei, führt zu einer Debatte, in deren Zentrum es um den Begriff der Philosophie selbst geht: die Frage, was sie von Volksglaube, von Religion und von bloßer Meinung unterscheidet, welches Gewicht dem Leben des Philosophen und welches seiner Lehre zukomme. So wurde über die Vergabe des Titels »Philosoph« streng geurteilt – nicht jedem »Tollhäusler« sollte er zustehen – wie über das prinzipielle Problem, ob die Geschichtsschreibung der Philosophie nach dem Leben der Philosophen überhaupt noch zu fragen habe. Gerade diese Trennung erweist sich in Hinblick auf Empedokles als folgenreich, denn im Verlauf dieser Debatte in den philosophiehistorischen Abhandlungen von Brucker, Hamberger, Hederich, Adelung, Eberhard, Tennemann, Tiedemann lässt sich eine Verschiebung beobachten. Schon bei Brucker (1731) richten sich die Bedenken gegen Empedokles nicht mehr gegen den Tod im Ätna, skandalös ist vielmehr seine Nähe zur Schule. Stand Empedokles für Brucker deshalb unter Magieverdacht, so führen neue quellenkritische Untersuchungen zu einer anderen Bewertung des pythagoräischen Einflusses. Meiners (1786) entdeckt ihn in der Politik: Empedokles zeichne sich durch »Eifer für bürgerliche Gleichheit« aus und beschränke die »Weltweisheit« nicht auf »Grübeleyen«. Entsprechend gelten die Todeslegenden nur noch als »fabelhafte Erzählungen«, die ausschließlich ihre Urheber diskreditieren. Dieser These vom aufgeklärten Wohltäter wird von Tiedemann widersprochen, der in Empedokles den gefährlichen und gefährdeten politischen »Schwärmer« erkennt. Seine Schrift Das System von Empedokles (1781) richtet sich gegen die »verplatonisirt[e]« Lesart von Brucker und Cudworth (1678). Zuletzt unterbleibt der polemische Rekurs auf die Vita ganz: Tennemann (1798) will Empedokles ausschließlich nach seinen Leistungen als Philosoph beurteilen. Resümiert man die Diskussion am Ende des 18. Jh.s, ist eine Aufspaltung zu erkennen: Empedokles wird eingeschränkt als Philosoph rehabilitiert, das Leben des prätentiösen Schwärmers hingegen wird verworfen. Die Legende vom Ätnatod erscheint als Rest-
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bestand einer zweifelhaften Überlieferung, die ebenso wenig seriös zu diskutieren sei wie Berichte über die anrüchigen Aktivitäten des überzeugten Pythagoräers. Damit messen die Historiker der Philosophie Empedokles am Ideal des Philosophen und neutralisieren die irritierenden Aspekte der Figur. Die Rationalisierung gelingt allerdings nicht bruchlos; aufgrund seiner Nähe zu Pythagoras gilt Empedokles weiterhin als Schwärmer, aufgrund seiner Theoreme als unsystematischer Denker, aufgrund seiner Sprache als jemand, der zwischen Bildern und Begriffen schwankt. Mit der Anerkennung des Philosophen wird vor allem Empedokles’ unzeitgemäße Sprache zum Problem. Dass er in »poetischen Bildern« gesprochen habe, gilt als Grund für die vermeidbare Dunkelheit seiner »Lehre«. Die verteidigende These von Buhle (1796), Empedokles habe die »Philosophie als Dichter« behandelt, bleibt ebenso eine Ausnahme wie die Klage von Heyne (1776) »Besäßen wir wenigstens den Empedokles noch!« (Christian Gottlob Heyne setzt sich schon 1776 für eine eigenständige Sammlung der Fragmente ein. Diese aber wird erst 1805, mit der Edition von Friedrich Wilhelm Sturz, herausgegeben.) Wenn Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bezogen auf die Vita von Empedokles anmerkt: »Er ist nicht von großem Interesse« – so resümiert dies den Abschluss einer Diskussion, in der die Auseinandersetzung um das Leben und den Tod des Philosophen nicht länger als Gegenstand der Philosophie verstanden wird. H.s Einspruch Wie ist H.s Verhältnis zu dieser Überlieferung? Man kann annehmen, dass er die Diskussionen um Empedokles gekannt hat, war er doch mit den Kontroversen um die Geschichtsschreibung der Philosophie schon seit dem Stift (s. Kap. 10) vertraut (vgl. u. a. seine Magisterspecimena von 1790); 1794/95, als H. in Jena studiert, liest Tennemann über die Geschichte der Philosophie. Eine Lektüre von Diogenes Laertios’ Leben und Meinungen ist indessen erst im Dezember 1798 explizit erwähnt, als der erste Plan des Trauerspiels längst konzipiert ist. Einen direkten Hinweis auf diese Auseinandersetzung gibt H. in einer Passage im 2. Buch des 2. Bandes des Hyperion, das er vermutlich schon vor seiner Abreise zum Rastatter Kongress im November 1798 beendet. Mit der Stimme Hyperions resümiert H. seinen Einspruch gegen das populäre Bild von Empedokles, indem er den Kommentar des Spötters Horaz zitiert
und ihm widerspricht. Hyperion erinnert sich an den »große[n] Sicilianer [...], der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte müssen am Feuer sich wärmen, sagt’ ein Spötter ihm nach.« (FHA 11, 772) In der Zwiesprache mit Horaz ist nicht nur die Karikatur der Todeslegende zurückgewiesen; Empedokles selbst ist neu verstanden. Indem Hyperion seine Erinnerung an den »großen Sicilianer« den Versen des Horaz spiegelbildlich nachbildet, versteht er sein Porträt von Empedokles nicht nur als Korrektur, sondern als alternative Interpretation, die die populäre Horazische Formel ersetzt und an ihre Stelle treten kann. Darin resümiert die Passage im Hyperion H.s frühe Beschäftigung mit dem ›hinreißenden‹ Stoff. Weniger offensichtlich ist der Bezug in den ersten Texten zu Empedokles, der Ode Empedokles und dem Frankfurter Plan. H.s Rekurs auf die historische Überlieferung ist kompliziert, erschöpft sie sich doch nicht im Aufgreifen von Einzelheiten, die dann als »Zitate« nachgewiesen werden könnten. Schon in der ersten Skizze für das Trauerspiel verbindet sich eine implizite Revision des tradierten Bildes von Empedokles mit einem neuen dramatischen Porträt dieser Figur.
22.4 Frankfurter Plan Empedokles – nichts als dieser Name steht als Titel über der Skizze für ein fünfaktiges Trauerspiel; Empedokles ist auch der Titel einer Ode, die H. vermutlich ebenfalls Ende August oder Anfang September 1797 schreibt. H. ist zu dieser Zeit Hofmeister in Frankfurt und arbeitet an der Fertigstellung des 2. Bandes des Hyperion. Der auf den freien Seiten eines Schulheftes von Henry Gontard, zum Teil zwischen den Zeilen eines geometrischen Beweises notierte Frankfurter Plan zeigt einen eigenartigen Aufbau: nach einem ersten Teil, der in philosophisch-diskursiver Form Aussagen über den Charakter des Empedokles macht, folgt ein Szenario für »Ein Trauerspiel in fünf Acten« (StA 4, 145). Dargestellt sind die letzten Tage des Empedokles; »Mismuth«, ein »Aergerniß des Empedokles« an einem »Feste der Agrigentiner« und »Häuslicher Zwist« (StA 4, 145 f.) sind der Ausgangspunkt für eine Serie von Versöhnungen und Entzweiungen – im Verhältnis zur Familie, zu seinen Schülern, zum Volk –, an deren Ende Empedokles sich in den Ätna stürzt und das Volk sich am Ort des Todes versammelt. Deutlich ist ein al-
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ternierendes Schema: jeweils beantwortet Empedokles eine Enttäuschung durch die Menschen mit einer Hinwendung zur Natur, bis er sich schließlich zum freiwilligen Tod im Krater des Vulkans entschließt. Schon ein erster Blick zeigt, dass H. die dramatische Form nicht benutzt, um einen Handlungsverlauf zu entwerfen, durch den Empedokles’ Selbstmord tragisch, als Ausweg aus unlösbaren Konflikten motiviert wäre; im Gegenteil, das dramatische Potential der Legende bleibt ungenutzt. Aus diesem Grund gilt der Frankfurter Plan als eine erste dilettantische Skizze; bemängelt wird neben dem anekdotischen Einschlag – Frühstücks- und Abschiedsszenen sind konkreter skizziert als der dramatische Handlungsfaden – vor allem die unzureichende Begründung des freiwilligen Todes, der von H. ausschließlich als eine subjektive Notwendigkeit verstanden sei. So dokumentiere das Szenario vor allem die Begeisterung H.s für das Todesmotiv (Staiger 1963–1964). Dabei wird der Frankfurter Plan jedoch an einer dramaturgischen Norm gemessen, die dessen eigene Darstellungslogik entstellt. Tatsächlich konzipiert H. den Tod des Empedokles nicht aus einer tragischen Kollision, sondern als Disposition des Charakters. Schon der erste Satz hält dies fest und begründet die Unmöglichkeit zu leben – sogar in »wirklich schönen Verhältnissen« (StA 4, 145) – ausschließlich in Empedokles selbst. Gerade darin ist der Plan ernst zu nehmen, verweist er doch auf H.s Verständnis der dramatischen Form: nicht der Tod und dessen Rechtfertigung ist Thema des Trauerspiels, sondern Empedokles – die Darstellung eines extremen Charakters. Dieses poetologische Konzept erklärt den ungewöhnlichen Aufbau. Bereits die erste Skizze des Trauerspiels zeigt eine Form, die H. zwei Jahre später wesentlich differenzierter im Grund zum Empedokles ausführt. Die dort formulierte poetologische Unterscheidung zwischen »Grund« und »Darstellung« lässt sich bereits im Frankfurter Plan ausmachen: auch hier folgt dem »Grund« – der philosophischen Skizze der widerstreitenden Tendenzen des Charakters von Empedokles – das szenische Exposé – die »Darstellung«. Was am Anfang im Porträt kategoriell benannt ist, tritt erst mit der dramatischen Form in Erscheinung. Liest man die skizzierten Szenen unter diesem Gesichtspunkt, wird eine Verschiebung deutlich: statt auf den Ausgang der Handlung wird die Aufmerksamkeit auf Empedokles selbst gelenkt. Das Porträt zeichnet eine Figur extremer Widersprüchlichkeit, bestimmt durch »Kulturhaß«, Melancholie und gleichzeitig eine Sehnsucht, »lieben und le-
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ben« zu wollen »wie ein Gott« (StA 4, 145). Nicht H., wohl aber den Protagonisten des Trauerspiels kennzeichnet ein Wünschen, das in seiner Opposition zum Vorhandenen maßlos ist, ein Denken und Fühlen, das keine Vermittlung kennt zwischen Unendlichem und Endlichem, Allgemeinem und Besonderem, Unbegrenztem und Begrenztem, weil es die Endlichkeit menschlicher Verhältnisse nicht anerkennen und sie überschreiten will. Als dramatische Handlung ist der Prozess skizziert, an dessen Ende Empedokles als dieser Charakter erkannt wird: von ihm selbst und vom Volk – in der binnendramatischen Perspektive –, sowie von den Zuschauern des Trauerspiels. So erklären sich die oft kritisierten Eigenheiten dieses Plans, die aufwendige epische Breite. Die Abfolge des dramatischen Geschehens ist so konzipiert, dass Empedokles in den extremen Reaktionen seines »Gemüths«, seinen Maßlosigkeiten wie in seinem ›Leiden‹ sichtbar wird; deshalb die Wiederholung und Steigerung des immer gleichen Wechsels von Versöhnung und »Aergerniß«, Annäherung und Enttäuschung. Bezogen auf den Protagonisten hat die Handlungsfolge die Funktion, einen Prozess von Selbsterkenntnis zu initiieren, an dessen Ende Empedokles sein »innerste[s] Wesen« begreift und den Tod als eine »Nothwendigkeit«. Es heißt für den 5. Akt: »Die zufälligen Veranlassungen zu seinem Entschlusse fallen nun ganz für ihn weg und er betrachtet ihn als eine Nothwendigkeit, die aus einem innersten Wesen folge.« (StA 4, 148) Dieser Erkenntnis entspricht die Wahl der Todesart; mit dem Tod im Ätna wird Empedokles’ »Wesen« auch für die Anderen deutlich: am Ort des Todes erkennt auch das Volk ihn als »großen Mann« (ebd.). Dieser Prozess der Selbsterkenntnis vollzieht sich jedoch nicht als ›Reifwerden zum Tode‹, sondern als Korrektur von Todesvorstellungen. Es ist durchaus nicht so, dass Empedokles sich von vorneherein zum Tod im Ätna entschließt. Zuerst ist der Todeswunsch unbestimmt der Selbstmord; es heißt Empedokles folge »seinem geheimen Hange« (StA 4, 145), »ohne zu sagen, was seine Absicht ist, wohin er geht« (StA 4, 146); erst am Ende wird aus dem »eigentlich Vorhaben«, das niemand »ahnden« soll (StA 4, 148), der Entschluss, mit dem Tod im Ätna eine Todesart zu wählen, die auf »sein innerste[s] Wesen« verweist. Dem »Wesen« des Protagonisten, das der Frankfurter Plan entwirft, entspricht das Bild des Todes: der Ätna ist weiblich konnotiert und vorgestellt als »unendliche Natur«, ein Gegenüber, bei dem Empedokles die Erfüllung seines Verlangens, »leben und lieben« zu wollen »wie ein Gott« sucht. Aber eben die-
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se Suche zeigt ihn zugleich als jemanden, der Erfüllung in der Liebe zu den Menschen nicht finden kann. Der Tod im Ätna ist insofern nicht die Lösung, sondern Ausdruck des Konfliktes der Figur, ihrer widerstreitenden Tendenzen. Zwei für das gesamte Trauerspielprojekt grundlegende Aspekte sind bereits im ersten Szenario zu erkennen: es zeigt, dass H. mit der Gattung Trauerspiel nicht die Dramatisierung der Legende vom Freitod verbindet. Dem ›untragischen‹ Verständnis des Todes entspricht eine Dramaturgie, die auf einen konfliktuellen Handlungsverlauf verzichtet. H. wählt die dramatische Form, weil ihre Darstellungsstruktur ermöglicht, einen exzentrischen Charakter in seiner widersprüchlichen Konstitution und den Tod im Vulkan als Signum dieses Charakters sichtbar zu machen. Das Porträt von Empedokles Dem Verständnis der Figur im Frankfurter Plan korrespondiert eine Ode gleichen Titels (s. Kap. 29). Die Ode Empedokles schreibt H. 1797 zunächst in unregelmäßiger Versform; 1798 – nach der Ausführung des Ersten Entwurfs – formt er sie zur alkäischen Ode um; veröffentlicht wird sie erst 1801 (FHA 5, 427). Auch in der Ode ist nach Entsprechungen zwischen der Todesart und dem Wesen des Empedokles gefragt. Das Porträt der Figur entsteht hier aus einer Konfrontation gegensätzlicher metaphorischer Konnotationen des Ätna – als Vulkan, als Herz der Erde, als Opfergefäß; Empedokles erscheint als ein Mensch, den eine unbedingte, ebenso produktive wie gleichzeitig zerstörerische Sehnsucht nach dem Lebendigen charakterisiert. Setzt man das in der Ode und im Trauerspielplan dargestellte Porträt von Empedokles in Beziehung zu den Diskussionen des 18. Jh.s, so wird H.s eigenständiges Verhältnis zur Tradition deutlich. Er bezieht sich auf die überlieferten Texte nicht als ›Quellen‹, denen er bestimmte Fakten entnimmt, er antwortet ihnen als Texten, die ein bestimmtes Verständnis von Empedokles behaupten. Das erste szenische Exposé ist sehr viel weniger »frei erfunden«, denn eine genaue Antwort auf die heterogenen Bilder der Überlieferung. Mit der Betonung von »Gemüth« und »Philosophie«, durch die »Empedokles [...] zu Kulturhaß gestimmt« ist (StA 4, 145), ist Bezug genommen auf eine Dichotomie, die in der Tradition immer wieder variiert wurde – die Kritik der irrationalen Züge von Empedokles auf der einen, die Anerkennung seiner philosophischen Verdienste auf der anderen Seite. H. spielt das »Gemüth« nicht gegen die »Philosophie«
aus, aber die Einheit, die er behauptet, ist gleichwohl keine des moderaten Ausgleichs. Die exzentrische Seite, für die bisher vornehmlich das »Gemüth« des Empedokles verantwortlich gemacht wurde, erkennt H. in dessen »Philosophie«: Empedokles ist »auch in wirklich schönen Verhältnissen unbefriedigt, unstät, leidend, blos weil er [...], so bald sein Herz und sein Gedanke das Vorhandene umfaßt, ans Gesez der Succession gebunden ist« (StA 4, 145). Gab es in den Diskussionen des 18. Jh.s die Tendenz, Empedokles eine fest umrissene Identität zuzuschreiben – sei es als pythagoräischer Politiker, als einsamer Naturforscher, als melancholischer Philosoph –, so setzt H. diesem Ideal der Kohärenz einen Charaktertypus gegensätzlicher Tendenzen entgegen. Die Angebote zur Stilisierung von Empedokles zu einer eindeutigen Figur werden von H. nicht angenommen. Akzentuiert sind solche Züge, die Empedokles gerade nicht als aufgeklärten Wohltäter und Menschenfreund ausweisen: Empedokles ›hasst‹, ›verachtet‹ »alle einseitige Existenz«, zeigt »Entrüstung gegen menschliche Dürftigkeit« (StA 4, 147). In der Antwort auf die Verteidiger und Kritiker des Empedokles mildert H. nicht die widersprüchlichen Seiten der Figur, indem er sie einseitig auslegt oder harmonisiert; im Gegenteil, er verstärkt sie. Nicht das philosophische Porträt einer schönen Seele ist im Frankfurter Plan zu lesen; H. zeigt Empedokles als eine höchst ›unreine‹ Figur, die von gegensätzlichen Leidenschaften absolut bestimmt und die gerade deshalb, anders als es die Überlieferung will, als ein tragischer Charakter, als »großer Mann« zu begreifen ist. Auch das Verständnis des Todes widerspricht allen überlieferten Begründungen und Rechtfertigungen. H. geht davon aus, dass die Todesart, die die Legende Empedokles zuschreibt, nicht zufällig ist, sondern eine Wahl, und dass in der Form des Todes das Lebensgesetz von Empedokles, die Signatur seines Charakters sichtbar wird. Damit werden die gängigen Auffassungen dieses Todes verworfen: der Selbstmord im Ätna erscheint weder als willkürliches Betrugsmanöver noch als heroische Apotheose. Für H.s Verständnis des Ätnatodes gibt es in der Überlieferung kein Vorbild. In den Kommentaren des 18. Jh.s zur Ätnalegende wird keine Verbindung zwischen der Form der Todes und Empedokles hergestellt; auch die philosophische Lehre des historischen Empedokles wurde nie mit dem Tod im Ätna in Beziehung gebracht, selbst dort nicht, wo die Historiker der Philosophie darum gestritten haben, ob Empedokles unter den Elementen das Feuer privilegiere. H. behauptet einen Zusammenhang dort,
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wo selbst die Spötter einen Widerspruch gesehen haben: zwischen dem rätselhaften Tod im Ätna und dem Leben, dem Charakter des Empedokles. Der Formulierung – »durch freiwilligen Tod sich mit der unendlichen Natur zu vereinen« (StA 4, 147) – hat man entnommen, dass der Tod im Ätna in H.s Trauerspiel vor allem eine tiefe »symbolische Wahrheit« (Hochmuth 1971) habe. Der Sturz in den Vulkan symbolisiere »die Vereinigung mit dem göttlichen Element, dem Feuer« (Schadewaldt 1966), sei »unio-mystica mit der Natur« (Jamme 1983), Plädoyer für eine »Rückkehr zur Natur« (Link 1982; 1995). Diese symbolische Wahrheit des Todes sei für alle Entwürfe des Trauerspiels bestimmend; variiert werde lediglich die Rechtfertigung des Todesentschlusses. Doch H.s Trauerspiel basiert nicht auf einer vorgängigen symbolischen Bedeutung des Ätnatodes, er konstruiert vielmehr eine strenge Korrespondenz zwischen Empedokles und diesem Tod, die die dramatische Darstellung erst sichtbar macht. Was sich in den verschiedenen Entwürfen des Trauerspiels ändert, ist das Verständnis der Figur Empedokles; entsprechend verändert sich auch die Darstellung des Bildkomplexes ›Ätna‹. H.s Verzicht auf Dramaturgien des tragischen Konflikts, der ihm so oft als Unfähigkeit ausgelegt wurde, entsteht aufgrund dieser Behauptung einer Beziehung zwischen dem Leben und dem Tod des Empedokles. Dieser eigenwillige Gesichtspunkt sowie die Freiheit zur Revision tradierter Urteile verweisen zurück auf H.s Sokratesplan. Bereits hier hatte er eine neue Bearbeitung vorgeschlagen, wenn er seinen Tod des Sokrates nicht länger in der Tradition des Märtyrerdramas darstellen wollte, sondern »nach den Idealen der griechischen Dramen«. Auch den Tod des Empedokles begreift H. in keiner der vielen Todesfiguren, die das 18. Jh. für den Tod des Sokrates ausgeprägt hat. Er liest die Sterbeszene neu, unter dem Gesichtspunkt einer Korrespondenz zwischen dem Leben und dem Tod der Figur. Diese Lesart hatte Hegel für den Tod des Sokrates diskutiert: in der Form des sokratischen Sterbens erkannte er eine Entsprechung zu Sokrates’ Philosophieren, so dass die Sterbeszene zum Signum wird für die Einheit von Leben und Lehre. Doch darin zeigte sich für Hegel zugleich ihre historische Bedingtheit. Der griechische Tod des Sokrates ist ihm Bild »schöner Einfalt«, das den Ansprüchen einer fortgeschrittenen Vernunft nicht mehr zu genügen vermag. Auch H. verabschiedet sich von Sokrates; aber anders als Hegel hält er an der griechischen Figur fest, allerdings an einer, die im 18. Jh. höchst umstritten war. Die Korrespondenz zwischen Leben und Tod
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sucht er nicht bei einer »schönen Seele«, sondern im Gegenteil, bei einem extremen Charakter. Empedokles ist nicht Vorbild – wie Hegels Sokrates – sondern eine Figur im Konflikt, nicht der anerkannte athenische Volkslehrer, sondern der zu Melancholie, Exzentrik und »Kulturhaß« neigende Schwärmer. So wie Hegels Diagnose der verlorenen »schönen Empfindungen« implizit die Möglichkeit von Dichtung selbst in Frage stellt, impliziert H.s Antwort ein poetologisches Argument. Durchaus als Antwort auf Hegels Analyse der entwerteten Bilder und der unwiederbringlichen Empfindungen behauptet H. gerade nicht das schöne, wohl aber das tragische Bild. Damit ist die Frage nach dem Begriff tragischer Dichtung neu gestellt, die H. mit den Entwürfen seines Trauerspiels anders beantwortet als seine Zeitgenossen. Dass H. darum gewusst hat, dass sein Verständnis der Figur und seine Auslegung des Todes von Empedokles ebenso neu und wie eigensinnig sind, darauf deutet die Geheimhaltung, mit der er den Protagonisten seines Trauerspielprojekts umgibt. Ganz anders als bei der Ankündigung des Sokratesplans spricht H. gegenüber dem Bruder, dem er im September 1797 von dem dramatischen Projekt berichtet, lediglich von einem »Stoff«, der »hinreißt«. Diese Verschwiegenheit behält er auch später bei; in den Briefen schreibt er unbestimmt von »meinem Trauerspiel« (B 167, MA 2, 710), »einer Arbeit, die ich unter den Händen habe« (B 168, MA 2, 713), »meiner Arbeit« (B 169, MA 2, 716), »dem Buche, an dem ich schreibe« (B 173, MA 2, 737). Erst als im Juni 1799 die Publikation des Trauerspiels unmittelbar bevorzustehen scheint, gibt H. den Titel preis (B 178, MA 2, 764). Wenn H. erst zu diesem Zeitpunkt das Verschweigen des Namens Empedokles – der anders als der des Sokrates tatsächlich eine höchst zweifelhafte und uneindeutige Referenz gewesen wäre – aufgibt, dann wohl aufgrund der Erwartung, nun mit der eigenen Dichtung Empedokles und dessen Tod eine Deutung gegeben zu haben, die in der Tradition ohne Vorbild ist.
22.5 Erster Entwurf Mehr als ein Jahr liegt zwischen dem Frankfurter Plan und der ersten Ausführung des Trauerspiels. Die Druckvorlage für den 2. Band des Hyperion ist im Oktober 1798 fertiggestellt, danach nimmt H. das Empedokles-Projekt wieder auf (B 167, MA 2, 710). Ob das dramatische Werk noch Empedokles oder bereits Der Tod des Empedokles heißen sollte, wie H. es im Juni
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1799 ankündigt, weiß man nicht; ein Titel fehlt für den Ersten Entwurf ebenso wie ein Personenverzeichnis. Trotz des Umfangs ist die Handschrift zugleich lückenhaft. H. schreibt über 2000 Verse, aber nur zwei Akte; nicht alle Auftritte sind vollständig ausgeführt, manche Dialoge nur dem Inhalt nach skizziert. Gleichzeitig hat H. den Text schon überarbeitet und neue Texte geschrieben, so dass Entwurfsschichten oft nicht eindeutig zu unterscheiden sind: Randbemerkungen lassen sich als Kommentare, aber auch als Hinweise für beabsichtigte Korrekturen lesen; Anstreichungen, Textumstellungen, Korrekturzeichen sind oft schwer entzifferbar. Ein Gerüst für die Strukturierung der Handschriften hat man im Konzept des Frankfurter Plans gesehen; so hat Beißner die vorhandenen Texte des Ersten Entwurfs als ersten Teil eines Trauerspiels in fünf Akten ediert. Durch die Orientierung an der fünfaktigen Form erschien die realisierte Ausführung als Torso und abgebrochener dramatischer Versuch. Dass sich in der Differenz zur Anfangskonzeption nicht ein Scheitern, sondern ein dramatisches Formexperiment zeigt, konnte unter dieser Prämisse nicht erkannt werden. Folgte schon der Frankfurter Plan nicht mehr dem Schema der progressiven Entfaltung eines tragischen Konfliktes, so ist das Kompositionsprinzip des Ersten Entwurfs noch einmal komplexer. Zwei Unterschiede sind auffällig: H. gibt den großen Handlungsbogen des Frankfurter Plans auf; es bleiben zwei Akte mit je acht bzw. neun Szenen. Deutlich ist die symmetrisch gegengleiche Struktur: Im 1. Akt wird Empedokles, der sich öffentlich einen Gott genannt hat, von Priester und Volk aus Agrigent verbannt; im 2. Akt bittet das Volk Empedokles, zurückzukehren. Er lehnt dies ab und begründet seinen Entschluss zu sterben. Die Handlung ist so einfach, dass man sie als Exposition verstanden hat, auf die die eigentliche dramatische Verwicklung im fehlenden 3., 4. und 5. Akt noch folgen sollte. Doch nicht allein der Handlungsverlauf ist gegenüber dem Frankfurter Plan verändert, die entscheidende Differenz zeigt sich in einer Eigenheit der dramaturgischen Konstruktion. Beide Akte sind jeweils um ein Ereignis zentriert, das dem dargestellten Geschehen vorausgeht. Jeweils ist es der überlieferten Biographie des historischen Empedokles entnommen: im 1. Akt ist es die Hybris, die schon bei Diogenes Laertios als Ärgernis kommentierten Verse, in denen sich Empedokles als »unsterblichen Gott« bezeichnet; im 2. Akt ist es der Entschluss zum Selbstmord – ein ebensolcher Akt von Hybris. Am 24. Dezember 1798, also während der Arbeit
am Ersten Entwurf, berichtet H. in einem Brief an Sinclair über eine Lektüre des Diogenes Laertios (B 171, MA 2, 721). Man hat sich gefragt, ob H. diese wichtige Quelle zur Vita des historischen Empedokles zu diesem Zeitpunkt tatsächlich zum ersten Mal liest, da das erste Szenario des Trauerspiels doch längst entworfen ist. Eine neuerliche Lektüre wurde als Bemühen um historische Genauigkeit und eine bessere dramatische Motivierung verstanden, die dem Frankfurter Plan fehle. Der Erste Entwurf zeigt tatsächlich eine detaillierte Auseinandersetzung mit der biographischen Überlieferung; H. exponiert gerade das Motiv, das – neben dem Tod im Ätna – den zweifelhaften Ruf der historischen Figur als philosophischer Scharlatan, Magier und Schwärmer begründet hat: die Selbstpreisung als Gott. Gleichwohl wird das Material nicht für eine wirkungsvolle Dramatisierung genutzt. Der 1. Akt beginnt, nachdem sich Empedokles einen Gott genannt hat, der 2. Akt, nachdem er seine Entscheidung zum Tod gefaßt hat. Weder die Selbstpreisung als Gott noch der Entschluss zum Selbstmord sind dramatisch motivierte Reaktionen auf eine konfliktuelle Situation; sie sind auf der Handlungsebene nicht kausal miteinander verknüpft. Was man als ›Scheu‹ vor dem genuin dramatischen Potential des Stoffs und als grundlegende Schwäche der Konzeption verstanden hat, verweist auf ein anderes Verständnis der dramatischen Form. Mit diesem Aufbau ist eine Verschiebung verbunden: nicht die Tat selbst – das Ereignis der Selbstpreisung, die Entscheidung zum Tod – steht im Zentrum, sondern deren Kommentierung; die Fragen, Reaktionen, Deutungen, die sie auslöst. In beiden Akten ist der Prozess einer Befragung dargestellt. Im 1. Akt ist das Leiden von Empedokles, das der Hybris folgt, Anlass wie Thema aller Gespräche. Empedokles ist für die Anderen zum »Räthsel« (StA 4, 20) geworden – so das Motiv, das in allen Reden über ihn auftaucht: im Dialog der von Empedokles geheilten Panthea mit der aus Athen zugereisten Delia, die Empedokles nur aus Berichten kennt; im Streit der öffentlichen Autoritäten, des Priesters Hermokrates und des Archonten Kritias; schließlich in der Zwiesprache mit Pausanias, dem Lieblingsschüler. Alle Figuren betonen Aspekte des Unbegreifbaren, aber jede Figur sucht dieses Phänomen anders zu deuten: als Genie qua Inspiration (Panthea), als Genie qua Autonomie (Pausanias), als ruhmvolle Wirksamkeit (Delia), als politisches Schwärmertum (Hermokrates), als Phänomen unbegreiflicher Transgression (Kritias). Der Streit um den »Übermuth des Genies« (StA 4, 446),
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wie H. die Selbstpreisung kommentiert, zeigt das Spektrum, in dem die Figuren Empedokles zu begreifen suchen: es ist ebenso gegensätzlich wie die Kategorien des jeweiligen Verstehens. Diese Szenen sind insofern keine Exposition, die den Protagonisten positiv wie negativ beleuchtet; sie konstituieren eine andere Form der dramatischen Darstellung. Anders als im Frankfurter Plan werden die gegensätzlichen Tendenzen des Charakters nicht mehr durch die Abfolge von dramatischen Ereignissen veranschaulicht; an die Stelle von Aktionen tritt die Perspektivierung durch verschiedene Stimmen. Diese Perspektivierung ist eine doppelte: jede Aussage über Empedokles ist abhängig von der Figur, die spricht, so dass es keine ›objektive‹ Aussage über ihn gibt. Und umgekehrt sind die Figuren ausschließlich charakterisiert durch die Art ihres Sprechens über Empedokles. Auch hier nutzt H. das Material der biographischen Überlieferung nicht für eine dramatische Handlung, er interpretiert es indem er es verschiedenen Figuren zuordnet. Keine Heilung der todkranken Panthea wird gezeigt, sondern die Figur, die als von Empedokles Geheilte spricht; kein Olympiasieger, sondern eine Athenerin, deren Sprechen von diesem Ruhm des Empedokles geprägt ist; kein Pausanias, dem Empedokles geheimnisvolle Macht über die Natur verspricht, sondern ein Schüler, dessen Sprechen grenzenloses Vertrauen in die Macht des Wissens ausdrückt. So spiegeln sich in den Reden der Figuren die exzentrischen Züge des Protagonisten. Dies ist bestimmend für das Formexperiment des Ersten Entwurfs, in dem Handlung allein noch in der Reflexivität der Sprache vorkommt. Der Dialog hat nicht die Funktion, das Fortschreiten einer Handlung zu befördern; es wird keine Handlung durch Sprache bezeichnet, sie vollzieht sich allererst und ausschließlich in ihr. Empedokles ist der Einzige, der sein Leiden zu enträtseln vermag. Für die Komposition des Ersten Entwurfs ist dies entscheidend: nicht, dass Empedokles die Hybris begangen hat, sondern dass und wie er sie erkennt. Im Text ist die Bedeutung dieses Erkennens indirekt kommentiert. »Pausanias: Warum/ Verbirgst du mirs, und machst dein Leiden mir/ Zum Räthsel? glaube! schmerzlicher ist nichts. Empedokles: Und nichts ist schmerzlicher, Pausanias!/ Denn Leiden zu enträthseln. [...]« (StA 4, 20)
Auch Empedokles’ eigenes Sprechen ist verzerrt; aber indem er aufbegehrt gegen den Verlust seines vor-
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maligen Lebens vermag er, anders als alle anderen, seinen »Übermuth« zu begreifen. Die monologische Passage, in der er dem Schüler die ›Enträstelung‹ seines Leidens mitteilt (StA 4, 17), ist grundlegend für den Ersten Entwurf; hier taucht zum ersten Mal ein Motiv auf, das dann in vielfältigen Variationen entwickelt wird: das der Gabe. Dargestellt ist, wie Empedokles in der Anverwandlung an die Bewegung des Lichts das Prinzip der Gabe als Bestimmung auch seines Lebens erkennt und nicht mehr selbstbezogen in nur negativer Beziehung zu den »Menschen« verbleibt. Er erfährt die Großzügigkeit der »Erde«, als er sich ihren »Räthsel[n]« zuwendet. Beschrieben ist ein Gabentausch: Empedokles, der sein Herz der »ernsten Erde« »gab« und »Gelobt’ [...] Die Schiksaalvolle furchtlos treu zu lieben« (StA 4, 18), erhält von ihr Sprache: »All deine Freuden, Erde! [...] herrlich, wie sie sind, [...] Sie alle gabst du mir [...]« (ebd.). Als seinen »Übermuth« erkennt er jetzt den Akt, in dem er, was freiwillige Gabe der Natur an ihn war, selbstbezogen beansprucht hat. Seine Hybris ist nicht Ausdruck von Stolz oder Herrschaft, sie ist Symptom der Verkehrung wie Verkennung eines Verhältnisses von Gegenseitigkeit. Das Verhältnis der Gabe ist nicht allein Thema des Ersten Entwurfs, es ist auch strukturbildend für seine Form. Dies lässt sich verfolgen anhand des Motivs der Verkehrung der Gabe zum Gift, das im Text vielfach variiert wird. Die Struktur dieser Inversion bestimmt die Komposition des gesamten Entwurfs. Empedokles bleibt mit seiner Erkenntnis allein. Dies bedingt eine Ungleichzeitigkeit, die den 1. Akt grundlegend bestimmt. In dessen Zentrum steht eine Gerichtsszene, deren Ausführung oft kritisiert wurde. Man hat sich gefragt, warum H. keine dramatische Konfrontation zwischen dem Priester und Empedokles gestalte und warum er das Volk zu Statisten reduziere. Auch hier konstituiert nicht der Handlungsverlauf, sondern die Form der Darstellung die wesentliche Aussage. Die Szene ist in mehrfacher Weise durch die Figur der Verkehrung geprägt. So wird die religiöse Praxis des Priesters als Vergiftung durch Reden charakterisiert – »Muß dieser Heuchler meine Trauer mir/ Vergiften? [...]« (StA 4, 23) – und als Verkehrung »freier Götterliebe« zum »Gewerbe« (ebd.). Das Volk vollzieht einen spiegelverkehrten Austausch, indem es sein Verhältnis zu Empedokles verleugnet und sich der Sprachautorität des Priesters unterwirft. In der Gestaltung dieser Inversion folgt H. einem Vorbild, Shakespeares Julius Caesar (H. berichtet über seine Shakespeare-Lektüre, als er die Publikation des Trauerspiels ankündigt (B 178, MA 2, 765)). So wie sich dort der
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»Erste, Zweite, Dritte Bürger« zunächst der Redemacht des Brutus unterwerfen und dann der Cäsars, so übertragen der »Erste, Zweite, Dritte Agrigentiner« das Bedürfnis nach sprachlicher Bevormundung von Empedokles auf den Priester. Hermokrates besetzt den Platz von Empedokles, indem er sich dessen Sprache in Form entstellender Mimikry aneignet. Mit dem Fluch, der Empedokles als Sündenbock aus der Stadt ausschließt, wird das Gabenmotiv pervertiert. Der Gegenfluch von Empedokles adaptiert Shakespeares Timon aus Athen. Wie Timon die Bürger Athens verflucht, weil sie die Gesetze des Gabentausches und der Gastfreundschaft verkehrt haben, so verflucht Empedokles die Agrigentiner, indem er die Metaphorik des Nahrungstausches in ihr absolutes Gegenteil wendet. Die 5. Szene, Höhepunkt des 1. Aktes, zeigt die Vergiftung des Sprechens bei allen Figuren. Der 2. Akt zeigt die Auflösung dieser Verkehrungen. Die Handlung ist ebenso einfach wie die des 1. Aktes: Empedokles versöhnt sich mit der Natur und will sterben, das Volk versöhnt sich mit Empedokles und bittet ihn, wieder in Agrigent zu leben. Auch hier widerspricht das Geschehen einer dramatischen Kausalität; ein ohnehin versöhnungsbereites Volk trifft auf einen ohne jede Auseinandersetzung todesentschlossenen Protagonisten, dessen Gegenspieler nach wenigen Sätzen die Bühne verlässt. Doch was als Handlung knapp zu resümieren ist, ist dargestellt als komplizierter Prozess einer gegenseitigen Befragung. Empedokles’ Entschluss zum freiwilligen Tod im Ätna ist an keiner Stelle des 1. Aktes dargestellt; diese Entscheidung geht als Setzung dem 2. Akt voraus. Und wie die Selbstvergottung im 1. Akt, so ist der Todesentschluss im 2. Akt ausschließlicher Gegenstand aller Gespräche. Empedokles’ Todesabsicht ist zu Beginn des 2. Aktes ebenso unvermittelt wie die Versöhnungsbereitschaft des Volkes. Er sucht eine »Wiederkehr« (StA 4, 51) zur Natur, sein Wunsch zu sterben ist der Wunsch, das »Geschehene« (StA 4, 52) zu »[b]e graben« (StA 4, 54), es zu vergessen. Ebenso plötzlich will das Volk den Austausch der Sprachautoritäten rückgängig machen; es sucht in Empedokles erneut den König, den Gesetzgeber, den Weisen. Die Auflösung dieser extremen Haltungen vollzieht sich als Aussprache im wörtlichen Sinn, als gegenseitige Befragung, in der Empedokles die willkürlichen Selbstmordwünsche und einseitigen Todesbegehren revidiert, das Volk die abhängigen Identitätszuschreibungen für Empedokles aufgibt, mit denen es in ihm eine – königliche, väterliche oder philosophische – Autorität sucht, deren »Rath« (StA 4, 71) es zu bedürfen
glaubt. Im Verlauf dieses Prozesses werden die Verkehrungen, die er 1. Akt gezeigt hat, ausgesprochen; erst so wird aus dem Verkennen ein sukzessives Erkennen, aus dem vernichtenden Gift ein heilendes. Am Ende kann das Gabenverhältnis restituiert werden: Empedokles verweigert sich dem Volk nicht länger; auf die ihm angebotene »Kron’« antwortet er mit seinem »Wort« (StA 4, 64). Sein ›Vermächtnis‹, die sogenannte Ätnarede, ist keine vom dramatischen Verlauf losgelöste utopische Verkündigung noch Prophetie eines Todesgewissen, sondern eingebunden in die dramaturgische Komposition, eine letzte Gabe des Empedokles und zugleich der Aufruf, den Gabentausch zur Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu machen, das »Wort« zu geben und »Gut, [...] That und Ruhm« zu teilen (StA 4, 66). Auch nach der Ätnarede steht Empedokles’ Todesentschluss weiterhin in Frage. Für das Verständnis des Todes von Empedokles ist es entscheidend, dass sein Sterben keineswegs notwendig ist für den »neue[n] Tag« (StA 4, 68) der Agrigentiner; der Tod des Einzelnen ist nicht Voraussetzung für die Erneuerung des Volkes. Die erneute Bitte der Agrigentiner, zu bleiben, beantwortet Empedokles mit dem Argument: »Gelebt hab ich« (StA 4, 70). In der Ausführung dieses Arguments besteht die letzte Begründung für den Tod; mit der fortgesetzten Befragung des Todesentschlusses wird auch die Befragung der Identität von Empedokles zu Ende geführt. Empedokles klärt die Agrigentiner über sein Leben auf: er löst jetzt noch die letzte Abhängigkeit, die von seiner Person, für die Anderen auf; aber nicht durch seinen faktischen Tod, sondern indem er ausspricht, wer er ist. Sein Todesentschluss artikuliert sich nun in Form einer Lebenserzählung. Kommentiert aber ist nichts anderes als die Bewegung, die das Trauerspiel dargestellt hat, die Verausgabung seines Wortes. Mit der Erklärung »Gelebt hab ich« beansprucht Empedokles die griechische Figur des schönen Todes, des gelebten und erfüllten Lebens. Dass er dies kann, ist nicht subjektive Ermächtigung, noch teleologische Rechtfertigung, sondern ermöglicht durch den mit dem Trauerspiel dargestellten Prozess. H. hat den dramatischen Verlauf so konstruiert, dass Empedokles sterben kann, nicht sterben muss. Mit der Gabe des Wortes hat sich das Leben von Empedokles sowohl realisiert als auch erschöpft: »Und konnt’ ich noch mein liebstes euch zulezt/ Mein Herz hinweg aus meinem Herzen geben./ Drum vollends nicht! was sollt ich noch bei euch?« (StA 4, 71). Wenn Empedokles sich gleichwohl freiwillig zum Sterben entschließt, so
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weil er mit der Erfüllung auch das Ende seines Lebens anerkennt und es der Natur zurückgeben will, aus Dankbarkeit, nicht aus dem Bewusstsein, der Natur diesen Tod schuldig zu sein. Empedokles beschreibt eine Alternative: er könnte »länger weilen« (StA 4, 70), dann jedoch als ein Mensch, der nicht akzeptiert, dass sich sein Leben erfüllt hat. Erst dies macht aus der Entscheidung zu sterben eine freiwillige – und nicht eine erzwungene. Nur in diesem Sinn, als Ausdruck des Dankes, ist Empedokles’ Tod ein Opfer – als Gabe. Daraus begründet sich die Wahl der Todesart. Wie im Frankfurter Plan gibt es auch im Ersten Entwurf eine enge Korrespondenz zwischen Empedokles und dem Ort seines Todes, die ausschließlich durch den dramatischen Verlauf konstituiert wird. Auch hier besitzt der Ätnatod als solcher keine symbolische Bedeutung. Aber der Erste Entwurf entwickelt ein Verständnis der Figur, das sich vom Frankfurter Plan unterscheidet und diesen zugleich reflektiert. Dem entspricht ein verändertes Bild des Ätna. Er ist nicht mehr dargestellt als weibliches Gegenüber, bei dem Empedokles seine Sehnsucht nach dem Unendlichen zu erfüllen sucht, sondern beschrieben als Berg, an dem sich Licht und Erde begegnen – das »leuchtende Gestirn« und die »Flamme« des Vulkans (StA 4, 80) –, als Ort eines gegenseitigen Austausches. Gab es im Frankfurter Plan eine Opposition zwischen einer durch Endlichkeit begrenzten Liebe zu den Menschen und einer unendlichen Liebe zur Natur, so ist Empedokles jetzt durch eine Hingabe charakterisiert, für die Endlichkeit nicht Grenze, sondern Bedingung ist. So wird der Ätna zum Zeichen für Empedokles, denjenigen, den »Licht und Erde liebten« (StA 4, 74). Am Ende verweist Empedokles die Agrigentiner auf diesen Ort seines Todes, als ein Zeichen, das er als Ausdruck seines Lebens zurücklässt. H. hat dem Tod des Empedokles im Ersten Entwurf eine Auslegung gegeben, die mit den dramatischen Todesfiguren und Opfertypologien, die man auf das Trauerspiel projiziert hat, unvereinbar ist. Empedokles stirbt nicht den Tod des tragischen Helden, der durch seinen Untergang ein neues Lebensprinzip affirmiert (Szondi 1978); er kann sterben, weil sich sein Leben realisiert hat. Auch ist sein Sterben nicht ein spekulatives Todesbegehren, um sich den endlich beschränkten Verhältnissen zu entziehen (Söring 1973); mit dem Ende seines gelebten Lebens erkennt Empedokles seine Sterblichkeit an. Empedokles stirbt auch nicht, um durch seinen Tod die Abhängigkeit des Volks von ihm aufzuheben (Kurz 1975), diese ist zuvor bereits aufgehoben. Weder sühnt er durch eine
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Selbstaufopferung die »Scheinhaftigkeit der Versöhnung im Schönen« (Kalácz 1988), noch ist sein Tod regressives Eingehen in den Naturzusammenhang (Schmidt, Grätz, KA 2, 1105); in bewusster Entscheidung will Empedokles sein Leben der Natur zurückgeben. Diesen Begründungen des Todes ist der Gedanke der Notwendigkeit gemeinsam, doch Empedokles’ Sterben ist im Verlauf des Trauerspiels weder notwendig, noch tragisch, sondern möglich geworden. Ein solches Verständnis des Todes ist nicht abstrakte Setzung, noch theoretische Konstruktion. Zeitpunkt, Form und Bedeutung dieses Todes sind ausschließlich an die im Trauerspiel realisierte Bewegung geknüpft; es gibt keinen vorgängigen Sinn, weder der Todesart, noch seiner Funktion. Wenn auf die Ausführung einer abschließenden Sterbeszene verzichtet ist, so liegt dies in der Konsequenz dieser dramaturgischen Konzeption. Die Figur eines freien Todes, die H. der Todesfigur des notwendigen Opfers entgegensetzt, ist gebunden an die Bewegung, die das Trauerspiel darstellt und kann gerade nicht in einer abschließenden Sterbeszene dramatisch repräsentiert werden. Die ausgeführten Szenen des Ersten Entwurfs lassen eine Darstellungsform erkennen, die nicht am triadischen Schema eines drei- oder fünfaktigen Trauerspiels orientiert ist. Zweimal ist ein Umschlag gezeigt, der Prozess, in dem aus der Gabe ein vernichtendes und dann ein heilendes Gift wird. Das Gabenverhältnis wird von H. als Sprachverhältnis aufgefasst: gezeigt ist der Prozess der Entstehung von Verkehrungen des Sprechens und deren Auflösung. Zeigt der 1. Akt den Umschlag des Geschenks der Sprache in das Gift abhängiger und selbstbezogener Sprachermächtigung, so zeigt der 2. Akt den Prozess extremer Verkennungen und extremer Versöhnungen, in dem aus dem Gift verkehrten Sprechens ein heilendes wird. Innerhalb des Handlungsverlaufs, der die Struktur eines Umschlags hat, – der Krise im 1. Akt antwortet die Versöhnung des 2. Aktes – ist der Prozess einer Umkehr von Bedeutungen dargestellt. Am Ende wird das Gabenverhältnis restituiert: Empedokles erkennt, dass seine Sprache, sein »Innerstes« (FHA 12, 273), nicht sein Eigenes und nicht an ihn gebunden ist. Seine Rede übereignet er dem Volk, sein Leben übereignet er der Natur. In der kompositorischen Struktur des Trauerspiels zeigt sich so zugleich eine poetologische Figur: die Ablösung der Sprache vom sprechenden Subjekt. Am Ende der fortgesetzten Befragung des Todeswunsches sind alle Bedeutungen des Lebens und des Todes von Empedokles ausgesprochen: Empedokles’ ganzes Wesen ist Sprache geworden. Dieser »Tod« realisiert sich
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im Prozess der dramatischen Dichtung, die deshalb – im poetologischen Sinn – »Tod des Empedokles« genannt werden kann. H. hat diesen Zusammenhang zwischen der Konzeption der Figur und der Darstellungsstruktur in einer Anmerkung festgehalten: »er muß lieben, bis ans Unendliche hin, dann stirbt er [...]; er muß den Rest von Versöhnungskraft [...] gleichsam aufzehren.« (StA 4, 481) Beschrieben wird die Form des 2. Aktes, an dessen Ende Empedokles sein »Wort« gibt. Dieser Prozess ist als »aufzehren« verstanden, als vollständige Verausgabung seiner Nahrung und als Entleerung zugleich. Was Empedokles am Ende von sich sagt, ein »Gefäß« (StA 4, 73) zu sein, durch das sich eine neue Sprache mitteilt, vollzieht sich als dramatische Bewegung. Erst mit dem Grund zum Empedokles wird diese Form der Darstellung, die im Ersten Entwurf der poetischen Textur und dem Gefüge der Szenen zu entnehmen ist, systematisch entwickelt. Sie ist grundlegend für H.s Verständnis der tragischen Form – als »Auflösung« von Verkehrungen.
22.6 Zweiter Entwurf Am 4. Juni 1799 kündigt H. eine Publikation seines Trauerspiels an; es soll in der neuen von ihm herausgegebenen »poëtische[n] Monatsschrift« Iduna erscheinen. »Die ersten Stüke werden von mir enthalten ein Trauerspiel, den Tod des Empedokles, mit dem ich, bis auf den letzten Act fertig bin« (B 178, MA 2, 764). H. nennt hier zum ersten Mal öffentlich einen Titel seines dramatischen Werks. Ein entsprechendes Titelblatt findet sich in der Reinschrift des Zweiten Entwurfs. Doch H.s Beschreibung entspricht keine der überlieferten Handschriften; der Erste Entwurf umfasst nicht vier Akte, sondern zwei, der Zweite Entwurf liegt einmal vor in einer Handschrift, die nur fünf in einem neuen Versmaß geschriebene Szenen umfasst, zum anderen als Reinschrift, die aber bereits nach 145 Versen abbricht. Beißner ging deshalb davon aus, dass ganze Teile des Zweiten Entwurfs verloren gegangen seien; Sattler bezieht die Publikationsankündigung auf den Ersten Entwurf, dessen zwei Akte H. vermutlich in einem neuen Versmaß habe überarbeiten und auf vier Akte verteilen wollen. Der Zweite Entwurf sei dieses Experiment, das jedoch nach 14 Tagen aufgegeben werde. Warum hat H. den Ersten Entwurf, der doch eine geschlossene Komposition erkennen lässt, nicht zu Ende geführt? Warum schreibt er stattdessen weitere Ausführungen und warum bleiben auch diese jeweils
unvollständig? Die Fragen stellen sich anders, wenn man von H.s tatsächlichem Arbeitsprozess ausgeht. Schon mit der Bezeichnung »Erste, Zweite, Dritte Fassung »verbindet sich die Vorstellung, H. beginne mit jeder neuen Ausführung von vorn. Für die Beschreibung der Unterschiede zwischen den Entwürfen hat man eine Formulierung H.s interpretierend in Anspruch genommen – die »Verläugnung des Accidentellen« (B 183, MA 2, 782) –, die man als Verzicht auf ›umständliche Nebenszenen‹ gedeutet hat. Als Movens des Arbeitsprozesses gilt das Bemühen um eine verbesserte Begründung des Todes. Das Ergebnis sei eine zunehmende dramatische Stringenz, wenngleich H. schließlich doch an der tragischen Dichtung gescheitert sei (Schmidt 1978; Heise 1988). Doch die Manuskripte lassen etwas anders erkennen. H.s Schreibprozess zeigt eine seltsame Richtung; er folgt nicht der Textchronologie, sondern überarbeitet zunächst die letzten Szenen des Ersten Entwurfs im neuen Versmaß freier Rhythmen – das Gespräch der beiden Frauen Panthea und Delia und deren Dialog mit Pausanias. Dieser Schluss erhält nun die Funktion eines Kommentars; mit den drei Stimmen wird die Deutung des Todes, die der Erste Entwurf zeigt, aus drei Perspektiven beurteilt: der Perspektive der Natur (Panthea), der der Menschen (Delia) und der des Helden (Pausanias). Erst dann verändert H. auch den Anfang des Trauerspiels und gestaltet drei Szenen des 1. Aktes im neuen Versmaß, indem er sie teils ganz neu schreibt, teils überarbeitet. Diese neue Ausführung bricht schon in der 4. Szene, mitten im Dialog zwischen Empedokles und Pausanias ab. Weder die Begegnung Empedokles – Volk, noch ein 2. Akt sind im Zweiten Entwurf ausgeführt. Dem äußeren Verlauf des Arbeitsvorgangs entspricht der gedankliche Prozess. H. beginnt nicht jeweils von vorn, sondern befragt vom Erreichten her das Verständnis der Figur, das er zuletzt dargestellt hat. Das Verhältnis der drei Entwürfe zueinander ist reflexiv. So setzt der Zweite Entwurf an den Anfang, was der Erste Entwurf entfaltet hat: Empedokles ist jetzt von vorneherein derjenige, der dem Volk das Wort gibt. Seine heilenden, magischen und belehrenden Fähigkeiten werden nicht eigens thematisiert. Dass H. jetzt nicht mehr auf Details aus der überlieferten Vita des historischen Empedokles zurückgreift, erklärt sich somit nicht aus dem Verzicht auf historische Genauigkeit; im Zentrum steht jetzt ausschließlich das Porträt von Empedokles, das H. selbst gestaltet hat: der Dichter, der durch sein Wort den Geist der Natur zur Sprache bringt.
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Alle Veränderungen des Zweiten Entwurfs erklären sich aus dieser Zuspitzung der Sprachproblematik; so schreibt H. nicht den Dialog der beiden Frauen, wohl aber den Dialog zwischen Priester und Politiker vollständig neu, weil die öffentliche Präsenz von Empedokles, die Wirkung seiner Rede, jetzt ungleich wichtiger ist. Auch der auffällige Wechsel der mythologischen Referenzfigur für Empedokles – statt Tantalos Prometheus – ist so verständlich: nicht mehr Empedokles’ Beziehung zur Natur wird interpretiert durch den Verweis auf Tantalos, den privilegierten Liebling der Götter, sondern das Verhältnis Empedokles-Volk, das mit Prometheus, der den Geist des Göttlichen verschwenderisch preisgibt, thematisiert ist. Die im Ersten Entwurf gefundene Form – die Perspektivierung durch verschiedene Stimmen – wird beibehalten, verändert ist jedoch das Verständnis der Selbstüberhebung. War sie dort Anlass für den Streit über den »Übermuth des Genies«, so ist sie jetzt Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung über die Macht des sprachbegabten Vermittlers, der beansprucht, erst sein Wort erschaffe das Lebendige. Dieses veränderte Verständnis der Figur hat weitreichende Konsequenzen für die dramatische Darstellung. So ist die Grundlage für den Vorwurf der Hybris nicht mehr die überlieferte Selbstvergottung der historischen Figur, sondern eine Rede, die H. neu erfindet: sie zeigt, wie Empedokles von der Macht der Sprache, Getrenntes zu verbinden, unmittelbar auf sich selbst schließt: »Denn ich/ Geselle das Fremde,/ Das Unbekannte nennet mein Wort« (StA 4, 95). Diese Verwechslung von Sprachmacht und Selbstmächtigkeit steigert sich bis zur blasphemischen Verhöhnung der eigenen Sprachbegabung: »was sind/ Die Götter und ihr Geist, wenn ich sie nicht/ Verkündige?« (StA 4, 109). Man hat hier H.s eigene Verzweiflung wiedererkennen wollen, die ihn nur noch zynisch über die Aufgabe des Dichters sprechen lasse, doch damit ist übergangen, daß die Zuspitzung der Rede in der Konsequenz des dramatischen Darstellungsprozesses liegt. Die Radikalisierung im Verständnis der Figur und die Zentrierung auf die Sprachproblematik führen dazu, dass Empedokles nicht mehr allein dadurch charakterisiert wird, was er sagt, sondern dadurch, wie er spricht. Er wird nicht nur als der hybride Vermittler einer neuen Sprache von den anderen beschrieben, er wird auch als solcher gezeigt. In der Rede der Figur manifestiert sich die Emphase der Selbstmächtigkeit und ihr Gegenteil, die Selbstverachtung. Insofern thematisiert das Trauerspiel das Verhältnis
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von Sprache und Subjektivität nicht als philosophisches Problem, es stellt mit Empedokles eine Figur in diesem Konflikt dar. Dies zeigt die Stelle, an der der Zweite Entwurf abbricht. Es ist der Moment, in dem Empedokles – wie im Ersten Entwurf – seinem Schüler seine Überhebung erklärt. Die These, der Zweite Entwurf sei nicht zu Ende geführt, weil H. ein »Sinngedicht« über die Beziehung von Mensch und Natur falsch platziere (Söring 1973), beruht auf einer editorischen Entscheidung, einem Lesefehler. In der StA ist die Regieanweisung »mit Ruhe« in die Replik des Empedokles aufgenommen, so dass es – statt »Wirken soll der Mensch« (FHA 12, 379) – heißt: »Mit Ruhe wirken soll der Mensch« (StA 4, 110; ebenso KA 2, 1173). Keineswegs kann die Funktion dieser Replik die eines ›Sinngedichts‹ sein. Wie im Ersten Entwurf antwortet Empedokles auf die Bitten des Schülers, ihm nicht länger zum »Räthsel« zu machen, warum er »Wirken« und »Wort« der Menschen verhöhne (StA 4, 110). Den Ausführungen über das »Wirken« des Menschen folgt noch ein Ansatz, auch das Vermögen des menschlichen Wortes zu erläutern; er bricht abrupt mit einer adversativen Konstruktion ab: »doch will er« (FHA 12, 379). Anders als im Ersten Entwurf ist Empedokles nicht mehr derjenige, der sein Leiden selbst enträtselt. Ein Sprechen »mit Ruhe« widerspricht dieser Figur, deren maßlose Überhebung nicht mehr einmaliges Vergehen, sondern dem Charakter inhärent ist. Das Zerbrechen des Textes an dieser exponierten Stelle verweist auf das Darstellungsproblem des Zweiten Entwurfs; er endet mit einer Leerstelle, die sein zentrales Thema zeigt: die Sprachproblematik des einsamen Vermittlers. Die Form, die ermöglicht, den extremen Charakter zu zeigen, verhindert zugleich, dass diese Figur noch Auskunft geben, dass sie das Verhältnis von Sprache, Natur und Subjektivität noch unverzerrt beschreiben könnte. Empedokles spricht hybrid noch dort, wo er die Hybris erkennt. Die Radikalisierung im Verständnis der Figur sprengt deshalb zugleich das dramaturgische Modell eines kompensatorischen Ausgleichs von Verkehrung und Versöhnung, das im Ersten Entwurf mit der Verausgabung des Wortes noch darstellbar war. Ein 2. Akt, in dem Empedokles zu einer nicht durch Maßlosigkeit entstellten Sprache zurückfinden und diese dem Volk vermitteln könnte, ist kaum denkbar. Tatsächlich gibt es für den Zweiten Entwurf keinen 2. Akt – was durch die Edition von Lesetexten verdeckt wird, die die überarbeitete Schlussszene des Ersten Entwurfs an das Ende eines nicht vorhandenen 2. Aktes stellen.
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22.7 Grund zum Empedokles Zur Vorbereitung seiner Beiträge für das Journal Iduna unterbricht H. die Arbeit am Trauerspiel mehrere Monate. Nach dem Scheitern der Journalpläne nimmt er das Empedokles-Projekt im Oktober 1799 wieder auf, nun in Form eines Textes, der in allen drei Teilen poetologische Selbstverständigung über die bisherige Arbeit ist. Ediert ist die gesamte Abhandlung zumeist unter dem Titel, den H. dem dritten Teil gegeben hat: Grund zum Empedokles (StA 4, 149–162). Zuerst entsteht – unter dem Titel Allgemeiner Grund – eine Gattungsbestimmung des Trauerspiels, die die Differenz lyrischer und dramatischer Darstellung expliziert; ein Exkurs über das Bewegungsgesetz der tragischen Ode ist durch eine nachträgliche Faltung des Doppelblattes an den Anfang des Manuskriptes gerückt (vgl. FHA, Suppl. 1, Frankfurter und Homburger Odenfaszikel, 35 f.). Mit dieser Beschreibung der Struktur der tragischen Ode ist auch die erste Darstellung des Empedokles-Stoffs reflektiert – die Ode Empedokles. In dem mit 15 Manuskriptseiten längsten, zunächst mit Kunst und Natur, dann mit Grund zum Empedokles überschriebenen Teil ist der Stoff des Trauerspiels poetologisch als »Grund« des »tragisch dramatischen Gedichts« (StA 4, 150) erläutert. Den Abschluss bildet ein neues Szenario, der Plan zum Dritten Entwurf. H.s Abhandlung ist nicht vollständig überliefert; aus dem Allgemeinen Grund fehlen vermutlich zwei Blätter. Die Niederschrift des Grund zum Empedokles wird mehrfach unterbrochen durch die Arbeit an Odenentwürfen. Man hat diesen Text als einen grundlegenden Neuansatz bewertet. Der Grund zum Empedokles sei eine geschichtsphilosophische Abhandlung; erst jetzt gelinge es H., Empedokles’ Tod nicht mehr subjektiv, sondern objektiv zu begründen, als Tod des Einzelnen, der sich für die Erneuerung der Gemeinschaft freiwillig opfert, damit die von ihm vorzeitig gelebte Lösung des Verhältnisses von Natur und Kunst eine allgemeine werden kann (Jamme 1983; Hoffmeister 1963). Diese These setzt voraus, dass man eine klassische Konfliktdramaturgie, die den Freitod des Empedokles motiviert, für das Trauerspiel als verbindlich erklärt. Verstellt wird damit die Kontinuität von H.s Arbeitsprozess. Der Grund zum Empedokles bedeutet keine Zäsur in der Arbeit am Trauerspiel; er knüpft unmittelbar an die Ausführung des Zweiten Entwurfs an. Die Darstellungsprobleme, die dort mit der Radikalisierung des Protagonisten entstanden sind, werden nun explizit re-
flektiert. H. fragt zum einen nach den Bedingungen, die zur Transformation des »zum Dichter geboren[en]« (StA 4, 156) in eine maßlose und extreme Figur führen, wie sie der Zweite Entwurf gezeigt hat; zum anderen stellt er die Frage nach der Darstellbarkeit einer solchen Figur, i. e., wie sich die tragische Darstellung verändern muss, wenn die »Hauptperson [...] des Dramas« (StA 4, 151) ein hybrider Charakter ist, der nicht mehr »mit Ruhe« sprechen kann. Auch die Unterscheidung zwischen poetologischer Begründung und dramatischer Ausführung ist nicht neu. Sie war schon im Frankfurter Plan zu erkennen. Dort war sie mit den zwei Teilen des Textes gegeben, dem philosophischen Porträt der Figur und dem dramatischen Szenario. Dieses Verhältnis wird im ersten, Allgemeiner Grund überschriebenen Teil, nun poetologisch expliziert: als Verhältnis von »Grund« und »Darstellung«. Ausgehend von der Gattungsbestimmung des Trauerspiels im Unterschied zur »tragischen Ode« heißt es: Es ist die »tiefste Innigkeit«, das »Lebendige«, »was dem tragisch dramatische[n] Gedicht« »zum Grunde« liegt und durch es ›dargestellt‹, ›ausgedrückt‹ ›ausgesprochen‹ wird (StA 4, 150 f.). Der Begriff »Grund« ist nicht im üblichen Sinn, als Ursache zu verstehen, sondern ausschließlich als poetologischer Terminus. Der »Grund« ist nicht identisch mit dem Dargestellten, dem »Bilde« (StA 4, 151), dem »tragisch dramatischen Gedicht.« Dies erklärt das Verhältnis von theoretischer Abhandlung und dramatischer Dichtung. Der Grund zum Empedokles ist keine Konstruktion a priori, die begrifflich sagt, was dann in der dramatischen Ausführung poetisch konkretisiert wird. Weder expliziert der Aufsatz die dramatische Dichtung, noch nimmt er ihren ›Inhalt‹ vorweg. Aus der Unterscheidung von »Grund« und »Darstellung« erklärt sich die argumentative Bewegung des zweiten, Grund zum Empedokles überschriebenen Teils. H. beginnt mit einer allgemeinen Darlegung des »Lebendigen«, des Verhältnisses von »Natur« und »Kunst« (StA 4, 152); »Kunst« ist dabei nicht im engeren Sinne, sondern als menschliche Tätigkeit verstanden. Gefragt wird danach, wie dieses »Lebendige«, das als »reine[s] Leben« »nur im Gefühle und nicht für die Erkenntniß vorhanden [ist]« (StA 4, 152), ein Gegenstand für das Bewusstsein, der »ruhigern Betrachtung« (StA 4, 154) werden kann. Dazu aber wird es durch die poetische Darstellung. H. konzentriert sich in seiner Beschreibung dann auf den Zustand der extremen Entgegensetzung zwischen Natur und Kunst, der »Grund« für das »tragische Gedicht« ist. Der »Stoff« des Trauerspiels wird daraufhin untersucht,
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auf welche Weise Empedokles eine Figuration des Verhältnisses von »Natur und Kunst« ist. Der Protagonist ist jetzt verstanden als Figur einer extremen Vertauschung von Kunst und Natur, des Subjektiven und Objektiven, oder, wie es mit den von H. hier zum ersten Mal eingeführten Begriffen heißt, von »Aorgische[m]« und »Organische[m]« (StA 4, 153). Diese Termini, die H. eigenständig prägt, bezeichnen Tendenzen zum Geformten wie Formlosen, die sowohl der Natur wie den Menschen eigen sind. H. ermöglichen diese Begriffe eine genaue prozessuale Beschreibung des »Fortgang[s] der entgegengesezten Wechselwirkungen« (StA 4, 153) im Verhältnis von Natur und Kunst, mit der zunächst deren extremen Entgegensetzung und dann die Auflösung dieser Entgegensetzung skizziert wird. Im Manuskript lassen sich neun graphische Diagramme erkennen, die diese theoretisch erläuterte Bewegungsstruktur aufzeigen. Aufgrund der begrifflichen Distinktionen, in denen die Termini »aorgisch« und »organisch« als Triebkräfte dieses Prozesses selbst wiederum differenziert und neu kombiniert werden, erscheint der Text kompliziert; theoretisch gefasst und bilanziert ist hier aber nichts anders als jene Radikalisierung im Verständnis der Figur, die im Verlauf der Arbeit zu beobachten war. Diese Bilanz drückt sich aus in der Unterscheidung zwischen »Anlage« und »Ausdruk« (StA 4, 156). Empedokles’ »Anlage« ist eine »ungewöhnliche Tendenz zur Allgemeinheit« (ebd.). Grundzug der Figur ist weiterhin – wie schon im Frankfurter Plan – äußerste Hingabe; dort war sie beschrieben als Sehnsucht »leben und lieben« zu wollen »wie ein Gott« (StA 4, 145), im Ersten Entwurf hieß es: »er muß lieben, bis ans Unendliche hin« (StA 4, 481). Die extreme Steigerung dieser Hingabe bis zur völligen Selbstentäußerung, die der Zweite Entwurf zeigte, expliziert der Text als Transformation dieser »Anlage« unter den Bedingungen des »Schiksaal[s] seiner Zeit« (StA 4, 156): sie führt dazu, dass sich die »ungewöhnliche Tendenz zur Allgemeinheit« nicht in »jener ruhigen Betrachtung« äußert, »womit der Dichter auf ein Ganzes blikt« (ebd.), sondern in einer solchen Verausgabung an die Natur wie an die Menschen, dass Empedokles sich selbst, sein Bewusstsein verliert. Deutlich ist, wie der Text ausgeht von den Zuspitzungen des Zweiten Entwurfs. Die verschwenderische Hingabe an das Volk potenziert sich zum »liebenden Despotismus« (FHA 12, 442); das einsame Verhältnis zur Natur steigert sich so, dass er »von sich selbst und seinem Mittelpuncte sich reißen, immer sein Object so übermäßig penetriren [mußte]« (StA 4, 159). So-
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wohl im Verhältnis zu den Menschen wie zur Natur führt dies zum Selbstverlust. »So sollte also Empedokles ein Opfer seiner Zeit werden« (StA 4, 157), resümiert der Text. Der Begriff Opfer wird von H. nur ex negativo erläutert: »Opfer« ist Empedokles, weil seine »Anlage« nicht in »ihrer eigentümlichen Sphäre wirken und bleiben« (StA 4, 156) kann. Damit ist eine Differenz zum Verständnis der Figur im Ersten Entwurf reflektiert. Konnte dort Empedokles’ »Anlage«, die »ungewöhnliche Tendenz zur Allgemeinheit«, noch einen »freien Ausdruk« (StA 4, 156) finden, unabhängig von ihm, im »Gesang« (ebd.), der Weitergabe des Wortes an das Volk, so ist jetzt er selbst »Ausdruk« dieser Anlage. »Opfer« ist weiterhin nicht ein freiwilliger Tod, den Empedokles vollziehen würde, »Opfer« ist er selbst, »der ganze Mensch« (StA 4, 156). Zusammengefasst ist damit, was der Zweite Entwurf gezeigt hat: Empedokles ist ein Charakter, der sich in der Hingabe an die Natur wie an die Menschen, »dieser stolzen schwärmerischen Ergebenheit« (StA 4, 161), so verausgabt, dass er in dieser Entäußerung zu einer Figur des »Übermaaßes« (StA 4, 157) wird. Nicht eine geschichtsphilosophische Begründung des Todes ist neu im Grund zum Empedokles – der Topos eines notwendigen »tragischen« Todes lässt sich für keinen der drei Entwürfe behaupten –, sondern dieses Verständnis der »tragischen Person« (StA 4, 157) als einer Figur extrem gesteigerter Gegensätze, die sich selbst, ihr Bewusstsein, ihre Grenze verliert. Empedokles ist »tragische Person«, nicht weil er auf den Widerstand der Welt stößt und an ihm zerbricht, sondern weil der Gegensatz zur Welt, in dem er sich befindet, ihn selbst in die Maßlosigkeit treibt, so dass er »über die gewöhnliche und menschliche Grenze des Wissens und Wirkens gieng« (StA 4, 161). Aus dem melancholischen Exzentriker des Frankfurter Plans wird im Grund die paradoxe Figur einer Vertauschung des Subjektiven und Objektiven. Was H. damit revidiert ist die Idee des tragischen Helden als autonomer, souveräner Individualität. Die poetologische Konsequenz dieser Einsicht ist die radikal veränderte Darstellungsstruktur des Dritten Entwurfs. Aus der Identifizierung des »Opfers« mit dem Tod hat man abgeleitet, H. beschreibe Empedokles als vorzeitigen Einzelnen, der stellvertretend die Probleme seiner Zeit löse und diese Lösung durch das freiwillige Selbstopfer allgemein mache. Doch H.s Beschreibung sagt das Gegenteil. Zwar stellt »die Zeit [...] ihre geheime Tendenz« in Empedokles »sichtbar und erreicht dar« (StA 4, 157), aber er verkörpert keine Lösung,
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sind doch die Gegensätze seiner Zeit in ihm nur in Form der Vertauschung vereinigt; sie finden in ihm keine Synthese. Deshalb wird Empedokles »tragische Person« genannt; eine Figur, die H. als »Versuch« und nicht als »Lösung« begreift: »Die Probleme des Schiksaals in dem er erwuchs, sollten in ihm sich scheinbar lösen, und diese Lösung sollte sich als eine scheinbare temporäre zeigen, wie mehr oder weniger bei allen tragischen Personen«, die alle in ihren Karakteren und Äußerungen mehr oder weniger Versuche sind, die Probleme des Schiksaals zu lösen [...] (StA 4, 157)«. Nach der Explikation der Genese dieses Charakters heißt es: »Aber so wäre er noch keine dramatische Person« (StA 4, 160). Diese Problemstellung erübrigte sich, wenn mit den bisherigen Ausführungen über Empedokles als »tragische Person« auch schon das im Trauerspiel Dargestellte benannt wäre. Insofern verweist die Unterscheidung zwischen »tragischer Person« und »dramatischer Person« erneut auf die Differenz zwischen poetologischer Reflexion und poetischer Ausführung. Die Frage nach der »dramatischen Person« gilt nicht einer möglichen Konfliktstruktur für die dramatische Fabel, sondern dem Problem, wie das »reale Übermaas der Innigkeit« (StA 4, 155), das Empedokles ist, überhaupt sichtbar werden kann. Ursache für die dramaturgische Überlegung ist die Form, in der die Extreme von Natur und Kunst in Empedokles vereinigt sind, ihre »Vertauschung« (StA 4, 161). Sie hat den fatalen Effekt einer »Täuschung« (StA 4, 162): das ›Verkehrte‹ erscheint als das ›Richtige‹; Empedokles erscheint nicht als das, was er ist, eine »tragische Person«, in der sich die Gegensätze nur vertauschen, sondern als Lösung der Probleme seiner Zeit: »Diß war der Zauber, womit Empedokles in seiner Welt erschien.« (StA 4, 159) Was extreme Verkehrung ist, zeigt sich dem Volk als »Anmuth« (ebd.). Umgekehrt »lebte« Empedokles in der »Täuschung, ... als wäre er Eines mit ihnen« (StA 4, 162). Deshalb die paradoxe Bezeichnung für Empedokles als der »glükliche Betrug der Vereinigung« (StA 4, 154). Die Antwort auf die Frage nach der »dramatischen Person« gibt H. am Ende des Aufsatzes durch ein neues Szenario, den Plan zum Dritten Entwurf. Hier findet man zum ersten Mal die terminologischen Bestimmungen »naiv«, »heroisch«, »idealisch«, die die einzelnen Szenen in ihrem »Grundton« (StA 4, 160) charakterisieren. Die bisherige dramaturgische Konzeption des Trauerspiels wird aber nicht grundsätzlich verworfen; im Gegenteil, die nicht formulierte, aber in der Ausführung realisierte Form des Ersten Entwurfs wird jetzt begrifflich benannt, indem H. die dramatische
Darstellung explizit als Prozess einer »Auflösung« (StA 4, 157) beschreibt. H. argumentiert, dass sich Empedokles, dieses »reale Übermaas der Innigkeit« (StA 4, 155), dieser »vereinende Moment« auflösen muss (StA 4, 154) und ferner, dass mit dieser Auflösung zugleich ein Übergang »ins Allgemeine« (StA 4, 157) stattfindet. Beide Prozesse hat man zumeist mit dem faktischen Tod des Empedokles identifiziert: indem Empedokles sich freiwillig töte, werde die von ihm gelebte Lösung allgemein und die Versöhnung des Schicksals möglich. Jedoch hat man die genaue Darstellung des Prozesses im Text vermisst (Mögel 1994). Tatsächlich sagt der Grund sehr wenig über diese »Auflösung ins Allgemeine«. Es heißt, »so daß der vereinende Moment, wie ein Trugbild, sich immer mehr auflöst, sich dadurch, daß er aorgisch gegen das organische reagirt, immer mehr von diesem sich entfernt, dadurch aber und durch seinen Tod die kämpfenden Extreme aus denen er hervorgieng, schöner versöhnt und vereiniget, als in seinem Leben [...]« (StA 4, 154). Anders als bei der Beschreibung des »vereinenden Moments«, der Genese der Figur Empedokles als »reale[s] Übermaas«, findet sich nur die begriffliche Explikation der »Auflösung« als ein gradueller Prozess, aber keine nähere Konkretisierung. Eine solche Beschreibung ist allerdings in der poetologischen Grundlegung auch gar nicht zu erwarten. Denn die »Auflösung« des zu »innigen Übermaaßes« (StA 4, 157) vollzieht sich ausschließlich durch die Darstellung: im »tragisch dramatischen Gedicht«. Sie vollzieht sich in der Bewegung des dramatischen Dialogs, in dem das, was Empedokles ist, das »reale Übermaas«, sich äußert und abgelöst von ihm in der Sprache sichtbar wird. Wenn es heißt, dass der »vereinende Moment« zum »vergehenden Moment« werde und gleichzeitig als »vergangener« zum »Gegenstand der ruhigern Betrachtung werden muß« (StA 4, 154), ist diese Beschreibung bezogen auf den Zuschauer, nicht mehr auf die dramatische Fabel und nicht auf einen realgeschichtlichen Prozess. »Auflösung« des »glükliche[n] Betrug[s] der Vereinigung«, »Tod« des »vereinenden Moments« meint insofern nicht den tatsächlichen Tod des Empedokles, sondern das Geschehen, das im Ersten Entwurf mit dem 2. Akt dargestellt war: den Prozess, in dem alle Verkehrungen des Sprechens, des Bewusstseins, der falschen Identifikationen und Identitätszuschreibungen sukzessive ausgesprochen werden und sich dadurch als verkehrte auflösen. Das neue Szenario beschränkt die tragische Darstellung auf diesen Vorgang. Was im 1. Akt des Ersten
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Entwurfs noch szenisch gezeigt war, die Entstehung der Verkehrungen, geht jetzt dem Dargestellten voraus und wird von H. als Beginn der »Fabel« (StA 4, 161) nur referiert. Aufgrund der Differenz zwischen »Grund« und »Darstellung« sucht man in dem neuen Plan vergeblich nach Entsprechungen zu den Ausführungen über Empedokles im Grund zum Empedokles. Das Szenario konkretisiert gerade nicht das dort Gesagte zu einer dramatischen Fabel, so wie es umgekehrt nicht Sache der poetologischen Begründung war, den Prozess zu entfalten, durch den die »Auflösung« des »Übermaaßes« stattfindet. Der äußere Handlungsverlauf des 2. Aktes des Ersten Entwurfs bleibt für die neue Skizze des Trauerspiels beibehalten: der verbannte Empedokles wird auf dem Ätna von seinen Feinden wie Anhängern aufgesucht, die ihn zur Rückkehr nach Agrigent bewegen wollen. Auch das neue Szenario sieht keinen Handlungsverlauf vor, durch den der freiwillige Tod durch antagonistische Verwicklungen motiviert wäre. Der Entschluss zu sterben – nicht der Vollzug des Todes selbst – sollte wie im Ersten Entwurf am Ende eines Prozesses wechselseitiger Befragungen stehen.
22.8 Dritter Entwurf Vermutlich Anfang Dezember 1799 beginnt H. mit der Ausführung des Dritten Entwurfs, der das Stuttgarter Foliobuch eröffnet. Vergleicht man die poetische Realisierung mit dem Plan, wird erneut eine Verschiebung deutlich. H. schreibt nur drei Szenen des 1. Aktes und eine Skizze für einen Chor. Die Handlung ist aufs äußerste reduziert: Empedokles befindet sich nach der Verbannung aus Agrigent zuerst allein auf dem Ätna und wird dann von seinem Schüler und von seinem ehemaligen Lehrer befragt. Nach den drei Szenen bricht die Ausführung ab; H. ändert noch einmal die dramaturgische Konstruktion in einem Plan zur Fortsetzung, aber auch dieser Plan wird nicht realisiert. Eine aufwendige theoretische Konzeption und dann nur drei Szenen – diese Diskrepanz galt als erklärungsbedürftiger Ausdruck eines Scheiterns, für das man entweder die theoretische Konzeption oder die poetische Ausführung verantwortlich gemacht hat. H. gelinge es nicht, seine Einsichten in die dialektische Grundstruktur des Tragischen in der poetischen Ausführung einzulösen; stattdessen werde noch einmal der exklusive Anspruch eines »idealischen Subjekts« affirmiert (Söring 1973, 1988/89). Aber auch: die Theorie der Tragödie verhindere die Reali-
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sierung des Trauerspiels. Die neue theoretische Konzeption des weltgeschichtlichen Individuums, das allein noch durch sein Selbstopfer das Schicksal versöhne, widerspreche den Grundbedingungen des Tragischen; der geschichtsphilosophische Determinismus führe zur Immobilisierung des Dramas im Mysterienspiel (Kurz 1977). Die Lektüren stützen sich vornehmlich auf die Aussagen des Protagonisten, insbesondere im 3. Auftritt, Empedokles’ Begegnung mit seinem ägyptischen Lehrer Manes; weitgehend unberücksichtigt bleibt das veränderte Darstellungsprinzip des Dritten Entwurfs, das sich grundlegend vom Ersten Entwurf unterscheidet. Zwar bleibt strukturell das dramaturgische Konzept des Trauerspiels – als Durchführung eines Prozesses, in dem sich Verkehrungen auflösen – so beibehalten, wie es schon im 2. Akt des Ersten Entwurfs zu erkennen war. Was sich jedoch verändert, sind Form und Funktion des dramatischen Dialogs, die H.s Verständnis von Empedokles als »tragische[r] Person« fordert. Theoretisch hat H. dieses Darstellungsprinzip im Allgemeinen Grund expliziert. Dort heißt es ex negativo: der »tragische Dichter [verläugnet, T. B.] [...] seine Person, seine Subjectivität ganz [...] und selbst, wo die zum Grunde liegende Totalempfindung am meisten sich verräth, in der Hauptperson, die den Ton des Dramas angiebt, und in der Hauptsituation [...], selbst da« (StA 4, 151). Formuliert ist ein poetologischer Imperativ der ›Verleugnung‹, der die Ablösung der Perspektive des Autors von der Perspektive der »Hauptperson« fordert. Für diesen Imperativ sind jedoch keine äußeren Gründe verantwortlich, etwa eine zu große identifikatorische Nähe H.s zur Figur Empedokles, noch erklärt er sich durch H.s Festhalten am ›antiken Kostüm‹ seines Helden. Gefordert ist dieser Imperativ durch die Einsicht, dass Empedokles als »tragische Person«, als Figur eines »Übermaaßes« nicht mehr Subjekt seines Ausdrucks ist. Dies impliziert den Abschied von der Darstellungsweise des Ersten Entwurfs, in dem die »Hauptperson« selbst ihr »Geheimniß« (StA 4, 151) mitteilen und durch dieses Aussprechen des »Einige[n]« (StA 4, 161) die »Auflösung ins Allgemeine« vollziehen konnte. Mit der Verleugnung der »Subjecitivität«, die vom tragischen Dichter gefordert ist, ist die poetologische Konsequenz aus jener Schwierigkeit gezogen, die zum Abbruch des Zweiten Entwurfs geführt hat. Was dies heißt, zeigen die drei ausgeführten Szenen des Dritten Entwurfs. Wie im Ersten Entwurf, so zeigt auch hier das Trauerspiel den Prozess, in dem sich einseitige und extreme Haltungen auflösen: Todesvorstellungen bei Em-
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pedokles, Identitätszuschreibungen bei seinem jeweiligen Gegenüber, dem Freund, und dem einstigen Lehrer aus Ägypten. Empedokles wird in diesen Dialogen zu einem Verständnis seines Todes versucht. In willkürlichen Behauptungen und plötzlichen Wechseln formuliert er die gegensätzlichsten Todesvorstellungen – den Selbstmord, die Verschmelzung mit dem Anderen, die heroische Geste, die erlösende Tat, die kosmologische Erneuerung – und jeweils artikulieren sie sich in unterschiedlichen Bildern des Ätna. Im 1. Auftritt ist der Selbstmord – vorgestellt als Umfangenwerden durch die Arme der mütterlichen Natur – verbunden mit dem Bild der ausströmenden Lava des als weiblich apostrophierten Vulkanfeuers. Im 2. Auftritt, dem Dialog mit Pausanias, ist der heroische Opfertod – vorgestellt als freiwilliger Sturz in den Abgrund des Vulkans – verbunden mit der mythologischen Deutung des Ausbruchs. Im 3. Auftritt, dem Dialog mit Manes, ist der Tod als Ausdruck für die Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Neubeginn entfaltet in einem Ätnabild, das die kosmologische Interpretation der vulkanischen Tätigkeit zitiert. Material für diese metaphorischen Verdichtungen sind geographische, mythologische und vulkanologische Bildvorstellungen des Ätna, die von H. ebenso verwendet werden wie Schilderungen von Ätnabesteigungen aus zeitgenössischen Reisebeschreibungen. H. wählt diese heterogenen Ätnabilder und deren metaphorisches Potential als Material für die poetische Darstellung der alternierenden Bewusstseinszustände der Figur, nicht für symbolische Deutungen des Todesortes. Indem das metaphorische Bedeutungspotential des Ätnamotivs sukzessive entfaltet und potenziert wird, wird die Eindeutigkeit des Symbols Ätna gerade aufgehoben. Wenn H. diesen Entwurf nicht mehr Der Tod des Empedokles, sondern Empedokles auf dem Ätna (FHA 5, 827) nennen wollte, wie man aufgrund einer separaten Notiz vermutet hat (vgl. FHA 6, 209), so entspricht dies dem Darstellungsmodus des Dritten Entwurfs, in dem die wechselnden Bewusstseinszustände des Protagonisten konstituiert werden durch eine Verdichtung und Verschiebung unterschiedlicher Ätnabilder, die jeweils mit einem anderen Verständnis des Todes verbunden sind. Man hat auch im Dritten Entwurf eine dramatische Progression erkennen wollen: gezeigt sei ein Lernprozess, in dem Empedokles aus Todestrunkenheit zum Verstehen der geschichtlichen Notwendigkeit seines Todes geführt werde. Im Einspruch, bzw. im Anschluss an Manes – hier unterscheiden sich die Interpretationen (Kommerell 1961, Buhr 1972) – formulie-
re Empedokles schließlich ein Verständnis seines Todes, das dessen heilsgeschichtliche bzw. messianische Dimension erkenne. Doch auch hier werden die poetologischen Implikationen des Grund zum Empedokles übersehen. Gezeigt wird kein Lernprozess, sondern Empedokles selbst, genauer, die Extreme seines Bewusstseins, durch die er als Figur äußerster Verkehrungen sichtbar wird. In dieser Bedeutung, als Sichtbarwerden, ist der Begriff ›Darstellung‹ im Grund gebraucht. Wenn es heißt, »so daß also derjenige, der scheinbar das Schiksaal am vollständigsten löst, auch sich am meisten in seiner Vergänglichkeit und im Fortschritte seiner Versuche am auffallendsten als Opfer darstellt« (StA 4, 157, Herv. T. B.), so ist damit das In-Erscheinung-Treten des tragischen Charakters gemeint. Der dramatische Prozess ist nicht sukzessiver Erkenntnisgewinn, sondern als »Fortschritte seiner Versuche« bezeichnet. Damit ist auf die Funktion der Auftrittsfolge verwiesen, die H. im Allgemeinen Grund erläutert. Hier findet sich eine unvollständige Notiz, die den Übergang vom 1. zum 2. Akt beschreibt. Es heißt, »so daß das durch falsche Verbesserungsversuche angefochtene Gemüth nicht blos durch die eigene Selbstthätigkeit gestört, sondern durch das Zuvorkommen einer fremden gleich falschen noch mehr alterirt, und zu einer heftigern Reaction gestimmt wird.« (StA 4, 152) Die Konfrontation mit einem Gegenüber hat die Funktion, »Alterationen« des »Gemüth[s]« zu initiieren, so kann man der nur lückenhaft überlieferten Passage entnehmen, in der H. die veränderte Darstellungsform vermutlich ausführlicher expliziert hat. Deutlich ist auch so die veränderte Funktion des dramatischen Dialogs: er hat nicht so sehr die Aufgabe, Aussprache zwischen den dramatis personae zu stiften, als den Protagonisten zu einer »heftigern Reaction« zu ›stimmen‹. Im Dritten Entwurf ist das Prinzip der zeitlichen Sukzession und linearen Abfolge der Auftritte aufgegeben zugunsten einer Komposition, die die Diskontinuität der jeweiligen Bewusstseinszustände betont. Im 1. Auftritt, in dem Empedokles sich mittags »vom Schlaf erwachend« (StA 4, 121) am Ätna wiederfindet, wird ein »Gemüth« sichtbar, das von der Natur des mittäglichen Ätna »alterirt« ist. Entsprechend versteht sich Empedokles selbst als elementar naturhaft, ist »ein anderer wie sonst« (FHA 12, 464) – so die erste Notiz H.s zu diesem Monolog, in dem der Protagonist sich mit »Adlern« (StA 4, 121) vergleicht und mit dem »unterirrdische[n] Gewitter« (ebd.) identifiziert, sein Leben mit den Menschen als Dasein eines »Kranken« (StA 4, 122) begreift und die Verban-
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nung als Befreiung zu seinem Natursein begrüßt. Die Entgegensetzungen zwischen Menschen und Natur, Leben und Tod, Begrenztem und Unbegrenztem sind hier so apodiktisch wie in keiner anderen Passage der Empedokles-Texte. Aber man kann diese Aussagen nicht inhaltlich, aus der Perspektive des Protagonisten verstehen, als sei hier die Entrücktheit des Helden dargestellt, der sich bereits zu Beginn mit seinen Göttern in Einklang befinde (Cornelissen 1965–1966). Die Funktion des Monologs ist nicht, ekstatische Todesbegeisterung zu zeigen, sondern Empedokles als »tragische Person«. Durch die Identifikation mit dem Ätna, der »zauberische[n]/ Furchtbare[n] Flamme« (StA 4, 122), wird in der Form des Sprechens jene »Vertauschung« der Extreme in Empedokles sichtbar, die im Grund beschrieben war. Erst so erscheint Empedokles als jemand, dessen »Geist im höchsten Sinne aorgische Gestalt annehmen [mußte]« (StA 4, 159). Ebenso wird Empedokles im 2. Auftritt durch das Gegenüber Pausanias »alterirt«: der Freund bewegt ihn zu einer Hingabe, die sich bis zum Wunsch nach Einverleibung steigert. Sichtbar wird so die andere Tendenz der Figur, die im Grund »stolze schwärmerische Ergebenheit« (StA 4, 161) genannt wurde. Der hybriden Identifikation mit einer aorgischen Natur im ersten Monolog korrespondiert jetzt das Gegenteil: die Entäußerung an den Freund, die sich bis zur Verschmelzung steigert. H.s Verständnis der tragischen Form wird hier anschaulich; die »Auflösung« des »innigen Übermaaßes« (StA 4, 157), das Empedokles ist, ist nicht der faktische Tod, »Auflösung« ist die Bewegungsform, die das »tragisch-dramatische Gedicht« organisiert. Die Extreme, die Empedokles in sich vereinigt, werden durch den dramatischen Prozess sukzessive in seinem Sprechen veräußert und damit sichtbar. Die Funktion des dramatischen Dialogs ist nicht Mitteilung, sondern Ausdruck. Dieses Darstellungsprinzip wird mit dem 3. Auftritt, der Begegnung Empedokles – Manes, aufgegeben: an die Stelle einer alternierenden Replikenfolge treten zwei lange monologische Reden. Aufschluss über die Gründe kann auch hier H.s Arbeitsprozess geben. Aus der Handschrift ist ersichtlich, dass die Szene zunächst anders geplant war. H. hat sie in mehreren Stufen geschrieben; die Entwürfe sind weitaus umfänglicher als der endgültige Text. So erweitert sich die Gestalt des ägyptischen Weisen, die H. der biographischen Überlieferung entnimmt – man sagt, dass Empedokles bei den ägyptischen Priestern gelernt habe – erst nach und nach zu einer synkretistischen Figur, die sowohl messianische wie
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christologische Eschatologien formuliert und Empedokles mit einem soteriologischen Verständnis seines Todes konfrontiert. Erst am Ende erhält diese Gestalt, die lange als namenloser »Greis« bezeichnet ist, mit Manes einen Namen, der so vieldeutig ist wie die Funktion des gesamten Dialogs. Die äußerst heterogenen Interpretationen der Manes-Figur in der Forschung haben hier ihre Ursache. Verfolgt man die Handschrift, so wird auch deutlich, dass die beiden monologischen Reden erst im Verlauf eines Arbeitsprozesses entstehen, in dem der Wechsel von Rede und Gegenrede schließlich nur noch das Schreiben strukturiert. H. schreibt den Dialog nicht mehr in chronologischer Abfolge, sondern springt zwischen den jeweiligen Repliken, verändert und erweitert sie, bis schließlich aus dem dialogischen Gefüge zwei lange Monologe entstanden sind, in denen Empedokles wie Manes jeweils um ihr Verständnis geschichtlicher Retterfiguren, des »Einen«, den die »schwarze Sünde« (StA 4, 135) des Selbstmords »adelt«, streiten. Es ist, als ob die thematische Auseinandersetzung in diesem Auftritt an Gewicht gewonnen hätte gegenüber dem neu gefundenen dramatischen Darstellungsmodus. In der Konsequenz des Dritten Entwurfs liegt dies durchaus, denn hier ist die für die Arbeit am Empedokles-Stoff grundlegende Auseinandersetzung um die Bedeutsamkeit großer Tode zugespitzt. Mit Manes wird die Empedokles angetragene Versuchung erneut gesteigert. Nachdem er von Pausanias aufge fordert wurde, sich zunächst als väterlichen »Schuzgott« (StA 4, 126), dann in der Nachfolge der griechischen Retterfigur Herakles zu verstehen, konfrontiert ihn Manes mit einer anderen Variante des erlösenden Opfertodes, der christlichen. Empedokles antwortet mit einem erinnernden Rückblick auf sein Leben. Dem von Manes erwarteten »neue[n] Retter« (StA 4, 136), der stellvertretend in einer entzweiten Welt Versöhnung zu stiften vermag, stellt er den Einzelnen entgegen, der im Zustand des sterbenden Landes noch einmal das Leben des Geistes vergegenwärtigt. Die Figur des notwendigen Opfers beantwortet er mit der Beschreibung seines Sterbens als »freiem Tod« (StA 4, 139), durch den mit der Anerkennung der eigenen Sterblichkeit zugleich der Zusammenhang des Lebens anerkannt ist. Diese »Erzählung seiner Geschichte« (StA 4, 163) ist das letzte Porträt von Empedokles, das zugleich die »Geschichte« der Figur in den verschiedenen Entwürfen reflektiert. Noch einmal ist das Verständnis der Figur gegenüber dem Grund verändert: Empedokles ist nicht mehr »Reformator« (StA 4, 158), der sich in Extremen verausgabt und in Extremen ver-
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liert, er versteht sich als Dichter, der jedoch nicht, wie im Ersten Entwurf, den Beginn eines neuen Lebens verkündet, sondern Figur »lezte[n] Leben[s]« (StA 4, 138) ist. Es ist das Verständnis des »Gesangs«, das vom Ersten zum Dritten Entwurf verändert hat; er ist nicht »feiernd Lied« (StA 4, 128), sondern ›Eingedenken‹, dort, »wo ein Land ersterben soll« (StA 4, 138). Formal wie thematisch ist der Dritte Entwurf eine Verdichtung und gleichzeitige Reflexion des bis dahin Geschriebenen. Alle Motive der vorausgegangenen Entwürfe sind hier in drei Auftritten verarbeitet. Die veränderte Darstellung, die allein im Wechsel von Bewusstseinszuständen sichtbar macht, was im Ersten Entwurf noch szenisch und im zeitlichen Nacheinander gezeigt war, führt zu einer äußersten Verdichtung in der Textur des poetischen Materials. Insofern lässt sich sagen, dass H. das Trauerspiel dem thematischen Gehalt nach zu Ende geschrieben hat und der Abbruch an dieser Stelle als eine Art Abschluss zu verstehen ist. Seine Arbeit richtet sich denn auch nicht auf die Ausgestaltung der im Plan zum Dritten Entwurf noch vorgesehenen dramatischen Szenen. Stattdessen skizziert er einen Plan zur Fortsetzung, mit dem erneut die Reflexion des eigenen dramatischen Schreibens weitergeführt wird. Auffälligstes Merkmal ist die verstärkte Gewichtung der Figur des Manes. Durch eine inhaltliche Notiz ist nur dessen letzte Rede präzisiert. Manes sollte am Ende aussprechen, wer Empedokles ist und zugleich seine eigene Erwartung eines »neue[n] Retter[s]« korrigieren: »Auch der Mensch, der seines Landes Untergang so tödtlich fühlte, könnte so sein neues Leben ahnen.« (StA 4, 168) Als Trauerspiel wird auch dieser Plan nicht ausgeführt, was angesichts der beobachteten Arbeitsweise H.s, einer fortgesetzten Befragung des Erreichten, nicht verwundert. Das Erreichte ist die Einsicht, dass die Bedeutung des Trauerspiels nicht konstituiert wird durch das, was der Protagonist sagt, sondern durch das, was die Darstellung durch ihre Form sichtbar werden lässt. Die letzte Notiz zu Manes im Plan zur Fortsetzung affirmiert vor allem eines: die Ablösung der Perspektive des Autors von der des Protagonisten. Wenn Manes, eine Figur von außen, am Ende, nachdem er alle »Reden« (StA 4, 168) des Empedokles gehört hat, aussprechen sollte, welche Figur mit Empedokles sichtbar geworden ist, dann hat H. damit die »Hauptperson« des Trauerspiels gewissermaßen noch einmal zum Schweigen gebracht und so die im Grund entwickelte Darstellungsstruktur restituiert. Auf diese Weise lässt sich auch die Einführung eines Chores verstehen, den H. zum ersten Mal am Ende der drei aus-
geführten Auftritte des Dritten Entwurfs vorsieht und dann in den Plan zur Fortsetzung einbezieht. Mit dem Chor gibt es eine Instanz, durch die das dramatische Geschehen explizit auf die Zuschauer bezogen ist. H.s letzter Plan, der eine ausschließliche Konzentration auf die dramaturgische Struktur des Trauerspiels zeigt, während inhaltliche Aspekte oder eine neue Fabelkonstruktion unwichtig geworden sind, lässt sich als Resümee des gesamten Arbeitsprozesses lesen; H. akzentuiert mit ihm ein neues Verständnis der tragischen Form. Diese Erkenntnis ist das eigentliche ›Ergebnis‹ seiner Arbeit am Trauerspiel. Die Frage, warum H. die geplanten vier Akte nicht geschrieben hat, stellt sich so in gewisser Weise nicht mehr. Dem Problem der tragischen Darstellung gilt H.s weiteres Interesse (s. Kap. 17). Noch auf den Seiten, auf denen der Plan zur Fortsetzung notiert ist, beginnt Das untergehende Vaterland (s. Kap. 19) – ein Text, in dem H. die Bewegungsstruktur der »Auflösung« von neuem thematisiert (vgl. Kreuzer 1985; 1998).
22.9 Das Experiment einer anderen Sophokles-Lektüre Die Arbeit am Trauerspiel endet, wie sie mehr als drei Jahre zuvor begonnen hatte, mit einem Plan für ein »Trauerspiel in fünf Acten«. Noch einmal zeigt sich eine Eigenheit des Arbeitsprozesses: wenn H. das Trauerspiel konzipiert, skizziert er jeweils eine Form in »fünf Acten«, aber in keiner Ausführung gibt es fünf Akte. Diese Kluft zwischen Konzeption und Ausführung, Intendiertem und Realisiertem erscheint als der deutlichste Beleg für das poetische Scheitern, allerdings unter der Prämisse, dass man die ausgeführten Szenen auf das intendierte Ganze bezieht. Schon der Erste Entwurf zeigt jedoch, dass die Orientierung an der fünfaktigen Form im Schreiben verworfen wird. Erkennbar wird stattdessen eine andere Orientierung: statt auf die durch die zeitgenössische Gattungstheorien kanonisierte – aristotelische – Poetik des Tragischen bezieht sich H. in der Ausführung direkt auf die Tragödien des Sophokles. Undramatisch ist schon der Frankfurter Plan, hat doch der Handlungsverlauf nicht die Funktion, den Todesentschluss aus dramatischen Kollisionen zu motivieren. Erkennbar ist eine Nähe zu Sophokles’ Aias: wie dort ist der Prozess einer Selbsterkenntnis gezeigt, die sich diskontinuierlich und krisenhaft vollzieht. Und wie dort hat das dargestellte Geschehen die Aufgabe, mit dem Protagonisten einen bestimmten Typus, die Figur ei-
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nes außergewöhnlichen Einzelnen, des melancholischen Exzentrikers, sichtbar zu machen. Gleichwohl bleibt der frühe Plan noch zentriert auf den Charakter, der die Einheit und Ganzheit des Dargestellten verbürgt. Mit dem Ersten Entwurf wird das dramatische Geschehen alinear und perspektivisch konstruiert. Deutlich sind die strukturellen Parallelen zu den beiden Oedipus-Dramen. Der 1. Akt beginnt mit dem Ende des Oedipus Tyrannos und stellt dar, was im Oedipus auf Kolonos berichtet wird – die Verbannung des ehemals Verehrten, der 2. Akt folgt dem Oedipus auf Kolonos: das Volk will denjenigen zurückholen, den es zuvor zum apolis erklärt hat. Diese Orientierung ist jedoch nicht thematisch begründet – Empedokles ist nicht Alter Ego des Oedipus – sie betrifft die Ebene der Darstellung. Das Schema der gegengleichen Akte, die Komplementarität von Krise und Versöhnung, ermöglicht, innerhalb einer Handlung, die die Struktur eines Umschlags hat, eine sukzessive Umkehr von Bedeutungen darzustellen. Im Fortgang der Arbeit an der eigenen dramatischen Dichtung realisiert H. eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit Sophokles, die beides, sein eigenes Schreiben, aber auch sein Verständnis der attischen Tragödie verändert. Wenn man Bezüge zu Sophokles lediglich im Dritten Entwurf aufgrund einer Analogie des Handlungsverlaufs zu Oedipus auf Kolonos gesehen hat, so lag dies auch daran, dass die attische Tragödie selbst nach Maßgabe normativer Kategorien des Tragischen gelesen wurde. Neuere Forschungen haben diese Lesart korrigiert (Vernant 1979, 1986; Segal 1981, 1995; Girshausen 1999) und verdeutlicht, dass die an Poetiken des Dramas orientierten Tragödientheorien mit ihrer Konzentration auf dramatische Handlungsmodelle die Eigenart der griechischen Theaterform nicht treffen. Dass der tragische Held nicht Verkörperung einer sittlichen Idee, sondern Schnittpunkt extremer Gegensätze ist, die in ihm keinen Ausgleich finden, die Tragödie nicht die Kollision entgegengesetzter Mächte, sondern hyperbolische Steigerungen der Rede und des Bewusstseins zeigt, der tragische Dialog nicht Mitteilung, sondern Ausdruck ist, zu diesem Blick auf die griechische Tragödie findet H. durch den Versuch, mit Empedokles eine Figur widerstreitender Extreme und hybrider Überschreitungen sichtbar zu machen. Die beobachtete Radikalisierung im Verständnis von Empedokles führt dazu, dass H. sich immer mehr von einer Form löst, die am Modell des souverän sprechenden, einheitlichen Charakters orientiert ist, und zu einer Darstellung findet, in der allein die in Extremen alternierende Sprache eine Form von Subjektivi-
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tät sichtbar macht, die nicht mehr autonom, sondern von gegensätzlichen Tendenzen »ergriffen« (StA 4, 158) ist. Im Dritten Entwurf zeigt der Dialog einen abrupten Wechsel von extremen Bewusstseinszuständen, in dem Empedokles sich nicht mehr als Subjekt gewinnt, sondern als Figur eines »Übermaaßes« sichtbar wird. Wenn H. in den späten Sophokles-Anmerkungen (s. Kap. 25) vom »närrischwilde[n] Nachsuchen nach einem Bewußtseyn« spricht (FHA 16, 254), findet diese Form ihre Beschreibung. Indem H. mit Empedokles die Struktur eines ›unreinen‹ Charakters entdeckt, erschließt sich ihm der problematische Status des Subjekts der griechischen Tragödie. H.s späte Übersetzungen des Sophokles (s. Kap. 27) haben in dieser Befragung ihre Voraussetzung. Schon deshalb ist der Tod des Empedokles nicht als ein klassizistisches Interim zu bewerten; die »Überwindung des Klassizismus« (Szondi 1970) findet gerade in der Arbeit am Trauerspiel statt. Mit der fortschreitenden Infragestellung des tragischen Helden als souveräner Individualität zerbricht das Subjekt des klassizistischen Dramas. Die Diskrepanz zwischen intendierter und realisierter Form ist deshalb nicht als ein Scheitern misszuverstehen, sondern als ein Paradoxon zu begreifen: mit dem Versuch, ein Trauerspiel »nach den Idealen der griechischen Dramen« zu schreiben, gelangt H. im Verlauf der Arbeit am Empedokles zu einer Darstellung, die Sophokles sehr viel näher ist als das geplante fünfaktige Drama, das er zunächst für das griechische hält.
22.10 Rezeption »Dramatiker ohne Drama« – mit diesem Diktum hat Rolf Michaelis 1962 anlässlich der Inszenierung des Trauerspiels in einer Bühnenfassung von Wolfgang Schadewaldt (Tübingen) vor weiteren Versuchen gewarnt, den Tod des Empedokles aufführen zu wollen, weil dieser undramatische Text auf der Bühne notwendigerweise zum Weihespiel werden müsse. Auch in dieser Zuschreibung zeigt sich das Gewicht von Traditionen, die dazu geführt haben, das Verdikt vom gescheiterten dramatischen Versuch zu affirmieren. Entsprechend selten wurden H.s Trauerspielentwürfe aufgeführt, und wenn, dann zumeist im Kontext von Konjunkturen einer H.-Verehrung, die es gebot, dem dramatischen Torso doch noch zur Spielbarkeit zu verhelfen. Eine Kompilation aus den verschiedenen Entwürfen, die 1910 von Wilhelm von Scholz hergestellt wur-
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de, war die Textgrundlage für die »Welturaufführung« des Tod des Empedokles am 4.2.1916 am Königlichen Hoftheater Stuttgart. Diese Bühnenfassung wurde im März 1920 aus Anlass des 150. Geburtstages H.s an vielen Theatern gespielt (Stuttgart, München, Frankfurt, Bochum, Leipzig, Weimar, Graz, Halle; im Juni 1920 in Berlin). Weitere Aufführungen der Fassung von v. Scholz folgten 1921 (Danzig), 1922 (Bochum, Berlin) und 1923 (Wien). 1926 sprach sich Wilhelm Michel gegen eine »Vermischung verschiedener Sprachstufen« aus; seine Bühnenfassung, die den Ersten Entwurf mit der Manes-Szene verband, wurde 1926 in Darmstadt gezeigt. In den Jahren 1927–1938 gab es keine Aufführungen; neue Textkompilationen entstanden 1938 von Paul Smolny (Leipzig) und 1939 von Georg Seidler (Göttingen). Aufführungen der Bearbeitung von v. Scholz und Smolny fanden 1940 (Nürnberg, Kassel), 1941 (Schneidemühl) und 1942 (Hans Hilpert am Deutschen Theater Berlin) statt. Während des Nationalsozialismus rückte weniger H.s Tod des Empedokles in den Vordergrund als seine Übersetzung der Antigonae des Sophokles, die einer »deutsch-ursprünglichen Kunst« näherstehe (Groeper 1943); Empedokles wurde interpretiert als »das Ringen Deutschlands, als Bekenntnis aus vaterländischer Sorge und Not«; in den Spielzeiten 1942/43 und 1943/44 gab es jeweils sechs Inszenierungen, die eine völkisch interpretierte Opferidee in den Mittelpunkt stellten. »Nun braust der neue, unser Krieg heran; [...] nun wird sein Geist der Aufrichtung, sein Opfer um der Gemeinschaft willen, seine Sinngebung einer neuen Ordnung, auch im Innern der Nation doppelt gut verstanden« (Kindermann 1943). Mit Aufführungen in Bremen (1955) und Stuttgart (1956) begann nach dem Krieg eine zögernde Wiederentdeckung. 1962 stellte Schadewaldt in Tübingen eine Fassung aus Elementen des Ersten und Zweiten Entwurfs als letzte Werkstufe vor, die von Beißner nach seiner chronologischen Rekonstruktion der drei Entwürfe scharf kritisiert wurde (Beißner 1964). Unterschiedliche Kompilationen bildeten die Textgrundlage vereinzelter Aufführungen 1963 (Berlin), 1970 (Stuttgart) und 1973 (Frankfurt), die auf unterschiedliche Weise bemüht waren, H. als Dramatiker zu rehabilitieren. Bis heute gibt es immer wieder Ansätze, durch das Insistieren auf der ›Botschaft‹ H.s dem vorgeblichen Lesedrama durch Dramatisierung aufzuhelfen (u. a. Hansgünther Heyme, Essen 1990, Johannes Klett, Tübingen 1995). Eine Zäsur bedeutete die Inszenierung des Dritten Entwurfs von Klaus Michael Grüber (Berlin 1975) un-
ter dem Titel Empedokles. H. lesen. Statt die Spielbarkeit unter Beweis zu stellen, wurde nach einer Form gesucht, die die Unabgeschlossenheit des Textes ernst nimmt. Die folgenden Arbeiten, Inszenierungen von Frank-Patrick Steckel, der zum ersten Mal alle drei Entwürfe zeigte (Hamburg 1984), und Cesare Lievi (Gibellina 1987) sowie die Filme Der Tod des Empedokles (1986) und Schwarze Sünde (1989) von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub akzentuieren, trotz gegensätzlicher ästhetischer Optionen, auf unterschiedliche Weise die Eigenheiten dieses Textes, indem sie das Verdikt vom Undramatischen einbeziehen und die Schwierigkeiten der Form selbst zum Gegenstand der Aufführung machen (Huillet/Straub 1987, 1995). Literatur Philosophiegeschichtliche Werke und Lexika
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Theresia Birkenhauer†
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23 Emilie vor ihrem Brauttag Die Versdichtung Emilie vor ihrem Brauttag nimmt in H.s Werk eine deutliche Sonderstellung ein. Kein anderes seiner Gedichte hat einen vergleichbaren Umfang, und auch die Form des Briefgedichtes verwendet H. kein weiteres Mal. Bemerkenswert ist jedoch vor allem die Entstehungsgeschichte, denn es handelt sich hier um eine Auftragsarbeit, die H. weitere Publikationsmöglichkeiten eröffnen sollte. Im Juni 1799 bat er seinen Freund Neuffer, den Stuttgarter Verleger Steinkopf für den Plan einer »poëtischen Monatschrift« (KA 3, 351) zu interessieren, die er unter dem Titel Iduna herausgeben wollte und für die er prominente Mitarbeiter zu gewinnen hoffte. Steinkopf reagierte auf diesen Vorschlag, der nie realisiert wurde, zurückhaltend und bot H. zunächst an, für die nächste Ausgabe von Neuffers Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung »eine ganz kleine Erzählung oder Roman über Emilie« zu verfassen, »der der Charakter eines recht edlen, vortrefflichen Mädchens gegeben werden müsse« (StA 7/1, 131). Dieser Auftrag entsprach den Interessen von Herausgeber und Verleger, hatte doch bereits die vorangehende Ausgabe des Taschenbuches seine Leserinnen auf die Figur der Emilie neugierig gemacht: »Das Titelkupfer stellt Emiliens Bildniß vor, deren Geschichte im nächsten Jahre erzählt werden soll.« (StA 1, 599) Mit unverkennbarer »Eilfertigkeit« (KA 3, 366) unterzog sich der Dichter des Hyperion dieser poetischen Aufgabe, die ihn auf ein überwiegend weibliches Lesepublikum festlegte. Für die Ausarbeitung seines Gedichtes benötigte er weniger als einen Monat, und bereits Anfang Juli 1799 konnte er Neuffer das angeforderte Werk mit einem ausführlichen Begleitbrief übersenden, in dem er die »eigene Form« (KA 3, 367) seiner Dichtung erläutert, für die es kein »sinnlich Muster« (ebd.) als Vorbild oder Vergleich gebe. H. war es offenkundig deutlich bewusst, dass seine Emilie nicht den Vorstellungen Steinkopfs entsprechen konnte, der von ihm eine Prosaerzählung erwartete; und im Bemühen, dem möglichen Vorwurf bloßer Willkür und Regellosigkeit zu begegnen, skizziert er seine Vorstellungen über die Kongruenz von poetischen Inhalten und Formen: Nur wirklich heroischen Gegenständen sei die strenge Form des klassischen Trauerspiels angemessen; neue Darstellungsformen müssten hingegen für »moderne« Stoffe gefunden werden, zu denen er ausdrücklich »sentimentale« Inhalte und insbesondere Liebesgeschichten zählt. In Differenz zur »stolzen Verleugnung alles Akzidentellen«, die der »ehrwürdige[n]
tragische[n] Form« eigne, seien die sentimentalen Stoffe geeignet, »mit dieser zarten Scheue des Akzidentellen, und in tiefen vollen elegischbedeutenden, und durch das Sehnen und Hoffen, das sie ausdrücken, vielsagenden Tönen [...] fortzuschreiten [...]« (vgl. KA 3, 367 f.). Auffällig ist an dieser Unterscheidung, dass H. sich auch noch in der Abgrenzung an der Dichtung hohen Stils orientiert und seine Emilie eher antiken Trauerspielen als der zeitgenössischen Almanachdichtung an die Seite stellt. Steinkopf und Neuffer blieben freilich skeptisch gegenüber der zu erwartenden Reaktion auf H.s Werk, das gleichwohl verabredungsgemäß im Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung, auf das Jahr 1800 erschien. Der Anspruch, den H. mit der Emilie verband, spiegelt sich bereits in der Wahl des Blankverses, desselben Versmaßes, das er auch seinen Empedokles-Dichtungen zugrunde legte, in denen er den Tod des antiken Philosophen in Form einer Tragödie zu gestalten versuchte. Für eine Liebesgeschichte mit heiterem Ausgang schien ihm allerdings eine dramatische Gestaltung unangemessen, vielmehr wählte er für die Darstellung von Emilies Empfindungen und Erlebnissen die literarische Form des unkommentierten Briefes. So ist dieses Werk nicht im engeren Sinne der im 18. Jahrhundert beliebten Gattung der Verserzählung zuzurechnen, wie sie vor allem von Wieland gepflegt wurde, denn der Darstellung fehlt der feste Standort eines außenstehenden epischen Erzählers. Vielmehr schildern nur die ersten beiden der insgesamt sieben Briefe Emilies an Klara Vorfälle, die zu Beginn der Korrespondenz längst zurückliegen. Im dritten Brief beschreibt die Briefschreiberin ihre unmittelbare Gegenwart; in den übrigen Briefen berichtet sie zum Teil mit starker innerer Beteiligung von den jeweils jüngsten Ereignissen, ohne dass ihre persönliche Darstellung durch einen Erzählerkommentar oder durch Antwortbriefe relativiert wird. In dieser subjektiven Grundstruktur entspricht H.s Emilie viel stärker seinem Briefroman Hyperion (1797/99) als den Verserzählungen seiner Zeitgenossen, was durch die analoge Bezeichnung ›Briefgedicht‹ stärker zum Ausdruck gebracht wird. Auch mit der zeitgenössischen Idyllendichtung zeigt das Briefgedicht weniger Übereinstimmungen, als es die suggestive Rede von Hölderlins Idylle – so der Titel der ersten monographischen Studie zu diesem Werk aus dem Jahr 1925 – nahelegt. Emil Lehmann führte H.s Charakterisierung seines Stoffes als »sentimentalisch« auf Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung zurück und sah in
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_23
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dem Briefgedicht das Beispiel einer »sentimentalischen Idylle« verwirklicht, einer Gattung, für die Schiller selbst kein Beispiel gegeben hat (Lehmann 1925, 44 f.; auch Forys 1968, 204, ähnlich argumentiert auch Schmaus 2009). Diese Deutung von H.s Gedicht aus dem Geiste der Schillerschen Dichtungstheorie übersieht, dass in H.s Brief vom 3. Juli 1799 das »Sentimentalische« nicht dem Naiven, sondern dem »Heroischen« entgegengesetzt ist und eher als auf Schiller auf seine eigenen Vorstellungen vom »Wechsel der Töne« verweist. Vor allem aber spielen idyllische Zustandsbeschreibungen in H.s Gedicht eine eher geringe Rolle (Böschenstein-Schäfer 1977, 118 f.), zentraler als sinnlich-anschauliche Schilderungen ist die Darstellung der Entwicklung Emilies und die harmonische Verbindung unterschiedlicher Lebensformen. In dem Begleitbrief an Neuffer begründet H. seine Überlegungen zur Gestaltung seines Gedichtes zwar damit, dass Liebesgeschichten einer eigenen Form bedürfen; doch die eigentliche Liebeshandlung – die Begegnung von Emilie und Armenion, ihre Trennung, Emilies Bangen und die glückliche Zusammenkunft der Liebenden – umfasst nur einen Teil der Darstellung. Am Beispiel von Emilies Bruder Eduard berichtet H. ausführlich über den korsischen Freiheitskampf und konfrontiert seine Leserinnen mit der Frage des angemessenen Verhaltens angesichts revolutionärer Veränderungen; daneben demonstriert er in Emilies Entwicklung, wie sie in ihrem Rückblick auf Kindheit und Jugend dargestellt wird, ein Musterbeispiel weiblicher Erziehung und Bildung. Beide Themenkomplexe greifen weit über den Rahmen einer bloßen Liebesgeschichte hinaus. Im ersten Brief ihrer Korrespondenz schildert Emilie ihrer Freundin Klara ihre gegenwärtige Lebenssituation, die sie mit deutlicher Unruhe und einer unbestimmten Sehnsucht erfüllt (V. 12 ff.). Mit ihrem Vater, dessen überlegene Fürsorge und Liebe sie als geradezu göttlich empfindet, führt sie ein zurückgezogenes Leben, das von der Erinnerung an ihren Bruder Eduard überschattet wird, der im korsischen Freiheitskampf gefallen ist. Ausführlich berichtet Emilie von Eduards Begeisterung für den Feldherrn Pasquale Paoli und seiner freudigen Bereitschaft, das eigene Leben für das »edle Werk« (V. 102) des Unabhängigkeitskampfes zu riskieren. H. ruft hier einen Abschnitt der europäischen Geschichte in Erinnerung, der seinen Zeitgenossen noch gut vertraut sein musste und dessen Darstellung seinem Briefgedicht tatsächlich einen entschieden »modernen« Charakter verleiht: die Auflehnung der Korsen gegen die genuesische Vor-
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herrschaft und die wirtschaftliche Ausbeutung ihrer Insel. Nach jahrzehntelangem Kampf um die Unabhängigkeit gegenüber der Republik Genua konnte Pasquale Paoli im Jahr 1757 eine eigenständige korsische Republik ausrufen, die er auf der Basis eines politischen und gesellschaftlichen Reformprogrammes zu regieren versuchte. Die korsische Republik hatte allerdings nur kurzen Bestand, die Insel geriet in den folgenden Jahren zunächst unter französische, dann unter englische und 1796/97 schließlich wieder unter französische Vorherrschaft. Das wechselvolle politische Schicksal Korsikas fand im übrigen Europa viel Anteilnahme. Noch um die Wende zum 19. Jahrhundert, zur Zeit des berühmteren korsischen Feldherrn Napoleon Bonaparte, war Paoli dem deutschen Publikum »als Repräsentant einer freiheitsliebenden, seit langem um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Nation vertraut« (Prignitz 1992, 45). Vor diesem realgeschichtlichen Hintergrund entwirft H. das fiktive Leben des Jünglings Eduard, der Familie und Heimat verlässt, um sich dem »Männerkriege« (V. 73) anzuschließen. Eine zusätzliche Legitimation gewinnt für ihn der Kampf um die Befreiung Korsikas dadurch, dass er diese Insel in der Dichtung des Horaz präfiguriert sieht: In seinem Brief an Vater und Schwester, den Emilie ausschnittsweise zitiert, erinnert er an den »stille[n] Römer« (V. 111) und führt aus dessen 16. Epode die Beschreibung der Insel der Seligen an, die er freilich nicht als utopische Gegenwelt, sondern als konkrete historische Möglichkeit begreift. Dieser Optimismus findet allerdings keine Erfüllung: Nachdem er seine Angehörigen eingeladen hat, gemeinsam mit ihm in einer Umgebung zu leben, die der längst vergangenen »goldne[n] Zeit« (V. 125) entspricht, stirbt Eduard in der Schlacht; Vater und Schwester bleiben einsam in Deutschland zurück. Emilies erster Brief verharrt ganz in der Trauer um den Bruder, dessen heroischer Kampf für Freiheit und politische Unabhängigkeit trotz seiner Erfolglosigkeit zunächst voller Bewunderung dargestellt wird. Ein Gegengewicht erfährt die Darstellung Eduards erst in der Schilderung Armenions, dem Emilie und ihr Vater während ihrer Reise in das Gebiet der Varusschlacht begegnen. Ebenso wie der Ort dieses Zusammentreffens verweist der Name Armenion auf Hermann bzw. Arminius den Cherusker, der im 18. Jahrhundert als Vorkämpfer für die Freiheit und Einigkeit Deutschlands gefeiert wurde (vgl. ausführlich Schmaus 2009). Doch obwohl Armenions stolze Erscheinung an Hermann erinnert, kann er nicht mit dieser historischen Gestalt identifiziert werden; eben-
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so wenig ist er eine bloße Reinkarnation Eduards, wie es Emilies spontaner Ausruf (217 f.) nahelegen könnte. Vielmehr werden Armenions unzweifelhaft heroische Anlagen von anderen Eigenschaften relativiert, die ihn vor einem dem Schicksal Eduards vergleichbaren Lebensweg bewahren und eine dauerhafte Verbindung mit Emilie ermöglichen: »Derselbe wars und nicht derselbe!« (V. 223) Für Eduard ist wie für Hyperions Gefährten Alabanda die Freiheitsliebe mit Stolz und Zorn verbunden (V. 49 f.), der Tod in der Schlacht erscheint ihm als höchstes Glück (V. 58 ff.). Der gemeinsame Kampf ermöglicht ihm die Erfahrung gegenseitiger Liebe (V. 98); sein Leben ist dem Kriegsgott geweiht. Die eigenen Ziele verabsolutierend, verkennt Eduard so die Berechtigung anderer Lebensformen und möchte auch Vater und Schwester zu einer heroischen Existenz auf Korsika veranlassen (V. 103–126). Dieser einseitigen Ausrichtung auf das Heroische, die Fremdes zu bekämpfen oder zu assimilieren sucht, steht in Armenion die Vorstellung der harmonischen Verbindung von Gegensätzen zu einer komplexen Ganzheit gegenüber. In Anspielung auf die platonische Lehre der Seelenverwandtschaft sieht Armenion Emilie und sich als »Längstverwandte« (V. 419) und begreift die Liebe zu dem naturverbundenen Mädchen als Möglichkeit des Ausgleichs. Anders als Eduard will er seinen heroischen Zorn nicht im Befreiungskampf steigern, sondern möchte ihn durch Emilies Gesang geheilt wissen (V. 446 f.). Erst die liebende Verbindung mit dem anders beschaffenen Partner ermöglicht eine harmonische Existenz, die der Mensch weder allein in der Ausbildung seiner ihm eigenen Anlagen noch in der Assoziation mit Gleichgesinnten erreichen kann. Mit dieser Gegenüberstellung von Eduard und Armenion, die die Überlegenheit der auf Ausgleich bedachten Lebensführung gegenüber der kriegerischen Auseinandersetzung demonstriert, relativiert H. bei aller Bewunderung für die Lauterkeit ihrer Ziele den Anspruch revolutionärer Bestrebungen und ergreift für reformerische Veränderungen Partei. Der heroische Jüngling ist gefallen, ohne seine Ziele verwirklichen zu können; dem liebenden Paar dagegen wird eine Zukunft vorausgesagt, in der es voll »Licht und Lust« vorbildlich auf seine Umgebung wirken kann (V. 570). In dieser Konstellation mussten H.s Leserinnen eine vorsichtig distanzierende Stellungnahme zu den vergangenen Auseinandersetzungen auf Korsika wie zu den gegenwärtigen Aktionen Napoleons sehen, vor allem auch ein Plädoyer gegen die gewaltsamen Auswüchse der Französischen Revolution.
Das Grundprinzip der Orientierung am Entgegengesetzten und des Ausgleichs von Gegensätzen bestimmt ebenso Emilies Entwicklung. In ihrem letzten Brief an Klara kann sie von der Verbindung mit Armenion berichten, auf der der väterliche Segen ruht und der eine glückliche Zukunft verheißen ist. Dieser erfüllte Moment vor ihrem »Brauttag«, auf den nach H.s eigenem Kommentar sein ganzes Briefgedicht abzielt (KA 3, 370), schließt eine längere Entwicklung ab, in der Emilie sich zur Partnerin Armenions heranbildet. Obwohl Armenion sie vor allem als naturverbundenes »Kind/ Des Himmels« (V. 416 f.) wahrnimmt, das sich des Gesangs als Ausdrucksmedium bedient, ist Emilie zu diesem Zeitpunkt längst kein naives Naturwesen mehr. Vielmehr spiegeln die Briefe an Klara ihre zunehmende Fähigkeit zur Reflexion und kritischen Befragung ihres eigenen Lebensweges, die sie freilich erst allmählich erlangt hat: Im Rückblick ihrer ersten beiden Briefe steht sie am Ausgangspunkt ihrer Entwicklung zunächst als Schweigende ihrem Vater und ihrem Bruder gegenüber. Das selbstgenügsame, ganz auf das Hören konzentrierte Schweigen Emilies verbindet sie mit der Gestalt der Diotima in H.s Roman, die sich vor der Begegnung mit Hyperion ebenfalls nur selten der Sprache bedient. Während Diotima durch Hyperion jedoch zunehmend sprachmächtiger wird, lässt die Nachricht von Eduards Tod Emilie zunächst tiefgreifend verstummen: »Es war, wie in der Schattenwelt, im Hauße./ Der stille Vater und das stumme Kind!« (V. 163 f.) Diese Stummheit Emilies ist weder eine Form der innigen Konzentration auf ein Gegenüber noch der naturhaften Seinsverbundenheit, sondern wird von ihr selbst als totengleiche Erstarrung beschrieben. Aus dieser Unfähigkeit zur Rede löst sich Emilie nur langsam: Dem Vorschlag ihres Vaters zur Reise in die Neckargegend stimmt sie passiv zu (V. 165 f.); und erst allmählich wird sie wieder als Teilnehmerin eines Gespräches geschildert, das sich mit den bevorzugten Themen ihres Bruders – Helden und Göttern (V. 194) – beschäftigt. Die unerwartete Begegnung mit Armenion schließlich beendet endgültig Emilies Stummheit, indem sie sie zu dem spontanen Ausruf veranlasst: »O Vater! mußt’/ Ich rufen, das ist Eduard!« (V. 217 f.) In diesem Ausruf bleibt Emilie ganz auf die Männer bezogen, die ihr vergangenes und zukünftiges Leben bestimmen. Erst in der Korrespondenz mit Klara, die nach den geschilderten Ereignissen einsetzt, gelingt es ihr, ihre eigenen Empfindungen darzustellen und ihre Hoffnungen und Befürchtungen zu artikulieren. Bereits in ihrem ersten Brief beschreibt Emilie ihre gegenwärti-
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ge Sehnsucht und rechtfertigt ihre Ruhelosigkeit gegenüber den möglichen Einwänden ihrer Briefpartnerin (13–38). Der weitere Verlauf ihrer Korrespondenz spiegelt ihr zunehmendes Selbstbewusstsein: Am Ende des zweiten Briefes formuliert sie zwar noch ihre Scham darüber, ein »Männerwort« zu verwenden (V. 292), den dritten Brief eröffnet sie jedoch mit dem Dank an Klara, ihr die Möglichkeit der vertrauten Aussprache ermöglicht zu haben (V. 295–297). In demselben Brief beschreibt Emilie ihre veränderte Einstellung gegenüber der Natur, in der sie sich nun nicht mehr allein schweigend bewegt, sondern der sie als schöpferische Namensgeberin gegenübertreten möchte (V. 331 f.). Folgerichtig schließt dieser Brief mit dem selbstbewussten Bekenntnis zum Wert ihres eigenen Erzählens (V. 354–358). Gegenüber der Empfängerin ihrer Briefe erweist sich Emilie somit als reflektierend und überlegt; gegenüber Vater und Geliebtem bleibt sie jedoch weiterhin still und sieht sich sogar zeitweilig selbst in der inferioren Rolle der Dienerin (V. 531), der es nicht gestattet ist, den Männern, die immerhin über ihre Zukunft entscheiden, nahezutreten. Erst die patriarchalische Zusammenführung der Liebenden behebt Emilies Unsicherheit, und im gemeinschaftlichen Händedruck (V. 544 f.) wird sie von den beiden Männern als gleichwertig aufgenommen. In seiner abschließenden Rede entwirft Emilies Vater nicht nur die verheißungsvolle Zukunft der beiden Liebenden, die über den engen Kreis privaten Glücks wirksam sein werden, sondern interpretiert ihren bisherigen Lebensweg auch als geleitet durch die »Genien« der Hoffnung und des Dankes (V. 557 f.), die hier nicht als individuelle Haltungen, sondern als überpersönliche Kräfte angesehen werden, die das Schicksal eines Einzelnen beeinflussen können, sofern er sich ihrer Leitung anvertraut. Beide Begriffe nehmen in H.s Dichtung um die Jahrhundertwende eine zentrale Stellung ein, eine Ode aus dem Zyklus der Nachtgesänge ist sogar direkt An die Hoffnung gerichtet (KA 1, 316 f.), die als »des Äthers Tochter« der derzeitigen Trauer und Einsamkeit ein Ende setzen kann. In H.s Briefgedicht entsprechen den genannten überindividuellen Genien zwei menschliche Grundhaltungen: Der Hoffnung ist das Sehnen zugeordnet, dem Dank das Bleiben. Dass dies keine zufällige Verbindung ist, zeigt wiederum der Brief an Neuffer, der ausdrücklich das »Sehnen und Hoffen« als wesentlichen Bestandteil dieses Werkes beschreibt (KA 3, 368). Sehnsucht ist zunächst Ausdruck des Ungenügens an der Gegenwart: Emilie und ihr Bruder empfinden ihr Leben im Vaterhaus als defizitär und geben sich nicht mit den ein-
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geschränkten Möglichkeiten ihrer Existenz zufrieden (V. 12, 306, 375, 584, 599). Sie verfallen jedoch weder in Resignation noch in Verbitterung – beides sind mögliche Reaktionen auf die Unzufriedenheit mit dem Gegebenen –, sondern sie werden von der Hoffnung auf Erfüllung, sei es in der Liebe oder im Kampf, getragen (V. 17, 140, 143 f., 266, 598). Erst diese erhoffte Erfüllung wird ihnen ein ruhiges Verweilen erlauben, was im gegenwärtigen Zustand noch unmöglich ist. Armenions Beispiel zeigt, dass die Sehnsucht nicht aus eigener Kraft gestillt werden kann, denn sein Versuch, nach der Begegnung mit Emilie standhaft in seinem »Bleiben« zu verharren (V. 228–230), hat den Charakter eines selbstauferlegten Zwanges und kann von ihm nicht dauerhaft verwirklicht werden. Die glückliche Verbindung der Liebenden wird durch das Zusammenwirken zweier Sphären vorbereitet, sie ist weder das Ergebnis allein menschlichen Strebens noch das bloße Resultat schicksalhafter Mächte. In seinem Briefgedicht demonstriert H. damit geradezu modellhaft den harmonischen Einklang der Sphären des Menschlichen und des Göttlichen, der hier durch keine äußeren Einflüsse gestört wird. Der fürsorglichen Leitung durch die freundlichen Genien korrespondiert auf menschlicher Seite die Entwicklung Emilies, die es ihr ermöglicht, am Ende ihres Briefwechsels als Braut ihre ursprüngliche Sehnsucht gestillt und ihre Frage nach dem Ziel ihres Drängens (V. 13) in Armenion beantwortet zu wissen (V. 602 f.). Die dankbare Einsicht in diesen Zustand neuer Harmonie wird für sie durch zweierlei vorbereitet: durch die sprachermöglichende Kraft weiblicher Freundschaft und vor allem durch die von ihrem Vater geförderte Anteilnahme an Fragen der Politik und Geschichte. Beide Bildungsfaktoren stimmen darin überein, dass sie Eigenschaften und Interessen fördern, die bei Emilie zunächst schwach ausgeprägt und nicht den traditionell weiblichen Tugenden zuzurechnen sind. Das hier zugrunde liegende Modell der Persönlichkeitsbildung durch die Konfrontation mit Themen, die nicht zum ursprünglichen Lebenskreis der Heranwachsenden gehören, begegnet H.s Leserinnen nicht allein in der erzählten Liebesgeschichte. Vielmehr kann dieses Briefgedicht selbst als Medium der Leserbildung verstanden werden, da es in Analogie zu Emilies Reifeprozess auch seinen Leserinnen, den »Frauenzimmern von Bildung«, zumindest die Möglichkeit eröffnet, sich nicht nur an der glücklich verlaufenden Liebesgeschichte zu erfreuen, sondern auch über Probleme des angemessenen politischen Handelns in Umbruchsituationen wie über die Bedingungen der
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Mädchenbildung nachzudenken. Damit greift Emilie vor ihrem Brauttag weit über den Anspruch bloßer Unterhaltungsliteratur hinaus, wie H. dies ja selbst in seinem kommentierenden Begleitbrief dargelegt hat. Schon die skeptische Reaktion Neuffers zeigt jedoch, dass dieser Anspruch nur von wenigen »gebildeten« Lesern verstanden worden sein dürfte. (Dieser Beitrag ist die bibliographisch aktualisierte und geringfügig überarbeitete Fassung eines Beitrags, der zuerst erschien in: Kurz, Gerhard (Hg.): Interpretationen. Gedichte von F. H., Stuttgart 1996, 96–108. Dem Reclam-Verlag ist für die Erlaubnis zum Wiederabdruck herzlich zu danken.) Literatur
Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. 2., durchges. und erg. Aufl., Stuttgart 1977. Binder, Wolfgang: H.s Namenssymbolik (1961/62), in: Ders.: H.-Aufsätze, Frankfurt a. M. 1970, 134–260.
Doering, Sabine: Aber was ist diß? Formen und Funktionen der Frage in H.s dichterischem Werk, Göttingen 1992. Forys, Ryszard Fryderyk: H.s Idylle Emilie vor ihrem Brauttag. Zur Gattungsproblematik, in: Mickiewicz-Blätter 13 (1968), 200–207. Lehmann, Emil: H.s Idylle Emilie vor ihrem Brauttag, Reichenberg i. B. 1925. Lefebvre, Jean-Pierre: Emilie – Susette – Bonaparte, in: HJb 31 (1998/99), 142–159. Prignitz, Christoph: Freiheitskrieg oder Reform? H.s Verserzählung Emilie vor ihrem Brauttag, Hamburg 1992. Rockel, Gerd: Die Haltung des Dankes und ihre Bedeutung im Denken und Dichten H.s, Hamburg 1964. Schäfer, Eckart: Die 16. Epode des Horaz als Gegenstand der Rezeption, in: Der altsprachliche Unterricht 21.1 (1978), 50–64. Schmaus, Marion: Politische Mythologie und Literatur. F. H.s Emilie vor ihrem Brauttag, in: DVjs 83 (2009), 557– 576.
Sabine Doering
24 Theoretische Schriften
24 Theoretische Schriften Angesichts der Tatsache, dass H. sich mindestens im Jahrzehnt zwischen 1790 und 1800 ausführlich und in immer neuen Anläufen mit der Philosophie beschäftigt hat, nimmt der geringe Umfang der hinterlassenen schriftlichen Zeugnisse dieser Beschäftigung Wunder. Aber auch der Überlieferungsweg der wenigen philosophischen Manuskripte H.s ist nicht mit Sicherheit anzugeben. Vermutlich waren ältere Manuskriptkonvolute, in denen sich auch philosophische Aufsätze hätten befinden können, gar nicht mehr mit nach Homburg gelangt, sondern 1804 im mütterlichen Haus in Nürtingen geblieben. Was dort aufbewahrt wurde, kann aber auch nicht mehr besonders umfangreich und auffallend gewesen sein. Der Student Karl Ziller, den H.s Bruder 1822 nach Nürtingen schickte, um die dort gelagerten Manuskripte in Augenschein zu nehmen, erwähnt in seinem Bericht an Karl Gock »Bruchstücke nachgeschriebener Collegien«; dabei mag es sich vielleicht auch um eigene Notizen H.s gehandelt haben, jedenfalls wäre dem unerfahrenen Ziller, der von den philosophischen Ambitionen H.s ganz sicher nichts wusste, eine solche Verwechslung zuzutrauen. Wie auch immer, auch davon ist nichts mehr erhalten, weil der in Nürtingen verbliebene Rest von H.s Nachlass (das Gros der Handschriften war – nach damaligem Brauch – in den Besitz des Editors Schwab übergegangen, ein anderer Teil, darunter das sogenannte Homburger Folioheft, war 1855 dem Homburger Stadtarchivar Johann Georg Hamel geschenkt worden; s. Kap. 9) zwischen 1856 und 1870 »durch Anverwandte beseitigt worden« ist, wie H.s Neffe Breunlin mitgeteilt hat. Dennoch spricht die verschwindend geringe Anzahl theoretischer Texte in H.s Nachlass insgesamt dafür, dass H. selbst den größten Teil seiner philosophischen Produktion irgendwann einmal vernichtet hat, so dass dieser Teil seines Schaffens gar nicht erst in den Nürtinger Nachlass gelangen konnte. Dafür sprechen sowohl das gespannte Verhältnis zur Philosophie, das H. immer wieder an den Tag legt (z. B. MA 2, 527 (1794); 602 (1795); 635 (1796); 649 (1797); 657 (1797); 711 (1798); 736 (1799) u. ö.), als auch der Umstand, dass die erhaltenen Texte entweder in Konvoluten stehen, die überwiegend der poetischen Produktion gedient haben, oder nur ein einziges Blatt (oder Doppelblatt) umfassen, das leicht einmal versehentlich in ein umfangreicheres Konvolut oder ein Buch hineinrutschen kann. Mit anderen Worten: die vorliegenden Texte verdanken ihre Erhaltung dem Zufall. Sie müssen da-
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her auch nicht »repräsentativ« sein für H.s philosophische Produktion. Diese Tatsache sollte bei der Interpretation der Texte stets im Auge behalten werden.
24.1 Frühe Aufsätze (Pläne und Fragmente 1794–1795) Entstehung Für die Datierung der frühen Aufsatzentwürfe H.s (Es giebt einen Naturzustand der Einbildungskraft ..., Über den Begriff der Straffe, Hermokrates an Cephalus) bieten sich als wissenschaftliches Hilfsmittel die Orthographischen Tabellen zu Handschriften H.s von Maria Cornelissen (Stuttgart 1959) an. Auf die frühen Aufsatz-Fragmente angewendet, zeigt sich, dass sie in den Jahren 1794 und 1795 geschrieben sein müssen. Die verwendete Papiersorte ermöglicht die Präzisierung, dass Es giebt einen Naturzustand ... aller Wahrscheinlichkeit nach noch im Jahr 1794 in Waltershausen (also vor Ende Oktober) geschrieben worden sein dürfte, während Über den Begriff der Straffe aufgrund des orthographischen Profils vermutlich in die ersten Monate des Jahrs 1795 einzuordnen ist. Im Waltershausener Jahr 1794, dem ersten nachuniversitären Lebensjahr H.s, ist besonders häufig von philosophischen Beschäftigungen die Rede. Mehrmals nennt H. dabei »Kant und die Griechen« in einem Atemzug (MA 2, 534; 541; 551). Mit den »Griechen« ist natürlich in erster Linie Platon, sicher aber auch Aristoteles gemeint. Schon die Tübinger Hymnen (s. Kap. 28), so hat auch H.s Freund Neuffer (s. Kap. 3) berichtet, seien »hervorgegangen« aus dem »vieljährigen Streben, abstracte Ideen, besonders von Plato und Kant, ins Gewand der Dichtkunst zu hüllen« (StA 7.2, 457). Diese Bestrebung, die Ideen Kants (s. Kap. 12) und Platons miteinander zu vereinigen, ist ganz eindeutig der philosophische Ausgangspunkt H.s. Am ausführlichsten wird dieser Ausgangspunkt besprochen in einer längeren Passage von H.s Brief an Neuffer vom 10. Oktober 1794. Dort ist auch die Rede von einem »Aufsaz über die ästhetischen Ideen«, den H. offenbar in Arbeit hat. In diesem Aufsatz, so kündigt H. an, soll einerseits ein Kommentar vorgelegt werden zu einer bestimmten Stelle aus Platons Dialog »Phädrus«, und andererseits soll durch diesen PlatonKommentar die kantische Analyse des Schönen und Erhabenen (s. Kap. 12) sowohl »vereinfacht« als auch »vielseitiger« werden. Diese Vereinigung platonischer mit kantischen Motiven soll dann hinausführen über Schillers Ansatz zu einer Rezeption der kantischen
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Ästhetik (s. Kap. 11). Die Stelle im Phaidros, von der aus H.s Ziele erreichbar werden, ist sicher Phaidros 250 B, wo Sokrates dem jungen Dichter Phaidros erklärt, dass – in der Sprache des späten 18. Jh.s ausgedrückt – der Unterschied zwischen Idee und Erscheinung im Fall der Schönheit einzigartiger Weise nicht stattfinde. Von hier aus lässt sich anknüpfen an den § 49 von Kants Kritik der Urteilskraft, in dem zwischen »ästhetischen Ideen« und »Vernunftideen« unterschieden wird. Die ersteren sind »Vorstellungen der Einbildungskraft« und so beschaffen, dass ihnen kein Begriff adäquat ist (KU 193), die letzteren hingegen sind »das Gegenstück« dazu: ihnen kann keine Anschauung adäquat sein (ebd.). So wie das Kunstwerk sich dem »Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen« verdankt, das Kant »Geist« nennt, so kann es entsprechend auch nur vom »Geist« des Betrachters oder Zuhörers adäquat verstanden werden. Mit dem Begriff des »Geistes« ist das wichtigste Vehikel geschaffen, das platonische Motive ins Innere der kantischen Philosophie zu tragen vermögend ist. Ob das Aufsatz-Projekt H.s ausgearbeitet worden ist, wissen wir nicht. Erhalten ist jedenfalls kein Manuskript, das thematisch damit in Verbindung gebracht werden könnte. Allerdings dürfte das Projekt seine Auswirkungen gehabt haben auf die in Jena entstandenen frühen Fassungen des Hyperion. Hier spielt auch ein platonischer Mythos eine zentrale Rolle, den die Mantineische Priesterin Diotima dem Sokrates erzählt haben soll: diesem Mythos zufolge ist der Dämon Eros deshalb ein solches Mittelwesen zwischen Göttlichem und Sterblichem, weil er als Produkt einer nicht vorgesehenen Verbindung zwischen Poros und Penia (Überfluss und Mangel) gezeugt wird. In den Umkreis der frühen Hyperion-Fassungen gehört der Text, der mit den Worten beginnt: Es giebt einen Naturzustand der Einbildungskraft ... Er beschäftigt sich jedenfalls mit dem Thema der »Bildung« der Seele, bzw. ihrer Vermögen, und das ist auch das eigentliche Thema des Romans Hyperion. Äußerlich einen anderen Eindruck vermittelt der Entwurf Ueber den Begriff der Straffe, der in einer Weise notiert ist, die sich sonst häufiger bei universitären Texten findet: er ist nämlich nur auf die eine Hälfte eines in zwei Spalten aufgeteilten Blattes geschrieben. Diese Notierweise spräche für einen akademischen Herstellungs-Zusammenhang, möglicherweise für den Versuch, eine Dissertation zur Erlangung der venia legendi an der Universität Jena anzufertigen (vgl. Brief an die Mutter vom 16.1.1795 und an den Bruder vom 13.4.1795: MA 2, 562 und 579). Dass er schon in Tübingen großes Inte-
resse an Fragen des Rechts hatte und nach dem Magisterium in die juristische Fakultät wechseln wollte, ist ebenfalls belegt (vgl. Brief an Neuffer vom Dezember 1789: MA 2, 454). Über Fragen der Grundlegung des Rechts muss H. schon im Herbst 1794 mit Fichte diskutiert haben (vgl. Brief an Neuffer vom Nov. 94: MA 2, 553; s. Kap. 12). Andererseits weist der Text mit seinem Eintreten für eine Gründung von Wissenschaft in Prinzipien auf die Diskussionen um die reinholdsche ›Elementarphilosophie‹, die in einem Kreis um Niethammer (s. Kap. 5) und J. B. Erhard noch im Jahr 1795 lebendig waren; terminologische Annäherungen an Fichte gibt es in dem erhaltenen Text jedoch noch nicht. In die Diskussionen des Niethammer-Kreises gehört auch das kurze Fragment Hermokrates an Cephalus, das aber zugleich die Skepsis dieses Kreises gegenüber der approximativen Lösung (»unendliche Annäherung« an das Absolute) der fichteschen Wissenschaftslehre bezeugt. Analyse und Deutung Die beiden ältesten erhaltenen philosophischen Bruchstücke H.s beschäftigen sich auf den ersten Blick weniger mit den »kantischästhetischen« Themen (vgl. MA 2, 539) als vielmehr mit Fragen der praktischen Philosophie. Von daher sind sie sicher nicht »repräsentativ« (s. o.) für die philosophische Produktion H.s in den Jahren 1794 und 1795. Den Texten ist aber der jeweilige Stand der Kant-Rezeption H.s zu entnehmen. In Es giebt ... versucht H. in der Hauptsache wohl, eine Argumentation gegen die damals (z. B. in der schottischen Philosophie des »moralischen Gefühls«) modisch aufkommende Philosophie eines moralischen Naturalismus zu erproben. Es mag so etwas geben, wie einen »moralischen Instinkt«; dessen Wirkungen sind freilich nur zufälligerweise »gut« und lassen deshalb das eigentliche Kennzeichen des Moralischen vermissen: bewusste Entscheidung für die »Achtung vor dem Gesetz«. So kommt H. zu dem bemerkenswerten Satz: »Die Moralität kann also niemals der Natur anvertraut werden.« (MA 2, 47) Dies ist ein Satz, der seinesgleichen nur in Kants These vom »radikalen Bösen« im Menschen hat, die in der 1793 erschienenen Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft den Anfang des Buchs ausmacht. Die Lektüre dieser »neuste(n) Schrift von Kant«, die wohl um den Jahreswechsel 1793/94 stattgefunden haben wird (vgl. Brief an die Schwester vom 16.1.1794: MA 2, 518, Z. 15 f.) hat aber auch schon den vorangegangenen Satz geprägt: »Der Anfang all’ unsrer Tugend ge-
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schieht vom Bösen«. Dass dieses »radikale Böse«, jener »Widerstand« gegen das Sittengesetz jedoch »Natur« genannt, bzw. »in der Natur« situiert wird, zeigt, dass H. schon früh auch über einen negativ bewerteten Naturbegriff verfügt. Von daher ist das Auftauchen eines Formulierung wie »ewig menschenfeindlicher Naturgang« in den Anmerkungen zur Antigonä (s. Kap. 25) nicht ein plötzliches Einbrechen einer neuen Gedankenwelt, sondern ein Wiederaufgreifen früher Intuitionen, die wesentlich aus der protestantischen (lutherischen) Theologie stammen. Die Rolle, die die Einbildungskraft am Anfang dieses Textes spielt, verdient ebenfalls eine Hervorhebung. Offenbar hat sie die Funktionen übernommen, die bei Reinhold das »Vorstellungsvermögen« erhalten hatte. Diese primitivursprüngliche, gewissermaßen »naturwüchsige« Vorstellungsproduktion wird nun in einem zweiten Stadium durch Verstand oder Vernunft »geordnet«, d. h. durch ein jeweiliges »Gesetz« in einen »vesten Zustand« versetzt. Es ergibt sich so ein Ansatz zu einer »Rekantisierung« reinholdscher Systematik, die sich insbesondere an den Erwägungen orientiert, die Kant in der KU hinsichtlich eines »Übergang(s) vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs« angestellt hat (KU, Einleitung, bes. LIII–LVII). Der Vergleich mit Schellings (s. Kap. 12) in der ersten Hälfte 1794 geschriebenen Jugendarbeiten, die auf dem nämlichen Wege sind, liegt hier nahe (vgl. Franz 1996). Auch der Aufsatz Über den Begriff der Straffe ist gewissermaßen »auf dem Sprung« über Reinhold hinaus. Er bezeugt das Anhalten des rechtsphilosophischen Interesses, das H. schon seit seinem zweiten Studienjahr hegt. Es hat den Anschein, als ob H. die ihn interessierenden Fragen auch gleich zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Fichte an diesen herangetragen habe. Jedenfalls kennzeichnet er Fichte in einem Brief vom November 1794 als einen Philosophen, der »[i]n den entlegensten Gebieten des menschlichen Wissens die Prinzipien dieses Wissens, und mit ihnen die des Rechts aufzusuchen und zu bestimmen« in der Lage sei (MA 2, 553). Diese Charakterisierung Fichtes enthält eine Überraschung. Fichte wird hier nicht nur die Absicht bescheinigt, die Prinzipien des Wissens »aufzusuchen«, sondern zugleich – was sich zu diesem Zeitpunkt geradezu konträr zu dem ausnehmen musste, was Fichte bisher in seinen politischen Schriften vertreten hatte – wird ihm der Versuch zugesprochen, die Prinzipien des Rechts zusammen mit denen des Wissens herzuleiten, und eben nicht, wie in Fichtes Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publicums
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über die Französische Revolution angenommen, zusammen mit denen oder aus denen der Moral. Fichtes Versuch, das Recht aus theoretischen Gründen herzuleiten, hängt mit seinem Bestreben zusammen, die menschliche Subjektivität gleich von Anfang an, d. h. prinzipiell, als Intersubjektivität zu verstehen. Der erste Begriff von Intersubjektivität ist eben nach der neuen Theorie Fichtes der des Rechts. Die Öffentlichkeit hat von dieser revolutionären Umkehr Fichtes erst durch den ersten Teil seiner Grundlage des Naturrechts erfahren, der im Frühjahr 1796 erschienen ist. H. scheint von dieser Umorientierung Fichtes in Sachen des Rechtsbegriffs, wie unsere Briefstelle bezeugt, jedoch schon im November 1794 gewusst zu haben. Das setzt also intensivere Gespräche mit Fichte voraus, wie sie H. ja wenigstens »zuweilen« zu haben angibt (s. Kap. 12). Dabei ist es durchaus möglich, dass H. selbst die Problematik der Herleitung des Rechts angeschnitten hat. Die »heiligen Grundsäze des Rechts und der reineren Erkentniß« nennt er jedenfalls schon im März 1794 (!) in einem Atemzuge (MA 2, 523). Der Text, dessen erster Satz, wie aus der Handschrift zu ersehen, vielleicht als eine Art »mythologisches Motto« gedacht ist (so haben ihn auch frühere Editoren, Zinkernagel (1914) und von Pigenot (1922) z. B. (s. Kap. 1), als Motto zwischen Titel und den dann mit dem zweiten Satz beginnenden Text platziert), entfaltet eine insgesamt als »Beweis« (MA 2, 47, Z. 20 f.) angelegte, aber nicht mehr vollständig erhaltene Argumentationslinie. In ihr geht es darum zu zeigen, dass auch der Gedanke des Rechts auf Prinzipien gegründet werden muss. Die »Feinde der Principien« »gerathen« »mit allen ihren Behauptungen in einen Cirkel« und das insbesondere auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie. Unter solchen »Prinzipienfeinden« sind wohl in erster Linie empiristische und skeptizistische Positionen gemeint, die das Recht auf eine Tatsache (etwa eine ursprüngliche Vereinbarung zur Beendigung des »Kriegs aller gegen alle«) gründen möchten. In der ausgedehnten Debatte, die im letzten Drittel des 18. Jh.s über die Grundlagen der Rechtsphilosophie geführt wurde, gab es – vor Fichtes Naturrecht von 1796 – fast nur solche empiristischen Positionen. Die moralische Begründung des Rechts stößt aber auf das Problem, dass das Recht als »Befugnis zu zwingen« (Kant) über das hinausgeht, was in der Moral begründbar erscheint. Die Frage der Begründbarkeit von Strafen führt auf das zentrale Problem einer solchen Rechtsbegründung, die sich nicht empiristisch auf Tatsachen, sondern auf das Sittengesetz beruft. Ob H. hier schon auf dem Wege ist zu einer Lö-
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sung des Problems der Begründbarkeit von Strafen, die auch die Berufung auf moralische Prinzipien noch hintergehen kann (etwa nach Art von Fichtes Intersubjektivitätstheorie), lässt sich dem Text nicht mehr entnehmen. Der dritte der erhaltenen fragmentarischen Entwürfe aus den Jahren 1794 und 1795 trägt die Überschrift Hermokrates an Cephalus, bricht aber schon nach wenigen Zeilen mitten im Satz ab. Immerhin enthalten die Namen, die im Titel vorkommen, ein paar Informationen. Beide gehören nämlich zu dem Personal, das in Platons Dialog Timaios vorkommt: Hermokrates und Kritias sind die beiden Gesprächspartner des Sokrates, während Kephalos (= Cephalus), der Gastgeber des vorausgegangenen Dialogs über den Staat, gleich zu Beginn des Dialogs als heute fehlend gemeldet wird. Die Staffage des wohl als brieflich gedachten Gesprächs ist also eindeutig platonisch und das ist wohl auch als eine absichtsvolle Botschaft zu verstehen, bei dem Autor, der etwa gleichzeitig in einer Vorrede zu seinem Roman Hyperion das Stoßgebet laut werden lässt: »Heiliger Plato, vergieb! man hat schwer an Dir gesündigt!« (MA 1, 559) Die inhaltlichen Probleme, die in dem Text aufgegriffen werden, sind freilich anachronistischer Weise keinesfalls antike, sondern solche der gerade gegenwärtigen philosophischen Diskussion um die Möglichkeiten der Konstitution eines Systems der wissenschaftlichen Philosophie. Friedrich Niethammer hatte die Frage in das Zentrum seines Vorberichts zur Eröffnung des von ihm begründeten Philosophischen Journals gestellt und dabei eine gewisse Skepsis gegenüber dem fichteschen Modell der unendlichen Annäherung an den Tag gelegt. Vielleicht spielt Niethammer auch sonst im Hintergrund der Konzeption unseres Textes eine Rolle. Der hier angeredete Cephalus verdankt seinen Namen dem griechischen Wort für Kopf, képhalos; das »Köpfchen« war aber der Spitzname, den der kluge Niethammer im Kreis der Tischrunde Schillers bekommen hatte (vgl. Berger 1911, 114). – Jedenfalls bricht der Text ab mit einer skeptischen Wendung gegen die Möglichkeit der Vereinigung von Hyperbel und Asymptote. Der Vergleich mit dem Verhältnis zwischen Hyperbel und Asymptote ist inhaltlich analog zu der anderen geometrischen Metapher, die H. in der schon erwähnten Vorrede zur Vorletzten Fassung des Hyperion gebraucht, der unmöglichen Vereinigung der »bestimmten und der unbestimmten Linie« (MA 1, 558; vgl. Franz 1997). Unendliche Annäherung ist nach den Maßstäben der antiken euklidischen Geometrie gerade keine Vereinigung. Zugleich stehen
»unbestimmt« und »bestimmt« für die beiden platonischen Prinzipien »bestimmte, d. h. begrenzte Einheit« und »unbestimmte Zweiheit«, die den Kosmos vorformatierten. Es scheint, als ob H. sich mit diesem Text noch einmal in die philosophische Grundlagendebatte einschalten wollte, die im Jahr 1795 von Niethammers Philosophischem Journal angeregt worden war. Die Kritik am Theorem von der »unendlichen Annäherung« zeigt, dass auch das Auftreten Fichtes die Allianz von »Kant und Platon«, die H.s philosophisches Denken bestimmte, nicht auseinanderbrechen konnte. Fichte wird hier aus der platonischen Prinzipienlehre kritisiert, die für H. offenbar die gleiche Autorität hat wie sonst nur die kantische Theorie.
24.2 Seyn, Urtheil, Modalität (1795) Entstehung Das Einzelblatt wurde nach seiner Erstveröffentlichung 1961 durch Friedrich Beißner (StA 6, 216 f.) von Dieter Henrich anhand des orthographischen Profils des Texts auf den zweiten Jenaer Aufenthalt H.s (und zwar »vor dem 20. April« 1795) datiert (Henrich 1967, 77). Beißner machte zudem die Beobachtung, dass es »Klebespuren an der linken Kante« der rectoSeite (also der Seite, die mit der Urteils-Definition beginnt) gebe (StA 4.2, 737). Sie führten ihn auf die Vermutung, »daß das Blatt ursprünglich Vorsatzblatt in einem Buche war« (ebd.). Die Suche nach diesem vorauszusetzenden Buch, das ja auch einen terminus post quem für die Datierung der H.schen Notiz liefern könnte, blieb lange erfolglos, bis Friedrich Strack (2014) ein Exemplar eines Separatdrucks von Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (1795/96) ausfindig machte, das fast (aber hinreichend) genau das ungewöhnliche Format des H.schen Blatts aufweist. Der schellingsche Auftrag zur Herstellung dieser Sonderdrucke ist in seinem Briefwechsel dokumentiert (Schelling HkA III.1, 30 und 40). Die Vorgeschichte des von Strack in der Rostocker Universitätsbibliothek entdeckten Separatdrucks, dessen Vorbesitzer (Anton Wilhelm Nordhof, der gleichzeitig mit Schellings Bruder Karl Eberhard in Jena Medizin studierte) den Erhalt des Exemplars auf »Jena 1800« datiert hat, schließt jedoch aus, dass es sich bei dem Rostocker Exemplar um dasjenige handelt, das zuvor in H.s Besitz gewesen könnte (gegen die irrige Annahme Stracks 2014, 16). Aufgrund dieser Entdeckungen lässt sich nun als terminus post quem für die Niederschrift der H.schen Notiz der No-
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vember 1795 festlegen, denn in diesem Monat erschien die erste Abteilung von Schellings Philosophischen Briefen in Friedrich Niethammers Philosophischem Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten (im »siebenten Heft« S. 177–203). Schelling und H. haben sich im Dezember 1795 in Tübingen getroffen und »sprachen nicht immer accordirend miteinander« (MA 2, 615). Bei dieser Gelegenheit wird Schelling H. einen Separatdruck der ersten Abteilung seines neuesten Werks überreicht haben. Dass H. seine Notiz auf ein Vorsatz- oder Deckblatt dieser schellingschen Publikation aufgeschrieben hat, bestätigt die Annahme, dass sein Text vor allem in Auseinandersetzung mit Schellings frühen Aufsätzen entstanden ist (vgl. schon Franz 1987, 109–111). Analyse und Deutung Der Text gliedert sich, wie die Handschrift deutlich zeigt, in drei Abschnitte. Jeder dieser drei Abschnitte beginnt mit einer begriffliche Verhältnisse klärenden Definition, der erste Abschnitt mit der Definition von »Seyn«, der zweite mit der Definition von »Urtheil« und der dritte mit der Definition des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Bei den Ausdrücken »Seyn«, »Urtheilung« und dem Unterschied zwischen den Modalbegriffen handelt es sich offenbar um drei grundlegende Sachverhalte, die im Anschluss an die jeweiligen Definitionen erläutert werden. Dass es sich freilich nicht um voneinander isolierte Sachverhalte handelt, die keinen Zusammenhang miteinander aufwiesen, wird durch die in konträrem Gegensatz zueinander definierten Ausdrücke »Seyn« und »Urtheilung« deutlich gemacht: »Seyn« ist ein Ausdruck für die Vereinigung von Subjekt und Objekt, »Urtheil« dagegen ein Ausdruck für die Trennung von Subjekt und Objekt. Zumindest diese beiden ersten Definitionen stehen also in einer genau bestimmten Relation zueinander. Der Zusammenhang, der die Definition der Modalbegriffe mit den Definitionen von »Seyn« und »Urtheil« verbindet, ist nicht manifest dargelegt im Text. Er muss durch systematische Betrachtungen gefunden werden. Nun gehört die Lehre vom Urteil ebenso wie die Lehre von den Modalbegriffen nach traditionellem wie nach modernem Verständnis in die Logik. Zwischen Modalbegriffen und Urteil besteht insbesondere dann ein besonderes Verhältnis, wenn die Modalbegriffe als Satzoperatoren aufgefasst werden (also »de dicto« gebraucht werden). Dann nämlich bestimmen sie den epistemologischen Status des Urteils, auf das
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sie angewendet werden, mit. Diese Auffassung der Modalbegriffe findet sich bei Kant auf eine besondere Art und Weise formuliert: »Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt, (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte,) sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht.« (KrV B 99–100) Modalbegriffe tragen zum »Inhalt« des Urteils nichts bei, weil der Inhalt eines Urteils ausschließlich nach den Kategorien der Quantität, Qualität und Relation bestimmt wird. Insofern unterscheiden sich die Modalbegriffe also fundamental von den anderen Kategorien. Worin besteht dann aber ihre Funktion für das Urteil? Kant sagt: Sie beziehen sich auf den »Wert der Copula« und bestimmen dessen »Beziehung auf das Denken«. Das heißt: da die Kopula durch das Verb »sein« (bzw. eine seiner Flexionen) ausgedrückt wird, bestimmt sich ihr »Wert« in der Spezifizierung, ob ein »Wirklich-sein« oder ein »Möglich-sein« oder ein »Notwendig-sein« gemeint ist. Die Funktion der Modalbegriffe im Urteil besteht also in ihrem Bezug auf die Kopula »Sein«. Durch diese kantische Auffassung werden die Modalbegriffe also nicht nur zum Urteil in Beziehung gesetzt, sondern sogar in besonderer Weise auf die Kopula, auf das »Sein« im Urteil bezogen. Unter Zuhilfenahme dieser kantischen Theorie der Modalbegriffe lässt sich also ein Zusammenhang zwischen allen drei Hauptbegriffen von H.s Text rekonstruieren (vgl. so schon Franz 1987). Der schwache Punkt dieser systematischen Rekonstruktion freilich besteht darin, dass der Begriff »Kopula« in H.s Text völlig fehlt und der H.sche Begriff von »Sein« auch nicht auf logische Sachverhalte beschränkt werden kann. Als nützlich erweist sich jedenfalls die Annahme, dass H. alle drei Hauptbegriffe seiner Notiz in einem wörtlichen und einem übertragenen Sinn gebraucht. Dabei ist der wörtliche Sinn jeweils ein logischer, der übertragene Sinn dagegen ein metaphysischer: »Sein« im logischen Sinn als Kopula, im metaphysischen dagegen als Zustand der »Einigkeit« (»Innigkeit«); Urteil im bekannten logischen Sinn und im metaphysischen als »Urtheilung« von Subjekt und Objekt, die Modalbegriffe im logischen Sinn als Bestimmungen des Werts der Kopula im Urteil und im metaphysischen als die Rangordnung unter den Erkenntnisvermögen bestimmend. Eine Denkbewegung ist charakteristisch für den gesamten Text: logische Termini werden durch ihren metaphorischen Gebrauch gewissermaßen »erhoben« in den
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»Stand« metaphysischer Begriffe. Dieser methodische Ansatz eint den Text zu einem Ganzen. Nun zu den einzelnen Abschnitten des Texts, zunächst zu H.s Begriff von »Seyn«. Bekannt ist Aristoteles’ Aussage in der Metaphysik, dass das »Sein« auf vielfache Weise ausgesagt wird (vgl. Metaphysik, VII.1 ff.). Die prominentesten Kandidaten zur Bestimmung des »Sinns von Sein« sind seit Aristoteles: »Sein« als Kopula im Urteil, »Sein« als Identitätszeichen und »Sein« als Ausdruck für »Existenz«; als viertes möchte ich noch hinzufügen: das »Sein« als Substanz, so wie es Jacobi postuliert hat. Die Schwierigkeit mit der »mannigfachen Bedeutung des Seins« war H. sehr wohl bewusst, sonst hätte er nicht in der Vorrede zur vorletzten Fassung des Hyperion die Präzisierung »das Seyn, im einzigen Sinne des Worts« gebraucht. Damit bezieht sich H. nun eigens auf die metaphysische Bedeutung des Wortes »seyn«, die er an vielen Stellen des Romans emphatisch gebraucht. Der Begriff, den H. an wichtigen Stellen fast synonym mit »Sein« gebraucht, lautet: »Leben« (vgl. Hyperion 2, 91, 103). Der Zusammenhang, in dem hier von dem Sein als dem »Leben« die Rede ist, macht deutlich, dass H.s Begriff von »Leben« nicht der gewöhnliche engere ist, sondern ein so weiter, dass er auch die pränatalen und postmortalen Zustände des jeweils einzelnen Lebens mit umfasst. Solches »Leben« ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Einmal durch die in den beiden Zitaten hervorgehobene »Freiheit«: »Was lebt, bleibt selbst in seiner Knechtsform frei« und »in der göttlichen Welt« gibt es keine »Herren und Knechte«. Zum anderen durch die Einheit und »Gleichheit«, die unter allen Lebenden herrscht: es ist »sich alles gleich«, was ein »Leben« ist, und »was lebt, bleibt Eins«. Man könnte noch hinzufügen, dass dieses »Leben« neben der Freiheit und der Gleichheit auch wohl die »Brüderlichkeit« implizieren dürfte. Immerhin ist der Gedanke gedacht in der folgenden hymnischen Stelle im Hyperion: »Eines zu seyn mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen. Eines zu seyn mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wie derzukehren in’s All der Natur, das ist der Gipfel der Ge danken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe [...] / Eines zu seyn mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zür nenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewigeinigen Welt, wie die Regeln des ringenden Künst lers vor seiner Urania [...]« (Hyperion 1, 10/11)
Das Innewerden dieses »Lebens«, dieses »Seins«, geschieht freilich in einem Vorgang, der nicht Bewusstsein ist, weil er keine Trennung von Subjekt und Objekt zulässt, oder, wie H. in Seyn, Urtheil, Modalität (im Folgenden: SUM) sagt, der eine solche Vereinigung voraussetzt, bei der »gar keine Theilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen zu verlezen, das getrennt werden soll« (MA 2, 49, Z. 19–21; 26–28). Diese von H. sonst auch »Innigkeit« genannte, vorbewusste Form des »Seins« wird in der »intellektualen Anschauung« erreicht. Hier ist es nötig, auf die Formulierungen zu achten. Die intellektuelle Anschauung ist keine Form der Erkenntnis, des Wissens oder Bewusstseins. Das »Seyn« ist also nicht »Gegenstand« der »intellektuellen Anschauung«, sondern, vorsichtig formuliert: es wird von ihr »erreicht«. »Gegenstände« sind Objekte und setzen die Trennung von Subjekt und Objekt voraus, die aber gerade ausgeschlossen sein soll. »Sein« ist also nicht »Gegenstand« der »intellektuellen Anschauung«. H. hat sich geschickt um die Schwierigkeit herumgedrückt, wenn er formuliert, dass bei der »intellektuellen Anschauung« von einem »Seyn« die Rede sei; also in dem Sinn: wenn man von der intellektuellen Anschauung spricht, dann muss dabei vom »Seyn« die Rede sein. Den Zusammenhang zwischen »Seyn« und »intellektualer Anschauung« hat H. später noch in einem konkreten Zusammenhang seiner poetologischen Entwürfe zur Tragödientheorie (s. Kap. 17) deutlich zu machen versucht. In dem Aufsatzentwurf, der mit den Worten beginnt »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht ...«, schreibt er von den »Werken« der tragischen Gattung, dass ihnen allen »Eine intellectuale Anschauung zum Grunde liegen [muß,] welche keine andere seyn kann, als jene Einigkeit mit allem, was lebt« (MA 2, 104). Also das »Gefühl« der »Einigkeit mit allem, was lebt« ist die »intellectuale Anschauung«. Allerdings habe ich nun die Ergänzung »das Gefühl« vorgenommen, weil es gegen die terminologischen Sitten verstieße, eine Anschauung »Einigkeit« zu nennen. Das Missliche auch an diesem Wort »Gefühl« ist, dass es eigentlich ein Objekt fordert oder es zumindest erlaubt, während die intellektuelle Anschauung ja vor aller Trennung in Subjekt und Objekt und daher völlig unbewusst vor sich geht. H. selbst ist allerdings an der zitierten Stelle in der Folge sogar so unvorsichtig, davon zu sprechen, jene »Einigkeit mit allem, was lebt«, werde »vom Geiste erkannt« (ebd.). Selbst wenn man berücksichtigt, dass der »Geist« für H. auf jeden Fall bewusstseinstranszendierende Dimensionen hat, also nicht eingeschränkt ist auf das, was mit dem Verstand
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zu verstehen und mit der Vernunft zu vernehmen wäre, so ist der Terminus »erkennen« hier jedoch fehl am Platz. H. hat dieses terminologische Problem genauso wenig gelöst wie seine Zeitgenossen Fichte und Schelling, wenn diese sich auf das Feld der »intellectuellen Anschauung« wagen – gelegentlich gebraucht H. aber auch einen anderen wichtigen Begriff, um das, was er mit dem emphatischen Begriff von »Seyn« sagen will, ausdrücken zu können: »Der Tod ist ein Bote des Lebens, und daß wir jetzt schlafen in unseren Krankenhäusern, diß zeugt vom nahen gesunden Erwachen. Dann, dann erst sind wir, dann ist das Element der Geister gefunden!« (Hyperion 1, 54 f.) Das Sein, als Synonym des schönen Lebens, ist hier als das »Element der Geister« apostrophiert. Die Geister, das sind die mit Begeisterungsfähigkeit ausgestatteten Wesen, zu denen neben den Göttern auch die Engel und Menschen gehören, ja auch noch viele Tiere. All diese mit Geist ausgestatteten Lebewesen haben ihr (gemeinsames) »Element« im »Seyn«. Das heißt: Sein ist die gemeinsame, vereinende Sphäre des schlechthin Einfachen. Aus diesem Einfachen nimmt der Geist sein Leben. Der zweite Abschnitt bietet nun die spektakulärste Pointe des Textes, die berühmte Schein-Etymologie des Wortes »Urteil«. Violetta Waibel (1995) hat herausgefunden, dass Fichte diese Pointe schon in seiner von H. besuchten Platner-Vorlesung im WS 1794/95 dargeboten hat (s. Kap. 12): »Urtheilen, ursprünglich theilen; und es ist wahr: es liegt ein ursprüngliches Theilen ihm zu Grunde.« Im Übrigen hat auch Hegel diese Etymologie von Urteil später in seiner Logik aufgegriffen: sie wird ihm im Frankfurt-Homburger Kreis um H. und Sinclair zum ersten Mal begegnet sein (s. Kap. 5). Bemerkenswert an der Behandlung des Urteils ist die Gegenüberstellung von theoretischer und praktischer Ur-teilung. Der Form nach ähnelt sie der Unterscheidung, die Fichte in der Grundlage macht, nämlich zwischen antithetischem und synthetischem Urteil. Jedenfalls nennt Fichte als Paradigma für das synthetische Urteil den Satz ›Ich bin Ich‹, für das antithetische den Satz ›Ich bin nicht gleich dem Nichtich‹ (Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Gesamtausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., 1.2, 276–278). Und er macht auch deutlich, dass das synthetische Urteil die theoretische Philosophie, das antithetische die praktische Philosophie prägt. Von daher liegt die Gegenüberstellung eines theoretischen und eines praktischen Urteils, wie sie H. vornimmt, nahe. Wichtig für das Verständnis von H.s Ansatz im Vergleich zum fichteschen ist freilich, dass theoreti-
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sche und praktische »Urtheilung« bei H. einander parataktisch koordiniert sind. Das heißt, es ist nicht eines dem anderen irgendwie prinzipiell vorgeordnet oder untergeordnet. Vielmehr sind beide deshalb einander nebengeordnet, weil beide abkünftig und untergeordnet sind gegenüber dem nur in intellektueller Anschauung erreichbaren »Seyn«. Dies führt auf eine Eigenheit der H.schen Konzeption, die in eben dieser Nebenordnung von Theorie und Praxis besteht, und sich dadurch von den Programmen etlicher Kantianer und dann auch Fichtes unterscheidet. Der »Primat der praktischen Vernunft« galt allgemein als Kennzeichen vor allem der fichteschen Philosophie. In Tübingen war diese Theorie unter den Studenten einerseits sehr en vogue, andererseits aber von Hegel und von Schelling beispielsweise in Zweifel gezogen worden. Auch Friedrich Niethammer, zunächst der erste Brückenkopf der Tübinger in Jena, hatte gewisse Bedenken gegen diese Theorie des Primats der praktischen Vernunft angemeldet, und zwar zuletzt noch im Vorbericht zur Eröffnung des Philosophischen Journals. H.s Gegenkonzeption, die gleichberechtigte Koordination von theoretischen und praktischen Bestrebungen, findet sich an vielen Stellen ausgesprochen. Wir haben sie gesehen in dem Text über die Einbildungskraft, wo die organisierenden Vermögen Verstand und Vernunft Parallelfälle darstellen; wir finden sie in dem Text Hermokrates an Cephalus, wo Handeln und Wissen darin übereinkommen, dass sie das Ideal beide nie erreichen, und deshalb nebeneinander gestellt werden; auch in einem wichtigen Brief an Schiller vom September 1795 treten das »System des Denkens« und das »des Handelns« gleichberechtigt nebeneinander auf, wobei sie auch hier deshalb gleichberechtigt sind, weil sie beide nur durch »unendliche Annäherung« dem »ästhetischen« Ideal sich nähern, es aber nicht erreichen (MA 2, 595 f.). Und schließlich finden sich auch in den Reden des Hyperion-Romans entsprechende Stellen, am deutlichsten an der berühmten Stelle aus der Vorrede zur Vorletzten Fassung: »Die seelige Einigkeit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Εν και Παν der Welt, um es herzu stellen, durch uns Selbst. Wir sind zerfallen mit der Na tur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, wi derstreitet sich jezt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch, als wären wir
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Alles und die Welt Nichts. [...] // Jenen ewigen Wider streit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endi gen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all’ unseres Strebens, wir mögen uns darüber ver stehen oder nicht. // Aber weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Da seyns dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist; [...] // Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sin ne des Worts, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu vereinigen, wir dächten und wir handelten nicht, es wäre überhaupt gar nichts, (für uns) wir wären selbst nichts, (für uns) wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden – als Schönheit [...]« (MA 1, 558)
Von dem ursprünglich einigen Sein teilt sich das menschliche Wesen in die Gegenüberstellungen von Wissen und Handeln, die als Überwiegen des Ichs, resp. des Selbst einerseits, als Überwiegen des Nichtichs, resp. der Welt andererseits verstanden werden; dieser Zustand der Urteilung ist zugleich – und das ist ein für den späteren Hegel wichtiger Gedanke – das Wechselspiel von Herrschaft und Knechtschaft, von Über- und Unterordnung an sich gleichrangiger Positionen. Neben Sein und Urteilung aber gibt es in oder auf dieser Welt als drittes die Schönheit, in der sich gewissermaßen das Sein als »seelige Einheit« restituiert. Weil das Schöne nicht ein in unendlicher Annäherung nur illusionär zu erreichendes ideales Ziel ist, deshalb kann es ein Ende des Widerstreits von Wissen und Handeln, von Theorie und Praxis geben. An der Stelle, an der, nach der Systematik der Hyperion-Reden, die Schönheit zu erwarten wäre, ist in SUM freilich von den Modalbegriffen die Rede. H. argumentiert hier auf der Basis des kantischen (um die Wirklichkeit erweiterten) Begriffs von Modalität. Und er hält sich dabei sehr nahe an einige Stellen der KrV, an der Kant darlegt, was nach seiner Auffassung das Besondere an den Modalitätskategorien und ihren Grundsätzen ist. Kant betont mehrfach, dass die Modalbegriffe (auch derjenige der Existenz oder Wirklichkeit) den Inhalt des Urteils nicht erweitern (B 100), sondern nur »subjektivsynthetisch« sind (B 286 f.). Sie fügen, sagt Kant, »zu dem Begriffe eines Dinges, (Realen,) von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu, worin er entspringt und seinen Sitz hat, so, daß, wenn er bloß im Verstande mit
den formalen Bedingungen der Erfahrung in Verknüpfung ist, sein Gegenstand möglich heißt: ist er mit der Wahrnehmung [...] im Zusammenhange [...], so ist das Objekt wirklich; ist er durch den Zusammenhang der Wahrnehmungen nach Begriffen bestimmt, so heißt der Gegenstand notwendig.« (B 286) Die Modalbegriffe bestimmen dem Begriff, den das Urteil bildet, seinen jeweiligen subjektiven Ursprungsort: Sie bestimmen das Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt, welches über dieses Objekt urteilt. Mit anderen Worten: sie stiften, unter den Bedingungen der ›Ur-Teilung‹, einen Zusammenhang zwischen den getrennten Teilen Subjekt und Objekt. Insofern ist ihre Funktion eine solche, die in H.s systematischen Zusammenhang den dritten, die Trennung überwinden sollenden Platz einnehmen muss. Die Indizierung der subjektiven Ressource, aus der ein jeweiliges Urteil geschöpft ist, als Funktion der Modalbegriffe im Urteil: diesen Gedanken übernimmt H. also von Kant. Und auch die Zuordnung stimmt überein: Möglichkeitsurteile »entspringen« dem Verstand und »haben ihren Sitz« in ihm, Notwendigkeitsurteile hingegen stammen aus dem, was Kant etwas umständlich den »Zusammenhang der Wahrnehmungen nach Begriffen« nennt, und was bei H. kurz Vernunft heißt; die Wirklichkeitsurteile haben ihre Quelle und angestammten Wohnsitz in der Wahrnehmung. Die Unterscheidung zwischen »unmittelbarem« und »mittelbarem« Bewusstsein, mit der H. seinen dritten Abschnitt beginnt, dient zunächst nur der Abgrenzung gegen eine Auffassung, nach der die Gegenstände der Vernunft als solche durch den Modalbegriff der Möglichkeit zu kennzeichnen seien. Und eine solche Auffassung findet sich nur bei Schelling. Die Hauptstelle steht schon in Schellings kleiner Abhandlung Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, die gegen Ende 1794 erschienen ist. Der entsprechende Satz Schellings lautet: »nur die Form der Möglichkeit ist unbedingt, dagegen selbst absolute Bedingung aller Wirklichkeit« (Schelling, Werke, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff., 1.1, 295). Das ist die These, gegen die H. polemisiert. Von dieser möglichen Polemik abgesehen ist klar, dass H. sich auf die kantische Modaltheorie beruft, insofern er die Funktion der Modalbegriffe als Aufweis der subjektiven Ressource für ein jeweiliges Urteil bestimmt. Die Modalbegriffe dienen also der »Vergegenwärtigung« der Verbindung von Objekt und Subjekt, die allem Urteil vorausliegt. Rein formal,
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d. h. hier funktional betrachtet, haben sie also durchaus die Stelle im systematischen Aufbau, welche der Schönheit zugekommen war nach den Reden des Hyperion, die das »verlorene« Sein vergegenwärtigt und vorhanden sein lässt. Die Frage, wie das Thema der Modalbegriffe inhaltlich, nicht nur funktional im Rahmen der Systematik von SUM, mit dem der Schönheit in H.s Denken zusammenhängt, lässt sich freilich nur im Blick auf spätere Texte, vor allem auf Wenn der Dichter ..., beantworten. Die Modalbegriffe sind Platzhalter der zukünftig auszuarbeitenden Poetologie. Wenn – wird H. 1800 sagen – die Bestimmung des Menschen sich eigentlich erst erfüllt in der Bestimmung des Dichters, und wenn die Bestimmung des Dichters sich darin ausdrückt, dass er seinen Stoff mit freier Wahl sich aussucht, anstatt ihn als gegeben hinzunehmen, dann kann sein Kriterium für diese Stoffwahl eben nur darin bestehen, dass er prüft, ob der ins Auge gefasste Stoff sich als Wirklichkeit, als Möglichkeit oder als Notwendigkeit darstellen lässt. Wenn nicht, so handelt es sich eben um keinen Stoff zur Dichtung. Wenn ja, dann deshalb, weil die modale Qualifizierung garantiert, dass der Stoff eben seinen Ursprung und angestammten Sitz in einem der subjektiven Vermögen des Menschen hat.
24.3 Fragment philosophischer Briefe (1796/97) Entstehung Bei dem Text handelt es sich um den fragmentarisch überlieferten Teil eines Handschriftenkonvoluts, das H. auch für einige Oden-Entwürfe des Jahres 1799 benutzt hat. Verschiedene Indizien jedoch deuten darauf hin, dass der Text nicht in den Kontext der poetologischen Aufsätze von 1799/1800 gehören kann. So hat schon Lawrence Ryan 1960 dafür argumentiert, dass der (traditionellerweise »Über Religion« genannte) Text einige Jahre vor den Homburger Aufsätzen geschrieben worden sein müsse. Außerdem gibt es gewisse Motivwanderungen, die ihn verbinden mit den H.schen Übersetzungen (s. Kap. 27) aus der Antigone des Sophokles (vgl. MA 2, 54, Z. 25), die wohl in den Sommer 1796 gehören, und aus der Hecuba des Euripides (vgl. die »Pflichten der Hospitalität« in MA 2, 55, Z. 10 f.), die vermutlich gegen Ende des Jahres 1796 angefertigt worden sind. (Für die schwierigen Fragen der Textedition vgl. Franz 2002).
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Analyse und Deutung Es sind im Wesentlichen drei Textabschnitte erkennbar, die jeweils einem bestimmten Gedankengang sich widmen. Da ist zunächst der vordere Brief, nennen wir ihn Brief A, obwohl er vielleicht nicht der erste im Text war; von diesem Brief ist kein Anfang überliefert, er erreicht aber ein Ende, das durch einen waagerechten Strich deutlich gekennzeichnet ist. Dann folgt darauf ein weiterer Brief, nennen wir ihn Brief B, der also einen eindeutigen Anfang hat, aber am Ende mitten im Satz abgebrochen wird, womit die Briefe dann ein Ende haben. Denn der dritte Abschnitt ist nur vorläufiger Entwurf und trägt die Überschrift »Winke zur Fortsetzung«. Er bricht mitten im Satz, aber am Ende einer Seite ab, auf der Rückseite eben jenes Blattes beginnt jedoch schon ein Odenentwurf aus dem Jahr 1799; vermutlich ist also der Text am Ende aufgegeben worden. Der erste Textabschnitt, der Rest von Brief A, besteht aus einem »Beweis« samt dazugehörigen Korollarien für eine These, die auf den nicht erhaltenen Seiten vorher entworfen worden sein muss. Die Frage, auf welche diese These die Antwort gegeben haben muss, von der wir hier nur den »Beweis« noch vorfinden, die ursprüngliche Frage muss wohl gelautet haben: »wie haben die Menschen erfahren, daß ein Geist ist in der Welt?« Wobei mit »Geist« hier das gemeint sein soll, was »mehr als Maschinengang« ist. Also im Sinne von Kants Kritik der Urteilskraft »Geist« als ein Zwecke setzendes schöpferisches Vermögen. Damit zugleich ein Vermögen, dessen Annahme uns vor dem Fatalismus schützt. Die Frage also lautet: wie haben die Menschen das »erfahren«, dass »ein Geist, ein Gott ist in der Welt«. Im Hyperion heisst es: »Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wieder hohlt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich sel ber fühlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine Götter. Denn im An fang war der Mensch und seine Götter eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war.« (Hyperi on 1, 141 f.)
»So gab der Mensch sich seine Götter« – das ist die These, die 40 Jahre vor Feuerbach erstaunlich wirkt. Im Fragment philosophischer Briefe begegnet uns diese Theorie in etwas gemilderter Form. Hier haben es die Menschen »erfahren«, dass ein Geist, ein Gott ist in der Welt. Diese Erfahrung, dass ein Geist, ein Gott ist in der Welt, kommt aber nur auf eine ganz bestimmte
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Art und Weise zustande. Sie kommt nämlich weder durch eine Rückbesinnung des menschlichen Subjekts auf sich selbst zustande, noch wird sie durch die den Menschen umgebenden Objekte verursacht. Diese Erfahrung kann vielmehr nur durch und in der »lebendigeren Beziehung« zwischen dem Subjekt und Objekt gemacht werden. »Lebendiger« ist diese Beziehung, insofern sie »über die Nothdurft erhaben ist«. »Nothdurft« nennt H. hier immer alles Gezwungensein. Die »Lebendigkeit«, von der hier die Rede ist, ist daher eine Art des Freiseins, aber zugleich auch wieder im Rahmen einer Gemeinsamkeit, denn es handelt sich ja um eine Beziehung zwischen Einem und »dem, was ihn umgiebt«. Also diese Beziehung ist lebendiger (als im Falle der »Nothdurft«), und daher also freier und gleichberechtigter und gewiss auch brüderlicher. Es ist das jeweilige Leben, aus dem die Vorstellung von Gott, als dem »Geiste, der in diesem Leben herrsch[t]«, hervorgeht. Aus dieser lebendigen Beziehung zwischen einem individuellen Menschen und dem, was ihn umgibt (seiner »Sphäre«), rührt die Erfahrung von Geist her. Insofern ist es dann nur folgerichtig anzunehmen, dass Gottesverehrung eine individuelle, und daher vielfältige Angelegenheit des Menschen ist. Jeder Mensch »hätte demnach seinen eigenen Gott« und es gäbe so viele Religionen wie Menschen. Im Prinzip ja, sagt H. – nur verringert sich das Vielfältige und Verschiedene durch zwei normalerweise eintreffende Umstände. Einmal fusionieren die Menschen ihre Sphären, bzw. leben gemeinsam in bestimmten Sphären. Insofern können sie dann auch die unterschiedlichen Gotteserfahrungen zu einer gemeinschaftlichen fusionieren, und einen gemeinsamen Gott (in Familie, Sippe, Stamm und Staatsverband) haben. Und zum anderen können sie, so wie sie die Sphären anderer, mit ihnen wenig gemeinsam habender Menschen, immerhin respektieren und tolerieren, auch die unter Umständen »beschränkteren Vorstellungsweisen von Göttlichem« der Anderen respektieren und tolerieren, bzw. wie es im Text heißt: »Es ist [...] Bedürfniß der Menschen, [...] ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem [...] sich einander zuzugesellen.« (MA 2, 52) Aus den nun einerseits geteilten, andererseits aber als verschiedene belassenen Vorstellungsarten entsteht nun »ein harmonisches Ganzes von Vorstellungsarten« (ebd., Z. 10 f.). Diesem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten muss dann auch ein harmonisches Ganzes von Lebensweisen entsprechen. Soweit der Gedankengang des ersten Textab schnitts, also des Briefs A. Was er vorauszusetzen
scheint, bzw. was er für selbstverständlich hält, ist ein sehr protestantisches, um nicht zu sagen pietistisches Verständnis von Religion. Die entsprechende Wendung, die das am deutlichsten macht, heißt: »einen Gott haben«. Religiös sein heißt »einen Gott haben«. Dieses gewissermaßen subjektivistische Religionsverständnis hat in den Werken des Reformators Martin Luther immer wieder den eindrucksvollsten Befürworter. Die klassische lutherische Orthodoxie unterschied zwischen der »Fides qua« und der »Fides quae«, also zwischen dem Akt des Glaubens und dem Gegenstand des Glaubens, wobei dieses Begriffspaar zur Universitätszeit H.s und Hegels gewissermaßen offiziell (durch eine akademische Rede des Kanzlers Le Bret; s. Kap. 10) auch schon »subjektive« vs. »objektive Religion« genannt wurde, eine Gegenüberstellung, die der junge Hegel eine ganze Weile noch weiterbenutzt. Für den in Württemberg vor allem auch unter den Lehrern verbreiteten Pietismus (s. Kap. 3) war natürlich jene »objektive Religion«, um deren ordentliche Bestandsaufnahme die altprotestantische Orthodoxie sich zwei Jahrhunderte bemüht hatte, das weniger wichtige an der Sache. Es »glänzet der Christen innwendiges Leben«, so lautete die Devise. Dem Pietismus kam es – neben der praxis pietatis – vor allem auf die fides qua an, die fides quae, also der Lehrgehalt, das war weniger wichtig. H. ist in seiner Kindheit und Jugend in einem typisch pietistischen Milieu aufgewachsen, dessen Betonung der subjektiven religiösen Erfahrung es ihm leicht machte, in das Bekenntnis Lessings einzustimmen, die »orthodoxen Begriffe von der Gottheit« hätten für ihn keine Gültigkeit mehr. Der zweite Teil unseres Texts, der Brief B, stellt nun eine weitergehende Frage. Nach der Beantwortung der Frage, wie die Menschen erfahren haben, dass ein Geist, ein Gott ist in der Welt, wird nun die Frage hinterhergeschickt, warum sich die Menschen denn überhaupt ein Bild machen müssen von dem, was sie da erfahren haben. Warum tun sie das, wo es sich doch um eine Erfahrung handelt, die sich »weder recht denken ließe noch auch vor den Augen liege« (MA 2, 53). Die Antwort des Briefschreibers lautet etwas lapidar, dass sich der Mensch eben auch dadurch und darin »über die Nothdurft erhebt« (d. h. sich zu lebendigen Verhältnissen emporringt), dass »er sich seines Geschiks erinnern« und »für sein Leben dankbar seyn kann und mag« (MA 2, 53). Diesen Vorgang des Erinnerns beschreibt H. als eine Wiederholung des wirklichen Lebens. Insofern es in diesem wirklichen Leben um eine »Befriedigung« ging, geht es auch beim geistigen Wiederholen (dem »Erinnern«) dieser Be-
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friedigung um eine Befriedigung, aber um eine »unendlichere« Befriedigung. Diese Befriedigung besteht wohl im Gefühl des Danks. Es bleibt nur die Frage, wie diese »geistige Wiederholung« des wirklichen Lebens, wie diese Erinnerung, wenn aus ihr denn der Dank hervorgehen soll, vonstatten gehen muss. Hier kommt nun sofort eine jener »weder – noch«Bestimmungen, die für H.s Argumentationen typisch sind. Der »unendlicherere Zusammenhang« zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Umgebung, kann »weder blos in Gedanken, noch blos im Gedächtniß wiederholt werden« (MA 2, 54). Gedanke und Gedächtnis können das, was sie beinhalten, nur auf abstrakte Weise »blos für sich und nicht im Leben begriffen« (MA 2, 54, Z. 29 f.) enthalten. Es muss also noch eine andere Art geben, nach der die Erinnerung und der Dank das wirkliche Leben wiederholen. H. wird diese andere Art am Ende seines Textes »poëtisch« nennen und das konkrete Beispiel solcher poetischer Erinnerungsarbeit eine »Mythe« (s. Kap. 19). Zunächst schiebt er noch eine Bemerkung dazwischen, die sein Verhältnis zu anderen ihm zeitgenössischen Auffassungen verdeutlichen soll. Er kritisiert, dass die Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umgebung in der Moderne gewöhnlich als moralische oder ästhetische Angelegenheiten betrachtet werden, während »die Alten«, d. h. die Antike, »jene zarten Verhältnisse als religiose« Verhältnisse betrachteten. Sie taten das deshalb, fügt H. hinzu, weil sie wussten, dass man diese Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt »nicht so wohl an und für sich, als [vielmehr] aus dem Geiste betrachten müsse, der in der Sphäre herrsche, in der jene Verhältnisse stattfinden«. (MA 2, 55) Der »Geist«, der die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt regelt, ist eben kein moralisches oder ästhetisches, sondern ein religiöses Phänomen, d. h. eines, das über die Beschränktheit menschlicher Moral und menschlicher Ästhetik hinausgeht. In diesem Zusammenhang gebraucht H. den Begriff »höhere Aufklärung«, der in diesem Kontext aber nichts anderes heißt als »höhere Bildung«: wir dünken uns gebildeter als die »Alten«, aber die »höhere Aufklärung, die uns größtentheils abgeht«, über die die »Alten« aber verfügten, besteht gerade darin, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt als »religiöses« zu begreifen. Im dritten und letzten Teil des erhaltenen Textes, den Winken zur Fortsetzung, lautet der Hauptsatz, »daß die religiösen Verhältnisse in ihrer Vorstellung weder intellectuell, noch historisch, sondern intellectuell historisch, d. h. Mythisch sind, sowohl was ihren
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Stoff, als was ihren Vortrag betrifft.« (MA 2, 56) Dieser Satz soll eine Definition dessen geben, was das »Mythische« ist. Aus diesem Grund schreibt H. vermutlich den Begriff hier im Text mit großem Anfangsbuchstaben. »Mythisch« ist dasjenige, was »weder intellectuell noch historisch, sondern intellectuell[-]historisch«, also, wie es bei späterer Gelegenheit im Text heißt, »beedes in Einem« ist. Zwei Fragen ergeben sich: erstens, was meinen die Begriffe »intellectuell« und »historisch« hier, und zweitens, was ist das für eine Struktur, dieses »weder A noch B, sondern beides in Einem«? Zur Beantwortung der ersten Frage muss der geistesgeschichtliche Kontext herangezogen werden. Der Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne (1729– 1812) hat seit den 1770er Jahren eine Hermeneutik des Mythos entwickelt, die erstmals eine methodisch reflektierten Umgang mit den Mythen der klassischen Antike ermöglichte. Nach Heyne handelte es sich beim Mythos – und er war derjenige, der dieses griechische Wort zum Fachterminus gemacht hat – um eine besondere Sprachform, deren Sinn nach den Regeln der Hermeneutik zu eruieren war. Diese Heynesche Mythentheorie wandte sich also gegen die bis dato herrschende Auffassung des Mythos als einer Art charmanten Lügenmärchens. Auch der Mythos will eine Wahrheit sagen, die man freilich erst durch eine Rekonstruktion seines Sinns herausfinden kann. Zu diesem Zweck hat schon Heyne, vor allem dann aber sein Schüler Johann Gottfried Eichhorn, die Mythen in zwei Unterarten unterteilt, nämlich in philosophische Mythen und historische Mythen. Philosophische Mythen sind solche, denen es um eine eher allgemeine (metaphysische oder ethische) Botschaft geht, historische Mythen solche, denen es dagegen um den historischen Ursprung bestimmter Vorkommnisse auf der Erde geht. H. war mit diesen Fragen der hermeneutischen Mythenauslegung vertraut. Man kann daher annehmen, dass er mit den beiden Prädikaten »intellectuell« und »historisch« eben auf den Unterschied zwischen philosophischem und historischem Mythos verweisen will, der in der Heyne-Eichhornschen Mythenhermeneutik aufgestellt worden war. Das Erklärungsinteresse eines Mythos konnte sich einerseits auf Historisches beziehen (z. B. auf die Herkunft von Herrschergeschlechtern oder dgl.), oder es konnte auf eine allgemeine Einsicht über die Welt gerichtet und daher ein intellektuelles sein. Die Erklärungen, die der Mythos liefern möchte, wären demnach einerseits historische, andererseits intellektuelle. Nun besteht H.s
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Korrektur gegenüber der Heyne-Eichhornschen Mythentheorie aber nicht nur darin, dass er den Terminus ›philosophisch‹ durch den Terminus ›intellektuell‹ ersetzt. Vielmehr ist der Mythos nach H. nicht entweder intellektuell, oder historisch, wie das in Heynes ursprünglicher Theorie gedacht war. Er ist aber auch nicht nur gelegentlich intellektuell, gelegentlich historisch, wie in der überarbeiteten Theorie der Heyne-Schüler. Sondern er ist »weder intellectuell, noch historisch, sondern beedes in Einem«. Eine solche Struktur (»weder A noch B, sondern A und B in Einem«) scheint das Kennzeichen jener harmonischen Ganzheit zu sein, die H. als Schönheit oder – zunehmend spezifizierend – als Poesie bezeichnet. Weil die Schönheit z. B. weder Natur, noch Freiheit, sondern beides in Einem, weder Subjektives noch Objektives, sondern beides in Einem, weder theoretisches Bewusstsein, noch praktisches Handeln, sondern beides in Einem ist, darum enthält sie immer eine dreigliedrige Struktur. Die platonischen Prinzipienzahlen sind immer noch das beste Beispiel, das diesen Sachverhalt intelligibel darstellt. Die »Drei« der platonischen Trias entsteht durch das Aus-sich-herausgehen (»próhodos«) der ursprünglichen Einheit (»moné«), die sich entzweit und als ihr anderes sich zurückwendet (»epistrophé«) in eine neue Einheit von Einheit und Zweiheit. Diese Einheit und Andersheit (»Zweiheit«) vereint, »beedes in Einem«, formt die Dreiheit, die daher sowohl als Prozess als auch als Ergebnis des Prozesses gesehen wird. H.s Applikationen dieses (neuplatonischen) Denk-Musters (das eben sowohl einen diachronen, prozeduralen Sinn hat, als auch einen synchronen, symphonischen) auf seine Fragestellungen bezüglich des »Gesangs«, also seine Erprobungen auf dem Gebiet der Poetologie, nutzen diese doppelte Brauchbarkeit des Schemas sowohl für den prozeduralen Aspekt im Sinne der Aufeinanderfolge dreier Töne (Melodie), als auch im Dreiklang von Tönen, der »Harmonie«. In beiden Anwendungsformen ist das »harmonische Ganze« darstellbar als die »poëtische Dreieinigkeit«, von der H. in einem späteren Brief spricht (MA 2, 861). In den Winken zur Fortsetzung kommt H. dann am Ende darauf zu sprechen, wie sich diese »Weder-nochsondern-beides-in-Einem«-Struktur sowohl auf den Stoff, als auch auf den Vortrag der Mythe auswirkt. Hierbei handelt es sich nun tatsächlich um noch sehr vorläufige erste Versuche, die klassischen drei Dichtarten (Epik, Lyrik, Tragik) auf der Basis der für sie jeweils charakteristischen Stoff- und Behandlungsart zu deduzieren. H. hat diese Herleitung später in den
Homburger Aufsätzen mehrfach in sicherem Gedankengang dargelegt, während er hier stecken bleibt und die Systematik nicht komplettiert. Das ist ein sehr gewichtiges Argument dafür, dass H. in diesem Text erst auf dem Weg ist zu jenen sehr viel sichereren Gedankengängen, die wir in den Homburger Aufsätzen (poetologische Entwürfe, s. u.) antreffen. Zugleich aber scheinen sich erste Abweichungen von dem abstrakten Ansatz zu ergeben. Bei der Bestimmung des »Stoffs« der Mythe wäre es ja auch hier schon möglich gewesen, zur Verdeutlichung des Kriteriums für die Auswahl der elementaren Stoffsorten auf die Modalbegriffe zurückzugreifen, wie H. es in Wenn der Dichter einmal des Geistes ... ja dann auch getan hat. Hier, in den Winken zur Fortsetzung stellt er zunächst einander gegenüber »Ideen oder Begriffe oder Karaktere« auf der einen, »Begebenheiten, Thatsachen« auf der andern Seite. Das erinnert teilweise an die später in Wenn der Dichter ... vorgenommene Charakterisierung des Stoffs: dort ist die Rede von erstens »Begebenheiten«, zweitens »Bestrebungen Vorstellungen Gedanken, oder Leidenschaften«, und schließlich drittens »Phantasien« (MA 2, 80). Es scheint, als ob es die dritte Kategorie, die »Phantasien«, sei, die hier noch nicht zur Verfügung steht, bzw. an deren Stelle H. einen »Gott der Mythe« setzt. Den »Begebenheiten« aus den Winken entsprechen »Begebenheiten« in Wenn der Dichter ..., und den »Ideen« der Winke dürften wohl die »Vorstellungen Gedanken« in Wenn der Dichter ... entsprechen. »Begebenheiten« aber haben ihre »subjektive Ressource« in der Wahrnehmung und Anschauung, betreffen also »Wirkliches«, wie der Modalabschnitt von SUM klargemacht hatte, während die »Ideen« als »Gegenstände der Vernunft« einzuordnen wären und damit nach SUM durch den Begriff der Notwendigkeit zu kennzeichnen. Dass H. in den Winken diese Strategie von SUM nicht anwendet, spricht dafür, dass unser Text in einem gewissen zeitlichen Abstand zur Jenaer Konzeption steht, also nicht schon Ende 1795 geschrieben sein kann, sondern vielleicht erst ein Jahr später aufgesetzt wurde. H. möchte als sein Argumentationsziel festhalten, dass die »Vorstellung von den religiösen Verhältnissen«, d. h. die Art, wie das Verhältnis eines Individuums zu seiner Umgebung »vorgestellt« wird, »mythisch« ist, d. h. aber eben »poetisch« ist. Deshalb, weil die Vorstellung vom Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Gott seiner »Sphäre« als Mythos konzipiert wird, »wäre alle Religion poëtisch«. »Poëtisch«-sein heißt freilich, einen Stoff und eine Behandlungsart (resp. »Vortrag«) haben, die durch eine
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bestimmte Struktur von »Harmonie« gekennzeichnet ist. Das Charakteristikum der harmonischen Struktur besteht in jenem »weder-noch, sondern beides in Einem«. Diese Struktur ist von H. erarbeitet worden, um den eigentümlichen Charakter von poetischer Schönheit darzustellen.
24.4 Aufsätze zur Poetologie Die Texte, die von H.s Bemühungen um Poetologie und Poetik noch erhalten sind, lassen sich in mehrere Gruppen aufteilen. In einer ersten Gruppe sind schon zusammengefasst die in der MA so genannten Frankfurter Aphorismen. Vielleicht wurde diese Reinschrift im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines Journals angefertigt, das H. im Sommer 1799 herauszugeben plante, aber schon Ende des Jahres wieder aufgab. In diesen biographischen Kontext gehört auf jeden Fall eine zweite Gruppe von Aufsatzprojekten, deren Ton deutlich populärer ist (in der MA unter der Rubrik Journal-Aufsätze zusammengefasst: 2, 62–71). Eine dritte Gruppe von Texten hängt handschriftlich und thematisch eng mit dem Projekt der EmpedoklesTragödie zusammen. Die letzte Gruppe von Texten zur Poetologie kann nur durch das äußere Kriterium zusammengefasst werden, dass sie fast alle einem einzigen handschriftlichen Zusammenhang angehören, dem sogenannten Stuttgarter Foliobuch, einem sehr umfangreichen Handschriften-Konvolut, in dem H. von 1799 bis 1801 gearbeitet hat. Frankfurter Aphorismen Entstehung
Es handelt sich um eine Reinschrift von 7 kleineren Texten, die, nach einigen Indizien zu schließen, wohl noch in Frankfurt geschrieben sind, etwa 1797 und 1798. Das Papier, auf dem sie (aus nicht mehr vorhandenen Entwurfsmanuskripten) ins Reine geschrieben wurden, ist sonst nur im Jahr 1799 belegt. Die inhaltlichen Indizien, die dafür sprechen, dass die einzelnen Aphorismen noch in Frankfurt (also vor Oktober 1798) konzipiert worden sind, sind solche der Motivgleichheit. So gibt es im letzten der Aphorismen inhaltliche Parallelen zu einem Stammbucheintrag für Daniel Andreas Manskopf vom Juni 1798, was dafür spricht, dass der Text schon soweit durchformuliert war, dass er für den Stammbucheintrag aus dem Gedächtnis (wenigstens ähnlich) reproduzierbar war. Andererseits greift der dritte Aphorismus fast zitathaft
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auf briefliche Empfehlungen Schillers vom November 1796 zurück. Hatte Schiller die »philosophischen Stoffe« zu meiden geraten (»so werden Sie weniger in Gefahr seyn, die Nüchternheit in der Begeisterung zu verlieren« MA 2, 641), mahnt H. (sich selbst): »Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Gränze deiner Begeisterung« (MA 2, 58). Im vierten Aphorismus begegnet das einzige wörtliche Spinoza-Zitat in H.s Schriften (»das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet« MA 2, 59), das freilich schon in Schellings Schrift Vom Ich (1795) zu dessen Wahlspruch gemacht worden war (»Was geht über die stille Wonne dieser Worte, das ›Εν και πᾱν unsers besseren Lebens?«, in: Werke, 1.2, 111), nach dem Vorgang Jacobis, der in seinem Spinozabuch von dem »Lichte« gesprochen hatte, das, nach Spinoza, »sich selbst, und auch die Finsterniß erleuchtet« (Jacobi 1789, 40). Auch das Zitat der Definition des »Charakteristischen« aus Heinses Ardinghello, das im vorletzten Aphorismus als solches bezeichnet ist (MA 2, 60, Z. 2), passt eher in die Szenerie der Frankfurter und Bad Driburger Gespräche mit dem Kunstliebhaber. Im Sommer 1799 hat H. offensichtlich aus älteren Manuskripten Material exzerpiert, das er in der einen oder anderen Form für sein Journal glaubte gebrauchen zu können. Analyse und Deutung
In diesen sieben Aphorismen bemüht sich H. um einige wichtige Begriffe seines Dichtungsverständnisses, vornehmlich den Begriff der Begeisterung, sowohl zum Zwecke der rein theoretischen Klärung als auch mit dem Ziel, daraus möglichst verallgemeinerbare Maximen für den Dichter ableiten zu können. Dabei legt es H. wieder darauf an, die Gegensätze miteinander zu vereinigen, um zu einem »harmonischen Ganzen« zu gelangen. Philosophisch ist der vierte dieser Aphorismen der ergiebigste, zumal er die grundlegende Frage nach dem Zusammenhang der Poesie mit der Philosophie erörtert. Er ist im Übrigen auch der zentrale Aphorismus in der Siebener-Komposition. Seine erste Hälfte lautet: »Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im Ganzen ihres Systems, in seine Zeit und Stelle sezt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Diß ist auch die höchste Poësie, in der auch das Unpoëtische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poëtisch wird.« (MA 2, 59) Hier scheint nun auf den ersten Blick ein heftiger Angriff vorgetragen zu werden gegen die traditionellen Vorstellungen von Wahrheit und Irrtum. Ein Angriff auf das Fundament aller Grundsätze der
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Logik, die den Irrtum nirgendwo erlauben, ihm also keine »Zeit und Stelle« zubilligen. Möglich scheint dieser Angriff nur aufgrund eines Wahrheitsbegriffs, der offenbar Steigerungen, d. h. Grade, und am Ende auch einen Superlativ (die »wahrste Wahrheit«) erlaubt. Einen solchen Wahrheitsbegriff sind Philosophen geneigt, als unprofessionell zu verwerfen und ins Reich der literarischen Sprache zu verweisen. H.s These bestimmt die »wahrste Wahrheit« als eine Art »übergreifendes Allgemeines« zu Wahrheit und Irrtum, bzw. als den Wahrheit und Irrtum »übergreifenden« Begriff. Auf diesen Begriff des »übergreifenden Allgemeinen« bringt später Hegel die platonische »Dialektik« der Spätdialoge, die zeigen könne, wie Nicht-Sein und Sein im (übergreifenden Allgemeinen) Sein vereint seien (vgl. Hegel: Geschichte der Philosophie, TWA 19, 62– 86). Aber wie Hegel selbst wählt H. sich meistens als Beispiel eines »übergreifenden Allgemeinen« nicht den Begriff »Sein«, sondern lieber den des »Lebens«. Vielleicht auch deshalb, weil das »Leben« vielleicht nicht »die Lebenden und die Toten« umgreift, aber ins Allgemeine erhoben, sowohl das Leben, als auch den Tod einbegreift. In der hegelschen Logik wie auch in H.s Denken wäre z. B. auch der Begriff »Leben« ein solcher übergreifender Allgemein-Begriff, insofern nämlich, als die Kategorie »Leben« sowohl das Leben als auch den Tod »umgreift«. Das Bild, das H. hier gebraucht, stammt von Spinoza: »Sane sicut lux se ipsam et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi est.« Auf deutsch: »Wohl wie das Licht sich selbst und die Finsternis offenbar macht, so ist die Wahrheit Norm ihrer selbst und des Falschen.« (Ethica, Pars II, Scholium zu Prop. XLIII) Der letzte Satz wird häufig zitiert. Zu erläutern ist er wie folgt: das Prädikat »wahr« unterscheidet sich von anderen Prädikaten dadurch, dass seine Negation in ganz anderer Weise an es angeschlossen ist, als das bei anderen Prädikaten der Fall sein kann. Nehmen wir den Fall des Prädikats »rot«. Wenn wir wissen, dass etwas nicht »rot« ist, dann wissen wir so gut wie nichts über den fraglichen Gegenstand. Denn »nicht rot« kann buchstäblich »alles mögliche« sein. Im Fall des Wahrheitsprädikats ist das aber entschieden anders. Wenn wir wissen, dass etwas nicht »wahr« ist, dann wissen wir alles, was wir brauchen, nämlich, dass es »falsch« ist. Im Fall des Wahrheitsprädikats ist die Negation viel strikter an die Affirmation angeschlossen als bei allen anderen Prädikaten. Der Satz »dies ist nicht rot« ist, in Kants Terminologie, ein »unendliches Urteil«, weil er eben unendliche Möglichkeiten der Interpretation oder der Exemplifizierung hat. Der Satz »dies ist nicht
wahr« ist ein genau bestimmtes Urteil und hat einen vollständig unterscheidbaren Sinn. H. unterscheidet das »Wahre« und den »Irrtum« (i. e. das »Falsche«) als die beiden in der »wahrsten Wahrheit« enthaltenen Momente. Er hat damit auf allgemeinster Ebene (d. h. auf der Ebene der »höchsten Gattungsbegriffe«) eine logische Struktur etabliert, die als die Struktur der »übergreifenden Allgemeinheit« bestimmt werden kann. Es ist dies aber zugleich die Struktur, die wir aus dem Fragment philosophischer Briefe kennen als die »Weder-noch-sondern-beides-in-Einem«-Struktur. Diese Struktur war dort als das Merkmal des »Poëtischen« eingeführt worden. Insofern ist es nun nicht mehr überraschend, wenn H. auch hier in unserem Aphorismus fortfährt: »Diß ist auch die höchste Poësie, in der auch das unpoëtische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poëtisch wird.« Tatsächlich ist also die »Poësie« – und damit wird sowohl auf den Vorgang des Dichtens, als auch auf das Ergebnis dieses Vorgangs Bezug genommen – ihrerseits ein »übergreifendes Allgemeines«, insofern sie eben auch ihr eigenes Gegenteil mit übergreift, mit einbegreift, nämlich das »Unpoëtische«, resp. das »poëtisch« Falsche oder Irrige. Es zeigt sich, dass H. in diesem Aphorismus noch mit jener Aufgabe beschäftigt ist, seine grundlegenden Annahmen zur Prinzipientheorie auszubauen zu einer prinzipientheoretisch begründeten Poetologie. Am nächsten kommt einem solchen Versuch einer prinzipientheoretisch begründete Poetologie der lange Entwurf Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist .... Dass er so verhältnismäßig zügig niedergeschrieben werden konnte, spricht dafür, dass ihm viele Diskussionen mit den Freunden Hegel, Sinclair, Zwilling und Böhlendorff vorausgegangen sind. H. wird da von einer Position aus argumentiert haben, die eine vollständige prinzipientheoretische Deduktion der Gattungen und der dichterischen Tonarten eigentlich vorausgesetzt hätte. Journal-Aufsätze (vgl. die Texte in MA 2, 62–71) Entstehung
Seinen Plan, »eine poëtische Monatschrift herauszugeben«, teilt H. am 4. Juni Neuffer mit (MA 2, 764). Er hat zu diesem Zeitpunkt, nach eignen Angaben, »die Hauptmaterialien für den ersten Jahrgang [...] gröstentheils schon fertig liegen«. Die geplanten eigenen Beiträge teilt H. selbst auf in drei Kategorien: »1) karakteristische Züge aus dem Leben alter und neuer Dichter« (genannt werden »Homer, Sappho, Aeschyl,
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Sophokles, Horaz, Rousseau. (als Verfasser der Heloise) Shakespeare p. p.«; »2) Darstellung des Eigentümlichschönen ihrer Werke, oder einzelner Parthien aus diesen.« Hier nennt H. u. a. auch einen Aufsatz »über die Iliade, besonders den Karakter Achills«, von dem Bruchstücke erhalten sind (Mich freut es ..., Am meisten aber lieb‹ ich ... und Ein Wort über die Iliade). Sie sind also vermutlich in den ersten fünf Monaten des Jahres 1799 entworfen worden. Aus diesen Briefen über Homer entwickelt sich dann aber in den Sommermonaten ein erster Versuch, eine Theorie der verschiedenen Tonarten (s. Kap. 15) der Dichtung zu begründen: Über die verschiednen Arten, zu dichten. Eher in die Anfänge des Journal-Projekts gehört das Aufsatz-Fragment, das H. Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben betitelt hat und dem eben dieser »Gesichtspunct« leider noch nicht zu entnehmen ist. Analyse und Deutung
H. selbst war offenbar der Meinung, dass seine poetologischen Theorien am besten sich auf der Basis von drei elementaren Tonarten der Dichtung darstellen ließen. Für sein Poetisches Journal, das er schließlich Iduna nennen wollte (vgl. MA 2, 778), hat er begonnen, eine populäre Einführung in seine Poetologie zu entwerfen, die diese drei Töne vorstellen sollte. Von diesem Versuch existieren mehrere Vorarbeiten in den Briefen über Homer. Aus ihnen entsteht dann der Text Über die verschiednen Arten, zu dichten. Nachdem die Vorarbeiten hauptsächlich dem homerischen Epos gegolten hatten, ist auch in dem letzten erhaltenen Versuch, eben jenem Über die verschiednen Arten, zu dichten, hauptsächlich von dem »natürlichen Ton« die Rede, der »vorzüglich dem epischen Gedichte eigen ist« (MA 2, 68). Es ist anzunehmen, dass H. auch die beiden anderen Töne entsprechend behandeln wollte, nämlich als eine bestimmte poetische Gattung charakterisierend. Es hätte also in diesem Text noch die Rede kommen müssen auf den heroischen Ton und die Tragödie, sowie auf den idealischen Ton und die Lyrik. Die Grundannahmen sind also: der für die Epik charakteristische Ton ist der natürliche oder naive, der für die Tragödie charakteristische Ton ist der heroische und schließlich ist der für die Lyrik charakteristische Ton der idealische. Wie sind nun diese drei Töne inhaltlich genauer zu beschreiben und gegeneinander abzusetzen? In dem geplanten Aufsatz Über die verschiednen Arten, zu dichten versucht H. eine solche Beschreibung durch das Gegenüberstellen von drei Arten mensch-
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licher Charaktere. So, wie es eben unter den Menschen den Charakter des eher natürlichen Menschen, den Charakter des eher energischen oder heroischen Menschen und schließlich den Charakter des eher idealischen Menschen gebe, so sei eben auch für die Dichtung eine solche Gegenüberstellung verschiedener Typen möglich, die eben auf die klassischen Dichtungsgattungen Epik, Tragik, Lyrik führe. Was nun diese drei Arten menschlicher Charaktere betrifft, so ist in dem Text nur eben gerade der natürliche, also der naive Charakter besprochen. Seine Kennzeichen sind »Einfachheit und Akkuratesse und Unbefangenheit« (MA 2, 67). »Bestimmt, klar, immer gleich und moderirt« ist sein »Wirken«, durch das wir uns »in einem Gleichgewichte, in Ruhe und Klarheit wiederfinden« (ebd.). Das Prädikat, das dem naiven Charakter in diesem Text am häufigsten zugesprochen wird, lautet: »Wirklichkeit«. Viermal wird das betont (MA 2, 69, Z. 6; 70, Z. 6; 70, Z. 24; 71, 12). Das erinnert sofort an den Modalitätsbezug von SUM und den späteren in Wenn der Dichter einmal ... Obgleich also die Kennzeichnung der anderen beiden Charaktere in unserem Text nicht mehr vorliegt, dürfen wir annehmen, dass der heroische Charakter wohl durch die Notwendigkeiten, in denen er gebunden ist, und der idealische Charakter durch die Möglichkeiten, welche sich seiner Phantasie eröffnen, gekennzeichnet werden kann. Entsprechend wäre dann die Tragödie der Ort, an dem es um heroische Auseinandersetzungen geht, und die Lyrik hätte es mit den idealischen Vorstellungen zu tun, in denen eine reflektierte geistige Einheit erzielt werden kann. Durch die Stichworte »heroische Auseinandersetzung« und »idealische Einheit« ist schon angedeutet, dass die Töne, ebenso wie die durch sie charakterisierten Dichtungsgattungen, auf der Basis der prinzipientheoretischen Begriffe von »Einheit« und »Entzweiung« konzipiert werden müssen. Der »naive Charakter« entspräche dann der ursprünglichen, unbewussten Einheit, der »heroische Charakter« der Entzweiung, und im »idealischen Charakter« müsste dann die Entzweiung in die geistige Einheit erhoben sein. Es wäre dann also auch von einer sich entwickelnden Reihenfolge auszugehen, von einer Sukzession der verschiedenen Töne, resp. einer Sukzession der Dichtungsarten. Tatsächlich hat H. sich auch schon verhältnismäßig früh entsprechende »geschichtsphilosophische« Gedanken gemacht. So schreibt er beispielsweise 1797 in einer Widmung an Sinclair in den ersten Band des Hyperion: »Meist haben sich Dichter zu Anfang, oder zu Ende einer Weltperiode gebildet. Mit Gesang steigen die Völker aus dem Himmel ihrer Kindheit ins thätige
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Leben, ins Land der Kultur. Mit Gesang kehren sie von da zurük ins ursprüngliche Leben. Die Kunst ist der Übergang aus der Natur zur Bildung, und aus der Bildung zur Natur.« (MA 3, 317) Solche Überlegungen hängen damit zusammen, dass schon für die antiken Griechen selbst es Homer und Hesiod gewesen sind, die den Anfang der griechischen Kultur markieren. In der Tat, in Griechenland hat die Dichtung – nach der damaligen Auffassung – mit der Epik begonnen. Freilich ist es dann auch klar, dass in der Geschichte der klassischen griechischen Literatur auf die Epik die Lyrik und erst auf diese wiederum die Tragik folgen. Dass die Lyrik von Sappho und Alkaios bis zu Pindar älter ist als die Tragödie, war H. natürlich bekannt. Entsprechend wäre die historisch richtige Reihenfolge also die von Epos, Lyrik und Tragödie. Prinzipientheoretisch betrachtet muss freilich die Tragik an zweiter Stelle stehen. Andererseits scheint H. in den späteren Anmerkungen zu den Trauerspielen des Sophokles (s. Kap. 25 ) den geschichtlichen Ort der sophokleischen Tragödie durchaus als ein Epochenende zu sehen (s. Kap. 17). Auch die Reflexionen, die H. gegen Ende der Arbeit an seinem Empedokles-Projekt aufschreibt, beginnen mit der Beschwörung des »untergehenden Vaterlands«. Insofern würde die Tragödie dann doch am jeweiligen Ende einer »Weltperiode« stehen. Diese Schwankungen in der Einordnung der Tragödie können entweder als Anzeichen dafür angesehen werden, dass H. hier während seines langen Wegs seine Auffassung geändert hat. Oder sie können so gedeutet werden, H. habe es in diesem Punkt nicht zur Konsistenz seiner verschiedenen theoretischen Ansätze gebracht. Geltend kann hier gemacht werden, dass es bei den drei Tönen nicht auf eine ein für alle Mal festgelegte Reihenfolge ankomme; tatsächlich führt H. auch die Gattungen an mehreren etwas späteren Stellen in drei verschiedenen Reihenfolgen auf: es finden sich die Abfolgen »EpikTragik-Lyrik« (MA 2, 108; 108 f.; 115), aber auch »lyrisch-tragisch-episch« (MA 2, 101; 107) und »lyrischepisch-tragisch« (MA 2, 102). Der Witz der drei Töne besteht weniger in ihrer Reihenfolge als in ihrer – allerdings durch bestimmte Gesetze eingeschränkten – Kombinierbarkeit. Insofern ist dann das Epos nicht mehr allein durch den naiven Ton bestimmt, die Tragödie nicht mehr allein durch den heroischen, die Lyrik nicht mehr allein durch den idealischen Ton. Dass die Reihenfolge naiv-heroisch-idealisch das prinzipientheoretische Urgeschehen wiederspiegelt, müsste dann nicht unbedingt heißen, dass die Töne nur auf diese eine Weise kombinierbar wären. Der Vergleich mit dem Modell der platonischen Prin-
zipienzahlen erweist sich auch hier als erhellend (s. o.). Die von H. angestrebte Kombinatorik zeigt, dass das Dreier-Schema (1–2–3) nicht mehr auf diese quasi arithmetische Reihenfolge festgelegt bleiben muss, d. h. dass die einzelnen ontologischen Zustände als für sich bestehend, bzw. reflektiert als solche betrachtet werden können. Das Anfängliche, Natürliche, Naive nicht nur als das erste im chronologischen Sinn, das Zweite, die Auseinandersetzung, nicht mehr nur als das Nachfolgende, bzw. eine Folge, sondern schon als das Entzweite und prinzipiell, d. h. nicht nur chronologisch, Zweisame. Die Einheit der Einheit und Entzweitheit schließlich, als kopulative Verbindung ist sie nicht mehr nur der dritte Zustand, sondern ein Zustand der Dreiheit, der auch auf einem ersten, anfänglichen Platz stattfinden kann. Die Kombinatorik beweist, dass H. die Konsequenzen seiner Prinzipientheorien überblickt hat. Die Prinzipientheorie hatte ja nicht einfach nur den ein-für-allemaligen Fall der Welt- oder Ideengeschichte beschreiben wollen, quasi als Bericht über ein Geschehen, sondern sie gibt drei hypostasierbare Momente des Einen, Universellen, die nicht nur in einer einzigen Anordnung Sinn ergeben, sondern wie Elemente eines Zeichensystems funktionieren, also z. B. wie die Buchstaben einer Schrift, die beliebig kombinierbar sind, aber freilich nicht in allen dieser beliebigen Kombinationen Treffer (oder Zutreffer) formulieren. Das gilt in gleicher Weise und vielleicht noch mehr für den bisher noch zu wenig beachteten kontrapunktischen Aspekt der Symphonie (die den eigentlich modernen »Satz« polyphoner Stimmen voraussetzt), den H. in der Gleichzeitigkeit des im »Stoff« wie im »Grund« und der »idealischen Behandlung« des Gedichts angesetzten »Tons« (naiv – heroisch – idealisch) zu bedenken unternimmt. »Harmonie« verströmt das Gedicht, wenn es eine plausible Reihenfolge der Töne mit der kontrapunktischen Symphonie der gleichzeitig erklingenden Töne in einer Komposition vereinen kann Poetologische Entwürfe (vgl. die Texte in MA 2, 77–110) Entstehung
Die Texte unter dieser Rubrik stehen allesamt – mit der Ausnahme des Schemas Löst sich nicht ... – im Stuttgarter Foliobuch, einem handschriftlichen Konvolut, das neben dem letzten Entwurf des Empedokles und ihn begleitenden Aufsatzfragmenten (Das untergehende Vaterland ...) vor allem Oden enthält, die vom Herbst 1799 an bis mindestens weit ins Jahr 1801 hier entwor-
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fen werden (vgl. die Beschreibung der Handschrift in MA 3, 18 f.). Der Entwurf »Das untergehende Vaterland ...« gehört handschriftlich wie inhaltlich enger mit den Empedokles-Arbeiten zusammen (zu seiner Deutung s. Kap. 19). Der Ton dieser Entwürfe ist deutlich anders als der der Journal-Aufsätze, nicht mehr im gleichen Maße um Popularität bemüht wie diese. Was die relative Chronologie der einzelnen Bruchstücke angeht, so lässt sich nur sagen, dass die Notizen Die Empfindung spricht ... und Der Ausdruck das karakteristische ... vor dem Beginn des Notats Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht ... anzusetzen sind, weil dieses letztere Notat den beiden ersten bei seiner Niederschrift ausweicht. Der Entwurf Wenn der Dichter einmal ... unterscheidet sich von den anderen theoretischen Texten dieses handschriftlichen Zusammenhangs durch seine Länge, die zudem in recht kurzer Zeit zustande gekommen sein muss. Für eine so ungewöhnliche Hartnäckigkeit H.s in theoretischen Belangen möchte man gern einen Anlass erschließen können. Im März 1800 ist Fichtes Bestimmung des Menschen erschienen (die Wendung »Bestimmung des Menschen« kommt auch in Wenn der Dichter ... vor, vgl. MA 2, 98), im April 1800 Schellings System des transcendentalen Idealismus (s. Kap. 12). Keines dieser beiden Werke wird H. kalt gelassen haben. Analyse und Deutung
Die Kombinatorik und kompositorische Kontrapunktion der drei Töne ist das, was H. (übrigens direkt nur an einer verhältnismäßig frühen Stelle aus der ersten Jahreshälfte 1799: MA 2, 64) »Wechsel der Töne« (s. Kap. 15) nennt. Mit diesem »Wechsel« ist nicht nur eine »Abwechslung«, eine »Succession«, eine Reihenfolge gemeint, sondern auch eine Art von Wechselwirkung oder Wechselspiel. Denn tatsächlich wird nun, gewissermaßen in einem zweiten Anlauf, jede Dichtungsgattung nicht mehr durch jeweils einen Ton charakterisiert, sondern durch eine Kombination von zwei wechselseitig wirksamen Tönen. Dieser zweite Anlauf muss im Übrigen keineswegs als Korrektur des ersten Versuchs in dem Journal-Aufsatz Über die verschiednen Arten, zu dichten angesehen werden. Dort mag diese einseitige Charakterisierung ja auch der vereinfachenden Didaktik gedient haben und insofern nur vorläufig gemeint gewesen sein. Dieser zweite Anlauf ist am kompaktesten dargestellt in dem folgenden Textsegment: »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht ist in seiner Bedeutung naiv. Es ist eine fortgehende Meta
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pher Eines Gefühls. // Das epische dem Schein nach naive Gedicht in in seiner Bedeutung heroisch. Es ist die Metapher großer Bestrebungen. // Das tragische, dem Schein nach heroische Gedicht, ist in seiner Be deutung idealisch. Es ist die Metapher einer intellec tuellen Anschauung.« (MA 2, 102)
Die Charakterisierungen des Epischen, Tragischen und Lyrischen, wie sie bisher gegeben worden sind, betreffen also nur einen äußeren »Schein«. Das epische Gedicht ist nur scheinbar »naiv«, das tragische nur scheinbar »heroisch«, das lyrische nur scheinbar »idealisch«. Durchschaut man diesen Schein, so wird man dessen ansichtig, dass die eigentliche »Bedeutung« des Epos in den heroischen »Bestrebungen« der Protagonisten liegt; dass die eigentliche »Bedeutung« der Tragödie auf einer »intellectuellen Anschauung« beruht; und dass die eigentliche »Bedeutung« der Lyrik in einem unmittelbaren »Gefühl« zu suchen ist. Nun ist freilich darauf zu achten, dass die Gegenüberstellung, beispielsweise beim lyrischen Gedicht, zwischen seinem idealischen Schein und seiner naiven Bedeutung, einen »Widerspruch« bedeuten, in den das Gedicht gerät. Dieser Widerspruch kann sich nur lösen, indem das jeweils dritte tonale Moment hinzutritt. So sind es also für das »lyrische Gedicht« die »energischen heroischen Dissonanzen«, die jenen »Widerspruch«, in den das lyrische Gedicht durch die Gegensätzlichkeit seines »Scheins« und seiner »Bedeutung« geraten ist, auflösen. Entsprechend ist es dann auch für die anderen Dichtungsgattungen: das jeweils dritte tonale Moment vermittelt zwischen den beiden wechselwirkenden Aspekten des »Grundtons« (des »Scheins«) und des »Kunstkarakters« (also der »Bedeutung«). Diese Auflösung der Entgegensetzung der Töne durch einen dritten hat nicht nur Ähnlichkeit mit der Art, wie Kant seine Urteils-Kategorien aus einander herleitet (vgl. Kants Anmerkung zur »Trichotomie« in der KU, LVII Anm.), sondern erhält auch aus der Analogie mit der Kompositionstechnik des Kontrapunkts eine gewisse Plausibilität. Erst durch einen hinzugesetzten dritten Ton erhält ein Akkord seine eindeutige Bestimmung als zu einer Tonart gehörig. H. hat diese Theorie am Ende dann in einem dritten Anlauf zu systematisieren versucht, und dieser Versuch liegt in dem längsten der erhaltenen Texte vor, der nicht ganz zu Unrecht von früheren Herausgebern »Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes« betitelt wurde. Er fängt mit einem ellenlangen Satz an, der mit den Worten beginnt »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ...«. Der gesamte Text steht,
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wie schon erwähnt, im Stuttgarter Foliobuch und H. hat die entsprechenden Seiten, was bei ihm ungewöhnlich ist, paginiert, mit 1 beginnend. Offenbar handelt es sich nicht nur um einen blitzartigen kurzen Einfall, den der Dichter rasch notiert, wie bei einigen anderen der Bruchstücke aus dem Stuttgarter Foliobuch. Hier hat H. offenbar noch einmal zusammenhängend intensiv und extensiv arbeiten wollen an den Problemen der Grundlegung einer Poetik. Die Hauptthese des Aufsatzes ist eine These über die »Bestimmung des Menschen«. Sie lautet: die Bestimmung des Menschen liegt eigentlich in dem, was die Bestimmung des Dichters ist. Das ist eine Fortbestimmung dessen, was schon seit 1795/96, seit der Vorrede zur Vorletzten Fassung des Hyperion H.s Botschaft ist: weder im Wissen noch im Handeln erreicht der Mensch seine Bestimmung, sondern nur in der schönen Kunst und Dichtung. Diesen Gedanken als den Hauptgedanken von H.s langem Text über die Verfahrungsweise herauspräpariert zu haben, ist das Verdienst von Michael Konrad, der in einer Dissertation von 1967 einen bis heute unübertroffenen, genauen Kommentar zu unserm Text gegeben hat. Konrad stellt gleich zu Anfang seines Buchs klar, dass nach H. die »Bestimmung des Dichters« »mit der Bestimmung des Menschen identisch [ist]«. Er belegt das aus dem Text, wo es ausdrücklich heißt: »Und wenn es der Gang und die Bestimmung des Lebens überhaupt ist, ... also wenn diß der Gang und die Bestimmung der Menschen überhaupt zu seyn scheint, so ist ebendasselbe der Gang und die Bestimmung aller und jeder Poesie« (MA 2, 97; 98; vgl. Konrad 1967, 30). In Wenn der Dichter ... geht es im Wesentlichen um drei Themenkomplexe, deren erster um poetologische Brennpunkte herum organisiert ist, d. h. um die Fragen nach der Wechselwirkung zwischen Stoff und Geist, und nach der Vermittlung durch ein Drittes, die den Wechsel zu einer Reihenfolge moderiert. Der zweite Themenkomplex betrifft ein noch einmal fast rein philosophisches Thema, nämlich die Möglichkeit von Selbstbewusstsein (s. Kap. 12), und der dritte bahnt eine auf die geschichtliche Gegenwart bezogene Implementierung der Poetologie an (s. Kap. 16 und19). 1) Der erste Themenkomplex steuert nach einigen Windungen schließlich auf die folgende Frage zu: »Wie muß nun der Stoff beschaffen sein, der für das Idealische [...] vorzüglich receptiv ist?« Also, wie muss der Stoff beschaffen sein, der für eine »idealische Behandlung«, wie sie der Künstler vornimmt, tauglich ist? – H. antwortet auf diese seine Frage mit einer Aufzählung
der elementaren Kategorien von dichterischem Stoff: »Der Stoff ist entweder eine Reihe von Begebenheiten, oder Anschauungen Wirklichkeiten [...], oder er ist eine Reihe von Bestrebungen Vorstellungen Gedanken, oder Leidenschaften, Nothwendigkeiten [...] oder eine Reihe von Phantasien Möglichkeiten [...]«. (MA 2, 80) Die drei Elemente von Stoff, die es gibt, sind also exemplifiziert durch einerseits »Begebenheiten«, andererseits »Bestrebungen« und drittens »Phantasien«. Diesen drei Stoff-Elementen wird nun – und zwar, wie man in der Handschrift sehen kann: nachträglich, aber noch im selben Schreibvorgang – jeweils eine der drei Modalkategorien zugeordnet. Den »Begebenheiten« die Wirklichkeit, den »Bestrebungen« die »Notwendigkeit« und den »Phantasien« die Möglichkeit. Hierin muss man eine deutliche Wiederaufnahme des Modalitätenabschnitts von SUM sehen (s. o.). Beim Stoff der Dichtung handelt es sich also entweder um Gegenstände der Wahrnehmung, oder um Gegenstände des Verstandes oder um Gegenstände der Vernunft. Das heißt: der Stoff der Dichtung präsentiert sich dem Dichter auf eine Art und Weise, die schon durch verschiedene seiner Erkenntniskräfte vorverarbeitet und geprägt ist. Insofern behandelt die »Poësie«, wie H. in den Anmerkungen zur Antigonä (s. Kap. 25) sagen wird, »die verschiedenen Vermögen des Menschen, so daß die Darstellung dieser verschiedenen Vermögen ein Ganzes macht«, im Gegensatz zur Philosophie, die immer nur jeweils eins dieser »Vermögen der Seele« behandelt (vgl. MA 2, 369), also immer nur jeweils theoretische oder praktische oder Naturphilosophie ist. Der Dichtung geht es hingegen »um das »Zusammenhängen der selbstständigeren Theile der verschiedenen Vermögen« der menschlichen Seele (ebd.). Kategorial hängen die verschiedenen Seelenvermögen zusammen nach Art der Modalbegriffe. Die »poëtische Logik«, die nach H. die »verschiedenen Successionen« der verschiedenen Stoffelemente auf kalkulable Weise »entwikelt«, ist eine Logik, die auf den Zusammenhang der Modalbegriffe aufgebaut ist, bzw. auf die verschiedenen Sukzessionsarten der Kategorien Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit. Entsprechende Versuche, kalkulierbare Sukzessionen der poetischen Elemente des Stoffes, wie seiner gedanklichen Bearbeitung (»Idealische Darstellung«) aufzustellen, hat H. dann auch in Tabellen aufgezeichnet (vgl. z. B. MA 2, 101 f. und 108 f.). An der Stelle in Wenn der Dichter ..., an der H. in größter Ausführlichkeit die Kategorien des Stoffes aufzählt (Begebenheiten ..., Bestrebungen ..., Phantasien ...) und sie durch die Modalitätskate gorien charakterisiert (Wirklichkeiten, Notwendigkei-
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ten, Möglichkeiten), fährt er fort mit einigen Bemerkungen hinsichtlich der geistigen Behandlung dieses Stoffs: »In allen drei Fällen muß er [sc. der Stoff] der idealischen Behandlung fähig seyn, wenn nämlich ein ächter Grund zu den Begebenheiten, zu den Anschauungen, die erzählt, beschrieben, oder zu den Gedanken und Leidenschaften, welche gezeichnet, oder zu den Phantasien, welche gebildet werden sollen, vorhanden ist.« (MA 2, 80) Bedingung dafür, dass der Stoff idealisch behandelt werden kann, ist es also, dass er einen »ächten Grund« erhält: »Dieser Grund des Gedichts, seine Bedeutung, soll den Übergang bilden zwischen dem Ausdruk, dem Dar gestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem eigentlich aus gesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste, der idealischen Behandlung.« (MA 2, 80)
Entsprechend noch einmal eine Seite später: »Zwischen dem Ausdruke (der Darstellung) und der freien idealischen Behandlung liegt die Begründung und Bedeutung des Gedichts.« (MA 2, 81) H. unterscheidet damit drei Ebenen der poetischen Gestaltung: den Stoff, die geistige oder idealische Behandlung und die Bedeutung des Gedichts. Dabei trägt die Bedeutung immer jeweils den Charakter, der in der normalen (prinzipientheoretisch begründbaren) Reihenfolge naiv-heroisch-idealisch der folgende ist. Ist der Stoff naiv, wird seine Begründung heroisch sein, ist er heroisch, wird seine Begründung idealisch sein, ist er idealisch, wird seine Begründung naiv sein. Die geistige Behandlung wird dann den jeweils dritten Charakter annehmen, so dass am Ende jedes Gedicht durch ein entsprechendes Gleichgewicht, bzw. eine entsprechende Aufeinanderfolge der drei Charaktere NaivHeroisch-Idealisch ausgezeichnet ist. H. hat, sowohl im Kontext des großen Aufsatzes über die poetische Verfahrungsweise als auch in den Tabellen, versucht, die geeigneten Aufeinanderfolgen und zum Akkord sich fügenden Synchronien der Charaktere oder Töne in Überblick zu bringen. In gewisser Weise ist das schon der Versuch eines poetischen Kalküls, der auf bestimmten Regeln der Kombinatorik beruht. Vergleichbar wäre ein solcher Versuch etwa den Ausarbeitungen der Syllogistik in der traditionellen Logik. Dort werden die korrekte Schlüsse ermöglichenden Kombinationen von Prämissen aus den formal möglichen Kombinationen von Sätzen herausgefiltert. 2) Überraschenderweise kommt H. in dem langen Entwurf über die poetische Verfahrungsweise nun auf
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das Thema zu sprechen, wie für das poetische Ich ein Selbstbewusstsein möglich sei (MA 2, 88, Z. 14–95, Z. 38). Er entwickelt dabei eine ausführliche Argumentation, die mit zum klarsten gehört, was der Dichter auf philosophischen Gebiet geschrieben hat. H.s Ziel ist hier, darzulegen, wie alle Versuche, Selbsterkenntnis durch eine direkte Selbstbeziehung zu erreichen, fehlschlagen müssen. Er unterscheidet nun noch einmal zwischen zwei – einander als Extreme gegenüberliegenden – (vergeblichen) Versuchen, dies zu bewerkstelligen. Der eine Versuch reduziert das Ich des Menschen, bzw. Dichters, auf seine »subjective Natur«, der andere liefert das Ich ganz an die »objective Sphäre« aus, in dem es dann aufgeht. Im einen Fall soll das Ich bloße Subjektivität sein, im andern nichts als objektiver Vorgang. Die Argumentation gegen diese beiden Versuche läuft aber genau gleich, insofern sich die Unmöglichkeit einer erkennbaren Identität für sie objektiv ebenso zeigt, wie sie sich subjektiv zeigen lässt. H. hat die Argumentation zunächst für den subjektiven Fall entworfen; sie wiederholt sich später im Text fast wortwörtlich für den objektiven Fall. Die erste Formulierung des Arguments lautet: »Indem nemlich das Ich in seiner subjectiven Natur sich von sich selber unterscheidet [...] so muß es entweder die Realität des Gegensazes, des Unterschiedes, in dem es sich selbst erkennt läugnen, und das Unterscheiden innerhalb der subjectiven Natur entweder für eine Täuschung und Willkür erklären, die es sich selbst als Einheit macht, um seine Identität zu erkennen, dann ist auch die Identität, als daraus erkannt, ein Täuschung«. (MA 2, 89 Anm.) Das Ich will sich selbst erkennen als mit sich selbst identisch. Um sich zu erkennen, muss es sich jedoch sich selber gegenübersetzen, sich von sich selber unterscheiden. Das folgt aus dem alten Axiom, das H. schon 1790 in der Auseinandersetzung mit Jacobi, 1794 dann in der ersten Auseinandersetzung mit Fichte gebraucht hatte: alles Erkennen ist nur durch Entgegensetzen möglich. Also muss das Ich sich von sich selber unterscheiden, um sich selbst zu erkennen. Diese Unterscheidung seiner von sich selbst – als Bedingung für Erkenntnis – muss aber andererseits aufgehoben werden, wenn das Ich sich als mit sich identisch erkennen will. Also muss es, wie H. (ebd.) sagt, »die Realität des Unterschiedes läugnen«, diesen Unterschied für eine Selbsttäuschung halten. In diesem Fall aber kann das Resultat des Erkenntnisversuchs nicht akzeptabel sein; denn die Erkenntnis wäre auf diese Weise erschlichen. Wenn das Ich den – zuvor angenommenen – Unterschied leugnet, dann ist keine Erkenntnis möglich. Also scheint nur noch die Mög-
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lichkeit übrig zu bleiben, den Unterschied zu akzeptieren. Dieser Versuch wird nun in dem zweiten Teil der Disjunktion durchgespielt: »oder – so lautet jetzt die Alternative – es [sc. das Ich] [...] nimmt die Unterscheidung von sich selber für (dogmatisch) real an, daß nemlich das Ich als unterscheidendes oder als vereinendes sich verhalte, je nachdem es in seiner subjectiven Natur, ein zu unterschiedendes oder ein zu vereinendes vorfinde; es sezt sich also als unterscheidendes und als vereinendes abhängig, und weil diß in seiner subjectiven Natur stattfinden soll, von der es nicht abstrahiren kann ohne sich aufzuheben, absolut abhängig in seinen Acten, so daß es weder als entgegensezendes noch als vereinendes sich selbst, seinen Act erkennt. In diesem Falle kann es sich wieder nicht als Identisch erkennen, weil die verschiedenen Acte in denen es vorhanden ist, nicht seine Acte sind ...« (MA 2, 89 Anm.) Dieser zweite Teil der dilemmatischen Argumentation ist komplizierter als der erste. Er greift nämlich die inhaltliche Auslegung der Unterscheidung des Ichs von sich selber noch einmal auf, die in der ersten Hälfte der Disjunktion vorgenommen worden war, die aber der Übersichtlichkeit wegen dort ausgelassen worden war. Es geht um Folgendes: Indem das Ich sich von sich selbst unterscheidet, als Erkenntnis-Subjekt einerseits, als Erkenntnis-Objekt andererseits, differenziert es sich in Eines, das die Gegenüberstellung vornimmt, und Eines, das die Identifizierung des Gegenüberliegenden vollzieht, also in ein Entgegensetzendes und ein Identifizierendes. H. beschreibt den Unterschied im Ich demnach als Unterschied zweier Tätigkeiten des Ichs. Es »sezt (sich) als Entgegengesezte Einheit im harmonischentgegengesezten, insofern dieses harmonisch ist, oder als Vereinende Einheit im harmonischentgegengesezten, insofern dieses Entgegengesezt ist ...« (ebd.). Aber schon in dieser Formulierung zeigt sich die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Akte des Entgegensetzens und Vereinens. Vereinen will sich das Ich mit sich selber, weil es sich zuvor sich gegenüber- oder entgegengesetzt hatte, und umgekehrt. In seinem Sich-entgegensetzen ging es ihm ja nur darum, seine Identität zum Gegenstand von Erkenntnis machen zu können. Kehren wir nun zurück zur oben schon zitierten zweiten Hälfte des Dilemmas. Wenn das Ich die Unterscheidung von sich selber als reale anerkennt, dann ergibt sich jedenfalls eine neue Aporie. Denn: ist der Unterschied des Ichs von sich selber angenommen als der Unterschied zwischen der entgegensetzenden Tätigkeit und der vereinenden Tätigkeit, so kann die Entgegensetzung nur unter Voraussetzung der Ver-
einigung und die Vereinigung nur unter Voraussetzung der Entgegensetzung aufgefasst werden. Jeder der beiden unterschiedlichen Akte ist vom Vorgang des anderen abhängig. Und so wird das Ziel des Versuchs, sich der Identität des agierenden Ichs zu versichern, wieder nicht erreicht. Dieser letzte Schritt des Gedankengangs ist noch offen für einen Einwand und bedarf der Erläuterung. Inwiefern steht die (gegenseitige) Abhängigkeit der Akte des Ichs der Identitätsfindung des Ichs entgegen? Die verschiedenen Akte des Ichs können nur so aufgefasst werden, dass sie, als jeweils vom andern hervorgerufene Reaktionen, Resultate sind, nicht ursprüngliche Tätigkeiten. Auf diesem Weg entsteht das Ich nur als Produkt seiner Akte, d. h. als Erkenntnisgegenstand. Die Identität des konstruierten Erkenntnisgegenstands mit dem erkennenden Subjekt – und diese Identität ist ja gerade die gesuchte – kommt auf diese Weise gerade nicht zustande. Jetzt ist die gesamte zweiteilige Argumentation, das komplette Dilemma überschaubar geworden: wenn das Ich sich – zum Zwecke der Erkenntnis der Identität seiner selbst – von sich selbst unterscheidet, so muss es entweder die Realität dieses Unterschieds leugnen, dann ist keine Erkenntnis möglich, oder die Unterscheidung wird für real genommen, dann ist keine Identität erreichbar. Diese Argumentationsweise wird dann in dem Aufsatzentwurf gleich noch einmal wiederholt für den Fall, dass die Unterscheidung zwischen dem Ich und seiner subjektiven Natur (oder parallel dazu: seiner objektiven Sphäre), also jenem subjektiven (oder objektiven) Erlebnisfeld, in dem es auch seine Akte ansetzen muss, wegfällt. Auch in diesem Fall stellt sich dieselbe Zwickmühle ein. Damit hat H. sein Argument gewissermaßen standardisiert. Aber was folgt aus diesem Argument nach H.s Auffassung? Was soll diese dilemmatische reductio ad absurdum zeigen? Nichts anderes, als dass das Ich (als poetisches Ich) sich durch eine interne Maßnahme nicht selbst auffassen kann. H. macht es einige Seiten später klar, dass das poetische Ich sich nur selbst auffassen kann dadurch, dass es sich »mit freier Wahl in harmonische Entgegensezung mit einer äußeren Sphäre« setzt. (MA 2, 91) Selbsterkenntnis des Ichs kann also nur auf indirektem Weg, nämlich über den Weg der Objektbeziehung zustande kommen. Solange »du in dir selbst bleibst«, ist eine solche Erkenntnis der eigenen Natur nicht möglich, statuiert H. Am Ende von H.s Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... macht sich eine zusätzliche Ebene der Überlegung bemerkbar, auf der H., wie in etli-
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chen anderen Texten aus jener Zeit der Jahrhundertwende, die Dichtung als Bestandteil der menschlichen Kultur und in ihrer Funktion für das »Fortschreiten« der Menschheit betrachtet. Hier kann er noch einmal an Gedanken Fichtes anknüpfen, der in den von H. gelobten Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794) für sich beansprucht hatte, bei seinem »Nachdenken und Lehren« sei ihm »Förderung der Kultur und Erhöhung der Humanität« der »höchste Zweck« (Fichte 1794, 20). In H.s »Winken für die Darstellung und Sprache« sind entsprechende Äußerungen noch verhältnismäßig allgemein, der spezielle Vergleich mit der griechischen Epoche der Klassik fehlt hier noch, der dann seit der Jahrhundertwende H.s Denken zunehmend beschäftigen wird. Literatur Zeitgenössische Quellen
Fichte, Johann Gottlieb: Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth u. a.: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1794)/Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95). Studientextausgabe: Teilausgabe von Band I,2 der von R. Lauth und Hans Jacob hg. J. G. Fichte-Gesamtausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1969. Reinhard Lauth u. a.: Nachgelassene Schriften 1793–1795, hg. v. dems. und Hans Jacob, in: Fichte-Gesamtausgabe, Nachgelassene Schriften Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke, Bd. 1–20 (TheorieWerkausgabe), Frankfurt a. M. 1986. Jacobi, Friedrich Heinrich: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785. (Neue vermehrte Ausgabe, Breslau 1789.). Kant, Immanuel: Werke (Akademie-Textausgabe Bd. I–IX), Berlin 1968. Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Reihe I: Werke, Reihe II: Nachlaß, Reihe III: Briefe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff.
Literatur zu Theoretische Schriften
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25 Sophokles-Anmerkungen In den Anmerkungen zum Oedipus und Anmerkungen zur Antigonä vermittelt uns H. sein Verständnis der beiden von ihm übersetzten Tragödien. Zugleich erläutert er dabei sein Übersetzungsverfahren in der Antigonä. Die kurzen, einander in dreiteiliger Symmetrie entsprechenden Abhandlungen berühren in einem ersten Teil jeweils Probleme der Komposition und, am Schluss, des Tragischen, d. h. des Verhältnisses zwischen dem Tragödienhelden und der Gottheit. In einem zweiten Teil werden einzelne Stellen zitiert und auf eine Gesamtdeutung hin interpretiert, wobei nur für die Antigonä einige dem Dichter um 1800 als notwendig erscheinende verändernde Umschreibungen antiker Namen, Wendungen und Formeln legitimiert werden. In einem dritten Teil schließlich wird die Bedeutung des tragischen Vorgangs auch in einen geschichtsphilosophischen Zusammenhang eingeordnet, wobei nur in den Anmerkungen zur Antigonä der Unterschied zwischen griechischem und abendländischem (»hesperischem«) Verhältnis zwischen Körper, Wort und Geist und zwischen den Haupttendenzen der griechischen und abendländischen Kunstformen untersucht wird. Für die Antigonä wird der dramatische »Hergang« auch als politischer Prozess begriffen, als Zeitwende. In diesem Horizont beschließt ein Strukturvergleich zwischen dem dramatischen Vorgang in beiden Tragödien des Sophokles und im fragmentarisch übersetzten Ajax die Anmerkungen. Diese sind nicht mit den »Einleitungen« zu verwechseln, die H. in mehreren Briefen seinem Verleger Wilmans ankündigt und die nicht geschrieben worden sind. Erstdruck: Die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von F. H. Erster Band, Frankfurt a. M.: Wilmans 1804, 97–108: Anmerkungen zum Oedipus. – Zweiter Band, Frankfurt a. M. 1804, 89–103: Anmerkungen zur Antigonä. – StA 5, 193–202 und 263–272. – FHA 16, 247–258 und 409–421.
25.1 Gliederung und Aufbau Die dreiteilige Gliederung und stellenweise auch der genaue Wortlaut der Anmerkungen zu beiden Tragödien sind aufeinander abgestimmt. Der Rückbezug von den Anmerkungen zur Antigonä auf die Anmerkungen zum Oedipus zu Beginn des dritten Teils der Anmerkungen zur Antigonä beweisen, dass letztere später entstanden sind. Die im zweiten Teil der Anmer-
kungen zur Antigonä formulierten Übersetzungsänderungen und daran sich anschließenden theoretischen Erörterungen sowie die im dritten Teil dargestellten vergleichenden Auffassungen des griechischen und abendländischen tragischen »Hergangs in der Antigonä« entstammen mit Sicherheit der letzten Überarbeitungsperiode der Übersetzung der Antigonä in den letzten Monaten des Jahres 1803 in Nürtingen.
25.2 Analyse und Deutung Der erste Teil der beiden Anmerkungen verfolgt vor allem den Zweck, darzustellen, wie Sophokles der Gefahr, dass der dramatische Vorgang von dynamischem Fortriss bedroht werde, durch berechenbare Verfahrensweisen vorzubeugen wusste. H. betont hier mehr als in den übrigen Partien dieser Abhandlungen den »gesezliche[n] Kalkul« (StA 5, 185, Z. 8) oder »das kalkulable Gesez« (265, Z. 1, 14), das den Aufbau der beiden Dramen bestimmt. Es handelt sich um »besonders sichere und karakteristische Prinzipien und Schranken« (StA 5, 195, Z. 17 f.), die das Kunstwerk in seiner schönen Erscheinungsform erkennbar machen. Dieser Teil der Poesie sei lernbar und gehöre zum »Handwerksmäßigen«, das die Griechen vorzüglich beherrschten, während die Heutigen diese strenge Schule nicht durchgemacht haben. Deswegen ist H. auch imstande, dieses Gesetz präzis zu definieren und zu erläutern. Zuverlässigkeit, Sicherheit sind in seiner Sicht notwendig, um die Dynamik des dramatischen Vorgangs im Zaume zu halten. Auf diese Gefährlichkeit richtet sich hauptsächlich seine Aufmerksamkeit. Sowohl seine Deutung der Konflikte, die die Dramen bestimmen, wie sein Bedürfnis nach angemessener Ausdrucksweise kreisen um diese Gefährlichkeit, die in der Tragödie zu tödlichem oder todesähnlichem Ausgang führen muss. H. behandelt alles Gesetzmäßige in seinem Verhältnis zum Unberechenbaren. Nur im Zusammenspiel dieser Pole erlangt das »kalkulable Gesez« seine Funktion. H. definiert die Poesie als das Zusammenwirken dreier Vermögen des Menschen (»Vorstellung«, »Empfindung«, »Räsonnement«), an denen ihn zunächst die Abfolge, dann aber das »Gleichgewicht« (StA 5, 196, Z. 3 und 5) beschäftigt, das sich einem »kalkulable[n] Gesez« verdankt (s. Kap. 19). Der »Rhythmus der Vorstellungen« (196, Z. 18) würde dem Fortriss des Handlungsverlaufs ausgeliefert werden, der nie die Perspektive auf das wahre Ganze lenken würde, gäbe es nicht eine Gestalt, die hier einen Sonderstatus besitzt, den
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_25
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das Künftige, zuletzt als Wahrheit Erscheinende schon vorher zu kennen. Es ist der Seher Teiresias, der in beiden Dramen die Zukunft voraussagt. Die Tatsache, dass die bedeutende Szene, in der der Seher auftritt, im Oedipus kurz nach dem Anfang (StA 5, 135–143, V. 304–468), in der Antigonä kurz vor dem Ende (StA 5, 247–251, V. 1025–1135) erscheint, führt H. zu antithetisch-symmetrischen Überlegungen in Bezug auf die Komposition beider Dramen. Teiresias’ Auftritte unterbrechen den Fortriss des Dramas insofern, als er nicht von einem Schicksal betroffen wird, sondern dieses Schicksal in zuerst verhüllter, dann zunehmend enthüllter Form selber ausspricht. Dadurch schützt er, nach H.s Vorstellung, die beiden vor und nach seinem Auftritt sich abspielenden Ereignisfolgen voreinander. Wenn im Oedipus nach H. der Fortriss gegen Ende des Dramas immer rasender vor sich geht, muss verhindert werden, dass das Ende den Anfang in seine Beschleunigung mitreißt. Das Umgekehrte geschieht in der Antigonä, wo die ersten Szenen einem rapiden Fortriss ausgeliefert sind, der die später folgenden nach sich ziehen würde, käme ihnen nicht gegen Ende des Dramas die einschneidende Zäsur zu Hilfe, die sie vor dem Anfang schützt. H. scheint anzudeuten, dass es, neben der wirklichen Mitte der Tragödie, etwas wie eine Gleichgewichtsmitte gibt, die nach den unterschiedlichen Tempi der Handlung gewichtet wird. Die Zäsur nennt er auch »das reine Wort« (StA 5, 196, Z. 11), das sich über die Gegensätze erhebt, während er die »rhythmische Aufeinanderfolge der Vorstellungen« (Z. 9 f.) als »tragische[n] Transport« (Z. 9 und 7) bezeichnet. Darin ist auch der französische Wortsinn von »transport« = Fortriss vernehmbar. In den mittleren Partien der Anmerkungen verraten die Analysen einzelner Stellen aus beiden Dramen, welche Momente der Handlung für H. zentrale Bedeutung erlangen. Dabei erweisen sich die Zitate aus dem Oedipus in der Deutung als einsinniger denn die Zitate aus der Antigonä, die eine vielseitigere Problematik aufschließen und einschneidende Übersetzungsänderungen begründen. Für den Oedipus gilt, dass H., gegen den Wortlaut des Dramas, den Helden beschuldigt, einer Krise der Polis, die der Ausbruch der Pest anzeigt, nicht in objektivierender Distanz begegnet zu sein, sondern in einengendem, blind machendem Selbstbezug. Dadurch wird er, der besondere Mensch, paradoxerweise mit der Gottheit, die sich durch den Orakelspruch manifestiert hat, in einer unerlaubten Innigkeit verbunden, die für ihn immer lebenbedrohender wird. Auch wenn er zunächst die doch immer direkter ge-
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äußerten Prophezeiungen des Teiresias nicht auf sich anzuwenden scheint, schildert ihn H. anhand beispielhaft ausgewählter Verse als »unsicher« (198, Z. 15), von »zorniger Ahnung« (197, Z. 16) bestimmt und fortan immer stärker von »zornige[r] Neugier« (198, Z. 9 f.) fortgerissen, im vergeblichen Versuch, die verlorene Souveränität wiederzufinden, in »närrischwilde[m] Nachsuchen nach einem Bewußtseyn« (199, Z. 4 f.). Der Gott, die »Naturmacht« (201, Z. 20) hat ihn längst ergriffen und in seiner »allessuchende[n], allesdeutende[n]« (201, Z. 12) rasenden Furiosität trunken in den entgrenzenden Zustand »geisteskranke[n]« (200, Z. 1) Bewusstseinsverlusts geführt. Hier dienen die ausgewählten Stellen der Illustration dieses einsinnigen Vorgangs, im Gegensatz zu den ausgewählten Partien aus der Antigonä, an deren Analyse sich meist eine grundsätzliche Reflexion zum tragischen Vorgang in diesem Drama artikuliert. Oedipus begegnet dem Gott über den Orakel- und Seherspruch. Antigone ist vielfältiger und komplexer mit ihm konfrontiert, wie die von H. ausgewählten und in bewusster Abweichung übersetzten Stellen erweisen. Schon die erste Stelle setzt, gegen den griechischen Wortlaut, in stärkerer Betonung und gesperrt, »m e i n Zeus berichtete mirs nicht« (StA 5, 266, Z. 6 = StA 5, 223, V. 467), statt: »nicht Zeus war es, der mir dies auftrug«. Diese Subjektivierung setzt H. ein als Verstärkung der Begründung für die Missachtung von Kreons Verbot, den toten Polyneikes, ihren Bruder, zu bestatten. Aus dieser Betonung leitet er den »kühnste[n] Moment eines Taglaufs oder Kunstwerks« (266, Z. 8) her, weil da die Heldin vom »Geist der Zeit und Natur«, dem »Himmlische[n]« ergriffen wird und es zugleich um einen Leichnam geht, der als »sinnliche[r] Gegenstand« (Z. 11) eines durch ein weltliches Gesetz entfachten Streits »nur eine Hälfte weit reicht«. Hier erfährt Antigone, dass sie im Namen eines Gottes handelt, der nachher als »Geist der ewig lebenden ungeschriebenen Wildniß und der Todtenwelt« (266, Z. 18 f.) bezeichnet wird. Das heißt: die Fortsetzung von Antigones Antwort auf Kreon, die sich auf »die ungeschriebnen drüber,/ Die festen Sazungen im Himmel« (StA 5, 223, V. 471 f.) beruft, wird hier bereits einbezogen, wobei freilich deren Ungeschriebenheit mit der Totenwelt zusammengebracht wird, in der Dike, das Recht, wohnt. Für H. ist die von ihrem Gott Ergriffene bereits der »exzentrische[n] Begeisterung« ausgeliefert, die ihr späteres Schicksal bestimmen wird – jener ›exzentrischen Begeisterung‹, »gegen die [...] geschrieben zu haben« H. im Brief an Wilmans vom 2. April 1804 darlegt (vgl. StA 6, 439, Z.
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26 f. – wobei »gegen« nicht adversativ zu verstehen ist, sondern im Sinne von ›in Richtung auf‹). Kreon wird dagegen als »das tragischmäßige (soviel wie: das tragisch-mediokre) Zeitmatte« (StA 5, 266, Z. 15) bezeichnet, das nun dem »reißenden Zeitgeist am unmäßigsten« folgt, d. h. durch Antigones Gottbesessenheit sein eigenes Maß verliert und selber aus seinen Grenzen tritt. Im Streitgespräch zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon hat H. die Instanz, an der Haimon das Verhalten seines Vaters misst, aktualisiert: aus »der Götter Ehre« (StA 5, 267, Z. 3) macht er »Gottes Nahmen« (StA 5, 236, V. 774). Gleichzeitig lässt er Kreon sich auf »meinen Uranfang« berufen (missverstanden für: meine Herrschaft). Der Kontrast zwischen der spiritualisierten Religiosität der Neuzeit und der materielleren, begrenzteren der Griechen verbindet sich hier für H. mit dem Kontrast zwischen Kreons starrem Festhalten an seinem am Anfang erlassenen Gesetz (»Uranfang«) und dem Übergang zu einer republikanischen Staatsform. Der Sohn hat ihm Beweglichkeit, »Ändrung« (StA 5, 234, V. 746) in seinem Verhalten geraten. Der Vater beharrt auf seinem Starrsinn und führt so Haimon und Antigone in den Tod. Weitreichender und extremer ist die Niobe-Stelle der Antigonä, die H. grundlegend verändert hat, indem er Antigone Niobe mit der »Wüste« vergleichen lässt und daran kühne Spekulationen knüpft, die seine Vorstellungen vom Umschlag höchster Fruchtbarkeit in extreme Dürre veranschaulichen. Die höchste Spannung zwischen »heiligem Wahnsinn« (StA 5, 267, Z. 17) in den blasphemischen Äußerungen der Heldin, die sich mit der vom Chor als Göttin und von göttlicher Herkunft bezeichneten Niobe identifiziert, und dem toten Vergleichsgegenstand wird als Simultaneität von »höchstem Bewußtseyn« (267, Z. 23) und höchster Bewusstlosigkeit verstanden, als heroische Selbstbehauptung und deren Gegenteil in der letzten Etappe vor der tödlichen Vereinigung mit dem Gott, die ihr bevorsteht. Niobes Herausforderung gegenüber Leto, der Mutter des Apollo und der Artemis, sie habe vierzehn Kinder geboren, führt als Strafe zur Tötung aller ihrer Kinder und zu ihrer Versteinerung. Eine solche gegengöttliche Verhaltensweise wird Antigone zum Vorbild und von H. als Aufrechterhaltung heroischer Geistespräsenz gegenüber göttlicher Übermacht begriffen. Die entsprechende Haltung wiederholt sich in H.s übersetzerischer Deutung des Dionysos beleidigenden Lykurgos, des Königs der Edoner, im zweitletzten Chorlied, dessen Anfang H. in der letzten Einzelinterpretation kommentiert. Dort recht-
fertigt er die Umdeutung »Vater der Zeit« (StA 5, 268, Z. 4 = StA 5, 245, V. 987) für Zeus damit, dass Zeus’ jetzige Tendenz die abendländischen Menschen vor der gefährlichen Entrückung in die Totenwelt (dem »Streben aus dieser Welt in die andre« [268, 10]) durch die Gegenbewegung schützen muss, die sie an die Erde und an die Zeit bindet. Dieses Zeitlich-Irdischwerden legt er in die Deutung seiner verändernden Übersetzung. Danae »verwaltete dem Zeus das goldenströmende Werden« (268, Z. 6), d. h. empfing seinen Samen; dies wird für H. ein grenzüberschreitendes, »von Gegenwart auf die Zukunft« (268, Z. 18) Schließen des Verstandes, statt einer zeitlich-irdischen Erfahrung, wie sie erst durch H.s Umdeutung geschieht, wenn Danae »zählete dem Vater der Zeit/ Die Stundenschläge, die goldnen« (268, Z. 4 f.). Die größere Berechenbarkeit der Zeit, die in diesem neuen Bild passiv erfahren wird, entspricht H.s Tendenz, Zeus zu einem Gott der bewohnbaren Erde zu machen. H. sieht in dieser Anfangsstrophe, genauer in den Versen 987 f., »das höchste Bewußtseyn« diesmal nicht in blasphemischer Entgegensetzung zu Gott, sondern in »vesteste[m] Bleiben vor der wandelnden Zeit«, in »heroische[m] Eremitenleben« (268, Z. 19 f.). Er beschreibt so den äußersten Gegensatz im Verhältnis einer Heldin zu Gott im Wechsel von der blasphemischen Antigone-Niobe zur duldenden Danae. Dann aber erklärt er die Fortsetzung des zweitletzten Chorlieds (StA 5, 245, V. 993–1024) als maßstäblich verringerte Darstellung der Struktur des gesamten Dramas, nämlich als Aufeinanderfolge der beiden einander entgegengesetzten Prinzipien, die als Antigone- und Kreon-Prinzip, als »gesezlos[e]« und als »gesezt[e]« Beziehung zu Gott (vgl. StA 5, 268, Z. 28/29), definiert werden. Der Dionysos verhöhnende König Lykurgos (StA 5, 246, V. 993–1003) entspricht als »Antitheos«, als gegen Gott gerichtete Instanz, Antigones Verhalten insofern, als sie sich mit der die Götter herausfordernden Niobe vergleicht. Die geblendeten Phineus-Söhne und ihre gefangene Mutter Kleopatra sind vom »große[n] Schiksaal« (246, V. 1024) Geschlagene. Lykurgos entspricht dem Prinzip der Gott »gesezlos« (StA 5, 268, Z. 28) begegnenden Antigone. Die Phineussöhne und Kleopatra vertreten »das Ehren Gottes, als eines gesezten« (268, Z. 29 f.). Entscheidend ist für H., dass hier eine verallgemeinernde Objektivierung der Struktur des gesamten Dramas in »höchste[r] Unpartheilichkeit« (268, Z. 24) geschieht. Diese nennt H. »eigenthümlich schiklich« (269, Z. 8). Damit meint er eine über den Gegensätzen stehende Klärung. Die Gegensätze zwischen den beiden Hauptpersonen sind für H.
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nicht im gleichen Maße inhaltlich besetzt wie im Ajax, wo der Protagonist die Herkunft der Griechen aus dem orientalischen Zornfeuer illustriert, das »nationelle« (268, Z. 33) Prinzip, während sein Gegner Odysseus die von den Griechen im Gegensatz zu ihrem Ursprung erreichte Bildung, die überlegene Klugheit darstellt, die hier für gerechte Behandlung des Toten sorgt. Ebenso unterscheidet sich für H. der Oedipus in seiner Gegensätzlichkeit von der Antigonä. Auch da sind für H. inhaltliche Gegensätze maßgebend: Oedipus ist ein »Freigeist« (269, Z. 2), d. h. ein aus seinen Schranken ausgetretener zorntrunkener Geisteskranker. Ihm stehen einfältig »getreue« (269, Z. 2 f.) Boten und Diener gegenüber. In der Antigonä will H. formalisierte gleichberechtigte »Standespersonen« (StA 5, 271, Z. 28) so einander gegenübergestellt sehen, dass das eine (von der vordergründigen Handlung aus gesehen: Antigone) »verlieret, weil es anfängt, das andere (vordergründig: Kreon) gewinnet, weil es nachfolgt.« (StA 5, 269, Z. 4 f.) All diese aus der Struktur des vorletzten Chorlieds abgeleiteten Grundzüge der Antigonä beweisen, dass H. auf ganz engem Raum innerhalb der Anmerkungen zur Antigonä sehr verschiedene, nicht immer aufeinander abgestimmte Perspektiven anwendet, die jeweils einem internen Systemzwang unterworfen sind. Der jeweils dritte Teil der Anmerkungen zu beiden Dramen verzichtet auf die Behandlung konkreter Stellen und erhebt sich von Anfang an auf ein allgemeineres, grundsätzlicheres Niveau, wobei auch hier beide Dramen gleichzeitig ins Auge gefasst werden sollen. Der erste Hauptgedanke, der für beide Dramen gilt, handelt von der ungeheuerlichen Vereinigung und nachmaligen Scheidung von Gott und Mensch. Oedipus’ zorntrunkene Erkundung seiner Herkunft, Antigones wahnsinniger Aufstand gegen Kreons Gesetz werden als Zeugnisse für einen Fortriss aus der Menschen- in die Totenwelt begriffen, den ein Gott – Apollo für Oedipus, »mein« Zeus für Antigone – bewirkt. Der sich blendende Oedipus, die in ihrer Gruft sterbende Antigone bezeugen die totale Scheidung zwischen Gott und Mensch. Die Gegensätzlichkeit der Struktur dieser aus der Vereinigung hervorgehenden Scheidung bildet auch die dramaturgische Form der einander widerstreitenden Positionen in Dialogform ab und in den Widerreden zwischen den Hauptpersonen und dem Chorführer. Im Oedipus wird die Epoche als von »Pest und Sinnesverwirrung und allgemein entzündetem Wahrsagergeist« (StA 5, 202, Z. 1 f.) bestimmte gekennzeichnet. Diese negativ charakterisierte Zeit
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nennt H. »müßig«. Sie wird durch die Abkehr des Helden vom Gott und des Gottes vom Helden charakterisiert. Diese gegenseitige Untreue aus gegenseitigem Vergessen repräsentiert einen allgemeinen Weltzustand. Untreue schafft hier eine Situation, die sich so extrem entwickelt, dass sich die totale Entfremdung zwischen Oedipus und Apollo wie zwischen den Thebanern und den Göttern ihrer Stadt als eine Art Leerstelle ereignet, die von pseudoreligiösen Ersatzhandlungen ausgefüllt wird, wie die Zuflucht zu Orakel- und Sehersprüchen sie für H. darstellt. Eine solche Krisensituation prägt sich durch ihre Negativität aus, indem die Diskontinuität den Lückencharakter einer Entfremdung zwischen Mensch und Gott ins Bewusstsein hebt und ebendadurch das Gedächtnis der Götter bewahrt. H. betont die Wende der Zeit in der Mitte der Tragödie, d. h. dort, wo Oedipus den Indizien, die auf seine Identität mit dem gesuchten Mörder deuten, erstmals nicht mehr ausweichen kann (StA 5, 157, V. 769). Die »kategorische (unbedingte) Umkehr« (StA 5, 202, Z. 15) führt Oedipus an den Rand der Selbstzerstörung. Parallel zu seiner Auslieferung an den ohne Zusammenhang mit Vergangenem und Zukünftigem, auf reine Punktualität geschrumpften Moment reduziert sich auch der sein Schicksal bestimmende Gott auf den verabsolutierten Verlauf der Zeit, d. h. auf den leeren Fortriss. Dessen Bedeutung wird erst im dritten Teil der Anmerkungen zur Antigonä, auf dieses besondere Drama bezogen, als »vaterländische Umkehr«, als Revolution dargestellt. Aber dieser Partie geht eine Analyse des Gegensatzes zwischen griechischer und hesperischer (abendländischer) tragischer Todesart voraus. Hier ist an H.s eigene Bemühungen um eine abendländische Tragödie, den Tod des Empedokles (s. Kap. 22), zu erinnern, wo keine körperliche, dagegen eine geistige Tötung stattfindet. Die Form des Todes ist im griechischen Drama an den fasslichen sinnlichen Körper gebunden, dem in der Antigonä der leibliche Tod von Antigone und Haimon entspricht. Diese Todesart geschieht nach H. »in athletischem und plastischem Geiste« (StA 5, 270, Z. 18), d. h. sinnlich fassbar, wie es H. bereits in seinem ersten Brief an Böhlendorff beschreibt, wo er die »Darstellungsgaabe, von Homer an« (StA 6, 426, Z. 26) als die vorzügliche Meisterschaft der Griechen herausstellt (s. Kap. 36). In diesem Zusammenhang erinnert H. daran, dass die abendländische Haupttendenz, im Gegensatz zur griechischen, vom schicksallosen Ausgangspunkt zum Treffen des Schicksals aufzubrechen hat, während die Griechen das ihnen angeborene Feuer des
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Himmels durch »Junonische Nüchternheit« (StA 6, 426, Z. 27 f.) in fassliche Gestalt zu überführen hatten. Aber der heutige Übersetzer tritt unter andern Vorzeichen auf als diejenigen, die für die Griechen Geltung hatten. Er ist sich des Unterschieds der Haupttendenzen der Kunst bewusst und versucht deshalb, die griechische Kunst aus der Fixiertheit, in die sie durch die Antithese zu ihrer ursprünglichen Anlage geraten war, in Richtung auf die verleugnete Ursprungsdimension zu befreien (s. Kap. 17). Dadurch vermag er die Haupttendenz der eigenen Kunst, die Be-geisterung (Begeistung), d. h. die Vergeistigung durch Worte, statt durch körperliche Gewalt, in Einklang mit dem beabsichtigten Korrektiv zu bringen. Die Schwierigkeit dieses Teils der Anmerkungen zur Antigonä beruht auf der gleichzeitigen Erörterung der Haupttendenz der Griechen zur fasslichen körperlichen Gestalt hin und der Hesperier zum Treffen des Schicksals und der Rolle, die Zeus für die Einen wie für die Andern zu spielen hat: für die Griechen ist er ›uneigentlicher‹, weil er sie, in Übereinstimmung mit seinem Bereich der Erde oder der Zeit, dorthin aufbrechen sieht und sich nicht um weitere Korrektive kümmert, wogegen er den Abendländern ihren notwendigen Weg in die Geistigkeit des zu treffenden Schicksals nicht bis ins Extrem fortzusetzen erlaubt, sondern sie in die ihm und ihnen letztlich zukommende Sphäre der irdischzeitlichen Begrenzung zurückholt. Das heißt: H. erörtert gleichzeitig die zweite und die dritte Phase eines Prozesses, für den Zeus als »eigentlicherer« Gott die Kompetenz besitzt, wenn es um die Hesperier geht, nicht aber, wenn die Griechen betroffen sind. Der Prozess des tragischen Verlaufs in der Antigonä ist demjenigen im Aufsatz Das untergehende Vaterland ... (s. Kap. 19) vergleichbar, weil beide Male ein Übergang zu einer neuen Form des Staats, der Religion, der Kunst sich anbahnt, unter revolutionären Auspizien. Die Tragödie ist ein Moment totaler Veränderung aller Formen, ohne dass die davon betroffenen Personen einen Halt finden. Die Zeit, in der ein solcher Vorgang sich ereignen kann, ist für H. »wild«. Es ist die »schonungslos[e]« Wirkweise des »reißenden Zeitgeist[es]« (StA 5, 266, Z. 17–20). Die Funktion einer solchen totalen Veränderung ist die Neugeburt eines ausgewogenen politischen, gesellschaftlichen, religiösen Zustands, hier der athenischen Demokratie. Es ist der Weg von der Tyrannei zur »Vernunftform« (272, Z. 1) der Republik. Es kann freilich nach seinen Worten auch ein katastrophaler anderer Weg eingeschlagen werden, der Weg in die »Wildniß« (271, Z. 10). Der aus Gegensätzen bestehende Charakter des Tragischen
spiegelt in seinem »unendlichen Streite« (270, Z. 22) die »wilde Entstehung« (270, Z. 32 f.) einer erst nach solcher Übergangszeit möglichen Verfestigung neuer, »humaner Zeit« (270, Z. 33) angemessener »Meinung«, d. h. »Gnome«: Geist und Einsicht zugleich. Die genaue, konkrete Verwirklichung dieser universalen Antithetik wird als revolutionärer Prozess dargestellt, der nicht zufällig das neutestamentliche Wort der »Umkehr, der »metanoia«, ins Zentrum stellt, die auch mit »Sinnesänderung« zu übersetzen ist. Genau diese Sinnesänderung forderte im Vers 746 Haimon von seinem Vater Kreon: »Gieb nach, da wo der Geist ist, schenk’ uns Ändrung« (StA 5, 234). H. erweitert diesen Moment zu einer Revolution in allen Bereichen des Vaterlands, dem »religiösen, politischen und moralischen« (StA 5, 271, Z. 15 f.), womit die von Antigone und Haimon Kreon entgegengesetzten Anschauungen verallgemeinert werden, gleichzeitig aber auch christlich aktualisiert. Die »Umkehr« enthält ja auch die Konnotation der Buße, wie sie in dem von H. zitierten Chorlied erscheint: Jezt aber, da von gewaltiger Krankheit die ganze Stadt Ist befangen, müssen wir Der Buße Schritte gehen über Den Parnassischen Hügel oder Die seufzende Furth. Io! du! in Feuer wandelnd! Chorführer der Gestirn’ und geheimer Reden Bewahrer! Sohn, Zeus’ Geburt! Werd’ offenbar! mit den Naxischen Zugleich, den wachenden Thyaden, die wahnsinnig Dir Chor singen, dem jauchzenden Herrn. (StA 5, 254, V. 1189–1202)
»Wird’ offenbar!«, diese Formel der Anrufung des Dionysos, zitiert H. im Zusammenhang der »vaterländischen Umkehr« (StA 5, 271, Z. 4, 16). Als der Gott, der die Stadt von Krankheit reinigt, wird er von H., gegen Sophokles’ Wortlaut, mit der »Buße« verbunden, die im Ausdruck der »Umkehr« mit anklingt. Dass H. im Augenblick der Revolutionsdarstellung einen Gott anruft, der im zitierten Lied sowohl dem Feuer wie den der Erdgöttin Demeter gewidmeten eleusinischen Mysterien zugeordnet wird (»geheimer/ Reden Bewahrer«) mag auch mit der Doppelnatur des orientalischen Feuers und der unterirdischen Totenwelt zusammenhängen, die beide in H.s Übersetzungsverfah-
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ren eine zentrale Rolle spielen. Im Gegenwärtigwerden »in unendlicher Form« (StA 5, 271, Z. 15) ist die sonst gespaltene dramatische Struktur durch die Epiphanie des Gottes geeint, als Freudiges, das sonst nur durch tödliche Gegensätzlichkeit ausgedrückt werden kann. Der »Freudengott« (StA 5, 253, V. 1169) – so nennt H. ihn in diesem Lied – ist der Zusammenhang des sonst im Drama Getrennten. Im extremsten Moment der Zeitwende ist die Gottesanrufung eine Bestätigung der »Umkehr«. Dieser Gott bringt z. B. in Euripides’ Bakchen eine neue Religion der Entgrenzung, die das bisherige Staatswesen aufhebt. H. beschreibt eine Revolution wie die Französische oder die ihr nachstrebende Helvetische, die sein Freund Böhlendorff dargestellt hat, wenn er sogar den »Neutralen« dem revolutionären patriotischen Impuls folgen sieht. Neben dieser zeitbedingten revolutionären Perspektive wiederholt H. die Theorie von der formalisierten Gegensätzlichkeit der beiden Hauptgestalten der Antigonä und von der Niederlage der »zuerst schwer Othem« holenden Person, zunächst Antigone, gegenüber Kreon, der aber »am Ende [...] von seinen Knechten fast gemißhandelt wird« (StA 5, 272, Z. 4 f.), was wiederum den Ausgleich bringt, diesmal zugunsten von Antigone. Ihre geistige Revolution verleiht der Hesperisierung dieser Tragödie schließlich das sich siegreich durchsetzende Gepräge. Antigones vergeistigende Revolution ist es, die die Formel rechtfertigt, es gehe hier »vom griechischen zum hesperischen«. Nochmals betont H., dass der Oedipus oder der Ajax Dramen mit einer Hauptfigur sind, die um ihr geistiges oder materielles Überleben kämpft, während in der Antigonä zwei Gleichberechtigte einander gegenüberstehen und so in einen Wettlauf treten. In den beiden andern Dramen ist die spätere Vernichtung des Helden von Anfang an erkennbar. In der Antigonä geht ein Kampf vor unsern Augen vonstatten, dessen Verlauf wir verfolgen, ohne dass der Ausgang feststeht. Wenn H. diesen Verlauf als geschichtliche Wende deutet, dann verleiht er ihm eine Bedeutsamkeit, die über die »Standespersonen« hinausführt. Es ist deshalb verständlich, daß H. seine Anschauungen über den Gegensatz zwischen griechischer und hesperischer Tragödie besonders anhand dieses für ihn von der einen in die andere Vorstellungsart führenden Dramas dargelegt hat. Literatur
Beißner, Friedrich: H.s Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 1933, 21961. [Das 7. Kapitel »Griechenland und Hesperien«, S. 147–194, behandelt im Anschluss
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an die Anmerkungen zur Antigonä die hesperisierende Umformulierung der griechischen Götternamen.] Bennholdt-Thomsen, Anke: Dissonanzen in der späten Naturauffassung H.s, in: HJb 30 (1996/97), 15–41. [Behandelt die »Wildniß« und den »ewig menschenfeindlichen Naturgang« des tragischen Prozesses im Hinblick auf eine Deutung dieser Komponenten in den späten hymnischen Fragmenten.] Binder, Wolfgang: H. und Sophokles, in HJb 16 (1969/70), 19–37. [Komprimierte Abhebung der H.ischen Deutung beider Tragödien von Sopohokles.] Binder, Wolfgang: H. und Sophokles. Turm-Vorträge 1992. Eine Vorlesung [...] an der Universität Zürich, hg. v. Uvo Hölscher, Tübingen 1992. [S. 81–104 und 147–172 werden die Anmerkungen gründlich erläutert und in eine möglichst verständliche Terminologie übersetzt, mit stetem Blick auf die Realität der Sophokleischen Dramen und auf H.s ›vertikalen‹ Gott-Mensch-Bezug. Versuch, das gesamte System des griechisch-hesperischen Gegensatzes auch graphisch zusammenzufassen.] Corssen, Meta: Die Tragödie als Begegnung zwischen Gott und Mensch. H.s Sophokles-Deutung, in: HJb 3 (1948/49), 139–187. [Erste umfassende Darstellung der religiösen Perspektive in H.s Gegenüberstellung von antiker und hesperischer Tragödie anhand einer genauen Nachzeichnung der Anmerkungen zum Oedipus und zur Antigonä.] Düsing, Klaus: Die Theorie der Tragödie bei H. und Hegel, in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. H.s letzte Homburger Jahre (1804–1806), Bonn 1988, 55–82. [Klärender Überblick über die Grundzüge von H.s und Hegels Tragödientheorie.] Franz, Michael: H.s Platonismus. Das Weltbild der ›exzentrischen Bahn‹ in den Hyperion-Vorreden, in: AZP 22 (1997), 167–187. Hühn, Helmut: Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in H.s Denken, Stuttgart/Weimar 1997. [Genauester Vergleich der Anmerkungen zum Oedipus mit H.s Übersetzung des Oedipus.] Kurz, Gerhard: Poetische Logik. Zu H.s Anmerkungen zu »Oedipus« und »Antigonae«, in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. H.s letzte Homburger Jahre (1804–1806), Bonn 1988, 83–101. [Bettet vor allem den ersten, im engeren Sinne poetologischen Teil der Anmerkungen in den literaturtheoretischen und philosophischen Kontext des 18. Jh.s ein.] Lönker, Fred: ›Unendliche Deutung‹, in: HJb 26 (1988/89), 287–303. [Untersucht die Anmerkungen zum Oedipus mit erhellender Einbeziehung des Grund zum Empedokles und einiger Pindar-Fragmente.] Reinhardt, Karl: H. und Sophokles, in: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, Göttingen 1960, 381– 397 (Erstdruck 1951). [Bezieht die Anmerkungen vor allem zur besseren Erläuterung der Übersetzungen ein, deswegen vor allem den zweiten Teil der Anmerkungen zur Antigonä.] Ryan, Lawrence: H.s Antigone. »Wie es vom griechischen zum hesperischen gehet«, in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. H.s letzte Homburger Jahre (1804–1806), Bonn 1988, 103–121. [Diffe-
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renzierte Definition des hesperischen Charakters der Antigonä aufgrund einer vielseitigen Lektüre der Anmerkungen zur Antigonä.] Schmidt, Jochen (Hg.): F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, 1376–1392, 1471–1491. [Gründliche Überblickskommentare und Einzelerläuterungen der Anmerkungen, mit stetem Blick auf H.s übrige Aufsätze zur Theorie des Tragischen und mit Vergleich zur frühromantischen Poetologie, ergänzt um ein antithetisches Begriffsregister.] Schmidt, Jochen: Tragödie und Tragödientheorie. H.s Sophokles-Deutung, in: HJb 29 (1994/95), 64–823. [Reichhaltige Synthese aus dem Ertrag der oben angegebenen Kommentare.]
Bernhard Böschenstein, der diesen Beitrag für die erste Auflage des Handbuchs verfasst hat, ist am 18. Januar 2019 verstorben. Auf H.s Deutung der Antigonä ist er in den letzten Jahren wiederholt zurückgekommen. Ins Auge gefasst war so auch eine Durchsicht dieses Beitrags. Diese Durchsicht zu realisieren war ihm nicht mehr vergönnt. Sein Beitrag erscheint hier – abgesehen von der Umstellung auf die neue Rechtschreibung – in unveränderter Form. J. K.
Bernhard Böschenstein†
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26 Pindarfragmente 26.1 Entstehung Unter diesem Namen sind – erstmalig Anfang des 20. Jh.s veröffentlicht – neun kleinere Texte H.s bekannt geworden, die unter den erhaltenen Teilen seines Nachlasses vielleicht das letzte sind, was er fertigstellen, d. h. für eine Veröffentlichung vorbereiten konnte. Sie stehen auf einem Doppelblatt (HK 413) und einem getrennt davon überlieferten Einzelblatt (HK 423). Da beide Textzeugen am unteren Rand ihrer (letzten) Verso-Seite einen Textabschnitt beenden, kann man die Textcorpora beider Handschriften in zwei Reihenfolgen anordnen: entweder beginnt der Gesamttext mit Untreue der Weisheit oder mit Die Asyle. Gegen die letztere Annahme spricht allein schon die Tatsache, dass die Beschriftung des Textes dann auf einem Einzelblatt begonnen worden sein müsste, was unpraktisch ist und unüblich war. Die Reihenfolge mit Untreue der Weisheit am Anfang und Das Belebende am Ende scheint sich durchgesetzt zu haben. Sie hat auch kompositorische und andere Gründe für sich. Das Manuskript könnte aus dem Sommer 1805 stammen, denn dies ist der einzige Zeitpunkt nach der Rückkehr aus Bordeaux im Sommer 1802, zu dem Arbeit am Pindar belegt ist (vgl. die Bemerkung des Frankfurter Kaufmanns und Gelegenheitsdichters Johann Isaak (seit 1804: von) Gerning, der in Homburg v. d. H. ein Landhaus besaß, das sich gegenüber dem Sinclairschen Haus befand, in einem Brief an Goethes Jenaer Freund Karl Ludwig von Knebel im Juli 1805: »H., der immer halbverrückt ist, zackert [= arbeitet angestrengt] auch am Pindar«, FHA 15, 17 mit 9, 262). Da die neun Texte zwar offenkundig ein Ganzes bilden, aber keinen Gesamttitel führen, haben sie ihren Namen »Pindarfragmente« von dem auffälligsten ihrer gemeinsamen Merkmale erhalten, nämlich von dem Umstand, dass alle diese Einzelstücke mit der Übersetzung eines nur als Fragment überlieferten Zitats des griechischen Lyrikers Pindar beginnen. Im Einzelnen wie im Ganzen exemplifizieren diese neun H.schen Texte ohnehin eine literarische Form sui generis, auch eine Diskursform, die sich weder dem wissenschaftlichen, noch dem mythopoetischen Sprachgebrauch unterordnet, aber bei beiden Anleihen macht. Insofern ist es nicht ratsam, einen Titel für sie zu schaffen, der nur einen Teil der jeweils mindestens dreigliedrigen Einzeltexte (s. u.) hervorkehrt, wie es Sattler (»Pindar-Kommentare« FHA 15, 331 ff.)
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oder Schmidt (»Anmerkungen zu Pindar-Fragmenten«: HKA 2, 767 ff.) getan haben. »Pindarfragmente« – als Wort ein bewusster Neologismus – dürfte den Gesamttext vorläufig am besten charakterisieren. Nun ist es allerdings auch möglich, dass H. selbst einen Gesamttitel für die neun mit Einzelüberschriften ausgestatteten Texte vorgesehen hatte. Man kann nämlich vermuten, dass der jetzt nur noch als Einzelblatt vorhandene Manuskriptteil (HK 423) ursprünglich (d. h. bei Beschriftung) auch ein Doppelblatt gewesen ist (wie der andere Manuskriptteil HK 413), dessen zweites Blatt (hypothetische Bezeichnung: 423β) nach vorn umgebogen wurde, so dass es vor das Doppelblatt zu liegen kam und dieses also einschloss. Das ist eine durchaus vernünftige und haltbare Manuskriptbeschriftung (zwei ineinander gelegte Doppelblätter). In diesem Fall würde dann das (postulierte) vorn liegende Blatt frei für eine Überschrift des Gesamttexts. Für die Platzierung einer Überschrift eines längeren Texts auf das vorderste Blatt des Manuskriptkonvoluts gibt es das Belegbeispiel der Friedensfeier, die ja wohl definitiv zur Veröffentlichung vorgesehen war, wie der Vorspruch (»Ich bitte dieses Blatt nur gutmüthig zu lesen ...«) belegt. Wenn man also annehmen dürfte, dass der Gesamttext der Pindarfragmente durchaus eine Überschrift von der Hand des Verfassers tragen konnte, dann stellt sich gleich die Frage nach einem Publikationsort für einen solchen Text. Wenn der »nächste Verwandte« dieses Texts die »Anmerkungen« zum Ödipus der Tyrann und der Antigonä sind, wie Schmidt richtig diagnostiziert hat, dann könnte man eine analoge Anlage auch für die Pindarfragmente postulieren. Dann läge die Vermutung nicht fern, dass H. nach dem Erscheinen der beiden Sophokles-Bändchen eine Übersetzung aus Pindar zu veröffentlichen gedacht hat. Und für eine solche Übersetzung (die wohl auf die Große Pindar-Übertragung von 1800 zurückgreifen sollte) hätte er dann diesen Text aus neun Texten, die aus der Übersetzung von neun nur fragmentarisch erhaltenen Pindar-Gesängen eigene Gedanken zu Politik und gesellschaftlichem Leben entwickeln, zusammengestellt. Welchen Titel H. dem Gesamttext dann auf dem Titelblatt gegeben hat, wissen wir nicht. Dennoch hat dieses zugegebenermaßen sehr spekulative Vermutungskonstrukt den Vorteil, dass es von unbestreitbaren Tatsachen ausgeht (dem fehlenden Blatt und dem fehlenden Gesamttitel) und den Text in einen sehr bestimmten Arbeitsplan von H.s letzten Jahren vor der Verbringung in die Tübinger Klinik einfügen könnte. Es bleibt aber die Frage, ob
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_26
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H., wie bei der Sophokles-Übersetzung, erst die Übersetzung fertiggestellt hat und dann die »Anmerkungen« dazu verfasst hat, oder ob es bei der Arbeit am Pindar eine andere Reihenfolge gab: erst die reflektierenden Anmerkungen zu Pindar und dann die Bearbeitung der Interlinear-Übersetzung von 1800. Dann würde sich das von Gerning notierte »Zackern am Pindar« auf die Erarbeitung der Übersetzung der oder einer Auswahl von Epinikien des Pindar beziehen. Aber diese (postulierte) Pindar-Übersetzung H.s gibt es nicht mehr oder gab es nie. Auch hier hängt unser Nichtwissen ab von der ungeklärten Fluktuation von H.s Manuskripten zwischen 1803 und 1806. Zu den Entstehungsbedingungen dieses Texts gehören jedoch auch biographische Randbedingungen der politischen Zeitgeschichte, die nicht unbeachtet bleiben dürfen, weil sie den Hintergrund abgeben, vor dem die Szene sich ereignet, die im Text aufgeführt wird. Die »Revolution« war – gemäß der Proklamation der französischen Konsuln vom 15. Dezember 1799 – »beendet«. Frankreich bewegte sich in den folgenden drei Jahren in Richtung auf die Etablierung einer imperialen Monarchie. Mit dem Verlust der Hoffnung auf eine französische Hilfe zur Errichtung einer (oder mehrerer) Republik(en) auf deutschem Boden mussten sich die bürgerlichen Intellektuellen des deutschen Sprachraums nach einem neuen Modell von Politik umsehen. Die Fantasie einer direkten Demokratie wie in den Alpentälern, von Rousseau idyllisch geschildert, hatte in den direkt-demokratischen Guillotinierungen auf der Place de la Révolution, dem Genozid in der Vendée und den massenhaften Ertränkungen (»noyades«) in Nantes ihren Kredit verloren. Die anfangs in Süddeutschland als Vorbild erhoffte Helvetische Republik machte nur durch ihre skrupellose Ausplünderung durch die französische Schutzmacht von sich reden. Zugleich waren es – zumindest in Württemberg, das ohnehin eine Ausnahme darstellte wegen seines Steuerhoheit genießenden (rein bürgerlichen) Parlaments – vornehmlich Ständevertreter, die in die Tagespolitik eingreifen konnten und für eine konstitutionelle Monarchie mit ständischer Repräsentation arbeiteten. Zu diesen Kreisen pflegten H. und sein Freund Hegel nachhaltige Beziehungen und nahmen an ihren Diskussionen über eine zukünftige Staatseinrichtung teil. Und noch ein öffentliches Ereignis dürfte in diesen Kreisen gewiss nicht unbemerkt geblieben sein: im Jahr 1804, dem selben Jahr, an dessen Ende Napoleon sich zum Kaiser der Franzosen krönen ließ, war das erste moderne Bürgerliche Gesetzbuch erschienen
und in Kraft gesetzt worden: der Code Civil, als dessen Urheber Napoleon gelten konnte.
26.2 Zur Pindar-Rezeption Hölderlins Schon in der Antike galt Pindar als der mit Abstand bedeutendste der griechischen Lyriker. Entsprechend hat Horaz (Carmina IV, 2) ihn besungen und zum unübertreffbaren Klassiker gemacht. Seine antike Wertschätzung zeigt sich auch darin, dass von seinem Werk immerhin doch große Teile vollständig erhalten sind, während von den anderen griechischen Lyrikern des 6. und 5. Jh.s fast nur Fragmente einzelner Gedichte übrig geblieben sind. H. fasst schon in einem seiner beiden 1790 geschriebenen Magisterspecimina, das die Geschichte der schönen Künste unter den Griechen zum Thema hat, zusammen: »Nun aber treffen wir auf einen Mann, bei dem sich al les vorige vergessen ließe: es ist Pindarus. Wir bewun dern, die Griechen vergötterten ihn. In der Königl. Halle zu Athen stand seine eherne Bildsäule, mit einem Dia dem bekränzt. Zu Delphi war der Stuhl, auf dem er den Apollo besang, wie eine Reliquie aufbewahrt. Plato nennt ihn bald den göttlichen, bald den weisesten. Man sagt, Pan singe seine Lieder in den Wäldern. Und als der Eroberer Alexander seine Vaterstadt Theben zerstörte, schonte er das Haus, wo einst der Dichter ge wohnt hatte, und nahm seine Familie in Schuz. Ich möchte beinahe sagen, sein Hymnus sei das Summum der Dichtkunst. Das Epos und Drama haben grösern Umfang, aber eben das macht Pindars Hymnen so un erreichbar, eben das fordert von dem Leser, in dessen Seele seine Gewalt sich offenbaren soll, soviel Kräfte und Anstrengung, daß er in dieser gedrängten Kürze die Darstellung des Epos und die Leidenschaft des Trauerspiels vereinigt hat. Pindar soll sehr viel ge schrieben haben: wir haben nur noch die auf die grie chischen Spiele verfertigten Siegeshymnen vollstän dig. Sein Vater soll ein Flötenspieler und auch er soll darin unterrichtet gewesen sein. Pythagoras war sein Lieblingsphilosoph. Er starb ungefähr in der 81. Olym piade.« (MA 2, 24 f.)
Die meisten der in diesem Abschnitt enthaltenen Informationen stammen aus J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (Leipzig 1771). Dass H. sie so ausführlich wiedergibt, spricht für eine besondere Vorliebe für Pindar, die sich auch schon in einer frühen Maulbronner Ode aus dem Jahr 1787 ausdrückt.
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Unter dem Titel Mein Vorsaz fragt sich H. bezüglich seiner dichterischen Ambitionen: »Ists schwacher Schwung nach Pindars Flug? Ists/ Kämpfendes Streben nach Klopstoksgröße?« (MA 1, 14) Hier vergleicht H. seine eigenen dichterischen Versuche schon mit den klassischen Größen des Altertums (Pindar) und der Gegenwart (Klopstock). Der Vergleich mit Pindar nimmt dabei das Motiv auf, das schon Horaz in einer Ode geschaffen hat: wer dem Pindar nachzueifern versucht, der wird wie Ikarus mit seinen Wachsflügeln ins Meer abstürzen (Carmina IV, 2, 1–4). Zu einer ausgiebigen und eingehenden Beschäftigung mit dem Werk Pindars kommt es allerdings erst im Jahr 1800. In dieses Jahr – strittig, ob an den Anfang (Beißner) oder das Ende (Sattler) – gehört die sogenannte Große Pindarübertragung (s. Kap. 27). Dabei handelt es sich um ein Oktavheft, in das H. die Entwürfe von Übersetzungen von insgesamt 17 Pindarischen Hymnen eingetragen hat. Nicht alle dieser Entwürfe sind fertiggestellt, aber alle sind nach einem Prinzip verfertigt, das dem Dichter den Einblick in die poetische Technik des Pindar ermöglicht: H. übersetzt weitgehend interlinear, d. h. er versucht, die Wortstellung des Griechischen auch im Deutschen nachzuahmen. Man muss dazu freilich erwähnen, dass die Wortstellung in griechischer (und lateinischer) Lyrik außerordentlich frei gehandhabt werden darf gegenüber den Regeln der syntaktisch gebotenen Wortstellung in der normalen Prosa. Wenn man die kühne, der Syntax trotzende Wortstellung des Griechischen beibehält, entstehen fremdartig klingende Sätze wie die folgenden: [...]: welch Land, o Fremdling, rühmest du Das väterliche zu seyn? Und wer der Menschen dich der erdgeborenen dem dunklen Dich entsandte dem Leibe? Mit verhaßtesten nicht mit Lügen Beflekend sage die Abkunft. (MA 2, 221)
So spricht in Pindars vierter Pythischen Ode der König Pelias den jungen Helden Jason an. H.s Text ist gewissermaßen ein Mischmasch aus deutschen Worten und griechischer Syntax, bzw. Wortstellung (vgl. Franz 2010). Seit Norbert von Hellingraths Untersuchungen von 1910 (s. Kap. 37) ist es deutlich geworden, dass in dieser künstlich geschaffenen Übersetzersprache der Ursprung liegt für den Sprachstil und die Diktion der Gesänge (s. Kap. 32) H.s. Zwar hat H.
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hier anfangs auch versucht, die spezielle Kompositionsform der Pindarischen Strophen nachzuahmen (etwa in Wie wenn am Feiertage ...). Pindar benutzt nämlich häufig eine triadische Strophengliederung, in der auf eine metrisch einheitliche Strophe eine metrisch abgewandelte Antistrophe folgt, die wiederum durch eine die Triade abschließende Epode ergänzt wird. Zwar sind die metrischen Gesetze dieser Aufeinanderfolge von Strophe, Antistrophe und Epode zu H.s Zeit noch nicht endgültig geklärt, aber dass diese triadische Form bei Pindar vorherrscht, ist aus den antiken Kommentatoren bekannt. Es hat einige Versuche gegeben, besonders von dem Klassischen Philologen Albrecht Seifert, auch in anderen Gedichten H.s nach 1800 die Pindarische Triadik wiederzufinden (vgl. Seifert 1982 und 1983). Es zeigt sich jedoch, dass die späten Gesänge zwar insgesamt dem Pindarischen Vorbild nacheifern, ihn aber doch nicht zu kopieren versuchen, sondern jeweils einem individuellen »Gesetz« ihre Gestalt verdanken (vgl. H.s Bemerkungen zur Rhein-Hymne über das »Gesez dieses Gesanges« (MA 3, 191). Die Große Pindarübertragung hat H. vertrauter gemacht mit der Welt des griechischen Dichters und, in gewissem Maß, auch mit dem, was die philologische Gelehrsamkeit um 1800 zu bieten hatte. Das kann man allein daraus schließen, dass sich H. bei seiner Übersetzungsarbeit von 1800 die damals neueste Pindarausgabe zugrunde gelegt hat, diejenige nämlich von Christian Gottlob Heyne (Pindari Carmina, Göttingen 1798). H. ahmt häufig die Zeilenbrechungen von Heynes Versuch, die Strophen- und Versformen des griechischen Originals zu rekonstruieren, nach. Auch in den Annotationen Heynes hat er einiges zum damals neuesten Stand der Pindar-Philologie erfahren. Die Pindarfragmente, vier oder fünf Jahre später geschrieben, benutzen dennoch eine andere Pindarausgabe, die sich dann auch in H.s Nürtinger Büchernachlass nachweisen lässt. Es handelt sich um die Duodezausgabe des berühmten französischen Humanisten Henri Etienne (Henricus Stephanus) aus dem Jahr 1560. Sie enthält im ersten Bändchen Pindars Epinikien und im zweiten Fragmente aller neun griechischen Lyriker; darunter eben auch solche von Pindar. Beiden Bänden ist jeweils eine sehr genaue lateinische Übersetzung beigegeben. Diese praktische kleine Taschenausgabe besaß H. also und sie hatte für ihn den Vorteil, dass sie sich eben auch auf Spaziergänge mitnehmen ließ: nicht nur sein Romanheld Hyperion, auch H. las und dichtete gern im Freien.
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26.3 Analyse Alle neun Texte haben den gleichen dreigliedrigen Aufbau. Auf eine Überschrift folgt ein übersetztes Pindar-Zitat, von dem aus ein Kommentar seinen Ausgangspunkt nimmt oder zu dem er hinführt. Diese Kommentare können ihrerseits kürzer oder länger sein, aus nur einem Absatz bestehen, oder aus mehreren. a) Titel b) Pindar-Zitat c) Kommentar Da die Tendenz, die man in der Überschrift zu erkennen glaubt, nicht unbedingt die der Übersetzung sein muss und vielfach erst durch den Kommentar verständlich wird, muss man den drei Abteilungen gewissermaßen eigene »Stimmen« zuordnen, die zusammen eine kontrapunktische Komposition ergeben. Eine weitere – fast durchgängige – Eigenart der neun Texte ist, dass fast immer der jeweils erste Satz des Kommentars mit einem grammatisch unvollständigen (Haupt-)Satz beginnt: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)
Fähigkeit der einsamen Schule für die Welt. Furcht vor der Wahrheit, aus Wohlgefallen an ihr. – Der Gesang der Natur in der Witterung der Musen, [...] – Eines der schönsten Bilder des Lebens, [...] Ein Scherz des Weisen, [...] Wie der Mensch sich sezt, [...] –
Nur drei (3, 5, 9) der neun Texte beginnen also mit einem grammatisch vollständigen Satz. Bei den meisten der übrigen Stücke wird der grammatisch unvollständige Satz zwar durch Nebensätze oder adverbiale Zusätze ergänzt, bleibt dennoch aber unterhalb der Schwelle einer Feststellung oder Behauptung. Diese Sätze sprechen also keine These aus, sondern rufen ein Thema auf. Dieses Thema ist u. U. nicht das Thema, das der Titel verspricht, besonders deutlich in Pf 1, wo das Thema des Kommentars (»Fähigkeit der einsamen Schule für die Welt«) in einer Art von Kontraposition zum Titel (»Untreue der Weisheit«) steht. Das ist einer der Gründe, die dafürsprechen, dem Titel des jeweiligen Textes eine eigene »Stimme« zuzubilligen. In den drei Stücken, deren Kommentarteil mit einem vollständigen Satz beginnt, wird hingegen gleich eine These aufgestellt, die dann im Folgenden auch be-
gründet werden soll. In Pf 3 ist es die These, dass das »Auffassen« des Schicksals eines Volkes vor der »Erforschung« der Gesetze stattfinden muss. In Pf 5 wird ein allgemeines »ontologisches« Prinzip aufgestellt, das dann im Einzelnen plausibel gemacht und in seinen Auswirkungen auf das Gesetzesverständnis bedacht wird. Pf 9 schließlich knüpft an einer offenbar verbreiteten Interpretationshypothese an, die bezüglich der Centauren vorgebracht worden ist und nun teilweise bestätigt, aber auch modifiziert und ausgeweitet werden soll. Was die Komposition der neun Stücke angeht, so muss man sich die symbolische Bedeutung klar machen, die der Zahl Neun schon seit den mythologischen und mathematischen Spekulationen der griechischen Antike innewohnt. Die Neun legt die Anzahl der Musen fest. Zeus soll sie in neun Nächten mit der Göttin der Erinnerung, Mnemosyne, gezeugt haben (vgl. Hesiod, Theogonie, V. 56). Da die Zahl Neun nun arithmetisch einerseits als Dreiheit von Dreiheiten (weil Quadratzahl) aufgefasst werden kann, andererseits aber als eine Figur aufgefasst werden kann, die eine eigenständige Mittelpartie und zwei gleiche Außenpartien hat (4–1-4), liegt es nahe, einerseits nach dem triadischen Prinzip drei jeweils aus drei Stücken bestehende Abschnitte zu erwarten (Pf 1–3; 4–6; 7–9), andererseits eine hervorgehobene Mitte zwischen zwei gleich langen Partien. Diese hervorgehobene Mitte (Pf 5) ist dadurch ausgezeichnet, dass sie eben die Mitte der Mitte (gewissermaßen eine potenzierte Mitte) ist: sie ist die Mitte der mittleren Triade. Und so lassen sich die beiden Figurationen der Neun mit einander kombinieren. Damit dürfte aber schon ein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Gliederungsform der Texte und ihrem Inhalt gegeben sein: das zentrale Stück trägt den Titel »Das Höchste« und behandelt »das Gesez«, womit wohl eine Korporation von Gesetzen bzw. das Prinzip der Gesetzmäßigkeit gemeint sein dürfte, die dann insgesamt die Konstitution eines Staates ausmachen. Von diesem Zentrum der neun Texte (Das Höchste) muss eine Rekonstruktion der Komposition des Gesamttexts der Pf ausgehen, ganz gleich, ob sie diesen Zentraltext als Mitte zwischen zwei Viererblöcken oder als Mittelstück der mittleren Triade verstehen möchte. Ob der Rest der Texte sich danach so anordnen lässt, wie ich es 2002 in der ersten Auflage dieses Handbuchs nach Art einer Ringkomposition vorgeschlagen habe, bezweifle ich heute. Eine kurze Paraphrase der neun Texte soll den Zugang zu ihrem Inhalt erleichtern:
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1) Untreue der Weisheit Die Anrede »O Kind« ist charakteristisch für die Redeform des Weisheitslehrers, die H. schon in seinem Magisterspecimen über die Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen als solche hervorhebt (vgl. MA 2, 31). Die Weisheit, die im Pindarzitat spricht, empfiehlt dem in die »Welt« Aufbrechenden die Assimilation an die jeweilige politische Umgebung (»allen Städten geselle dich«), nach dem Vorbild des seine Farbe dem jeweiligen Untergrund anpassenden Octopus. Der Kommentar geht von einer alternativen Situation aus: die »einsame Schule« steht für diejenige Erziehungsweise, die nicht in einer polis (»Stadt«), sondern außerhalb aller politischen Zusammenhänge stattfindet. Für das Curriculum dieser »Schule« ist die Vermittlung von »reinem Wissen« das zentrale Moment, also eines Wissens, das nicht aus (eigener) Erfahrung gewonnen wurde, sich also (noch) nicht auf die externe Welt eingelassen hat und daher als »unschuldig« im Sinne von »naiv« bezeichnet wird. Die Fähigkeit (»Kunst«), die hier gelernt wird, heißt »Klugheit« und ist gekennzeichnet durch die »Treue«, die sich wohl auf die »getreue« Wiedergabe des Gelernten bezieht. Vom Standpunkt dieser »Treue« aus gesehen, ist das, was der Weisheitslehrer empfiehlt, »Untreue«. Daher der Titel Untreue der Weisheit, der freilich nicht impliziert, dass der Standpunkt der Klugheit der angemessene ist. Das klassische Beispiel für eine Entscheidung zwischen beiden Handlungsweisen (Weisheit vs. Klugheit) ist der erste Auftritt des jungen Jason vor den Usurpator Pelias, das der Text abschließend zitiert. Jason ist nicht in der »Stadt« erzogen worden, sondern in der unbewohnten (»einsamen«) Bergwelt des Pelion durch den Kentauren Chiron. Wie der Fortgang der Erzählung in Pindars Pythischer Ode IV allerdings deutlich macht, wird das erste Auftreten Jasons im Rahmen des Pindarischen Narrativs als unangemessen dargestellt. 2) Von der Wahrheit Die Wahrheit macht den Anfang der Tugend, der Anfang impliziert aber ein Missverhältnis zwischen dem Projekt (Tugend) und dem Sinn perzipierenden oder gar produzierenden Subjekt. Denn dieses »erste lebendige Auffassen« der Wahrheit kann, insofern es »reines Gefühl« ist, nicht auf vorgängige Erfahrung zurückgreifen und ist deshalb wandelbar und irritabel. Daher ist das »reine Gefühl«, welches »im lebendi-
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gen Sinne« stattfindet, eben auch Verwirrungen ausgesetzt und daraus entstehen Irrtümer, so dass sich die paradoxe Situation ergibt, dass die (Ehr-)Furcht vor der Wahrheit zu Irrtümern verleitet. Diese »Irrtümer« gehören offensichtlich zu dem, was das »Lebendige« ausmacht. So wird der undurchsichtige Spruch des Pindarzitats durch den Kontrapunkt des Kommentars verständlich. 3) Von der Ruhe Hier wird eine Priorität festgelegt: vor dem Prozess der Gesetzgebung (legislatio oder constitutio) muss »das Öffentliche« »gefaßt« werden. Die ungewöhnliche Übersetzung des griechischen Worts to koinon (»das Gemeinsame«, »der Bund«; in der lateinischen Übersetzung des Stephanus: res publica) durch »das Öffentliche« leitet schon über zu der »modernisierenden« (und insofern ebenfalls »kontrapunktischen«) Interpretation des Kommentars. Dort nämlich wird das »Fassen« des »Öffentlichen« in die Handlung übersetzt, dass der »Karakter« des geschichtlichen Ergehens (»Schiksaal«) des jeweiligen »Vaterlands« »aufgefaßt« werden soll. (Dabei muss in Erinnerung gerufen werden, dass der Begriff »Vaterland« im Sprachgebrauch H.s vor allem die politische Einheit bezeichnet, der ein jeweiliger »Bürger« angehört: vgl. Franz 2013.) Erst wenn diese historische Rekapitulation geschehen ist, und diese Aufgabe muss »ein Gesezgeber oder ein Fürst« übernehmen, können die Gesetze ihre Funktion, ihr Mittel-sein (nämlich ein Mittel, die »Ungestörtheit« des Ergehens eines Vaterlands »festzuhalten«, d. h. zu bewahren), ausüben. 4) Vom Delphin Im Bild des tanzenden Delphins wird eine emblematische Figur entdeckt, die den zeitlichen Kulminationspunkt beschreibt, an dem Natur in Kunst (»Gesang«) übergeht. Dieser »Moment« ist ein Augenblick (fast) totaler Einheit (Identität von Natur und Kunst), der durch die »Witterung« (wohl im metereologischen Sinn) der Musen ermöglicht wird. In diesem Moment sind alle Trennungen (die im »normalen« Leben stattfinden) aufgehoben. Bedürfnisse und sprachlicher Austausch finden nicht statt, alles ist »Gesang« (was chorisch gemeint ist) und »reine Stimme«, also nicht der Kommunikation dienende Verlautbarung. So wird der jeweils eigene »Ton«, den »jedes Wesen« angibt, nicht in der Differenz zu den Tönen anderer Wesen begründet, sondern in seiner
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»Treue«, die als die »Art, wie eines in sich selbst zusammenhängt«, bestimmt wird. Hier ist »Treue« also nicht als ein Verhältnis zu Anderem, Objektivem zu verstehen, sondern als ein Selbstbezug, der ein Wesen konstituiert. 5) Das Höchste Das Pindarzitat ist schon im klassischen Altertum – allerdings zumeist in einer naturrechtlichen Umdeutung (vgl. Baum 1964, 66) – zu einem Standard-Topos geworden. H.s Kommentar geht seine eigenen Wege. Hier wird das Thema des Gesetzes, das schon im Pf 3 eine Rolle spielte, im ersten Abschnitt erneut aufgegriffen und nun näher bestimmt. Und zwar in philosophischer Terminologie durch die Gegenüberstellung von »Unmittelbarkeit« und »Mittelbarkeit«. Das Gesetz, das als Mittel fungiert, regiert zwar mit »allerhöchster Hand«, aber es ist nicht der Herrscher (»König« als bloßer Erkenntnisgrund) in Staat und Kirche, sondern Mittel zur Vermittlung zwischen den Teilnehmern der jeweiligen Institution. Dass der Kommentar nicht der gewöhnlichen naturrechtlichen Auslegung folgt, wird durch die Konkretionen deutlich, die im letzten Abschnitt des Kommentars herangezogen werden: »Zucht« (hier vor allem im Sinne von »Erziehung«) sowie »der Kirche und des Staats Gesez«. Diese Institutionen sind ja gerade solche des »positiven«, d. h. geschichtlich zu einem bestimmten Zeitpunkt »gesetzten« Rechts und keine naturrechtlichen Voraussetzungen. Eine Anknüpfung an die kritische Fichte-Rezeption, die in H.s frühem Aufsatz Seyn, Urtheil, Modalität vorliegt, findet sich in der Argumentation, dass menschliche »Erkenntniß nur durch Entgegensezung« zustande kommen könne, dass also Fichtes Begriff des »Setzens« eo ipso ein »Entgegensetzen« sei. 6) Das Alter Die Qualifizierung des Pindarzitats als »[e]ines der schönsten Bilder des Lebens« scheint dem »ästhetischen« Gehalt der Pindarischen Verse zu gelten. Zu berücksichtigen ist aber, dass »Schönheit« für H. nicht in erster Linie eine ästhetische Bestimmung ist, sondern einen ontologischen Grundzug meint, d. h. eine konstitutive Eigenschaft der »Welt« oder des Kunstwerks, das die »Welt im verringerten Maßstab darstellt« (MA 2, 376). Nachdem bisher fast nur von Anfängen die Rede war, kommt nun das Ende des Lebens in den Blick.
Die Beruhigung des Lebensabends nach »recht[em] und heilig[em]« Leben wird durch die »Hoffnung« charakterisiert, die im Alter am Leben hält, indem sie die Zeit anhält. Die »eilende Weile« ist eine Anspielung auf den Wahlspruch des Kaisers Augustus: spevde bradeōs, den Goethe in Hermann und Dorothea durch »Eile mit Weile« übersetzt hatte. H.s Aufnahme der Devise des Augustus impliziert freilich die hervorgehobene Stellung dieses ersten Kaisers im Rahmen der politischen Geschichte (Beginn des »Römischen Reichs«) ebenso wie in der christlichen Heilsgeschichte (vgl. die zeitliche Lokalisierung der Geburt Jesu in den Tagen des Kaisers Augustus). 7) Das Unendliche Der Kommentar konstruiert einen Konflikt zwischen Recht und Klugheit, der nur in »durchgängiger Beziehung« und in »einem Dritten« seine Lösung finden könne. Dieses Dritte scheint in der Überschrift des Stücks benannt zu werden: »Das Unendliche«. Eine Möglichkeit der Bestätigung dieser Deutung bestünde in dem Verweis auf ein analoges Problem, das H. fast 10 Jahre vorher aufgegriffen hat: damals ging es um die Frage, ob »das Ideal des Wissens« zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht werden könne, oder nicht (MA 2, 50). Einer entgegengesetzt lautenden Auffassung, die offenbar den Begriff der »unendlichen Annäherung« (an das »Ideal«) als »Annäherung an das Unendliche« versteht und diese »unendliche Annäherung« mit der Erreichung des Ziels gleichsetzt, hält H. in geometrischer Metaphorik den Zweifel entgegen, »ob denn wirklich die Hyperbel mit ihrer Asymptote vereinigt«, nicht einen Widerspruch in sich mit sich bringe (vgl. MA 2, 51). Analog dazu wäre im Pindarfragment der Schluss naheliegend, dass die »Vereinigung« von Recht und Klugheit nur »im Unendlichen« stattfinden kann, was aber nicht heißen kann, dass sie zusammenfallen. Ihr Unterschied ist ein prinzipieller und das bleibt er. Das Recht, das bei Pindar und in H.s Dichtung mit der Eigenschaft »gerade« verbunden ist (vgl. Seifert 1998, 31 ff.), wird hier im geometrischen Sinn gedeutet als »Gerade«, die von keiner »krummen Linie« (dies der im 18. Jahrhundert übliche deutsche Ausdruck für »Kurve«) je erreicht werden kann, auch nicht von einer Hyperbel. Diese Hilfskonstruktion der »krummen Linie« lässt sich aus der Übersetzung des Pindarzitats herleiten, das von »krummer Täuschung« sprach. Eine »Täuschung« ist eben dieser Glaube, die krumme Linie würde die gerade je erreichen. Außer »im Un-
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endlichen«, wie der Weise H.s augenzwinkernd (»ein Scherz«) hinzufügt.
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ten sich«) Versuch der vorzivilisatorischen Kentauren exemplifiziert. Damit wird auch hier der »Irrtum« in die Wahrheitsfindung eingebaut.
8) Die Asyle Hier geht es um eine naturgeschichtliche Deutung der Sesshaftwerdung des Menschen, die aus der (eigenwillig adaptierten) griechischen Mythologie hergeleitet wird. Für die Einzelheiten der Umdeutung des vorliegenden Pindar-Zitats sei auf Seifert 1998 (und Franz 2020) verwiesen. Die »ordnungsliebende Themis«, die griechische Göttin der »Sittlichkeit«, also der vor-staatlichen Normen, hat, wie es der Kommentar will, nachdem sie von den Horen (sie sind mit den »Zeiten« der H.schen Übersetzung gemeint) zum Beilager mit Zeus geführt worden ist, eine Anzahl von »Ruhestätten« geboren, die dem Menschen, der bislang auf der Suche nach einer Bleibe »keine Ruhe fand«, ein Sesshaftwerden erlauben. Dort, an diesen »stillen Ruhestätten« wird der Mensch »froh«, »wo er sich halten kann«. »... wo er sich halten kann« heißt, wo er sich festhalten, aber auch seinen Unterhalt finden kann, wo er »existieren« (und nicht nur subsistieren) kann. Wo »sein Geist« nicht mehr von seinem »Sinn für Vollkommenes« weitergetrieben wird, sondern »Ruhe« findet. Zugleich wird das Narrativ des Kommentars aber ständig von Anspielungen auf die antike Asylie durchwoben, aus deren institutionellen Zusammenhängen auch die Anspielung auf Prophetie und Orakelwesen (»ein Ahnendes«) genommen ist. 9) Das Belebende In diesem Stück wird eine damals gängige, entmythologisierende Interpretation der Kentauren (Kentauren als »Stromgeister«) zunächst in eine erdgeschichtliche Betrachtung eingepasst (Näheres bei Killy 1954). In einem zweiten Schritt wird die Entwicklung der Kulturlandschaft (mit Forst- und Gartenbau) als eine Folge dieser erdgeschichtlichen Vorgänge erklärt, die aber dann zur ersten Begegnung der Kentauren (des »Stromgeists«) mit der berauschenden Wirkung des Weins führt. Nun stehen die Kentauren (wie die Zyklopen der Odyssee) für eine überwundene Lebensform. Der entscheidende Übergang der menschlichen Kultur von der fertige Nahrung konsumierenden Lebensweise (Milch) zum Genuss eines durch Gärung verarbeiteten, berauschenden Lebensmittels (Wein) wird an dem fehlschlagenden (eplazonto, sie »bethör-
26.4 Deutung Das Themenfeld, das in den Pindarfragmenten durchreist wird, hat mit verschiedenen Formen und Aspekten des Rechts zu tun (so auch schon Schmidt 1978, 5). Für H.s Durchquerungen dieses Gebiets gilt, was Wittgenstein von seinen Philosophischen Untersuchungen feststellen musste, nämlich dass er darin gezwungen war, »ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen«, so dass »eigentlich nur ein Album« entstanden sei (L. W., Philosophische Untersuchungen. Kr.-gen. Edition. Frankfurt a. M. 2001, 742) Freilich tauchen auf diesen Bildern des H.schen »Albums« bestimmte Motive immer wieder auf. Neben den zu erwartenden Begriffen des »Gesetzes« und der »Sitte« und der grundlegenden Unterscheidung zwischen »Wahrheit« und »Irrtum« ist es vor allem das Motiv der »Treue«, das im positiven und im negativen Sinn immer wieder herangezogen wird. Und dieses Motiv ist dann auch das einzige, das die übrigen Texte mit dem Fragment über den Delphin verbindet. H.s frühes Interesse an der Rechtswissenschaft ist gut belegt (s. V. 23: Theoretische Schriften zu Über den Begriff der Straffe), bis hin zu seinem Wunsch, das Studium der Theologie zugunsten der Jurisprudenz aufzugeben, der sich allerdings nicht erfüllen ließ. Nur wenige Jahre später, in Jena 1794, hebt er in seiner ersten Charakteristik der Philosophie Fichtes hervor, dass dieser sich vorgenommen habe, »[i]n den entlegensten Gebieten des menschlichen Wissens die Prinzipien dieses Wissens, und mit ihnen die des Rechts aufzusuchen und zu bestimmen« (MA 2, 553). Diese enge Verknüpfung der Prinzipien des Wissens (Wissenschaftslehre) mit denen des Rechts (Rechtsphilosophie) antizipiert Fichtes Konzeption des »Naturrechts« als einer intersubjektiv (und nicht etwa moralisch) zu begründenden Rechtswissenschaft, die der Jenaer Philosoph erstmalig in seiner Naturrechtsvorlesung von 1795/96 öffentlich vortrug und dann Ende 1796 als Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre drucken ließ. H., der schon im November 1794, im oben bereits zitierten Brief an Neuffer, von Gesprächen mit Fichte (wohl auch über dieses Thema) berichtet und im Sommer des folgenden Jahrs seinem Freund Hegel mitteilt, Fichte lese im
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kommenden (Winter-)Semester 1795/96 über das von ihm schon für den Sommer 1795 angekündigte, wegen der Studentenunruhen des Frühsommers aber nicht zustande gekommene »Naturrecht« (MA 2, 601), blieb weiterhin interessiert gerade an diesem Teil der Wissenschaftslehre Fichtes. Seinem Bruder kündigt er im November 1796 an, er wolle ihm »[ü] ber Fichte’s Naturrecht [...] das nächstemal schreiben« (MA 2, 640). Tatsächlich stellt er im nächsten Brief an Karl Gock vom Januar 1797 das Naturrecht an die Seite der Mathematik (!), da beide »die einzigen, in diesem Grade vollkommenen reinen Wissenschaften im Gebiete des menschlichen Geistes« seien (MA 2, 645). Eine »reine Wissenschaft« ist das Naturrecht – so wird man ergänzen dürfen – weil es nicht auf einer empirischen, bzw. historischen Grundlage erbaut ist (wie das »positive« Recht), sondern unmittelbar aus den »Prinzipien des Wissens« abgeleitet werden kann. Diese letzteren sind für Fichte bekanntlich zunächst das sich-selbst setzende und sich durch ein Nicht-Ich beschränkende Ich, dann aber, nach der Revision seines Ansatzes durch die Grundlage des Naturrechts (1796), das sich selbst setzende und »andere endliche Vernunftwesen außer sich« (Fichte 1960, 30) notwendigerweise einbeziehende Ich. Überdeutlich ist das in einer Nachschrift von Fichtes Naturrechtsvorlesung von 1795/96 formuliert: »also ist das Bewußtseyn gar nicht möglich, ohne ein Rechtsverhältniß mit andern vernünftigen Wesen« (Fichte in Franz 1994, 27 f.). Nachdem sich 1797 die politische Lage insbesondere in Württemberg durch den Einmarsch der französischen Truppen spürbar verändert hatte, müssen H.s Überlegungen zur Begründung des Rechts zunehmend auch das Politische einbegriffen haben. Am Ende dieses Denkprozesses stehen die Pindarfragmente. In ihnen kommt der Begriff »politisch« zwar nicht vor und der seit Hegel im Zentrum politischer Philosophie stehende Begriff des »Staates« nur eher beiläufig (Pf 5). Das liegt freilich unter anderem auch daran, dass »Politik« zu H.s Zeiten noch meistenteils nur das tagespolitische Geschehen meinte und der Begriff des »Staates« erst auf dem Wege von der geographischen Terminologie in eine die politischen Institutionen reflektierende Theorie war. »Statistik« im Sinne von »Staatenlehre« war auch zur Zeit von H.s Studium in Tübingen noch ein rein deskriptiver Teil der Geographie (vgl. die Teiledition einer die »Allgemeine Statistik« betreffenden Tübinger Vorlesungsnachschrift: Bassermann-Jordan und Franz 2011). Das Fehlen des Begriffs des »Politischen« könnte freilich auch darauf
hinweisen, dass er dem Autor als ein zu »prosaischer« Ausdruck erschien, was wiederum dafür spricht, dass H. seine Pindarfragmente nicht so sehr als essayistische Prosa, sondern als eine, wenn auch »eigene« Form von Dichtung verstanden wissen wollte. Wahrheit und Irrtum Grundlage des Denkens – nicht nur des philosophischen, sondern ebenso des »alltäglichen« – ist traditionell die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum, die sich im strengen Sinn gegenseitig ausschließen. Mit dieser Tradition möchte H. schon in einem Text brechen, den er vermutlich im Jahr 1798 aufgesetzt hat. Dort heißt es: »Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irr tum, weil sie ihn im ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle sezt, zur Wahrheit wird.« (MA 2, 59)
Der Irrtum findet seinen »wahren« Platz innerhalb der »wahrsten«, d. h. den Irrtum mit einbegreifenden »Wahrheit«. Diese Wahrheit schließt also den Irrtum nicht aus, sondern ein. Eine solche geschichtliche Auffassung von Wahrheit findet sich – außerhalb der H.schen Texte – allenfalls bei H.s Freund Hegel. Für ihn ist »Wahrheit« nicht etwas, was vor allem »Erkennen« schon feststeht, weshalb das Erkennen sich vor dem Irrtum »fürchten müsse«; vielmehr sei diese Furcht vor dem Irrtum selbst nichts anderes als »Furcht vor der Wahrheit« (Hegel 1988, 58 f.). Die Phänomenologie des Geistes lässt sich verstehen als eine »wissenschaftliche Geschichte des Bewußtseins«, in der »die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges« begriffen werden, »durch welchen er [sc. der Geist] reines Wissen oder absoluter Geist wird« (ebd., 550). Das Ziel eines »absoluten Geistes« findet sich bei H. nicht und »Irrtum« hat bei ihm auch nicht den Charakter der »Vorläufigkeit«, der bei Hegel den Fortschritt (das »Vorlaufen«) des Geistes markiert. Dennoch ist eine Verwandtschaft der Konzeptionen H.s und Hegels unverkennbar, zumal sie sich historisch durch den gemeinsamen Diskussionszusammenhang wahrscheinlich machen lässt, der die beiden Freunde in Frankfurt (1797–1799) verband. In den Pindarfragmenten taucht der »Irrtum« schon gleich im ersten Stück auf. Dort wird das »Wissen« als »die Kunst, bei positiven Irrtümern im Verstande sicher zu seyn«, definiert (MA 2, 379). Dabei ist zu beachten, dass es nicht heißt »vor positiven Irrtümern ... sicher zu seyn«, sondern eben »bei positiven
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Irrtümern ... sicher zu seyn«. Die Irrtümer können also nicht vermieden oder ausgeschaltet werden. Sie sollen aber den »Verstand« – was hier nicht ein geistiges Vermögen, sondern einen Vorgang, nämlich das »Verstehen« bezeichnet – nicht der Orientierung (hin auf die »wahrste« Wahrheit) berauben. Ihr Vorkommen gehört zu dem, womit zu rechnen ist. Nun sind hier in diesem Text die »Irrtümer« aber spezifiziert als »positive Irrtümer«. Der Begriff der »Positivität« (wörtlich: das »Gesetzte«) wird in den rechts- und religionsphilosophischen Debatten des 18. Jh.s als Gegensatz zum »Natürlichen« konstruiert: »positives Recht« ist das zu irgendeinem historischen Zeitpunkt festgelegte (und codifizierte) Recht im Gegensatz zum »Naturrecht« (s. o.), das, der Fiktion nach, »von Natur aus« und an allen Orten, zu allen Zeiten gilt. Entsprechend bezieht sich der Ausdruck »positive Religion« auf eine jeweils historisch entstandene Ausprägung von Religion (z. B. das Judentum oder das Christentum) und kontrastiert einer postulierten »natürlichen Religion«. Der Diskurs der Aufklärung verwarf den Geltungsanspruch vor allem der »positiven Religion« (s. Lessings Nathan), aber auch des »positiven Rechts«, das als zeitbedingt und nur relativ gültig gewertet wurde. H.s Freund Hegel hat sich mit diesem Problem der »Positivität« seit dem Ende seiner Berner Zeit (1796) und dann besonders in der darauf folgenden Frankfurter Epoche (bis Ende 1800) intensiv beschäftigt. Er ging aus von der Kritik der positiven Religion in Lessings religionsphilosophischen Schriften, entwickelte aber in Frankfurt eine Sicht des Problems, die das Positivwerden als einen notwendigen Prozess in der Entwicklung der religiösen Begriffe zu begreifen in der Lage war. Gleichzeitig arbeitete H. in seinem Empedokles-Projekt die Problematik des Positivwerdens in die Konstellation seines Protagonisten im politischen Kontext der Stadt Agrigent ein. So schreibt er im Grund zum Empedokles über seinen Helden: »die Furcht, positiv zu werden, muß seine gröste natürlicher weise seyn« (MA 1, 877). Denn das »Positive« ist das dem »Untergang« geweihte, weil in ihm das Unendliche (Religion oder Recht) endlich gemacht (fixiert, positiv) und daher obsolet wird. »Positive Irrtümer« sind also solche, in denen Wahrheit festgeschrieben, d. h. endlich und damit vergänglich gemacht wird. Sie sind allerdings, wie gesagt, unvermeidlich. Denn das, was den menschlichen Verstand übersteigt, soll diesem ja dennoch zugänglich sein; und das ist nur möglich durch ein »Positivwerden« (und damit Irrtum werden) dessen, was vor allem »Gesetzt-sein« ist. Im Vers zusammengefasst:
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Aber das Irrsal Hilft, wie Schlummer und stark machet die Noth und die Nacht. (MA 1, 378)
Weisheit und Klugheit Auch dieser Gegensatz durchzieht die gesamte Komposition des Textes. Er ordnet ja nicht nur das erste Stück, sondern taucht im siebten wieder auf. Die Weisheit Griechenlands (und des Orients; vgl. schon im Magisterspecimen über Salomon und Hesiod MA 2, 38) hat H. schon seit seiner Studienzeit in Tübingen fasziniert und sie war für ihn Leitbild bis in die Pläne zu Beiträgen für Neuffers Journal (1799), die u. a. einen »prosaischen« Aufsatz »über das Leben und die Karaktere von Thales und Solon und Platon enthalten« sollten (MA 2, 766). Insbesondere die beiden Ersteren werden als Prototypen jener Weisheit hervorgehoben, die H. bewundert. So heißt es in einem Brief, der fast zur gleichen Zeit an den Bruder geschrieben wurde: »das affectirte Geschrei von herzlosem Kosmopolitis mus und überspannender Metaphysik kann wohl nicht wahrer widerlegt werden, als durch ein edles Paar, wie Thales und Solon, die mit einander Griechen land und Aegypten und Asien durchwanderten, um Bekanntschaft zu machen mit den Staatsverfassungen und Philosophen der Welt«. (MA 2, 726)
Dieser zu Unrecht als »herzlos« verschriene Kosmopolitismus ist es, den das Pindarzitat empfiehlt: »allen Städten geselle dich«. Hier wird er – in einem durchaus ambivalenten Sinn – »Untreue« genannt. Ambivalent insofern, als die Untreue, zieht man entsprechende Passagen aus den Anmerkungen zum Oedipus heran, als etwas anzusehen ist, das nicht ohne weiteres zum moralisch Anzurechnenden und Verwerflichen zu zählen ist. Denn es ist bisweilen unvermeidlich, dass »der Gott und der Mensch [...] i n d e r a l l vergess enden For m der Unt reue sich m i t t h e i l t [...]« (MA 2, 316). Die Rede von der »Untreue der Weisheit« ist also, von der übergeordneten Warte der Überschrift aus gesehen, nicht als ein moralisches Verdikt zu verstehen, sondern allenfalls vom Gesichtspunkt der nicht kosmopolitisch denkenden, sondern in der »einsamen Schule« sich auf die Kunst des »getreuen« Wiedergebens des Gelernten beschränkenden »Klugheit«. »Klugheit« ist ein Begriff, der in der H. zeitgenössischen Philosophie keine sehr vorteilhafte Bewertung
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erfährt. Kant spricht in einem Anhang zu der vielgelesenen Schrift Zum ewigen Frieden (1795) von einem falschen Verständnis von Moral, wenn sie als theoretische »Klugheitslehre« (mis-)verstanden wird, und somit als eine »Theorie der Maximen [...], zu seinen auf Vortheil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen«. Dies hieße aber nichts anderes als zu »läugnen, daß es überhaupt eine Moral gebe« (Kant AA VIII, 370). Diese Kantische Verwerfung einer »Klugheitslehre« reagiert freilich auf etliche im Lauf des 18. Jh.s unternommene Versuche, die Politik als eigenständige Lehrdisziplin zu etablieren. Dabei wurde der griechische Disziplin-Name »Politik« durch den deutschen Terminus »Klugheitslehre« wiedergegeben. So etwa bei Johann Andreas Fabricius: »Die Klugheitslehre oder Politik [...] ist die Wissenschaft der Klugheit überhaupt, das ist, der Fertigkeit weislich erwehlte Mittel wohl anzuwenden, in erlaubten und gleich gültigen Dingen seinen Nutzen zu befördern« (Fabricius 1752, 409). Der Autor unterscheidet noch besonders die »Privatpolitik oder Kunst zu leben« von der »Staatspolitik, Staatsklugheitslehre oder d[er] Kunst zu herrschen« (ebd.) Die hier in der Definition sogleich hinzugefügte Einschränkung »in erlaubten und gleichgültigen Dingen« versucht, den sich abzeichnenden Konflikt zwischen Politik und Moral/Recht zu umgehen, was Kant im zitierten »Anhang« von Zum ewigen Frieden als aussichtslos erweisen möchte. Der politische Begriff der Klugheit (bzw. »Staats-Klugheit«) lässt sich zurückführen auf den Begriff der »Staatsräson«, der seinerseits in der Rezeption der politischen Philosophie des Machiavelli geprägt wurde. In den Pindarfragmenten H.s wird der Begriff »Klugheit« allerdings in einem zweifachen Sinn (und also ambivalent) gebraucht. Einmal im Pf 1 im Gegensatz zur »Weisheit«, zum andern im Pf 7, wo sie im Streit mit dem »Recht« liegt. In beiden Fällen ist sie als theoretisches Vermögen (»Kunst«) gekennzeichnet. Im ersten Fall dient sie der Vergewisserung »unter verschiedenen Umständen«, im zweiten wird sie gar ausgeweitet auf die Kunst »krummer Täuschung«, was wiederum auf die Machiavelli-Rezeption verweist. Recht und Gesetz »Recht« ist für H. im allgemeinsten Sinn »ein Grades« (MA 1, 325), im Gegensatz zum »Schiefen« (ebd.) oder »Krummen« (wie in Pf 7). Im Besonderen umfasst es einerseits die vor-staatlichen Normen (s. o.), für die eine mythologische Figur, die »gerade Tochter« (MA 1, 399), d. i. die Göttin Themis, steht (Pf 7); zum
andern aber die »Geseze« (Pf 3), die in einer politischen Gemeinschaft erlassen werden. Von beidem unterscheidet er wiederum »das Gesez« (Singular), das zwar über »Sterblichen« und »Unsterblichen« steht (Pf 5), aber eben auch nur das höchste Erkennbare (den »höchste(n) Erkenntnißgrund«) darstellt, nicht die »höchste Macht«. Entgegen der vehement vorgetragenen Auffassung von Albrecht Seifert, »[m]it dem Fichteschen SichSetzen des Ich in der primären Tathandlung ha[be] unser Text [d. i. Die Asyle mit der thematischen Eröffnung »wie der Mensch sich sezt«] sachlich nichts zu schaffen« (Seifert 1998, 58), lässt sich gerade aus der etymologischen Reflexion auf den Vorgang der Sesshaftwerdung der Zusammenhang erhellen, der für H.s Kommentar wegweisend ist. Es muss daran erinnert werden, dass der Kern von H.s Fichte-Kritik, wie er sie in Seyn, Urtheil, Modalität (s. Kap. 24) skizziert hat, darin bestand, dem Akt des Setzens, mit dem die Wissenschaftslehre Fichtes »wie aus der Pistole geschossen« (Hegel) begann, den primordialen Rang abzusprechen. Dem Setzen (von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt) ist das »Seyn« vorgeordnet, das durch die Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt definiert wird. Setzen ist nur als Prinzip des Wissens und Handelns zu konzipieren, das erst durch die Trennung (»Ur-Theilung«) eines vorgängigen »Ganzen, wovon Object und Subject die Theile sind«, d. h. des Seyns, möglich wird. Das kann übertragen werden in die Sprache des mythischen Narrativs von Pf 7. Denn dort wird das »Sich-setzen« im Kontext der naturgeschichtlichen Umdeutung des Pindarzitats als das Sesshaft-werden gedeutet, das erst dadurch möglich wird, dass »die ordnungsliebende Themis« die »Asyle des Menschen, die stillen Ruhestätten geboren« hat. Deshalb wird der Mensch, der »sich sezt«, (entgegen allen in der Antike überlieferten Genealogien) »ein Sohn der Themis« genannt. Die sichere Ruhe an Orten, »denen nichts Fremdes ankann«, ist nicht eine Errungenschaft des Menschen, sondern setzt die Hervorbringungen der Themis voraus. Und zu diesen gehören die Horen (die »Zeiten« heißt es in wörtlicher Übersetzung ihres griechischen Namens bei H.), denen in einem Seitenstück zu den Pindarfragmenten der »Ursprung der Loyoté« zugesprochen wird (MA 1, 430). Nachdem diese Themis-Töchter (Wohlgesetzlichkeit, Recht und Frieden) zur Welt gekommen sind, können sie gewissermaßen als Brautjungfern ihrer Mutter Themis mitwirken an der nun in Pf 7 beschriebenen Schaffung der »Asyle«, in denen der Mensch zur Ruhe kommen
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kann. Mit anderen Worten: Vorbedingung für das sichere Leben der Menschen in von der Natur gesegneten »Ruhestätten« ist die Installation der politischen Ordnungen guter Gesetze, des Rechts und des Friedens, die – wie es in dem eng mit den Pindarfragmenten verbundenen Pindarzitat heißt, das H. im Homburger Folioheft abgeschrieben und mit der Überschrift Ursprung der Loyoté versehen wird – das »Fundament der Städte« (bathron poliōn) gründen. Insofern kann aber H.s »Mythenkorrektur« im Pf 7 auch als metaphorische Umdeutung von Fichtes in seiner Naturrechtsvorlesung von 1795/96 revidiertem Ansatz (ohne intersubjektives Rechtsverhältnis kein Bewusstsein) verstanden werden: ohne die Etablierung intersubjektiver Rechtsverhältnisse keine »Asyle des Menschen«, kein Ort, an dem das Menschsein des Menschen unangefochten seinen Platz hat. Treue Die Loyalität, deren »Ursprung« durch die Horen gewährleistet ist, ist nun – berücksichtigt man die Ableitung des Ausdrucks von »loy«, dem französischen Wort für »Gesetz« – eine Form der »Treue«, nämlich wörtlich die »Gesetzestreue« im Sinne einer Bewahrung eingegangener »Rechtsverhältnisse«. Damit wird ein Motiv aufgegriffen, das von Anfang an in den Pindarfragmenten als eine Art Leitmotiv fungiert. Zunächst ist »Treue« als Teil der in der außer-politischen Erziehung (der »einsamen Schule«) gelernten »Klugheit« eine »Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« (Pf 1), die im Bereich des theoretischen Wissens angewendet wird. Sie bewahrt also – unbeirrt und »originalgetreu« – das Corpus des »reinen Wissens«, also jenes Wissens, das nicht aus dem empirischen Umgang mit den Dingen gewonnen ist und von daher, vor jeder möglichen Kategorisierung als »Schuld«, übernommen werden kann. Diese Art der Treue gegenüber einem vorliegenden »Original« wird im Hyperion-Roman gelegentlich durch die Metaphern des »Spiegels« (MA 1, 666) oder des »Echos« (MA 1, 647) verdeutlicht. Auf dem Gebiet des praktischen Handelns liegt die Treue, wie gesehen, in der Loyalität gegenüber den bestehenden »Rechtsverhältnissen«. Damit eignet ihr im politischen Kontext ein konservativer Zug. Sie ist das Gegenteil des Strebens nach gewaltsamer Veränderung (vgl. auch die ausdrückliche Wendung gegen den »Aufruhr« in Pf 3). Dass dieser Verzicht auf revolutionäre Veränderung in den Pindarfragmenten ebenso wie in den zeitgleich entstandenen Gedichten betont
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wird, hat durchaus etwas mit der Entwicklung der politischen Verhältnisse in den Jahren 1803–1804 zu tun (entgegen der Ablehnung einer »vordergründig politisch[en]« Deutung durch Schmidt 1978, 6). In diesen Jahren hat sich ja (s. o.) nicht nur die Umorientierung der französischen Politik in Richtung auf ein imperiales Regime vollzogen, sondern auch die Zielsetzung der württembergischen Ständevertreter hat sich durch die geheime Allianz mit dem liberalen Kronprinzen (s. Franz 2012) verändert. Wie schon J. Schmidt aufgefallen ist (Schmidt 1978, 6 ff.), tritt in diesen Jahren ein Begriff in H.s Sprachschatz auf, der zuvor von ihm kaum einmal gebraucht worden war: »Fürst«. Ein »Fürst« wird in Pf 3 – fast gegen die Intention des vorangestellten Pindarzitats, das nur von »Bürger« spricht (MA 2, 380) – als derjenige hervorgehoben, der das »Schiksaal eines Vaterlands« »auffassen« muss, bevor er sich ans Werk der Gesetzgebung macht. Zwar wird im letzten Satz dieses Texts nun auch zugestanden, dass diese Prioritätensetzung (erst Vergegenwärtigung der jeweiligen Vaterlands-Geschichte, dann Gesetzgebung) auch für den »eigentlicheren Bürger« gelte. Aber die dergestalt vorbereitete Gesetzgebung durch den »Bürger« ist nur »Nachahmung« des fürstlichen Werks. Auch diese Bevorzugung des »Fürsten« vor dem »Bürger« könnte allerdings durch den Hinweis auf die etymologische Herleitung des Wortes »Fürst« aus der Grundbedeutung »Erster, Vorderster« abgeschwächt werden. Es gibt aber genügend Belege für diese Hinwendung H.s zu den »Fürsten« auch im »vordergründig politischen« Sinn. Als Beispiele seien nur genannt die Widmung der Trauerspiele des Sophokles an die Prinzessin Auguste von Hessen-Homburg, in der H. verspricht, künftig »die Eltern unsrer Fürsten und ihre Size« zu »singen« (MA 2, 248). Auch die Notizen im HF, die unter der Überschrift Dem Fürsten notiert werden (MA 1, 403 f.), sprechen für diese politische Deutung des Begriffs, insbesondere, wenn der württembergische Herrscher als »mein Churfürst« angesprochen wird (MA 1, 404). Das Politische ist für H. in diesen Jahren des Untergangs des Heiligen Römischen Reichs nicht »vordergründig«, sondern der Hintergrund, vor dem seine Dichtung eine zusätzliche Bedeutung erlangt. Es bleibt ein einziges Vorkommen des Begriffs der »Treue«, das sich nicht in diesen theoretischen oder praktischen Verwendungszusammenhang einordnen lässt. In dem Stück Vom Delphin, in dem nicht das geringste Anzeichen auf die Anwesenheit von Menschen hindeutet, heißt es von dem Moment der Epiphanie der Musen:
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»Um diese Zeit giebt jedes Wesen seinen Ton an, seine Treue, die Art, wie eines in sich selbst zusammen hängt.«
Dass in diesem Augenblick, da die Musen erfahrbar werden, die Naturwesen ihren »Ton« angeben, ist nicht verwunderlich: der Ton ist das Grundelement der Musik (die ja von den Musen ihren Namen erhalten hat). Der je eigene Ton eines Wesens wird sodann »seine Treue« genannt und diese Apostrophierung erläutert durch die Apposition »die Art, wie eines in sich zusammenhängt«. Diese letztere Wendung spricht dafür, dass hier – wo es kein äußeres Gegenüber gibt, dem die Treue gilt – das Funktionieren eines Organismus das Vorbild ist, im Blick ist. Das Zusammenspielen der für sich allein nicht lebensfähigen Bestandteile eines Organismus würde somit als eine Treue, die das Ganze zu sich selbst und seinen Subsystemen hält, begriffen. Aber inwiefern äußert sich diese »Treue« als ein Ton? Im Gegensatz zur modernen physikalischen Definition eines artikulierten Tons durch die messbare Frequenz seiner Schwingungen (Kammerton a′ = 440 hz) wird in der traditionellen Musiktheorie (der Antike wie des Barock) ein Ton durch den Zusammenhang der Tonleiter, in der er seinen Ort hat, bestimmt (die »Lehrsätze der alten und neuen Musik« hätte H. am besten zusammengefasst gefunden in Marpurg 1759). Und die entsprechende Leiter, die den Ton in seinen Zusammenhang gewissermaßen »organisch« einfügt, ist – in welcher Tonart auch immer – dadurch ausgezeichnet, dass der Ton, von dem der Ausgang genommen wird, in seiner Oktave (auf einer höheren oder tieferen Ebene) zu sich zurückkehrt. Auch das Zu-sich-zurückkehren des Tones innerhalb der Leiter, zu der er gehört, lässt sich im Bild der »Treue« wiederfinden. Die »Treue«, von der hier die Rede ist, unterscheidet sich von der theoretischen Treue des Wissens und der praktischen Treue des Handelns dadurch, dass sie ein Binnenverhältnis ist und somit frei von den negativen Konnotationen der Subjekt-Objekt-Trennung. Das entspricht wiederum der philosophischen Systematik, die H. sich seit den Überlegungen zur Vorrede zur Vorletzten Fassung des Hyperion zugrundegelegt hat. »[W]eder unser Wissen, noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Daseyns dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist«, hatte es dort geheißen. Aber: »die unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts« ist nun doch »vorhanden – als Schönheit« (MA 1, 558). Der Moment, in dem die »Schönheit Königin« (MA 1, 559) ist, ereignet sich »in der Witterung der Musen«.
Literatur Zeitgenössische Quellen
Fabricius, Johann Andreas: Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. Erster Band, Leipzig 1752. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1960. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Neu hg. v. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Lambert. Mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen, Hamburg 1988. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, 341–386 [AA VIII]. Marpurg, Friedrich Wilhelm: Kritische Einleitung in die Geschichte und Lehrsätze der alten und neuen Musik, Berlin 1759. (Fotomechanischer Neudruck, Laaber 1980.) Sulzer, Johann George: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln behandelt, Berlin 1771.
Forschungsliteratur
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Michael Franz
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V Werk
27 Übersetzungen H.s Übersetzungen aus der griechischen und lateinischen Dichtung entstammen dem Zeitraum von etwa 1788 bis etwa 1805, von der Maulbronner Klosterschulzeit bis zu den letzten produktiven Jahren. Außer den beiden Tragödien des Sophokles sind keine Übersetzungen zu Lebzeiten erschienen. Zur Veröffentlichung vorgesehen waren sonst nur Fragmente aus Ovids Phaëthon, die Schiller, der Auftraggeber, in seinem Musen-Almanach jedoch nicht gedruckt hat. Als »Werke« können nur die Sophokles-Tragödien gelten. Alle übrigen Übersetzungen sind vor allem als Zeugnisse der Befassung H.s mit antiker Dichtung und manchmal als Begleittexte zu den eigenen Dichtungen aufzufassen und müssten daher auch, wo es anginge, vom Kontext der Entwicklungsgeschichte dieser eigenen Werke her zu verstehen sein. Ein solches Vorgehen hätte freilich zu steten Überschneidungen mit andern Beiträgen geführt, so dass hier nur exemplarische Parallelen geboten werden konnten. Es empfiehlt sich, die Übersetzungen in drei Untergruppen einzuteilen: Arbeiten vor 1800 (1788–1799) – Pindar (etwa 1800) – Sophokles (bis 1805). Jede dieser Gruppen hat ihre eigenen Voraussetzungen, ihre eigentümlichen Verfahrensweisen und ihren besonderen Stellenwert innerhalb von H.s Entwicklung.
die Hilfe seiner Mutter Thetis erbittet, zugrunde liegt. Die Sonderstellung Achills in der Ilias kommt auch in drei theoretischen Aufsätzen zur Geltung, in zwei kurzen Betrachtungen über Achill und vor allem in Über die verschiednen Arten, zu dichten. Dagegen ist das Bild des Dichters Homer in der Hymne an den Genius Griechenlands (1790) und in Dem Genius der Kühnheit (1793) von jenem dionysisch-pathetischen Erhöhungsdrang bestimmt, der die Tübinger Hymnen (s. Kap. 28) weithin charakterisiert und von dem die Homer-Übersetzung weitgehend frei ist. Auch der Homerkult in der dem Dichter gewidmeten Grotte im Thalia-Fragment des Hyperion (StA 3, 177 f.) ist vom Geist der Übersetzung weit entfernt. Auch H.s spätere syntaktische oder wortschatzmäßige Eigenheiten kündigen sich in seiner frühesten Übersetzung noch nicht an. Umgekehrt hat aber die getreue Übersetzung vieler weitausladender homerischer Gleichnisse den Stil der Gleichnisse im Hyperion geprägt. Auffallend ist vor allem der häufige Übergang von der Prosa in Hexameter. Die Sprache der Übersetzung ist eindringlich und zupackend. Gelegentliche Ungenauigkeiten (öfter in StA 5, 349–358, nachgewiesen), zuweilen auftretende Verkürzungen, dazu die Verkennung wiederkehrender Formeln fallen wenig ins Gewicht. H. konnte damals die Vossische Übersetzung noch nicht kennen, die erst 1793 vorlag. Literatur
27.1 Arbeiten vor 1800 Homers Iliade 1. Erstdruck: F. H.: Homers Iliade. Übersetzung der ersten zwei Bücher, hg. v. Ludwig von Pigenot, Berlin [1922]. – StA 5, 1–30. – FHA 17, 167–355. 2. Aufgrund von sprachlichen Indizien lässt sich vermuten, dass dieser Text der Maulbronner Zeit entstammt. Ein Brief H.s an seinen Freund Immanuel Nast vom 6. September 1788 aus Maulbronn spricht vom Glück, etwas vollendet zu haben, »davon mir so manches Duzend Tage lang der Kopf glühte –« (StA 6, 40, Z. 20 f.). Wahrscheinlich ist damit diese Übersetzung der ersten anderthalb Gesänge der Ilias gemeint. Sie umfasst 611 Verse (erster Gesang) und 493 Verse (zweiter Gesang bis zum Schiffskatalog). Welche Homer-Ausgabe H. benutzt hat, ist ungewiss. Die beiden in seinem Nachlass aufgefundenen Ausgaben scheinen nicht in Frage zu kommen. 3. Von einigen von H. übersetzten Anfangsversen der Ilias (I, V. 348–427) lässt sich eine Brücke zur Elegie Achill (1798) schlagen, der die Szene, in der Achill
Kerber, Robert: H.s Verhältnis zu Homer, in: Philologus 80 (1924), 1–66. Schadewaldt, Wolfgang: H. und Homer, in: HJb 1950, 2–27, und 1953, 1–53.
Lucan Pharsalia 1. Kein Titel. Erstdruck: F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Franz Zinkernagel, Bd. 3, Leipzig: Insel 1915, 421–455. – StA 5, 295–312. – FHA 17, 361–441. 2. Vermutlich ist diese Übersetzung der ersten 587 Verse des ersten Buchs von Lucans Pharsalia (etwa sechs Siebentel) 1790 in H.s Tübinger Stiftzeit entstanden. In einem Brief an den Freund Neuffer vom 15. November 1790 scherzt Magenau über H.s Übersetzungsarbeit (s. Kap. 3). Orthographische Indizien sprechen für das Frühjahr 1790 als Abfassungszeit der Reinschrift. Die eigentliche Arbeit fand wohl bereits 1789 statt. Als Textvorlage diente wahrscheinlich vor allem eine Frankfurter Ausgabe von 1551: M. Annei Lucani, de bello civili, libri decem [...], besorgt von dem deutschen Humanisten Mycillus. Als einer der Anre-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_27
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ger gilt der schwäbische Dichter Stäudlin, der H. auch politisch beeinflusst hat. Vorangehende Longin-Lektüre und eine Vorlesung des Repetenten Bardili De usu scriptorum profanorum in theologia mögen auch einen Anteil an der Übersetzung haben. 3. Lucan (39–65 n. Chr.) war vom 6. bis zum Ende des 17. Jh.s neben Vergil der meistgelesene epische Dichter des Altertums. Von seinem riesigen Opus sind nur die neuneinhalb Bücher seines Hauptwerks, der Pharsalia, erhalten geblieben. Lucan wurde als Teilnehmer an einer Verschwörung gegen Nero vom Kaiser zum Selbstmord gezwungen, wie sein Onkel Seneca. Seine Aktualität in der Barockzeit verdankt sich seiner wuchtigen, von Antithesen beherrschten Sprache und der antiklassischen Darstellung einer durch Bürgerkrieg geschüttelten Verfallszeit. Seiner Gestaltung des Bruderkriegs zwischen Cäsar und Pompeius mit der Schlacht bei Pharsalus gehen vier Bücher Exposition voraus, in denen Ereignisse der römischen Geschichte im Zusammenhang mit Julius Caesar dargestellt werden. H.s Interesse an Lucan hängt wohl mit der in den späteren Büchern sich artikulierenden Kritik an Caesar zusammen, die republikanischer Gesinnung entspringt, wie sie sich in der Gestalt Catos inkarniert. Freilich identifiziert sich H. in dieser Übersetzung mit Caesar und verachtet Pompeius. H. hat sich hier als Übersetzer erstmals in Hexametern geübt. Als Dichter hatte er in diesem Versmaß bereits 1788 Die Tek verfasst, später, 1791, Kanton Schweiz. Im Unterschied zur Homer-Übersetzung sind hier das Pathos und die sinnliche Expressivität gegenüber dem bereits maßlosen Original noch deutlich gesteigert. H. hat es hier auf die Herausarbeitung klanglicher und thematischer Gegensätze abgesehen. Als Verfasser der Tübinger Hymnen (s. Kap. 28) ist H. ein anderer Dichter geworden; der politische, ja nationalistische Einfluss von Schubart und Stäudlin macht sich geltend. Das Bedürfnis nach heftigen Schilderungen heroischer Schlachten erscheint als jugendlicher Exzess, in größtem Kontrast zur Lebensweise des Stiftlers. Literatur
Pusch, Annekatrin: F. H. als Übersetzer Lucans, Bern 1996.
Reliquie von Alzäus 1. Erstdruck: F. H., Sämtliche Werke, hg. v. Norbert von Hellingrath, Bd. 1, hg. v. Friedrich Seebaß, München und Leipzig: Müller 1913, 336 f. – StA 5, 31. – FHA 17, 443–448. 2. Da eine Notiz Hegels von 1793 Anklänge an die
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Übersetzung seines Freundes enthält, ist diese wohl 1792/93 entstanden. Es handelt sich um drei Trinklieder (Skolia) aus den Deipnosophistai von Athenaios, der um 200 n. Chr. in 15 Büchern Gespräche, Reden und Lieder, die ein Gastmahl begleiten, gesammelt hat. Sie können nicht von Alkaios stammen, der im 7. Jh. v. Chr. lebte, während die Ermordung des Tyrannen Hipparch durch die Helden Harmodios und Aristogeiton, die hier gefeiert wird, 514 v. Chr. stattfand. 3. H.s Preis der brüderlichen Freundschaft der Tyrannenmörder steht im Zusammenhang mit seiner Begeisterung für die Französische Revolution und findet auch im Hyperion einen Widerhall (StA 3, 63). H. hat die Metrik des Originals leicht abgewandelt und jeweils fünf aus vier Versen gemacht. Ovid: Phaëthon 1. Kein Titel von H.s Hand. Erstdruck: F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Zinkernagel, Bd. 3, Leipzig: Insel 1915, 456–459. – StA 5, 313–316. – FHA 17, 449– 471. 2. Am 28.4.1795 schreibt H. aus Jena an Neuffer: »Schiller hat mich veranlaßt, Ovids Phaëton in Stanzen für seinen Allmanach zu übersezen, und ich bin noch von keiner Arbeit mit solcher Heiterkeit weggegangen, als bei dieser. Man ist nicht in Leidenschaft, wie bei einem eigenen Producte, und doch beschäfftiget die Musik der Versification den Menschen ganz [...]« (StA 6, 169) Wegweisend war dabei zweifellos Schillers eigene Aeneis-Übertragung in Stanzen. Schiller (s. Kap. 11) hat indes H.s Text nicht gedruckt, was H. im März 1796 Neuffer gegenüber berechtigt findet. Hinterher spricht er von einem »albernen Probleme«, mit dem Schiller ihn besser nicht geplagt hätte. Diese Selbstkritik bezieht sich auf den fremdgesteuerten Charakter der metrisch inadaequaten Übersetzung der lateinischen Hexameter in jambische Fünfheber, die in künstliche Reime gezwungen wurden. H. hat wohl die ganze Phaëthon-Episode (Ovid, Metamorphosen I, 750-II, 329) übersetzt. Erhalten haben sich aber nur die V. II, 31–99, und zwar in einer überarbeiteten Reinschrift. Die von H. benutzte lateinische Vorlage ist nicht bekannt. 3. Die Übersetzung ist sehr frei, ihr Wortschatz oft verinnerlicht. Der Inhalt wird in eine vom Original nicht beeinflusste Syntax eingebracht. Es handelt sich, mehr als bei allen andern Übersetzungen aus der Jugendzeit, um eine Wörtlichkeit oft vermeidende Nachdichtung, die darin Schillers Vorbild folgt. H. hat sonst kaum je in einer ihm so fremden Tonart gedichtet.
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Dejanira an Herkules (aus Ovids Heroiden) 1. Erstdruck: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Franz Zinkernagel, Bd. 3, Leipzig: Insel 1915, 460–462. – StA 5, 317 f. – FHA 17, 473–488. 2. Hier übernimmt H. das elegische Distichon von Ovids Original, den Heroiden (9, 3–6; 11–48), fiktiven Briefen von Heldinnen des Altertums, vielleicht im Zug der ersten Fassung der Elegie Der Wanderer, in der frühen Frankfurter Zeit (1796). 3. Die Wahl des Themas hängt wohl mit H.s Neigung zu Herakles zusammen (vgl. die Hymne An Herkules), wobei freilich hier aus der Perspektive der Eifersucht der Gattin Dejanira Herkules negativ beschrieben wird. Das Leiden der Dejanira unter ihrem geringeren Wert im Vergleich zu ihrem Gatten Herkules spiegelt vielleicht H.s damaliges Minderwertigkeitsgefühl, z. B. gegenüber Schiller. Die Übersetzung ist unvollständig. Die Gestalt des Herkules ist ab 1796 im gesamten späteren Werk H.s. gegenwärtig. So werden z. B. in Der Rhein die beiden hier dargestellten Episoden von den vom Kind Herkules in der Wiege erwürgten Schlangen und von Herkules’ Ablösung des Atlas als Himmelsträger gestaltet. Literatur
Mommsen, Momme: H.s Lösung von Schiller. Zu H.s Gedichten ›An Herkules‹ und ›Die Eichbäume‹ und den Übersetzungen aus Ovid, Vergil und Euripides, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9 (1965), 203– 244.
Nisus und Euryalus (aus Vergils Aeneis) 1. Erstdruck: F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Franz Zinkernagel, Bd. 3, Leipzig: Insel 1915, 463– 470. – StA 5, 319–323. – FHA 17, 489–535. 2. H.s Freund Neuffer hat im Zuge seiner über mehr als 25 Jahre sich erstreckenden Übersetzung der gesamten Aeneis Vergils 1794 bereits dieselbe Episode aus dem 9. Buch (V. 176–449) im Museum für die griechische und römische Litteratur von Carl Philipp Conz veröffentlicht, was H. zu einem Wettstreit angeregt haben wird. Auch diese Übersetzung stammt aus dem ersten Frankfurter Jahr 1796, wie diejenige aus Ovids Heroiden. Sie folgt dem lateinischen Versmaß, dem Hexameter. Die benutzte lateinische Ausgabe ist nicht bekannt. 3. Die Wahl des Themas hängt zweifellos mit der heroischen Freundschaft zwischen den beiden jugendlichen Helden dieser Episode zusammen, die ihr Leben für die Überbringung einer Botschaft an Ae-
neas durch das feindliche Lager der Rutuler einsetzen und beide den Heldentod sterben werden. Vergils die beiden selbstlosen, opferbereiten Jünglinge verherrlichender Ton muss H. zur Übersetzung dieser Szene befeuert haben. Literatur
Mommsen, Momme: H.s Lösung von Schiller. Zu H.s Gedichten ›An Herkules‹ und ›Die Eichbäume‹ und den Übersetzungen aus Ovid, Vergil und Euripides, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9 (1965), 203– 244.
Sophokles: Chor aus dem Oedipus auf Kolonos 1. Kein Titel von H.s Hand. Erstdruck: F. H., Gesammelte Werke, hg. v. Wilhelm Böhm, Bd. 3, 2. Aufl., Jena: Diederichs 1911, 171 f. – StA 5, 32. – FHA 16, 37–46. 2. Vermutlich ist diese erste Übersetzung aus einer griechischen Tragödie während des Aufenthalts mit Heinse und Susette Gontard im westfälischen Bad Driburg im Sommer 1796 entstanden. Die Übersetzung der beiden ersten Strophen des zweiten Chorlieds (V. 668–693) von Sophokles’ letzter Tragödie aus dem Jahr 407–406 v. Chr. hält sich nicht an das Versmaß des sophokleischen Originals und verzichtet auf die Strophenfuge. Daraus lässt sich schließen, dass vielleicht die gleiche Vorlage wie teilweise bei den beiden viel später übersetzten Sophokles-Dramen benutzt wurde: die beim Buchdrucker Braubach in Frankfurt 1555 erschienene, Sophoclis Tragoediae septem cum Interpretationibus vetustis et valde utilibus betitelte Ausgabe, die, nach Jochen Schmidt, Brubachiana genannt sei. Wie H.s Sophokles-Übersetzungen achtet auch sie bei den Chorliedern oft nicht auf die Strophengrenze. 3. Die Exilsituation H.s und Heinses (s. Kap. 11) bei ihrer Flucht vor den Franzosen mag die Wahl dieser Verse beeinflusst haben. In ihnen dominieren Dionysos, mit dem H. in Brod und Wein Heinse identifizieren wird, neben Demeter und Persephone. Aus der 1801 verfassten Hymne Der Rhein (V. 159–165) lässt sich ex post die Nähe dieses heiligen Orts der künftigen Grabstätte des Oedipus mit H.s Darstellung von Rousseaus Asyl auf der Sankt Petersinsel im Bielersee, nach dessen fünfter Promenade, erweisen, wobei die Selbstdarstellung von Rousseaus späterem Schicksal zu Beginn seiner Rêveries du promeneur solitaire mit der Sophokleischen Darstellung des »Fremdlings« Oedipus manche gemeinsamen Züge besitzt. Diese Verse aus dem Rhein waren ja zuerst Heinse gewidmet, mit dem H. offenbar die Gestalt des dem entrückenden Tode nahen Oedipus zusammenbringt:
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Aus dem hier vorliegenden Chorlied stammt z. B. der spätere Ausdruck »Wo der Stral nicht brennt« für griechisches »analion«. Auch die Nachtigall wurde in die elfte Rhein-Strophe übernommen. Literatur
Böschenstein, Bernhard: ›Oedipus auf Kolonos‹ in H.s Dichtung, Übersetzung und Tragödientheorie, in: HJb 31 (1998–1999), 162–167. Lehle, Christiane: Chorlied aus ›Ödipus auf Kolonos‹, in: T 3, 208–216.
Aus der Hekuba des Euripides 1. Kein Titel von H.s Hand. Erstdruck: F. H., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Franz Zinkernagel, Bd. 3, Leipzig: Insel 1915, 474–481. – StA 5, 33–39. – FHA 17, 537–576. 2. Aufgrund des handschriftlichen Zusammenhangs ist wohl auch hier 1796 als Entstehungsjahr anzunehmen. Die Übersetzungsvorlage für die Verse 736–867 von Euripides’ Drama Hekabe ist nicht bekannt. Die Beziehung H.s zu Euripides wurde wohl von der Vorlesung des mit ihm befreundeten Repetenten am Tübinger Stift Carl Philipp Conz geprägt. In H.s Magisterspecimen (s. Kap. 10) wird der dritte griechische Tragiker nur kurz und eher abwertend erwähnt. 3. H. übersetzt die griechischen (sechshebigen) Trimeter meist in (fünfhebige) Blankverse, wie er sie im Tod des Empedokles verwenden wird. Deswegen überschreitet seine Verszahl diejenige des Originals. Dies ist der erste dialogische Text aus einer griechischen Tragödie, den H. übersetzt. Entscheidend ist das Thema der einsamen heroischen Selbstbehauptung. Literatur
Mommsen, Momme: H.s Lösung von Schiller. Zu H.s Gedichten ›An Herkules‹ und ›Die Eichbäume‹ und den Übersetzungen aus Ovid, Vergil und Euripides, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9 (1965), 203– 244.
Horaz: Oden II, 6 und IV, 3: »Septimi, Gadis [...]« und »Quem tu, Melpomene [...]« 1. Erstdruck: Kein Titel von H.s Hand. F. H., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Franz Zinkernagel, Bd. 3, Leipzig: Insel 1915, 471–473. – StA 5, 324–326. – FHA 17, 577–593. 2. Aus dem handschriftlichen Zusammenhang ergibt sich als Entstehungszeit etwa Mitte 1798. Die beigegebenen Anmerkungen deuten auf eine Veröffentlichungsabsicht und lassen als lateinische Vorlage die
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Ausgabe von Ludovicus Deprez, Paris 1691, erkennen. H. geht frei mit dem Metrum der Originale um. Weder benutzt er das alkäische noch das asklepiadeische Versmaß noch hält er sich an die Verszahl der Strophen (im ersten Beispiel) oder überhaupt an Strophenfugen (im zweiten Beispiel). Eine spätere Aufzeichnung der Strophenfolge der Ode III, 21 in schematischer Umstellung beweist, dass H. Horaz für kompositorische Studien zu nutzen trachtete. 3. Das Thema der Sehnsucht nach einem glücklichen Dichterasyl im ersten Beispiel spiegelt sich auch in eigenen Oden, die wenig später entstanden sind (z. B. Mein Eigentum). Wichtig ist die Verbindung mit dem Thema der Freundschaft. Noch entschiedener auf den Dichter und die Dichtung bezieht sich das zweite Beispiel, wo der Dichter sich von andern ruhmreichen Tätigkeiten und Ehrungen ausgeschlossen weiß, um dafür umso stärker um seiner Lieder willen gefeiert zu werden, die der Muse Melpomene verdankt werden. Der fromme Bezug zu den ihn als Dichter leitenden Instanzen durchzieht hier das ganze Gedicht von Horaz und stiftet eine Gemeinsamkeit mit H., der wohl darum dieses Gedicht zur Übersetzung ausgewählt hat. Leander an Hero (aus Ovids Heroiden) 1. Erstdruck: F. H., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Franz Zinkernagel, Bd. 5, Leipzig: Insel 1926, 99–103. – StA 5, 327–330. – FHA 17, 599–621. 2. Die Prosafassung der Verse 1–116 aus dem 18. Brief von Ovids Heroiden, dem schon der drei Jahre früher übersetzte Ausschnitt aus Dejanira an Herkules entstammt, entstand zwischen der zweiten Fassung des Empedokles und den Pindarübertragungen, im Sommer oder Herbst 1799, wohl auf Veranlassung Neuffers für ein von ihm herauszugebendes Taschenbuch, in dem es jedoch nicht erschien. Schon 1788 hatte H. im Gedicht Hero den gleichen Stoff behandelt: die unglücklich endende Leidenschaft der durch den Hellespont getrennten Liebenden Hero und Leander, die einem Verrat zum Opfer fielen. 3. H. verarbeitet wohl in dieser Übersetzung, die sich gelegentlich dem antiken Versmaß des Distichons nähert, seine Trennung von Susette Gontard (s. Kap. 4). Die Bacchantinnen des Euripides 1. F. H., Sämtliche Werke, hg. v. Norbert von Helling rath, Bd. 5, München und Leipzig: Georg Müller 1913, 336 f. – StA 5, 41. – FHA 17, 627–637.
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2. Der handschriftliche Zusammenhang lässt auf das Jahr 1799 schließen. Den ersten 24 Versen aus Euripides’ letzter Tragödie Die Bakchen, deren Trimeter H. nachbildet, folgt in der Handschrift der erste von Pindar geprägte Gesang Wie wenn am Feiertage ... . 3. Mit diesem teilt die Übersetzung als zentrales Thema den Mythos von der Geburt des Dionysos, der im Prolog seine Geburt, seine Reise von Lydien nach Theben und seine Rolle als Stifter von Mysterien darstellt. Dionysos wird in H.s erstem eigenen hymnischen Versuch zum Gott des Gedichts, das aus himmlischem Feuer und irdischer Sprache entsteht. Seine gemeinschaftsstiftende Natur wird die Elegie Stutgard, seine Funktion als Überbrücker in götterloser Zeit die Elegie Brod und Wein gestalten. Der in seine Thebaner Heimat Zurückkehrende verbindet für H. den Orient mit dem Okzident, schließlich die Antike mit Hesperien, dem Abendland. Sein Überleben nach der Geburt durch den Blitz des Zeus, der seine Mutter Semele getötet hat, bildet für H. eine Analogie zum Gedicht, das das himmlische Feuer den Menschen ertragbar machen soll. Die Eigentümlichkeiten und Leistungen der sich hier vorstellenden Gottheit Dionysos deuten auf sichtbare Vermittlung: seine Inkarnation, seine Stiftung des Weinbergs und des Chortanzes. In H.s Sinngebung beziehen sich diese Bereiche alle auf die Dichtung, deren Gott Dionysos ist. Die mannigfache Ausstrahlung dieser Gottheit auf H.s Elegien, späte Oden und Gesänge beweisen, dass mit diesen Versen H. erstmals einen antiken Text übersetzt, der für sein eigenes Werk von hoher thematischer Relevanz ist. Hier erscheint auch das in den Sophokles-Übersetzungen häufige Beispiel einer mit einem neuen Sinn begabten produktiven Fehlübersetzung: sêkos (eingeschlossener heiliger Ort) wird mit sykê (Feigenbaum) verwechselt. Letzterer wird in den späten Hymnen eine zentrale Rolle spielen. Literatur
Böschenstein, Bernhard: Die Bakchen des Euripides in der Umgestaltung H.s und Kleists, in: »Frucht des Gewitters«. Zu H.s Dionysos als Gott der Revolution, Frankfurt a. M. 1989, 72–90.
27.2 Um 1800: Pindar: olympische und pythische Oden Um 1800 hat H. sechs olympische Oden (2., 3., 8., 10., 11., 14.) und zehn pythische Oden (1.–5., 8.–12.) ganz oder fragmentarisch übersetzt. Er wagte damit eine Übersetzung, die ihm eine Textgattung nahebrachte,
die er in Teilen seiner hymnischen Produktion nachzugestalten bestrebt war. Sowohl in den kleinsten Details wie in den großen Zusammenhängen der Gesamtkomposition, vor allem aber in wichtigen Themen hat H. Pindars Oden als Vorbild gewählt. Es handelt sich um ein Experiment, das sich grundsätzlich von seinen vor 1800 wie von seinen nach 1800 unternommenen Übersetzungen unterscheidet. Hier, nur hier, versucht er den griechischen Satzbau so wörtlich wie möglich nachzubilden. Das hier vorliegende Ergebnis unterscheidet sich denn auch durchgehend von seinen eigenen zwischen 1801 und 1804 entstehenden Gesängen pindarischer Prägung, indem es nicht auf die von syntaktischen Regeln des Deutschen gesteuerten Satzbaumodelle achtet. Die niemals zur Publikation bestimmten, nur als Einübung in eine fremde Dichtungssprache zu betrachtenden Übersetzungen bilden das einzige Beispiel von Texten, deren Gattung H. in Teilen seiner hymnischen Produktion nachzugestalten bestrebt war. H. hat auch viele Gedichte Pindars, von denen uns keine von ihm geschaffenen Übersetzungen vorliegen, auf sein eigenes Werk ausstrahlen lassen. Wahrscheinlich hat er mehr Übersetzungen verfasst, als sich erhalten haben. 1. Erstdruck: H.’s Pindar-Übertragungen, hg. v. Norbert von Hellingrath, Berlin: Verlag der Blätter für die Kunst 1910. – StA 5, 45–115. – FHA 15, 25–329. 2. Die uns vorliegende Handschrift der PindarÜbersetzungen, zu der keine Entwürfe erhalten sind, gibt nicht die Reihenfolge der Entstehung wieder. Um der Übersichtlichkeit willen haben sämtliche H.-Editionen (s. Kap. 1) die Reihenfolge der Gedichte abgeändert, meist nach der der griechischen Originale, selten nach einer vermuteten entstehungsgeschichtlichen Chronologie (FHA 15). Die Übersetzung schließt zeitlich an das Empedokles-Projekt an. Sie wird deshalb in das Jahr 1800, vielleicht noch in den Anfang von 1801 gesetzt. Ihr liegt die kurz vorher erschienene zweite Auflage der Edition von Christian Gottlob Heyne von 1798 zugrunde, deren Verseinteilungen nicht denen Pindars entsprechen, sondern viel kürzere Einheiten bilden, an die sich H. genau hält. Er hat diese Übersetzung als nicht zur Veröffentlichung bestimmtes Experiment fast wörtlicher Nachbildung der griechischen Wortfolge angelegt, um ganz in den Sprachgeist des Originals einzudringen. Seine Pindarbeschäftigung wird für die eigenen hymnischen Gesänge (s. Kap. 32) in freien Rhythmen die größten Folgen haben, im Satzbau, im Versbau, in der triadischen Komposition, im Wechsel der Töne, in der The-
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matik, in der Bildlichkeit, im Wortschatz, im Rhythmus. Aber ebenso wie bedeutsame Verwandtschaften nachzuweisen sind, gibt es zwischen dem pindarischen und dem H.ischen Gesang grundlegende Unterschiede, die sich schon in den Übersetzungen anbahnen, wie anhand einiger Beispiele deutlich werden soll. 3. Es ist nicht möglich und nicht sinnvoll, alle einzelnen übersetzten Gedichte zu betrachten, da es hier zunächst auf das Übersetzungsverfahren ankommt, das in den Grundzügen sich gleichbleibt. Als ein besonders ergiebiges Beispiel für H.s eigenständige Übersetzungsgewohnheiten soll zunächst die von der Forschung in letzter Zeit mehrfach behandelte Übersetzung der zweiten olympischen Ode (StA 5, 45: Hymne, vgl. 382) anhand der Anfangsverse betrachtet werden: Die Ode beginnt mit dem Vers: »Ihr Herrscher auf Harfen, ihr Hymnen!« (StA 5, 45, V. 1) statt »Ihr harfenbeherrschenden Hymnen«. Die dreifache Alliteration, auf drei Substantive verteilt, gibt der Herrschaft der Poesie noch mehr Gewicht als im griechischen Original. Solche Abweichungen von dem sonst meist wörtlich nachgebildeten Original können programmatische Bedeutung erlangen. H. hat die – oft am Einund Ausgang der Epinikien erscheinenden – für Pindar bedeutsamen Reflexionen über seine Kunst besonders intensiv aufgenommen, zunächst als Übersetzer, dann in seiner eigenen Dichtung. Kurz nach dem zitierten Anfangsvers heißt es: »Die Olympias aber/ Gestiftet Herakles hat«, wo bei Pindar einfach von Gründung die Rede ist (»estasen«: »einsetzte«). Dasselbe sakrale Wort, das H. für den Gott Dionysos in Der Einzige und in der Übersetzung des Anfangs der Bakchen verwendet, wird in der gleichen Strophe auch noch dem Sieger Theron aus Agrigent zugeordnet: »der Stifter ist in der Stadt« (StA 5, 45, V. 14) (statt: »stadtaufrichtend«), wobei wieder ein adjektivisches Kompositum in alliterierende Substantive aufgelöst wird und so ein viel größeres, auch viel sakraleres Gewicht erhält. Damit werden Herakles, der Gründer der olympischen Spiele, dem H. schon in seiner Frankfurter Zeit als einem Vorbild huldigte, und der Adressat des Gedichts, der Herrscher Theron, einander von H. angenähert, ohne Stütze beim Original. Von den Ahnen sagt H.: »Erduldend die vieles mit Muth/ Das Heilige hatten, das Haus/ Des Flusses. Sikelias waren sie/ Auge.« (StA 5, 45, V. 15–18) Die knappe, harte Diktion (Hellingrath nannte sie nach Dionysios von Halikarnass »harmonia austêra«: »harte Fügung«) entsteht durch die hier nur griechische, nicht deutsche Wortfolge, durch kurze und einfache Wiedergaben wie parataktisches »die«
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und »hatten« für »gewannen« sowie die dem Deutsche fremde Artikellosigkeit vor einem Substantiv im Singular wie »Auge«. Auch die Wiedergabe des Eigennamens »Sikelias« in griechischer Lautung trägt zur Verfremdung bei. Wieder erzeugt die Alliteration »Das Heilige hatten, das Haus«, das die drei griechischen Wörter des vom Herausgeber Heyne verkürzten Verses näher verbindet, eine klanglich-rhythmische Verdichtung. Die Fortsetzung lautet bei H.: »Die Zeit geleitete/ Die zuvorbestimmte Reichtum/ Und Wohlgefallen bringend,/ Die gediegenen Tugenden.« (StA 5, 45, V. 18–21) »Aiōn«, »Lebenszeit«, übersetzt H. immer durch »Zeit«. »Morsimos«, »vom Schicksal bestimmt«, wird hier wie sonst öfters durch »zuvorbestimmt« wiedergegeben, ein von H. in Vorstufen zur Friedensfeier an entscheidender Stelle verwendetes Wort, das dort noch die autobiographische Dimension des Dichterberufs bezeichnet, danach, wenn diese Entwurfsverse später wörtlich in die sechste Strophe der Hymne Der Rhein übernommen werden, dessen metaphorische Dimension. »Wohlgefallen« für charis zeigt eine auch christlich getönte Auffassung der Zeit an, wie später »Gottes Wille« statt »eines Gottes Anteil« (StA 5, 46, V. 37), und »gediegen« (damals im Sinne von »gediehen«) verzeitlicht das im Original erscheinende Wort »gebürtig«. In ähnlicher Weise ließen sich anhand zahlreicher weiterer Verse dieser Ode nuancierte Abweichungen der H.schen Übersetzung nachweisen, die sein besonderes Interesse z. B. am Thema der Zeit und der von oben gesendeten Gaben sowie an Pindars darauf bezogenem Wortschatz bezeugen. Insbesondere Pindars poetologische Strophen haben in seinen eigenen, vornehmlich zwischen 1801 und 1803 entstandenen Hymnen einen Niederschlag gefunden. Beim Vergleich der Übersetzung mit dem griechischen Original ist stets auch auf den von heutigen Ausgaben abweichenden Text der Heyneschen Vorlage und gelegentlich auf die im Wörterbuch von Vollbeding (1784) angegebenen Wortbedeutungen zu achten, von denen sich H. öfters leiten ließ. H.s fruchtbare Aufmerksamkeit auf die besondere Sprechweise Pindars in dieser Ode ergibt sich hier aus seinem eigenen poetischen Interesse. An manchen seiner Übersetzungen fällt eher das mühsame Haften an seinem Wort für Wort-Prinzip ohne den Willen zu sinnvoller Umsetzung auf, insbesondere in den langen mythologischen Erzählungen in den von ihm übersetzten pythischen Oden, wobei die Häufung von Fehlern durch Verwechslung von Wörtern und Verbformen die Erfassung eines sinnvollen Zusammenhangs immer wieder bis zur Unverständlichkeit erschweren kann.
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Ganze eigene Hymnenpartien verdanken sich thematisch pindarischen Vorlagen, z. B. die Erzählung von Herakles’ Reise zu den Hyperboräern in der (freilich nur in ihrer ersten Hälfte übersetzten) dritten olympischen Ode, von der die Verse 23–32 in den späten Gesang Der Ister übergegangen sind (StA 2, 191, V. 28–40). Auch die Evokation der Chariten in Die Wanderung nach der Vorlage der von ihm übersetzten 14. olympischen Ode (»sondern alle/ Ausrichtend die Werke im Himmel« [StA 5, 61, V. 13 f.]) klingt wider in der Formel »Die Dienerinnen des Himmels« (StA 2, 141, V. 110). Als Beispiel für die großen syntaktischen Bögen, die H. in genauer Nachbildung der griechischen Syntax gestaltet, und um zu erweisen, wie seine Treue gegenüber der originalen Wortfolge die angerufenen heiligen Instanzen besonders hervortreten lässt und die ihnen beigeordneten Attribute, die Epitheta, zu deren feierlicher, erhöhender Würdigung von den Eigennamen abhebt, diene die erste Strophe der 14. Olympie: Kephisische Gewässer empfangend Die ihr bewohnt mit den schönen Füllen den Siz O des glänzenden ihr sängereichen königlichen Charitinnen Orchomenos Des altgestammten Minyä Aufseherinnen Hört, da ich bete. Mit euch dann das heitre und das süße Wird alles Sterblichen, Wenn weise, wenn schön, wenn einer edel ist Ein Mann. Noch denn die Götter Ohne die heiligen Charitinnen Beherrschen die Länder Oder die Mahle; sondern alle Ausrichtend die Werke im Himmel Bei ihm mit dem goldenen Bogen erwählend Bei Pythios Apollo die Thronen, Des unerschöpflichen heiligen sie des Vaters Des Olympischen Ehre. (StA 5, 61, V. 1–18)
H. folgt Heynes 18 Versen; die heutigen Ausgaben haben ihrer nur zwölf. Als Höhepunkt von H.s PindarÜbersetzung gelten allen Forschern mit Recht die Verse 135–139 zu Beginn der letzten Strophe der achten pythischen Ode: Tagwesen. Was aber ist einer? was aber ist einer nicht? Der Schatten Traum, sind Menschen. Aber wenn der Glanz Der gottgegebene kommt,
Leuchtend Licht ist bei den Männern Und liebliches Leben. (StA 5, 101, V. 135–139)
Es ist hier nicht der Ort, den vor allem in den freirhythmischen Hymnen und hymnischen Fragmenten erkennbaren vielfachen, komplexen Einfluss Pindars nachzuweisen. Die überragende, überaus differenzierte Abhandlung von Albrecht Seifert hat dies auf 720 Seiten für nur zwei von Pindar geprägte Hymnen geleistet, Wie wenn am Feiertage ... und Friedensfeier, und damit künftiger Forschung einen der fruchtbarsten Wege eröffnet, der auf Nachfolge wartet. 4. Von den Nachwirkungen der Pindarübersetzungen H.s ist an erster Stelle Stefan Georges (s. Kap 37) Gedichtband Der Stern des Bundes (1913) zu nennen, in dem der Dichter die harte Fügung zu seinem Prinzip macht und oft artikellose knappe Substantive zu einem festen Versgebilde fügt, dessen Syntax und Rhythmus sich freilich weit von Pindar entfernen. Hellingraths Entdeckung von H.s Pindarübersetzungen in der Zeit seiner Zugehörigkeit zum Kreis um Stefan George führte dazu, dass George in seinem »Verlag der Blätter für die Kunst« den Erstdruck dieser von ihm als hohe Dichtung gewürdigten Texte veröffentlichte und sich ihrer Diktion im Maße seiner eigenen Formgesetze näherte. Walter Benjamin (s. Kap. 40) hat am Ende seiner Einleitung zu seinen Baudelaire-Übersetzungen, im Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers, H.s Übersetzungen, auch denen Pindars, einen hohen, mit nichts zu vergleichenden Rang zuerkannt. Literatur
Beißner, Friedrich: H.s Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 1933, 2. Aufl. 1961. [Der die Pindarübersetzungen betreffende Teil ist knappgehalten, vor allem textkritisch orientiert und mit der Datierung befasst.] Beißner, Friedrich (Hg.): StA 5, 376–450 (1952). [Lesarten und Erläuterungen zu den Pindar-Übersetzungen, die viele Übersetzungsfehler richtigstellen und als Missverständnisse grammatikalisch analysieren.] Benn, Maurice Bernard: H. and Pindar, s’Gravenhage 1962. [Nur S. 25–45 handelt von den Übersetzungen und bekämpft Beißners These von der Reinschrift.] Bremer, Dieter/Christiane Lehle: Zu H.s Pindar-Übersetzung. Kritischer Rückblick auf mögliche Perspektiven, in: Beyer, Uwe (Hg.): Neue Wege zu H., Würzburg 1994, 71–111. [Gründliche kritische Forschungsgeschichte mit dem Ziel, künftige Forschung anzubahnen.] Böschenstein, Bernhard: Göttliche Instanz und irdische Antwort in H.s drei Übersetzungsmodellen. Pindar: Hymnen – Sophokles – Pindar: Fragmente, in: HJb 29 (1994/95), 47–63. [S. 49–56 wird H.s Neigung zu sakrali-
27 Übersetzungen sierender, theologisierender Akzentuierung seiner Übersetzung und zu starker Betonung der Raum- und Zeitkomponenten in der Dichtung Pindars skizziert.] Hellingrath, Norbert von: Pindarübertragungen von H. Prolegomena zu einer Erstausgabe, in: H.-Vermächtnis, eingeleitet von Ludwig von Pigenot, München 1944, 2. Aufl., 1995. [Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam, weil es sich um die erste Würdigung dieser Übersetzungen handelt (1910), insbesondere ihres Kunstcharakters, aber auch ihrer philologischen Grundlage und der griechischen Sprachkenntnisse H.s.] Sattler, Dietrich Eberhard (Hg.): FHA 15 (1987). [Bietet den Text der von H. benutzten griechischen Ausgabe und Photokopien der Handschrift.] Seifert, Albrecht: Untersuchungen zu H.s Pindar-Rezeption, München 1982. [Behandelt nicht die Übersetzungen, bietet aber die umfassendste Untersuchung über H.s produktive Befassung mit Pindar.] Theunissen, Michael: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000. [Stellt in seinem Schlusskapitel H.s Befassung mit Pindar in einen größeren, bis zu Heidegger reichenden philosophiegeschichtlichen Zusammenhang und bezieht H.s Übersetzungsarbeit in eine allgemeinere Pindaraneignung ein, die auch die Anmerkungen zu Sophokles einbegreift.] Zuntz, Günther: Über H.s Pindar-Übersetzung. Diss. Marburg 1928. [Sehr kritische Analyse der Übersetzungen. Trotz der hier bezeugten großen Pindar-Nähe von H.s Hymnen wird den Übersetzungen kaum ein Einfluss auf H.s Dichtungen zugestanden.]
27.3 Bis 1805: Sophokles Außer den veröffentlichten Übersetzungen der beiden Tragödien von Sophokles Oedipus der Tyrann und Antigonä hat H. in denselben Jahren noch kurze Bruchstücke aus Sophokles’ Oedipus auf Kolonos und Ajax übersetzt, die darauf schließen lassen, dass er ursprünglich alle Tragödien des Sophokles zu übersetzen vorhatte. Die Krankheit hat ihn gehindert, dieses Vorhaben auszuführen. Bruchstücke aus Sophokles nach 1800: Oedipus auf Kolonos und Ajax. Oedipus auf Kolonos
1. Erstdruck: F. H., Sämtliche Werke, hg. v. Norbert von Hellingrath, Bd. 5, München und Leipzig: Georg Müller 1913, 337–339. – StA 5, 275 f., V. 14–19 und 38–59. – FHA 16, 423–433. 2. Das Handschriftenblatt, das die Verse 14–19 und 38–59 von Sophokles’ letztem Drama enthält, stammt aus dem Jahr 1803. Dies gibt einen Anhaltspunkt für die Entstehung der Übersetzung. Sie lässt sich mit
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dem 1796 übersetzten Anfang des Chorlieds aus demselben Drama in einen thematischen Zusammenhang bringen. Wie dort wird die Brubachiana als Vorlage benutzt. 3. Die Heiligkeit des Orts war für die Wahl dieses Textes ausschlaggebend. Die Präsenz des »Weinstok[s]« und der »Nachtigallen« weist auf den 1796 übersetzten Chor zurück. Das feurige Erdinnere, wo Prometheus weilt, nimmt das Thema von Empedokles’ Tod im Ätna wieder auf. Literatur
Böschenstein, Bernhard: ›Oedipus auf Kolonos‹ in H.s Dichtung, Übersetzung und Tragödientheorie, in: HJb 31 (1998/99), 162–167.
Ajax
1. Erstdruck: F. H.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert von Hellingrath, Bd. 5, München und Leipzig: Georg Müller 1913, 261–267. – StA 5, 277–280 (V. 394–427; 596–645; 693–718). – FHA 16, 435–457. 2. Die Handschrift der drei Partien aus Sophokles’ ältestem der erhaltenen Dramen befindet sich auf zwei Einzelblättern und enthält jeweils zu Beginn einer Partie die Seitenzahl der wie für die Übersetzung der Antigonä benutzten Brubachiana. Nach Vollendung des Oedipus und der Antigonä hatte H. vor, weitere Dramen des Sophokles zu übersetzen. Die Bruchstücke aus dem Oedipus auf Kolonos und aus dem Ajax sind Fragmente dieser neuen Übersetzungsphase, die demnach frühestens 1803, eher 1804 oder 1805 anzusetzen ist. Auch die Nähe einiger Verse des ersten Textes zur letzten Hymne Mnemosyne führt zu dieser Datierung. 3. Es ist nicht willkürlich, H.s Interesse am Ajax auch mit seiner Angst vor der hereinbrechenden Geisteskrankheit zu verbinden. Ajax nimmt sich das Leben, als er erkannt hat, dass er, durch Athene in Wahnsinn gehüllt, eine Rinderherde statt der ihm feindlich gesinnten Helden Odysseus, Agamemnon, Menelaos getötet hat. H. hat zunächst aus der Wehklage des aus dem Wahnsinn Erwachenden 34 Verse übersetzt. Syntaktische Eigenheiten (»Viel, viele Zeit und lange/ Habt ihr mich aufgehalten, bei Troja,/ Nun nicht mehr, nicht mehr/ Athem hohlend.« [StA 5, 277, V. 21–24]) weisen auf H.s Spätstil hin, z. B. hier die Nachahmung einer attributiven Partizipialkonstruktion gemäß der griechischen Wortfolge. Die Übersetzung »ich/ In wilder Narrheit liege« (277, V. 13 f.) für »mōrais d’ agrais proskeimetha« statt »törichten Jagden sind wir beigesellt«
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beruht auf der bei H. häufigen Umkehrung von Substantiv und Adjektiv und auf der Sonderbedeutung »das Wild« für »die Jagd«: »Narrheit« statt »töricht« und »wild« statt »Jagd«. Hier interessiert indes vor allem die identifikatorische Beschreibung des eigenen Wahnsinns, die H. in den Text hineinlegt, getrieben von der Anteilnahme an Ajax’ verstörtem Zustand. Wenn in H.s Übersetzung Athene den Ajax »peitscht« (277, V. 6) (statt »schlägt«), so wird auf den im Titel des Sophokleischen Dramas gegenwärtigen Ajax »Geißelträger« angespielt, den H. im Fragment von Hyperion aufschlägt (StA 3, 173, 2). Der peitschende wird selber vom Wahnsinn gepeitscht. H. stellt den Zusammenhang zwischen seinem Zustand und seinem Handeln her, von der Diagnose seines Wahnsinns aus. Die parataktische reihende Anrufung der Landschaftselemente ersetzt die »Weide an der Küste« durch den »Hain, der hänget über dem Ufer« (277, V. 20), wie zu Beginn von Hälfte des Lebens (s. Kap. 31): »[...] hänget [...] Das Land in den See« (StA 2, 117, V. 1, 3). Die ihren ruhenden Standort verlassende Küste wird von einer grenzüberschreitenden Bewegung erfasst, die den Zustand des Ajax spiegelt. Die zweite Stelle, ein vierstrophiges Chorlied, von den Schiffsleuten aus Salamis gesungen, dessen Anfang das Salamisfragment des Hyperion beschließt (StA 3, 257, 14 f.), sagt von der »berühmte[n]« Salamis, der »ringsum allen sichtbaren«: »Und jedes kan dich treffen.« (StA 5, 278, 3). H. denkt hier an die göttlichen Sonnenstrahlen, die griechische Erde treffen. Die »angebornen Triebe« des Ajax werden von H. als »angeborne[r] Zorn« (StA 5, 279, V. 39 f.) wiedergegeben, dessen der Held nicht »mächtig« sei. Man ersieht daraus, dass der »Zorn« erst dann negativ aufgefasst wird, wenn er ausbricht. Zunächst ist er als feurige, gottgegebene Anlage der griechischen Helden zu begreifen, die ein Potential an geistig-lebendiger Energie darstellt. Im dritten Stück, einem zweistrophigen Lied auf die Götter Pan, Apollon, Zeus, das auf einer Hoffnung erregenden Täuschung des Chors durch Ajax beruht, wird Pan als »Der eingesezten Götter König! versammelnder!« (StA 5, 280, V. 6) angerufen, wobei die Götter, theoi, etymologisch abgeleitet werden und das »tänzeschaffende« Wesen als »versammelnd« wiedergegeben wird, weil »choros«, »Chortanz«, für H. wie z. B. in Friedensfeier einen »in Chören gegenwärti g[en]« »allversammelnde[n]« »Festtag« evoziert (StA 3, 536, V. 102 f., 106). Den Vers »Gelöst hat den grausamen Kummer von den Augen Ares.« (StA 5, 280, V. 14) hat H. als Motto
über die Ode Der blinde Sänger (StA 2, 54) gesetzt, da der Wahnsinn des Ajax von H. als Nacht der Blindheit verstanden wird. Die Wahl der drei Fragmente beleuchtet zugleich die Motivation der Übersetzung des Oedipus und der Antigonä. Dreimal erleben wir dabei eine Identifikation des übersetzenden Dichters mit der Hauptgestalt einer Tragödie, mit Oedipus, Antigone und Ajax. Die Identifikation mit Ajax ließ sich am besten anhand einzelner Verse darstellen. Literatur
Harrison, Robin Burnett: H. and Greek Literature, Oxford 1975, 192–219. Knigge, Meinhard: H. und Aias oder Eine notwendige Identifikation, in: HJb 24 (1984/85), 264–282.
Die Trauerspiele des Sophokles: Oedipus der Tyrann. Antigonä. 1. Erstdruck: Die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von F. H. Erster Band, Frankfurt a. M.: Wilmans 1804. Zweiter Band: idem. – StA 5, 117–202 und 203–272. – FHA 16, 63–258 und 259–421. Der erste Band enthält zu Beginn die Widmung an die Prinzessin Auguste von Homburg, dann die Übersetzung des Dramas Oedipus der Tyrann und die Anmerkungen zum Oedipus. Gleichzeitig erschien der zweite Band. Er enthält die Übersetzung der Antigonä und die Anmerkungen zur Antigonä. 2. Authentische Quellen zur Entstehung dieser Übersetzungen bieten vor allem H.s Briefe an seinen Verleger Wilmans zwischen dem 28.9.1803 und dem 2.4.1804, in denen er seine Absicht kundgibt, »daß ich das Orientalische, das sie (die griechische Kunst) verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler [...] verbessere.« (StA 6, 434, Z. 17 f.) Dieser Tendenz zur stärkeren Betonung des Ursprungs der griechischen Kultur im apollinischen Feuer, wie er sie im ersten Brief an Böhlendorff vom 4.12.1801 ausführt, entspricht auch die Formulierung, er habe als Übersetzer »durchaus gegen die exzentrische Begeisterung geschrieben [...] und so die griechische Einfalt erreicht« (StA 6, 439, Z. 26 f.). »Gegen« bedeutet hier: »in Richtung auf«, also: »in Richtung auf die exzentrische Begeisterung«, wodurch er den angeborenen Zustand der Griechen, ihre erste »Einfalt«, eben jenes orientalische Feuer, erreicht zu haben hoffte. Diese Selbstdeutung seiner Übersetzungstendenz wird uns bei der Analyse des Resultats beschäftigen. Wenn wir die älteste erhaltene Übersetzung aus So-
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phokles, die Anfangsstrophen aus dem zweiten Chorlied des Oedipus auf Kolonos von 1796, als den nachweisbaren Anfang von H.s Beschäftigung mit Sophokles ins Auge fassen und die etwa vier Jahre später entstandene erste Fassung der zwei ersten Strophen des zweiten Chorlieds der Antigonä dazustellen, so dürfen wir daraus schließen, dass H. wohl kontinuierlich mit Sophokles im Gespräch blieb und, wie der Brief eines Freundes vom November 1802 beweist, ein Jahr vor dem ersten Brief an den Verleger Wilmans vom September 1803 schon eine Fassung seiner Übersetzung abgeschlossen hatte, an der er dann freilich noch einiges geändert habe, wie er am 8.12.1803 schreibt. Wir können die Entstehungsgeschichte aus diesen eher spärlichen Zeugnissen nur vermutungsweise rekonstruieren. Immerhin deuten die Unterschiede in der Intensivierung der Vorlage bei der Übersetzung der Antigonä gegenüber derjenigen des Oedipus der Tyrann darauf hin, dass die Antigonä eine spätere und stärkere Überarbeitung erfuhr, die durch eine vergleichende Analyse der mittleren Partie der Anmerkungen zur Antigonä mit dem Übersetzungsverfahren des Oedipus genauer definiert werden soll. Aufgrund zahlreicher Fehler der Übersetzung der Antigonä lässt sich mit Sicherheit die wichtigste Textvorlage H.s erschließen, die 1555 in Frankfurt a. M. beim Buchdrucker Braubach erschienene Ausgabe der Sophoclis Tragoediae septem cum Interpretationibus vetustis et valde utilibus, die schon für den Oedipus auf Kolonos benutzte Brubachiana. Sie befand sich im Verzeichnis von H.s nachgelassenen Büchern. Auch die teilweise ohne Strophenfuge abgedruckten Chorlieder der Antigonä entsprechen dieser Vorlage. H. hat sich sehr oft vom Wortlaut und immer wieder von der falschen Interpunktion dieser Ausgabe fehlleiten lassen. Gelegentlich hat er auch die dort beigedruckten Scholien für das Verständnis einer Textstelle beigezogen. Während so für die Antigonä die meisten Indizien auf die Brubachiana hindeuten, ist insbesondere die Aktund Szeneneinteilung im Oedipus und die dortige strophische Gliederung der Chorlieder ein Beweis für die Benutzung auch einer moderneren, bis heute jedoch noch nicht identifizierten Ausgabe, die vor allem für die ersten beiden Drittel des Oedipus neben der Brubachiana als Vorlage gedient hat (vgl. MA 3, 431). 3. Wenn H.s Übersetzungen beider Dramen des Sophokles einerseits bei ihrem Erscheinen 1804 und neuerdings wieder im Kommentar Jochen Schmidts von 1994 (Deutscher Klassiker Verlag) vor allem als Zeugnis durchgängiger Fehlerhaftigkeit aufgenommen wurden, andererseits von den beiden bedeutendsten
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klassischen Philologen Deutschlands der Jahre vor der und um die Mitte des 20. Jh.s, Karl Reinhardt und Wolfgang Schadewaldt, als die dem Geist des Originals weitaus am nächsten kommende Leistung bewertet wurden, so haben wir hier eine kaum überwindbare Spannweite zu reflektieren: zwischen unzähligen deutlich am Tage liegenden Verständnismängeln und dem originären Eindringen in eine selbsterfahrene Dimension religiöser Auseinandersetzung zwischen dem Menschen und dem Gott, deren innige Verbindung und schroffe Getrenntheit gleichermaßen nachzuvollziehen sind. Im mittleren Teil seiner Anmerkungen zum Oedipus und weit mehr noch seiner Anmerkungen zur Antigonä stellt H. den Zusammenhang zwischen seiner Theorie der sophokleischen Tragödie und seinem Übersetzungsverfahren her (s. Kap. 25). Die daraus sich ergebenden Entscheidungen des Übersetzers müssen bei der Bewertung seiner Arbeit mitberücksichtigt werden. Die Besonderheit der beiden Übersetzungen lässt sich nur an ausgewählten Beispielen darstellen. Die größte Kühnheit und Selbständigkeit der gewollten und ungewollten Umformungen liegt in den fünf Chorliedern des Oedipus und weit fremder und intensiver noch in den sechs Chorliedern der Antigonä zutage. An ihnen wird vor allem die Eigenart von H.s Übersetzung zu zeigen sein. Oedipus der Tyrann
Zu Beginn des Oedipus schildert der Priester, wie das pestbefallene thebanische Volk, »bekränzt mit Zweigen, an den Märkten sitzt« (V. 19 f.). H. übersetzt: »Das andere Gezweig/ Häuft sich bekränzt auf Pläzen [...]« (StA 5, 123, V. 19 f.) Die Verwechslung von »phylon« (Volk) mit »phyllon« (Laub) ist eine Quelle der Fehlübersetzung. Eine andere Quelle könnte indes die Zusammenziehung der Zweige der Bekränzten und des Volks sein, so dass die Verschmelzung eine Abkürzung bringt, die der Tendenz dieser Übersetzung entspricht. V. 29 wird, wie oft, »der Hades« mit »die Hölle« wiedergegeben. H. spricht im mittleren Teil der Anmerkungen zur Antigonä von der Notwendigkeit, Götternamen »unserer Vorstellungsart mehr zu nähern.« (StA 5, 268, Z. 6 f.) Andere christliche Termini, z. B. »Sünde« statt »Verbrechen« (StA 5, 243, V. 950), sind häufig. V. 33 wird der »Umgang mit den höhern Mächten« für H. zur »Einigkeit der Geister«. Seine Vorstellung der ungeheuren Paarung von Gott und Mensch zu Beginn des dritten Teils der Anmerkungen zum Oedipus
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spielt hier ebenso herein wie seine stete Wiedergabe der daimones durch »Geister«, im Gegensatz zu den Göttern. V. 48 wird Oedipus wegen seiner »ehemaligen Hilfsbereitschaft« bei der Errettung der Stadt von der Sphinx vom Übersetzer als »vom alten wilden Sinne« bezeichnet, wodurch ihm ein Element des Zorns zuerkannt wird, das H. in den Anmerkungen zum Oedipus ins Zentrum rückt. »Zorn« bedeutet für H. feurigmächtige, göttlich belebte Wirkungsmacht. Oft übersetzt er so das griechische Wort orgê. Ebendieser Zorn bewirkt »das gränzenlose Eineswerden« (StA 5, 201, Z. 21) des Oedipus mit Apollon, das die nachmalige reinigende Scheidung auslöst. H. versteht diesen Vorgang auch als einen dem damaligen Zeitalter gemäßen, wo die Menschen die Himmlischen zu vergessen drohten. Der durch sein Orakel kundgewordene Wille des Apollo, den Urheber der Pest aus dem Lande zu vertreiben, findet Oedipus’ Billigung: »Denn treffend hat Apollo, treffend du/ Bestimmet diese Rache dem Gestorbnen« (StA 5, 128, V. 132 f.). »Treffend« würde bei jedem andern Dichter »richtig« heißen. Für H. dagegen ist Apollos Pfeil mitzudenken, der den Schuldigen ereilen wird. Das erste Chorlied, dessen von heutigen Ausgaben sich unterscheidende Einteilung auch von derjenigen der Brubachiana abweicht, ist, im Vergleich zu den Chorliedern der Antigonä, viel weniger kühn umgestaltet und zeigt so, dass H. den Oedipus in einem weniger extremen, weniger verfremdenden Geist übersetzt hat als die Antigonä, mit der er sich später als mit dem Oedipus in entscheidender Umarbeitung ein neues Mal eingelassen hat. Dennoch sind auch hier charakteristische Eigenwilligkeiten anzuzeigen. So werden die »goldgeflochtenen Bogensehnen« des Apollo zum »heiligfalschen/ Bogen« (StA 5, 131, V. 209 f.), weil der Gott in H.s Sicht dem Menschen untreu werden muss, um die Trennung zu ermöglichen, die das menschliche Bewusstsein der Götterpräsenz wachhält. »Gedreht, geflochten« wird so zu »falsch«, während »golden« in »heilig« umgedeutet wird. Die Pfeile des Gottes sind hier nicht unüberwindlich, sondern »die ungebundensten«, teils aufgrund einer Wortverwechslung, teils auch, weil »ungebunden« in H.s Wortschatz den Bereich der aorgischen Tiefe des tödlichen Abgrunds meint, zu dem Apollos Pfeile die von ihnen Getroffenen schickt. An diesen zwei Beispielen wird das Faszinosum von H.s Umdeutungen erkennbar, hinter denen sich ein für ihn höchst präzises Bild des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch in der griechischen Tragödie ver-
birgt. Zugleich sind Verständnisfehler auch hier ein möglicher Anlass zu umdeutender Formulierung. H.s rhythmische Kraft variiert die einzelnen Chorverse ohne genauere Entsprechung zu den griechischen Versen, aber mit einer zu geformten Einheiten sich gliedernden Kombination von längeren und kürzeren Versen, die ein schwebendes Gleichgewicht zwischen fortschreitenden und angehaltenen Rhythmen hervorbringt. Wenn der Schlussvers, der sich auf den ungeehrten Pestdämon bezieht, lautet: »auf ihn, der ehrlos ist vor Göttern, den Gott!« (StA 5, 131, V. 219), wird die griechische Schlussformel »en theois theon« erfolgreich nachgebildet. Wenn H. Oedipus statt »sprechen« »forschen« lässt (StA 5, 132, V. 223), so mag die Verwechslung von »exerō« und »exerōtaō« dabei eine Rolle gespielt haben. Entscheidend ist aber die Vorstellung H.s, Oedipus sei von »zorniger[r] Neugier« getrieben (StA 5, 198, Z. 9 f.), die seine Übersetzung steuert. So lässt sich eine falsche Nuance oft nicht eindeutig auf ein Missverständnis zurückführen. Weit eher spiegelt sie eine vorentschiedene Interpretation, die durch die Übersetzung befestigt wird. Darum lässt H. Teiresias zu Oedipus vom Zorn, »Der beiwohnt« (StA 5, 137, V. 342) statt »dir innewohnt« sprechen, d. h. von einer Paarung von Mensch und Gott im Augenblick der »exzentrischen Begeisterung«. Darum wird Oedipus’ Gebot, den Schuldigen zu suchen, jetzt von Teiresias auf Oedipus’ Rede »Im Tone, wo du anfiengst« (StA 5, 137, V. 355) bezogen, d. h. auf die nach H. von Anfang an gegebene Fehlsteuerung auf den einen besonderen Schuldigen hin, der er selber ist. Die Mitte der Tragödie nimmt das dritte Chorlied ein, das gewichtigste, in dem vom gestörten Verhältnis zwischen Gott und Mensch die Rede ist, nachdem Iokaste Oedipus aus der Abhängigkeit vom Seherspruch zu befreien trachtete. Nach diesem Chorlied folgen die Entdeckungen, die Oedipus die Wahrheit über sich selbst enthüllen, Iokaste sich erhängen und Oedipus sich blenden lassen. Diese für H. entscheidende »Mitte« der Tragödie, wo die grenzenlose Vereinigung von Gott und Mensch sich in »gränzenloses Scheiden« (StA 5, 201, Z. 21 f.) kehrt, stellt auch das Chorlied dar, das H. durch seine Übersetzung am meisten verändert hat. Denn ihm geht es darum, die Untreue, die der Mensch dem Gott und der Gott dem Menschen auf diese Art beweist, als Mittel zur Wiederherstellung des »Gedächtnis[ses] der Himmlischen« (StA 5, 202, Z. 4) zu konkretisieren. Darum intensiviert er besonders diese Chorverse. Dies sei an einigen Proben dargestellt: Das mustergültige Verhal-
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ten hält sich bei H. an »Geseze«, die »Vor Augen sind, gestaltet« (StA 5, 162, V. 883 f.), statt dass sie als »erhabene bestehen«. Die größere »Klarheit der Darstellung« (StA 6, 425 f., Z. 15 f.) als die griechische Kunstform wird von H. stärker betont als von Sophokles. Danach folgt der sträfliche Gegensatz, auch er expressiv verdeutlicht: »Frechheit [...]/ Zur höchsten steigt sie, sie stürzt/ In die schroffe Nothwendigkeit« (StA 5, 162, V. 891–895). Gegen den griechischen Wortlaut setzt H. nach dem hybriden Aufstieg der Frechheit deren Sturz ein, statt des Aufwärtsstürmens. Danach wird das »Ringen« zum Guten der Stadt mit dem »Altertum« verwechselt (»palaisma« fälschlich von »palai« abgeleitet), was auf das Bedürfnis nach einem festen, haltgebenden Ursprung deutet, der jetzt gefährdet ist. H. übersetzt: »Das wohlanständige aber in der Stadt, das Altertum,/ Daß nie es löse der Gott, bitt’ ich.« (StA 5, 162, V. 897 f.) Den Übermütigen, »Den hab ein böses Schiksaal,/ Unschiklichen Prangens wegen« (V. 904 f.): der einfach direkten Aussage des ersten Verses folgt in subtiler Verdoppelung durch »unschiklich« ein nochmals ausgedrücktes »böses Schiksaal« und im »Prangen« ein für H. typisches Wort, das der von Sophokles gemeinten weichlichen Üppigkeit eine hybride Pracht zukommen lässt. Solche leisen, aber konsequenten Sinnverschiebungen bei der eigenwilligen Wortwahl bilden mit der Zeit einen in sich zusammenhängenden Stil, der in seiner Fremdheit und permanenten Abweichung von herkömmlichen Wendungen zum seltenen und oft feierlichen, oft schroffen Eindruck dieser Übersetzung führt. Die Strophe endet mit der höchst vereinfachten Frage »Was soll ich singen?« (V. 913) für »Was soll ich Reigen führen?« H. hat das Echo auf diesen Vers in Brod und Wein gedichtet: »wozu Dichter in dürftiger Zeit?« (StA 2, 94, V. 122). Vorher ermahnt er sich dort: »Vor den Aether gebührt müßigversuchendes nicht.« (V. 94) Eben diesen Unernst meint er im Oedipus »in müßiger Zeit« (StA 5, Z. 2 f.) wahrzunehmen. Zeus wird bei seinem Namen gerufen: »wenn du wahrhaft so heißest«, was H. so wiedergibt: »wenn du/ Aufrichtiges hörst« (V. 919 f.), womit er die aufgerichteten Tempel meint, die die Menschen ihm entgegenbauen, im Einklang mit den Versen aus Brod und Wein: »Drum in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen,/ Richten in herrlichen Ordnungen Völker sich auf.« (V. 95 f.) So ist keine Gottesanrede bei H. je der Konvention pflichtig, vielmehr sind es gerade solche Stellen, wo er aus eigener Aktualisierung eine neue sprachliche Form findet. Deren Sinn wurde beim Erscheinen dieser Übersetzungen nicht erkannt.
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In den extremen Situationen, die jetzt folgen, wird auch die Übersetzungssprache extrem. Statt: »Denn allzuhoch hebt Oedipus den Mut in mannigfaltigen Schmerzen« heißt es bei H.: »Denn aufwärts bieget Oedipus den Muth/ In mannigfacher Quaal« (V. 930 f.). Der Prozess, den H. hier hineinspielen lässt, entspricht seiner dynamischen, »nach Furienart« gewaltsamen Auffassung des dramatischen Vorgangs in den Tragödien. (StA 5, 201, Z. 15) So ist auch die vereinfachende Knappheit des Verses »Ju! Ju! das Ganze kommt genau heraus!« charakteristisch. (StA 5, 179, V. 1198) Wenn der Chor die Bilanz zieht: »Wo höret man aber jezt, von einem, der/ Mühseeliger wär’ im Wechsel des Lebens,/ In Arbeit wohnend, in Quaalen wild?« (StA 5, 180, V. 1221 ff.), so bedarf es nur geringfügiger Sinnverschiebungen, um diese Verse heutigem Verständnis nahezubringen: indem »mühseeliger« durch »elender«, »in Arbeit« durch »in Mühsaal«, »wohnend« durch »in Gemeinschaft sein mit« wiedergegeben wird. Die Verfremdung wird durch die Übersetzung erheblich gesteigert, ohne dass viel hinzukommt. Einige Grundwörter werden in einer manchmal im Schwäbischen erhaltenen, oft im Mittelhochdeutschen vorhandenen fundamentaleren Bedeutung verwendet und so ihrer griechischen Entsprechung angenähert, wo zwischen »Qual«, »Mühsal« und »Arbeit« wie zwischen »sein« und »wohnen« keine Gegensätze bestehen. Am Ende des fünften Chorlieds überbietet H. die Klage des Chors, indem er noch im größten Jammer eine als Steigerung zu verstehende Gegenstruktur erfindet, die Oedipus’ zornige Besessenheit spiegelt: Statt: »Denn klagen muß ich, über die Maßen/ Jammernd mit meinem Munde!« heißt es bei H.: »Ich jammre nemlich, da überhin/ Ich jauchze aus dem Munde.« (StA 5, 180, V. 1238 f.) Solche Gegensätzlichkeit ist für H. die einzige Möglichkeit für den Menschen, die »unendliche Begeisterung« (StA 5, 269, Z. 13 f.) der Vereinigung von Gott und Mensch in die unendliche Scheidung überzuführen. H.s Oedipus ist stets das Instrument einer Wendung der Zeit von der übermäßigen Gottesnähe zur übermäßigen Gottesferne. Daher wird er nicht geführt, sondern stürzt »als unter einem Treiber« (StA 5, 182, V. 1280) ins Gemach seiner erhängten Gattin, die »In Striken [...] verstrikt« ist (V. 1284), in einer mit Hilfe der figura etymologica verstärkenden Verdoppelung. Die schrecklichste Szene, die Blendung, wird von Sophokles mit Gesängen, von H. »frohlokend« (V. 1296) vollzogen. Diese Gegensätzlichkeit spiegelt die »närrischwilde« (StA 5,
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199, Z. 4) Umkehr vom Zustand äußerster Vereinigung zu dem äußerster Getrenntheit. Die stete Getriebenheit äußert sich in der Übersetzung bis zum Schluss immer stärker, indem der Dämon angerufen wird: »Io! Dämon! wo reißest du hin?« (V. 1334), nicht: »wohin sprangst du hinaus?« Der Geblendete nennt auch die Wirkung der Stacheln »ein Treiben« (V. 1341) statt »einen Stich«. Und seine Erfahrung des Zusammentreffens mit dem Gott als Schicksal wird viel konkreter als gemeinhin mit »Begegniß« übersetzt (V. 1366). In H.s eigener Dichtung wird die Intervention eines Gottes in das Leben eines gezeichneten Menschen mit dem Blitz, dem »Wetter« konkretisiert. So ersetzt er am Schluss die »Woge« durch das »Wetter eines großen Schiksaals« (StA 5, 192, V. 1550) und bezeugt so noch zuletzt in erhöhtem Maß die Präsenz des Gottes bei der Vernichtung des Helden. Es ist also zumindest an einigen ausgeprägten Stellen notwendig, über die bloße Verwechslung von Wörtern oder Verbformen hinaus H.s Auffassung vom Vorgang der Tragödie, wie wir sie in seinen Anmerkungen vor uns haben, beizuziehen, um die Richtung seiner übersetzerischen Umdichtung genauer zu begreifen. Was sich hier gezeigt hat, wird sich in der stärker und später überarbeiteten Übersetzung der Antigonä noch viel deutlicher und eigenwilliger ausdrücken. Antigonä
In der mittleren Partie der Anmerkungen zur Antigonä wird das Wesen des Zeus mit »Vater der Zeit« oder »Vater der Erde« erläutert. »Wir müssen die Mythe nemlich überall beweisbarer darstellen.« (StA 5, 268, Z. 11 f.) Dieses Verfahren ist gegenüber dem Oedipus neu. Schon im zweiten Vers der Antigonä heißt es »der Erde Vater« statt »Zeus« (StA 5, 205, V. 2). Zeus sei der Gott, der »das Streben aus dieser Welt in die andre« »zu einem Streben aus einer andern Welt in diese« kehre. (StA 5, 268, Z. 10 f.) Was diese Definition bedeutet, kann erst aus dem Zusammenhang der Anmerkungen begriffen werden (s. Kap. 25). Hier genüge, dass H. in der Antigonä die griechischen Götternamen in eine moderne, deutende Sprache zu übersetzen trachtet. Die Wendung »Nicht eine traur’ge Arbeit« (StA 5, 205, V. 5) für »nichts Schmerzliches« weist uns auf den Oedipus zurück, wo in H.s Übersetzung Mühsal und Leid mit Arbeit zusammenfließen und von H. demgemäß wechselnd eingesetzt werden. Ein verbindendes Wort ist sicher ponos, das Arbeit, Mühe, Mühsal, Anstrengung, Not, Leid, Unglück bedeuten kann. V. 21 fragt Ismene ihre Schwester: »Was ist’s, du scheinst ein rothes Wort zu färben?« Dieser Vers hat
beim Erscheinen der Übersetzung besonders Anstoß erregt und wurde vom jüngeren Voß, Schiller und Goethe als besondere Kuriosität vorgesetzt, um H.s Übersetzung zum Gespött zu machen. Gerade dieser Vers, der auf eine innere Bewegung deutet, auf einen erregten Zustand (»kalchainō« heißt »dunkel aussehen, erregt sein«), verrät H.s neues Wörtlichnehmen des Originaltextes, insbesondere wenn es um die Sprache selber geht, die er nach eigener Aussage orientalischer, exzentrischer gestalten wollte. Die rote Farbe bedeutet hier auch die größere Erregung, die dem Wort des Übersetzers zuteil werden soll. H. ist hier der Wort- und Bild-Denker, der sich von den Redekonventionen gelöst hat. Die Übersetzung des Sophokles stellt oft Gegensätze unverbunden nebeneinander, im Unterschied zur griechischen Vorlage, die stets durch kleine Zusatzwörter die schroffe Gegenüberstellung vermeidet: »Gesagtes, ungesagtes« (StA 5, 135, V. 505) oder »gekränzt, beschimpfet, wechselsweise« (StA 5, 206, V. 23). »Vorgezogen«, »entehrt« wird durch »gekränzt«, »beschimpfet« anschaulicher, expressiver, pointierter. Diese Intensivierung des Ausdrucks ist in der Antigonä-Übersetzung deutlicher wahrnehmbar als in der des Oedipus. Ihre Schwester Antigone nennt Ismene »Vermessene«, H. übersetzt »Verwilderte« (StA 5, 207, V. 49), um den Zusammenhang ihrer Berufung auf den »Geist der ewig lebenden ungeschriebenen Wildniß und der Todtenwelt« jenseits des Menschlichen durch ihre Verpflichtung gegenüber ihrem Zeus mit seinen »ungeschriebnen [...] Sazungen« (StA 5, 223, V. 471 f.) zu verdeutlichen. In diesen Bereich gehört auch der von Antigone sich selber zugeschriebene »irre Rath« (StA 5, 209, V. 97), der die »Unbesonnenheit« des Originals in Richtung auf »Wahnsinn« verstärkt. »Wahnsinn« wird in der Folge öfter von H. dort verwendet werden, wo im Griechischen keine genaue Entsprechung vorliegt (oft für: »atê«, »Unheil«), weil »heiliger Wahnsinn« (StA 5, 267, Z. 17) für H. Antigones höchste geistige Möglichkeit des Kontakts mit Gott darstellt. Hier, wie schon in der Charakterisierung von Oedipus’ wahnhafter Insistenz, zeigt sich, dass sich H. mit den Hauptgestalten der von ihm übersetzten Tragödien identifiziert und die Ahnung der ihn ereilenden Krankheit anhand dieser Beispiele reflektiert. Im ersten Chorlied wird der feindliche »Feuerträger« Kapaneus, einer der Sieben gegen Theben, von H. »liebestrunken« genannt, indem die dionysische Macht des Feuers, die im letzten Chorlied (StA 5, 254, V. 1195) evoziert wird, sich für H. mit der »bacchan-
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tisch« genannten Raserei dieses Helden verbindet, so daß schließlich seine Fackel sich in Liebestrunkenheit auflöst. An dieser Stelle wird deutlich, dass H. die Realien allegorisch umfunktionieren kann, indem er dabei an die Sphäre eines Gottes denkt, hier des Dionysos. Die Annäherung an »unsere Vorstellungsart« (StA 5, 268, Z. 6 f.) führt auch dazu, die Erhängung als Kreuzigung, den »Hades« als »Hölle« (StA 5, 217, V. 323 und 325) zu bezeichnen. Das berühmteste Chorlied der gesamten Tragödienliteratur ist das erste Standlied, das bei H. nicht in zwei Strophenpaare, sondern in zwei Gesamtabschnitte zerfällt, von denen der zweite elf nicht mehr dazugehörige Verse des Chor-Ältesten mit umfasst. H. hat es entscheidend umgestaltet, aufgrund von Missverständnissen, die teilweise der Brubachiana anzulasten sind. Zweimal hat H. die Grundstruktur des Chorlieds verkannt, die den Menschen erst »allbewandert«, dann »unbewandert« in nichts außer vor dem Tod erweist, während H. »Allbewandert,/ Unbewandert« (StA 5, 220, V. 375 f.) ohne Bezug auf das vor- bzw. nachher Gesagte formelhaft für sich setzt und so zur gegenseitigen Aufhebung führt, im Einklang mit dem Vers »Kommt einmal er auf Schlimmes, das andre zu Gutem.« (V. 383) Ein zweites Mal wird der Gegensatz zwischen »hochstädtisch« (V. 386) (»hochgeachtet in der Stadt«) und »unstädtisch« wieder als neutrales Nebeneinander statt als konkret veranschaulichter Gegensatz begriffen, der einerseits das vorher, andererseits das nachher Gesagte meint. Die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen formelhaft zusammenzwingend (wie in »Gesagtes, ungesagtes« [StA 5, 135, V. 305]), bezeugt H. auch hier die Denkform der unlösbaren Spannung zwischen Affirmation und Negation, wie sie für ihn z. B. im Prozess von Paarung mit und Scheidung von dem Gott erscheint. Entscheidend ist die Nebeneinanderreihung der Gegensätze ohne erläuternde Vermittlung, die reine Parataxe von Formel und Gegenformel ohne Zuordnung zugehöriger beispielhafter Bezirke. Um 1800 hatte H. bereits die ersten 23 Verse desselben Chorlieds in treuerer, konventionellerer Tonart übersetzt (StA 5, 42), was auf eine zeitlich vielschichtige, deutlich zu differenzierende Beschäftigung mit Sophokles schließen lässt. Nach ihrer Tat des Ungehorsams gegen die von Kreon verkündeten Gesetze vom Herrscher zur Rede gestellt, antwortet Antigone: »Mein Zeus berichtete mirs nicht« (StA 5, 223, V. 467). Ihre Berufung auf den obersten Gott im Zusammenhang mit den »Todesgöttern« lässt in H.s Augen den zentralen Konflikt als ei-
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nen zwischen dem »Geist der Zeit und Natur« (StA 5, 266, Z. 9), dem »Himmlische[n], was den Menschen ergreift«, und dem »sinnliche[n] Gegenstand« der unbestattet daliegenden Leiche sich abspielen, wobei von H. hinzugefügte Possessivpronomen »mein« Zeus Antigone als vom Gott ganz und durchweg gesteuert erscheinen lässt: fortan wird ihr Verhalten nur noch als von göttlichem Geist bestimmt in die Übersetzung hineinspielen und deren erregende Intensivierungen legitimieren. H. nennt ihn hier »reißenden Zeitgeist [...] Geist der ewig lebenden ungeschriebenen Wildniß und der Todtenwelt.« Kreon dagegen als der ohne Gotteskontakt Handelnde kann in H.s Vorstellung trotz seiner faktischen Übermacht, die ihm einen Scheinsieg gewährt, diesen Kampf am Ende nur verlieren. H.s Kommentare interessieren uns jetzt nur im Hinblick auf ihre prägende Einwirkung auf die Übersetzung, noch nicht als eigenständige Reflexion über die griechische Tragödie und deren Verhältnis zu einem deutschen Kunstwerk vergleichbarer Art. Das dritte Chorlied ist dort am aufschlussreichsten, wo H. aufgrund korrupter Textüberlieferung seiner Ausgabe eine eigene Setzung vornimmt, die seine Deutung dieses Chors erhellt: die Formel »Doch wohl auch Wahnsinn kostet/ Bei Sterblichen im Leben/ Solch ein geseztes Denken.« (StA 5, 231, V. 635–637) Da für H. die Antigonä einen Konflikt zwischen »gesezlos[em]« und »gesezte[m]« Verhältnis zu Gott (StA 5, 268, Z. 28 und 30), in der Handlungsweise Antigones und Kreons, darstellt, ist die Spannung zwischen »Wahnsinn« und »gesezte[m] Denken«, die in dieser Formel eine komprimierte Fassung erhält, sowohl für das Verständnis des Chorlieds aus der Sicht H.s wie für das Drama insgesamt bedeutsam. Viermal übrigens übersetzt H. hier »Unheil« durch »Wahnsinn«, ein Wort, das er in den Anmerkungen zur Antigonä auf Antigone anwendet (StA 5, 267, Z. 179). Wenn er nun auch das von ihm hier erfundene »gesezte Denken« daran teilnehmen lässt, so ist davon auszugehen, dass in seiner Sicht die beiden Anfangsstrophen im Verhältnis zur dritten Strophe den gleichen, für ihn zentralen Gegensatz zwischen dem im Zusammenhang mit den »Todesgötter[n]« (StA 5, 230, V. 624) stehenden Verhalten der Antigone (»ungehaltnes Wort und der Sinne Wüthen« [V. 625]) als Ausdruck des von den Göttern über das Geschlecht von Oedipus verhängten »Wahnsinns« und der unangreifbaren Macht des olympischen Zeus mit seinem »marmornen Glanz« (V. 632) illustrieren. Dieser Zeus wird nun aber in H.s Sicht für diejenigen »Sterblichen«, die sich wie Kreon selber als Machthaber be-
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greifen, trotz, ja wegen ihres »gesezte[n] Denkens« eine Versuchung zum »Wahnsinn«. Dies führt dann die vierte Strophe genauer aus, wo der, »der an nichts denkt« (StA 5, 231, V. 641), von »heißem Feuer« überrascht wird. H. denkt hier sicher an Kreons Ende als Folge seines bis zum »Wahnsinn« führenden »gesezte[n] Denken[s]«. Da also, wo die korrumpierte Textgrundlage keinen vernünftigen Sinn ergibt, verwirklicht der Übersetzer H. öfters das, was er, gemäß den Anmerkungen, an eigener Theorie in dieser Tragödie zu erkennen meint, so dass zunächst unverständlich anmutende Partien seiner Übersetzung dank den Anmerkungen entschlüsselt werden können. In der Mitte der Tragödie wird der auch politische Konflikt zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon, dem Verlobten der Antigone, auf die wichtigsten Grundlagen des Dramas gestellt. Kreon sagt bei H.: »Wenn meinem Uranfang’ ich treu beistehe, lüg’ ich?« (StA 5, 236, V. 773) Die Fehlübersetzung von »archê« mit »Anfang«, statt »Herrschaft«, führt auf die Grundlagen von Kreons Verhalten, die heiligende Ehrung der eigenen Herrschaft durch selbsterlassene Gesetze. Demgegenüber weist Haimon den Vater auf die dadurch verletzte Ehre der Götter, was H. durch Heilighalten von »Gottes Nahmen« (StA 5, 236, V. 774) übersetzt, um es unserer Zeit verständlich zu machen und es überhaupt grundsätzlicher auszulegen. An dieser Stelle wendet sich die Zeit nach H. »vom griechischen zum hesperischen« (StA 5, 267, Z. 8), was hier nur angedeutet werden kann: von der Übermacht des gesetzlich Festgefügten zu der des gesetzlosen, in heiligem Wahnsinn sein Bewusstsein behauptenden Geistes. Haimon leitet diese Wendung ein, die zuletzt zum geistigen Sieg Antigones und, trotz seines äußerlichen Siegs, zur Niederlage Kreons führen wird. Wie sehr H. fortan den Text des Sophokles nach dieser für ihn zentralen Perspektive der Zeitwende verändern wird, zeigt sich bereits im vierten Chorlied, das Eros gewidmet ist. H. ›hesperisiert‹ den Text überdeutlich, wenn er den »Geist der Liebe« (StA 5, 238, V. 811) auch noch zum »Friedensgeist« macht, ohne textliche Grundlage, der »schwebet über Wassern« (V. 815) wie zu Beginn der Genesis, statt dass er über das Meer schwärmt. Dies friedliche, liebende Eros-Bild wird auch später deutlich, wenn Aphrodite als »göttliche Schönheit« (V. 829) »unkriegerisch«, nicht »unbezwinglich« heißt, und wenn der zu erwartenden neuen, republikanischen Staatsform gemäß (StA 5, 272, Z. 2), die »Satzungen« »Verständigungen« (V. 828) genannt werden. »Herrschaft« wird
wieder mit »im Anbeginne« und »Werden« (V. 827) ausgedrückt, vielleicht auch, um den allmählichen Übergang zu einem neuen Verhältnis der Menschen untereinander anzudeuten. Der Chor weiß sich beim Anblick der Antigone jetzt selber »aus/ Dem Geseze« kommend (V. 830 f.), d. h. in H.s Sicht der Gesetzlosigkeit Antigones sich nähernd und so von der Gesetztheit Kreons sich entfernend. Jetzt folgt für H. der Höhepunkt, wo Antigone, nach den Anmerkungen, dem Gott »mit kühnem oft sogar blasphemischem Worte [...] begegnet, und so die heilige lebende Möglichkeit des Geistes erhält.« (StA 5, 267, Z. 24–26) Wenn es jetzt von ihr heißt, »daß sie auf dem höchsten Bewußtseyn dem Bewußtseyn ausweicht«, so wird dies sogleich dadurch illustriert, dass die allerfruchtbarste Niobe, Mutter zahlreicher Kinder, nun »der Wüste gleich sey worden/ Die Lebensreiche« (StA 5, 239, V. 852 f.). Weder die »Wüste« noch die »Lebensreiche« sind bei Sophokles zu finden. H. will aber diesen Gegensatz auch als Gottesbegegnung von Bewusstsein und Bewusstlosigkeit zeigen, daher führt er näher aus, was er hier allegorisiert findet. Die zu einem Felsen versteinerte Niobe wird also in H.s Übersetzung zunächst zu einer Wüste, die sich aus übergroßer Fruchtbarkeit ins Gegenteil entwickelt. So gelangt Antigone in H.s Sicht von höchstem Bewusstsein zum Bewusstseinsverlust, indem sie einen analogen Vorgang sowohl im Schicksal der von Apollo und Artemis ihrer prahlerisch hervorgehobenen Fruchtbarkeit wegen in einen Felsen verwandelten Niobe als auch in der Verwandlung eines ursprünglich fruchtbaren Landes, das allzu sehr der Sonne ausgesetzt ist, in eine Wüste hervorhebt. Für Sophokles ist Niobes Todesart der Versteinerung Antigones Einschließung in einen Felsenschacht vergleichbar. Der Umschlag vom »höchsten Bewußtseyn« in »Bewußtlosigkeit« ist H.s eigene Perspektive, die den von ihm hinzugefügten Wandel der übermäßig besonnten Landschaft zur Wüste ermöglicht hat. Die von Gott ergriffene Antigone spricht davon, dass der Chor in ihr »Die zornigste [...] angereget/ Der lieben Sorgen« (StA 5, 241, V. 887 f.), statt »die schmerzlichste«. Der Chor wiederum hält ihr entgegen: »Dich hat verderbt/ Das zornige Selbsterkennen.« (Die genaue Übersetzung müsste lauten: »das eigenwillige Streben«.) »Zorn«, »zornig« sind von jeher für H. Ausdrücke für die grenzüberschreitende Hingabe an ein Übermaß geistigen Feuers, das hier vernichtende Wirkung hat. Diese Deutung wird bestätigt durch die Umschreibung der Göttin des Hades Persephassa durch »Zornigmitleidig [...] ein Licht« (StA 5,
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242, V. 926), wo etymologische Spekulationen (im Zusammenhang mit »phaos«, »das Licht«; »perthō«, »zerstören«) mit der Vorstellung von »Zorn« als elementarer, gefährlicher Entgrenzung zur Totenwelt hin sich verbinden. Die Mühsal, die Antigone in ihrem Kampf gegen Kreon auf sich genommen hat, nennt H. einen »Aufstand« (StA 5, 243, V. 942), im Einklang mit seiner Gesamtdeutung im dritten Teil der Anmerkungen zur Antigonä (StA 5, 271, Z. 1 und 4), wo von »Aufruhr« als »vaterländische[r] Umkehr« die Rede ist. Ihr Vergehen heißt Kreon »eine Sünde« (V. 950), gemäß der Tendenz zur Umdeutung antiker Vorstellungen in heutige christliche. Die »Grüfte« der Toten sind für H. »Wildniß« (V. 956), wie in den Anmerkungen (StA 5, 266, Z. 19). Zu den großartigsten Leistungen dieser Übersetzung gehört ihre Zusammenzwingung pointierter Gegensätzlichkeit zu formelhafter Knappheit. So der Vers 960 »Da ich Gottlosigkeit aus Frömmigkeit empfangen.« Oder, in stärkerer Abweichung von der Vorlage: »Die ich gefangen in Gottesfurcht bin.« (StA 5, 245, V. 980) In beiden Fällen sind die entscheidenden Ausdrücke von »sebō«, »(die Götter) verehren« abhängig. Das zweitletzte Chorlied hat H. in den Anmerkungen zur Antigonä interpretiert (StA 5, 268, Z. 4–269, Z. 8). Hier kommt es natürlich zunächst auf die in der Übersetzung zutage tretenden Sinnveränderungen an, die aus dieser Interpretation resultieren. H. erklärt selber, die Schlussverse der ersten Strophe müssten lauten: »Sie zählete dem Vater der Zeit/ Die Stundenschläge, die goldnen.« (StA 5, 245, V. 987 f.) statt: »verwaltete dem Zeus das goldenströmende Werden.« (StA V, 268, Z. 4–6) Die schon mehrmals beobachtete Verchristlichung zeigt sich hier in der Verwandlung des »goldenströmenden Samens des Zeus« in »goldne« »Stundenschläge« der Kirchen. Diese Veränderung betont zugleich den Charakter des Zeus als »Vater der Zeit oder: Vater der Erde«, indem Danae in solcher Umfunktionierung »dieses vesteste Bleiben vor der wandelnden Zeit diß heroische Eremitenleben« verkörpert, welches »das höchste Bewußtseyn wirklich ist« (StA 5, 268, Z. 19 f.). Diese Form des Bewusstseins wird derjenigen der Antigone, die als Antitheos »den Geist des Höchsten gesezlos erkennt« (StA 5, 268, Z. 28 f.), gegenübergestellt. So folgen auf diese Strophe diejenige der Gottesbeschimpfung des Königs Lykurgos – das Prinzip der blasphemischen Antigone – und danach die beiden Schlussstrophen mit der Blendung der Söhne des thrakischen Herrschers Phineus durch ihren seiner zweiten Frau hörigen Vater,
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der auch seine erste Frau, ihre Mutter Kleopatra, eingekerkert hat. Sie bringen das Gegenprinzip der Ergebenheit vor dem Schicksal zur Sprache. Diese Gegensätze fasst H. so zusammen: »Nemlich dieser (Chor) enthält, als Gegensaz gegen das Allzuinnige dieser vorhergegangenen Stelle (gemeint ist die vorher zitierte Danae-Stelle), die höchste Unpartheilichkeit der zwei entgegengesezten Karaktere, aus welchen die verschiedenen Personen des Dramas handeln« (StA 5, 268, Z. 23–26): das Antigone- und das Kreon-Prinzip, in den Versen 993–1003 und 1004–1024, der heutigen zweiten sowie dritten und vierten Strophe. Nach der vorhin zitierten Definition heißt es dann nochmals: »Dies ist der Geist der gegen einander gestellten Gegensäze im Chore. Im ersten Sinne mehr Antigonä handelnd. Im zweiten Kreon.« Während wir bisher meist auf Veränderungen gestoßen sind, die, im Zusammenhang mit Antigones Handeln, das »Orientalische«, die »exzentrische Begeisterung« hervorheben, ist hier erstmals von einer verallgemeinernden Darstellung des Ganzen des Dramas die Rede. Erstmals wird der Gegensatz von Antigone und Kreon, wie ihn H. interpretiert, an einem konkreten Beispiel aufeinanderfolgender Chorstrophen veranschaulicht. Dabei wird diese Objektivierung auch als Gegensatz zum »Allzuinnigen« der Danae-Strophe begriffen. Nun hatte aber der Übersetzer H. eben diese Innigkeit bereits objektiviert, indem er aus Danaes Situation ein »heroische[s] Eremitenleben« zur Aufrechterhaltung des »höchste[n] Bewußtseyn[s]« entwickelt hatte. Die Veränderung des »goldenströmende[n] Werdens« des Zeus in »die Stundenschläge, die goldnen«, dient H. auch als Illustration für die von ihm betonte Tendenz, Zeus zu einem Gott der Umkehrung des Strebens zum Jenseits hin in ein Streben zum Diesseits zu machen. Denn das »goldenströmende Werden« (für den goldenen Samen) versteht H. als Schließen des »Verstand[es] von Gegenwart auf die Zukunft« (StA 5, 268, Z. 18), also als Streben »in die andre«, die Welt des Himmelsgottes, statt, wie er es jetzt festlegt, als Hinnahme der irdischen Kondition, wenn das Gemüt, »mitfühlend« auf die Glockenschläge achtend, »im Leiden« der Zeit folgt. Dieses »heroische Eremitenleben« hat mit dem verinnerlichten Martyrium einer christlichen Heiligen zu tun, im größten Gegensatz zum blasphemischen Antitheos Antigone, die einen Doppelgänger im blasphemischen Gottesschänder Lykurgos erhält. Auf die Strophe der heroischen Dulderin Danae folgt also die des »Antitheos«, »wo einer, in Gottes Sin-
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ne, wie gegen Gott sich verhält, und den Geist des Höchsten gesezlos erkennt.« (StA 5, 268, Z. 27–29) Damit ist die Lykurgos-Strophe gemeint, die den König der Edoner bei der Störung des dionysischen Gottesdienstes behaftet. Die von H. in seinem vergeistigenden und antithetisch-bewusstseinsstiftenden Sinn umgeformten Verse von »begeistertem Schimpf« (StA 5, 245, V. 994) und vom »blühenden Zorn« bei der Verhöhnung des Gottes und seiner Bakchen bedeuten in H.s Sicht ein Kennenlernen des Gottes durch den Gottesschänder. Hierin liegt die Parallele zur Antigone. In striktem Gegensatz dazu sind dann die folgenden Schicksale der geblendeten Phineussöhne und ihrer eingekerkerten Mutter Kleopatra zu verstehen, nämlich, weil am Schluss »Das große Schiksaal«, das »auf jener [...] ruhte« (StA 5, 246, V. V. 1023 f.), herausgehoben wird, als »Ehren Gottes, als eines gesezten«. (StA 5, 268, Z. 29 f.) Hier werden die Parallelen zu Antigones Einkerkerung in einen Felsenschacht, auf die es Sophokles ankommt, weggelassen, damit der Gegensatz zwischen gesetzloser und gesetzter Form der Gotteserfahrung als Paradigma des ganzen Dramas hervortrete. In den Übersetzungen der Danaeund der Lykurgos-Strophe wird besonders deutlich, wie H. seine Theorien zu illustrieren trachtet. Der unbegrabene Polyneikes wird vom Seher Teiresias »schiksallos« genannt (StA 5, 250, V. 1113), was eigentlich »nicht der Götter teilhaftig« heißt. Da H. in den Anmerkungen zur Antigonä den Deutschen diesen Mangel als Grundeigenschaft zuschreibt, ist sein Insistieren auf der Notwendigkeit, sie müssten ein Schicksal treffen, insofern zu präzisieren, als hier ein Treffen der Gottheit, des göttlichen Geistes, gemeint ist. Das letzte, Dionysos gewidmete Chorlied ist schon darum bedeutsam, weil aus ihm der Anruf des Gottes »werd’ offenbar!« im Zusammenhang mit der Darlegung der »vaterländischen Umkehr« (StA 5, 271, Z. 4) in den Anmerkungen zur Antigonä zitiert wird, so dass der in H.s Augen dionysische Charakter des revolutionären Vorgangs in der Antigonä erkennbar wird. Von dieser Perspektive aus wird auch ein Teil der Veränderungen des Chorlieds verständlich. Die Anrede »Nahmenschöpfer« (StA 5, 253, V. 1162) statt »Vielnamiger« bezieht sich auf die Funktion des Dionysos als eines Dichtergotts, der H. auch in seinen Übersetzungen als Namenschöpfer der deutschen Götternamen leitet. Demeter wird so als »Undurchdringliches« (V. 1167) umschrieben, im Zusammenhang mit den eleusinischen Mysterien, an denen Dionysos auch teilhat, der ja auch am Schluss nicht einfach »nächtlicher Stim-
men Aufseher« heißt, sondern »geheimer/ Reden Bewahrer« (V. 1197). H. stellt auch, fälschlich, eine Beziehung des Gottes zum »Cocytus, wo die Wasser/ Bacchantisch fallen« (V. 1176 f.) her, zum Unterweltsstrom. An verschiedenen Stellen der Übersetzung werden so das Wasser und der Tod gegen die Vorlage dem Gott zugeschrieben. Er erhält den Namen »Freudengott« (V. 1169) und wird nicht nur als »Chorführer der Feuer atmenden Gestirne« gepriesen, sondern als selber »in Feuer wandelnd« (V. 1195). Die ihn umschwärmenden Thyiaden singen ihm bei H. »wahnsinnig« Chor (V. 1201). Dies erhellt den Zusammenhang zwischen diesem Gott und der »exzentrischen Begeisterung«, die H. in diese Übersetzung zu legen vorhat, und zwischen ihm und Antigones »Wahnsinn«. Der Bote, der den Tod Haimons und Antigones meldet, braucht bei H. für »Glück« (tychê) das Wort »Undenklichs« (V. 1206), wodurch der Abstand des Menschen zu seinem Schicksal thematisiert wird. Die Ausführlichkeit in der Behandlung dieser Übersetzung, insbesondere der sechs Chorlieder, die noch weiter geht als beim Oedipus, lässt sich durch den engen Zusammenhang zwischen H.s Theorie zu den beiden Tragödien und seinen kühnen Übersetzungsvorschlägen motivieren. Die Komplikation und allgemeine Schwierigkeit dieser Anmerkungen begründet die einlässliche Behandlung vieler extremer Stellen. 4. Rainer Maria Rilke hat im August 1914 unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs in seinen Fünf Gesängen einzelne Prägungen aus H.s Antigonä-Übersetzung und -Anmerkungen widerklingen lassen. Bertolt Brecht hat 1948 in Chur eine aktualisierende Umarbeitung von H.s Antigonä aufgeführt, die sich auf den »totale[n] materielle[n] und geistige[n] Zusammenbruch« von 1945 bezieht (Brecht, 97). Sowohl aus den dialogischen wie aus den Chorpartien wurden viele Verse H.s beibehalten, seiner sperrig spröden, harten, fremden Sprache wegen, aber viele dunkle Stellen neu geschrieben. Ein Jahr danach wurde Carl Orffs Vertonung von H.s gesamter, unveränderter Übersetzung der Antigonä in psalmodierender, stark rhythmisierter Form mit z. T. afrikanisch anmutenden Instrumenten uraufgeführt, von Brecht als apolitisch-kultische Veranstaltung kritisiert. 1959 folgte Orffs Vertonung von H.s Oedipus der Tyrann. 1967 hat in Benno Bessons Regie Heiner Müller in Ost-Berlin eine in den Dialogen stark eingreifende, in den Chören H. wenig verändernde Bearbeitung seiner Oedipus-Übersetzung geboten, die Oedipus als stark individualistischen, von der Gesellschaft abgesonder-
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ten Außenseiter zeigt. Die Regie hat afrikanische Instrumente verwendet und eine zelebrierende Sprechweise verwendet. Wolfgang Rihm hat 1987 in Berlin H.s Oedipus der Tyrann mit Texten Nietzsches und Heiner Müllers kombiniert und in Musik gesetzt. Textgrundlagen der erwähnten dramatischen Bearbeitungen: Brecht, Bertolt: Die Antigone des Sophokles. Nach der H.schen Übertragung für die Bühne bearbeitet. Stücke XI: Bearbeitungen, 1. Band, Frankfurt a. M. 1964, 9–96. Daran anschließend: Zur »Antigone des Sophokles«, 97–114. – Müller, Heiner: Oedipus Tyrann. Nach H., Berlin 1969. Literatur
zu 4.: Flashar, Hellmut: H.s Sophoklesübersetzungen auf der Bühne, in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. H.s letzte Homburger Jahre (1804– 1806), Bonn 1988, 291–317. [Reichhaltige Zusammenstellung mit genauen bibliographischen Angaben.] zu 2 und 3.: [Weil sich die Arbeiten über H.s Übersetzungen der beiden Dramen des Sophokles stets mit denen über die Anmerkungen überschneiden, während manche Abhandlungen ausschließlich den Anmerkungen gewidmet sind, werden hier nur solche Titel aufgeführt, in denen eigenständige Analysen der Übersetzungen oder dokumentarische Grundlagen vorliegen. Dagegen werden die vorwiegend den Anmerkungen geltenden Arbeiten nur am Ende des darauf bezogenen Beitrags angegeben.] Beißner, Friedrich: H.s Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 1933, 21961. [Genaue philologische Untersuchung mit vielen textkritisch begründeten Korrekturen, metrischen Analysen, entstehungsgeschichtlichen Entdeckungen und stilistischen Beobachtungen.] Beißner, Friedrich (Hg.): StA 5, 450–507 (1952). [Lesarten und Erläuterungen mit einer Auswahl der zahlreichen Übersetzungsfehler und -eigenheiten und zugehöriger Kommentierung.] Binder, Wolfgang: H. und Sophokles, in: HJb 16 (1969/70), 19–37. [Vielseitige Einbettung der Sophokles-Übersetzungen in den werkgeschichtlichen Kontext von H.s Dichtung und Poetik, wobei das erste Standlied der Antigonä als Beispiel für H.s umdeutendes Verfahren analysiert wird.] Binder, Wolfgang: H. und Sophokles. Turm-Vorträge 1992.
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Eine Vorlesung [...] an der Universität Zürich, hg. v. Uvo Hölscher, Tübingen 1992. [S. 72–80 und 132–146 wird H.s Übersetzungspraxis in beiden Tragödien aus seiner grundlegenden Intention heraus erläutert und anhand von Beispielen analysiert.] Böschenstein, Bernhard: »Frucht des Gewitters«. Zu H.s Dionysos als Gott der Revolution, Frankfurt a. M. 1989. [Behandelt detailliert das erste Standlied und im Überblick alle sechs Chorlieder von H.s Antigonä-Übersetzung, insbesondere im Bezug auf Dionysos, S. 37–71.] Böschenstein, Bernhard: H.s Oedipus – H.s Antigonä, in: Kurz, Gerhard/Valérie Lawitschka/Jürgen Wertheimer (Hg.): H. und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, 224–239. [Untersucht das dritte Chorlied des Oedipus und das dritte und vierte Chorlied der Antigonä auf H.s stärkste Umdeutungen hin.] Reinhardt, Karl: H. und Sophokles, in: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, Göttingen 1960, 381– 397 (Erstdruck 1951). [Hebt ausdrucksvoll die ungeheuren Gegensätze zwischen H.s und Sophokles’ Text hervor und bekennt sich dennoch zum höchsten Rang der H.schen Leistung.] Sattler, Dietrich Eberhard (Hg.): FHA 16 (1988). [Bietet den griechischen Text der Brubachiana für beide Tragödien.] Schadewaldt, Wolfgang (Hg.): Sophokles: Tragödien. Deutsch von F. H., Frankfurt a. M. 1957. [Substantielle Einleitung, die alle wesentlichen Aspekte von H.s Übersetzung und Deutung behandelt, aus der Überzeugung heraus, daß trotz seiner Ferne vom sophokleischen Wortsinn H. der einzige Übersetzer deutscher Sprache sei, der sich den religiösen Grundlagen des Originals zu nähern imstande war.] Schmidt, Jochen (Hg.): F. H.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, 1322–1375, 1393–1470. [Entstehungsgeschichte; gründlichste Analyse der zahllosen Übersetzungsfehler, Beißners Angaben um ein Vielfaches erweiternd.] Turk, Horst/Klaus Nickau/Fred Lönker: H.s Sophoklesübersetzung, in: HJb 26 (1988/89), 248–303. [Davon handelt nur der Anteil von K. Nickau: Die Frage nach dem Original (269–286) von der Übersetzung H.s.] Bernhard Böschenstein, der diesen Beitrag für die erste Auflage des Handbuchs verfasst hat, ist am 18. Januar 2019 verstorben. Sein Beitrag erscheint hier – abgesehen von der Umstellung auf die neue Rechtschreibung – in unveränderter Form. J. K.
Bernhard Böschenstein†
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28 Frühe Hymnen Die Tübinger Hymnen bilden H.s erstes größeres Dichtungsvorhaben. Sie entstehen während seines Tübinger Studiums in den ersten Jahren nach der Französischen Revolution (1790–1793). Die Hymnen sind thematisch und formal eng miteinander verbunden. Sie entwickeln ein revolutionäres Pathos, indem sie die Forderungen der Revolution nach Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit bekräftigen. Zugleich erfahren diese Forderungen aber eine gedankliche Vertiefung und Erweiterung. Die Hymnen proklamieren nicht nur das Ende des Absolutismus, sondern integrieren ihre politische Zielsetzung in einen übergreifenden Argumentationsrahmen. H. bestimmt die Gegenwartskrise als Umbruchssituation innerhalb der geschichtlichen Entwicklung. So nehmen die Tübinger Hymnen große geschichtliche Entwürfe auf, die von der Vergangenheit über die Gegenwart hinaus auf eine erfüllte Zukunft verweisen. Um die Defizite der Gegenwart zu bestimmen, entwickelt H. Gegenbilder harmonischen Lebens. Hierbei greift er auf die Vorstellungen vom göttlichen Ursprung der Menschheit, vom Paradies, von der Goldenen Zeit, von Arkadien oder Griechenland zurück und verbindet sie so miteinander, dass sich prägnante Kontraste zur Gegenwart ergeben. Auf dem Hintergrund der Geschichtsentwürfe erfolgt der Appell zur Tat. Die Gegenwartskritik und der revolutionäre Appell stehen somit im Zentrum der Hymnen. Ihren äußeren Rahmen bilden hingegen die Eröffnungs- und Schlusspartien. H. lässt die Gedichte von einem Dichter-Ich ausgehen, dessen Vortrag ein besonderes Gewicht erhält, indem es als gottbegeisterter und gotterfüllter »Sänger« auftritt: Der Sänger empfängt ein göttliches Wissen, das er im Gesang mitteilt. Seine Aufgabe ist es, den Neuen Bund der Menschheit anzukündigen und vorzubereiten. Die Gedichte erhalten ihren hymnischen Charakter durch die Ansprache des Sängers an die Gottheiten, die in den Titeln genannt werden. Die Harmonie, die Freiheit, die Liebe und die übrigen Titelgottheiten werden als weltgestaltende Mächte vorgestellt. Die Hymnen erläutern ihr Wesen und Wirken, um ihre Anerkennung, die in der Gegenwart vermisst wird, einzufordern. Die Revolution wird als Umkehr der Menschheit zum Neuen Bund begrüßt. Die Bundesfeier bildet den gemeinsamen Fluchtpunkt der Hymnenreihe. H. selbst kritisierte die Hymnen schon bald nach ihrer Entstehung (vgl. StA I, 415, 474, 484). Er fand sie zu überschwänglich und beklagte vor allem die fehlende Nüchternheit: Erst mit dem Hyperion habe er
wieder »von der Region des Abstracten« zurückgefunden (StA VI, 113). Gegenüber Schiller rechtfertigt er jedoch den enthusiastischen Überschwang als notwendiges Durchgangsstadium der eigenen Entwicklung (StA VI, 249). Dieses Argument scheint berechtigt: Die Überschwänglichkeit, mit der die Tübinger Hymnen den Sänger, die Gottheiten und die Revolution verbinden, ist zweifellos befremdlich, dennoch ermöglicht sie erst das anspruchsvolle Unternehmen. H. versucht in den Hymnen erstmals die verschiedenen Themen und Aspekte, die seine Jugenddichtung bewegen, zusammenzuführen. Er erörtert als grundlegende Themen den Dichterberuf und den geschichtsphilosophischen Rahmen der Zeitkritik, der Revolution und des Neuen Bundes der Menschheit. Diese Themen werden nicht gesondert, sondern im Gedicht aufeinander bezogen. H. entwickelt hierfür die komplexe hymnische Darstellungsform, die die verschiedenen Themen und Sprechweisen vermittelt: Ergriffenheit und Reflexion, Lobpreis und Tadel, Appell und Jubel treten im hymnischen Rahmen zusammen. Die Arbeit an den Tübinger Hymnen wirkt wegweisend für H.s künftige Verfahrensweise: Er entwirft auch später nur wenige dichterische Grundformen, die aber möglichst komplexe Vermittlungen zulassen. So konzentriert er sich auf den einen Roman, das eine Trauerspiel, die Oden, die Elegien und schließlich die späten Gesänge (1800–1806). Mit dieser zweiten Hymnengruppe greift H. auf die Tübinger Erfahrungen insgesamt zurück. Wiederum entwickelt er eine gemeinsame Grundform, die sich an Pindars Gesängen orientiert. Dabei hält er einerseits am alten Verständnis des Dichterberufs wie auch an der Perspektive des Neuen Bundes fest, andererseits korrigiert er den überschwänglichen Enthusiasmus der frühen Hymnen und vertieft im Spätwerk die Reflexion.
28.1 Entstehung Hymnische Ansätze in der Klosterschulzeit In ihren Voraussetzungen weisen die Tübinger Hymnen weit zurück; bereits die frühen Gedichte aus den Denkendorfer und Maulbronner Klosterschulen (1784–1788, vgl. »... so hat mir/ Das Kloster etwas genüzet«, 2004) tragen hymnische Züge. In einem Brief an die Mutter (1785) erklärt H., dass er »tausend Entwürffe zu Gedichten« habe, die er »machen will, und machen muß« (StA VI, 4). Die folgenden Gedichte haben vor allem experimentellen Charakter. H. wählt sich lyrische Vorbilder und versucht ihnen gleich-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_28
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zukommen. Er orientiert sich an Klopstock, Schiller, Schubart, Stolberg und Matthisson, greift aber auch auf antike Autoren, Bibelzitate und einige Kirchenlieder zurück (vgl. die Quellenverweise der StA I.2; Hayden-Roy 2006/07; Doering 2009). Dabei verwendet er ganz unterschiedliche lyrische Formen: vierzeilige Lieder, Hexameter, achtzeilige Reimstrophen, verschiedene (asklepiadeische, alkäische, selbstgeschaffene) Odenmaße und schließlich auch freirhythmische Gedichte. Trotz dieser Vielfalt herrscht in den Jugendgedichten ein hymnischer Ton vor: Sie gehen meist von einem Dichter-Ich aus, das sich zur Begeisterung erhebt. Die Erhebung führt über die unmittelbaren Lebensbezüge hinaus. Das leidige Klosterschuldasein, von dem die Briefe berichten, wird in den Gedichten ausgeblendet bzw. lustvoll überschritten. Sie entwerfen heroische Phantasien und schauen auf die Vorwelt der Antike oder Schwabens zurück. Sie behandeln Gestalten wie Alexander den Großen, Klopstocks Adramelech oder Szenen aus Schillers Räubern (StA I, 7–12). Die religiösen Gedichte (StA I, 1; 2; 3; 5; 8; 13 f.; 15–20; 21) wenden sich an den christlichen Gott. Dieser erscheint als »Herr der Welten«, als furchtbarer, »großer Richter«, aber auch als »Vater der Barmherzigkeit«. H. pointiert den Gegensatz von nichtiger Welt und heilsgeschichtlicher Erwartung. Die Welt gerät zur »Schlangenhöhle«, ihre Verlockungen werden zum »tötendt Gifft«. Da sie nur »flüchtige Freuden« und »leere Schattenbilder« zu bieten hat, um die sich allenfalls »tolle Thoren« bemühen, richtet sich die Hoffnung der frühen Gedichte auf die »Freuden« der Ewigkeit. Zu ihnen führt die Stille: Sie bringt »die Leiden« zur »frommen Ruhe«, entlastet von dem »Schwarm« der Sorgen und befreit vom »Menschendruk«, indem sie die Aussicht auf das künftige Heil eröffnet. In den Momenten der Stille und Abgeschiedenheit kann die Seele erahnen, »Wie göttlich sie dereinst wird seyn« (StA I, 3). Entsprechend bevorzugen die frühen Gedichte die Atmosphäre der Nacht und Natureinsamkeit, in der sich das »stille Herz« ergeht und seine »stille Freuden« genießt. In der Weltabkehr stellt sich die ersehnte »Himmelsruhe« ein. Sie eröffnet die »schöne, seelige Stunde« und durchbricht die »träge Fluth der Zeiten«, indem sie den Aufschwung zur Begeisterung ermöglicht. Die Ansätze der Jugenddichtung verbinden sich in dem Familiengedicht Die Meinige (StA I, 15–20) zu einer großen Hymne in achtzeiligen Reimstrophen. Nach dem feierlichen Auftakt mit dem Anruf des christlichen Schöpfergottes verkündet der »Better« (sic) des Gedichts: »Sprechen will ich, wie dein Luther
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spricht« (V. 12). Das religiöse Gedicht durchbricht seine Erzählung in vielfachen Bitten und Anrufungen für das Wohlergehen der Familienmitglieder. Dabei hebt H. den Kontrast zwischen der Allmacht Gottes und der Nichtigkeit des Menschen besonders stark hervor. Der schroffe Dualismus, der in immer neuen Variationen vorgebracht wird, erhält jedoch eine bedeutsame Durchbrechung. Die »Bahn der Leiden« wird durch »Himmelsaugenblike« (V. 113) unterbrochen. Zwar ist die Trennung von todesverfallener Welt und göttlicher Sphäre unter den Bedingungen des eschatologischen Kosmos unaufhebbar. Dennoch erhält die christliche Bahn mit ihrem »Streben [...] nach Heiligung« (V. 164) bestärkende Momente, in denen das künftige Heil antizipiert wird. In der visionären Erfahrung der »Himmelsaugenblike« stellt sich die verlorene Einheit wieder her. Die Sphärentrennung wird überwunden und die erwartete Versöhnung antizipiert. H. behandelt einen solchen Moment in dem berühmten Passus des Familiengedichtes: Guter Carl! – in jenen schönen Tagen Saß ich einst mit dir am Nekkarstrand. Fröhlich sahen wir die Welle an das Ufer schlagen, Leiteten uns Bächlein durch den Sand. Endlich sah ich auf. Im Abendschimmer Stand der Strom. Ein heiliges Gefühl Bebte mir durchs Herz; und plözlich scherzt’ ich nimmer, Plözlich stand ich ernster auf vom Knabenspiel. Bebend lispelt’ ich: wir wollen betten! Schüchtern knieten wir in dem Gebüsche hin. Einfalt, Unschuld wars, was unsere Knabenherzen redten – Lieber Gott! die Stunde war so schön. Wie der leise Laut dich Abba! nannte! Wie die Knaben sich umarmten! himmelwärts Ihre Hände strekten! wie es brandte – Im Gelübte, oft zu betten – beeder Herz! (Die Meinige V. 121–136, StA I, 19)
Am Gedichteingang wird das Erlebnis aus der Nürtinger Kindheit religiös präfiguriert, indem H. die Segensformel: »Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig« (4. Mos. 6, 25) aufgreift und zum hymnischen Anruf verwandelt: »Herr der Welten! der du deinen Menschen/ Leuchten läßst so liebevoll dein Angesicht« (V. 1 f.). Das »Leuchten« Gottes erscheint in der erinnerten Szene am Neckarufer als »Abendschimmer«. H. gibt dem Begeiste-
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rungsvorgang eine prägnante Struktur: Im »Abendschimmer« kommt der Strom der wandelbaren Zeit zum Stillstand. Die Herrlichkeit Gottes wird »plözlich« transparent. Sie wird vom Aufschauenden als überwältigend erfahren. »Ein heiliges Gefühl«, das sich im Beben und Brennen niederschlägt, verlangt nach religiösen Formen der Verehrung: Kniefall, Gebet und Gelübde beschließen die »Stunde stiller, frommer Seeligkeit« (V. 114). Die im Familiengedicht ausgeführte Triade vom »Leuchten« Gottes über die ekstatische Ergriffenheit zur dankenden Rückwendung bildet einen wesentlichen Aspekt der heilsgeschichtlichen Konzeption in den frühen Gedichten. Sie vermittelt in dem polaren Spannungsfeld von eschatologischem Kosmos und transzendentem Heil. Die ekstatisch-visionäre Überschreitung der Welt versichert den Betrachter seiner erhabenen Bestimmung. Diesen Zusammenhang verdeutlicht H. in dem Reimgedicht Die Nacht (StA I, 3): Ausgehend von der Ansprache an die »zufluchtsvolle« Sphäre der Nacht erfolgt im Zentrum des Gedichts der Aufschwung der Seele: Weit hinauf, weit über euch, ihr Sterne, Geht sie entzükt mit heilgem Seraphsflug; Sieht über euch herab mit göttlich heilgem Blike, Auf ihre Erd, da wo sie schlummernd ruht... (Die Nacht, StA I, 3, V. 13–16)
Der Begeisterungsaufschwung erscheint hier zum »Seraphsflug [...] mit göttlich heilgem Blike« gesteigert. Der »Seraphsflug« weist deutlich auf die Klopstock-Begeisterung der frühen Jahre hin. In dem Jugendgedicht Die Stille (1788) verkettet H. verschiedene Erlebnisse der Stille zu einer biographischen Erzählung. Die Stille wird als »holde Freudengeberin« vorgestellt, die das bisherige Leben ihres Schützlings begleitete und auch künftig begleiten wird. Zu den herausragenden Momenten der Stille zählt H. auch die Lektüre Klopstocks, wenn er bekennt: »Schwebe oft in schimmernder Seraphen Mitte/ Mit dem Sänger Gottes, Klopstock, himmelan« (V. 55 f.). In den folgenden Gedichten der Maulbronner Zeit und der ersten beiden Tübinger Studienjahre (1786/90) erweitert H. den Geltungsbereich der Stille. Sie eröffnet nicht mehr nur den Bezug zum christlichen Gott, sondern geht allen Freuden und Begeisterungen, die die Jugendgedichte nennen, voran. Die nächtliche Stille regt zu den Phantasieflügen mit Pindar, Klopstock, Young oder Ossian an (StA I, 28; 36; 44). Im »stillen« Tal werden die ersten Herzensfreundschaften geschlossen (StA I, 44). Aber auch der Entschluss zur eigenen Dichtung und
die Heroenbegeisterung gehen aus der Stille hervor. So wird die »Ruhe« als »Beglükerin« vorgestellt, die »der Begeist’rung Stunde« eröffnet (StA I, 92). Auch die Gedanken an die »Ehre« stellen sich am »stillen Moosquell« ein und rufen den »Sänger« auf die »einsame/ Gewagte Bahn« der heroischen Dichtung (StA I, 94). Entsprechend wird auch die heroische Begeisterung der Jugenddichtung eingeführt: So »lächelt« Gustav Adolf aus himmlischen Höhen »herunter« und veranlasst »der ernsten Bewundrung Lied« (StA I, 89). Oder die Gestalt Keplers »naht« begeisternd in nächtlicher Stunde »hoch herab/ Vom Gefild, wo der Triumf jubelt« (StA I, 81). Schließlich werden die »Helden der Vergangenheit« im Heroenfest des ersten Bundesliedes »ernst und stille« aufgefordert, zu erscheinen und sich mit den Versammelten zu verbinden (StA I, 104). Derart erweitert wird die Stille zum fokussierenden Punkt der Jugenddichtung. Ihr entspringt die Begeisterung, von der die hymnische Dichtung ausgeht. Klopstock als Lehrer H.s Klopstocks Werke und sein Selbstverständnis als »heiliger Dichter« wurden für den jungen H. richtungweisend. In den Jugendgedichten wird Klopstock häufiger als jeder andere Dichter genannt. »Kämpfendes Streben nach Klopstoksgröße« (StA I, 28) ist der bestimmende Wunsch des jungen H. Das Streben nach »Klopstoksgröße« impliziert die Absage an die Aufklärungspoetik. Klopstock hatte die Aufwertung des Dichters dadurch erreicht, dass er die antiken Vorstellungen vom Enthusiasmus reaktivierte: Der Dichter soll nicht nur aufgeklärt, gebildet und gelehrt sein, wie es Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst verlangt hatte, sondern vor allem begeistert, trunken und gotterfüllt. Poetikgeschichtlich greift Klopstock damit auf das alte Konzept des »heiligen Dichters« (vates) zurück und stellt es dem »nur« gelehrten Dichter polemisch gegenüber. Er erläutert sein Konzept der »heiligen Dichtung« bereits in der Abschiedsrede von Schulpforta (1745). Hierbei greift er auf Vergil, Horaz und Ovid zurück, die den Begriff des poeta durch den ungebräuchlichen des vates ersetzt hatten, um den Dichterberuf zu sakralisieren. Klopstock gibt der Dichtung zugleich eine besondere, heilsgeschichtliche Funktion. Sie solle nicht mehr nur, wie in der Antike, die Natur in ihrer Schönheit und Vollkommenheit nachahmen, sondern den christlichen Gott selbst offenbaren. Indem der Dichter sein Offenbarungswissen vortrage, vermittele er zwischen der göttlichen
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und menschlichen Sphäre: Sein Gegenstand sei der erhabene »Plan der Offenbarung«, seine Aufgabe die Vermittlung von heilsgeschichtlich relevantem Wissen, seine Legitimation die Inspiration durch Gott selbst. Klopstock reiht sich selbst in eine Tradition »heiliger Dichter«, die von Moses über Hiob, David und Christus bis zu Milton und Pyra reicht (vgl. Jacob 1997, Malinowski 2014/15). Klopstock hatte sein christliches vates-Konzept als Grundlegung für den Messias entworfen, er appliziert es jedoch in der Einleitung zu den Geistlichen Liedern (1758) auch auf den »Gesang«, den er im Unterschied zum Lied folgendermaßen charakterisiert: Lied und Gesang erscheinen als die beiden Grundformen der christlichen Lyrik. Beide haben in den Psalmen ihr Vorbild und behandeln die christliche Religion so, dass sie »das Herz bewegen«. Ihr spezifischer Unterschied aber liege im Grad der Gemütsbewegung. Das Lied solle die Religionswahrheiten in gefälliger Weise vorstellen. Der Gesang hingegen zeichne sich durch Empfindungs- und Gedankenfülle aus. Kürze, Vehemenz, einprägsame Metaphorik und starke Emphasis kennzeichnen ihn. Während sich der Lieddichter an bekannte Melodien und Reime halten solle, könne der Hymnendichter auch in freien Rhythmen arbeiten. Mit dieser Kontrastierung hat Klopstock bereits ein Jahr vor der großen Hymnendichtung deren Profil entworfen: Sie erfordere höchstes Pathos, Gedankenfülle und einen »leidenschaftlich-heftigen« Vortrag. An diesen generellen Vorgaben richtet Klopstock seine christliche Hymnik aus. Sie erscheint unter den Titeln: Dem Allgegenwärtigen, Das Anschaun Gottes, Die Frühlingsfeyer, Der Erbarmer und Die Glückseligkeit Aller. Klopstock entwickelt eine spezifische Hymnenstruktur, die für den jungen H. maßgeblich wird. Seine christlichen Hymnen stehen in engem thematischen, sprachlichen und formalen Zusammenhalt. Während die Lieder beim schlichten »wir« der Gemeinde einsetzen, gehen die Hymnen vom Ich des Hymnendichters aus. Er steht allein vor seinem Gott. Klopstock beginnt jede seiner Hymnen mit einer mehrstrophigen Einleitungspartie, die den Aufschwung des vates behandelt. In der Hymne Dem Allgegenwärtigen, an deren Beispiel Klopstocks Verfahren vorgestellt werden soll, vollzieht sich der Aufschwung folgendermaßen: Die Hymne beginnt mit der Erinnerung an den leidenden Christus in Gethsemane. Der Ernst der Situation wird durch die unvermittelte Ansprache und Anteilnahme erhöht. Das Prooimion lenkt die Vorstellung vom Leid an der Sterblichkeit zur Betrachtung der Unsterblichkeit
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und Allgegenwart Gottes über. Dieser Umschlag ermöglicht den Einstieg ins Erhabene. Klopstock markiert ihn mit dem Anruf an den Schöpfergott: »Allgegenwärtig, Vater,/ Schließest du mich ein!/ Steh hier, Betrachtung, still, und forsche/ Diesem Gedanken der Wonne nach.« (V. 21–24) Im Stillstand der »Betrachtung« vollzieht sich der Übergang ins Erhabene. Klopstock stellt den Begeisterungsvorgang in einen religiösen Rahmen. Im Anruf nimmt der Dichter den Bezug zu seinem persönlichen Gott auf. Mit dem Aufschwung wird das Leiden an der Endlichkeit durchbrochen. Der Anruf weist über die Sphäre der Natur hinaus und setzt das Bewusstsein der persönlichen Unsterblichkeit frei. Aufschwung, Erhebung und Anruf leiten zur Aretalogie, dem nächsten Programmpunkt der Hymnen, über. Der Aretalogieteil (V. 25–156) bildet das gedankliche Zentrum der Hymne. Die Argumentation umfasst hier drei Ebenen: Natur, Seele und göttlicher Heilsplan werden nacheinander behandelt. Der Blick des vates reicht von der einfachen Blume bis zum unermesslichen All. Klopstock entwirft das Lob Gottes in der Natur, indem er die Psalmentradition aufnimmt und den vates im großen Gestus Davids beginnen lässt »Ich hebe mein Aug’ auf und seh,/ und siehe der Herr ist überall!« (V. 57 f.) Der Ausblick auf die Fülle der »Welten« bildet die Folie der charakteristischen Wendung: Hier steh ich Erde! was ist mein Leib, Gegen diese selbst den Engeln unzählbare Welten, Was sind diese selbst den Engeln unzählbare Welten, Gegen meine Seele. (Dem Allgegenwärtigen, V. 97–100)
Die Seelengröße wird über eine spezifische Relation bestimmt. Innerhalb der »Kette der Wesen«, die Klopstock seiner Argumentation zugrunde legt, verbindet der Mensch zwei Welten. Er gehört mit seinem Leib der physischen, mit seiner Seele der geistigen Welt an. Hatte Haller, von derselben Relation ausgehend, den Menschen als »Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh« bezeichnet (Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben V. 17), so erfährt der anthropologische Dualismus bei Klopstock eine positive Wertung. Klopstock akzentuiert die göttlichen Potenzen im Menschen. Die Stellung des Menschen innerhalb der »Kette der Wesen« bietet allen Anlass zur »Wonne« (V. 24), wenn die Gottähnlichkeit der Seele gedacht wird. Mit den »Gedanken der Wonne«, dem religiösen Enthusiasmus, gewinnt der vates ein neues
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Selbstverhältnis. Im Augenblick der ekstatischen Gotteserfahrung antizipiert er die noch ausstehende Seligkeit. Die ekstatische Ahnung wird im weiteren Argumentationsgang mit Verweisen auf die Bibel bestätigt und erfährt so ihre Bekräftigung. Den Abschluss der Hymne bildet die knapp gehaltene Conclusio (V. 157–160). Sie bekräftigt den Bund zwischen dem Dichter und seinem Gott. Die Hymne endet im Glaubensbekenntnis: »Aber du bist mein Herr, und mein Gott!« (V. 160) Mit dieser Bestätigung des Bundes hat das Gedicht sein Ziel erreicht. Der wechselseitige Bund wird feierlich anerkannt. Der Bundesschluss rechtfertigt den »Jubel« der Hymne. Klopstocks Hymnik gewinnt für H. seit der Maulbronner Zeit (1786–1788) nachhaltige Bedeutung. Schon vorher hatte er zahlreiche Anregungen übernommen, jetzt aber beginnt er, Hymnen im Stile Klopstocks zu schreiben. Am Beginn dieser Entwicklung steht die Hymne Die Unsterblichkeit der Seele. Sie folgt dem Vorbild der christlichen Hymnen: Der Aufschwung »zu Gott« bildet den Ausgangspunkt des Gedichts (V. 1–24). Der vates transzendiert die Sphäre der Natur, seine Begeisterung wird von Gebet, Dank und »Jauchzen« begleitet. Der anschließende Beweis der Seelengröße (V. 25–100) stützt sich auf die spezifische Relation, mit der Klopstock den Menschen als unendlich erhaben (angesichts der Natur) und zugleich als unendlich nichtig (angesichts des allmächtigen Schöpfergottes) bestimmt hatte. Der abschließende Hymnenteil führt zum Bundesschluss (V. 101–120) und kulminiert im christlichen Glaubensbekenntnis. Trotz der offensichtlichen Nachahmung weist die Hymne ein Strukturmerkmal auf, das sich in den christlichen Hymnen Klopstocks nicht findet. H. richtet sich am Schluss seiner Hymne an die »Menschengeschlechte« (V. 117) und fordert sie zum »Jubel« auf. In dieser Ansprache liegt der Ausgangspunkt für die spezifische Entwicklung der Tübinger Hymnen. Sie richten sich an eine breite Öffentlichkeit, die von Klopstocks religiöser Hymnik gemieden wird. Der vates übernimmt die Funktion eines »Priesters«, der göttlich autorisiert vor die Öffentlichkeit tritt. Aber auch dieser öffentliche Appell des vates, den H. in den Tübinger Hymnen zur politisch-revolutionären Ansprache (im Sinne der Ideen der Französischen Revolution) erweitern wird, geht auf Klopstocks Anregungen zurück. Denn Klopstock kennt neben dem religiösen vates auch den Typus des antiken vates, den er bereits in seiner Abschiedsrede vorgestellt hatte. Dieser antike vates erscheint in Klopstocks Freundschaftsdichtung. Er wird von Klopstock, im Gegensatz
zum christlichen vates, als »Priester« stilisiert, der seine Ansprache an die Freunde richtet. Programmatisch geschieht dies in dem Gedicht Auf meine Freunde. Entwicklungsgeschichtlich ist dieses Gedicht insofern richtungweisend, als H. von hier wesentliche Züge für seine Tübinger Hymnik gewinnt. In dem Gedicht Auf meine Freunde versucht Klopstock die antike vates-Tradition zu erneuern. Nach der einleitenden Selbstdarstellung (V. 1–20) wendet sich Klopstock im Hauptteil des Gedichts dem versammelten Dichterkreis zu (V. 21–292) und kündigt verheißungsvoll eine »goldene Zeit« der deutschen Literatur an (V. 293–308). Für H.s frühe Hymnik sind folgende Aspekte richtungweisend: Das Gedicht beginnt in enthusiastischem Überschwang. Mit vielfältigen Anspielungen auf die Antike, mit mythologischen Vergleichen und Beispielen wird die Überwältigungskraft der Dichtung vorgestellt. Klopstock will an den alten dithyrambischen Geist anknüpfen (vgl. Fantoni 2009, 86–111). Sein Lied soll die Freunde »hoch, und gedanckenvol« (V. 18) mitreißen. Im Hauptteil erscheint der Sänger an des »Tempels Schwellen« (V. 23). Er verteilt den Wein an »Evans Altar« und vor dem »OpferRauche« (V. 203 f.). Der ausgeteilte Wein erhält sakramentale Bedeutung. Er verbindet die Freunde nicht nur untereinander, sondern zugleich mit dem Gott, dessen Gabe sie empfangen. Gemeinsam teilen sie den Geist der »Freude«. Sogar die abwesenden Freunde werden in die Begeisterung eingeschlossen. Das Fest wird als Vorwegnahme der Goldenen Zeit gedeutet, es soll die Freundschaft im Geist der Freude bestärken (vgl. V. 54–56). Die Freundschaft erhält im Schlussteil des Gedichtes (V. 293–308) eine weitere mythologische Überhöhung: Die »goldne Zeit« hält bereits ihre Epiphanie unter den Freunden. Der vates wird somit zum Priester der »goldenen Zeit«. In dem Typus des antiken vates verfügt Klopstock über eine Alternative zum christlichen vates. Der transzendenten »Wonne« christlicher Visionen stellt er die griechische Daseinsfreude gegenüber. Um den hohen Wert des Daseins zu »heiligen«, greift er stilisierend auf antike Reminiszenzen zurück. Auch in den späteren Gedichten hält Klopstock strikt an der Trennung zwischen dem christlichen und dem antiken vates-Typus fest. Für beide vates-Konzeptionen entwickelt er ein reiches Repertoire an signifikanten Attributionen. So erhält der christliche vates die Musen »Urania«, »Siona« oder »Siona Sulamith«. Als religiöser Inspirationsort erscheint das Gebirge Sion mit der Quelle Phiala, dem Jordan und dem Palmenzweig als Symbol. Stets tritt der christliche vates mit der Har-
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fe auf, die an seine alttestamentarische Tradition erinnert. Die griechische Begeisterung hingegen geht auf Apoll, Dionysos und die Musen zurück. Der antike vates erscheint umgeben von Helikon, Parnassus und Pindus, Hippokrene und Aganippe, Hebrus und Eurotas, Lorbeer und Efeu. Als festes Attribut erhält er die Lyra. Unter den alternativen vates-Typen favorisiert Klopstock eindeutig den Typus des christlichen Dichters. Für H.s Entwicklung ist jedoch entscheidend, dass Klopstock auch den antiken Typus kultiviert hat. Die beiden vates-Traditionen (später auch die des Barden) gelten bei Klopstock als Modi einer einzigen »heiligen Dichtung«. Wenn auch in deutlichem Rangunterschied, so konvergieren beide vates-Typen in ihrem Anspruch auf den Enthusiasmus. Neben die eschatologische »Wonne« tritt die säkulare »Freude« im Ausblick auf ein irdisches »Elysium«. H. nimmt zunächst die Rolle des antiken vates in seine Dichtung auf, bevor er zur Synthese der vatesTraditionen ansetzt. Dies geschieht in dem programmatischen Gedicht Am Tage der Freundschaftsfeier (StA I, 58–63). Wie der Titel der Hymne ankündigt, ist sie als Gelegenheitsgedicht für den eigenen Freundeskreis konzipiert. H. schreibt erstmals in freien Rhythmen. Die Hymne beginnt mit der obligatorischen Präsentation des vates und dem Vorsatz, »Helden zu singen« (V. 1). Der Hauptteil würdigt retrospektiv die Bedeutung des »Bundes«. Wie bei Klopstock begründet der »seelige Tag« des Bundesschlusses den Ausblick auf eine »Goldene Zeit«, die bei H. im Bild der »goldenen Ähren« (V. 146) erscheint. Der Vorsatz, »Helden zu singen«, wird in den folgenden Hymnen an Gustav Adolf und Männerjubel, An die Vollendung, Keppler, An die Ruhe und An die Ehre umgesetzt (vgl. StA I, 67 f., 75 f., 85–89, 81 f., 92 f., 94). Die Grundlegung der Tübinger Hymnik in der Harmoniehymne Hatte H. in seiner Jugenddichtung (bis 1790) die christliche Hymnik und die antikisierende Freundschaftsdichtung Klopstocks zum Vorbild genommen und auf getrennten Bahnen verfolgt, so sucht er mit der Hymne an die Göttin der Harmonie (StA I, 130– 134) die beiden, von Klopstock getrennten Traditionen zu verbinden. Da die Hymne zugleich das Fundament der Tübinger Hymnen (vgl. Polledri 2002, 36–70) bildet, erhält ihre Analyse exemplarische Bedeutung. Die Hymne beginnt mit der Darstellung des subjektiven Begeisterungsvorgangs (V. 1–24). Der vates
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verwandelt sich vom »Seher« (V. 5) zum »Sieger« (V. 8), der »Grab und Zeit« überschreitet (V. 8). In der ekstatischen Überschreitung der Erfahrungswelt öffnet sich ihm der Zugang zum göttlichen »Heiligtum« (V. 3). Hier vollzieht sich die überwältigende Schau der göttlichen »Herrlichkeit« (V. 6). Von »ferne« (V. 14) antizipiert der vates die göttliche »Klarheit«, die ihm »drüben« (V. 79) in ihrer Fülle zuteilwerden wird. H. richtet die Hymnen nicht, wie Klopstock, an den christlichen Schöpfergott, sondern an eine Göttin, an die »Königin der Welt! Urania« (V. 16). In ihrer Anrufung kulminiert der Begeisterungsaufschwung. Die Göttin verbindet Züge der biblischen Gottesvorstellung mit den griechischen Vorstellungen von Demiurg und Muse. Hatte Klopstocks christlicher vates sich bedingungslos dem allmächtigen Schöpfergott anvertraut, so konstruiert H. ein neues Verhältnis. Statt der Unterwerfung fordert er die Einsicht in den göttlichen Schöpfungsplan. Aus dem Herrschaftsverhältnis wird ein freier Bund gegenseitiger Anerkennung: vates und Urania haben einander »erkoren« (V. 13, V. 52). Nachdem die Entwicklung vom »Seher« zum »Sieger« und »Sänger« durchlaufen ist, charakterisiert H.s vates sein Wissen. Was die philosophischen »Geister« systematisch zu beweisen suchen, wird dem vates im Enthusiasmus »allzumal« (V. 19) zuteil. Nach diesem Einstieg folgt die Aretalogie, in der der vates sein Wissen vorträgt (V. 25–80). Strukturell dient H.s Aretalogie demselben Zweck wie die Aretalogien Klopstocks. Sie begründet den Enthusiasmus. Mit der priesterlichen Formel »in der Göttin Namen« (V. 81) folgt der dritte Teil mit dem Appell (Parainesis-Teil), der erfüllt ist von Reminiszenzen der Freundschaftsdichtung. H.s vates tritt vor eines »Tempels Schwelle« (V. 91) auf, um die Anwesenden zum »Dienst« (V. 91) an der Harmonie zu verpflichten und ihnen den Treue-Eid abzuverlangen: »Schwört vor ihr, die schuff und ewig schaft.« (V. 88) Der Neue Bund wird am Ende der Hymne bekräftigt (V. 105–136). Zur Feier der Gottheit wird die gesamte Menschheit angehalten. Der »Jubelsang« bestätigt den Bundesschluss. Der Neue Bund soll die ursprüngliche Ordnung der göttlichen Harmonie wiederherstellen. Mit dem vierteiligen Aufbau ist der Grundriss der Tübinger Hymnenreihe entworfen. Neue Studienimpulse Dieser Grundriss wird mit den vielfältigen Anregungen des Tübinger Studiums (vgl. H.–Texturen 1.2, 2017) ausgefüllt. In seinen Briefen berichtet H., »daß
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anhaltendes Studiren besonders der Philosophie« ihm zum Bedürfnis geworden sei (StA VI, 470). Auch gründet er mit Neuffer und Magenau im März 1790 einen Dichterbund, der ebenso wie das philosophische Studium (vgl. »... im Reiche des Wissens cavalieremente«, 2005) entscheidend zur Genese der Tübinger Hymnen beiträgt. Der Bund bildet ein exklusives Forum für die literarischen Arbeiten, deren Vortrag und Kritik. Ferner widmet H. sich verstärkt der griechischen Literatur. Zur Magistervorbereitung studiert er Hesiod und verschafft sich mit Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums einen Überblick über die Entwicklung der griechischen Kultur. Am stärksten aber macht sich die Auseinandersetzung mit Schiller geltend. Sie relativiert den Einfluss Klopstocks und gibt den Hymnen neue Impulse. H. wendet sich jetzt der Liebesphilosophie zu und entfaltet in seinen Gedichten eine Welt der Harmonie und Freundschaft. Dies bezeugen die drei sogenannten Bundeslieder, die in dem Zeitraum vom Frühjahr bis zum Sommer 1790 entstehen. Da sie die unmittelbare Vorstufe der Tübinger Hymnik darstellen, seien sie kurz vorgestellt. Die Bundeslieder und Schillers Liebesphilosophie Die Freundeserinnerungen Magenaus (StA VII, 1, 394–397) beschreiben die Entwicklung des Freundschaftsbundes mit Neuffer und H.: Der Bund wird im Zeichen der Empfindsamkeit gegründet, doch erfährt er unter Schillers Einfluss eine folgenreiche Veränderung. Magenau beschreibt die Aufbruchsstimmung in einer lebhaften Szene: »Wir sangen alle Lieder der Freude nach der Reihe durch. Auf die Bole Punsch hatten wir Schillers Lied an die Freude aufgespart. Ich gieng sie zu hohlen. Neuffer war eingeschlaffen, da ich zurükkahm, und Hölderlin stand in einer Ecke u[nd] rauchte. Dampfend stand die Bole auf dem Tische. U[nd] nun sollte das Lied begin nen, aber H[ölderlin] begehrte, daß wir erst an der kas talischen Quelle uns von allen unsern Sünden reinigen sollten. Nächst dem Garten flos der sogenannte Phi losofen Brunnen, das war H[ölderlins] kastalischer Quell; Wir giengen hin durch den Garten, u[nd] wu schen das Gesicht u[nd] die Hände; Feierlich trat Neuf fer einher, diß Lied von Schiller, sagte Hölderlin, darf kein Unreiner singen! Nun sangen wir; bei der Strofe ›dieses Glas dem guten Geist‹ traten helle klare Thrä nen in H[ölderlins] Auge, voll Glut hob er den Becher zum Fenster hinaus gen Himmel, und brüllte ›dises
Glas dem gut[en] G[eist]‹ ins Freie, daß das ganze Nek kar Thal widerschol.«
Schillers Lied An die Freude bildet den Höhepunkt der Feier. Es wird »aufgespart« bis »alle Lieder der Freude nach der Reihe« durchgegangen sind. Diese Abgrenzung und Hervorhebung ist durchaus konsequent, denn das Konzept kosmischer Liebe, das die »Freude« begründet, führt weit über die Grenzen der damals bekannten Freundschaftsdichtungen hinaus. Das Lied beeinflusst die Bundeslieder, mit denen sich H. einen Zugang zur eigenen Hymnik bahnt. Das Lied der Freundschaft (StA I, 104–106) beginnt in unmittelbarer Anknüpfung an die Trankopferszene aus dem Lied An die Freude: H. verwandelt Schillers Symposion in eine nächtliche Feier, zu der die »Helden der Vergangenheit« herbeigerufen werden. Aus dem gemeinsamen Fest sollen Widerstandskräfte gegen den Despotismus der Gegenwart erwachsen. Der Freundschaftsbund gibt, so die Hoffnung des Gedichts, der gesamten Lebensbahn Halt. Auch im Tod soll der »Bund« fortdauern, indem die Gestorbenen zu schützenden Genien werden, die in den nächtlichen Feiern erscheinen (V. 67–72). Mit der Heroisierung der Freundschaft löst sich H. von dem christlichen Vorstellungshorizont, der bislang seine Dichtung bestimmt hatte. Der Geist der »Freude« ist nicht mehr der christliche Geist der Jugenddichtung mit seiner ausgeprägten eschatologischen Erwartung, vielmehr verbinden sich jetzt antike und christliche Elemente. H. wendet sich einerseits der griechischen Mythologie zu, indem er auf das Götterfest, Chronos und Elysium anspielt, andererseits lässt er in der Nachtfeier und im Heroenkult Momente der antiken Religion anklingen. So entsteht ein Synkretismus von griechischen und christlichen Elementen, der für H.s Weg zu seiner ›Neuen Religion‹ kennzeichnend ist (vgl. Cancik 1990; »... an der Galeere der Theologie?«, 2007). Schillers Einfluss wird zum treibenden Ferment der Neuorientierung. Im darauffolgenden Lied der Liebe (StA I, 110 f.) entwirft H. erstmals ein umfassendes Bild der Liebesphilosophie: Der kosmische Liebeszusammenhang verbindet die Wesen miteinander, das Lied reiht zahlreiche Beispiele in steigender Ordnung: von den »Blumen auf der Au« bis zum Firmament. H. geht von der natürlichen Ordnung zur gesellschaftlichen Ordnung über, um zu zeigen, dass sie durch die Herrschaft der »Tyrannen« grundlegend gestört sei. Der Liebeszusammenhang, der sich in der Natur »göttlich, wie im Anbeginn« erhalten habe, soll wiederhergestellt werden. H. lässt
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keinen Zweifel daran, dass die Überwindung des Despotismus gewaltsamen Widerstand erfordere: »Liebe trümmert Felsen nieder« (V. 37). Als Lohn der »Adel thaten« (V. 47) wird die Unsterblichkeit in Aussicht gestellt. Den »Tyrannen« hingegen droht das Jüngste Gericht (V. 44 f.). Das Gedicht endet als Ringkomposition, indem der Schlussjubel die »Engelfreuden« des Eingangs aufnimmt und überstrahlt. So entwirft H. einen Festzug in die Natur, um auf dem Hintergrund des Liebeszusammenhangs die Erneuerung der Gesellschaft zu fordern. Das Lied der Liebe bringt auf diese Weise den ersten Entwurf des triadischen Weltbildes vor, in dem die Revolution als »Umkehr« zum göttlichen Anfangszustand vorgestellt wird. Mit dem dritten Bundeslied, An die Stille (StA I, 114 f.), kehrt H. zur hymnischen Form zurück. Er führt eine »Göttin« Stille ein, die in Dank und Verehrung gefeiert wird. Die Konzeption der »Göttin« markiert einen bedeutenden Einschnitt. Hatte H. die Stille in dem gleichnamigen Jugendgedicht noch als »holde Freudengeberin«, »Sanfte« und »Immertreue« (StA I, 42) verehrt, so gibt er jetzt die empfindsamen Personifikationen auf und erhebt die Stille zur majestätischen Gottheit. Sie wird zu einer universalen, für die gesamte Menschheit bedeutsamen Instanz. Von ihr geht alle Begeisterung aus: Stieg ich künen Sinns zum Hades nieder Wo kein Sterblicher dich noch ersah, Schwänge sich das mutige Gefieder Zum Orion auf, so wär’st du da; Wie ins weite Meer die Ströme gleiten Stürzen dir die Zeiten alle zu In dem Schoos der alten Ewigkeiten, In des Chaos Tiefen wohntest du. (An die Stille, V. 9–16, StA I, 114)
Die Macht der Stille wird an der Unerreichbarkeit ihrer Grenzen dargestellt. H. entlehnt das eindrucksvolle Bild dem Alten Testament, nach dem die Grenzen Gottes in allen räumlichen Dimensionen, im Aufschwung zum Himmel, im Gang zu den Toten und selbst auf den »Flügeln der Morgenröthe«, unerreichbar bleiben (Psalm 139,8–10). Zu der Vorstellung der Unermesslichkeit fügt H. noch eine Genealogie seiner Göttin, indem er sie »In dem Schoos der alten Ewigkeiten« ansiedelt. Auch diese Genealogie ist biblischen Ursprungs. H. charakterisiert die Stille in deutlicher Analogie zur biblischen »Weisheit«, die ebenfalls als eigenständiges göttliches Wesen erscheint (vgl. Hiob 28,25–28; Jesus Sirach 24,3–22; Weisheit 7,22–8, 1
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u. ö.). Die Göttin Weisheit vermittelt zwischen dem Schöpfergott und den Menschen. Nach der Überlieferung des Alten Testamentes ist sie noch vor der Schöpfung entstanden. Sie bestimmt deren Plan und verlässt erst nach dessen Vollendung den himmlischen Ort, um vor die Menschen zu treten. Dort mahnt sie vor der »Torheit«, appelliert an die Einsicht in den göttlichen Willen und stellt so den Bund mit dem Schöpfergott her. Für H.s Hymnik wird die Darstellung der Sprüche besonders bedeutsam. Dort hält die Weisheit selbst eine große Ansprache, in der sie ihre Herkunft, Taten und heilsgeschichtliche Funktion erläutert (Sprüche 8,22–36). Ähnlich entwirft H. in seinem dritten Bundeslied die Figur der Stille: Ihr Ursprung wird vor der Schöpfung angesetzt. Ihre Macht erstreckt sich über den gesamten Kosmos, ihre Gaben werden in einem ausführlichen Katalog (V. 17–32) aufgereiht. Der abschließende Preis erfolgt in Schillerscher Hyperbolik von den »Millionen« (V. 35). Die hier entwickelte Form des Preises der Göttin bleibt für die Tübinger Hymnen vorbildlich. Ebenso wie die Göttin Stille werden die Harmonie, die Muse oder die Freiheit eingeführt. Sie alle thronen in einem transzendenten Raum und übernehmen kosmosgestaltende und heilsgeschichtliche Funktionen. Innerhalb der H.-Forschung wurde der Status der Göttinnen kontrovers diskutiert: Dilthey (1910) hatte den sakralen Aspekt der Göttinnen vernachlässigt und den gesamten Tübinger Zyklus unter den Titel »Hymnen an die Ideale der Menschheit« gestellt. Gegen diese idealistische Lesart legte P. Böckmann (1935, 45–48) Widerspruch ein, indem er die »verehrende Haltung« H.s hervorhob und aus ihr die »hymnische Form des preisenden Dankens« ableitete, die Schiller gänzlich ferngelegen habe. Pointierend stellte Böckmann fest: H. »möchte noch beten, wo man ringen und kämpfen muß«. Böckmanns Neubewertung der Tübinger Hymnen brachte einen berechtigen Einwand gegen die Konzentration auf den gedanklichen Gehalt. Dennoch überzeugt seine Schlussfolgerung nicht: Die religiöse Haltung der Hymnen bildet keinen »Widerspruch« zur Tat, sondern deren Voraussetzung. H. geht von transzendenten Gottheiten aus, die den Kosmos gestalten und den Menschen zur Mitwirkung an seiner Vollendung aufrufen. Programmatisch fordert die Göttin Harmonie dazu auf, »Meines Reichs Geseze zu ergründen,/ Schöpfer meiner Schöpfungen zu sein« (V. 75 f.). Diese Möglichkeit der schöpferischen Mitgestaltung übersieht Böckmanns Alternative von Kampf und Gebet. H. entwirft in seinen Hymnen Bilder der göttlichen Schöpfungsordnung, um zur
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schöpferischen Mitgestaltung aufzufordern. Diesen Zusammenhang hat W. Binder (1987, 138 f.) prägnant herausgestellt: Jedes einzelne Gedicht der Tübinger Hymnenreihe beglaubige »den Wert, den es feiert, indem es ihn nicht nur mit Heiligkeitsprädikaten umgibt, sondern in der Person einer Gottheit erscheinen läßt. Umgekehrt rechtfertigt diese Gottheit den Versuch des Dichters, indem sie ihm die Botschaft aufträgt, die sein Gedicht der Welt übermitteln soll. Es findet eine wechselseitige Legitimation statt, die sogar den Sinn einer wechselseitigen Kreation hat. Der Dichter läßt in seinem Gesang Götter entstehen, die sich in diesem Gesang offenbaren und als die Urheber seines Gesangs zu erkennen geben.« Für die Entstehung der Tübinger Hymnik sind Klopstock und Schiller gleichermaßen bedeutsam: H. kommt aus der Tradition der christlichen Hymnik, wie er sie bei Klopstock ausgeführt gefunden hatte. Im Kreis von Neuffer und Magenau aber wird das Lied An die Freude zum Initial der Bundeslieder, mit denen H. sich vom traditionellen christlichen Weltbild löst. Der christliche Geist der frühen Gedichte wird ersetzt durch den »guten Geist« der »Freude«. Vereint in diesem »guten Geist« soll sich die Menschheit zu einem Neuen Bund entschließen. Diese Vorgabe versucht H. im dritten Bundesgedicht mit den Mitteln des Hymnus zu lösen. Er konstruiert eine Göttin Stille, die sich zwar noch unschwer mit den biblischen Vorstellungen verbinden lässt, die aber als solche nicht mehr vorgegeben, sondern selbständig entworfen ist. Die Tübinger Hymnen werden somit zum gedanklichen Experimentierfeld. H. begibt sich mit ihnen in eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen revolutionären Zeit, mit der christlich–antiken Tradition und der zeitgenössischen Philosophie und Literatur. Hierfür wählt er die hymnische Form. Sie erlaubt es ihm, an der Transzendenz des Göttlichen festzuhalten und sie zugleich neu zu bestimmen.
28.2 Analyse und Deutung In der Komposition der Tübinger Hymnen wird ein Verfahren sichtbar, das H. in seinen Anmerkungen zum Oedipus als »gesezlichen Kalkul« bezeichnet hat, der dem Kunstwerk seine »Zuverlässigkeit« gebe. Generalisierend stellt H. fest: »Der modernen Poësie fehlt es aber besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nemlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederholt werden
kann« (StA V, 195). Eine solche gemeinsame »Verfahrungsart« unterlegt H. zum ersten Mal seiner Tübinger Hymnik. Sie soll in der folgenden Analyse erschlossen und als ein Modell beschrieben werden, an dem sich die einzelnen Gedichte orientieren. Die metrische Gestaltung der Tübinger Hymnen In der äußeren, metrischen Form entscheidet sich H. für die große achtzeilige Reimstrophe und unterwirft die Hymnen einem wenig flexiblen Schema. Die ersten drei Hymnen verwenden sogar dieselbe Strophenform, den trochäischen Fünfheber, der unter starker Eingangsbetonung einen regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung vorsieht und dabei abwechselnd in weiblichen und männlichen Kadenzen ausklingt, die im Kreuzreim verbunden werden. Der Charakter der Strophen ist geprägt vom strengen Wechsel der Hebungen und Senkungen. Mit dem energischen Eingangsakzent wird zugleich ein entschiedener Ton angeschlagen. H.s Übergang zur Reimstrophe vollzieht sich im Zusammenhang mit seiner Zuwendung zu Schillers Liebesphilosophie. Ein kraftvoller Grundton wird vorgegeben, der alles Getrennte verbindet. Die metrisch erzeugte Bindungstendenz weist auf die politisch-gesellschaftliche Dimension der Hymnik voraus: H. sucht nach einer umfassenden Ordnung, innerhalb deren sich alles Partikulare »brüderlich« zu einem Ganzen gesellt. So lag die Entscheidung für die Reimstrophe nahe, in deren Duktus das einzelne Wort zurücktritt und sich dem Charakter des Ganzen fügt. Die durchgehende Symmetrie der Strophen und schließlich die Responsion der Kadenzen entsprach durchaus dem Postulat der neuen Liebesphilosophie. Bei seinem entschiedenen Willen zur Geschlossenheit überspannte H. allerdings das Pathos, indem er den immer gleichen Grundtakt, denselben rhythmischen Wechsel, dieselbe hohe Gespanntheit ansetzte. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die auffälligen Alliterationen, Assonanzen und Phonemkombinationen, die H. in den Tübinger Hymnen als »phonetisch-semantische Rekurrenzketten« eingesetzt hat, um »einen Einklang der suggestiven und diskursiven Botschaften zu erreichen« (Shtereva 2011, 120). Die energische Absicht schlägt derart um in Monotonie. Diesen Vorwurf brachte denn sogleich auch Chr. Fr. Daniel Schubart vor, als er H.s erste Hymnen in seiner Rezension von Stäudlins Musenalmanach fürs Jahr 1792 einer kritischen Würdigung unterzog (FHA 2, 105.). H. reagierte auf Schubarts Vorwurf der Eintönigkeit, indem er in den folgenden Hymnen verschiedene Versmaße aus-
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probierte. Zuerst entwarf er, wahrscheinlich als Antwort auf Schubarts Kritik (FHA 2, 105), die Hymne an den Genius Griechenlands in ganz unterschiedlichen Strophenformen, schließlich aber gab er die Hymne auf. Doch hält er in den folgenden sieben Tübinger Hymnen am Prinzip der metrischen Variation fest: Die Hymne an die Menschheit und Dem Genius der Kühnheit wechseln zum weicheren jambischen Rhythmus, die Hymne an die Schönheit erweitert die Strophenlänge auf zehn vierfüßige Trochäen und verbindet diese mit einem neuen Reimschema. Die Hymnen an die Freundschaft, die Liebe und den Genius der Jugend nehmen das Versmaß vom Lied An die Freude auf. Nur die zweite Hymne an die Freiheit kehrt noch einmal zum fünffüßigen Trochäus der ersten Hymnengruppe zurück. Doch auch diese Variationen der Strophenform bessern nicht viel am stereotypen Klang, der besonders im Vergleich zu den späten Hymnen auffällt. Der Wille zur Geschlossenheit, der sich in der Strophenform andeutete, wird durch die Komposition der Tübinger Hymnen bekräftigt. Sie sind nach einem Plan entworfen, der vier Bestandteile miteinander verbindet: Prooimion, Aretalogie, Parainesis und Conclusio. Die Hymnen beginnen mit dem Hervortreten des Dichters im Prooimium. Das Dichter-Ich durchläuft die verschiedenen Stadien der Begeisterung bis es in der ekstatischen Begegnung seinen Bund mit der Gottheit schließt. Der Bundesschluss fundiert die Gesänge und leitet über zum gedanklichen Mittelteil im Zentrum der Hymnen, der Aretalogie, die dem Wesen und Wirken der gefeierten Göttinnen gilt. Aus der zugrundeliegenden Begeisterung erfolgt ein zweites Hervortreten des Dichters mit dem Appell an die Zuhörer (Parainesis). Die eindringlichen Mahnungen bereiten die abschließende Wende zum Gesang vor. Die Schluss-Partien lassen den hymnischen »Jubel«, in dem sich das Ziel der Tübinger Hymnen erfüllt, erklingen (Conclusio). Dabei gehen die Hymnenschlüsse deutlich über die Gegenwart hinaus. Sie lassen Bilder erfüllter Zukunft aufscheinen.
28.3 Die Hymneneingänge Die Tübinger Hymnen beginnen stets mit einem Prooimion. H. misst diesen Einleitungspartien hohe Bedeutung zu: Ohne die Begeisterung bliebe der Hymnendichter »schwach« und »stumm« (StA I, 135). Erst die Begeisterung ermöglicht den Aufschwung. Sukzessive wird das Pathos entfaltet. Im Enthusiasmus wird die Gottheit angerufen, die ihrerseits den Dichter mit
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göttlichem Wissen erfüllt. Daraufhin erfolgt der Entschluss zum Gesang. So umfassen die Prooimien insgesamt drei Hauptmomente, die Pathosentfaltung, den Enthusiasmus und den Entschluss zum Gesang. Die Pathosentfaltung wird regelmäßig mit dem Motiv der sehnsüchtig oder frohlockend aufbrechenden Liebe begründet. Es bildet den Einstieg in die hymnische Bewegung: Die Liebe veranlasst den Sänger zum Aufschwung. So beginnt etwa die Harmoniehymne: Froh, als könnt’ ich Schöpfungen beglüken, Kün, als huldigten die Geister mir, Nahet, in dein Heiligtum zu bliken Hocherhab’ne! meine Liebe dir; (Hymne an die Göttin der Harmonie, V. 1–4, StA I, 130)
In den ersten Tübinger Hymnen verknüpft H. den Enthusiasmus mit dem Bild der Musenweihe. Die Muse, die dem vates der Harmoniehymne entgegentritt, ist die Göttin Urania. Sie führt ihn, nachdem er sich über »Grab und Zeit« (V. 8) erhoben hat, in das Wesen der »Schönheit«, »Hoheit« und »Harmonie« (V. 11–13) ein. H. gibt ihr anthropomorphe Züge. Sie erscheint als »Königin« (V. 16) mit strahlendem »Angesicht« (V. 22 f.), die von ihrem Thron aus »lächelnd« (V. 26) das Weltall regiert, den vates als ihren »Sohn« anspricht (V. 57) und ihn mit »Küssen« (V. 59) zum »Sänger« (V. 10) weiht. In der Gestaltung der Musenweihe verbindet H. die antike und die christliche Tradition, indem er seine Urania mit dem Motto aus Heinses Ardinghello vorstellt: »Urania, die glänzende Jungfrau, hält mit ihrem Zaubergürtel das Weltall in tobendem Entzüken zusammen.« Aus der christlichen Muse wird die Venus Urania, die orgiastisches »Entzüken« verheißt. Darüber hinaus aber ist Urania für die Inspiration des Dichters zuständig. Sie eröffnet ihm die Ideenwelt. Auch die Göttinnen der folgenden Hymnen, die Muse, Freiheit und Schönheit, erfüllen die Funktionen der Urania. Erst im Fortschritt der Hymnenproduktion verändert H. die Inspirationsszene. Er gibt die Vorstellung der transzendenten Musenweihe auf und verlegt die Inspiration vom Himmel auf die Erde. Die hymnischen Gottheiten begeistern den Dichter fortan mit ihrer Epiphanie. In der zweiten Hymne an die Freiheit wird die Erde mit der Herabkunft der Göttin »zum Heiligtum« (V. 16). Hatte H. die erste Hymne an die Freiheit noch mit einem ekstatischen Enthusiasmus am überhimmlischen Ort begonnen, so geht er jetzt zu einem energischeren Enthusiasmus-Konzept über. Programmatisch lautet die Anfangszeile der Hymne an die Menschheit: »Die ernste Stunde hat geschlagen«.
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Angesichts der historischen Situation, in der die Entwicklung der Französischen Revolution durchaus ungewiss ist, erhöht sich die Verantwortung für das »brüderlich Geschlecht« (V. 6). Das Reich der Liebe, von dem die Harmoniehymne ausgegangen war, muss jetzt in heroischer Anstrengung verteidigt werden. Eine weitere Verstärkung der heroischen Tendenz zeigen die beiden letzten Hymnen. H. geht von den Göttinnen zu männlichen Genien über: Der Genius der Jugend verweist auf die Erneuerungskräfte der Natur, der Genius der Kühnheit erweist sich als der Genius des griechischen »Heldenvolks« (V. 27), das H. bereits in der fragmentarischen Hymne an den Genius Griechenlands behandelt hatte. Er wird über seine Taten vorgestellt, um die Nachfolge dringlich einzufordern. H. betont die Verwandlungsmacht des Enthusiasmus, indem er den »neugeschaff ’nen Sinn« (StA I, 139, V. 14), das gotterfüllte Herz (StA I, 114, V. 7) oder »niegeahndete Gefüle/ In der Seele des Begeisterten« (StA I, 102, V. 31 f.) hervorhebt. Der Enthusiasmus führt zu dem Entschluss, im Hymnus den Bund zu erneuern. Die Aufgabe des vates besteht in der Ausbreitung des empfangenen Wissens. Der Bund, den er mit den Inspirationsgottheiten eingegangen ist, soll zum Modell eines universalen Bundes werden. Insgesamt bemüht H. vielfältige Traditionsstränge zur Begründung des dichterischen Enthusiasmus. Indem er aber die heteroge nen Traditionen zu einer gewaltigen Klimax zusammenführt, ergeben sich häufig Brüche und überladene Kontaminationen. Sie verdeutlichen H.s Anspruch, in den Hymnen eine Fülle prominenter Bilder und Konzeptionen auf knappstem Raum zu versammeln. Die gedankliche Entwicklung der Hymnen in den Aretalogien Anfang und Ende der Tübinger Hymnen bilden einen starken Kontrast: Die Gedichtreihe beginnt mit der Hymne an die Göttin der Harmonie, sie endet mit der Elegie Griechenland. An St. Am Beginn steht das erwartungsvolle Konzept einer universalen Harmonie, am Ende der elegische Blick auf die griechische Antike. Zwischen dem Anfangs- und Endpunkt vollzieht sich ein Prozess zunehmender Desillusionierung in der Einschätzung der eigenen Zeit und ihrer Möglichkeiten. Andererseits entwickelt H. Gegenbilder harmonischen Lebens, die er der griechischen Antike zuordnet. So bahnt er sich mit den Hymnen einen Zugang zur Geschichtsphilosophie, der sukzessive entwickelt wird, bis er schließlich zu einem unversöhnlichen Bruch führt. Die Hymnen enden aporetisch, sie bekla-
gen den Verlust des harmonischen Lebens und die Perspektivlosigkeit der eigenen Zeit. Der gedankliche Ausgangspunkt der Tübinger Hymnen lässt sich präzise bestimmen. Im November 1790 schreibt H. an Neuffer: »Leibniz und mein Hymnus auf die Warheit haußen seit einigen Tagen ganz in m. Capitolium« (StA VI, 56). Mit diesen Zeilen ist der Einsatz der Tübinger Hymnen markiert. Der von Leibniz beeinflusste Hymnus auf die Warheit entwickelt sich zur Hymne an die Göttin der Harmonie. Sie knüpft in ihrer Aretalogie (V. 25–80) an H.s Lied der Liebe an, in dem der kosmische Zusammenhalt am Leitfaden der Wesenskette demonstriert wurde: Proportional zu ihren Erkenntniskräften kam den einzelnen Wesen die »Freude« an der göttlichen Schöpfungsordnung zu. Sie reichte von der einfachen Sinnenfreude bis zu den unvorstellbaren »Engelfreuden«. In der Harmoniehymne verbindet H. nun Schillers Liebesphilosophie mit der Idee einer Republik der Geister, die er dem LeibnizStudium entnimmt. Der neue Einfluss schlägt sich in der Zielsetzung der Aretalogie nieder. H. geht von der allmächtigen »Göttin der Harmonie« aus, die sich »im Bilde« (V. 32) der kunstvollen Schöpfung spiegelt. Als »Meisterin« (V. 32) gibt sie dem Reich der Natur eine vollkommene Ordnung. Dessen Vollendung schlägt sich in der »Schönheit«, »Hoheit«, »Liebe« und »Freude« der Wesen nieder (V. 65–72). Das Reich der Natur aber bildet die Grundlage für die Errichtung des übergeordneten Reiches der Geister. Für diesen höchsten und letzten Schöpfungszweck hat die Göttin den Menschen bestimmt. Sie erhebt ihn »zum königlichen Ebenbilde« (V. 51) und stiftet den »großen Bund« (V. 55) der Liebe, der die Gemeinschaft der Geister begründet. Die von Leibniz hervorgehobene Fähigkeit des Menschen, »das System des Universums zu erkennen und etwas davon in Proben eigener Systembaukunst nachzubilden« (Monadologie § 83), erscheint bei H. in emphatischer Steigerung: Herrlicher mein Bild in dir zu finden, Haucht’ ich Kräfte dir und Künheit ein, Meines Reichs Geseze zu ergründen, Schöpfer meiner Schöpfungen zu sein. (Hymne an die Göttin der Harmonie, V. 73–76, StA I, 132)
Die Aretalogie der Harmoniehymne unterscheidet sich zugleich aber auch in wesentlichen Zügen von dem bei Leibniz niedergelegten System der prästabilierten Harmonie. H. vereinfacht und poetisiert seine Vorlage, zudem stellt er neue Kontexte her. Die »Göttin der Har-
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monie« wird zwar zur Stifterin der Republik der Geister. Zugleich aber wird ihre kosmosgestaltende Funktion (in der mit Leibniz völlig unvereinbaren) Manier Heinses vorgeführt. H. lässt mit dem ausdrücklichen Verweis auf Heinse im Hymnenmotto die kosmische Ordnung der Harmonie in »tobendem Entzüken« entstehen und betont den erotischen Aspekt des Schöpfungsvorgangs. In orgiastischer Lust tritt der Kosmos zusammen (V. 29–52): Auf die ordnenden »Winke« der Aphrodite-Urania fliegen die »wilden Elemente« aufeinander zu, »liebetrunken« umschlingen und umfangen sie sich »in niegefühlter Lust«, sie »beben«, »sinken ineinander« und zeugen schließlich »die ungezälten Heere/ Freudetaumelnder Geschöpfe«. Am Ende der Kosmogonie erscheint der Mensch: »Sanftbegrüßt von Paradiesesdüften/ Steht er wonniglichen Staunens da.« Mit seiner Geburt ist die kosmische Zeugung abgeschlossen. Hierin unterscheidet sich H. zugleich auch von Heinse. Er nimmt zwar den Aspekt der orgiastischen Schöpfungslust auf, doch ordnet er ihn der Leibniz-Perspektive unter. Die orgiastische Freude fungiert als Vorbotin der geistigen Freude, die dem Menschen vorbehalten ist, wenn er dem Geisterreich beitritt. Die gesamte Schöpfung ist auf den »großen Bund« der Geister angelegt (V. 57–80). Das Zusammenwirken göttlicher und menschlicher Kräfte ermöglicht eine wechselseitige Steigerung. Mit der Aufforderung zum Bund der Liebe hat die Aretalogie ihr Ziel erreicht. Die Hymne an die Muse ist offensichtlich als Fortsetzung der Harmoniehymne konzipiert. H. überreicht der Muse in der Aretalogie (V. 25–64) alle Herrschaftsinsignien der Harmonie. Sie wird als »Königin« und »Schöpferin« im Reich der Liebe, Schönheit, Wahrheit und Weisheit eingeführt. Anschließend charakterisiert H. die geschichtlichen Wirkungen der Muse mit einem kurzen Abriss vom Ursprung der Menschheit bis zu ihrer »Vollendung«. Bei diesem Abriss kann er sich auf die Vorarbeiten von Schillers Künstlern stützen. H. nimmt daraus nicht nur zahlreiche Stichworte auf, sondern orientiert sich grundsätzlich am Argumentationsgang von Schillers Gedicht. Der Fortschrittsgedanke wird am Übergang vom »Wilden« zum »Griechen« demonstriert. Die Kunst ermöglicht den »geistigen Genuß« und eröffnet der »göttergleichen Väter Zeit«. H. nutzt Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung, um die Leerstelle zu füllen, die zwischen der Paradieseszeit und dem künftigen Geisterreich lag, wie es die Harmoniehymne vorsah. Unter dem Hinweis auf die Griechen kann er auf die metaphysischen Spekulationen über den universalen Liebeszusammenhang verzichten. Nicht mehr die liebenden Elemente
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und ihre kosmische Ordnung, sondern die geschichtliche Leistung der griechischen Kultur wird zum Paradigma des Neuen Bundes. Damit aber stellt sich das Problem des Übergangs ein, der die Antike von der Moderne trennt. Die Musenhymne verzeichnet zwar den Gegensatz zwischen beiden Epochen (V. 57 f.), doch überspringt sie das Problem der Gegenwartsmisere im Zutrauen auf eine ebenso »schnelle« wie »herrliche« Geschichtsentwicklung. Die erste Hymne an die Freiheit wendet sich dem Gegensatz von Antike und Moderne zu. Die Aretalogie (V. 17–64) exponiert zunächst das Bild der Goldenen Zeit: Es herrschen Glück ohne Leid, Tugend ohne Wissen, Gerechtigkeit ohne Gesetz, Frieden ohne Sorge. Der paradiesische Zustand wird jedoch abrupt beendet. H. führt den »Übermuth« ein, der Furcht und »Schreken« verbreitet. Hieraus rettet die Göttin Freiheit. Sie tritt vor die Menschen und verheißt eine »neue Schöpfungsstunde«. H. präzisiert in der Hymne seine Kritik der Unfreiheit und Entfremdung, doch bleiben die Ursachen der Entwicklung noch unbegriffen. Der Mythos begnügt sich mit dem Übermut als einem deus ex machina, der ebenso wenig überzeugt wie die angekündigte Wiederkehr von Freiheit und Liebe. Dennoch erbringt die Freiheitshymne im Zusammenhang der Hymnenreihe einen gewissen Fortschritt. H. nimmt das Konzept der universalen Harmonie zurück, indem er den Verlust von Freiheit und Gemeingeist für die eigene Zeit reklamiert. Im Verhältnis zu den anderen Tübinger Hymnen nimmt die Hymne an den Genius Griechenlands eine Sonderstellung ein. Sie ist als Bruchstück in freirhythmischen Versen erhalten. Nach Sattlers Rekonstruktion des Entstehungszusammenhangs (FHA 2, 105; 125; 141) schreibt H. die Hymne im Anschluss an die ersten drei Tübinger Hymnen. Das Griechenlandbild der Hymne bestätigt Sattlers späte Datierung auf 1791. H. knüpft an dem triadischen Geschichtsentwurf der Freiheitshymne an, indem er das vage Bild vom glücklichen Ursprung der Menschheit, das er dort gezeichnet hatte, konkretisiert: Der Genius Griechenlands tritt erst spät in die Geschichte der Menschheit ein. H. lässt ihn »lange säumen« und die Kette orientalischer Dynastien abwarten, bevor er seine Herrschaft aufnimmt. Im Anschlusse an das chorlyrische Prooimion (V. 1–8) präsentiert die Aretalogie das Wesen (V. 9–27) und Wirken (V. 28–57) des Genius. Hatte H. den Paradieseszustand der Menschheit in der Freiheitshymne noch mit dem »Schäferkleide« der Liebe, den »Blumenhügeln« der Unschuld oder der »schwelgerischen Saat« der Liebe vorgestellt, so bemüht er sich jetzt um
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die Vergeschichtlichung der literarischen Topoi. Statt der willkürlichen Mischung von Paradies, Goldenem Zeitalter, Elysium oder der Schäferwelt erscheint die griechische Geschichte als eine Epoche der Liebe: Orpheus und Homer werden als Archegeten der griechischen Kultur gefeiert, ihr Werk umspannt den Kosmos und begründet im hymnischen bzw. epischen Gesang ein inniges Verhältnis von Menschen und Göttern. Nachdem also der Ausgangspunkt des triadischen Geschichtsentwurfs mit den Griechen besetzt ist, wendet sich die Hymne an die Menschheit der Zukunft zu. Sie entwirft ein optimistisches Bild der Menschheitsentwicklung. Die Aretalogie der Hymne (V. 9–40) erläutert die Etappen der Revolution: Im wiederkehrenden »Schon« schlägt sich die Zuversicht nieder. Wenn auch die Menschheit gegenwärtig vom Zustand der Vollendung noch weit entfernt scheint, so antizipiert die »Schon«-Anapher den Weg dorthin. Die Wiederherstellung der Menschheit beginnt mit der Erfahrung der Schönheit, sie führt zur Brüderlichkeit, Freiheit und Wahrheit. Am gegenwärtigen Zustand kritisiert H. die Zerrissenheit von Individuum und Gesellschaft: War der Mensch ursprünglich mit der »Kraft zu Göttlichem« ausgestattet, so herrsche jetzt die »knechtische Begier«. Die ursprünglichen Anlagen seien »entstellt«. Auch die Gesellschaft zeige ein desolates Bild: Statt gleicher Rechte für alle gelten Sonderrechte und Privilegien für die Aristokraten. Statt der Liebe herrsche der Stolz, statt der Freiheit die absolutistische Willkür, statt des Volkes regieren »Wüstlinge«. Dieser Gegenwart wird eine deutliche Absage erteilt: »Hinunter dann mit deinen Thaten,/ Mit deinen Hofnungen, o Gegenwart!« (V. 41 f.) Im Bild des »Pflügers«, der die gesellschaftlichen Verhältnisse gewaltsam umkehrt, wird die Revolution begrüßt. Die Hymne an die Schönheit behandelt die ästhetische Erfahrung als Grundlage der revolutionären Praxis. Die Aretalogie der Hymne beschreibt die Wirkungen der Schönheit (V. 31–70). Stiege die Göttin in ihrer ursprünglichen Herrlichkeit zur Erde herab, so verwandelte sich die Erde in ein »Jubelland«, die Toten erwachten, alle Wesen vereinten sich, um am Göttlichen teilzuhaben. Dieser hypothetische, im Irrealis vorweggenommene, Vollendungszustand kann und soll von der Menschheit selbst hergestellt werden. Zur Demonstration wählt H. das Mittel einer autobiographischen Erzählung. Rückblickend beschreibt der vates die eigene Entdeckung der Schönheit: Dem »Kindersinne« offenbarte sie sich zuerst in der Natur. Hier vollzieht sich die Initiation des Knaben: »Vorgenuß«, »Weihestunde« und »Staunen« bilden die Stationen
der Einweihung. Die Natur wird als sichtbarer Ausdruck der zugrundeliegenden göttlichen Schönheit gedeutet. Entsprechend wird sie als irdische »Tochter« der himmlischen »Urania« angesprochen. Die Entdeckung der Stufenleiter des Schönen erhebt den Initianten in den Kreis der Eingeweihten: »Von der Holdin ausersehen [...] Fühlt’ ich seelig mich und groß.« Von der Kontemplation führt die nächste Etappe zur Produktion: Der Gesang des Dichters wird zur schöpferischen Nachahmung der urbildlich geschauten Schönheit. H. versteht ihn als Dank und Antwort auf die göttliche Lenkung. Mit dieser Aretalogie betont H. nachdrücklicher als zuvor die geschichtliche Verantwortung des Menschen. Der Übergang zur »Vollendung« vollzieht sich nur im Zusammenwirken von Gottheit und Mensch. Die »Königin im Lichtgewand’« steigt nicht vom Himmel herab, ihre sukzessive Entdeckung wird vielmehr zur Aufgabe, an der die Dichter maßgeblich teilhaben: Ihre »Schöpfungen« geben ein »Bild« der Schönheit, an dem sich die revolutionäre Praxis mit »Muth und That« (V. 105) orientieren soll. Die zweite Hymne an die Freiheit nimmt die Mahnungen der vorangegangenen Hymnen auf, die historische Chance der Revolution nicht zu verpassen. Der Appell wird durch die vorangestellte Aretalogie (V. 25–72) erläutert. Die Befreiung der Menschheit, die H. bereits in der ein Jahr zuvor entstandenen ersten Hymne an die Freiheit behandelt hatte, wird nochmals thematisiert, doch erfolgt sie jetzt aus der Achtung vor dem göttlichen Gesetz. Dasselbe Gesetz, das einst den kosmischen Zusammenhang erzeugte, soll den Neuen Bund begründen. Die Göttin stellt ihr Gesetz vor: Es erlaube die freie Selbstentfaltung des individuellen Lebens in einem harmonischen Ganzen. Aus diesem harmonischen Ganzen aber sei der Mensch ausgebrochen. Die letzten beiden Strophen der Aretalogie geben eine zuversichtliche Deutung des Sündenfalls: Zwar habe der Mensch den Liebeszusammenhang mutwillig verlassen, doch trage er noch der »Heldenstärke Spur«, die ihn als »das göttlichste der Wesen« auszeichne. Die moralische Erneuerung sei erreichbar, wenn das göttliche »Gesez« in »brüderlichem Bunde« wiederhergestellt werde. Die Hymne an die Freundschaft nimmt ihr Thema aus dem gleichnamigen Lied (1790) auf. Die Aretalogie (V. 25–72) wird für den Zusammenhang der Hymnen überarbeitet. Hatte das Lied am biographischen Leitfaden die Bedeutung der Freundschaft entwickelt, so wird die Freundschaft hier personifiziert und in den Kreis der Tübinger Hymnengottheiten erhoben. Mit einer genealogischen Erzählung gibt H. Auskunft
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über das Wesen und Wirken der Göttin. Der von H. vorgebrachte Mythos vertieft das Verständnis der Freundschaft. Sie erscheint als Tochter des Ares und der Aphrodite, zugleich figuriert sie als Mutter der Menschheit, der sie ihr doppeltes Erbe verleiht: die Macht der Liebe und die Kraft des Krieges. »Kraft und Lieb’« werden zu den bestimmenden Wesenszügen des Menschen. Damit aber verschiebt sich das Menschenbild der Tübinger Hymnen. Stand bislang die Liebe um Vordergrund, so betont H. jetzt die Notwendigkeit der heroischen Entgegensetzung im Kampf. Die Hymne an die Liebe fällt aus der gedanklichen Kontinuität der Hymnenproduktion heraus. H. greift mit ihr auf das Lied der Liebe (1790) zurück und wiederholt es ohne bedeutende Veränderungen. Daher klingt hier der naive Enthusiasmus der Bundeslieder nochmals ganz ungebrochen auf. Die Hymne an den Genius der Jugend nimmt das Pathos der Menschheitshymne zurück. H. ersetzt das euphorische »Schon« durch ein skeptisches »Noch«. Über vier Strophen klingt der elegische Vorbehalt durch. »Noch« stelle sich die Begeisterung ein, »noch« überwiegen die Hoffnungen, »noch« seien die Kräfte der Natur, Schönheit und Freundschaft unverbraucht, »noch« entbinde die Erinnerung der Antike Götterkräfte (V. 49–80). Trotz des skeptischen Vorbehalts aber wahrt H. die hymnische Form. Dies gelingt ihm durch ein verändertes Konzept der Harmonie. Die neue Hymne revidiert das Harmonieverständnis, das der Hymne an die Göttin der Harmonie zugrunde lag. Statt der prästabilierten kosmischen Harmonie erscheint nunmehr die Vorstellung einer zyklischen Harmonie, die sich im Wechsel von Werden und Vergehen entfaltet. Dieses Konzept erläutert er im Bild des Frühlings, der in die tote Winterlandschaft einkehrt und sie zu neuem Leben erweckt. Der Genius der Jugend schaut auf »die winterliche Flur« herab und verwandelt sie in eine »Götteraue«. Er setzt das Gesetz der Liebe wieder in Kraft und befreit die Natur von der Herrschaft des Todes. Im Unterschied zu den vorangegangenen Gedichten ist die Natur nunmehr polar strukturiert. Liebe und Streit (Aphrodite und Ares), Trennung und Vereinigung lösen einander periodisch ab. H. geht somit vom statischen Harmoniekonzept zur Dynamik des periodischen Wechsels über. Das Gesetz des Wechsels bestimmt aber nicht nur das Naturgeschehen, sondern auch die Geschichte von Individuum und Gattung. Die Hymne wendet den Gedanken der Verjüngung auf das eigene Zeitalter an. Auch der letzte Rest an Freiheit mag noch zerfallen, umso schneller werde sich die Erneuerung herstellen.
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Mit Dem Genius der Kühnheit erhält die Kühnheit ein eigenes Gedicht. Es entfaltet die verschiedenen Aspekte des Heroismus (V. 9–64). Am Beispiel der Griechen bringt H. erstmals eine Apologie der Not. Bislang galten Not und Zeit als Feinde des Enthusiasmus. Jetzt aber wird die Not zur »Meisterin«. Sie weckt die »Heroenkraft«. Mit der Umwertung der Not gewinnt H. einen neuen Zugang zur Geschichte, denn bisher hatte er sie als bloßen »Fluch« betrachtet, der die Goldene Zeit beendet (StA I, 140). Jetzt entschließt er sich zu einem Neuansatz. Die mit dem Sündenfall einsetzende geschichtliche Zeit wird aufgewertet und schließlich sogar emphatisch begrüßt: »Triumph! die Paradiese schwanden«, jubelt die Hymne Das Schiksaal, die das Resümee der hier gewonnenen Einsicht zieht (StA I, 184). H. folgt hiermit den Anregungen Herders (Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, 1774/76), Kants (Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 1786) und Schillers (Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, 1790), deren Genesisdeutungen in der Bejahung von Geschichte und Sündenfall ihre Pointe finden. Am Beispiel des Herakles demonstriert H. die kulturstiftende Bedeutung des Heros. Unter den Künstlern hebt er wiederum Homer hervor: Kühn tritt er vor den »Geist des Alls« und schaut ihn in seiner »Fülle«. Die enthusiastische Schau legitimiert ihn zur Dichtung. Zuletzt behandelt H. den Heroismus der Wahrheit im Typus des Propheten und Rächers. Der Rächer der Wahrheit, der im Sinne der »heil’gen Nemesis« handelt, ist in der Gegenwart besonders vonnöten. Damit schließt sich der Gedankengang der Hymne. Ebenso wie Herakles mit seinen Taten die griechische Kultur ermöglichte, bedarf die Gegenwart der heroischen Tat, wenn »der ew’ge Friede« aus der Zeit hervorgehen soll. Mit dem Gedicht Griechenland. An St. verlässt H. den Rahmen der bisherigen Hymnen. Er übernimmt zwar die Reimstrophe, doch geht er zur elegischen Klage über. So entsteht eine Übergangsform, in der sich die Hymnenstrophe mit dem Pathos der Elegie verbindet. Als Vorbild konnte H. auf Schillers strophische Elegie Die Götter Griechenlands zurückgreifen, die fünf Jahre zuvor entstanden war. Schiller hatte die Entfremdungsproblematik in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt. Dies geschah in einprägsamen Bildern und Antithesen. Das Gedicht zeigte die »schöne Welt« der Antike an dem Gegensatz von »Sinnenwelt« und »Ideenland« zerbrechen. Schiller präsentiert den Gegensatz von Antike und Moderne in polemischer Eindringlichkeit. Er begnügt sich nicht mit der Klage, sondern geht selbstbewusst zur Anklage
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über. Klage und Einspruch, Trauer und Protest, Sehnsucht und Widerwille steigern sich in wechselseitigen Kontrastierungen. Dieser polemische Grundzug liegt H. fern. Seine Klage ist vorbehaltlos und unbedingt. Griechenland wird zum uneinholbaren Idealbild. Eindringlich artikuliert H. das Gefühl der Resignation. Die Krise der Gegenwart verspricht keinerlei Aussicht auf Überwindung. Ideal und Wirklichkeit scheinen unwiderruflich zerfallen, so dass das Gedicht in hohem Pathos endet. Dem ange sprochenen Freund, Stäudlin, wird zugerufen: »Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde,/ Edler Geist! umsonst dein Element.« Der Sprecher selbst versichert, »mein Herz gehört den Todten an!« In dem Gedicht wird das Ausmaß der Resignation deutlich, die H. spätestens seit der Hinrichtung der führenden Girondisten (im November 1793) erfasst hatte: Die Revolution schien gescheitert und ebenso das eigene Hymnenprojekt. H. gesteht die Aporie in vollem Umfange ein. Die Begeisterung, mit der sich die Hymnen über die Widerstände der Gegenwart hinweggesetzt hatten, wird revidiert. An ihrer Stelle wird das Leiden an der Gegenwart sichtbar. Die Gegenwart, auf die das Hymnenkonzept einwirken sollte, musste zuerst neu begriffen werden. An diese Aufgabe macht sich der Hyperion. Die Appellstruktur der Hymnen Für die Ermahnung der Zeitgenossen ist ein eigenständiger Teil der Tübinger Hymnen vorgesehen. Die Mahnreden (Parainesen) knüpfen unmittelbar an die Aretalogien an und leiten, meist in drei bis vier Strophen, zum Hymnenschluss (Conclusio) über. Sie bilden eine Brücke vom argumentativen Zentrum zum pathetischen Schluss Mit ihnen verpflichtet der vates sich selbst und sein Publikum auf die vorangestellten Überzeugungen. Als Grundformen lassen sich die selbstbezogene und die publikumsbezogene Mahnung unterscheiden. Diese Partien sind insgesamt von zahlreichen An- und Aufrufen durchsetzt, sie entwickeln einen ausgeprägten Imperativstil. Mit der Ansprache der Hymnen gewinnt H. die Möglichkeit politisch-öffentlicher Stellungnahmen. Der vates dringt auf die Umgestaltung der Gesellschaft. Der zentrale Begriff, an dem sich die Hymnen orientieren, ist der des »Vaterlandes«. H. versteht ihn nicht national bestimmt, sondern als ein ideelles, geistiges Vaterland (Prignitz 1976, 60–93). Auf die politische Dimension dieses ideellen Vaterlandes hat zuerst P. Bertaux (1969, 52) hingewiesen, wenn er festhält, dass »im Wortgebrauch der Zeit die Antithese ›Aristokrat-Patriot‹
galt. Das gibt den Ton an für die spätere Bedeutung des Wortes ›Vaterland‹ bei H. Aristokraten, Untertanen haben keine ›patrie‹. Nur freie Menschen haben ein Vaterland; das stiftet erst die Revolution«. Im Rahmen der Tübinger Hymnen wird das Vaterland zum revolutionären Kampfbegriff. Die bestehenden Verhältnisse sollen wirksam umgestaltet werden. Die im »Bund« vereinigten »Brüder« werden »den Despoten [...] an das Menschenrecht« ebenso mahnen, wie sie den »feilen Knecht« an den »Muth« zur Selbstbehauptung erinnern (StA I, 118). Das Vaterland soll den »Räubern«, seien sie aristokratischer oder klerikaler Provenienz, »entwunden« werden (StA I, 148). Die politischen Forderungen nach Gleichberechtigung, Ablösung der Ständegesellschaft und Etablierung der Menschenrechte werden auf das Gebot der freien Selbstbestimmung gegründet. Prägnant fasst die Hymne an die Menschheit dieses Gebot in der Formel: »Zum Herrscher ist der Gott in uns geweih’t« (V. 80). Angesichts der Gottähnlichkeit des Menschen sollen die gegenwärtigen Züge der Entstellung und Depravation getilgt werden. H. deutet die anstehende Revolution als Wiederherstellung der göttlichen Ordnung (Kaiser 1996). Die Hymnenschlüsse Hatten die Appelle mit ihren schroffen Imperativen die historisch anstehenden Aufgaben umrissen, so gehen die Hymnenschlüsse deutlich über die Gegenwart hinaus. Sie transzendieren die Unfreiheit, Zerrissenheit und Isolation und lassen Bilder erfüllter Zukunft aufscheinen: So jubelt, Siegsbegeisterungen! Die keine Lipp’ in keiner Wonne sang; Wir ahndeten – und endlich ist gelungen, Was in Aeonen keiner Kraft gelang – Vom Grab’ ersteh’n der alten Väter Heere, Der königlichen Enkel sich zu freu’n; Die Himmel kündigen des Staubes Ehre, Und zur Vollendung geht die Menschheit ein. (Hymne an die Menschheit, V. 81–88, StA I, 148)
In der Architektonik des Hymnenbaus bilden die Schlüsse jeweils den kürzesten Teil. Der Übergang von den Parainesen zu den hymnischen Schlüssen erscheint fließend. H. hebt ihn nur wenig hervor, indem er kleine Zeichen der Emphasis als Gelenkstellen einsetzt. So wird der Einstieg ins Finale etwa mit einem gliedernden Doppelpunkt, einem deiktischen »Sie-
28 Frühe Hymnen
he«, »So« oder »Ha!« angekündigt. Damit aber wird ein entscheidender Perspektivwechsel eingeleitet. Der vates geht von der mahnenden Rede zum feierlichen Ausblick über. Die Schluss-Partien führen zum hymnischen »Jubel«, in dem sich das Programm der Tübinger Hymnen erfüllt. Der Grundriss der Tübinger Hymnen Die Hymnen spiegeln die rege Gedankenentwicklung der Tübinger Studienjahre. H. stellt in den Hymnen das christliche Weltbild, mit dem er aufgewachsen
Hymnentitel Prooimion Göttin der Harmonie 17 Str. 3 Str. V. 1–24 Muse 15 Str. 3 Str. V. 1–24 Freiheit (1. Fs) 13 Str. 2 Str. V. 1–16 Genius Griechenlands 8 Str. 1 Str. V. 1–8 Menschheit 11 Str. 1 Str. V. 1–8 Schönheit 14 Str. 3 Str. V. 1–30 Freiheit (2. Fs) 16 Str. 3 Str. V. 1–24 Freundschaft 13 Str. 3 Str. V. 1–24 Liebe 6 Str. 2 Str. V. 1–16 Genius der Jugend 14 Str. 3 Str. V. 1–24 Kühnheit 9 Str. 1 Str. V. 1–8
317
ist, zur Disposition. Schrittweise korrigiert er unhaltbar gewordene Positionen. Die Hymnen bilden derart einen kontinuierlichen Reflexionszusammenhang. Sie dienen der Selbstvergewisserung, zugleich aber beanspruchen sie auch öffentliche Geltung, indem sie ein Publikum ansprechen. Derart entsteht eine komplexe lyrische Denkform, die sich jedoch fester Vorgaben bedient, um die gedankliche Entwicklung voranzutreiben. Die Hymnen folgen einem gemeinsamen Aufbau, der sich als Sequenz von Pro oimion, Aretalogie, Parainesis und Conclusio darstellen lässt:
Aretalogie
Parainesis
Conclusio
7 Str. V. 25–80
4 Str. V. 81–112
3 Str. V. 113–136
5 Str. V. 25–64
5 Str. V. 65–104
2 Str. V. 105–120
6 Str. V. 17–64
3 Str. V. 65–88
2 Str. V. 89–104
6 Str. V. 9–57
1 Str. V. 58–61
[entfällt]
4 Str. V. 9–40
5 Str. V. 41–80
1 Str. V. 81–88
4 Str. V. 31–70
4 Str. V. 71–110
3 Str. V. 111–140
6 Str. V. 25–72
3 Str. V. 73–96
4 Str. V. 97–128
6 Str. V. 25–72
2 Str. V. 73–88
2 Str. V. 89–104
3 Str. V. 17–40
[entfällt]
1 Str. V. 41–48
7 Str. V. 25–80
3 Str. V. 81–104
1 Str. V. 105–112
7 Str. V. 9–64
1 Str. V. 65–70
V. 71–72
318
V Werk
28.4 Zeitgenössische Aufnahme und Wirkung
die Frankfurter Zeit, doch entstehen sie eher am Rande der vielfältigen Arbeiten.
Von den Jugendgedichten unterscheiden sich die Tübinger Hymnen durch die Kontinuität ihrer Produktion. Die Hymnen entstanden unter günstigen Rahmenbedingungen. Motivierend wirkte vor allem die Unterstützung durch G. F. Stäudlin (1758–1796). Als Herausgeber verschiedener Anthologien bot er H. die Möglichkeit, seine Hymnen zu veröffentlichen. So erschienen schon im Herbst 1791 die ersten drei Hymnen im Musenalmanach fürs Jahr 1792, im darauffolgenden Jahr weitere sechs in der Poetischen Blumenlese fürs Jahr 1793. Die beiden Almanache wurden jeweils von einer Hymne H.s eröffnet. Da Stäudlin aber unter dem Druck der Zensur Stuttgart verlassen musste, stellte er den Kontakt zu Schiller her, in dessen Thalia die im letzten Studienjahr verfertigten Gedichte publiziert wurden. Mit Stäudlins Unterstützung wurden alle Tübinger Hymnen publiziert. Der auffällige Publikumsbezug der Tübinger Hymnen hat die Frage nach ihrer Rezeption im Stift aufgeworfen. Vor allem über die Stammbucheintragungen ermittelte A. Beck (1947) einen größeren studentischen Freundeskreis H.s. Die Mitglieder des Freundeskreises waren gut über die politische Entwicklung in Frankreich informiert und traten engagiert für die Ziele der Revolution ein. Sicherlich wurden die Hymnen hier gelesen und vorgetragen. Über die näheren Umstände der Rezeption fehlen jedoch aussagekräftige Zeugnisse (vgl. Wandel 1981). Anerkennung fand H. auch durch Matthisson, der ihn in Tübingen besuchte und seine Hymne an die Kühnheit mit »sympatetischem Feuer« (StA VI, 626) aufnahm. Schließlich trafen die Hymnen auch im Stuttgarter Freundeskreis auf Interesse. H. unterrichtete Neuffer genau über den Fortschritt der einzelnen Hymnen. Nach dessen Examen, im September 1791, besuchte H. ihn regelmäßig in Stuttgart. Während des gesamten Studiums informierte er ihn über den Stand seiner Arbeiten. Offenbar durch H. angeregt, wandte sich auch Neuffer der Hymnendichtung zu und schlug einen kleinen Wettkampf vor (StA VII, 1, 33 f.). Dabei imitierte er allerdings H.s hymnischen Stil in »endlosen Reimereien«, die ihm August W. Schlegel generell zum Vorwurf gemacht hat (Beispiele bei Böckmann 1965, 149–208). Mit dem Ende der Studienzeit kündigte sich auch eine Umorientierung H.s an (vgl. Henrich 1986/87; 2004). Er zeigte immer weniger Interesse für das Hymnenprojekt. Im letzten Studienjahr wendet er sich bereits dem Hyperion zu. Zwar folgen noch einige Reimhymnen bis in
Literatur zu Entstehung
Böschenstein, Bernhard: Klopstock als Lehrer H.s. Die Mythisierung von Freundschaft und Dichtung, in: HJb 17 (1971/72), 30–42. Cancik, Hubert: ›Freundschaftskult‹. Religionsgeschichtliche Bemerkungen zu Mythos, Kult und Theologie der Freundschaft bei F. H., in: Elsas, Christoph u. a. (Hg.): Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte. Festschrift für Carsten Colpe, Würzburg 1990, 12–34. Doering, Sabine: »Durch das Fenster«: Gottesdienst und Liturgie in H.s Lyrik, in: Aurora: Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 68/69 (2008/09), 39–51. Fantoni, Francesca: Deutsche Dithyramben: Geschichte einer Gattung im 18. und 19. Jahrhundert, Würzburg 2009. Franz, Michael (Hg.): »... im Reiche des Wissens cavalieremente«? H.s, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen, Eggingen 2005. Franz, Michael (Hg.): »... an der Galeere der Theologie?« H.s, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen, Eggingen 2007. Franz, Michael/Wilhelm G. Jacobs (Hg.): »...so hat mir/ Das Kloster etwas genüzet«, H.s und Schellings Schulbildung in der Nürtinger Lateinschule und den württembergischen Klosterschulen, Eggingen 2004. Franz, Michael/Ulrich Gaier/Valérie Lawitschka: H. Texturen 1.2: »Alle meine Hofnungen«, Tübingen 1788–1793, hg. v. der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen, Tübingen 2017. Hayden-Roy, Priscilla A.: Zwischen Himmel und Erde: der junge F. H. und der württembergische Pietismus, in: HJb 35 (2006/07), 30–66. Henrich, Dieter: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen, Jena (1790–1794), 2 Bde., Frankfurt a. M. 2004. Jacob, Joachim: Heilige Poesie Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Berlin/Boston 1997. Malinowski, Bernadette: H.s prophetische Dichtung zwischen imitatio und creatio, in: HJb 39 (2014/15), 44–65. Prignitz, Christoph: F. H. Die Entwicklung seines politischen Denkens unter dem Einfluß der Französischen Revolution, Hamburg 1976. Wandel, Uwe Jens: Verdacht von Democratismus? Studien zur Geschichte von Stadt und Universität Tübingen im Zeitalter der Französischen Revolution, Tübingen 1981.
zu Analyse und Deutung
Binder, Wolfgang: Die Tübinger Hymnen [1973], in: F. H. Studien von Wolfgang Binder, hg. v. Elisabeth Binder und Klaus Weimar, Frankfurt a. M. 1987, 135–156. Böckmann, Paul: H. und seine Götter, München 1935. Dilthey, Wilhelm: F. H., in: Ders.: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, H., 3. erw. Aufl., Leipzig 1910, 349–459.
28 Frühe Hymnen Kaiser, Gerhard: Hymne an die Freiheit. Revolution als heilsgeschichtliches Ereignis, in: Kurz, Gerhard (Hg.): Interpretationen. Gedichte von F. H., Stuttgart 1996, 31–47. Polledri, Elena: »... immer bestehet ein Maas.« Der Begriff des Maßes in H.s Werk, Würzburg 2002. Shtereva, Kalina: Die Tübinger Hymnen von F. H. lettristisch-kryptische Ansätze, in: Nemski romantizăm: pătevodni proekti, Veliko Tărnovo 2011, 101–122. Vöhler, Martin: »Danken möcht’ ich, aber wofür?« Zur Tradition und Komposition von H.s Hymnik, München 1997.
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zu Aufnahme und Wirkung
Beck, Adolf: Aus der Umwelt des jungen H. Stamm- und Tagebucheinträge mitgeteilt und erläutert von Adolf Beck, in: HJb 1947, 18–46. Böckmann, Paul (Hg.): Hymnische Dichtung im Umkreis H.s. Eine Anthologie, Tübingen 1965.
Martin Vöhler
320
V Werk
29 Oden 29.1 Grundlagen Das umfangreiche Korpus von H.s Oden erstreckt sich über alle Perioden seines lyrischen Schaffens, von der Maulbronner Schulzeit bis in die späten Jahre im Tübinger Turm. Deshalb ist die Unterteilung in der StA problematisch, die – als Folge der grundlegenden editorischen Entscheidung, chronologische und gattungsbasierte Kriterien zu kombinieren – in ihrem zweiten Band die zwischen 1800 und 1806 entstandenen Oden in einer eigenen Rubrik zusammenfasst und diese somit gegenüber den frühen und späten Oden privilegiert, die gemeinsam mit Gedichten anderer Gattungen bzw. unterschiedlicher Struktur in ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext dargeboten werden. Die Anordnung nach der Entstehungszeit der Gedichte, wie sie die MA verfolgt, präsentiert die einzelnen Oden in ihrem jeweiligen chronologischen Werkkontext und veranschaulicht die Kontinuität in H.s Odendichtung – mit der Folge, dass Überarbeitungen und unterschiedliche Fassungen einzelner Oden teilweise weit voneinander getrennt werden. Die Anordnung der Gedichte nach den Daten ihrer jeweiligen Erstveröffentlichung (TL) führt die – im Vergleich mit anderen Gedichtformen – recht hohe Zahl an Oden vor Augen, die bereits zu H.s Lebzeiten veröffentlicht wurden: In den Jahren 1798/99 bis 1806 wurden insgesamt 41 Oden H.s publiziert, in der Regel in Kalendern und anderen periodisch erscheinenden Taschenbüchern. Der Lyriker H. wurde von seinen Zeitgenossen, wenn überhaupt, also vornehmlich aufgrund seiner Oden wahrgenommen; daneben konnte man ihn auch als Verfasser von Reimgedichten und Elegien kennen. Die genaue Anzahl der Oden H.s anzugeben ist schwer möglich; denn es bleibt eine Ermessensfrage, ob und in welchem Umfang Entwürfe und Überarbeitungen einzelner Oden als eigenständige Gedichte erfasst werden. So bewegt sich – je nach editorischer Entscheidung – die Zahl der Oden H.s in der Regel zwischen ca. 90 und 100 individuell gezählten Gedichten. Trotz ihrer thematischen Vielfalt weisen H.s Oden eine große formale Kohärenz auf, was ihnen seit dem frühen 20. Jahrhundert die kontinuierliche Aufmerksamkeit literaturwissenschaftlicher Untersuchungen zuteilwerden ließ. Die Hochschätzung von H.s Oden erfolgte dabei von Beginn an nicht allein aus werkbiographischer Perspektive, und sie erstreckte sich auch nicht nur auf herausragende Einzelgedichte; vielmehr
wurde schon früh die literaturgeschichtliche Bedeutung des Korpus von H.s Oden in seiner Komplexität erkannt und gewürdigt. Dabei liegt eine doppelte Perspektive zugrunde: Aus gattungstheoretischer Sicht wurde H.s Beitrag zur Geschichte der deutschsprachigen Ode untersucht; aus metrikgeschichtlicher Sicht insbesondere seine Adaption und Weiterentwicklung der horazischen Odenmaße. Bis heute konzentrieren sich viele Überblicksdarstellungen zu H.s Oden vor allem auf ihre metrischen Strukturen, die die Oden auf den ersten Blick als eigenständige Gruppe innerhalb von H.s lyrischem Œuvre erkennbar machen. Dazu trägt auch die Schreib- bzw. Druckkonvention bei, die Zeilen einer Odenstrophe mit sukzessiv wachsendem linkem Einzug zu versehen, was die Identifizierung eines Gedichts als Ode noch vor jeder Lektüre, allein aufgrund des optischen Eindrucks, ermöglicht. So plausibel diese Fokussierung auf den strophischen Aufbau auch ist, kann sie zugleich den Blick dafür verstellen, dass es über formale bzw. strukturelle Aspekte weitere, kohärenzstiftende Aspekte in H.s Odenwerk gibt. Dazu gehören insbesondere die fast durchgängig präsenten Apostrophierungen und deiktischen Verweise.
29.2 Der literaturgeschichtliche Kontext – Traditionslinien Aus der Sicht einer an organischen Prinzipien orientierten Gattungsgeschichtsschreibung, wie sie in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg populär wurde, war das Urteil eindeutig: »Die deutsche Ode tritt bei H. in ihren höchsten Stand« (Viëtor 1923, 147). Auch wenn das hier zugrunde gelegte Modell der Entwicklung literarischer Gattungen nach den biologisch bzw. evolutionär verstandenen Kategorien von Wachstum, Blüte und Verfall inzwischen als problematisch gilt, bleibt die Kontextualisierung H.s innerhalb der Geschichte der Odendichtung hilfreich, um die formale Virtuosität und die große ästhetische Qualität seiner Oden zu erkennen. So findet die Hochschätzung seiner Oden vor dem Hintergrund der Gattungstradition rund einhundert Jahre nach Viëtor noch immer breite Zustimmung. Seit seiner Schulzeit war H. eng mit Grundlagen der lateinischen und griechischen Dichtung vertraut; das selbstständige Verfassen von Gedichten in lateinischer Sprache gehörte zur Ausbildung der Klosterschüler und zu den erwarteten Fertigkeiten der künftigen Pfarrer. So wurde H. früh mit den Oden des Horaz bekannt,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_29
29 Oden
der mit seiner eigenen Dichtung zum wichtigsten Vermittler der älteren griechischen Lyrik und ihrer Strukturprinzipien (Reimlosigkeit und feste, teilweise komplexe Strophenformen) geworden war. Aus der zeitgenössischen deutschen Odendichtung kannte H. die Anfänge der Versuche reimloser liedhafter Lyrik u. a. aus den Werken der Brüder Stolberg und Höltys. Eine überragende Vorbildfunktion für H.s Jugenddichtung kam der Dichtung Klopstocks zu. H. schätzte sowohl die freirhythmischen Gesänge als auch die zahlreichen Oden Klopstocks, von denen viele in selbsterfundenen Maßen verfasst worden waren. Der von H. ebenfalls als Vorbild verehrte Schiller hingegen zeigte – ebenso wenig wie Goethe – kein Interesse an reimloser strophischer Lyrik, wie sie sich in Deutschland in der Tradition der Horazischen Oden entwickelt hatte. Anders verhält es sich mit der ebenfalls auf die Antike zurückgehende Elegiendichtung; denn den Hexameter und das ebenfalls reimlose elegische Distichon nutzten Goethe und Schiller auf vielfältige Weise. Anders als Klopstock bemühte sich H. kaum um die Erfindung eigener Odenmaße, sondern konzentrierte sich bis auf wenige Ausnahmen auf die beiden traditionellen Formen der alkäischen und asklepiadischen Strophe. Die rhythmischen Variationsmöglichkeiten beider Strophen nutzte er intensiv, insbesondere durch den vielfältigen Einsatz von Enjambements und die flexible Handhabung von Zäsuren. Das inhaltlich-thematische Spektrum von H.s Oden ist vielfältiger als bei seinen Vorbildern. Die literaturgeschichtliche Bedeutung von H.s Oden und seine souveräne Handhabung der metrischen Strukturen ist auch an der Häufigkeit erkennbar, mit der einzelne dieser Oden in zahlreichen Handbüchern zur Literatur- und Metrikgeschichte bzw. in Einführungswerken für die Gedichtanalyse exemplarisch zitiert und analysiert werden. So erscheinen H.s Oden bis heute insbesondere in Lehrwerken als mustergültige Beispiele der Gattung.
29.3 Hölderlins Odenstrophen – metrische Strukturen Nur zwei frühen Oden (Gedicht an die Herzogin Franziska, MA I, 18 f. und Die heilige Bahn, MA I, 67 f.) legte H. selbsterfundene Maße zugrunde, wie er es bei Klopstock kennengelernt hatte. Die Fragment gebliebene Ode Keppler. 1789 (MA I, 71) lehnt sich an ein von Klopstock vorgebildetes Strophenmaß an. Einmal verwendet H. das archilochische Odenmaß, allerdings
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nicht in der sonst odentypischen vierzeiligen Strophe (Diotima, MA I, 183). Das sapphische Maß ist ebenfalls selten bei H. zu finden: In der vollendeten Ode Unter den Alpen gesungen (MA I, 304 f.) sowie in einem Entwurf (Sapphos Schwanengesang MA I, 274), aus dem später die alkäische Ode Thränen (MA I, 441) hervorging. In allen übrigen Oden verwendet H. entweder das alkäische oder das asklepiadeische Odenmaß, letzteres in seiner häufigen sogenannten 3. Form. Die markanten strukturellen Eigentümlichkeiten, die beiden Odenmaßen einen unterschiedlichen Rhythmus geben, wurden ausführlich beschrieben (Binder 1970; s. Kap. 18). Gemeinsam ist beiden Odenstrophen neben der obligatorischen Reimlosigkeit die parallele Struktur der beiden Eingangsverse, von denen sich die jeweils kürzeren Verse der zweiten Strophenhälfte unterscheiden. Typisch für die von H. am häufigsten verwendete alkäische Strophe ist die Vermeidung des Hebungspralls: Niemals treffen zwei betonte Silben aufeinander, weder im Versinneren noch an der Vers- oder Strophengrenze, was sich häufig mit dem Eindruck einer »fließenden« rhythmischen Bewegung (Binder 1970) verbindet. Enjambements können diesen Effekt verstärken: v–v–v|–vv–v– v–v–v|–vv–v– v–v–v–v–v –vv–vv–v–v Kaum sproßten aus den Wassern, o Erde, dir Der jungen Berge Gipfel und dufteten Lustathmend, immergrüner Haine Voll, in des Oceans grauer Wildniß Die ersten holden Inseln; und freudig sah Des Sonnengottes Auge die Neulinge Die Pflanzen, seiner ew’gen Jugend Lächelnde Kinder, aus dir geboren. (Der Mensch, MA I, 194)
Demgegenüber stehen die starken rhythmischen Zäsuren der asklepiadeischen Strophe: Jeweils in der Mitte und am Ende der beiden streng symmetrisch gebauten Verse 1 und 2 sowie im Übergang von einer Strophe zur anderen stoßen zwei betonte Silben aufeinander, was den Rhythmus stärker zäsuriert. Anders als bei der alkäischen Strophe ist der Anfang aller vier Verse identisch. Mehrfach nutzt H. die Möglichkeit,
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V Werk
die obligatorische Zäsur in der Mitte der Verse 1 und 2 nicht allein durch die geforderte Wortgrenze zu realisieren, sondern diesen Hebungsprall stärker durch eine Kolongrenze oder sogar eine inhaltliche Antithese zu akzentuieren. Eine Variation dazu bildet die Möglichkeit der »gegenrhythmischen Unterbrechung« (Binder 1970), bei der – wie im zweiten Vers des folgenden Beispiels – die syntaktische und inhaltliche Zäsur nicht mit dem metrischen Einschnitt zusammenfallen: –v–vv–|–vv–v– –v–vv–|–vv–v– –v–vv–v –v–vv–v– Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog Schön ihn nieder; das Laid beugt ihn gewaltiger; So durchlauf ich des Lebens Bogen und kehre, woher ich kam. (Lebenslauf, MA I, 190)
Die vielfältigen Möglichkeiten der rhythmischen Realisierung der beiden Strukturmuster sowie den Zusammenhang mit H.s allmählich entstehenden freirhythmischen Gesängen untersucht ausführlich Previšić (2008). An zahlreichen Einzelfällen weist er nach, dass kleinere rhythmische Einheiten, die Bestandteil der Odenmaße sind, sich vielerorts in den großen Hymnen wiederfinden, die in ihrer Gesamtheit keiner regelmäßigen metrischen Struktur unterliegen. H.s Oden sind zumeist mehrstrophig. In der sogenannten Werkgruppe der »Frankfurter Oden« erprobte er auch die Möglichkeit epigrammatischer Oden mit jeweils nur vier, acht oder auch zwölf Versen (MA I, 188–197). Zahlreiche Oden H.s wurden vertont; bekannt sind beispielsweise die verschiedenen musikalischen Umsetzungen von An die Parzen (MA I, 188).
29.4 Die Sprechhaltung der Oden: Adressierungen und deiktische Verweise Jüngere Ansätze der Gattungsbestimmung erweitern die bewährten traditionellen Strukturanalysen dergestalt, dass sie neben den offensichtlichen Formelementen, also Metrum und Strophe, auch wiederkehrende kommunikative Phänomene als odentypisch zu identifizieren versuchen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Sprechhaltung der Apostrophe, der direkten Wendung an ein Gegenüber, was seit der Anti-
ke als charakteristisch für Oden angesehen wird. Die Adressierung eines »Du« oder »Ihr« schließt stets, zumindest implizit, Aussagen über das jeweils sprechende Ich und seinen Standort ein. Damit verbunden sind vielfältige »deiktische Techniken des fiktionalen ›Jetzt‹ und ›Hier‹« (Kohl 2009, 555 mit Verweis auf Culler 1981), die zu analysieren und systematisieren grundlegende Aufgabe einer kommunikativen Lyrikanalyse ist. Hier liegt – auch mit Blick auf H. – erhebliches Potential für weiterführende Studien, die über den gegenwärtigen Erkenntnisstand hinausgehen. Tatsächlich wenden sich, abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, so gut wie alle Oden H.s explizit an ein Gegenüber, das unmittelbar im Titel bzw. am Anfang oder im Fortgang des Gedichts genannt wird. So auffällig dieser Befund auch ist, darf er dennoch nicht als gattungsunterscheidendes Merkmal missverstanden werden, denn Adressierungen eines konkreten Gegenübers finden sich auch in zahlreichen anderen Gedichten H.s außerhalb seiner Oden (Zuberbühler 1982). Gleichwohl ist die fast durchgängige Haltung der Apostrophe ein wesentlicher Bestandteil der kommunikativen Ausrichtung von H.s Oden. Die Gruppe der Adressaten, die in einzelnen Oden direkt angesprochen werden, ist vielfältig und spiegelt die thematische Breite dieser Gedichte: Es finden sich reale Personen aus H.s Lebenswelt (An Sinklair, MA I, 243; An Zimmern, MA I, 915), historische Gestalten (Kepler, MA I, 71; Rousseau, MA I, 267 f.; Empedokles, MA I, 251), stilisierte Geliebte (mehrere Oden rufen »Stella« bzw. »Diotima« an, MA I, 19, 41, 183, 256) und unterschiedliche Kollektiva – von den Gruppen der Freundinnen (MA I, 43) und der Freunde (MA I, 43) über verschiedene Gruppierungen von »Dichtern« (MA I, 193) bis hin zu den »Deutschen« (MA I, 193). Daneben werden Götter und Halbgötter angerufen (der Sonnengott, MA I, 194; die Parzen, MA I, 188; Ganymed, MA I, 444 f.), personifizierte Geisteshaltungen (An die Hoffnung, MA I, 441), historische oder imaginierte Ereignisse und Zustände (Die Schlacht, MA I, 187 f.; Der Frieden, MA I, 232 f.), meteorologische Erscheinungen (»Wolken«, MA I, 230) sowie geographische Formationen wie Städte oder Flüsse (Heidelberg, MA I, 252; Der Nekar, MA I, 253). Diese Auswahl illustriert die grundsätzlich dialogische, adressatenbezogene Ausrichtung der Oden H.s. Auf der syntaktischen Ebene spiegelt sich diese apostrophierende Grundhaltung in der Häufigkeit direkter Anreden, Fragen und dialogischer Partien. Damit verbunden sind oft deiktische Ausdrücke, mit denen das sprechende Ich seine Position beschreibt bzw. im
29 Oden
Sprachvollzug eine konkrete Situation entwirft, deren lokale und temporale Koordinaten (das jeweilige ›Hier und Jetzt‹) abhängig von dem jeweiligen Sprechakt sind und keine absolute Bestimmung erlauben. Auf diese Weise vermitteln viele Oden auf der sprachlichkommunikativen Ebene den Eindruck unmittelbarer Anschauung, so sehr die strenge metrische Form auch verdeutlicht, dass es sich keinesfalls um Formen der ›Erlebnislyrik‹ handelt, die darauf abzielt, emotionale Spontaneität und situative Authentizität zu simulieren. In diesem spannungsvollen Kontrast liegt zweifellos ein wesentlicher Grund für den anhaltenden hohen ästhetischen Reiz vieler Oden H.s. Die Funktion deiktischer, also standortbezogener Ausdrücke für die Sprechhaltung lässt sich exemplarisch an den Eingangsstrophen der Ode Die heilige Bahn illustrieren: Durch die antithetischen Fragen und die Entgegensetzung »diß – jene« wird eine Entscheidungssituation beschrieben, in die der Sprecher unmittelbar hineingestellt ist. Die Deixis der beiden Demonstrativpronomina verweist auf die individuelle Position des Sprechers, deren Details sich erst im lesenden Mitvollzug sukzessiv offenbaren. Dieses Verfahren der deiktischen Verweise trägt hier und in anderen Fällen zu dem spezifischen Spannungsbogen der in der Ode entfalteten Narration bei. Ist also diß die heilige Bahn? Herrlicher Blik – o trüge mich nicht! Diese geh’ ich?? schwebend auf des Liedes Hoher fliegender Morgenwolke? Und welch’ ist jene? künstlich gebaut Eben hinaus mit Marmor beschränkt Prächtig gerad, gleich den Sonnenstralen – An der Pforte ein hoher Richtstuhl? (MA I, 67)
29.5 Das Konzept der »tragischen Ode« In H.s dichtungstheoretischen Schriften wird der Begriff ›Ode‹ allein in dem kurzen Text Die tragische Ode ... näher erläutert, der im Zusammenhang mit H.s Empedokles-Projekt entstand und den Auftakt zu zwei längeren poetologischen Texten über das Wesen der Tragödie bildet (MA I, 865). In dem ersten dieser Folgetexte, von H. als Allgemeiner Grund überschrieben, wird der »tragischen Ode« das »tragischdramatische Gedicht« bzw. das »tragische Gedicht« gegenübergestellt (MA I, 866). Dies erlaubt den Rückschluss, dass der Terminus »tragische Ode« tatsäch-
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lich eine spezifisch lyrische Form meint, auch wenn das aus den Ausführungen selbst nicht unmittelbar hervorgeht (vgl. Kreuzer 1998, XXXVII). Tatsächlich ist in den Reflexionen über die »tragische Ode« an keiner Stelle vom Metrum oder anderen lyrikspezifischen Aspekten die Rede. Zentral ist vielmehr der charakteristische Prozess der Abfolge bestimmter Grundhaltungen, der gleichermaßen für die »tragische Ode« und das »tragischdramatische Gedicht« (also die Tragödie) Geltung haben soll; der übergreifende Fokus ist also die Darstellung und die Entfaltung des Tragischen. Unabhängig von der Frage, für welche von H.s Oden die Charakterisierung als »tragisch« überhaupt sinnvoll erscheint, ist das Modell der Prozessualität hilfreich für die innere Struktur von H.s Oden. Ähnlich wie in den Schriften zum ›Wechsel der Töne‹ entfaltet er auch hier kein konkretes inhaltliches Konzept, sondern beschreibt vielmehr die Koordinaten eines inneren Spannungsverhältnisses, das den poetischen Text durchzieht. In einer mustergültig aufgebauten »tragischen Ode« gibt es demnach eine bestimmte Abfolge von Grundhaltungen, die in einem festen und keinesfalls beliebigen Verhältnis zueinander stehen. Den Anfang bildet die »reine Innigkeit« bzw. der durch ihr »Übermaas« entstandene »Zwist«, was dann in eine vorhersehbare Abfolge gegensätzlicher Zustände führt, bis dann am Ende der »Urton [...] wieder und mit Besonnenheit gefunden« ist (MA I, 865). So schwer es auch ist, diese allgemeinen, recht unanschaulichen Bestimmungen für das Verständnis einzelner Oden zu operationalisieren, wird dennoch deutlich, wie sehr für H. der Aufbau eines längeren (und damit, da von Oden die Rede ist: strophischen) Gedichtes bestimmten Strukturgesetzen unterliegt. Das jeweilige Verhältnis von Setzung, Entgegensetzung, Steigerung und Wiederholung auf einem höheren Niveau bestimmt unabhängig von der jeweiligen thematischen Füllung den Spannungsaufbau und die Ganzheit eines Gedichtes. Sofern man bereit ist, diese abstrakt-formalen Überlegungen auf das Verständnis einzelner Oden anzuwenden, folgt daraus die heuristische Maxime, dass dem strophischen Aufbau größte Aufmerksamkeit zuteil werden sollte und dass es bei aller Aufmerksamkeit für den Bau einzelner Odenstrophen eine vorrangige Aufgabe der Interpretation ist, den jeweiligen Spannungs- und Entwicklungsbogen einzelner Oden zu erkennen. Auch die häufigen Strophenenjambements verdienen bei dieser Konzentration auf den Spannungsaufbau einzelner Oden besondere Aufmerksamkeit.
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V Werk
29.6 Hölderlins Oden im werkbiographischen Kontext – Jugenddichtung Die älteste bekannte Ode H.s – die Abwandlung einer alkäischen Ode – entstand im November 1786 und entspricht den Erwartungen an repräsentative Gelegenheitsdichtung. Der feierliche Anlass für dieses Gedicht war der Empfang für Herzog Carl Eugen, der mit seiner Gemahlin Franziska von Hohenheim am 7. und 8. November 1786 die Maulbronner Klosterschule besuchte. Bei dieser Gelegenheit wurden öffentliche Prüfungen abgehalten, die Schüler erhielten kleine Belohnungen; und der sechzehnjährige H. durfte der Herzogin seine Huldigungsode überreichen, womöglich sogar selbst vortragen. Die kunstvolle Niederschrift des Gedichts wurde später im herzoglichen Archiv aufbewahrt. So sehr H. auch die zeremoniellen Vorgaben berücksichtigte und den gebotenen hohen Stil einhielt, lassen sich doch schon individuelle Eigenheiten erkennen, die seine dichterische Begabung spiegeln; dazu gehört die flexible Handhabung der Enjambements. Die beiden Eingangsstrophen verbinden das Motiv des jugendlichen Dichterehrgeizes, das für H. auch in späteren Jahren zentrale Bedeutung hatte, mit dem Ausdruck patriotischer Gesinnung, wie es für die Visite des Landesvaters zweifellos als angemessen galt: Lang wars der heiße inniggefühlte Wunsch Des Jünglings, lange –! oft der Gedank der Stund, Die feurig hinwiß zur Vollkommenheit – Wie ihm im Busen glühe die Ehrfurcht, Dirs hinzusagen! Aber der deutscheren Gemüthseröfnung winkte mit zärtlichem – Mit ihrem Mutterblik die Sittsamkeit Stille zu stehn – dem strömenden Danke. (MA I, 18)
In anderen Oden seiner Schulzeit und der ersten Tübinger Jahre gestaltet H. persönlichere Themen; mehrfach finden sich Liebes- und Freundschaftsgedichte, gerichtet an »Stella« (MA I, 19; 41) oder das Kollektiv der »Freundinnen« (MA I, 43). In der von H. vor Studienbeginn sorgfältig angelegten Sammlung seiner Gedichte, dem später so benannten Marbacher Quartheft, kommt der alkäischen Ode Mein Vorsaz. 1787 programmatische Bedeutung zu: Der junge Dichter schildert seinen Ehrgeiz und benennt in der mittleren der fünf Strophen mit originellen Komposita und in hyperbolischen Bildern seine historischen Vorbilder:
Ists heißer Durst nach Männervollkommenheit? Ists leises Geizen um Hekatombenlohn? Ists schwacher Schwung nach Pindars Flug? ists Kämpfendes Streben nach Klopstoksgröße? (MA I, 44)
Zu den poetischen Leitbildern H.s gehörten nicht allein die großen Namen der Literaturgeschichte, sondern auch lokale Dichter wie Johann Jakob Thill (1747–1772), den H. zu einem bewunderten Vorbild stilisierte. In den ersten Monaten seines Tübinger Studiums fand H. in seinem Kommilitonen Christian Ludwig Neuffer einen Gleichgesinnten in der Verehrung Thills. Zeugnis davon gibt die Ode An Thills Grab, die mit der behaupteten Erinnerung an das Begräbnis von H.s Vater einsetzt, der im selben Jahr wie Thill starb. H. war zu diesem Zeitpunkt allerdings erst zwei Jahre alt. Wenn man annimmt, dass der poetischen Schilderung tatsächlich ein biographisches Substrat zugrunde liegt, ist es wahrscheinlich, dass H. hier Eindrücke wiedergibt, die ihm von der Beerdigung seines Stiefvaters J. Chr. Gock (1748–1779) in Erinnerung geblieben waren (vgl. Schäfer 2005): Der Leichenreihen wandelte still hinan, Und Fakelnschimmer schien’ auf des Theuren Sarg, Und du, geliebte gute Mutter! Schautest entseelt aus der Jammerhütte, Als ich ein schwacher stammelnder Knabe noch, O Vater! lieber Seeliger! dich verlohr, Da fühlt’ ichs nicht, was du mir warst, doch Mißte dich bald der verlaßne Waise. (MA I, 72)
Die dritte Strophe leitet zur Klage über den frühen Tod des Dichters über: So weint’ ich leisen Knabengefühles schon, Der Wehmuth Träne über dein traurig Loos, Doch jezt, o Thill! jezt fühl’ ichs ernster, Schmerzender jezt über deinem Hügel, Was hier im Grab den Redlichen Suevias Verwest, den himmelnahenden Einsamen. Und, o mein Thill! du ließst sie Waisen? Eiltest so frühe dahin, du guter? (MA I, 72)
Nach dieser recht drastischen Schilderung der physischen Vergänglichkeit und drei weiteren Strophen endet die Ode mit einem hoffnungsvollen Ausblick und einem Lob der Freundschaft, in das – eine eindrück-
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liche Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod – sogar die »seeligen Gebeine« des Verstorbenen einbezogen werden. Effektvoll gilt das letzte Wort H.s gegenwärtigem Studienfreund: O Thill! Ich zage, denn er ist dornenvoll, Und noch so fern, der Pfad zur Vollkommenheit; Die Starken beugen ja ihr Haupt, wie Mag ihn erkämpfen der schwache Jüngling? Doch nein! Ich wag’s! es streitet zur Seite ja Ein felsentreuer, muthiger Bruder mir. O freut euch, seelige Gebeine! Über dem Nahmen! Es ist – mein Neufer. (MA 73)
29.7 Die Frankfurter Kurzoden Die Gruppe von zwölf kleinen Oden, die der 28-jährige H. im Juni 1798 von Frankfurt aus an Neuffer mit der Bitte um Veröffentlichung sandte, bilden ein Novum in seinem poetischen Œuvre: Nach der Werkgruppe der Tübinger Hymnen, die nach dem Vorbild Schillers oft zahlreiche gereimte Strophen im alternierenden Versmaß umfassen, folgen nun kleinere »Gedichtchen«, wie H. seine neuen Werke im Begleitbrief an Neuffer in einer Mischung aus Bescheidenheit und Selbstbewusstsein bezeichnete (MA II, 689). Charakteristisch für diese zwölf Gedichte – einige ähnlich gebaute folgten kurz darauf – ist die Verbindung der kunstvollen formalen Beherrschung der Odenform mit epigrammatischer Kürze. Es muss Spekulation bleiben, ob H.s Entscheidung für die kleine Form – keine dieser Oden umfasst mehr als drei Strophen, die meisten sind noch kürzer – auch auf Goethes (s. Kap. 13) Anregung zurückzuführen ist, dem H. im August 1797 in dessen Elternhaus am Frankfurter Hirschgraben seine Aufwartung gemacht hatte und der später an Schiller über dieses Treffen berichtete, er habe dem aufgeregten Besucher dazu geraten, »kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen« (vgl. Doering 2011). H.s epigrammatische Oden werden zumeist als zwar formal verwandte, aber doch jeweils selbstständige Gedichte aufgefasst. Demgegenüber wurde auch die These vertreten, dass H. sie in ihrer Gesamtheit als größeren, in sich strukturierten »Organismus« planmäßig angelegt habe (Gaier 1996). Das Themenspektrum der Frankfurter Kurzoden ist breit. Es umfasst neben individuellen Erlebnissen, insbesondere der Schilderung leidvoller Liebeserfah-
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rungen, auch mehrfach poetologische Erörterungen. In der programmatisch An die jungen Dichter gerichteten Ode bezieht sich H. ausdrücklich auf die griechische Antike als idealen Maßstab. Antike Frömmigkeit wird einer gärenden Sturm und Drang-Ästhetik entgegengesetzt, die in der ersten Strophe als Übergangsphänomen beschrieben wird, welches von reifer Kunst überwunden werden muss. Die Imperative der zweiten Strophe verdeutlichen, was mit der empfohlenen Haltung der Frömmigkeit gemeint ist: eine Hinwendung zu den ausdrücklich plural verstandenen Göttern, die im Einklang mit der »großen Natur« stehen. Extreme Emotionen – Rausch und Frost – sind zu vermeiden, ebenso, ähnlich wie es in der Vorrede des Hyperion am Beispiel des angemessenen Umgangs mit einer Blume entfaltet wird (MA I, 611), abstrakte Lehre und distanzlose Beschreibung. An die Stelle einer eventuell einschüchternden Wirkung des »Meisters« – womöglich sind hier Dichtervorbilder gemeint – tritt der verlässliche Rat der Natur. Das von Winckelmann etablierte ästhetische Ideal der ›edlen Einfalt, stillen Größe‹ klingt in dem Ziel reifer Kunst an: »Stille der Schönheit« (V. 3) verheißt Überwindung von Aufregung und Disharmonie und verspricht stattdessen Maß und Ausgleich, wie es seit Winckelmann geradezu reflexhaft der antiken Kunst zugeschrieben wurde: Lieben Brüder! es reift unsere Kunst vieleicht Da, wie ein Jüngling, sie lange genug gegährt, Bald zur Stille der Schönheit; Seid nur fromm, wie der Grieche war! Liebt die Götter und denkt freundlich der Sterblichen! Haßt den Rausch, wie den Frost! lehrt und beschreibet nichts! Wenn der Meister euch ängstigt, Fragt die große Natur um Rath. (MA I, 193)
Das Stilideal der Kürze wird in einer anderen der Frankfurter Oden zur tatsächlichen Problemstellung, die in den acht Versen der kleinen Oden erst entfaltet und anschließend beantwortet wird; Form und Inhalt kommentieren sich wechselseitig. Auffällig ist wiederum die flexible Handhabung der Mittelzäsur in den jeweils ersten beiden Versen der asklepiadeischen Strophe: In den Versen 1, 2 und 5 fällt der obligatorische Hebungsprall mit einem Satzende zusammen; der metrischen Zäsur entspricht stets auch eine syntaktische Grenze. Anders verhält es sich in Vers 6, der drei Kola umfasst, deren erstes durch das Enjambement
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mit Ende des vorangehenden Verses verbunden ist. Das kurze mittlere Kolon (»Hinweg ists!«) besteht aus nur zwei Wörtern. Die metrische Struktur mit der Aufeinanderfolge der beiden betonten Silben (v – | –) verleiht dem hier semantisch schwachen Verb besondere Schwere. Dem in der zweiten Strophe beschriebenen Verlust des früheren Glücks korrespondiert somit die unharmonische, dem natürlichen Sprechrhythmus widerstrebende Betonung: »Warum bist du so kurz? liebst du, wie vormals, denn »Nun nicht mehr den Gesang? fandst du, als Jüngling, doch, »In den Tagen der Hoffnung, »Wenn du sangest, das Ende nie! Wie mein Glük, ist mein Lied. – Willst du im Abendroth Froh dich baden? hinweg ists! und die Erd’ ist kalt, Und der Vogel der Nacht schwirrt Unbequem vor das Auge dir. (MA I, 190)
Einen vergleichbaren dialogischen Aufbau – Fragestellung in der ersten und Beantwortung in der zweiten Strophe – hat die ebenfalls asklepiadeische Ode Sokrates und Alcibiades. H. nutzt hier die epigrammatischen Ausdrucksmöglichkeiten besonders intensiv: Die Antwort mit dem paradoxen Bekenntnis des Weisen zur Schönheit erfolgt in gnomischer Verdichtung. Drei knappe Aussagesätze mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit fassen das Bekenntnis des Sprechers zusammen. Der Verzicht auf argumentierende Konjunktionen oder relativierende Adverbien, wie H. sie an anderer Stelle gern handhabt, unterstreicht den Anspruch des Gesagten auf absolute Geltung: »Warum huldigest du, heiliger Sokrates, »Diesem Jünglinge stets? kennest du Größers nicht? »Warum siehet mit Liebe, »Wie auf Götter, dein Aug’ auf ihn? Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblikt Und es neigen die Weisen Oft am Ende zu Schönem sich. (MA I, 196)
Einzelne der Frankfurter Kurzoden, die formal und inhaltlich in sich geschlossen sind und keinerlei Hinweis darauf geben, dass sie auf eine mögliche Erweiterung angelegt sind, nahm H. in späteren Jahren zum Ausgang von nun deutlich umfangreicheren Gedichten, die – unter Beibehaltung der Odenform – ver-
änderten poetologischen Konzepten folgen. Im Zuge dieser amplifizierenden Überarbeitungen wird jeweils die epigrammatische, gnomische Struktur aufgebrochen. Die längeren Gedichte sind nunmehr narrativ angelegt; sie werden zu biographischen, historischen und mythologischen Erzählungen. Anschaulich wird das Verfahren der narrativen Erweiterung an der Ode Die Liebenden, die – so die Konzeption der Frankfurter Zeit – aus einer einzigen Strophe besteht: Trennen wollten wir uns, wähnten es gut und klug; Da wir’s thaten, warum schrökt’ uns, wie Mord, die That?; Ach! wir kennen uns wenig, Denn es waltet ein Gott in uns. (MA I, 191)
Obwohl von einer dramatischen Liebeserfahrung und von dem schmerzhaften Entschluss zur Trennung die Rede ist, vermittelt der kunstvolle Bau der Strophe den Eindruck von Harmonie, der im Kontrast zu der geschilderten Beziehungsdynamik steht. Dazu gehören klangliche Entsprechungen – die dreifache U-Assonanz in den monosyllabischenWörtern am Ende des ersten Verses – und Wortwiederholungen: Das zentrale Pronomen »uns« erscheint viermal, also in jedem Vers, dazu an der exponierten Stelle der allerletzten Silbe. Die sentenzhafte Einsicht am Ende unterstellt das eigene Erleben göttlicher Fügung. Wer so spricht, scheint mit sich im Einklang und mit seinem Schicksal versöhnt. Bei der Erweiterung der einstrophigen Ode im Sommer 1800 unter dem neuen Titel Der Abschied (MA I, 325 f.) übernahm H. die zunächst selbstständige Einzelstrophe nahezu unverändert und ergänzte sie um acht weitere Strophen, die in komplexer Zeitstruktur – der Bogen geht von der Vergangenheit bis in die als idyllisch antizipierte Zukunft – eine mythologische Erklärung für das traumatische Erleben der Gegenwart geben. Die ursprüngliche Zustandsbeschreibung wird in eine Erzählung transponiert, deren glückliches Ende in der Zukunft liegt und nur im Modus des Wunsches antizipiert werden kann; Narration tritt an die Stelle von Deskription. Ähnlich umfangreiche strukturelle Erweiterungen gelten auch für die Umarbeitungen von Lebenslauf (MA I, 190 und 325) Die Heimath (MA I, 191 und 323), Das Unverzeihliche (MA I, 192; in der Überarbeitung: Die Liebe, MA I, 324) sowie Ihre Genesung (MA I, 192 und 257). Ein komplementäres Verfahren, nämlich das der Konzentration und Verknappung auf
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zentrale Gedanken, verfolgte H. bei der Überarbeitung der zunächst vierstrophigen Ode Dem Sonnengott (MA I, 194) zu dem zweistrophigen Sonnenuntergang (MA I, 226).
29.8 Die Oden der Homburger und Stuttgarter Zeit Die 1800 in Neuffers Taschenbuch für Frauenzimmer veröffentlichte Ode Der Tod fürs Vaterland ist heute die umstrittenste, ja berüchtigtste Ode H.s. Das liegt in ihrer Rezeptionsgeschichte begründet, deren problematischster Abschnitt die »nationalsozialistische Aneignung« (Koch 2010, 61) ist. Durch diese ideologische Vereinnahmung, die mit einer umfassenden Fehldeutung, ja inhaltlichen »Verfälschung« einhergeht (Koch 2010, 61), wird eine angemessene historische Kontextualisierung der Ode bis heute erschwert, trotz der sorgfältigen und umsichtigen Erläuterungen, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind. Tatsächlich ist es historisch unangemessen, H.s Ode als Plädoyer für völkische Politik zu verstehen und sie zu einer Verklärung des soldatischen Heldentodes im Dienste einer totalitären Ideologie zu nutzen. Genau dies war indes der Fall, als beim Bau des Berliner Olympiastadions 1936 die Schlussverse der Ode in die Wand einer Seitenhalle gemeißelt wurden. H. wurde als Befürworter des nationalistisch überhöhten Heldentodes instrumentalisiert: »Lebe droben, o Vaterland,/ Und zähle nicht die Todten! dir ist,/ Liebes! nicht Einer zu viel gefallen.« (MA I, 226). Eine um zwei Strophen längere Vorstufe der Ode trägt den Titel Die Schlacht (MA I, 187 f.). Hier und in den frühen Entwürfen, die bis auf das Jahr 1796/97 zurückgehen, ist die semantische Opposition von »Vaterland« und seinen »Kindern« (MA I, 187) zentral. Im Kontext des späten 18. Jahrhunderts bezieht sich diese Gegenüberstellung auf den Kampf der Landeskinder gegen ihre eigenen Unterdrücker, nicht auf die nationalistische Aggression gegenüber fremden Völkern, wie H.s Ode im 20. Jahrhundert gedeutet wurde. Für H. verweist der semantisch aufgeladene Begriff ›Vaterland‹ auf das französische Wort ›Patrie‹, das in der Französischen Revolution zum Schlagwort für die Befreiung von despotischer Vorherrschaft wurde. So spielt H. mit dem Kompositum »Vaterlandsgesänge« (V. 7) auf die Marseillaise an, die die »Kinder des Vaterlandes« (»Enfants de la Patrie«) zum bewaffneten Kampf aufrief. Der Anspielungsrahmen der Ode geht jedoch weit über die zeitgenössische po-
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litische Lyrik hinaus. Der Topos des ruhmvollen Todes für das Vaterland reicht bis in die griechische Antike zurück. Horaz stellte sich mit dem Vers »dulce et decorum est pro patria mori« (carm. III.2, V. 13), der H. und seinen Zeitgenossen vertraut war, in diese Tradition (vgl. Koch 2010, 67). Freilich kann auch ein ausführlicher Kommentar, der die historischen und poetischen Koordinaten von H.s Ode erläutert, nicht alle Schwierigkeiten ausräumen, die das Gedicht heutigem Verständnis bereitet. Gründe dafür liegen in dem Topos des ruhmreichen Todes, in dem appellativen Charakter der Ode, die sich selbstreflexiv in die Reihe der »Vaterlandsgesänge« stellt, und nicht zuletzt in dem »vergleichsweise abstrakte[n] Charakter der Endfassung (Koch 2010, 66). H. beschreibt ein stilisiertes Schlachtgeschehen, das endzeitlichen Charakter hat und in dem zwei Parteien, die keinerlei individuelle Züge tragen (»Jünglinge« und »Würger«), aufeinandertreffen. Die geschilderte Schlacht findet auf keinem realistisch geschilderten Terrain statt, vielmehr wird ein modellhafter Schauplatz entworfen, der sich an der heilsgeschichtlich bedeutsamen Gegenüberstellung von Oben und Unten orientiert und an die christliche Semantik von Himmel und Hölle erinnert: Du kömmst, o Schlacht! schon woogen die Jünglinge Hinab von ihren Hügeln, hinab in’s Thal, Wo kek herauf die Würger dringen, Sicher der Kunst und des Arms, doch sichrer Kömmt über sie die Seele der Jünglinge, Denn die Gerechten schlagen, wie Zauberer, Und ihre Vaterlandsgesänge Lähmen die Kniee den Ehrelosen. (MA I, 225)
Der Sänger der Ode gibt sich erst nach dieser Beschreibung des Schlacht-Panoramas als Person zu erkennen. Doch wird gerade nicht seine Individualität zur Sprache gebracht, sondern allein sein Wunsch, in das Kollektiv der auf der richtigen Seite kämpfenden »Jünglinge« aufgenommen zu werden. In der Mitte der Ode, im Übergang zwischen der dritten und vierten Strophe, wird die Sehnsucht des Sängers nach einem Tod deutlich, der durch ein höheres Ziel legitimiert wird und so das eigene Leben der vermeintlichen Belanglosigkeit enthebt. Das Sterben für das Vaterland, die Selbstaufopferung für das höhere Gut, erscheint in dieser Perspektive als Garant eines das Irdische transzendierenden Sinnes. In der pathetischen Erwähnung des vergossenen Herzblutes schwingt eine
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Anspielung auf die christliche Abendmahlsliturgie und Christi Opfertod mit: O nimmt mich, nimmt mich mit in die Reihen auf, Damit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods! Umsonst zu sterben, lieb’ ich nicht, doch Lieb’ ich, zu fallen am Opferhügel Für’s Vaterland, zu bluten des Herzens Blut Für’s Vaterland! (MA I, 225 f.)
So sehr eine sorgfältige Kontextualisierung und Kommentierung dieser Ode auch zeigen kann, dass H. mit Der Tod fürs Vaterland keinesfalls nationalistische, gar völkische Ideen vertrat, bleiben das Opferpathos, die Feier des Todes für das Vaterland und die starke Stilisierung der endzeitlichen Schlacht heutigen Lesern fremd. Anknüpfungspunkte für die spätere ideologische Rezeption sind im Wortlaut des Textes durchaus angelegt. In den Jahren 1799 bis 1801 verfasste H. eine größere Zahl von Oden, von denen viele ›idyllische‹ Themen gestalten. Dazu gehören Landschafts- und Naturbeschreibungen sowie der Lobpreis einfacher, ländlicher Lebensformen, denen die Unrast und Heimatlosigkeit des Dichters entgegengesetzt wird. Dieser Kontrast bestimmt u. a. die Ode Mein Eigentum, deren Eingangsstrophen ein friedliches Bild des Herbstes als Zeit der Reife und der Ernte entwerfen: In seiner Fülle ruhet der Herbsttag nun, Geläutert ist die Traub und der Hain ist roth Vom Obst, wenn schon der holden Blüthen Manche der Erde zum Danke fielen. Und rings im Felde, wo ich den Pfad hinaus Den stillen wandle, ist den Zufriedenen Ihr Gut gereift, und viel der frohen Mühe gewähret der Reichtum ihnen. (MA I, 237).
Der Kontrast zwischen dem Kollektiv der »Zufriedenen«, die im Einklang mit dem jahreszeitlichen Wechsel von Aussaat und Ernte leben, und dem sich außerhalb der Gemeinschaft bewegenden Ich wird in den folgenden Strophen weiter entfaltet. Wie so oft stellt H. dabei das ruhelose Leben des Dichters dem sesshaften Leben gegenüber. Die Schlusspartie der Ode wird getragen von der zuversichtlichen Bitte, dass die Dichtung ein dauerhaftes »Asyl« sein könne, das dem einsamen und heimatlosen Sänger Schutz vor den Widrigkeiten der wechselhaften Zeitumstände bietet.
Und daß auch mir zu retten mein sterblich Herz Wie andern eine bleibende Stätte sei Und heimathlos die Seele mir nicht Über das Leben hinweg sich sehne Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du Beglükender! mit sorgender Liebe mir Gepflegt, der Garten, wo ich, wandelnd Unter den Blüthen, den immerjungen In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir Mit ihren Wellen alle die mächtge Zeit Die Wandelbare fern rauscht und die Stillere Sonne mein Wirken fördert. Ihr seegnet gütig über den Sterblichen Ihr Himmelskräfte! jedem sein Eigentum, O seegnet meines auch und daß zu Frühe die Parze den Traum nicht ende. (MA I, 238)
Derselbe Kontrast zwischen der Zufriedenheit des ländlichen Lebens, das im Einklang mit den natürlichen Zeitrhythmen verläuft, und der Ruhelosigkeit des Sprechers bestimmt auch den Spannungsaufbau von Abendphantasie, einer der meistzitierten und -interpretierten Oden H.s. Die beiden ersten Strophen beschreiben in ruhigen Satzbögen die Situation des friedlichen Feierabends: zunächst in der dörflichen Sphäre, wo »der Pflüger«, idealtypisch das Landleben verkörpernd, »vor seiner Hütte ruhig im Schatten sizt« (MA I, 230), dann in »fernen Städten«, wo Handelsreisende und Kaufleute zur Ruhe kommen und »Freunde« sich um das »gesellige Mahl« versammeln. Nach diesen idyllischen Schilderungen – mit Blick auf H.s Überlegungen zur »tragischen Ode« könnte man von einem »Übermaas der Innigkeit« (MA I, 865) sprechen – setzt die dritte Strophe mit einem mehrfachen Bruch ein. Unvermittelt macht der Sprecher nun seine eigene Ortlosigkeit zum Thema, da er weder einen festen, ruhenden Standort noch eine Zielrichtung für seine Sehnsucht kennt. Den ruhigen Aussagesätzen der Eingangsstrophen stehen jetzt unvermittelt Fragen gegenüber, deren erste durch den elliptischen Bau besondere Dringlichkeit erhält (vgl. Doering 1992): Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh’ und Ruh’ Ist alles freudig; warum schläft denn Nimmer nur mir in der Brust der Stachel? (MA I, 230)
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Eine Antwort auf die Frage nach dem »Wohin« gibt nur vordergründig die vierte Strophe, die den Blick des Sprechers nun in die Vertikale, an den Abendhimmel lenkt, an dem die herabsinkende Sonne mit einem Naturbild des Anfangs beschrieben wird: »Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf« (V. 13). Das in derselben Strophe genannte Richtungsadverb »dorthin« scheint, auch aufgrund seiner parallelen syntaktischen Struktur, die drängende Frage nach dem »Wohin« zunächst zu beantworten: »o dorthin nimmt mich,/ Purpurne Wolken!« (V. 15 f.) Der Wunsch des Sprechers, an den blühenden Abendhimmel versetzt zu werden, um »droben« (V. 16) von seinen irdischen Sorgen aus »Lieb’ und Laid« (V. 17) erlöst zu werden, erweist sich indes als trügerische Illusion: »Doch, wie verscheucht von thöriger Bitte, flieht/ Der Zauber; dunkel wird’s und einsam/ Unter dem Himmel, wie immer, bin ich –« (V. 18–20). Nachdem sich der erhoffte Ausweg nach oben, an den Himmel, als unzugänglich erweist, wechselt die Schlussstrophe der Ode die Bezugsdimension: An die Stelle der räumlichen Ferne tritt nun die zeitliche Distanz – mit der Hoffnung, dass ihre Überwindung die ersehnte Erfüllung und Ruhe bringen möge: Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter. (MA I, 231)
Parallel mit der Abendphantasie erschien die ebenfalls alkäische Ode Des Morgens, die mit der Schilderung des Sonnenaufgangs und des morgendlichen Erwachens in der Natur sowie zahlreichen Bewegungsverben nicht nur einen inhaltlichen Kontrast zu der zuvor entworfenen umfassenden ruhigen Abendstimmung bietet, sondern auch einen wesentlich bewegteren Rhythmus aufweist. Enjambements und drei Semikola in der ersten Strophe, die jeweils den Abschluss eines Satzes im Versinneren markieren, bewirken eine starke Dynamik. Die Gegenüberstellung dieser thematisch verwandten Oden illustriert, wie intensiv H. die Möglichkeiten der rhythmischen Variation der Odenmaße nutzte. Vom Thaue glänzt der Rasen; beweglicher Eilt schon die wache Quelle; die Buche neigt Ihr schwankes Haupt und im Geblätter Rauscht es und schimmert; und um die grauen Gewölke streifen röthliche Flammen dort, Verkündende, sie wallen geräuschlos auf;
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Wie Fluthen am Gestade, woogen Höher und höher die Wandelbaren. (MA I, 231)
Mit der 1800 erschienenen asklepiadeischen Ode Heidelberg stellt H. sich in die antike Tradition des Städtelobs. Die topographische Anlage Heidelbergs mit der harmonischen Verbindung von Fluss, Gebirge, Ebene, Schlossruine und Stadt war ihm aus eigener Anschauung vertraut. In der lyrischen Zusammenschau fügte er diese Elemente zu einem Gesamtbild, das denselben Regeln der ästhetischen Anordnung folgt, wie sie aus der Landschaftsmalerei bekannt sind. Zugleich geht H. über die Verfahren der Idealisierung und Ästhetisierung einer realen Landschaft hinaus, indem er das Lob Heidelbergs von Beginn an mit der Dimension der subjektiven Empfindung verbindet. Bereits die ersten Verse der Ode lassen keinen Zweifel an der emotionalen Bindung des Sprechers an sein Gegenüber. Hier spricht ein Liebender, der »Lust« aus seiner Hingabe schöpft und sich in engste Verbindung zur angeredeten Stadt bringt, indem er sie sich zu Mutter erwählt. Der dritte Vers stellt dem Bild der Mutter das des Vaterlandes entgegen, womit hier H.s engere Heimat Schwaben gemeint ist, deren Städte und Flüsse er oft in seiner Lyrik rühmt; die Ode Der Nekar beispielsweise erschien zusammen mit Heidelberg in derselben Ausgabe des Taschenkalenders Aglaia. Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust, Mutter nennen und dir schenken ein kunstlos Lied, Du der Vaterlandsstädte Ländlichschönste, so viel ich sah. (MA I, 252)
Die zweite, ebenfalls im Präsens formulierte Strophe scheint mit der Beschreibung der Brücke zwar ein objektives und zeitenthobenes Bild der Stadt zu geben, wie man es auch auf den zahlreichen Stichen, Zeichnungen oder Gouachen der Zeit finden kann. Die Subjektivität des Betrachters indes offenbart sich hier in dem ungewöhnlichen Vergleich, der die feste Statik des Bauwerks als graziöse Bewegung erscheinen lässt, indem die geschwungene Form der Brücke – mehrere einzelne Bögen fügen sich ihrerseits zu einer geschwungenen Linie, die den Fluss überspannt – dem Flug eines Vogels gleichgesetzt wird. Wie der Vogel des Walds über die Gipfel fliegt, Schwingt sich über den Strom, wo er vorbei dir glänzt Leicht und kräftig die Brüke Die von Wagen und Menschen tönt. (MA I, 252)
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Nachdem die Neckarbrücke so als zentraler Ort des dynamischen Übergangs und als kunstvolles Gebilde beschrieben wurde, wechselt das Tempus der Beschreibung. Im Präteritum schildert der Sprecher nun ein einmaliges Ereignis aus seiner Vergangenheit, einen erfüllten Moment intensiven Erlebens, der ihm mitten auf dieser Brücke zuteilwurde. Erneut bemüht das lyrische Ich einen Vergleich zur Veranschaulichung seiner Gedanken: »Wie von Göttern gesandt, fesselt ein Zauber einst/ Auf der Brüke mich an« (V. 9 f.). Wo Götter bemüht werden, sind die realen Bewohner der Stadt weit; tatsächlich erwähnt H. bis zum Ende der Ode keinen einzigen der »Menschen« (V. 8), von denen zuvor die Rede war. Vielmehr scheint sich alles nun folgende Erleben ausschließlich zwischen dem Sprecher und der ihn umgebenden Stadt sowie ihrer Topographie zu vollziehen. Diese völlige Ausblendung des städtischen Lebens ist Teil des beschriebenen »Zaubers«, der das sprechende Ich allein trifft und es aus allen sozialen Bezügen heraushebt. Die folgenden Strophen – sie sind bis auf das allerletzte Wort der Ode weiter im Präteritum gehalten – spiegeln das Bemühen, dem herausgehobenen Moment auf der Brücke durch die nachträgliche Beschreibung Dauer zu verleihen. Zur Identifikationsfigur für das lyrische Ich, das in der Mitte der Brücke, im Schnittpunkt der drei Raumachsen verharrt, wird der unter ihm dahinfließende »Strom« , der unvermittelt mit einem »Jüngling« (V. 13) gleichgesetzt wird und stellvertretend für das Ich in die Ferne zieht. Das Oxymoron »traurigfroh« (V. 14), eine Neuschöpfung H.s, charakterisiert treffend die Gestimmtheit dieses Aufbruchs: Die verführerische Ferne bedeutet Reiz des Neuen und zugleich Verlust des Vertrauten. Die fünfte Strophe lenkt mit dem Wechsel des grammatischen Subjekts den Blick des Betrachters zurück auf die Stadt und die Ufer, die »Gestade« (V. 18) des Flusses. Das Geschenk der Stadt an den »Flüchtigen« (V. 17) – Quellen und kühle Schatten – betont zum einen erneut die idyllischen Elemente der idealen Landschaft, zum anderen charakterisiert sie das angeredete Heidelberg als freigebig und großmütig liebend, da es auch den davoneilenden Jüngling noch mit einer Gabe bedenkt. Die Erwähnung des »Schenkens« (V. 18) korrespondiert dem Wunsch des Sprechers in Vers 2 und macht deutlich, dass das dort angekündigte Geschenk an die Stadt tatsächlich eine Gegengabe auf ihr viel früher erfolgtes Geschenk der Landschaft an den Fluss ist. Die Beschreibung der Ufer, die ihren Platz nicht verlassen, sondern allein dem Fluss nachsehen, der immerhin ihr »Bild« (V. 20) mit sich fortträgt, lenkt den Blick zu-
rück auf die Topographie der Stadt, die im Zentrum der restlichen drei Strophen steht. Dabei vollzieht sich ein erneuter Perspektivwechsel. Während der Blick des Betrachters im Mittelteil der Ode mit dem Fluss in die Ferne gerichtet war, wendet er sich jetzt in die Vertikale, hinauf zu der »gigantischen« Burg (V. 21), der alten Heidelberger Schlossruine also, und über sie hinweg bis an den Himmel und das Zentralgestirn der Sonne. Nachdem so der höchste Punkt der Betrachtung erreicht ist, lenkt der Sprecher seinen Blick über mehrere Stationen – die alternde Burg, die sie umgebenden Wälder, die Gärten – zurück in die Stadt und ihre Gassen, die dem Ufer »hold« sind (V. 30), ihm zugeneigt, wie man die Formulierung plausibel erklärt hat (Henrich 1986, 27). Das letzte Wort des Gedichts, das Verb »ruhn«, führt nach der Schilderung der Vergangenheit zurück in die Gegenwart der ersten Strophe und verklammert so die beiden Zeitebenen des Gedichts in der Versicherung friedvoller Ruhe. Die Synkopierung des in der Grundform zweisilbigen Wortes lässt das derart verkürzte Verb mit der letzten vom Versmaß geforderten Betonungsstelle zusammenfallen; auch der Versrhythmus führt die Ode somit zu einem markanten Abschluss. Die Selbstverständigung über die eigene Aufgabe als Dichter und seine isolierte Rolle in einer pragmatisch orientierten Umgebung ist ein zentrales Thema auch in H.s Oden. Die wechselnden Versuche einer Positionsbestimmung, die mit der zunehmenden Verunsicherung über die eigenen Möglichkeiten einhergeht, motivieren die Überarbeitungsstufen einer Ode, der H. zunächst den programmatischen Titel Dichtermuth gab. Am Eingang des Gedichts stehen die Zuversicht der eigenen Stellung und übermenschlichen Beauftragung sowie der frohe Appell, unbekümmert durch das Leben zu gehen. Kraft der Berufung zum Dichter können ihm alle Widerfahrnisse zum Segen werden: Sind denn dir nicht verwandt; alle Lebendigen, Nährt die Parze denn nicht selber zum Dienste dich? Drum! so wandle nur wehrlos Fort durchs Leben und sorge nicht! Was geschiehet, es sei alles geseegnet dir Sei zur Freude gewandt, oder was könnte denn Dich belaidigen, Herz, was Da begegnen, wohin du sollst? (MA I, 275)
In der Überarbeitung, die 1806 in dem Zyklus der Nachtgesänge erschien, trägt die Ode den erklärungsbedürftigen Titel Blödigkeit. Dieser Begriff hat seit
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dem 18. Jahrhundert einen starken Bedeutungswandel erfahren; zu H.s Zeit beschrieb er eine Haltung von Schüchternheit und sozialer Unerfahrenheit (Stanitzek 1989). Der selbstgewisse »Mut« des Dichters ist also einer zunehmenden Verunsicherung über seine Möglichkeiten gewichen. Dem entspricht u. a. die Abmilderung der Möglichkeit des allgegenwärtigen Segens: »Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!« (MA I, 443) Die Unmittelbarkeit der göttlichen Beauftragung des Dichters erscheint nun nicht mehr gegeben. Mit diesem Wandel des Selbstverständnisses geht eine starke Veränderung des Satzflusses einher; die Syntax bewegt sich streckenweise an der Grenze der unmittelbaren Verständlichkeit. Die in früheren Oden oft so geschmeidig gehandhabte Korrespondenz von natürlichem Satzbau und Metrum wird aufgegeben. Eine Erfassung des Sinns erfordert konzentrierte und wiederholte Lektüre (vgl. Kreuzer 2009): Gut auch sind und geschikt einem zu etwas wir, Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himm lischen Einen bringen. Doch selber Bringen schikliche Hände wir. (MA I, 444)
Ähnliche sprachliche und inhaltliche Schroffheiten, für die sich der von N. v. Hellingrath eingeführte Begriff der »harten Fügung« etabliert hat, finden sich innerhalb der Nachtgesänge auch in zwei anderen Überarbeitungen früherer Oden: Chiron (MA I, 439 f., zuvor: Der blinde Sänger, MA I, 281 f.) sowie Ganymed (MA I, 444 f., zuvor: Der gefesselte Strom, MA I, 279). Diese späten Oden und der Versuch ihrer Kontextualisierung in H.s Spätwerk haben eine Reihe unterschiedlicher, teilweise stark kontrovers diskutierter Deutungen hervorgebracht; den Auftakt dazu machte J. Schmidt mit der These von H.s »spätem Widerruf« (Schmidt 1978).
29.9 Dichtungen nach 1806 Auch während seiner Zeit im Tübinger Turm knüpfte H. vereinzelt an seine umfangreiche frühe Odendichtung an. Die umfangreiche alkäische Ode Wenn aus der Ferne ist ein Rollengedicht, für das es kein Vorbild unter den älteren Oden gibt. Die imaginierte Sprecherin ist eine Verstorbene, die sich aus dem Jenseits an den früheren Geliebten wendet: Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind, Ich dir noch kennbar bin, die Vergangenheit
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O du Theilhaber meiner Leiden! Einiges Gute bezeichnen dir kann, So sage, wie erwartet die Freundin dich In jenen Gärten, da nach entsezlicher Und dunkler Zeit wir uns gefunden? Hier an den Strömen der heilgen Urwelt. (MA I, 911 f.)
Der Rückblick auf das gemeinsame Leben entwirft ein idyllisches Naturbild, auf das die Sprecherin versöhnt zurückschaut. Während frühere Oden, etwa die Abendphantasie, fragend und wünschend die Zukunft antizipieren, erfolgt hier aus der zukünftigen Perspektive der »Urwelt« der Rückblick auf eine erfüllte Vergangenheit: Wars Frühling? war es Sommer? die Nachtigall Mit süßem Liede lebte mit Vögeln, die Nicht ferne waren im Gebüsche Und mit Gerüchen umgaben Bäum’ uns. (MA I, 912)
Eine der letzten Oden H.s ist »An Zimmern« gerichtet, in dessen Haus der Kranke als ›Pflegsohn‹ lebte. Gegenüber der komplexen Syntax der Nachtgesänge finden sich hier schlichtere Aussagesätze und Fragen. Am Ende steht eine chiffrenhafte mythologische Anspielung, deren Sinn dunkel bleibt. Deutlich ist dennoch die Gewissheit des Sprechers, die »Wahrheit« unmittelbar offenbaren zu können. H.s Vertrauen in die poetische Aussagekraft der Ode als dichterischer Form durchzieht somit die gesamte Zeit seines lyrischen Schaffens. Von einem Menschen sag ich, wenn der ist gut Und weise was bedarf er? Ist irgend eins Das einer Seele gnüget? ist ein Haben, ist Eine gereifteste Reb’ auf Erden Gewachsen, die ihn nähre? Der Sinn ist deß Also. Ein Freund ist oft die Geliebte, viel Die Kunst. O Theurer, dir sag ich die Wahrheit. Dedalus Geist und des Walds ist deiner. (MA I, 915)
Literatur
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Sabine Doering
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30 Elegien 30.1 Elegie und Epigramm Im ausgehenden 18. Jh. wird das antike Genre der Elegie, das über das Mittelalter hindurch und im Barock in ganz verschiedenen Ausformulierungen gepflegt worden ist, in der strengen Form der elegischen Distichen wiederentdeckt. Ein Vorläufer dieser Wiederentdeckung ist Gottlieb Friedrich Klopstock mit seiner Elegie von 1748, die später unter dem Titel Die künftige Geliebte bekannt wird. Als Goethes schon Ende der achtziger Jahre entstandene Römische Elegien 1795 erstmals in den Horen publiziert werden, hat dies eine Signalwirkung für die deutschsprachige antikisierende Dichtung. Schiller schreibt 1795 nicht nur das programmatische Gedicht Elegie (später Der Spaziergang), sondern gibt auch in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung, die ebenfalls in den Horen 1795 und 1796 publiziert wird, eine philosophisch begründete gattungspoetische Bestimmung, die im Grunde auch normative Geltung beansprucht. Neben der theoretischen Spekulation über das Genre der Elegie, die in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s seit Klopstock und Herder wieder vermehrt im Gespräch ist, wird aber auch die praktische Elegiendichtung rege betrieben und führt in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende zu einer intensiven Konjunktur der antiken Form. Die Faszination, welche die Elegie als poetische Form auf der Höhe des deutschen Klassizismus ausstrahlt, verdankt sich einerseits einer gewissen Vieldeutigkeit des Genres, andererseits der gleichsam dialektischen Beziehung zum Epigramm. Das Epigramm als kleine, pointierte Form, die vor allem durch die Wiederverwendung in den Zahmen Xenien von Goethe und Schiller 1796 zu einem fast inflationären Mittel der Literaturpolemik wird, ist ursprünglich – wie es der Name auch sagt – eine »Aufschrift«. Es steht in der Tradition der Sinnsprüche und Grabinschriften und wird auch von H. in diesem Sinn verwendet, so z. B. in dem aus drei Distichen bestehenden Gedicht Die Entschlafenen (FHA 6, 264). Aber H. erprobt auch die räsonierende Spielart des Kurzgedichts in einigen polemischen Epigrammen, die allerdings erst ein Jahrhundert später aus dem Nachlass veröffentlicht werden (FHA 6, 77–83). Eines davon richtet sich anscheinend direkt an Schiller (s. Kap. 11), der H. im Brief vom 24. November 1796 geraten hatte, der »Sinnenwelt näher« zu bleiben:
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Die beschreibende Poesie. Wißt! Apoll ist der Gott der Zeitungsschreiber gewor den Und sein Mann ist, wer ihm treulich das Factum er zählt. (FHA 6, 83)
Dasselbe metrische Schema, das Distichon, welches durch die markante Mittelzäsur im zweiten Vers für griffige Formulierungen polemischer oder geistreich pointierender Epigramme besonders geeignet ist, liegt auch der klassischen Elegie zugrunde, entfaltet dort aber eine ganz anders geartete Wirkung: es pointiert nicht, sondern führt zu einem getragenen, kontemplativen Rhythmus (s. Kap. 18). Das metrische Schema des elegischen Distichons besteht aus Hexameter und Pentameter und zeigt eine große rhythmische Variabilität. Der Hexameter kennt verschiedene Positionen der Zäsur, der Pentameter hat nur die charakteristische, fixe Zäsur in der Mitte. Im Hexameter können einzelne Daktylen durch Spondeen ersetzt werden, im Pentameter ist dies nur im ersten Teil des Verses erlaubt. Die Bezeichnung Elegie kommt aus dem Lateinischen, wo »elegia« eine Zusammenfassung der griechischen Begriffe »elegeía« (als Bezeichnung für ein aus mehreren Distichen, »elegeîon«, bestehendes Gedicht) und der inhaltlichen Bestimmung »élegos« (»Totenklage«, »Klagelied«) darstellt. Die Elegie behandelt Themen der Liebe als »erotische Elegie« oder Gegenstände der Klage und der Trauer als »threnetische Elegie«. Diese doppelte Disponibilität der Elegie als Form führt zu weiteren thematischen Differenzierungen: So kann die Elegie auch als paränetisches Genre der lehrhaften Ermahnung oder der politischen Betrachtung dienen, bis hin zum reinen Lehrgedicht (etwa in Goethes Elegie Die Metamorphose der Pflanzen von 1798).
30.2 Der Wanderer Wenn H. nun am 20. Juli 1797 seine erste Elegie Der Wanderer (zusammen mit dem Hexameter-Gedicht An den Äther) an Schiller schickt in der Hoffnung auf eine Publikation in den Horen, dann bedeutet das einen Versuch H.s, an der aktuellen literarischen Situation teilzuhaben und die eigene poetische Kraft in einem schwierigen und auch theoretisch anspruchsvollen Genre zu beweisen. Der Weg zur Anerkennung als aktueller Dichter führt über Schiller und die Zeitschrift Die Horen. Dort erscheint dann auch 1797, im
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_30
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»Sechsten Stück«, H.s Elegie Der Wanderer – allerdings ohne Namensnennung des Dichters. Es kann kein Zweifel sein, dass Schiller an einigen Stellen in H.s Gedicht eigenhändig eingegriffen hat. So findet sich sowohl im erhaltenen Entwurf H.s als auch in der Reinschrift die folgende Textpassage: »Ach! hier sprang, wie ein sprudelnder Quell, der unendliche Wald nicht/ In die tönende Luft üppig und herrlich empor./ Hier frolokten die Jünglinge nicht, die stürzenden Bäche/ Ins jungfräuliche Thal hoffend und liebend herab.« (II, V. 5–8, FHA 6, 55) Wahrscheinlich standen diese Verse auch so in der (nicht erhaltenen) Druckvorlage H.s, die Schiller für die Horen-Fassung redigiert hat. Im Erstdruck liest man aber (die Kursivierungen markieren die mutmaßlichen Eingriffe Schillers): »Ach! nicht sprang, mit erfrischendem Grün der schattende Wald hier/ In die säuselnde Luft üppig und herrlich empor,/ Bäche stürzten hier nicht in melodischem Fall vom Gebirge,/ Durch das blühende Thal schlingend den silbernen Strom,« (III, V. 5–8, FHA 6, 59). Die Auseinandersetzung Schillers mit H.s erster Elegie ist durch den Briefwechsel mit Goethe gut dokumentiert (vgl. FHA 6, 57–61); sie zeigt, wie sich H.s neuer poetischer Ton – trotz aller Anstrengungen des jungen Dichters – mit den ästhetischen Vorgaben des Weimarer Klassizismus nicht wirklich vereinbaren lässt. Seinem Bruder teilt H. am 2. November 1797 mit: »Ich bin mit dem gegenwärtig herrschenden Geschmak so ziemlich in Opposition, aber ich lasse auch künftig wenig von meinem Eigensinne nach«. H. schreibt Jahre später den Wortlaut der Horen-Fassung, die »entfremdete Version der Elegie« (Trawny 1994/95, 279) mit größerem Zeilenabstand zur Umarbeitung in das Stuttgarter Foliobuch ab. Es entsteht, zwischen den Zeilen des früheren Textes, eine neue Elegie, die dann 1801 in der Literaturzeitschrift Flora publiziert wird. Die endgültige Gestalt der Wanderer-Elegie umfasst 54 Distichen, unterteilt in sechs gleich lange Strophen – genau wie bei den ebenfalls 1801 ausformulierten Elegien Heimkunft und Stutgard. Die Entstehung der Wanderer-Elegie über fast fünf Jahre hinweg – vom ersten Entwurf über den zensurierten Erstdruck und eine gestraffte Reinschrift bis hin zur späteren Abschrift und der völligen Umgestaltung auf der Basis des Horen-Textes – wäre auch ein besonders reichhaltiges und eindrückliches Feld für eine kritische textgenetische Lektüre, das aber von der Forschung bisher kaum genutzt wurde (vgl. FHA 6, 11–72; Uffhausen 1977). Alle Versionen der Elegie exponieren im ersten Drittel einen extremen Gegensatz in der Fremde – die »afrikanischen Wüsten« gegen den »Nordpol« –, dem
die Rückkehr in die Heimat als der gemäßigten Zone, die gerade durch die Erfahrung der Extreme zu poetischer Darstellung kommt, noch einmal entgegengesetzt ist. Der scheinbare Schematismus in der Exposition der Klimazonen wurde zum Anlass jener Kritik, die Goethe am 28. Juni 1797 im Brief an Schiller äußerte: »Freylich ist die Afrikanische Wüste und der Nordpol weder durch sinnliches noch durch inneres Anschauen gemahlt, vielmehr sind sie beyde durch Negationen dargestellt, da sie denn nicht, wie die Absicht doch ist, mit dem hinteren deutsch-lieblichen Bilde genugsam contrastiren« (FHA 6, 57). – Bei genauerer Betrachtung des Textes sind die kontrastierenden Landschaften jedoch leicht als Allegorien einer inneren Disposition des poetischen Subjekts erkennbar. Die allererste Version des ersten Distichons, das dann noch mehrere Umformulierungen erfahren wird, drückt diese Übertragung ganz direkt aus – mit epiphorisch betontem »in mir« – und in zeitlosem Präsens: »Süd und Nord ist in mir. Mich erhizt der Aegyptische Sommer/ Und der Winter des Pols tödtet das Leben in mir, [...] (I: Entw., V. 1a/2a; FHA 6, 46) Hier sind die Himmelsrichtungen nicht nur mit den geographischen Zonen und zugleich mit den Jahreszeiten korreliert, sondern es haftet, wenn man den weiteren Kontext des ersten Entwurfes in Betracht zieht, dem »Ägyptische[n] Sommer« auch eine Konnotation geschichtlicher Vergangenheit an, während im »Norden« die Bedeutungsdimension einer noch unbewussten Zukunft erkennbar wird (vgl. I, V. 49/50, FHA 6, 48). Die poetische Exposition der extremen Klimazonen zu Anfang des Gedichtes erweist sich somit als Entfaltung innerer Denkerfahrungen des »Wanderers«, die in der Bewegung der Rückkehr zum jetzt erst denkbaren – d. h. poetisch formulierbaren – Ursprung zur Sprache kommen: H.s Wanderer formuliert ein poetologisches Programm. Und höchst bedeutsam ist, gegen Ende des Gedichtes, die erinnernde Vergewisserung einer Lektüre, die um 1800 auch eine politisch-revolutionäre Bedeutung hatte. Der »Wanderer« kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück und erinnert sich: an den Bach, Wo ich einst im kühlen Gebüsch, in der Stille des Mit tags Von Otahitis Gestad oder von Tinian las. (II: Unem. Reinschr., V. 80–82, FHA 6, 57)
Dieses Distichon, das im Entwurf und in der Reinschrift steht, fehlt im Horen-Druck. Der offensichtliche redaktionelle Eingriff ist doppelt bedeutsam,
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weil er einerseits ein durchaus politisch zu verstehendes Element im Text tilgt; denn die durch Reiseberichte von Georg Forster und George Anson bekannt gewordenen paradiesischen Südseeinseln Tahiti und Tinian signalisieren Imaginationen des zeitgenössischen sozialutopischen Denkens. Andererseits stellt der Rekurs auf eine ursprüngliche Lektüre im Gedicht eine ebenso unklassische wie komplexe literarische Selbstreflexion des ganzen Textes dar, die durch den Eingriff unkenntlich gemacht wird. Interessanterweise löst sich H.s spätere Überarbeitung genau an dieser Stelle von der Vorlage der Horen-Fassung und entwirft einen ganz neuen Schluss (vgl. V, FHA 6, 65). Doch wird der ursprüngliche politische und zugleich poetischstrukturelle Gedanke wieder rekonstruiert: an den Bach, Wo ich lag, und den Muth erfreut’ am Ruhme der Män ner Ahnender Schiffer; und das konnten die Sagen von euch, Daß in die Meer’ ich fort, in die Wüsten mußt’, ihr Ge walt’gen! (VII: Em. Text V. 78–81, FHA 6, 71)
Der »Wanderer« wird in dieser ersten und mehrfach umgeschriebenen Elegie H.s als poetisch programmatische Figur lesbar, die nicht nur die elegische Grundhaltung von Verlust und Rückkehr in sich selbst verkörpert, sondern auch das philosophische Pathos von Fremderfahrung und zögernder Selbstvergewisserung artikuliert. Philosophisch abstrakte Verhältnisse wie die Darstellung der Durchmessung von Raum und Zeit (Behre 1996) oder die verfremdete Wahrnehmung des Eigenen (»mich wundern die Blüthen«, VII: V. 73, FHA 6, 71) werden in der Subtilität des poetischen Ausdrucks sprachliche Realität. Der Wanderer ist ein poetologischer Text, der Welt sprachlich entwirft – aus der Sprache heraus und zum Gedicht hin: »Und es trieb die Rede mich an, noch Andres zu suchen« (VII: V. 19, FHA 6, 69). Insofern ist die Wanderer-Elegie ein poetisch-formales Kunstwerk, das allegorisch oder intertextuell, epistemologisch oder selbstbezüglich gedeutet werden kann.
30.3 Menons Klagen um Diotima Neben kleineren und poetologisch weniger gewichtigen elegischen Versuchen wie Achill (vermutlich 1799) oder Meiner verehrungswürdigen Grosmutter zu
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Ihrem 72sten Geburtstag (Anfang 1999) kreist die elegische Dichtung H.s nach dem September 1798 um das Erlebnis der Trennung von Susette Gontard (s. Kap. 4). Das zeigt sich etwa in dem elegischen Bruchstück Götter wandelten einst ..., das genau datierbar ist, weil die Niederschrift des Entwurfs von der Abschrift einer lobenden Rezension einiger Gedichte H.s durch August Wilhelm Schlegel unterbrochen wird, die im März 1799 erschienen ist und wo Schlegel sagt: »Hölderlins wenige Beiträge aber sind voll Geist und Seele« (FHA 6, 128–131). Die nur fragmentarisch überlieferte Elegie steht offenbar in einem weiteren Entwurfszusammenhang mit H.s großer Liebeselegie Menons Klagen um Diotima, welche zunächst noch die exemplarische Überschrift Elegie trägt und dann, nach einer integralen Überarbeitung und mit dem neuen Titel im Musenalmanach für das Jahr 1802 und in dem des Folgejahrs in zwei Teilen publiziert wird. Der Herausgeber des Almanachs, Bernhard Vermehren, an den H. seine Elegie geschickt hatte, bestätigt den Empfang am 4. Mai 1801 mit den Worten: »Krönen Sie mein Werk immer so wie Sie es diesmal krönten!« (StA 7.1, 160). Menons Klagen um Diotima ist eine Elegie par excellence, sie entspricht der Schillerschen Gattungsbestimmung der klassischen Elegie, wie sie in Über naive und sentimentalische Dichtung gefordert wird, und übertrifft sie zugleich: »Der Inhalt der dichterischen Klage kann also niemals ein äußrer, jederzeit nur ein innerer idealischer Gegen stand seyn; selbst wenn sie einen Verlust in der Wirk lichkeit betrauert, muß sie ihn erst zu einem idea lischen umschaffen. [...] Der elegische Dichter sucht die Natur, aber als eine Idee und in einer Vollkommenheit, in der sie nie existirt hat, wenn er sie gleich als etwas da gewesenes und nun verlorenes beweint.« (Schillers Werke, Nationalausgabe Bd. 20, 450/451)
Als ginge es um die wörtliche Realisierung der Schillerschen Vorgabe, beginnt H.s Elegie mit der Suche nach der »Natur«: »Täglich geh’ ich heraus, und such’ ein Anderes immer,/ Habe längst sie befragt alle die Pfade des Lands;« (V: Em. Text, V. 1/2, FHA 6, 169). In der ersten Strophe, wo sich der elegische Dichter mit einem »getroffene[n] Wild« (V. 5) vergleicht, ›erscheint‹ ihm sein Verlust wie eine unheilbare physische Wunde. In der scharf kontrastierenden zweiten Strophe führt gerade der Gedanke an den Tod zur Gewahrung der Liebeserfahrung, und über eine durch das »Licht der Liebe« (V. 29) idealisierte Natur
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findet der Dichter in der dritten Strophe durch seine Erinnerung die Gewissheit der Liebe und zugleich den Namen »Diotima« wieder (V. 42). Mit ihr ist er in der Erinnerung »zufrieden gesellt« (V. 43). Diese erste erinnerte Vereinigung mit Diotima befindet sich am Ende der dritten Strophe und markiert damit auch die Kompositionslogik der triadisch gebauten Elegie. Die vierte Strophe erweist die erste Vereinigung in der Erinnerung als noch trügerisch, denn in die idyllische Vergegenwärtigung der Liebeserfahrung bricht plötzlich wieder das Bewusstsein des Verlustes ein: »Aber das Haus ist öde mir nun, und sie haben mein Auge/ Mir genommen, auch mich hab’ ich verloren mit ihr.« (V. 53/54) Die fünfte Strophe zeigt den Dichter in der Mitte der Elegie im Bewusstsein seiner Verlassenheit. Und in der genauen Mitte der Elegie (V. 65/66) findet sich ein paradoxes Bild der Verzweiflung, das zugleich die Umkehr der Elegie in die Bejahung des Ideals bezeichnet: »Aber mir in schaudernder Brust die beseelende Sonne,/ Kühl und fruchtlos mir dämmert wie Stralen der Nacht.« Aus solcher Paradoxie des Lichtes (»Stralen der Nacht«) entsteht dann in der sechsten Strophe der Gedanke der Palingenesie, der Wiederkehr (vgl. V. 77). Die siebte Strophe markiert den Beginn der letzten Strophentrias mit der emphatischen Anrede an Diotima: »Aber o du, die« (V. 83 – mit Wörtern, die ohne Wiederholung alle fünf Vokale zum Klingen bringen). Damit realisiert das Gedicht auch den Übergang zur idealen Präsenz der Geliebten. Was im »traurigen Traum« (V. 14) dem unsteten Wechsel der Zeit unterworfen ist, wird in der Idealisierung durch den Gang des Gedichtes zu einem Bleibenden verwandelt, zur dauernden Wiederkehr Diotimas im Klagelied selbst. Es ist die Verwandlung Diotimas in bleibenden Gesang, wodurch diese Elegie bewegt wird und worin sie ihre Erfüllung findet. Damit wird die Elegie auch lesbar als Entfaltung des Namens »Diotima«: Denn ihr Name bedeutet »die von Gott geehrte oder: die Gott ehrende [...]. Diotima erscheint in ihrem Namen als Objekt und als Subjekt des Ehrens und zuletzt als die Ehre selbst« (Binder 1962, 148 u. 153). Es ist hier auch das letzte Mal, dass Diotima in H.s Werk ausdrücklich beim Namen genannt wird. Allerdings ist Diotima auch eine literarische Figur aus Platons Symposion, wo Sokrates von ihr als seiner Lehrerin der Liebe spricht. Sokrates’ Bericht darüber, was die mantineäische Priesterin Diotima ihn über den Eros gelehrt habe, ist der Höhepunkt der Reden über den Eros im Symposion. Während also der Name
»Diotima« auf die sokratische Rede über den Eros verweist, verweist der Name »Menon« auf den gleichnamigen Dialog Platons. Der Menon ist neben dem Phaidon und dem Phaidros – H. avisiert Neuffer im Oktober 1794 einen »Kommentar über den Phädrus des Plato« (s. Kap. 36 und 24) – einer der für Platons Anamnesis-Lehre, der Lehre von der Wiedererinnerung und von der Unsterblichkeit der Seele, bedeutsamsten Texte. Wie kein anderes Gedicht H.s legt seine Liebeselegie mit den Namen »Menon« und »Diotima« den allgegenwärtigen Bezug zu Platon offen.
30.4 Der Gang aufs Land Unter der Gruppe der vier sogenannten »Widmungselegien« ist Der Gang aufs Land die einzige, die unvollendet geblieben ist. Die Elegie, die dem Stuttgarter Kaufmann und Freund H.s Christian Landauer gewidmet werden sollte, ist nur in einem komplexen Entwurf, in einigen Notizen und in einer fragmentarischen Reinschrift überliefert, die übrigens Reste einer alternativen Überschrift erkennen lässt: »Das Gasthaus« (IV, FHA 6, 276 f.). Die editorische Textkonstitution dieser einzigen unter den sechs großen Elegien H.s, die nicht zu einer vollständigen Reinschrift gediehen ist, gestaltet sich äußerst schwierig. Der Text der Elegie erscheint in den verschiedenen Ausgaben in unterschiedlicher Länge und z. T. in verschiedenen Anordnungen der einzelnen Entwürfe: Die konservativste Textgestaltung beschränkt sich auf die 40 Verse einer abgebrochenen Reinschrift (StA, KA), allerdings mit dem irreführenden Effekt, dass das elegische Fragment auch inhaltlich in sich abgeschlossen erscheint; neuere Textkonstitutionen (FHA, MA, Schmitz) geben einen längeren Text, der diesen Eindruck korrigiert und den inneren Bogen der geplanten Elegie aufzeigt – um den Preis eines editorischen Mischtextes. Für die Elegie Der Gang aufs Land kann es aber gar keine angemessene editorische Textkonstitution geben, nicht nur weil kein zusammenhängender Text überliefert ist, sondern weil es nie einen Text gegeben hat. Die Elegie ist kein Überlieferungsfragment wie z. B. das elegische Bruchstück Götter wandelten einst ..., sondern ein unfertiger Entwurf. Die Analyse der Handschriften zeigt, dass diese Elegie aus inneren, poetologischen Gründen gar nicht zu vollenden war; der wahrscheinlich letzte Eintrag H.s zu diesem Gedicht ist am linken Rand des – nicht mehr vollständig ins Reine geschriebenen – Entwurfs notiert und lautet: »Singen wollt ich leichten Gesang, doch nimmer gelingt mirs,/ Denn
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[es] machet mein Glük nimmer die Rede mir [leicht].« (III, FHA 6, 273) Die Zugehörigkeit dieses – selber wiederum nur fragmentarisch notierten – Distichons zu Der Gang aufs Land lässt zwei Interpretationen zu: Entweder ist es als ein Teil des geplanten Textes, vielleicht gar als der Schlussvers der Elegie zu verstehen, oder es stellt ein eigenes Epigramm dar, welches – gleichsam als Werknotiz – das Scheitern der unvollendeten Elegie formuliert. Das Distichon, welches in der epigrammatischen Pointierung auf das Paradox, dass gerade das »Glük« den »leichten Gesang« misslingen lasse, scheint zunächst die Umkehrung jener dialektischen Aussage darzustellen, welche H. schon in dem früheren Epigramm Sophokles formuliert hat: »Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen/ Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.« (FHA 6, 179) Doch das poetologische Paradox verbirgt auch einige weniger offensichtliche Widersprüche, die das Distichon über das Misslingen der Elegie Der Gang aufs Land enthält. So stellt sich die Frage, warum der intendierte »leichte Gesang« überhaupt die Form einer Elegie haben sollte oder warum hier »Gesang« und »Rede« anscheinend synonym verwendet werden. Schließlich fragt sich, was unter »mein Glük« zu verstehen sei, wenn es sich dergestalt jenseits des Gedichtes situiert, dass es in diesem »nimmer« gesagt werden kann. Mit der letzten Frage stellt sich auch die nach der Datierung des Entwurfes. Lässt sich ein »Glük« außerhalb der Dichtung identifizieren, das so intensiv ist, dass es dem Dichter die Sprache verschlägt? – In den verschiedenen Hypothesen über die Entstehungsdaten von H.s späten Elegien wird der elegische Entwurf entweder auf Herbst 1800 (Beißner, Schmidt) oder auf Frühjahr 1801 (Hellingrath, Sattler) datiert (s. Kap. 1). Die akribische Aufbereitung der diversen Datierungsargumente durch A. Schmitz hat inzwischen gezeigt, dass die »Spätdatierung insgesamt plausibler« ist (Schmitz 1994, 277–282). Insofern wäre auch denkbar, dass der Begriff »Glük« sich hier auf den Frieden von Lunéville bezieht, der am 9. Februar 1801 zwischen Frankreich und Österreich geschlossen wurde und nicht nur bei H. große politische Hoffnungen weckte. Der Gesang Friedensfeier (s. Kap. 32) bezieht sich direkt auf dieses Ereignis, aber auch in der Elegie Heimkunft ist auf bedeutsame Weise vom »heiligen Frieden« (V. 79) die Rede. Die Elegie Stutgard, nach Sattlers Neudatierung ebenfalls im Frühling 1801 entstanden (vgl. KTA 6, 130), beginnt mit der Feststellung »Wieder ein Glük ist er-
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lebt« und beschreibt die Stimmung nach dem Gewitter – ähnlich wie die erste Strophe der Friedensfeier. Insofern wäre es denkbar, dass auch der Hintergrund für den elegischen Entwurf Der Gang aufs Land, dessen erste Strophe von der Witterung beim Aufbruch aufs Land handelt, im weiteren Horizont der politischen Situation von 1801 zu verstehen sei (Schmitz 1994, 290). Die Elegie befasst sich, ähnlich zögernd wie der Schluss der Elegie Heimkunft, mit den poetischen Bedingungen, unter denen das politische Ereignis in seiner gleichsam heilsgeschichtlichen Dimension begriffen werden könnte, so dass – wie H. an Landauer im Februar 1801 schreibt – »eine schönere Geselligkeit als nur die ehernbürgerliche mag reifen!« (StA 6.1, 417) Eine erste Notiz zur geplanten Elegie Der Gang aufs Land – bereits mit Überschrift und Widmung – findet sich auf der dritten Seite des ersten Entwurfes zu Brod und Wein: »Komm, daß ich dir etwas vertraue./ Aber was wollt ich dir sagen? (I: Erste Überschr., V. 1/2, FHA 6, 280; Faks. 209). Diese in ihrer gestischen Intimität singuläre Notiz enthält bereits die ganze poetologische Problematik des elegischen Entwurfs, der das eigentlich Gemeinte nicht »sagen« kann – aber nicht aus Not, sondern aus der Überfülle des erfahrenen Glücks. Insofern kann man auch nicht von einem »Scheitern« des Gedichts sprechen, sondern eher davon, dass H. hier erkennt, inwiefern eine Elegie nicht mehr das geeignete »Gefäß« ist, die neue politische Wirklichkeit in ihrer poetologischen Problematik zu »fassen«. Die erste Strophe des elegischen Fragments entspricht genau dem Bauprinzip der drei anderen Elegien aus dem Jahr 1801, indem sie aus dreimal drei Distichen besteht, die den Gedanken-Gang der Elegie in einem Dreischritt exponieren: der trübe Tag (V. 1–6), der Glaube an die Erfüllung des Wunsches (V. 7–12) und die Hoffnung auf die Entsprechung der Menschen mit den Himmlischen (V. 13–18). Diese erste Strophe entfaltet nun H.s poetischen Begriff des »Offenen«, der in Vers 1 mit der Aufforderung »Komm! ins Offene, Freund!« anhebt und im letzten Vers der Strophe sich in der Hoffnung ausspricht, es werde »dem offenen Blik offen der Leuchtende seyn« (V. 18). In der poetischen Rede vom »Offenen« konstelliert sich die Erfahrung der Natur (die Aufheiterung des zuerst trüben Himmels) mit politischen Hoffnungen. (Die – inzwischen berühmt gewordene – Formulierung »als in der bleiernen Zeit«, V. 6., zeigt deutlich den politisch-geschichtsphilosophischen Bezug im Naturbild vom grauen Himmel.) Die allegorische Korrespondenz von Natur und Geschichte wird
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in einem Dritten, der Utopie einer allgemeinen poetischen Sprache, reflektiert und verdichtet, wenn: erst unsere Zunge gelöst, Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist, Und von trunkener Stirn’ höher Besinnen ent springt, [...]. (V. 14–16, FHA 6, 286)
Das Gedicht ist geprägt vom Glauben an die Verwirklichung des Friedens durch »eine schönere Geselligkeit als nur die ehernbürgerliche«. (Die poetische Vorstellung des »Offenen«, die in diesem elegischen Entwurf entwickelt wird, findet sich dann auch in der dritten Strophe von Brod und Wein wieder.) In der zweiten Strophe geht es dann um das zu bauende Haus: Der Boden ist »zu weihn bei guter Rede« (V. 23), damit am Ende der »Zimmermann vom Gipfel des Daches den Spruch thun« (V. 33) kann. Die imaginäre Errichtung des Gasthauses wird erfahrbar als die Entstehung des Freundschafts-Gedichtes selbst; die Metapher vom »Haus« zeigt sich bei H. als eine dichte poetische Chiffre, die, wo immer sie in den Elegien erscheint, auf existentielle Fragen des Dichtens verweist. Der Mittelteil des Elegienentwurfs ist nur in wenigen Notizen und Verssegmenten überliefert, für seine Extension gibt es keine Anhaltspunkte; es lässt sich aber die Intention erkennen, die Epiphanie der Himmlischen in unmittelbarer Präsenz – »da, da« und »jezt, jezt, jezt« (vgl. FHA 6, Faks. 275) – zur Darstellung zu bringen. Der Entwurf der letzten Strophe wirkt eher ernüchtert: »Aber fraget mich eins, was sollen Götter im Gast haus?« (V. 61)
Der vermutliche Schluss der Elegie kreist um die Bedingungen einer Einkehr der Götter in die Gemeinschaft der Menschen, wie sie dann in der Elegie Brod und Wein zum großen Thema des Mittelteils wird. Hier jedoch »gelingt es« dem Gedicht (noch) nicht.
30.5 Heimkunft Heimkunft ist ein in der H.-Literatur vielbeachtetes und oft gedeutetes Gedicht, dessen weitreichende philosophische Dimensionen zuerst von Martin Heidegger erkannt und dargelegt wurden (Heidegger 1944; s. Kap. 39). Die erste der drei letzten Elegien H.s ist nach der Rückkehr aus der Schweiz entstanden, wo H.
am 11. April 1801 sein nur dreimonatiges Arbeitsverhältnis beendet hatte; vielleicht ist sie sogar noch während der Reise selbst konzipiert worden (vgl. FHA 6, 291). 1802 erschien die Elegie in der Zeitschrift Flora, zusammen mit den Oden Dichterberuf und Stimme des Volks sowie dem Gesang Die Wanderung. Von H.s Hand sind zwei Reinschriften von Heimkunft überliefert, die zweite wurde anscheinend erst nach dem Druck von 1802 angefertigt und steht am Anfang des Homburger Folioheftes; sie wurde dann später, vielleicht 1803, zusammen mit den dort folgenden Abschriften von Brod und Wein und Stutgard noch einmal grundlegend überarbeitet (s. u., Die Revision der drei letzten Elegien). Sonst ist nur noch ein Entwurf der vier Schlussverse von Heimkunft erhalten (vgl. FHA 6, 292 f.), der auf demselben Doppelblatt wie der große Entwurf zu Der Gang aufs Land notiert ist und der, für sich gelesen, zunächst durchaus epigrammatischen Charakter hat – ähnlich wie das epigrammatische Distichon zu Der Gang aufs Land, das auf derselben Doppelseite steht. Die Elegie Heimkunft besteht aus sechs Strophen zu je neun Distichen und erfüllt das formal verbindliche triadische Bauprinzip der drei letzten Elegien (s. u. Brod und Wein, Komposition). Heimkunft stellt den Rückweg aus der Schweiz über den Bodensee in die schwäbische Heimat dar und entspricht damit dem Modell des elegischen »Spaziergangs« im Sinne Schillers oder mehr noch der inneren Bewegung des Heimkehrenden in H.s Der Wanderer. Das Gedicht Heimkunft zeigt in der Mitte eine markante Zäsur, indem der heimkehrende »Wanderer« (V. 52) genau im ersten Vers der vierten Strophe den »Boden der Heimath« (V. 55) betritt. Die Elegie geht vom erhabenen Anblick der Alpen aus, die H. nun aus unmittelbarer Anschauung kennt und schon Mitte Februar 1801 im Brief an Landauer beschrieben hat: »Vor den Alpen [...] stehe ich immer noch betroffen, ich habe wirklich einen solchen Eindruk nie erfahren, sie sind, wie eine wunderbare Sage aus der Heldenjugend unserer Mutter Erde, und mahnen an das alte bildende Chaos, indeß sie niedersehn in ihrer Ruhe, und über ih rem Schnee in hellerem Blau die Sonne und die Sterne bei Tag und Nacht erglänzen.« (StA 6.1, 416)
Die erste Strophe verbindet dieses Naturerlebnis der »Alpen« zugleich, indem es in der topischen Bildlichkeit des Erhabenen beschrieben wird, mit poetologischen Begriffen, die bis zum Schluss der Elegie mit
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dem anschaulichen Gang der Reise enggeführt werden (vgl. Groddeck 1994). Die Elegie lässt sich also einerseits als eine Naturdichtung lesen, die sie auch ist – es scheint, als ob hier Goethes Wunsch, H.s Dichtung solle mehr »durch sinnliches [und] durch inneres Anschauen gemahlt« (FHA 6, 57) sein (s. Der Wanderer), entsprochen sei –, andererseits kann Heimkunft aber auch, fast Bild für Bild, als Darstellung einer neuen Dichtungsmethode entziffert werden. Zentral in dieser poetisch figurierten Meditation über Bedingungen und Ursprünge des dichterischen Sprechens ist der Begriff der »Freude« als eines dionysischen Zustandes: »und die Wolke,/ Freudiges dichtend« (V. 1/2), von dem das Gedicht ausgeht und auf den es auch zugehen möchte. In der fünften Strophe finden sich dann zwei Sätze (die kürzesten in der ganzen Elegie), welche diesen Zustand, der in der ersten Strophe als »bacchantischer« (V. 8) gekennzeichnet ist, auf eine seltsam ambivalente Weise zum Ausdruck bringen: »Thörig red ich. Es ist die Freude. [...]« (V. 81) Die ›thörige Rede‹ bezieht sich hier zunächst auf die politischen Hoffnungen, die »des heiligen Friedens/ Bogen« (V. 79/80) im Dichter wachgerufen hat und die er in der Heimat nicht angemessen mitteilen zu können befürchtet. Das ›thörige Reden‹ ist zwar ein Indiz der dionysischen Trunkenheit, ausgelöst durch die Vorfreude auf die Heimat und die »Verwandten«, aber es ist auch Anzeichen einer Regression ins Infantile: »O Stimme der Stadt, der Mutter!« (V. 73) steht zu Beginn der fünften Strophe. (H. drückt diesen Aspekt des Sprachentzugs auch metrisch durch einen im letzten Versfuß atypisch verkürzten Hexameter aus, einen sog. ›Spondiacus‹.) Die kunstvolle Inszenierung der Mehrdeutigkeit in der Aussage über die Wirkung der »Freude« durch den Kontext der Strophe lässt sich freilich auch wieder, gleichsam performativ, als Darstellung des Ursprungs poetischer Rede begreifen. Gleichwohl zeigt sich am Ende der Elegie ein Zögern in der Emphase des Heimkehrenden und, ähnlich wie bei der Elegie Der Wanderer, eine Erfahrung des Fremdseins in der Heimat, die den Dichter in seiner Begeisterung dämpfen: »Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen,/ Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük?« (V. 101/102) Die Sprachlosigkeit seiner »Verwandten« in der Heimat weist den Dichter mit seinen poetischen Visionen wieder auf sich selbst zurück: Sein Gedicht entdeckt sich nun doch als elegische Klage über den Verlust einer idealen poetischen Sprache. Der Schluss von Heimkunft spricht, durchaus verrätselt, von der »Sorge«, die der »Sänger« – und nur er, »die anderen nicht« – »in der Seele/ Tragen« (V. 107/108) muss: Es
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ist aber nicht nur die existentielle Sorge um die Heimat, sondern auch der erinnernde Rückbezug auf den Begriff der dichterischen Sorgfalt Pindars, der hier zitiert wird (vgl. StA 2.2, 631). Mit der formulierten Einsicht in die unmitteilbare »Sorge« des Dichters am Ende der Heimkunft realisiert die Elegie zugleich das Paradox, dass sie gerade davon redet, wovon schweigen zu müssen sie vorgibt. Die durchgängige Durchdringung der erlebten Landschaftsbeschreibungen auf der Wanderung in die Heimat mit Gedanken über die poetische Rückbesinnung auf Ursprung und Ziel der dichterischen Sprache und ihre politische Bedeutung für eine Gemeinschaft nach dem Frieden von Lunéville macht H.s Heimkunft zu einem poetisch hochreflektierten und zugleich programmatischen Text. Bei der letzten Abschrift stellt H. diese Elegie an den Anfang seiner großen Gedichtsammlung im Homburger Folioheft unmittelbar vor die ebenfalls noch einmal abgeschriebene Elegie Brod und Wein.
30.6 Brod und Wein Brod und Wein ist mit 160 Versen die längste der sechs großen Elegien und zugleich eines der berühmtesten Gedichte H.s überhaupt, »es wird immer«, wie Helling rath sagte, »die beste Grundlage bleiben zum Eindringen in Hölderlins Gedankenwelt« (Hellingrath 4, 317 f.; s. Kap. 37). Kaum eine größere Arbeit der H.Sekundärliteratur kommt ohne Bezugnahmen auf dieses Gedicht aus, da hier anscheinend »Hölderlins Gedanken in seltener Vollzähligkeit vereinigt sind« (Schmidt 1969, 5). So wurde und wird die Elegie als eine Art Summe von H.s Gedankenlyrik gewertet und vor allem als weltanschauliches Lehrgedicht aufge fasst. Eine solche Betrachtung ist auch vom Genre der Elegie her gesehen durchaus gerechtfertigt, dennoch würde eine bloß doxographische Deutung das Sprachkunstwerk Brod und Wein um wesentliche poetische Dimensionen verkürzen. Rezeption und Überlieferung H. hat die Elegie Brod und Wein – im Gegensatz zu Heimkunft – in dem Textstand der zweiten Reinschrift, d. h. so wie sie heute in den meisten H.-Ausgaben steht, nie zum Druck gegeben. Nur die erste Strophe erschien 1807 in einem nicht autorisierten Druck, aber auf der Grundlage einer späteren, nicht überlieferten Version des Gedichtes (s. u., Die Revisi-
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on der drei letzten Elegien). Diese eine Strophe machte jedoch u. a. auf Clemens Brentano einen so nachhaltigen Eindruck, dass er durch sie zu einer eigenen Fortsetzung von Hölderlins Nacht angeregt (vgl. Brandstetter 1983) und zu dem antizipierenden Urteil veranlasst wurde: »Es ist diese eine von den wenigen Dichtungen, an welchen mir das Wesen eines Kunstwerkes durchaus klar geworden.« (StA 7.2, 434) – Das ganze Gedicht blieb aber bis Ende des 19. Jh.s unbekannt. Es wurde erstmals kurz vor der Jahrhundertwende in einer kleinen Biographie publiziert (vgl. Müller-Rastatt 1894). Zwei Jahre später widmete Emil Petzold dieser Elegie eine eigene Monographie, die als ein Gründungswerk der H.-Forschung angesehen werden kann und die in den sechziger Jahren von Beißner neu herausgeben wurde (Petzold 1967). Zur gleichen Zeit erschien auch eine zweite nur dem Gedicht Brod und Wein gewidmete Monographie (Schmidt 1968). Danach verstärkte sich die Tendenz in der Sekundärliteratur, sich wieder auf einzelne Aussagen oder Gnomen zu beschränken, wie es Heidegger in seinem Aufsatz Wozu Dichter? vorgeführt hatte. Mit dem Erscheinen von FHA 6 wurde die komplexe Überlieferungslage der einzelnen Textstufen unmittelbar sichtbar und die Aufmerksamkeit vor allem auf die sogenannte Spätfassung der Elegie gelenkt, die bisher nur in Form von »Lesarten« diskutiert worden war; eine Abschrift dieser letzten Überarbeitung der Elegie im Homburger Folioheft (vgl. FHA 6, Textstufe VI) ist nicht erhalten, muss aber existiert haben (s. u., Die Revision der drei letzten Elegien). So ergibt sich das Kuriosum, dass H.s vielleicht meistinterpretiertes Gedicht gerade in der einzigen vom Dichter selbst für die Publikation vorgesehen Form nicht bekannt wurde, sondern zunächst in einer frühen Reinschrift (vgl. FHA 6, Textstufe II), die von H. noch zweimal überarbeitet worden ist, und dann nach der vorläufigen Reinschrift im Homburger Folioheft (FHA 6, Textstufe V). Schon der erste Entwurf zur Elegie Brod und Wein ist dem um eine Generation älteren Schriftsteller Wilhelm Heinse (1746–1803) gewidmet (»An Heinzen«, FHA 6, 204), den H. im Juli 1796 kennengelernt hatte, als er mit Susette Gontard auf der Flucht vor den Franzosen in Kassel weilte (s. Kap. 11). Die Widmung enthält somit einen metonymisch versteckten biographischen Hinweis auf H.s Beziehung zu »Diotima«, andererseits aber auch kunsttheoretische Bezüge zu Heinses Romanen Ardinghello (vgl. Böschenstein 1989) und Hildegard von Hohenthal (vgl. Gaier 1999). Die Elegie trug im ersten Entwurf und in der ersten
Reinschrift noch die Überschrift Der Weingott. Damit erweist sie sich als ein dem Gott Dionysos gewidmetes Gedicht und erhebt den Anspruch, nicht nur eine Elegie, sondern auch ein Dithyrambus zu sein. Der poetische Doppelcharakter von Brod und Wein – formal eine Elegie, inhaltlich aber ein Dithyrambus – erklärt auch die in der Forschung immer wieder beobachtete Schwellenstellung von Brod und Wein zwischen antikisierender Form und freiem »vaterländischem Gesang«. Der erste Entwurf der Elegie reicht, im Vergleich mit den Reinschriften, bis zur Mitte des Gedichtes. Der Entwurf bricht, nach der Textkonstitution von FHA 6, mit dem Satz ab: »Dann aber in Wahrheit kommen sie selbst« (FHA 6, 240); dies entspricht exakt der späteren arithmetischen Mitte des Gedichtes, wo derselbe Satz ins Enjambement gesetzt wird: »dann aber in Wahrheit/ Kommen sie selbst« (V, V. 81/82, FHA 6, 248). Im ersten Entwurf finden sich dann noch drei Wörter zur Fortsetzung, die an die versuchte Darstellung der göttlichen Epiphanie in Der Gang aufs Land erinnern: »Jetzt«, »Nun aber« (FHA 6, 238). Ein Entwurf zum zweiten Teil des Gedichtes ist nicht erhalten, die erste Reinschrift – Der Weingott. / An / Heinze. – umfasst bereits 160 Verse. Diese erste Reinschrift wird zweimal in Details überarbeitet (Textstufen III und IV) und erhält dabei auch die neue Überschrift Brod und Wein; die wenigen Eingriffe betreffen freilich wichtige poetologische Momente des Textes. So wird V. 41, der in der Reinschrift zunächst noch lautet: »Aufzubrechen – so komm, daß wir das Unsrige schauen,« (FHA 6, 242) verändert zu: »Aufzubrechen – so komm, daß wir das Offene schauen,« (FHA 6, 245). Hierbei wird die Nähe und textgenetische Wechselwirkung dieser Elegie zum Entwurf von Der Gang aufs Land sehr deutlich. – Eine andere sinnentscheidende Veränderung zeigt das Distichon (V. 155/156) der ersten Reinschrift: Aber indessen kommt, als Freudenbote, des Weines Göttlichgesandter Geist unter die Schatten herab.
Diese Stelle wird umformuliert zu: Aber indessen kommt, als Fackelschwinger des Höchs ten Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab. (FHA 6, 247)
Diese Umformulierung hat dazu geführt, dass Beißner (StA 2.2, 620) in einer eher fragwürdigen Deutung
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den »Syrier« und »des Höchsten/ Sohn« sowohl auf Dionysos als auch auf Christus bezieht. Die inzwischen weit verbreitete These eines »Synkretismus« von Christus und Dionysos bei Hölderlin beruft sich vor allem auf diese beiden Verse. Bei der Abschrift der überarbeiteten ersten Reinschrift bringt H. noch einige weitere Korrekturen an (Textstufe V), im Ganzen dürfte die erneute Niederschrift aber bereits mit der Absicht einer gründlicheren Revision erfolgt sein. Komposition Mit den beiden Reinschriften hat die Elegie Brod und Wein eine kompositorisch so durchdachte Gestalt erreicht, dass in ihr das Kompositionsprinzip der späten Elegien voll entwickelt ist. Eine Schwierigkeit in Hinblick auf die formale Komposition enthält aber der Umstand, dass die Elegie – gemessen an der numerischen Konzeption des Gedichtes – insgesamt ein Distichon zu wenig hat. Sie umfasst statt der zu errechnenden 81 Distichen nur deren 80. Das fehlende Distichon betrifft jedoch gerade jene Strophe, wo der Mangel der götterfernen Gegenwart am direktesten ausgesprochen wird, die siebte, wo auch die berühmt gewordene Frage gestellt wird: »wozu Dichter in dürftiger Zeit?« (V. 122). Der formalkompositorische »Mangel« kann daher durchaus auch als ein formsemantisches Indiz gelesen und gedeutet werden, indem die Elegie »ideal« 81 Distichen enthält, »real« aber nur 80 (s. u.: Die Revision der drei letzten Elegien). In der »idealen« Komposition basiert die gesamte Text-Architektur auf der Zwei- und der Dreizahl. Die elementare Verseinheit besteht aus zwei Versen zu je zweimal drei Versfüßen – dem Distichon, das die metrische Kontur der Elegie bestimmt. Die einzelnen Strophen gliedern sich in dreimal drei Distichen, je drei Strophen bilden einen Teil der insgesamt aus drei solchen Strophentriaden komponierten Elegie. Jede Strophe hat aber neben der triadischen Form auch eine hälftige Struktur, indem im fünften Distichon bzw. im Übergang vom neunten zum zehnten Vers die Möglichkeit einer Sinnzäsur oder einer Sinnzentrierung gegeben ist. In der ersten Strophe findet sich z. B. an dieser Stelle das Enjambement: »und die Brunnen/ Immerquillend und frisch« (V. 9/10). In der genauen Mitte des ganzen Gedichtes, im fünften Distichon der fünften Strophe steht die bedeutsame Aussage: Möglichst dulden die Himmlischen diß; dann aber in Wahrheit
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Kommen sie selbst und gewohnt werden die Men schen des Glüks (V. 81/82)
Das Wort »Wahrheit« wird im Gedicht nur hier, in seiner »idealen« arithmetischen Mitte, ausgesprochen. Diese Beobachtung gilt auch, wenn man die beiden im Homburger Folioheft die Elegie Brod und Wein umrahmenden Elegien Heimkunft und Stutgard ins kompositorische Kalkül einbezieht. Beide Elegien entsprechen dem auf der Zwei- und der Dreizahl basierenden Kompositionsprinzip, indem sie beide aus zwei mal drei Strophen zu je dreimal drei Distichen bestehen. In der von H. zuletzt hergestellten und auch für die späte Überarbeitung beibehaltenen Anordnung als elegisches Triptychon ergeben sich noch weiter ausholende Symmetrien, indem z. B. die gesamte Trilogie 21, d. h. dreimal sieben Strophen umfasst. In der Konstellation mit den beiden umrahmenden Elegien wird auch die besondere Bedeutung des Mittelteils von Brod und Wein evident: Nur hier kommt die Epiphanie der Götter zur poetischen Darstellung; in den beiden anderen Elegien findet sich in der Mitte, d. h. im Übergang von der dritten zur vierten Strophe jeweils eine bedeutsame Sinnzäsur. Die numerisch ablesbare Komposition der elegischen Trilogie ist der Effekt einer durchkalkulierten Form, einer Text-Architektur, in der jede Aussage ihre bestimmbare Stelle im Ganzen hat. In der Form poetischer Sprache teilt sich mit, was sich begrifflicher Bestimmbarkeit entzieht (s. Kap. 19). Außer der statisch-architektonischen Komposition zeigt die Elegie aber auch noch eine bewegte, musikalische Struktur, die auf dem im triadischen Bau vorgegebenen Dreischritt beruht. Die kompositorische Dynamik des Gedichtes entspricht im Prinzip der »Lehre vom Wechsel der Töne« (s. Kap. 15), wie sie sich H. in theoretischen Überlegungen und komplizierten poetologischen Tabellen erarbeitet hat (FHA 14, 323–372). Die unmittelbare Anwendung bzw. der konkrete Nachweis dieser dichtungstheoretischen Konzeption in H.s Gedichten ist schwierig und führt schnell in interpretatorische Beliebigkeit – wie es die Versuche der Sekundärliteratur immer wieder zeigen. In der ersten Strophe von Brod und Wein erscheint der Tönewechsel jedoch besonders evident: Im ersten Drittel der Strophe wird ein »naives« Bild gezeichnet, indem der Feierabend in der Stadt beschrieben wird (V. 1–6); der Mittelteil (V. 7–12), der von Gesang und Saitenspiel spricht, kann als »idealisch« empfunden werden, und der letzte Teil (V. 13–18), der das Heraufkommen der Nacht, der »Fremdlingin unter den Menschen« schildert, ist als »heroisch« qualifizierbar. Die-
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se Komposition in wechselnden Tönen lässt sich nun auch in einer theoretischen Formulierung über die Übergänge (»Katastrophen«) von einem »Ton« zu seinem entgegengesetzten wiederfinden, – wobei man hier »Ton« auch in seiner etymologischen Bedeutung, nach dem lateinischen Wort »tonus«, als »Spannungszustand« verstehen kann (Gaier 1999, 137): »Löst sich nicht die idealische Katastrophe, dadurch, dass der natürliche Anfangston zum Gegensatze wird, ins heroische auf?« (FHA 14, 340) Dieses Prinzip der Abfolge von naivem, idealischem und heroischem Ton kann auch in der Anordnung der ersten drei Strophen entdeckt werden, wo nun die erste Strophe als ganze »naiv« wäre, die zweite, welche sich der »Gunst« (V. 19) der Nacht überlässt, »idealisch« erschiene und die dritte, die zum Aufbruch ruft – »so komm! daß wir das Offene schauen« (V. 41) – sich als »heroisch« darstellte. Dieselbe Abfolge der Töne könnte man für die drei Teile der Elegie geltend machen, indem nun der gesamte erste Teil der Elegie als »naiv«, der Mittelteil, wo die Gegenwart der Götter zur Sprache kommt, insgesamt als »idealisch« und der Schlussteil, das Verharren in der Gegenwart, als »heroisch« zu bestimmen wäre. Die Präsenz des Prinzips des Tönewechsels auf verschiedenen Ebenen des Gedichtes, zunächst in der unmittelbaren Versabfolge, dann aber auch in der Konstellation der Strophen und schließlich im Zusammenwirken der drei Hauptteile der Elegie, zeigt deutlich, dass das musikalische Prinzip sich nicht auf semantisch bestimmbare Beschreibungen fixieren lässt, sondern als Kompositionsprinzip wirkt. Im Zusammenspiel des rhythmisch bewegten Tönewechsels mit der topologisch ruhenden Text-Architektur ergibt sich eine unendliche Vielfalt semantischer Kombinationen: Das Gedicht erweist sich in seinen Elementen als durchgängig bestimmt. Zum Gehalt Die Elegie Brod und Wein ist in einem hohen Grade auch ein philosophisch reflektierendes Gedicht, dessen Gegenstand zunächst die elegische Erinnerung an die Antike ist, als einer durch Götternähe erfüllten Zeit. Die Elegie vermittelt aber nicht einfach vorgegebene philosophische Inhalte in poetischer Form, sondern das Gedicht wird selbst zum Medium philosophischer Reflexionsprozesse, die durch die dichterische Artikulation erst denk- und fühlbar werden. Insofern lässt sich auch bei dieser Elegie der Gehalt nicht isoliert resümieren, denn er ist vom poetischen Prozess des Gedichtes unablösbar. Der gedankliche Reichtum der
Elegie entspringt einer inneren Bewegung des kontemplierenden Dichters, der in der ersten Strophe das Eindämmern der Stadt nach Feierabend und das alles Beschränkte transzendierende Heraufkommen der Nacht beschreibt. Die Ankunft der Nacht als »Fremdlingin« und als »die Erstaunende« (V. 17) leitet zur zweiten Strophe über, wo »die Nacht« als »Wunderbar« (V. 19) erfahren wird. Dass nun gerade im Staunen und Verwundern der Anfang der Philosophie liege, ist ein berühmter platonischer Gedanke, der sich aus der einen Bemerkung des Sokrates an Theaitetos herleitet: »Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen« (Platon, Theaitetos 155d, übers. v. Schleiermacher). Die zweite Strophe ist eine philosophisch meditierende Vergewisserung über den dionysischen Charakter der Nacht und über Vergessen und Gedächtnis. In der dritten Strophe führt dies zur Aufforderung an den Freund »Heinze«, nach dem idealen Griechenland, der Heimat des Dionysos, »Aufzubrechen« (V. 41). In der vierten Strophe, mit der der Mittelteil der Elegie einsetzt, ereignet sich die Epiphanie einer idealen griechischen Landschaft als »Haus der Himmlischen alle« (V. 55). Die suggestiven Metaphern »Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge« (V. 57) verbinden Natur und Kultur zu einem Naturbild der Erwartung – ähnlich wie in der ersten Strophe der Friedensfeier (StA 3, 533; s. Kap. 32). Durch die Evokation des »Vater Aether!« (V. 65) entsteht die Sprache und Kultur der Alten als Vorbereitung der Ankunft der Götter, deren Wirken in der imaginierten Präsenz dann die fünfte Strophe gewidmet ist. Die Sprache des Gedichtes bewegt sich hier auf dem schmalen Grat zwischen dithyrambisch performativer Suggestion und reflektierter Betrachtung. In der sechsten Strophe bricht dann – nach dem einzigen Gedankenstrich in der ganzen Elegie – die Imagination der idealen Antike jäh ab: »Aber wo sind sie?« (V. 99) Das letzte Distichon schließt den Mittelteil anscheinend mit dem tröstlichen, allerdings nicht expliziten, Hinweis auf Christus – es lässt sich aber ebensosehr (in Anspielung auf die Bakchen des Euripides) auf Dionysos beziehen: Oder er kam auch selbst und nahm des Menschen Ge stalt an Und vollendet und schloß tröstend das himmlische Fest. (V. 107/108)
Mit der siebten Strophe wird wieder der Freund, der ja der Zeuge der erinnernden Imagination war, angeru-
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fen. Das Bewusstwerden der Götterferne führt zum Zweifel am Sinn des Dichterberufs. Aber der Freund hilft über die Mutlosigkeit mit dem Verweis auf die Berufung der Dichter als Priester des Dionysos hinweg: Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Pries ter, Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht. (V. 123/124)
Die achte Strophe expliziert diesen Trost des Freundes, indem der Dichter sich nun auf die zurückgelassenen »Zeichen« der Götter, auf »Brod und Wein« besinnt. In diesem »Zeichen« verbindet sich der Gedanke des christlichen Abendmahls mit den antiken Gaben von Dionysos und Ceres. Dionysos erscheint nun als Statthalter des Göttertages, als Versöhner von Tag und Nacht. In seinem Geiste klingt auch die Elegie in beruhigter versöhnlicher Stimmung aus, die wieder zurückverweist auf die Ausgangssituation des Gedichtes, die abendliche Ruhe der Stadt. Mit der Einbeziehung des väterlichen Freundes »Heinze« in den Gedankengang der Elegie erhält das Gedicht einen dialogischen Charakter, der im Gespräch zwischen den Dichterfreunden die Erinnerung an das poetisch Erlebte wach hält und zugleich den Text des Gedichtes zum verstehenden Gespräch hin öffnet. Das Zwiegespräch der Dichter ist Statthalter einer allgemeinen Sprache des Friedens.
30.7 Stutgard Die Elegie Stutgard ist H.s Freund und Dichterkollegen Siegfried Schmid (1774–1859) gewidmet, den er 1797 kennen lernte und mit dem er in einem intensiven brieflichen Austausch stand (die Korrespondenz ist allerdings nur bruchstückhaft erhalten). 1801 hat H. auf Wunsch des Freundes eine Rezension über dessen Schauspiel Die Heroine verfasst, die aber ungedruckt blieb (vgl. FHA 14, 373–378). Die Elegie Stutgard wird in den meisten Editionen auf Herbst oder Winter 1800 datiert, Sattler setzt ihre Entstehung in den Sommer 1801 (vgl. KTA 6, 130); die Datierung wird gewöhnlich mit der Notiz »An Siegfried Schmidt/ Willkom nach dem Kriege« (FHA 6, 279) begründet, die auf demselben Doppelblatt wie der erste Entwurf zu Der Gang aufs Land steht und die meist auf Schmids Entlassung aus dem österreichischen Heer am 15. April 1800 bezogen wird. Freilich ließe sich die Elegie, mit der emphatischen Nennung von »Glük«
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und den euphorisch geäußerten »vaterländischen« Hoffnungen auf das symbolische Datum des Friedens von Lunéville beziehen, d. h. auf den 9. Februar 1801 als Terminus post quem. Es gibt aber im Grunde keine eindeutigen Anhaltspunkte für eine genauere Datierung der Elegie. Evident ist jedoch, dass Stutgard in einem engen thematisch-poetischen und kompositorischen Zusammenhang mit Heimkunft und Brod und Wein steht. In den beiden erhaltenen Sammelhandschriften der drei Elegien steht Heimkunft an erster Stelle, Stutgard zunächst an zweiter, dann, im Homburger Folioheft, an letzter Stelle. – Von Stutgard sind keine Entwürfe, aber drei Reinschriften (davon eine jedoch nur sehr fragmentarisch) und ein Erstdruck mit der Überschrift Die Herbstfeier überliefert, dem eine vierte, heute verschollene Reinschrift vorausgegangen sein muss. Das Gedicht korrespondiert zunächst auffällig mit der Elegie Heimkunft: in formaler Hinsicht, weil es in seinen 108 Versen einen fast identischen Aufbau hat, und inhaltlich, da in Stutgard ebenfalls die »Wanderer«-Figur zugrunde liegt, die bis »zur Grenze des Lands« und zum »Geburtsort« des Dichters führt (V. 39). Der Bezug von Stutgard zu Brod und Wein ist vor allem durch Dionysos gegeben. Vom poetischen Gehalt her betrachtet, setzt Stutgard die dichterische Vergegenwärtigung des »Weingotts« in Brod und Wein voraus. – Die erste Strophe von Stutgard erweist sich wiederum, wie schon in den beiden vorangehenden Elegien, als ein Wunderwerk poetischer Exposition. Sie beginnt mit dem thetischen Satz: »Wieder ein Glük ist erlebt.« Darauf wird die Stimmung der Natur nach einem Gewitter beschworen, wenn sich die Vögel wieder in die Luft erheben – »ins Reich des Gesangs« (V. 6). Der Mittelteil der ersten Strophe entwirft die Vorstellung eines freien Gesangs der Natur, der in seiner »Anmuth« Ausdruck von »göttliche[m] Geist« ist. Das letzte Drittel der Strophe bezieht sich im Bild von den »Wanderer[n]«, die, ausgestattet mit den dionysischen Insignien, jauchzend »von Dorfe zu Dorf« ziehn, unüberhörbar auf das Gedicht Brod und Wein; denn für die »Dichter in dürftiger Zeit« wurden dort als Vorbild genannt »des Weingotts heilige Priester,/ welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.« (Brod und Wein, V. 123/124) Die zweite Strophe spricht die Aufforderung aus, des »Herbstes/ Alte Sitte« zu feiern, also das dionysische Fest, wo der »gemeinsame Gott« den isolierten »eigenen Sinn« in das Erlebnis einer höheren Gemeinschaft aufhebt. Die dritte Strophe, wo der Dichter dem Freund »bis an die Grenze des Lands« entgegenkommt, erinnert dessen
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eigene Vergangenheit (»des Vaters Grab seh’ ich«) und die der »Heroen« seines Heimatlandes: »Barbarossa«, »Kristoph« und »Konradin« (V. 50/51). Die Mitte des Gedichts, der Übergang von der dritten zur vierten Strophe, markiert den Moment des Eingedenkens, der – in der vierten Strophe – zu einer weit ausholenden Darstellung der heimatlichen Natur übergeht, welche die beiden Freunde nun »wie die Alten, die göttlicherzognen/ Freudigen Dichter« (V. 57/8) durchwandern, um – in der fünften Strophe – von der Heimatstadt »Stutgard« empfangen zu werden: Denn mit heiligem Laub umkränzt erhebet die Stadt schon Die gepriesene, dort leuchtend ihr priesterlich Haupt. (V. 75/76)
Bei der Beschreibung von »Stutgard« als einer bacchantischen Allegorie wird das Vorbild des Pindarschen Städtelobs spürbar (vgl. Seiffert 1982), aber auch die Präsenz des Dionysischen als Zeichen der politischen Utopie (vgl. Böschenstein 1996). Die politische Hoffnung auf die Zukunft, symbolisiert in den »Engeln des Vaterlands« (V. 91), wird in einer weit ausholenden Periode dargestellt, die sich über das letzte Drittel der fünften und das erste Drittel der sechsten Strophe erstreckt. Der pathetische Aufschwung, der ein in den drei Elegien singuläres Strophenenjambement enthält, wird durch die Mahnung »Aber die Nacht kommt!« (V. 97) – die im Übrigen auch die erste Strophe von Brod und Wein zitiert – gedämpft und in den besinnlich resignierenden Schluss, der das Gedicht Stutgard nun erst eigentlich zur Elegie macht, zurückgeführt: denn allein ja Bin ich und niemand nimmt mir von der Stirne den Traum? Kommt und reicht, ihr Lieben, die Hand! das möge ge nug seyn, Aber die größere Lust sparen dem Enkel wir auf. (V. 105–108)
Die Elegie Stutgard spricht die euphorisch politischen Hoffnungen H.s und seine Vorstellungen vom Dichterberuf im Kontext der drei Elegien vielleicht am unmittelbarsten aus, wobei der Dichter jedoch das elegische Bewußtsein, mit seiner poetischen Utopie unzeitgemäß zu sein, auch hier nicht verliert. – Als das Gedicht im Musenalmanach für das Jahr 1807 unter der Überschrift Die Herbstfeier erschien, schrieb ein zeitgenössischer Rezensent:
»Herr Hölderlin, der immer aufs neue, und immer ver geblich sich martert, in seinen Gesängen das Unaus sprechliche zu verkünden, eröffnet die Sammlung mit einem Gedicht: Die Herbstfeyer [...] Das Thal, das hoch von Gewächsen rauschet, ist Unsinn, und wo man das Reich des Gesangs, wohin sich alle gebundene Fittige wagen, zu suchen hat, mag der Himmel und Herr Höl derlin wissen. So viel von diesem Poeten.« (vgl. Grod deck 1996, 132)
30.8 Die Revision der drei letzten Elegien Die letzte Reinschrift der drei Elegien zu Beginn des Homburger Foliohefts hat zunächst eine wichtige kompositorische Bedeutung, indem nun der innere Zusammenhang der drei Gedichte durch die definitive Abfolge festgelegt wird, wonach Heimkunft zum eröffnenden, Brod und Wein zum zentralen und Stutgard zum schließenden Teil einer elegischen Trilogie wird. Nach Sattler ist die Abschrift der drei Elegien frühestens auf Oktober 1802 zu datieren, d. h. nach Erscheinen des Drucks von Heimkunft in der Flora (vgl. FHA III, 15). Die Stellung der drei Elegien am Anfang des umfangreichen Konvoluts hat aber noch eine weitere kompositorische Bedeutung, da die übrigen Texte im Heft, die späten Gesänge (s. Kap. 32), nicht mehr nach traditionellen metrischen Schemata gebaut sind, sondern in freien Rhythmen. Die Konstellation der metrisch verfassten Elegien mit den eigenrhythmischen Gesängen wie Der Einzige und Patmos korrespondiert nun auffällig mit dem Kompositionsprinzip, das H. in dem bei Wilmans verlegten Taschenbuch auf das Jahr 1805 erschienenen Gedichten realisiert hat (s. Kap. 31). Dort folgen auf die sechs Oden drei kurze eigenrhythmische Gedichte. Aber nicht nur in Hinblick auf dieses Kompositionsprinzip, sondern auch in Bezug auf die Notwendigkeit einer späten Revision sind die drei Elegien mit jenen sechs Oden vergleichbar. Vermutlich infolge derselben kritischen Sichtung früherer Gedichte, aus dem die späten Versionen der Oden entstanden sind, sind auch die drei Elegien im Homburger Folioheft überarbeitet worden. Die Korrektur der drei Elegien geschah – wie aus der Handschrift deutlich wird – im Zusammenhang: Offensichtlich betrachtete H. die drei Elegien als Werkeinheit. Das Ergebnis der poetischen Revision ist einerseits aus den ersten 15 Seiten des Homburger Folioheftes zu erschließen, andererseits dokumentiert es sich – zu einem kleinen, aber philologisch relevanten Teil – in zwei nicht autorisierten Erstdrucken im Musenalmanach auf das Jahr 1807. Der
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Erstdruck der ersten Strophe von Brod und Wein unter dem Titel Die Nacht zeigt in Vers 14 als Metapher für den »Mond« die Spätvariante »Ebenbild unserer Erde« statt »Schattenbild unserer Erde«. Und der Erstdruck der Elegie Stutgard mit dem Titel Die Herbstfeier enthält – leider neben massiven redaktionellen Eingriffen des Herausgebers Leo von Seckendorf – nicht nur H.s Korrekturen aus dem Homburger Folioheft, sondern auch mindestens zwei, die zwar H.s Autorschaft verraten, aber nicht in den überarbeiteten Reinschriften stehen (vgl. KTA 6, 138–142, V. 50 und 54). Die Befunde deuten auf eine verlorene Reinschrift, die vermutlich alle drei Elegien in der überarbeiteten Version enthielt (vgl. Groddeck 1996). Die in FHA 6 erstmalig versuchte kohärente Textkonstitution der späten Gestalt der drei Elegien, die bis dahin nur als »Lesarten« verzeichnet wurden, stieß bei einigen H.-Forschern auf strikte Ablehnung (vgl. Bö schenstein 1991). Zweifellos enthält die durchgängige Integration der Korrekturen in den Text der Reinschrift Härten und Irritationen, die den Textstatus der »Spätfassungen« als hypothetischen ausweisen; dennoch sollte man sich – bei angemessener Berücksichtigung der komplizierten Überlieferung – auf die Problematik einer integralen Veränderung der Gedichte einlassen, wenn man nicht bei einer eklektischen Deutung der späten Notate stehen bleiben will. Betrachtet man die Passagen, die in den Elegien verändert wurden, genauer, so entdeckt man wieder die tragende Bedeutung der architektonischen Komposition der Texte. In Heimkunft bleibt die erste Hälfte des Textes völlig unberührt, die Strophen vier und fünf werden an einzelnen Stellen verändert, die Schlussstrophe wird am gründlichsten überarbeitet (vgl. Groddeck 1993). Die radikale Tendenz der späten Überarbeitung wird am spürbarsten in der Neuformulierung von V. 101/102 der Reinschrift: Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen, Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurük? (FHA 6, 313)
Daraus wird das metrisch bis zur Verformung gedrängte und inhaltlich verrätselte Distichon: Aber Erfindungen gehn, wo Einfälle das Haus hat Hehlings. Arm ist der Geist Deutscher. Geheimerer Sinn. (VI. Fassung: V. 101/102, FHA 6, 315 f.)
Bei Brod und Wein bleibt nur die zweite Strophe gänzlich unverändert, insgesamt finden sich im ersten
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Drittel nur wenige Eingriffe. Bedeutsam ist die Veränderung des Übergangs zur vierten Strophe, wo aus der Aussage über Dionysos: »und zurük deutet der kommende Gott« (V. 54) die Wendung wird: »und da lachet verpflanzet, der Gott.« (VI. Fassung.: V. 54, FHA 6, 259) Der Mittelteil der Elegie wird dann weitgehend neu formuliert, aber er mündet immer wieder in den Basistext der Reinschrift ein. Besonders signifikant für die Tendenz der Revision ist die Neufassung der Mitte des Gedichts: Möglichst dulden die Himmlischen dies; dann aber in Wahrheit Kommen sie selbst [...] (V. 81/82, FHA 250)
Diese zentrale Stelle lautet nun, in ironischer Doppeldeutigkeit: Selbst bevestigen das die Himmlischen aber wo anders Die nichts irrt [...] (VI. Fassung: V. 81/82, FHA 6, 260).
Im Einzelnen zeigen die Korrekturen eine Tendenz zur historischen Konkretisierung, so z. B. in Vers 96, wenn die »herrlichen Ordnungen« zu »Tuskischen Ordnungen« werden (vgl. Franz 1977). Die siebte Strophe ist von H. völlig neu konzipiert worden. Zunächst ist schon der Übergang zum Schlussteil der Elegie (V. 108/109) in der Überarbeitung radikal verändert. Statt der einschneidenden Zäsur zwischen sechster und siebter Strophe: Und vollendet und schloß tröstend das himmlische Fest.// Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Göt ter (FHA 6, 250/51)
findet sich in der Überarbeitung ein kühnes Strophen enjambement: ein Aergerniß aber ist Tempel und Bild,// Narben gleichbar zu Ephesus. Auch Geistiges leidet, [...] (FHA 6, 260/61).
Allem Anschein nach hat H. hier auch das in der Reinschrift fehlende Distichon (Brod und Wein, Komposition, s. o.) ergänzt; allerdings ist der zwischen den Zeilen der Reinschrift notierte Neuentwurf so komplex,
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V Werk
dass sich daraus nur ein hypothetischer Wortlaut der neuen siebten Strophe ableiten lässt. Von der achten Strophe ist nur die mittlere Distichentriade neu formuliert, die letzte Strophe ist zu zwei Dritteln umgearbeitet. Hier findet sich auch die vielzitierte Gnome »Kolonie liebt und tapfer Vergessen der Geist«. Zur Bedeutung der späten Revision von Brod und Wein vgl. Groddeck 2016. Gegenüber der grundlegenden Umformung von Brod und Wein, bei der die nicht veränderten Passagen durch den neuen Kontext fast ebensolche hermeneutischen Herausforderungen darstellen wie die verrätselten Neuformulierungen, zeigt die Bearbeitung von Stutgard ein anderes und zurückhaltenderes Muster: Die erste und die letzte Strophe bleiben unangetastet, in der zweiten und der fünften Strophe finden sich einige wenige, wenn auch sehr charakteristische Detailkorrek turen, die entscheidende Revision findet sich im Mittelteil, beim Übergang von der dritten zur vierten Strophe, d. h. in der hälftigen Zäsur der Elegie. Während der Übergang (V. 53–55) in der Reinschrift so lautet: Doch Vergangenes ist, wie Künftiges heilig den Sän gern, Und in Tagen des Herbsts sühnen die Schatten wir uns.// So der Gewaltgen gedenk und des herzerhebenden Schiksaals, (FHA 6, 192)
liest sich der Übergang in der späten Version so: Und Vergangenes ist, und Künftiges fürstlich den Sän gern, Reich in Tagen des Herbsts sühnen die Schatten wir uns.// So der Gewaltgen gedenk und des ernstunmündigen Schiksaals [...] (IV: Konst. Text: V. 53–55, FHA 6, 200).
In dem Erstdruck von 1807 findet sich dann aber eine Veränderung, die zeigt, dass H. bei der Abschrift der so gründlich überarbeiteten Texte im Homburger Folioheft noch letzte Korrekturen vorgenommen haben muss. Denn V. 53/54 lauten hier: Und Vergangenes ist und Entschiedenes fürstlich den Sängern, Und in Tagen des Herbsts sühnen die Schatten wir aus. (IVa: Red. Erstdr., V. 53/54, FHA 6, 197)
Die geduldige philologische Analyse der eng gedrängten Interlinearkorrekturen und der kritische Vergleich mit den nicht autorisierten Drucken von 1807 lässt ein eigenes elegisches Spätwerk H.s erkennen, das sich in der Intention mit den sogenannten Nachtgesängen vergleichen lässt. Es wird als eine der veränderten Poetik von H.s Spätzeit angepasste Elegien-Trilogie (wahrscheinlich mit den Überschriften Heimkunft, Die Nacht und Die Herbstfeier) begreiflich, die zwar nicht in endgültiger Textgestalt überliefert ist, deren Entwurf aber annähernd vollständig erhalten ist. Diese Elegien-Trilogie ist kein liegengebliebenes Projekt, kein »gescheiterter« Versuch, sondern schlicht ein Überlieferungsfragment. Literatur allgemein
Beißner, Friedrich: Geschichte der deutschen Elegie [1941], Berlin 21961, 139 f., 172–190. Degner, Uta: Bilder im Wechsel der Töne. Hölderlins Elegien und Nachtgesänge, Heidelberg 2008. Gaier, Ulrich: H. Eine Einführung, Tübingen/Basel 1993, 374–402. Wackwitz, Stephan: Trauer und Utopie um 1800. Studien zu H.s Elegienwerk, Stuttgart 1982.
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V Werk
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Wolfram Groddeck
31 Nachtgesänge
31 Nachtgesänge Der Name des hier zu verhandelnden Zyklus stammt aus einem Brief H.s an seinen Verleger Friedrich Wilmans vom Dezember 1803 aus Nürtingen, ist jedoch nicht der Titel bei der Erstveröffentlichung 1804 im Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet, Frankfurt a. M. Dort war dieser Zyklus, durchnummeriert, nur überschrieben Gedichte. Die Titulierung stellt also bereits ein Forschungsproblem dar, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zweimal seitdem ist der Zyklus unter der Überschrift Nachtgesänge wieder erschienen, in den Ausgaben von Uffhausen (1989) und Knaupp (1992), mit der Reihenfolge des Drucks von 1804: Chiron, Thränen, An die Hofnung, Vulkan, Blödigkeit, Ganymed, Hälfte des Lebens, Lebensalter, Der Winkel von Hahrdt. »Den dunkeln und höchst sonderbaren Gedichten« (MA 3, 263), so eine der vier Rezensionen von 1804/05, war kein Verständnis der Zeitgenossen beschert. In Schwabs Ausgabe von 1846 erscheinen daher die Nachtgesänge (außer An die Hofnung und Vulkan) im Anhang unter dem Titel Gedichte aus der Zeit des Irrsinns. Christ (2020) verortet die Nachtgesänge aufgrund ihres Publikationsorgans im zeitgenössischen Zeitschriftenwesen. Der Zyklus umfasst sechs (alkäische, bis auf Blödigkeit, dessen Strophe asklepiadeisch ist) Oden, entstanden seit 1798/99, die H. überarbeitete, und drei freirhythmische kurze Gedichte. Druckvorlagen sind nicht erhalten. Hälfte des Lebens ist aus einer Entwurfsstufe zum Schluss von Wie wenn am Feiertage hervorgegangen. Im Stuttgarter Foliobuch lassen sich dieser Fall (vgl. FHA Suppl. II, 63/64; MA 1, 264) und H.s Revision der Oden nachvollziehen (vgl. MA 3, 136 u. Uffhausens Text-Synopsen 1989, 182–198). Es handelt sich z. T. um Reinschriften, in die er die Änderungen – zwischen bzw. über den Zeilen – eintrug; sie nehmen sich wie Interlinearversionen gemäß H.s Übersetzungspraxis aus (vgl. Louth 1998, 181; Bartel 2000, 36). Der Fall von Hälfte des Lebens hat einige Editoren (Beißner StA 2, 662, 2–4; Sattler 1976, 12) veranlasst, auch bei den anderen kurzen freirhythmischen Gedichten ein uns unbekanntes hymnisches »Entwurfsumfeld« als ›primären Kontext‹ zu vermuten. Sattler versuchte 1996, je einen der neun Nachtgesänge je einem der neun kommentierten Pindarfragmente, die auch um 1803 niedergeschrieben sein können, zu analogisieren (vgl. FHA 15, 331 f.). Während Ganzer (1976, 5) noch eine Deutung des Gesamtkomplexes dieser Gedichte vermisste, sind in-
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zwischen einige Versuche zu verzeichnen: Kling (1980) hatte, durch Beißners editorische Trennung der Oden von den anderen drei Gedichten provoziert, die Relevanz des Zyklus für die Beurteilung aller Nachtgesänge herausgestellt und die Symmetrie betont. Die poetologische Dissertation von Degner (2008), die jedem der Gesänge ein Kapitel widmet, attestiert ihren Bildern als gemeinsamen Nenner obscuritas und immer weniger Anschaulichkeit, was die Deutungsarbeit des Lesers provozieren solle. Gehrmann (2009) meinte dank eines Netzes variierter Vokabeln drei Triaden feststellen zu können. Dabei applizierte er die für die Tragödie geltende Begrifflichkeit der Sophokles-Anmerkungen ohne Scheu auf die Nachtgesänge – wie schon Indlekofer in ihrer poetologischen Dissertation (2007) auf die drei bearbeiteten Oden Chiron, Blödigkeit und Ganymed. Während Jochen Schmidt (1978) an diesen Bearbeitungen seine These vom ›späten Widerruf‹ transzendentalpoetischer Anschauungen, die H. bis 1803 vertreten habe, entwickelte, sind die Nachtgesänge nach Grunert (1995) als »transzendentalpoetischer Gedichtzyklus« zu werten, wobei er die Revision der Oden als ironische Relativierung und Kritik im Sinne Friedrich Schlegels verstand (167). Im Unterschied zum Gesamtkomplex haben einige der Nachtgesänge die besondere Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen; das gilt bei den Oden insbesondere für Chiron und für Ganymed; bei den freirhythmischen Gesängen, die Binder 1970 als Gruppe in einem Aufsatz behandelte, vor allem für Hälfte des Lebens und Winkel von Hardt. Seit Chiron von Maria Cornelissen (1958) und insbesondere von Holle Ganzer (1976) eine Monographie gewidmet worden ist, hat die Ode mehrere philosophische Deutungen erfahren, die sie im Deutschen Idealismus verorten: als von Schellings Naturphilosophie und von der Forderung einer Neuen Mythologie (Schmidlin 1977) oder als von der Bewusstwerdung und »Vergeistigung« des Dichter-Helden im Sinne Hegels geprägt (Schmidt 1978, 86; 140). W. Benjamins Deutung von Blödigkeit und seiner Genese aus Dichtermuth (1914/15), die für seine Literaturkritik beispielhaft ist, hat vielfache, nicht zuletzt auch kritische Resonanz erfahren. Hälfte des Lebens ist nicht nur geistesgeschichtlich international ausgewertet, sondern auch für die schulische Rezeption genutzt und mehrmals vertont worden. W. Menninghaus (2005) erkennt am Miteinander bzw. Widerstreit zitierter sapphischer und alkäischer Versmaße die Durchführung des poetischen Programms, das der 1. BöhlendorffBrief vom Dichter verlangt.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_31
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V Werk
31.1 Die Problematik des Titels Der Verleger Wilmans hatte bei H. für sein Frankfurter Taschenbuch um Beiträge angefragt. Am 8.12.1803 schreibt dieser, er werde »kleine Gedichte« dafür aussuchen, die er im folgenden Brief von Ende Dezember »Nachtgesänge« nennt: »Ich bin eben an der Durchsicht einiger Nachtgesänge für Ihren Allmanach. Ich wollte Ihnen aber sogleich antworten, damit kein Sehnen in unsere Beziehung kommt. Es ist eine Freude, sich dem Leser zu opfern, und sich mit ihm in die engen Schranken unserer noch kinder ähnlichen Kultur zu begeben. Übrigens sind Liebeslieder immer müder Flug, denn so weit sind wir noch immer, troz der Verschiedenheit der Stoffe; ein anders ist das hohe und reine Frohloken va terländischer Gesänge. Das Prophetische der Messiade und einiger Oden ist Ausnahme.« (StA 6, 436, 11–20)
Der Kontext des Briefes wirft folgende Fragen auf: Was heißt Nachtgesang? Was bedeutet die Rede von dem Sich-dem-Leser-Opfern im Falle dieser Gesänge und von den Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur? Sind Nachtgesänge und Liebeslieder gleichzusetzen, wie Uffhausen (1989, 221: »eine Art Requiem auf Diotima«) und Grunert (1995, 135) meinen, oder nicht, und wie unterscheiden sie sich von den vaterländischen Gesängen einerseits und den genannten Ausnahmen andererseits? H. gebrauchte den Terminus Nachtgesang einmal lyrisch, und zwar in dem Hexameter-Gedicht Archipelagus (1800). Dort ist die Rede von der Spiegelung der Sterne und dem Echo der Sphärenharmonie im Meer: »[...] es tönt die Weise der Brüder/ Droben, ihr Nachtgesang, im liebenden Busen dir wieder.« (StA 2, 104, 33 f.) In diesem Sinne kann H. den Terminus im obigen Brief nicht gebraucht haben (gegen StA 2, 649, 13– 21). Evident scheint, dass es zwei natürliche zeitliche Inhalte für die Nacht gibt, die in H.s Werk vielfach zu belegen sind: 1. der tageszeitliche und, damit verbunden, erweitert, der jahreszeitliche (Winter); 2. der geschichtsphilosophische (vor allem in Brod und Wein). Im Falle der Oden spricht Binder (1970, 350) von »der dreifachen Gestalt einer Nacht der Augen, des Geistes und der Zeit«. Nachtgesang heißt ein Gedicht (»Ghasel«) Goethes, das im Taschenbuch auf das Jahr 1804 in Tübingen 1803 erschien (Sattler 1996, 174).
Goethe bearbeitete in diesem Fall ein italienisches Volkslied, ein Liebeslied. H. hatte Goethe noch im letzten Brief an den Verleger als Adressaten seiner Übersetzungen erwähnt (StA 6, 435, 19–22). Denkbar wäre also, dass Wilmans’ Bitte um Gedichte für sein Taschenbuch Der Liebe und Freundschaft gewidmet den Hinweis auf den Nachtgesang Goethes qua Liebeslied als Beispiel enthielt, um den Typ der gewünschten Lyrik zu charakterisieren, worauf sich H. mit dem Einschub »Übrigens ...« bezöge. Wilmans’ Taschenbuch, das außer Gedichten und Epigrammen Prosa (eine biographische Skizze, eine spanische Erzählung) und Essays enthält, ist allerdings keineswegs auf das Liebesthema spezialisiert; auch führt H.s briefliche Rede vom Nachtgesang nicht dazu, dass der Verleger sie für den Titel verwendet. Nachtgesang ist einerseits als Anspielung auf die Nachtgedanken Youngs (1747) verstanden worden, was die Betonung der Melancholie implizierte, andererseits – unter Beachtung der Differenz – auf Novalis’ Hymnen an die Nacht (1800), was die Betonung des Naturraums Nacht und des Liebesverlusts akzentuierte. Schließlich ist an den Terminus aus der Malerei: Nachtstück, Notturno erinnert worden, dessen Dunkelheit nur durch Mondschein oder Feuer erhellt wird. Den drei genannten literarischen Bezugspunkten fehlt aber die geschichtsphilosophische Relevanz, die im Kontext des Briefes angezeigt ist. Denn auch die übrigen Fragen dürfen nicht isoliert beantwortet werden. Wenn H. mehrere Absätze macht, die vielleicht Lücken in der Argumentation besagen, muss doch versucht werden, den Gedankengang zu rekonstruieren: Es geht ihm offensichtlich um eine kulturgeschichtliche Perspektive, hervorgerufen durch den Briefanlass: Er hat von dem Verleger eben einen Probe-Druck seiner Sophokles-Übersetzung erhalten, für den er sich zuvor bedankt; gegenüber der antiken, ausgereiften Kultur, für die Sophokles steht, will er jetzt der kinderähnlichen Kultur der Gegenwart Rechnung tragen, der er attestiert, dass ihre »Stoffe« von denen der Antike »verschieden« sein müssen. Dabei legt er Wert auf eine Unterscheidung der lyrischen Möglichkeiten im Sinne einer Skala: Dem ›müden‹ (niedrigen) Flug bzw. Ton der Liebeslieder (vgl. H.s briefliche Äußerung zur Elegie StA 6, 340, 64 ff.) steht der schwungvolle (hohe) pindarische Ton der vaterländischen Gesänge gegenüber, von denen er, wie er am 8.12.1803 schreibt, demnächst einige Proben zu schicken beabsichtigt. Die letztere Position sieht er gegeben im Falle des Hexameter-Epos von Klopstock, wenn der Ton ›prophetisch‹, sublim ist,
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und im Falle einiger Beispiele der Oden-Gattung – die also darin von seinen sechs Oden der Nachtgesänge zu unterscheiden wären. Der dritte Absatz könnte also sinngemäß wie folgt paraphrasiert werden: Übrigens sind Liebeslieder nicht nur in einer kinderähnlichen Kultur, sondern »immer« müder Flug, d. h. auch in der Antike gewesen. Ein solches qualitatives Bewusstsein von Lyrik besitzen wir immerhin schon, auch wenn Liebeslieder damals und heute stofflich andere Aufgaben bewältigen. Gleichwohl muss auf beide Gedichttypen (Nachtund vaterländischer Gesang) zutreffen, was H. schon im November 1802 an Böhlendorff schrieb, nämlich, dass »wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen« (StA 6, 433, 51 f.), und am 28.9.1803 variiert: »mehr aus dem Sinne der Natur und mehr des Vaterlandes« (StA 6, 434, 21 f.). H. würde die ausgewählten Gedichte für das Taschenbuch – wie auch die Liebeslieder, um die Wilmans womöglich bat – hier zwar auf der unteren Gattungsskala einordnen, während er den Wilmans angekündigten Gedichten einen höheren Status zuwiese. Kriterium seiner Einordnung bildete aber der Vergleich zwischen der Antike und der »von engen Schranken« bestimmten (deutschen) Moderne, welcher auf notwendige stoffliche Differenz abhebt, ein Maßstab, der im Falle des Goethe-Liedes völlig irrelevant ist.
31.2 Der Adressat Das Selbst-Opfer gilt nach H.s Worten dem Leser seiner Zeit als dem Vertreter der kinderähnlichen Kultur der Gegenwart. Der Akzent der Argumentation liegt auf dem Adressaten mit seiner Beschränktheit, was aber nicht den ›Versuch‹ von romantischer »Trivialität« und »Konventionalität« besagt (gegen Kling 1980, 79 f.).Während der vaterländische Gesang »unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit« (8.12.1803, StA 6, 435, 24 f.), betreffen die Nachtgesänge Vaterland und Zeit nur ›mittelbar‹. H. kommt in Blödigkeit (StA 2, 66), der in der Mitte des Zyklus stehenden Ode, ausdrücklich, wenn auch vergleichsweise, auf Kinder zu sprechen. Bezugspunkt ist Zeus, der Vater und Himmelsgott (V. 16), von dessen Lichtstrahlen, die das Zeitmaß fühlbar machen (vgl. StA 5, 268, 6–18), alle Menschen gleichermaßen (arm und reich), wie von »goldnen/ Gängelbanden« (V. 19 f.) – einer pietistischen Variation der aurea catena – abhängen; der Zeitpunkt: »zur Wende der Zeit« (V. 18)
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könnte (noch) die Französische Revolution oder das Konsulat Napoleons meinen (Stanitzek 1989, 264 f.). Die gegenwärtigen Menschen charakterisiert H. als »die Entschlafenden« (V. 18) und vergleicht sie mit Kindern (V. 20); der Vergleich fiel im Roman kritisch aus: Hyperion beklagte im Befreiungskampf die »Städte unsers kindischen Jahrhunderts« (Vorstufe der endgültigen Fassung, StA 3, 280, 11). H. stellt also fest, dass Zeus’ Wachsamkeit es ist, die die Zeitgenossen am Schlaf hindert, so dass sie im Unterschied zum Tier »Aufgerichtet« (V. 19), menschenwürdig wachend bleiben. Die kinderähnliche ist somit die Kultur, die noch nicht selbständig, die auf die Erziehung durch Zeus angewiesen ist. Der Zusammenhang von poetologischer und geschichtsphilosophischer Reflexion, der im Brief von Ende Dezember 1803 den Gedankengang leitet, lässt sich an einem Natur-Beispiel von Longins Schrift Über das Erhabene konkretisieren: Der Verfasser erhellt dort die Wertschätzung des ›Großen‹ durch den Vergleich mit der qualitativen Differenz u. a. von Ätna-Feuer und Herd-Feuer. Auf die Gattungsdifferenz appliziert, handelte es sich um die Differenz von Vaterländischem und Nacht-Gesang. Diese Applikation legt sich nahe, weil die Ode Vulkan ausdrücklich den freundlichen ›Feuergeist‹ des heimischen Herds beschwört. Seine Qualität, sein Licht und seine Wärme, ist von den Bedingungen und Beschränkungen des nördlichen Klimas, des Winters, bestimmt, nach dem die Ode zuerst benannt wurde. Auf diese Variante des strahlenden Elements trifft die Metapher »Gängelbande« zu. Es ist die Wirkung des »eigentlicheren Zevs«, des ›Vaters der Erde‹ (StA 5, 269, 25; 268, 9), mit seiner Tendenz zur Erde, die hier dominiert. Poetologisch herrscht »die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt.« (StA 4, 233, 21) Anschaulich wird sie in der Bewegungsrichtung des ›Tauchens‹ und ›Sinkens‹ im vorletzten und letzten Gedicht des Zyklus (vgl. auch die Lesart zu V. 29 von Chiron: »der Erde zu« FHA 5, 822). An der Ode Vulkan lässt sich die unterstellte ›Mittelbarkeit‹ der Rede vom Vaterland im Unterschied zum Gesang deutlich erkennen: Man vergleiche seine Anfangsverse mit denen von Der Ister: Jezt komm und hülle, freundlicher Feuergeist, Den zarten Sinn der Frauen in Wolken ein, (StA 2, 60, 1 f.) Jezt komme, Feuer! Begierig sind wir Zu schauen den Tag, (StA 2, 190, 1–3)
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Evident ist hier der durch die Wolkenhülle der Träume gewünschte Abstand zu dem, was das Feuer geleistet hat (Lebensalter, V. 9) und leisten könnte, während es im Ister unmittelbar zugemutet und begehrt wird. Das Beispiel lehrt anschaulich, wie beide Gedichttypen denselben kulturellen Bedarf im Blick haben, nur unterschiedlich angehen. Die Nachtgesänge orientieren sich nüchtern am status quo – die Gesänge versuchen sich in der Begeisterung für die erhoffte neue Kultur. Die stoffliche Thematik, der gemeinsame Nenner dieser Gedichte resultiert aus diesem Zustand des Nochnicht der modernen und des Nicht-mehr der antiken Kultur. Die an den drei Oden-Bearbeitungen konstatierte Reduktion der Perspektive kann also schwerlich als »antiempedokleische Wendung« des Dichters, wie im Falle des Feuers: als Domestizierung des Ätnafeuers im Trauerspiel zum Herdfeuer in der Ode (Schmidt 1978, 7), verstanden werden – oder etwa als ironische Distanzierung (Grunert 1995, 147). Die konstatierte Tendenz zur »Begrenzung des Lebens« gegen die »Entgrenzung« (Schmidt1978, 178) ist kein »Widerruf«. Sie verdankt sich vielmehr der bewussten Anpassung an die »engen Schranken der kinderähnlichen Kultur«, der Begrenztheit der kulturellen Möglichkeiten und der Erfahrung des Mangels im Norden. In zwei Gedichten des Zyklus thematisiert H. andererseits die notwendigen Grenzen der Begeisterung, das Maß des Zu-Lernenden, insofern die Antike diese Grenzen nicht eingehalten hat: in Thränen und in Lebensalter, wo das Wort »Gränze« ausdrücklich fällt (V. 6). Damit wären die Weichen für die Gesamtdeutung gestellt: Es muss sich bei den Nachtgesängen um die Eigenart der hesperischen Kultur handeln, d. h. um die Beachtung und Berücksichtigung der Differenz zwischen Antike und Moderne, wie H. sie in den Böhlendorff-Briefen formulierte, aber derart, dass deutlich wird, was den Hesperiern eignet und was ihnen fremd ist, was sie lernen müssen, wobei sie im Lernprozess noch Kinder sind. Diesen Zustand veranschaulicht H. am Schluss des Zyklus am Naturzustand im Winkel von Hardt bei Nürtingen, seinem Herkunftsort: Der »Grund« wird als »Nicht gar unmündig« bezeichnet (FHA, Einleitung 38). Er hat das besondere »Schiksaal«, an das mit der Fußspur des Herzog Ulrich erinnert wird, bisher nicht eingelöst. Die Gedichte wollen aber demonstrieren, dass aus dieser mangelhaften Situation, recht genutzt, Gewinn gezogen werden kann: Wenn auch als »Erbfeind« (V. 10; vgl. StA 2, 76, 48), weiß der Nordländer den Boreas als lebendiges, ungebundenes Element sehr wohl zu schätzen und im eigenen Hause sich das Fremde
anzueignen (vgl. V. 23), insofern die Differenz und Spannung zum Süden ihn zur Selbstbestimmung nötigt im Sinne der von H. im Brief vom 4.9.1795 an Schiller geäußerten Notwendigkeit, sich »am Eise wärmen« zu können (StA 6, 181, 26 f.). Der Vorzug der Nachtgesänge in H.s später Lyrik besteht für die Forschung darin, dass den Bearbeitungen der sechs Oden erkennbar eine geschichtsphilosophische Reflexion gemeinsam ist. H.s Versuch korrespondiert mit der Übersetzungs- und Kommentierungsaufgabe, wie er sie sich bei Sophokles und Pindar stellte: nämlich das Orientalische als Herkunftsdimension, als den Griechen ursprünglich Eigenes, im Interesse der Schulung der Deutschen hervorzukehren und aus hesperischer Sicht zu erörtern. In den Bearbeitungen der Oden beachtet er eben diese Differenz zwischen den Kulturen (ausdrücklich in Thränen einerseits und Vulkan andererseits), er unterstreicht die Nüchternheit als hesperisch primär Gegebenes, weil sie den besagten Kindern vertraut ist und sie ansprechbar macht für das himmlische und irdische Feuer.
31.3 Das lyrische Ich Alle Gedichte mit Ausnahme des Winkel von Hahrdt sprechen aus der Perspektive eines lyrischen Ich, das sich ausdrücklich problematisiert. Die Forschung (Kling 1980, 85; Nägele 1985, 122; Grunert 1995, 135 f.) hat daher gemeint, einen Rekurs auf das poetische Subjekt feststellen zu müssen als Symptom einer Krise des Dichters angesichts seines überpersönlichen Auftrags. In diese Deutungsrichtung hat zuerst 1962 Peter Szondi gewiesen, insofern er zur Voraussetzung des Gedichts Hälfte des Lebens das Eingeständnis der Verwundung »von anderem Pfeile«, durch persönliches Leid, erklärte, so dass er dessen Entstehung aus Wie wenn am Feiertage ... als Einspruch gegen die hymnische Rede verstand, da diese »das Elegische ganz abgestreift« haben müsse (54). Es stellt sich die Frage, ob das Ich der späten Gesänge tatsächlich »einen anderen Pfeil als den des Gottes nicht mehr« kennt (ebd.), die hier nicht beantwortet werden kann. Aber es lässt sich die Tatsache nicht leugnen, dass im Gedicht, so wie es 1804 erscheint, von persönlicher Liebesklage nicht direkt die Rede ist. Auch die anderen Gedichte verzichten auf Liebesklage, wie sie in den Elegien immer wieder einmal durchbrach. Zwar prägt die Trauer in allen den Ton, aber sie ist nicht persönlich in Rücksicht auf den eigenen Verlust oder Mangel gestaltet, sondern immer exemplarisch geltend ge-
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macht: Der Dichter der Gegenwart trauert um seine Zeit und seinen Ort. Das Dichter-Ich sitzt allein (Kling 1980, 84) – im Dunkeln als Erzieher und Arzt, der sich selbst nicht helfen kann, wartet es auf die Erlösung vom Wundschmerz durch Tod; es weint über den Untergang der antiken Inseln, möchte aber überleben, um sich einen Namen zu machen; es trauert und bittet zur Not um einen Eingriff vom Himmel; es friert, aber behauptet sich gegenüber dem feindlichen Nordwind; es hofft als Vertreter des Volks auf seine Leistung im Chor, den »eigenen Gott« der hesperischen »Sphäre« beizubringen (StA 4, 278, 12 f.); es appelliert an den Stromgeist, zu agieren; es klagt über die Mängel des Winters, wissend um die mögliche »nüchterne Trunkenheit« (J. Schmidt, 1982/83, 185) im Sommer; es fragt – dank der Zeichnungen (1798) von Louis-François Cassas (Kocziszky 1997, 139 ff.; 2009, 38) – angesichts der »Säulenwälder«, wie in seinem geschichtsphilosophischen Werk (1791) Constantin-François de Volney (Groddeck 1996, 154 f.), nach der Bedeutung des Untergangs von Palmyra, während es, wie Ossian als Vertreter der hesperischen Kultur (Steimer 2002/03, 207 u. 220 ff.), ernüchtert im Eichenwald und unter Wolken sitzt, die die toten Heroen, die »Seeligen Geister« (V. 15) tragen; es ahnt angesichts der sagenhaften Fußspur des Herzogs im Wald bei Nürtingen Zukünftiges. Sehr deutlich ist überall der Wartezustand, der Bewegungsmangel, der in Ganymed ausdrücklich widerrufen wird. Es ist wieder die Position Menons in seinen Klagen um Diotima, der aber im Unterschied zu den Elegien die Gestik der Wanderung und die hymnischen Aufschwünge gerade fehlen. Wenn Menon in der 1. Strophe sich mit einem getroffenen Wild nur verglich, das ›der Stachel umhertreibt‹ (V. 8), so ist dieser Vergleich in Chiron, dem 1. Gedicht des Zyklus, Wirklichkeit geworden: Den zweigestaltigen verwundeten Kentauren schmerzt »der Stachel des Gottes« (V. 37); »es/ Kennet kein einziger nicht das Beste« (V. 35 f.). Leidend unter dem »Mangel an Geistesgegenwart, der gegeben ist, wenn der Dichter sich in Reflexionen über seine Aufgabe verstrickt« (Stanitzek 1989, 272, vgl. 261), erfährt der zaghafte Dichter den Menschen als »ein einsam Wild« (Blödigkeit, V. 9). Kälte, Nacht, Schlummer, Nüchternheit und Bedarf an ›Zorntrunkenheit‹ (vgl. Ganymed, V. 15) sind dominant. Es herrschen hesperische Verhältnisse zwischen Himmel und Erde, wobei die Perspektive deutlich auf die Erde konzentriert ist; im letzten Gedicht des Zyklus fehlt der Himmel völlig.
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G. Neumann (1984) hat im Anschluss an Rudolf Borchardts (1926) These vom umnachteten H. über Hälfte des Lebens geurteilt: »[...] das eigentliche Thema des Gedichts ist die bedrohte Autorschaft, das Zerfallen des die Einheit eines Textes und damit seine Verstehbarkeit garantierenden Subjekts« (102). Er meint einen »›Paradigmenwechsel‹ der europäischen Kunsttradition« und »Ansatz zu einer ›Semiotik des Schweigens‹« zu erkennen (105). Demgegenüber ist festzustellen: Die Nachtgesänge ziehen nicht so sehr ein Fazit des Dichters aus seiner Distanz zum Selbst, zu den Göttern, zur Nation und zur Natur, als vielmehr aus den geschichtsphilosophisch markierten hesperischen Bedingungen des Kulturmangels, da H. im Vergleich zur Position der Elegien inzwischen durch die Frankreich- und Regensburg-Reise entschieden »erfahrner« (StA 2, 83, 102) in die Heimat zurückgekehrt ist. Die persönliche Trauer und »Sorge« des Dichters (StA 2, 99, 105) wird als symptomatisch für die geschichtliche Krise der Natur, für die »Wende der Zeit« (Blödigkeit, V. 18) gewertet; elegische Erinnerung an die alten Kulturen ist nicht mehr und hymnische Anrufung der kommenden ist noch nicht angesagt. Der Einsamkeit und Verlorenheit des Subjekts widerspricht der dialogische Gestus der meisten Gedichte: Angeredet werden nacheinander das Licht, die Liebe, die antiken Inseln und die Tränen, die Hoffnung, der Feuergeist, der Dichter, der Fluss als Bergsohn, die Städte am Fluss Euphrat – in Blödigkeit und Hälfte des Lebens ist ein Selbstgespräch vorhanden, im Winkel von Hahrdt gibt es keinen Adressaten, es sei denn der im Titel genannte. Die Angesprochenen sind idealische Begriffe und ihre analogen, natürlichen Äquivalente einerseits, konkrete Orte der Natur oder Geschichte andererseits. Zu allen Angerufenen besteht ein Verhältnis der Distanz, der Defizienz, des Mangels, das durch die Tageszeit (Abend bzw. Nacht) und die Jahreszeit (Herbst bzw. Winter) repräsentiert wird. Die erinnerten geschichtlichen Orte der Antike stehen im Zeichen der verlorenen Blütezeit (Thränen: V. 15 »Entstellt fast«; vgl. »Fast ungestalt«, FHA 5, 733), der moderne Ort im Zeichen der noch fehlenden geschichtlich bedeutsamen Gestalt. Gleichwohl dient die Klage der Berufung auf eine geschichtliche Möglichkeit derart, dass aus den Fehlern, dem Untergang der Antike gelernt werden soll. Dank und Liebe haben eine Umwertung erfahren im Sinne des letzten Satzes von Mnemosyne: »dem/ Gleich fehlet die Trauer«. Zwar »bleibt die Liebe« (Vulkan, StA 2, 526, 21 f.), das alle zornigen Kräfte der Natur überwiegende Lebendige. Aber aus der von H.
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nur in Thränen zugleich geäußerten Diagnose eines falschen Extrems von Liebe (V. 7 f.) und Dank (V. 9), dem die Antike anheimfiel, wird hier indirekt die Konsequenz für die Moderne gezogen, die Beschränkungen des eigenen Kulturzustands zu bejahen bzw. anzuerkennen und zu gebrauchen, ohne ins andere Extrem des ›Allzunüchternen‹ zu fallen. In Chiron gilt die Liebe dem ›göttlichen Unrecht‹ (V. 38, ›der göttlichen Untreue‹, Ganzer, 1976, 179 ff.), in Ganymed wird mit göttlicher Treue nur jenseits der Erde gerechnet. In Lebensalter dient die Erkenntnis der Hybris der ehemals geliebten Antike, welche schon in Thränen nur zum Weinen führt, auch nicht zur neuen Kulturstiftung; denn die Bedürfnisse der Gegenwart haben deren Wert entfremdet (V. 13). Der »Verzicht auf das griechische Leitbild« hat das Sagen (Binder, 1970, 361), vermittelt durch eine Naturdarstellung, die die elegische Verlustmeldung einer untergegangenen Kulturlandschaft, wie sie die 6. Strophe von Brod und Wein und der 2. Teil des Entwurfs ... der Vatikan ... bieten, noch steigert zu einer Aschenzone, einem Friedhof der Antike. Denn wo Kultur war, ist wieder Natur geworden; wo aber Natur ist, soll Kultur werden (vgl. Groddeck 1996, 162). Dementsprechend wird gerade in dem letzten Gedicht des Zyklus der erinnernde Blick auf die Landschaft als eine ›mündige‹ und ›schicksalhafte‹ in Anschlag gebracht; dazu bedarf es der Hände der Dichter, welche die letzte Strophe von Blödigkeit als »schikliche« voraussetzt.
31.4 Die Gäste Die entscheidende Veränderung lässt sich in der Überführung dreier Gedichttitel in griechisch/römische mythologische Figuren erkennen: Der blinde Sänger wird zu Chiron, statt Der Winter heißt es Vulkan, statt Der gefesselte Strom (vorher: Der Eisgang) Ganymed. Herakles wird außerdem als Chirons Besucher genannt, allerdings ganz am Ende erst bei seinem Namen. Dieses Verfahren folgt wohl weniger frühromantischen Bestrebungen (KA 1, 796; Grunert) als dem Interesse, Deutsches ins Griechische zu übersetzen, wie H. es umgekehrt vorzog, statt griechisch Zeus im Deutschen »lieber: Vater der Zeit oder: Vater der Erde« zu sagen (StA 5, 268, 8 f.). In Ermangelung mythischer Äquivalente oder ›Bilder‹ (StA 4, 275, 12; 280, 1), ›heiliger Namen‹ (StA 2, 99, 101) unter den Bedingungen der kinderähnlichen Kultur erinnert H. an entsprechende antike, ›analoge Stoffe‹ (StA 4, 150 f.), deren Charakteristikum hier etwas Mischwesenhaftes
ist: zwischen Tier/Mensch, Erde/Himmel, Mensch/ Gott, woran die hesperischen Kinder ihren unvollkommenen Zustand erkennen können. »Der blinde Sänger«, der Herd im »Winter« und »der gefesselte Strom« Germaniens sollen durch die Anrufung mit analogem griechischem Namen Nähe und Ferne zum fremden orientalischen Ursprung der Griechen im Dienste der eigenen Bildung verspüren. Dieses Verfahren gehört zum »Programm hesperischen Sprechens« (Behre 1987, 193), das die Nachtgesänge kennzeichnet, wobei freilich an Dionysos als nocturnus Bacchus (ebd., 195) nur im verfremdenden Sinne eines Gastes zu erinnern wäre. Dass die – den griechischen »Inseln der Liebe« (V. 14) gewidmete – Ode Thränen, unter dem Stichwort Sapphos Schwanengesang entworfen, den Titel wechselte, ist vermutlich dem Wechsel von der sapphischen Strophe zum alkäischen Metrum geschuldet. Im Falle des hesperisch verdrossenen Dichters wählt H. den zu Unrecht leidenden, kranken Kentauren, – im Falle des vor Kälte erstarrten Stroms den auf der Erde zum ›Fremdling‹ (V. 16) gewordenen Götterliebling und -mundschenk Ganymed, Enkel des Flusses Skamander, Urenkel des Okeanos – und im Hinblick auf den hesperischen Wärmebedarf den hinkenden, Menschen und Göttern nützlichen Feuer- und Schmiedegott Hephaistos. Wenn H. sich in den Gesängen Hellas zuwendet, begibt er sich als Hesperier auch auf die pindarische Reise dorthin (Seifert 1998). Von daher gesehen erscheint es nur konsequent, wenn er bei der Hinwendung zum bedürftigen Vaterland umgekehrt antike Gäste einführt oder sich in diese versetzt, wie er die »Gratien Griechenlands« und der »Ister« Herkules einlädt (StA 2, 141, 98 ff.; 190, 27 f.); dabei betont er weniger die Kulturwanderung in der Horizontale als die ›Verpflanzung‹ in der Vertikale: »Kolonien liebt, und tapfer Vergessen der Geist.« (FHA 6, 262, 156) Der Schluss von Ganymed pointiert dies insofern, als der Heros an den Himmel zurückversetzt wird, indem H. das Mythologem vom Sternbild Wassermann verwendet, während Chiron und Vulkan noch im Exil gebraucht werden. Es sind die mit mythischen Namen qua Titeln annoncierten Nachtgesänge, die denn doch einen heroischen Schritt in die Zukunft anvisieren. Das vorbildliche Ausharren Chirons in der Nacht eröffnet die Möglichkeit des Augen- und Tageslichts so wie der Spuren, die Tatkraft beweisen (V. 41 ff.); das Sich-aufsich-selbst-Besinnen (V. 23) am heimischen Herde, wo Vulkan als »freundlicher Feuergeist« (V. 1) agiert, macht den Umgang mit dem frostigen nördlichen Kli-
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ma lehrreich, und die Tatsache, dass der Strom auf den Appell des Dichters und Helios’ hin sich vom Eise befreit, weckt den ›Geist der Erde‹ (V. 20) wieder und gibt dem Menschen dadurch eine Aussicht, – die so politisch wirkt, dass Brecht sie im Lied seiner Mutter Courage verwenden konnte: »Das Frühjahr kommt! Wach auf du Christ!« (vgl. Ganymed V. 21). In diesen Nachtgesängen vermisst und ersehnt der Dichter das, was er »das Wechseln/ und das Werden« der Natur genannt hat (StA 2, 111 f., 292 f.).
31.5 Die Tendenz der Auswahl und Überarbeitung Der häufige fragende Gestus der Gedichte gilt der fehlenden oder gehemmten Bewegung in der Natur, zu deren Gesetzmäßigkeit der regelmäßige Wandel von Tag und Nacht, Winter und Frühling gehört. An einigen der Oden lässt die Bearbeitung diesen Aspekt der Unzufriedenheit des sprechenden Ich deutlich erkennen. Der blinde Sänger fragte nach dem Licht, weil er es nicht mehr sehen konnte. Chiron muss den nächtlichen Lichtmangel, den er empfindet, begründen. Die vergebliche Suche nach dem Licht lässt die Natur, die Nacht, die herrscht, feindlich wirken, sie »zürnt« dem wachenden Chiron (V. 3). Er nimmt den vernichtenden und reinigenden Donnerer wahr und reagiert mit »Gesichten« von einer aorgischen Erde. Als zweigestaltiger, für Natur und Kunst anfälliger Teilnehmender am Wechsel der Zeiten fühlt er sich aber überfordert, bis auch für ihn wieder ein »Tag« anbricht. Der blinde Sänger schloss mit dem Appell an die Freunde – wie auch in den Elegien üblich –, den Wiedergewinn des Lichts gemeinsam tragen zu helfen. In Chiron richtet sich stattdessen der Appell des Erziehers an einen Schüler, der sich mit Ross und leichtem Speer – wie der junge Achill (Pindar Nem. 3, 43 ff.) – zum Aufbruch rüsten soll. Chirons Aussicht auf das Tagen erweist sich als Vision, deren Erfüllung noch aussteht; noch gilt nicht: »Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht« (StA 2, 118, 23). Einerseits erwartet der Schmerzkranke von Herakles, der ihn versehentlich verwundete, den gewünschten Tod, insofern der an sich unsterbliche Kentauer anstelle des befreiten Prometheus sterben darf. Andererseits erscheint der »Knabe« als das Versprechen der kinderähnlichen Kultur, der »Enkel«, dem »die größere Lust« noch aufgespart ist (StA 2, 89, 108), während der Lehrer der Antike abtreten kann. Die Schlussstrophe bietet wie in den übrigen Oden den entscheidenden Ausblick: Hier
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handelt es sich um den durch das mythisch vorgegebene Lehrer/Schüler-Verhältnis evident werdenden Kultur-Wechsel: Antike/Moderne. Thränen ist als spätes Gedicht zu qualifizieren, wie denn von den wenigen früheren Keimworten die aussagekräftigsten nur die Anfangsverse konstituieren. Der Dichter verlangt von sich das Gedächtnis der ›himmlischen Liebe‹, wie sie »in Tagen der Schönheit« (V. 10) auf den vulkanischen griechischen Inseln »Sichtbar« (V. 13) Gestalt annahm: in der Natur (»Bäume«, V. 11), bei den Menschen (»Heiligen«, V. 9 und »zorn’gen Helden«, V. 11) und in ihrer Zivilisation (»Städte«, V. 12). Die Entstellung (V. 15) dieser Gestalt beklagen die vier Strophen als den Status quo der Antike. Die letzte aber wendet sich gegen die gefährliche Form dieses Nicht-Vergessens, wenn nämlich die Tränen alle Sehkraft und damit dem Dichter das Wort rauben. H.s Standort, im dreimaligen Keimwort »Hier« des Entwurfs (FHA 5, 730 f.) vielleicht – wie in V. 15 von Der Ister – ursprünglich noch anvisiert als Kontrast, fehlt sonst völlig im Gedicht. Es hat als einziges im ganzen Zyklus fast keinen anderen Standpunkt als den des Rückblicks, der aber eben im Unterschied zu den Elegien jetzt ausdrücklich um sein eigentliches Telos beschnitten wird. Denn die Liebe zu den Himmlischen, auf die das Gedenken abzielt, ist zugleich Gegenstand der Kritik, insofern sie zu weit gegangen ist, »über die Gränze/ Der Othmenden« (V. 6 f.), wie H. in Lebensalter formuliert. Das Gedächtnis bietet keinen »Faden« (StA 4, 251, 14 f.) der Erinnerung, weil es auf die Untergangssymptome der Antike fixiert ist; das erkennt die letzte Strophe. Das Gedicht Lebensalter gibt dagegen dem ›Hier und Jetzt‹ (V. 10) eine Position im Gedicht; den ehemaligen »Bäumen« auf den Inseln in Thränen stehen die »Wohleingerichteten Eichen« gegenüber, unter denen der Dichter sitzt, der Überlieferung entfremdet (V. 13). Die naheliegende Konsequenz aus dieser Gedicht reihe bildet das letzte Gedicht des Zyklus, in dem des antiken Raumes nicht mehr gedacht wird, vielmehr der heimatliche, schwäbische präsent ist: »ein Grund,/ Nicht gar unmündig« (V. 4 f.), »an übrigem Orte« (V. 9), dem »Winkel,/ und wo die Knaben gespielt« (StA 2, 235, 48 f.). Die Perspektive des Gedichts verdankt sich dem Bewusstsein von der Geschichtsträchtigkeit des Ortes. Aus dieser semantischen Zugehörigkeit ergibt sich eine Korrespondenz zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Gedichten. Während der Zyklus mit der Abdankung der Lehrmeisterin Antike beginnt, schließt er mit der Erwartung an die deutsche Geschichte als Lehrmeisterin.
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Auch bei den derart eingerahmten übrigen fünf Gedichten des Zyklus lässt sich eine Korrespondenz verzeichnen, wobei die Mitte das Gedicht Blödigkeit bildet, das sich von den anderen durch seine Konzentration auf die Frage nach dem Dichter unterscheidet. An die Hofnung ist das älteste der Gedichte, entstanden in Homburg um 1800, zuerst betitelt Bitte. Der Kontrast zu dem vorangegangenen Thränen erscheint daher erheblich. Die Hoffnung wird aus dem »Haus der Trauernden« (V. 2) heraus angeredet und in der Natur gesucht, einem herbstlichen locus amoenus. Der Suchende richtet tags den Blick auf die Erde, nachts auf den Himmel. Angesichts der Sterne wird die Hoffnung als »des Aethers Tochter« (V. 17), also als himmlisch qualifiziert. Aus diesem Wechsel ergibt sich die Änderung des Gesuchten (StA 2, 523, 4–13). Die Nacht ruft die erhabene Möglichkeit der Hoffnung hervor, die mit Schauder und Schrecken verbunden wäre: statt »sterblich Glük«: »Geist der Erde« (V. 19), statt Schrecken »mit Unsterblichem«: Schrecken »mit anderem« (V. 20). Die »Umkehr« (StA 5, 271, 5), die das Gedicht am Ende nicht ausschließt, die von Gestalt in Ungestalt, von Organischem ins Aorgische, kennzeichnet auch dieses Gedicht als dem skizzierten Typ des Nachtgesangs zugehörig: Der menschlichen, an der heimatlichen Natur orientierten Hoffnung eröffnet sich ein fremdes Sichtfeld, dem der Dichter als Lernender gewachsen sein will. Mit dem Kontrast zwischen Himmel und Erde, der im dritten Gedicht auftritt, korrespondiert im siebten, in Hälfte des Lebens, für das H. in der Handschrift den Titel Die lezte Stunde erwog (StA 2, 664, 21), der Kontrast zwischen den Jahreszeiten auf der Erde, durch die strophische Trennung anschaulich gemacht. Der Fragegestus gilt dem, was im Winter fehlt; der Himmel ist nur indirekt als erinnerter präsent, insofern ihm »Sonnenschein« und »Schatten der Erde« zu verdanken wären. In der zweiten Strophe gravitiert die Hoffnungslosigkeit zur Erde in dem Maße, wie in der ersten die schöne Abwärtsbewegung im Wasserelement als der Domäne der Schwäne aufgefangen wird. Die in zwei Tableaus vorgestellte Natur selbst wird hier dissonant und für den hesperischen Mangel haftbar gemacht; ganz anders Menninghaus’ kunstvolle These, der dank der Identifikation des Adoneus-Verses auch schon im Titel eine Anspielung auf den Mythos von Adonis und Narziss veranschlagt, d. h. mit einer Spiegelung rechnet. Die Gedichte Vulkan und Ganymed sind beide deutlich von hesperischen Wetterverhältnissen geprägt. Im einen Fall geht es um den von diesen be-
anspruchten Aspekt der Elemente Feuer und Luft, im anderen um den Aspekt des Elements Wasser. Die an der Liebe und der Hoffnung schon gekennzeichnete zweifache Dimension des Angenehmen, Organischen einerseits und des Schrecklichen, Aorgischen andererseits wird in Vulkan sowohl an dem im Norden relevanten Wind wie am Feuer geltend gemacht: Es handelt sich um zürnende »Geniuskräfte« (V. 28), wenn etwa der Boreas nachts »sein schröklich Lied singt« (V. 12). Aber der derart vom Winter bedrohte Standort im Haus – nach Hesiods Werken und Tagen (V. 503 ff.) geschildert (Yu-Gundert 1998) –, hinter dem »Zaun«, hinter den Stadtmauern (V. 13), lässt den Menschen, der es hört, sich seiner ›Freiheit‹ im schillerschen Sinne bewusst werden (V. 23 f.). H. wünscht in der ersten und letzten Strophe die Verwandlung der wilden in ›freundliche Genien‹, die sich »seegnend« (V. 26) erweisen. Die vom Menschen nicht zähmbaren elementaren Bewegungen in der Natur, die menschenfeindlichen Naturkräfte im Norden, kommen gleichwohl dem menschlichen Bildungsgang zugute. Die weitestgehende Veränderung erfährt das in der Mitte des Zyklus platzierte Gedicht Blödigkeit, dem die asklepiadäische Ode Muth des Dichters und die beiden Fassungen von Dichtermuth (vermutlich zwischen 1799 und 1801) vorausgehen. Der Titelwechsel signalisiert eine Scheu im Umgang mit der Selbstermutigung. Die grundlegende Differenz zwischen der zweiten Fassung und dem Text des Taschenbuchs liegt in dem im zweiten Teil der Ode (ab der 4. Strophe) ausgeführten Vergleich: Wo in Muth des Dichters noch Orpheus’ Ende als Beispiel diente, nehmen in Dichtermuth die ›Offenheit‹ und der Weg des Dichters Maß am Sonnengott, seinem Verhalten zu den vergänglichen Menschen und seinem ›Wandel‹ von Aufgang zu Untergang, während in Blödigkeit Zeus selbst die ›Offenheit‹ garantiert. Das Argument des vergleichbaren Weges muss daher fortfallen; H. verzichtet auf eine entsprechende Strophe und ändert den Schluss: Während die Korrespondenz mit dem Sonnenlauf am Ende einen »schönen« Untergang ins Auge fasste, wird jetzt den Dichtern zugetraut, aus der Reihe der »Entschlafenden« (V. 18) auszuscheren und, an die dritte Strophe vor dem Vergleich anschließend, den »Chor« (V. 12) zu ergänzen. Hielten die Elegien nach dem möglichen Wiederkommen der Götter auf Erden Ausschau, schließt Blödigkeit paradoxerweise mit der entschiedenen Erwartung, dass die Dichter, wenn sie kommen, einen Gott zu »bringen« vermögen. Voraussetzung dafür sind ausdrücklich ihre ›schicklichen Hände‹; diese besitzen, neben dem mög-
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lichen Bezug zur ethisch/stoischen und rhetorisch/ poetischen Tradition, die J. Schmidt herausgestellt hat (KA 1, 831 f.), die geschichtsphilosophische Qualität der begriffenen Vermittlung von Antike und Moderne, wie sie der Brief an Böhlendorff vom 4.12.1801 lehrt: Dem Dichter geht es um das lebendige »Verhältniß und Geschik« (StA 6, 426, 34), das ›Nüchternheit‹ und ›heiliges Pathos‹ eingehen müssen, wenn denn eine erwachsene Kultur eintreten soll. Dass dieser Gedankengang hier mitspielt, dafür spricht der genannte Wechsel vom »Sonnengott« zum »Himmels Gott« bzw. Vater der Erde, – dem Zeus der Hesperier, wie H. in den Anmerkungen zur Antigonae postuliert (StA 5, 269, 24 f.). Seine Bändigungstendenz, die dem Charakter der Hesperier entspricht, soll in der Auseinandersetzung mit den widerständigen »Lebendigen« (V. 1), mit dem, was dem Dichter zunächst ›ungelegen‹ (V. 5) und ›beleidigend‹ erscheint, erprobt werden. H. bezieht sich hier auf die von ihm schwer errungene Erkenntnis, auch die Dinge, die »zerstörend wirken«, seinem »wahrsten Leben dienlich« zu machen (Brief an Neuffer V. 12.11.1798; StA 6, 290, 65– 69). Die Veränderung, die Bewegung, auf die es in der Natur ankommt, wird als »Wende der Zeit« apostrophiert und von den Dichtern durch ihre »Kunst« (V. 22) unterstützt. Im nächsten Gedicht ist von dem Naturphänomen die Rede, das H. immer wieder – und nicht zuletzt im Pindar-Fragment Das Belebende – im Sinne der gewünschten Dichterrolle verstand: »dem Stromgeist« (StA 5, 290, 40). Das Resonanzverhältnis zwischen »des Fremdlings/ Besonderer Stimme« (V. 16 f.), dem sich wieder bewegenden, belebenden Strom, und seinen Ufern lässt das Orpheus-Motiv anklingen, das in der Genese von Dichtermuth eine Rolle spielte. Dieses Resonanzverhältnis wird in der Druckfassung von Ganymed verallgemeinert, die Erde erwacht – »anders« geworden wie in Chiron (V. 40), wenn es tagt. So kann Ganymed abheben von der Erde (»ferne; nicht mehr dabei«, V. 22). Dem Dialog zwischen dem Stromgeist und dem Geist, der sich »im/ Nabel der Erde« wieder regt, korrespondiert das »himmlisch Gespräch« (V. 24), das aber nicht wie das irdische anschaulich werden kann und in den Nachtgesängen auch nur geahnt wird. Sehr deutlich hat H. bei der Überarbeitung den Strom gleich eingangs mit der hesperischen »Farbe des Schiksaals« eingefärbt (StA 6, 290, 79), er ist ›unmutig‹, er liegt »schief«, er ›friert‹, er ist vergesslich und ›linkisch‹. Auf diese Weise erscheint Ganymed tatsächlich affiziert durch das Exil, in das H. ihn poetisch ver-
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setzt hat. Der zornige Aufbruch aus dem Eis kann daher als ›Reinigung‹ eines ›Gefesselten‹ (V. 11 f.) qualifiziert werden. Auf diese Ode folgen die drei kurzen Gedichte, die nicht mehr nach antikem Maßstab gedichtet sind; »so wie wir irgend einen Stoff behandeln, der nur ein wenig modern ist, so müssen wir, nach meiner Überzeugung die alten klassischen Formen verlassen [...]« (StA 6, 339, 28 ff.). Es geht H. in den Nachtgesängen stofflich, wie sich gezeigt hat, tatsächlich tendenziell um »Die heimathliche Natur«, deren Studium er sich ausdrücklich nach der Rückkehr aus Frankreich widmete (StA 6, 433, 37 f.): um das Licht, das Gewitter, die Quelle und die Herbstzeitlose, den Nordwind, das Herdfeuer, den vom Winter gehemmten Strom, Rosen, Birnen und Schwäne (in Kassel, vgl. Sattler 1996, 165), um Eichen, Heide und Reh, Wälder, den Ulrichstein bei Nürtingen. Bezeichnender Weise fehlen die Vögel, die in den Elegien und Gesängen die imaginäre interkulturelle Reise präfigurieren, und insbesondere die Zugvögel, die in den Entwürfen den Weg weisen. An ihre Stelle sind die fremden Gäste in den Oden getreten, durch deren Wirken die Hesperier ihren Bildungsbedarf erkennen können. Die drei letzten Gedichte des Zyklus verzichten dagegen auf mythologische Analogien zwischen Antike und Moderne. Ihr auf die Erde konzentrierter Blick bleibt an den heimatlichen Orten haften. Obwohl nicht als Zyklus konzipiert, bietet die Veröffentlichung der neun Gedichte denn doch einen Zyklus, dem im Gesamtwerk eine eigenständige Konzeption zu attestieren ist, so dass sie den Elegien einerseits und den Gesängen andererseits an die Seite gestellt werden können. Möglichkeiten und Grenzen der Konzeption sind durch die Adresse bedingt: die kinderähnliche Kultur. Literatur
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Anke Bennholdt-Thomsen
32 Gesänge (Stuttgart, Nürtingen, Homburg)
32 Gesänge (Stuttgart, Nürtingen, Homburg) 32.1 Einführung »Ich bitte, dieses Blatt nur gutmüthig zu lesen. So wird es sicher nicht unfaßlich, noch weniger anstößig seyn. Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich Ihnen geste hen: ich kann nicht anders. An einem schönen Tage läßt sich ja fast jede Sangart hören, und die Natur, wo von es her ist, nimmts auch wieder. Der Verfasser gedenkt dem Publikum eine ganze Sammlung von dergleichen Blättern vorzulegen, und dieses soll irgendeine Probe seyn davon.« (StA 3, 532)
Der zitierte Text ist der Vorspruch zu Friedensfeier. Das zwölfstrophige Gedicht, dessen Reinschrift erst 1954 in London wieder aufgefunden wurde, gilt als Beispiel jener Gedichte des Spätwerks, die allgemein als Vaterländische Gesänge bezeichnet werden. Friedensfeier war entstanden in der Euphorie über den Frieden von Lunéville (8. Februar 1801), der den zweiten Koalitionskrieg zwischen Napoleon und den Fürsten des Rheinbunds beendete. Der politisch ausgehandelte, historisch nicht besonders bedeutende Friede hatte H. mit großen, vielleicht etwas überspannten Hoffnungen erfüllt. Er wird in Friedensfeier zu einem epiphanischen Ereignis umgedeutet – freilich als »Versprechen«, »denn zu viel liegt dem Dichter an dessen Erfüllung, als daß er sich die Macht anmaßen wollte, es als erfüllt hinzustellen.« (Szondi 1978, 317): »Einmal mag aber ein Gott auch Tagewerk erwählen,/ Gleich Sterblichen und theilen alles Schiksaal./ Schik saalgesetz ist diß, daß Alle sich erfahren,/ Daß wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei/ [...]/ Viel hat von Morgen an,/ Seit ein Gespräch wir sind und hören von einander,/ Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Ge sang./ Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,/ Ein Zeichen liegts vor uns, daß zwischen ihm und an dern/ Ein Bündniß zwischen ihm und anderen Mäch ten ist.« (MA 1, 364, V. 81–84, V. 91–96)
Damit thematisiert H. die Gattungsbezeichnung »Gesang«. Die Bestimmung Vaterländische Gesänge stammt aus einem Brief an Friedrich Wilmans vom Dezember 1803, in dem H. dem Verleger seiner Sophokles-Übersetzungen (s. Kap. 27) eine Sendung mit Gedichten für dessen Musenalmanach in Aussicht stellt.
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Nach der Vorstellung der sogenannten Nachtgesänge (s. Kap. 31), folgt der knappe und kryptische Hinweis auf ein ›anderes‹ Projekt, das ihn seit einigen Jahren intensiv beschäftigte: »[...] ein anderes ist das hohe und reine Frohloken vaterländischer Gesänge.« (StA 6, 436) In einem vermutlich erst einige Tage zuvor geschriebenen Brief an Wilmans hatte H. dieselben Gesänge als »einzelne lyrische größere Gedichte« angekündigt, von dem »jedes besonders gedruckt« werden soll, »weil der Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit.« (StA 6.1, 435) Die Begriffe und Beschreibungen in den Briefen (s. Kap. 36) entsprechen durchaus der von H. um 1800 entwickelten poetologischen Konzeption einer Dichtung mit zugleich öffentlich-politischen und prophetischen Ansprüchen, die sich radikal von den derzeit geltenden Literaturauffassungen zu distanzieren versuchte (s. Kap. 20). Als einziges Beispiel und Vorbild verweist H. im Brief an Wilmans auf »Das Prophetische der Messiade und einiger Oden« Klopstocks (vgl. StA 6, 436). Aber das wichtigere Vorbild dürften die Oden und Hymnen Pindars gewesen sein, mit deren Übersetzung sich H. ebenfalls um 1800 in Homburg beschäftigt hatte (s. Kap. 27). Dem erhabenen und ›objektiven‹ Ton der Pindarischen Lyrik entsprechend wollte die von H. anvisierte ›andere‹ Dichtung die auf das Private und Subjektive ausgerichtete Erlebnisdichtung – den »müden Flug der Liebeslieder« (vgl. StA 6.1, 436) – hinter sich lassen. Die neue Dichtung sollte die großen geschichtlichen Prozesse, die H. zugleich als humane Kulturarbeit und als göttliches Schicksal auffasste, als eigentliches Subjekt ins Zentrum der Texte rücken. Sie hatte sich aber gleichfalls von der bloßen Nachahmung der klassischen Literatur zu befreien, »dem Dienste des griechischen Buchstabens« (StA 6.1, 422), zugunsten einer radikal geschichtsphilosophisch begründeten Ästhetik, deren Prinzip H. Ende 1801 im Brief an Casimir Böhlendorff über die Beziehung zwischen der griechischen und der modernen Kunst als den »freie[n] Gebrauch des Eigenen« definierte – »das schwerste«, was die moderne Kunst zu lernen habe (vgl. StA 6.1, 426). Im zweiten Brief vom Ende 1802, in dem H. die früheren Auffassungen über die chiastische Beziehung zwischen der »fremden« griechischen und der »eigenen« abendländischen, hesperischen Natur und Kunst fortführt und mit den starken Eindrücken der Bordeauxreise und des revolutionären Frankreich (s. Kap. 6) verknüpft, wird die im Vorspruch programmatisch angekündigte neue Poetik noch einmal – als dringende Aufgabe – formuliert: »Ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_32
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Zeit nicht commentiren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen andern Karakter nehmen und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.« (StA 6.1, 432– 433) Wie radikal sich der »andere Karakter« dieser »vaterländischen und natürlichen« Sangart von jedweder romantischen Konzeption einer poetisch beschworenen Unmittelbarkeit unterscheidet und keineswegs als unreflektierte Absage an die antike Literatur, wohl aber als Kritik oder »Überwindung des Klassizismus« (Szondi 1978, 345–366) zu verstehen ist, beweisen zunächst die Sophokles-Übersetzungen (s. Kap. 27). Die für Zeitgenossen wie Goethe und Schiller »anstößige« und »unverständliche« Sprache der Übersetzungen betrachtete H. selber als Beweis dafür, dass er »jetzt [...] mehr aus dem Sinne der Natur und mehr des Vaterlandes schreiben« könne (StA 6, 434) – offensichtlich eine Anspielung auf die Analyse des ersten Böhlendorff-Briefes. Zwischen den geschichtsphilosophischen und poetologischen Konzeptionen des Sophokles-Projekts und der Vaterländischen Gesänge gibt es mehrere Parallelen, die im Grunde genommen auf die theoretischen Reflexionen der ersten Homburger Zeit (1798– 1800) (s. Kap. 24) sowie auf das jenen Überlegungen vorausgegangene Scheitern des Trauerspiels Der Tod des Empedokles (s. Kap. 22) zurückzuführen sind. Sie lassen sich pauschalisierend als Kritik an einer dem Subjektbegriff der Geniezeit verpflichteten personalen, heroischen Vermittlerrolle des Dichters bezeichnen. Dem setzt H. in den Entwürfen Das untergehende Vaterland ... und Wenn der Dichter ... eine geschichtsphilosophisch fundierte Poetik entgegen, deren wichtigstes Ziel die poetische Artikulation historischer Veränderung – ›Werden und/im Vergehen‹ – ist, und zwar ohne diese um ein individuell-heroisches Ich zu zentrieren. Wie wenn am Feiertage, das als Urmodell der Gesänge gilt, versucht noch einmal, diesen personalen Mittlertypus aufzuführen, artikuliert aber schon das Bewusstsein der Notwendigkeit, über das individuelle Ich hinauszugehen, soll Geschichte zum eigentlichen Subjekt der Dichtung gemacht werden. Das Programm der Gesänge drängt deshalb das Ich als substantielles Subjekt der Sprache zurück zugunsten einer Reihe von vermittelnden Instanzen, welche die Identität einer allein vorausgesetzten und in der Sprache dann nur noch repräsentierten Subjektivität dissoziieren (vgl. auch den Brief an den Bruder vom März 1801, StA 6.1, 419), um sie durch Sprache allererst zu konstituieren (s. Kap. 19).
Seit ihrer eigentlichen Entdeckung und Herausgabe durch Norbert von Hellingrath (s. Kap. 37) am Anfang des 20. Jh.s werden die Gesänge als Höhepunkt von H.s Werk und Summum seines lyrischen Schaffens betrachtet. Dass diese oft in rätselhaften und schwer entzifferbaren Handschriften, nicht selten in verschiedenen Entwürfen und Fassungen überlieferten Gedichte angeblich immer aufs Neue »das Vaterland oder die Zeit angehn« und somit ihren Aktualitäts- und Alteritätsanspruch bewahren, hat H.s prototypisches Verhältnis zur Moderne begründet. Die Kritik an der neuzeitlichen Auffassung des Subjekts als einer res cogitans, deren vermeintliche Selbstgenügsamkeit und Autonomie von H. in Frage gestellt wird, mag einer der wichtigsten Gründe sein. Ein anderer, mit dem ersten zusammenhängender ist die ebenso einschneidende Einsicht in die ursprüngliche und unaufhebbare Sprachlichkeit des Seins. Die einzigartige Komplexität der Gesänge, in denen sich poetische, mythisch-religiöse und philosophische Diskurse zu einem polyphonen Interdiskurs verdichten, um einen als »göttlich« aufgefassten, nicht-subjektiven Zusammenhang zu bezeichnen, hat die Rezeption von H.s Werk auch außerhalb der Literaturgeschichte stark gefördert und es zum Paradigma eines interdisziplinären Dialogs insbesondere zwischen Literatur und Philosophie gemacht. Die H.-Erläuterungen und -Seminare Martin Heideggers (s. Kap. 39) sowie der Parataxis-Aufsatz Theodor W. Adornos (s. Kap. 40) waren wegweisend für die philosophische Rezeption der Gesänge. Sie haben, nicht zuletzt als Reaktion gegen eine für das spezifisch Literarische der Texte nicht immer sensible philosophische Vereinnahmung von H.s Werk, auch das literaturwissenschaftliche Interesse an den ihnen zugrunde liegenden poetologischen Reflexionen geschärft und die Aufmerksamkeit auf das »Geschick seiner Hände« (Szondi 1978, 366; s. Kap. 40), das ›technische‹ oder handwerkliche Können des Schriftstellers statt auf die vermeintliche magische Sprachkraft des »Dichters und Denkers« gelenkt. Adornos Urteil, die Spätdichtung sei »der Gedankenlyrik so inkommensurabel wie der Erlebnisdichtung« (Adorno 1974, 464), will vor einer solchen Reduktion von H.s Gedichten auf Philosopheme (oder Theologeme) warnen und die Sprachlichkeit, das Geschriebensein oder die Literarität dieser Gedichte als den eigentlichen, unreduzierbaren Grund ihrer Reflexivität hervorheben. Ohne diese Fokussierung auf Sprachlichkeit und Textualität zu vernachlässigen, hat eine vor allem von Jürgen Links diskursiv-historischer Analyse inspirierte Generation von H.-Forschern die in den späten Gesängen wirksamen, nicht nur philoso-
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phisch-theologischen, sondern ebenfalls naturwissenschaftlichen und technologischen Wissensordnungen herausgearbeitet und die Brücke zwischen den philologisch-hermeneutischen und neueren kulturwissenschaftlichen Lektüreverfahren geschlagen (Link 1999 u. 2004, Honold 2005, Schmitz/Mottel 2017).
32.2 Zur Frage der Gattungsbezeichnung Obwohl unter H.-Lesern und -Forschern ein minimaler Konsens zu bestehen scheint, was mit Gesängen gemeint ist, so bleibt doch die Frage, welche Texte genau zu den Vaterländischen Gesängen zu rechnen sind und ob es sich um ein chronologisch, thematisch oder formal zusammenhängendes Textkorpus handelt, aus allerhand Gründen nicht so leicht zu entscheiden – nicht zuletzt deshalb, weil der von H. versprochene Zyklus nie in Wilmans Almanach erschienen ist. Beißner rechnet in der StA folgende Texte zu der Kategorie der vaterländischen Gesänge: Der Mutter Erde, Am Quell der Donau, Versöhnender der du nimmergeglaubt (drei Fassungen – es handelt sich um die Vorstufen von Friedensfeier), Die Wanderung, Der Rhein, Germanien, Der Einzige (drei Fassungen) Patmos (Reinschrift, drei spätere Entwürfe), Andenken, Der Ister, Mnemosyne (Die Nymphe) (StA 2.1, 121–198). Die Reihenfolge entspricht auch Beißners Datierung der Texte. Die schroffe Abgrenzung von den unter den Begriff Hymnische Entwürfe (s. Kap. 34) gesammelten Textkomplexen, die im Stuttgarter Foliobuch und – vor allem – im Homburger Folioheft überliefert wurden, ist aber nicht immer überzeugend, zumal Beißner selber hin und wieder auf den – handschriftlichen – Zusammenhang dieses oder jenes Entwurfs mit den von ihm ausgewählten, auch nicht unbedingt vollendeten Gesängen hinweist. Ein Beispiel wäre etwa der Entwurf Deutscher Gesang, der im Gegensatz zu dem ebenfalls unfertigen Gesang Der Mutter Erde und trotz seiner thematischen Nähe zu Am Quell der Donau den Hymnischen Entwürfen zugeordnet wird. Kriterium für Beißners Einteilung scheint die – aufgrund des vorhandenen Textmaterials durchführbare – Rekonstruktion eines mehr oder weniger ›fertigen‹ Textes zu sein. Obwohl nichts H.s Poetik ferner stünde als eine Poetik des Fragmentes, so darf doch die Spannung zwischen dem Verlangen nach Ganzheit, das sich bis in den Fragmenten durchsetzt und lesbar macht, und der Tendenz zur Fragmentierung oder Zersetzung, die dem Spätwerk vom Anfang an innewohnte und – paradoxerweise – auch konstituierte, nicht übersehen
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werden. Die einzigartige Reflexion des eigenen ›Scheiterns‹ im Spätwerk, besonders in dem Projekt der Gesänge und bis in der spätesten Dichtung, lässt vielleicht auf einen Prozess des »Wiederholens, Erinnerns, Durcharbeitens und schließlich Hintersichlassens« (Haverkamp 1991) schließen, der H. trotz seiner problematischen psychischen Lage dazu befähigte, der Enttäuschung über das nicht-Gelungene ein letztes, genuin poetisches Moment abzugewinnen. Die neuere H.-Forschung geht deshalb von einer Kontinuität in der Diskontinuität aus, die sich jenseits der binären, der traditionellen Hermeneutik verpflichteten Dichotomie des Gelungenen und des Gescheiterten, des Fertigen und des Fragmentarischen, des Sinnvollen und des (angeblichen) Sinnverlustes in semantischen Komplexen und rhetorischen Textprozessen über die Grenzen des ›Werkes‹ und der Gattungen hinweg bis in der ersten Phase der spätesten Dichtung verfolgen lässt (s. Kap. 35). Die »prozessuale Darstellung« (Sattler), mit der die FHA begonnen hat, die den geschlossenen, den Schreibfluss fixierenden Werkbegriff der StA durch einen offenen und dynamischen Textbegriff ersetzt und den Leser geradezu in die Rolle eines Mitherausgebers zwingt, ist dieser Tendenz am besten entgegengekommen (und hat sie ihrerseits auch gefördert). Freilich wird gerade der Bd. 8 mit den »Gesängen« diesen selbstgesetzten Standards nicht gerecht (s. Kap. 1 und 33). In der zum Teil auf der FHA basierenden Münchner Ausgabe werden die Gedichte an erster Stelle chronologisch, dann aber auch nach deren durch die materielle Überlieferung in den Handschriften oder Drucken entweder zufällig oder gewollt zustande gekommenen Zusammenstellungen geordnet. So werden etwa die verschiedenen Fassungen und Entwürfe der Textkomplexe Der Einzige und Patmos, deren erste Phase um 1801/02 situiert werden kann, während die spätesten Überarbeitungen mutmaßlich zu einem sehr späten Zeitpunkt (1806/07) gehören, in der MA auseinandergerissen. Was sind Gesänge? »Einzelne lyrische größere Gedichte«: Die deskriptive Gattungsbezeichnung in dem früheren Brief an Wilmans hat zu der Annahme geführt, dass mit dem Begriff der Gesänge ausschließlich jene späten Hymnen in freien Rhythmen gemeint seien, die ab etwa 1800 entstanden sind. Die – neuerdings wieder rückgängig gemachte – Gewohnheit der modernen H.-Rezeption, besonders in der Nachkriegszeit, die Bezeichnung »vaterländische Gesänge« zugunsten des angeblich wissenschaftlicheren GenreBegriffs »Späthymnik« zu verdrängen, geht zweifellos
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auf die Verlegenheit angesichts einer präziseren inhaltlichen Bestimmung des Vaterländischen zurück (»was unmittelbar das Vaterland angehen soll oder die Zeit«). Die um 1800 fast selbstverständlichen revolutionären Anklänge, auf die H. ohne jeden Zweifel anspielen wollte, dürfen sehr wohl von den politisch bedenklichen Konnotationen des »Vaterländischen« in der jüngeren deutschen Geschichte übertönt worden sein. Der unreflektierte Rekurs auf den Gattungsbegriff der Hymne verkennt aber – unter anderem – die Tatsache, dass die mit der Thematik des Vaterländischen verknüpfte ›hymnische‹ Tendenz sich auch in den späten Bearbeitungen der Oden und Elegien durchsetzt, während andererseits der elegische Ton auch in den späten Hymnen wieder durchbricht. Die Gleichsetzung zwischen einem hymnischen Korpus und einem vaterländischen ›Inhalt‹ scheint daher problematisch zu sein (s. Kap. 20). Der Ausdruck ›Hymnik‹ droht tatsächlich wesentliche Aspekte, um nicht zu sagen: den wesentlichsten Aspekt der Gesänge zu unterschlagen. Denn weder durch ihre (gattungsbestimmte) Form, noch durch ihren Inhalt strictu sensu unterscheiden sich diese Texte; bestimmt werden sie vielmehr durch eine ausgesprochen appellative und – allgemeiner – performative Struktur, die sich nicht auf die Beschreibung formaler oder inhaltlicher Elemente zurückführen lässt, sondern die auf dem rhetorischen Handlungscharakter der Sprache statt auf deren Darstellungs- oder Repräsentationsfunktion basiert. Wie Kurz ausführlicher dargelegt hat, mag H. sich für das Modell der Gesänge an dem schon auf Rousseau (s. Kap. 11) zurückgreifenden (von Robespierre aber zum richtigen Szenario entwickelten) Konzept einer revolutionären Nationalfeier orientiert haben (Kurz 1975, 206 ff.). Die Thematisierung des Kultischen in den Gesängen und Gesangsentwürfen, etwa in der semantischen Isotopie des »Chors« oder »Reigen[s]«, verbindet diesen zeitgeschichtlichen Bezug mit einer über Sophokles und Pindar bis in die Antike zurückreichenden Auffassung von Literatur als eines ausgesprochen öffentlichen, an den politischen und religiösen Grundlagen der kulturellen Ordnung rührenden Diskurses. Der Vorspruch zu Friedensfeier legt in der Tat die Vermutung nahe, dass H. seine Gesänge im Hinblick auf einen solchen kultischfeierlichen Kontext »als öffentliche und oratorische entwarf« (ebd., 207). Aber der performative Aspekt beschränkt sich nicht auf diese wirkungsästhetische und ›pragmatische‹ Funktion; er bestimmt auch die in der poetischrhetorischen Textur der Gedichte selber wirksame und thematisierte Spannung zwischen den imaginär ›ge-
setzten‹, evozierten utopischen Bildern und der komplexen rhetorischen Gestik der Texte, die solche Setzung durch die zentralen Sprechakte des Versprechens und Andenkens auch wieder verschiebt und zurücknimmt. Das trifft ganz besonders auf Friedensfeier zu. Der artikellose Titel – Friedensfeier – suggeriert, dass nicht bloß von diesem Ereignis die Rede sein soll, sondern »daß der Gesang selbst die Feier des Friedens ist. D. h. er ist Andenken daran, welche Zukunft der weltliche Frieden eröffnet, und nicht die Beschreibung der Feier.« (Knaupp, MA 3, 206)
32.3 Gesamtüberblick Innerhalb des offenen Textkorpus der Gesänge lassen sich immerhin kleinere Textgruppen und -komplexe unterscheiden; oder es haben sich, meistens aufgrund thematischer und/oder chronologischer Verbindungen, in der Forschungsgeschichte eben solche lockere Zusammenschlüsse etabliert. H.s programmatisches Vorhaben, »einzelne lyrische, größere Gedichte« zu schreiben, scheint jedoch darauf hinzuweisen, dass er selber solche zyklischen Zusammenhänge nicht an erster Stelle intendiert hatte. Als Urmodell der Gesänge gilt Wie wenn am Feiertage ... Obwohl die Feiertagshymne im Gegensatz zum größeren Teil der Gesänge nicht im Homburger Folioheft, sondern im Stuttgarter Foliobuch überliefert wurde, gibt auch Beißner zu, dass »das Gedicht vor den Vaterländischen Gesängen eine besondre Stellung [einnimmt]« (StA 2.2, 677). In diesem vielleicht schon Ende 1799 entstandenen Gesangentwurf, von dem auch eine Prosafassung vorliegt, experimentiert H. zum ersten Mal mit den pindarischen Strophen und metrischen Formen, die er sich während der Übersetzung von Pindars pythischen und olympischen Oden (ebenfalls um 1800) angeeignet hatte (s. Kap. 27). Die Bedeutung Pindars für das Spätwerk, besonders für die Gesänge, darf nicht unterschätzt werden, auch wenn H. den hier unternommenen Versuch, nach dem Pindarischen Vorbild einen streng gebauten triadisch gegliederten Gesang mit metrischen Entsprechungen zu verfassen, für die folgenden Gesänge zum Teil aufgeben hat. Nur das Prinzip der triadischen Strophengruppierung bleibt mehr oder weniger behalten. Ebenso wesentlich sind Motive und Themen dieser »ersten Hymne«, deren Entfaltung und Entwicklung sich im ganzen Korpus der Gesänge verfolgen lässt, wie etwa die metaphorische Ineinssetzung von Geschichte/Revolution und Natur in dem Bild des
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Gewitters. Paradigmatisch ist jedoch vor allem die Selbstpositionierung und – Inszenierung des Dichters als eines Vermittlers auf der Kreuzung von Gesellschaft bzw. Geschichte und Transzendenz, die aber als ›historische‹ Immanenz des Heiligen sprachlich übersetzt und vermittelt werden muss. Das im Kern dieses zentralen diskursiven Motivs enthaltene und reflektierte Scheitern wird zum eigentlichen Auftakt der hymnischen Gesänge. Zu den ersten Versuchen, das Programm der vaterländischen Sangart formal und thematisch zu gestalten, gehören die Entwürfe Der Mutter Erde (StA 2.1, 123–125; MA 1, 334–335), Deutscher Gesang (StA 2.1, 202–203; MA 1, 348–349) und Am Quell der Donau (StA 2.1, 126–129; MA 1, 351–354). Von den mutmaßlich Anfang 1801 entstandenen, triadisch gebauten oder konzipierten Gedichten wurde nur das letzte vollendet. Einige zentrale Leitmotive der Gesänge klingen hier schon an, zunächst die Aufgabe des – »deutschen«, d. h. abendländischen, modernen – Dichters als Vermittler des sonst »nahmlos« (Der Mutter Erde, V. 8, 57) bleibenden Göttlichen: »unaussprechlich wär er wohl [der heilige Vater]/ Und nirgend fänd er wahr sich unter den Lebenden wieder/ Wenn zum Gesange nicht hätt ein Herz die Gemeinde« (ebd., V. 18–20). Der noch zu bildende »Chor der Gemeinde« (Am Quell der Donau, V. 35) oder »des Volks«, dem als Kollektivum überraschenderweise ein »Herz« zugeschrieben wird – die Schlüsselmetapher für das Subjekt der Erlebnisdichtung –, wird als utopisch »anderes« noch in Aussicht gestellt und entzieht sich auch durch die figura etymologica der inhaltlichen Vorstellung. Der Dichter ist dessen selbsternannter Stellvertreter: »Statt offner Gemeine sing’ ich Gesang.// So spielt von erfreulichen Händen/ Wie zum Versuche berühret, eine Saite/ Von Anfang. Aber freudigernster neigt/ Bald über die Harfe/ Der Meister das Haupt und die Töne/ Bereiten sich ihm// [...] Doch wird ein anderes noch/ Wie der Harfe Klang/ Der Gesang seyn/ Der Chor des Volks« (Der Mutter Erde, V. – 7, V; 11–14). Das Subjekt des Gesangs, der in Der Mutter Erde als Wechselgesang dreier Stimmen konzipiert wurde – eine später nicht mehr verwendete Alternative für die personale Sprechinstanz der Feiertagshymne –, verschiebt sich schon hier vom stellvertretenden Ich und vom »Meister« zu der »Saite« und den »Töne[n]« selbst. Damit wird ein anders, zentrales Motiv angekündigt, das aber schon in dem Motiv des Gesangs und des Chors enthalten ist: Die quasimythische Ursprünglichkeit der Sprache, die nicht der Verfügung des sprechenden Subjekts unterliegt. Anstatt
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von ihm verwendet zu werden, konstituiert die Sprache dieses sprechende Subjekt erst. »Noch ehe Bäche rauschten von den Bergen/ Und Hain und Städte blüheten an den Strömen,/ So hat er donnernd schon/ Geschaffen ein reines Gesez/ Und die reinen Laute gegründet.« (V. 26–30) Der primäre Schöpfungs- und Gründungsakt des Gottes wird – außer seines »schon« vergangenen Augenblicks selber, der sich in der UrMetapher des Donners verhüllt – nicht als Kosmogonie im üblichen Sinne, sondern als Gründung einer symbolischen Ordnung dargestellt (»Gesetz [...] und die reinen Laute«), die nicht nur als vorsignifikative Sprachlichkeit gedeutet werden kann, sondern auch auf H.s Poetik, auf Begriffe wie »gesetzlicher Kalkül« oder »Wechsel der Töne« (s. Kap. 15) hinzuweisen scheint. Von dieser Sprache heißt es in Am Quell der Donau: »so kam/ Das Wort aus Osten zu uns, Und an Parnassos Felsen und am Kithäron hör’ich/ O Asia, das Echo von dir und es bricht sich/ Am Kapitol und jählings herab von den Alpen// Kommt eine Fremdlingin sie/ Zu uns, die Erwekerin,/ Die menschenbildende Stimme« (V. 35–42). Das Motiv der Überlieferung und des Kulturwandels von Ost nach West oder von der Antike zum Abendländischen erinnert zwar an die Entfaltung des hegelschen Weltgeistes; das ›Subjekt‹ von H.s geschichtsallegorischer Geographie aber ist kein reflexionslogischer Erkenntnisakt, sondern ein Sprachwerdungsprozess. In den späteren Gesängen und erst recht den Entwürfen (s. Kap. 34) und späten Überarbeitungen nach 1803/04 wird es sich immer mehr in die oft apodiktische Zeichenhaftigkeit materieller Markierungen und Spuren zurückziehen, die als »Ausdruck, Zeichen, Darstellung« den verborgenen, prozessualen Zusammenhang des Ganzen zu bezeichnen und zu bewahren versuchen: »Ein Zeichen braucht es/ Nicht anders, schlecht und recht, damit es Sonn/ Und Mond trag’ im Gemüth’, untrennbar,/ Und fortgeh, Tag und Nacht auch, und/ Die Himmlischen warm sich fühlen aneinander.« (Der Ister, StA 2.1, 191, V. 50–54; MA 1, 476, V. 50–54) In den frühen Vaterländischen Gesängen wird die Beziehung zwischen Ost und West noch aus einer überwiegend elegischen Perspektive entwickelt, die u. a. an Brod und Wein erinnert: »Die Tempelsäulen stehn/ Verlassen in Tagen der Noth,/ Wohl tönet des Nordsturms Echo tief in den Hallen« (Der Mutter Erde, V. 51–53). Am Quell der Donau beschwört die (griechisch-)antiken und alttestamentarischen, in der Prosafassung sogar als »Helden« apostrophierten »Dichter« und »Propheten«, um deren Kraft angesichts des Göttlichen mit der eigenen Unsicherheit und Verzweiflung des
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modernen Dichters zu kontrastieren: »O Asia, deiner Starken, o Mutter!/ Die furchtlos vor den Zeichen der Welt,/ Und den Himmel auf Schultern und alles Schiksaal,/ Taglang auf Bergen gewurzelt, Zuerst es verstanden,/ Allein zu reden/ Zu Gott. Die ruhn nun.« (V. 80– 86) Ihnen gegenüber steht oder »sizt im tiefen Schatten« und »sinnt in einsamer Halle« »der deutsche Dichter« (Deutscher Gesang, V. 13, 15, 17). Aber die überlieferten Zeichen, die Heiligtümer und die heiligen Schriften bilden die Spur der verschollenen Götter in der Gegenwart, die bewahrt und weiter übertragen werden soll. Den nach dem Rückzug der ehemaligen Götter als »Waisen« übriggebliebenen Dichtern des Abendlandes »ward [...]/ In die Seele die Treue gegeben./ Nicht uns, auch Eures bewahrt sie,/ Und bei den Heiligtümern, den Waffen des Worts/ Die scheidend ihr den Ungeschikteren uns/ Ihr Schiksaalssöhne, zurükgelassen// Ihr guten Geister, da seid ihr auch,« (Am Quell der Donau, V. 98–104). Was das Dichterverständnis beider geschiedenen Welten noch verbindet, ist die Heroik des einsamen Vermittlers; gerade diese vom öffentlichen Diskurs zunächst isolierte, ihm noch vorangehende Interiorität des vereinzelten Stellvertreters, der »Gemeinsames usurpiert, um es dann erst auszuteilen« (Hart Nibbrig 1981, 93), macht das Ich der Feiertagshymne zum »falschen Priester«, der – oder wenigstens dessen Rede – unter dem Gewicht des »Heiligen«, dem er sprachlich zu entsprechen versucht, zerbricht. In den folgenden Hymnen wird dieses »personale Gefäß vollends zerbrechen« (Böschenstein 1989, 165). Die grundsätzliche Mittelbarkeit, Exteriorität und Mehrstimmigkeit der Sprache setzt sich nicht nur dem Absolutheitsanspruch der idealistischen Subjektivität entgegen, der die Welt dem Apriori der Interiorität unterwirft; die Apriorität der Sprache stemmt sich auch wider die Sehnsucht des individuellen Ichs nach einer Unmittelbarkeit des Göttlichen bzw. nach einer identifikatorischen Vermittlung des Heiligen. Dementsprechend wird die durch die »Treue« in der Seele der »Waisen« zustandegebrachte Erinnerungsarbeit in den späteren Gesängen von einer Dialektik des Bewahrens und Vergessens, der Treue und der Untreue ersetzt, die entschieden mit der Vorstellung bricht, Erinnern reduziere sich auf ein Inwendigmachen – die »Er-Innerung« im Sinne Hegels (s. Kap. 19). Der kulturgeschichtliche und ›geopoetische‹ (J-P. Lefebvre) Bildungsgang von Ost nach West (und zurück) wird erst recht in Die Wanderung (StA 1.2, 138– 141; MA 1, 336–339), Der Rhein (StA 1.2, 142–148; MA 1, 342–348) und Germanien (StA 1.2, 149–152; MA 1,
404–407) zum zentralen Motiv. Die ersten zwei Gesänge, deren Reinschriften sich in einem gemeinsamen Konvolut befinden, sind mutmaßlich im Jahre 1801 in Hauptwil konzipiert worden; der ebenfalls 1801 entstandene Gesang Germanien (der freilich erst 1803 zur Überarbeitung ins Homburger Folioheft übertragen wurde) weist nur sieben Strophen auf und verzichtet somit auf die triadische Gliederung. Die genannten Gesänge lassen die eher abstrakte Utopik sowie die mit dem undialektischen Widerspruch zwischen dem griechischen Ideal und der modernen Götterferne verknüpften Elegik des einsamen Dichters hinter sich und versuchen die kulturgeschichtliche Dynamik durch das Motiv der imaginären Reise zu artikulieren. In all diesen Gesängen wird die lyrische Sprechinstanz von einem überlieferten »Sage[n]« (Germanien, V. 25; Die Wanderung, V. 26) figürlich und buchstäblich aus ihrem einsamen, melancholischen oder aber scheinbar zufriedenen, in sich ruhenden Standort herausgefordert und in die Fremde entrückt: etwa »dem Kaukasus« (Die Wanderung, V. 5) oder »Italia« und den »Küsten Moreas« zu (Der Rhein, V. 4–15). Das Tabu einer nachahmenden, allzu unmittelba ren und undialektischen Beziehung der gegenwärtigen Kultur zu der griechischen Überlieferung und im Besondern zu den griechischen Göttern beherrscht vom Anfang an die Hymne Germanien, die mit einer radikalen Abwendung von den »Götterbildern[n] aus dem alten Lande« (V. 2) einsetzt. Auch hier wird das Verhältnis zwischen den beiden Kulturwelten neu gedacht im Hinblick auf Zukünftiges, eine vaterländische Sangart zunächst, die hier – ausdrücklicher als in dem eher episch-narrativen Gesang Die Wanderung – nicht nur angekündigt, sondern in der performativen, anrufenden und auffordernden Sprache schon erprobt wird: »Nenne, was vor Augen dir ist« (V. 83). Sowohl Am Quell der Donau als auch Die Wanderung thematisieren ausdrücklich das wichtige FlussMotiv. »Flußläufe wollen gelesen werden« (Nägele, 1988/89, 16). Die Flüsse im Allgemeinen werden in den Gesängen dargestellt als »ausgezeichnete graphische Instrumente (und) Schreibwerkzeuge der zivilisatorischen Topographie« (ebd., 17). »Denn Ströme machen urbar/ Das Land« (Der Ister, StA 2.1, 190– 192, 190; MA 1, 475–476, 475, V. 6–17). Die Flussläufe des Rheins und des Isters – der alten griechischen Bezeichnung für die Donau – artikulieren die wichtigsten, teils konträren, teils auch komplementären Geschichtsbewegungen zwischen Ost und West, wie ihre Erwähnung in verschiedenen Gesängen und Gesangsentwürfen (u. a. Am Quell der Donau, Die Wanderung)
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belegt. Beiden Flüssen wurde jedoch auch ein gleichnamiger Gesang gewidmet: Der Rhein (StA 2.1, 142– 148; MA 1, 342–348; s. u.) ist mit fünfzehn Strophen einer der längeren und auch wohl einer der bekanntesten der Vaterländischen Gesänge. Sowohl eine Vorstufe als auch eine Reinschrift und eine Druckfassung (aus dem Jahre 1808) liegen vor. Die erste Hälfte dieses Gesangs beschreibt buchstäblich den Flusslauf als ›Bildungsgang‹ vom »Rasen des Halbgotts« als eines »Jünglings« (V. 24, 31) zum »Stillwandelnd[en] Vater Rhein« (V. 85, 88). Die Bildungsgeschichte des Rheins ist nicht ohne Gewalt, denn »Die Blindesten [...]/ Sind Göttersöhne« und brauchen oft die schroffe Zurechtweisung, die ihr Begehren bricht und verschiebt: »In solcher Esse wird dann/ Auch alles Lautre geschmiedet.« (V. 81–82) Von dem mythischen Halbgott des Flusses wendet sich die zweite Hälfte nach einer allgemeinen Reflexion über die Notwendigkeit eines sterblichern Vermittlers göttlicher Präsenz, »weil die Seeligsten nicht fühlen von selbst« (V. 110), einem in H.s Gesamtwerk exemplarischen Vermittler zu, dessen tragischer Bildungsgang mittels mythologischer und anderer Verweise (auf Ödipus auf Kolonos und Sokrates etwa) zum Modell des hymnischen Dichters hochstilisiert wird: Rousseau (s. Kap. 11). Der später (1803/04) entstandene, ohne Titel überlieferter Gesangsentwurf Der Ister blieb mit nur vier Strophen, deren Zeilenlänge und Zeilensprung zwischen der dritten und vierten Strophe vermuten lassen, dass kein triadischer Aufbau geplant war, wahrscheinlich unvollendet. Das Verhältnis zwischen den beiden Stromgedichten wird nicht nur von deren Bezug zur Kulturlandschaft, sondern mehr noch von der konträren Flussrichtung ihrer Läufe bestimmt: Geht der Rhein nach einer anfänglich östlichen, verbotenen ›Rückkehr zum Ursprung‹ (»und ungeduldig/ Nach Asia trieb die königliche Seele.« V. 36–37) der kulturhistorischen Topographie gemäß weiterhin nach Westen, wo er »Stillwandelnd sich im deutschen Lande/ Begnüget und das Sehnen stillt/ Im guten Geschäffte [...]« (V. 85–87), so heißt es über den Ister: »Der scheinet aber fast/ Rükwärts zu gehen und/ Ich mein, er müsse kommen/ Von Osten./ Vieles wäre/ Zu sagen davon. Und warum hängt er/ An den Bergen gerad? Der andre/ Der Rhein ist seitwärts/ Hinweggegangen. Umsonst nicht gehn/ Im Troknen die Ströme. Aber wie? Ein Zeichen braucht es [...]« (V. 41–50). Die ›abweichende‹ Flussrichtung scheint auch der in dem Ost-nach-West Paradigma verwurzelten hermeneutischen Deutungstendenz entgegenzuströmen, die eben als menschenbildende Stimme aus dem Osten die
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Sinnlichkeit und Materialität der (Natur-)Zeichen in (kulturellen, abendländischen) Sinn, das Buchstäbliche ins Gedeutete zu verwandeln hätte; das wäre allerdings der Raum, der von den »Schwingen« oder »Fittichen« des Adlers zu durchqueren wäre, nicht nur in Germanien übrigens, sondern auch in Patmos und in Der Ister (um nicht die späteren Fragmente Der Adler, Das nächste Beste zu erwähnen): »Nicht ohne Schwingen mag/ Zum nächsten einer greifen/ Geradezu/ Und kommen auf die andere Seite« (Der Ister, V. 11–14). Die Notwendigkeit des Zeichens, auf die als Antwort auf die Frage »Aber wie?« hingewiesen wird und die den anfänglichen Satz »sie sollen nemlich zur Sprache seyn« ersetzt, wirkt fast tautologisch; bestätigt sie doch nur die von dem Flusslauf markierte Zeichenhaftigkeit der Welt, deren verborgene Kontinuität und Sinnzusammenhang der deutenden Lektüre – also dem, was Sprache im emphatischen Sinne meint – harrt. Damit wird der zuversichtliche, hymnische Ton des Anfangs, der freilich auf eine durchaus sinnlichere Weise als üblich in den früheren Gesängen das begehrende Erwarten der ›anderen‹ Sangart beschwört (»Jetzt komme, Feuer!/ Begierig sind wir/ Zu schauen den Tag,/ Und wenn die Prüfung/ ist durch die Knie gegangen,/ Mag einer spüren das Waldgeschrei.« V. 1–6) in der zweiten Hälfte des Gesangs zurückgenommen (vgl. insgesamt Christen 2013). Mit der gleichen Formel, mit der in Patmos das Mysterium vom Tod Christi unbesprochen bleibt, wird auch hier das Geheimnis des Flusses dem erklärenden Diskurs entzogen: »Vieles wäre/ Zu sagen davon.« (V. 45–46). So lautet das Fazit: »Was aber jener thuet der Strom,/ Weis niemand.« (V. 71–72; zu dieser Conclusio vgl. Christen 2013, 253–255) Das schon erwähnte Patmos (StA 2.1, 165–172; MA 1, 447–453) bildet zusammen mit Friedensfeier (MA 1, 361–366) (einschließlich deren Vorentwürfe Versöhnender, der du nimmergeglaubt ... ; StA 2.1, 130– 137; MA 1, 355–361) und dem nur in Entwürfen überlieferten Der Einzige (StA 2.1, 153–164; MA 1, 387– 389/ 458–459/467–469) einen von der Forschung – ob mit Recht oder zu Unrecht – als Christushymnen (s. u.) bezeichneten quasi-zyklischen Zusammenhang. Deren zentrale Thematik ist die hymnische Artikulation bzw. Ankündigung eines »feierlichen« epiphanischen Augenblicks in der Geschichte, die mit der – noch zurückgehaltenen – Wiederkunft einer messianischen, an Christus erinnernden aber nicht unbedingt mit ihm zusammenfallenden Figur verknüpft wird und in jener schon in den frühesten Gesängen angekündigten und auch in Der Rhein (anschließend an die Rous-
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seau-Hommage) evozierten sozial-kommunikativen Utopie des Chors gipfeln sollte. Überraschend ist die Deutung der Christus-Figur als Halbgott und Bruder der griechischen Götter, der sich durch seine kenotische Selbtsbescheidung von den antiken Brüdern unterscheidet und die immanente Versenkung des Göttlichen in das Zeit-geschehen inauguriert. Diese Entwicklung vertieft nur die für das gesamte Spätwerk entscheidende Verabschiedung einer identifikatorischen und melancholischen Repräsentation des Heiligen zugunsten eines vom Lesen und Schreiben artikulierten Gedenkens und Hoffens, das dem Wandel der Zeit gerecht zu werden versucht. Von den späteren Gesängen sind vor allem die ab 1803 entstandenen Texte oder Projekte Mnemosyne (StA 2.1, 193–198; MA 1, 434–438) Andenken (StA 2.1, 188–189; MA 1, 473–474) und Griechenland (StA 2.1, 254–258; MA 1, 477–480) hervorzuheben. Nur von Andenken liegt, neben einer Handschrift (auf deren anderen Seite der Entwurf Der Ister steht) eine Druckfassung aus dem Jahre 1808 vor. Mnemosyne ist der Titel eines am Ende des Homburger Folioheftes auf den Seiten 90 bis 92 zerstreuten Textkomplexes, aus dem Beißner drei Fassungen rekonstruiert hat. Andere Titelüberschriften (Die Nymphe, Das Zeichen, Die Schlange) wurden angeblich verworfen. Die Rezeption hat sich fast ausschließlich auf die zweite und dritte Fassung beschränkt – nicht selten in einer noch anderen Strophen-Kombination (die erste der zweiten Fassung und die zweite und dritte der dritten Fassung). Abweichend bis stark abweichend in den verschiedenen Fassungen sind tatsächlich vor allem die erste und dritte Strophe. Die berühmteste Strophe ist zweifellos die erste der zweiten Fassung (»Ein Zeichen sind wir, deutungslos«). Von Knaupp (der sich auf Hans Gerhard Steimer beruft) wird sie aber als »eine durch nichts autorisierte Kontamination einander ersetzender Entwurfsschichten« (MA 3, 259) abgewiesen und von einem »Entwurf« ersetzt, der die berühmten Anfangsverse freilich beibehält. Von Griechenland liegen ebenfalls drei Entwürfe vor (vgl. MA 1, 477–480). Vor allem Mnemosyne und Andenken, deren Verwandtschaft schon im Titel angedeutet wird (Mnemosyne – die Erinnerung –, ist eine Titanide, Tochter von Uranos [Himmel] und Gaia [Erde] und Mutter der neun Musen), sind nicht zuletzt durch die philosophische Rezeption zum berühmtesten Hymnenpaar H.s avanciert, zugleich aber auch zu jenem doppelten Prätext einer philosophischen Vereinnahmung geworden, die – um Paul de Mans Kritik an Heideggers H.-Lektüre (s. Kap. 39) zu zitieren – im schlimmsten Fall zu der Schlussfolgerung führt, dass
»Hölderlin says exactly the opposite of what Heidegger makes him say.« (de Man 1983, 255) Gemeint ist die Problematik der Erinnerung, die sich nicht so leicht philosophisch zu Ende denken lässt, sondern deren philosophische Bewältigung vielleicht in diesen Texten vollendet wird, das heißt: zum Scheitern kommt (Haverkamp 1991, 75). Im Zentrum dieser späten Gesänge steht die poetische Durcharbeitung traumatischer Verlusterfahrungen, die sowohl persönlicher als auch kulturgeschichtlicher wie theologischer Art sind und auf die Grunderfahrung der Zeitlichkeit des Seins – jener Erfahrung ›göttlicher Untreue‹ (s. Kap. 17), die H. in den Anmerkungen zum Ödipus (s. Kap. 25) thematisierte – zurückgeführt werden können. Angesichts solcher »sterblicher Gedanken« entwickeln die Gesänge ein poetisches Modell äußerster Verhaltenheit, das jene Differenz zur hegelschen Erinnerungsarbeit demonstriert, die Dieter Henrich schon früh auf den Punkt gebracht hat: Für Hegel bedeute »die Versammlung der Gestalten aus ihrer äußerlichen Existenz in das Innere des begreifenden Geistes«, »ein Verwandeln« und »Überholen des An-sich-seins des Vergangenen. [...] Hölderlin ist das Erinnern dagegen ein Bewahren, das unter der Forderung der Treue steht, also das Vergangene in seinem Eigenen sucht und hält.« (Henrich 1971, 34) Auch der Griechenland-Komplex, dessen Bildsprache auf Mnemosyne verweist, wird vom Thema der Erinnerung beherrscht, wie die – für sich freilich wenig sagende – Wendung »Viel sind Erinnerungen« (2. Fassung, V. 1; 3. Fassung, V. 9; vgl. MA 1, 478/479) andeutet; Erinnerungen freilich, die nicht nur »Unsterblichkeit und Helden« betreffen – ein Hinweis auf die antike Heroik, wie man vermuten kann –, sondern auch »Verwüstungen« und »Versuchungen der Heiligen«: Symptome einer durch menschliche Todeslust, durch Sehnsucht ins »Ungebundene« (2. Fassung, V. 8) aus den Fugen geratenen Welt. Ähnlich wie in Mnemosyne artikuliert Griechenland das kaum haltbare Gleichgewicht einer Umbruchszeit – »Untergang und Übergang des Vaterlandes« –, in deren Darstellung jedoch die in den früheren Gesängen (Der Rhein, Friedensfeier, ...) unverhüllter ausgesprochene utopische Gemeinschaftsvision – des Chors etwa – noch in verschlüsselten Metaphern überlebt: »Aber wie der Reigen zur Hochzeit,/ Zu Geringem auch kann kommen/ Großer Anfang« (2. Fassung, 11–14). Die Betonung des »Geringen« entspricht durchaus der Perspektive irdischer, menschlicher Verhaltenheit angesichts eines kaum noch zu bestimmenden »Großen Anfang[s]«, der mutmaßlich auf die Erwartung einer neuen ge-
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schichtlichen Konfiguration – einer neuen »besondern Wechselwirkung« von »Natur und Menschen« und »Verbindung der Dinge« (Das untergehende Vaterland ..., FHA 14, 175) – abzielt. Zugleich vertieft die metaphorische Textur dieses Entwurfs die Tendenz zur zeichenhaften Verdichtung göttlicher Immanenz, die sich nur in der Mittelbarkeit natürlicher und kulturell-symbolischer Zeichen zu erkennen gibt: »Alltag aber wunderbar den Menschen/ Gott an hat ein Gewand./ Und Erkenntnissen verberget sich sein Angesicht [...] Denn lange schon steht offen/ Wie Blätter, zu lernen, oder Linien und Winkel/ Die Natur« (Griechenland, 3. Fassung, V. 26–34, MA 1, 479/480). Nach diesem Prinzip genügt das Veilchenblau der Erde als schlichtes, geringes »Zeichen« des Bündnisses zwischen Himmel – »der Schule Blau« (3. Fassung, V. 2) – und Erde: »Als Zeichen der Liebe/ Veilchenblau die Erde.« (V. 22–23) Mit der Sicherheit eines beschränkten, heimatlichen Idylls darf dieses »Geringe«, das eher als Fügsamkeit und Offenheit verstanden werden soll, nicht verwechselt werden: »Süß ists, dann unter hohen Schatten von Bäumen/ Und Hügeln zu wohnen, sonnig, wo der Weg ist/ Gepflastert zur Kirche.« (3. Fassung, V. 46–48) Die letzten Zeilen des dritten Entwurfs kontrastieren diese Enge mit der nomadischen Position der »Reisenden aber« oder des »Wanderers«, dessen »Wege« schon am Anfang der ersten und dritten Fassung beschworen werden. Er ist der Heimkehrer, der da ist zum »Eintreffen« (1. Fassung, V. 7) aus der Fremde in die neu zu gewinnende Heimat. Seine Schritte sind nicht ungemessen, sondern ihm, der »messend immerhin« sich in den Weg schickt, »gehorchen die Füße«, aus Lebensliebe. Ihm, der sich zwischen Heteronomie und Autonomie bewährt, »blühen/ Schöner die Wege.« (V. 48–51) Die ursprüngliche Motivik des Maßes, in der sich poetologische und ethisch-theologische Bedeutungen verdichten – »Nie treff ich wie ich wünsche/ Das Maaß« (Der Einzige, 1. Fassung, V. 73/74, MA 1, 389/90) –, verbindet sich hier mit dem auch noch ins Wörtliche gewendeten Ausdruck des »gemessenen Schrittes«. Vielleicht gilt auch ihn die rhetorische Frage des angeredeten Du aus der Ode Blödigkeit: »Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen?« (StA 2.1, 66, V. 2; MA 1, 443, V. 2) (s. Kap. 31). Was in Griechenland als bleibende notwendige Aufgabe des Menschen formuliert wird – »Sterbende nemlich müssen singen« (3. Fassung, V. 15) – enthält selber schon eine Umdeutung oder Neudefinition des Gesangs. Dessen ›Funktion‹ ist nun keine andere mehr als das (Selbst-)Gedenken des zeitlichen Wan-
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dels, der Endlichkeit oder Sterblichkeit kreatürlichen Seins, in dem das Wahre – ohne sicheren transzendenten, eschatologischen Fluchtpunkt: Lang ist die Zeit – sich, wie es in Mnemosyne heißt, ereignet.
32.4 Wie wenn am Feiertage ... Dieser Entwurf, der als »erste Hymne« des Spätwerks und somit als Paradigma der Gesänge gilt, ist »ein Gedicht über den Dichter und sein Werk«, eingebunden im historischen Kontext oder besser: im geschichtsphilosophischen Prozess (Szondi 1978, 292). Der vermutlich als neunstrophige Hymne (drei Strophentriaden) konzipierte Entwurf, dessen hypotaktische, manchmal verklausulierte Sprache nach dem Vorbild Pindars den langen Atem hymnischen Preises zu vergegenwärtigen versucht, bricht aber nach der unvollständigen achten und neunten Strophe ab. Die Hymne scheitert an dem Versuch, den Standort des lyrischen Subjektes und den Prozess des hymnischen Dichtens selber ins thematische Zentrum des Gedichtes zu rücken. Dort eröffnet sich die Kluft zwischen den Bestimmungen des Dichters bzw. des Gedichtes (oder »Gesangs«) im Gedicht selber – besonders der Analogie zwischen der Geburt des Gedichtes als einer Frucht von Himmel, Erde und Geschichte und dem Mythos der dionysischen Geburt – und der Selbstpositionierung des eigenen Sprechens, das sich mit diesen Bestimmungen identifizieren will, dafür aber auf das eigene Selbst zu verzichten habe, um selbstloser Preis eines im zeitlichen Wandel sich artikulierenden Heiligen zu werden (Nägele 1985, 182 ff.). Die Koalitionskriege zwischen Frankreich und Österreich bilden den historischen Anlass des Gesangs; in einem umfassenderen Sinne fungiert aber die von der Französischen Revolution ausgelöste allgemeine revolutionäre Stimmung als Folie dieses sowie auch der folgenden Gesänge (s. Kap. 2). Die frühlingshafte, sogar an den Schöpfungstag erinnernde Aufbruchsstimmung, die auf den nächtlichen Donner – den natürlichen wie den historischen – folgt (»Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht,/ Und hoch vom Aether bis zum Abgrund nieder/ Nach vestem Geseze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,/ Fühlt neu die Begeisterung sich,/ Die Allerschaffende wieder.« V. 21– 27), unterbricht nicht nur den Winterschlaf der Natur, sondern auch den der problematischen kulturgeschichtlichen Lage. Spüren oder ›wittern‹ lässt die Erneuerung sich ebenfalls in »Wettern, die in der Luft, und andern/ Die vorbereiteter in Tiefen der Zeit,/ Und
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deutungsvoller, und vernehmlicher uns/ Hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern« (V. 39–42). Die parataktisch gereihte Konfiguration – Himmel, Erde/Pflanzen, Völker – artikuliert einen allegorischen Zeitraum, in dem Kultur- und Naturgeschichte, historische und kosmische Prozesse zwar zusammengeführt, aber (noch) nicht vereint werden. Die unterschiedlichen Bereiche werden deshalb bezogen auf die zentrale dichterische Ich-Instanz des Gedichtes, die den ›deutungsvolleren‹ Appell auch vernehmen und vermitteln soll: die »Seele[n] des [der] Dichter[s]« (V. 31, 44). Strukturiert wird der Entwurf durch die Entfaltung und Durchführung eines ausgedehnten einleitenden Vergleichs, von dem die Position des Dichters in der »Witterung« des metaphorischen Natur- und Geschichtsraums bestimmt wird: »Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn/ Ein Landmann geht, des Morgens, wenn/ Aus heißer Nacht die kühlenden Blize fielen/ Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner,[...]/ Und von des Himmels erfreuendem Reegen/ Der Weinstok trauft und glänzend/ In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines:// So stehn sie unter günstiger Witterung«: »Sie« bezieht sich sowohl auf »Weinstock« und »Bäume des Hains« als auch auf die Dichter (Szondi 1978, 293). Die metaphorische Gleichsetzung, die in der siebten Strophe durch die Wiederholung des Verbs »stehen« im Bezug auf die Dichter vollends legitimiert wird (»Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,/ Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen«; V. 56–57), wird aber schon am Ende der 2. Strophe durch einen weiteren expliziteren Vergleich begründet, der das Motiv des Winterschlafs fortführt: »Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs/ So trauert der Dichter Angesicht auch,/ Sie scheinen allein zu seyn, doch ahnen sie immer./ Denn ahnend ruhet sie selbst auch.« (V. 16–18) »Der Dichter [trauerndes] Angesicht« wird als Spiegel und Abbild eines umfassenderen Naturereignisses dargestellt, zu dem sie (die Dichter und die Weinstöcke) sich wie zu einem »Meister« in einem Bildungsprozess verhalten; aber erst die anthropomorphe Motivik des Schlafens und Ahnens, die der Natur ein (präreflexives) Bewusstsein unterschiebt, verknüpft den Bereich des Dichters und der Natur und begründet den noch ›geahndeten‹, auf göttlicher Präsenz basierenden Zusammenhang (»des gemeinsamen Geistes Gedanken«), der die Erfahrung der Vereinzelung (»sie scheinen allein zu seyn«) und der Leblosigkeit aufheben sollte. Trauer und Ahnung deuten auf die ambivalente Erfahrung eines Nicht-mehr und Noch-nicht-Seins, auf
die Ambivalenz von Erinnerung und Antizipation. Lust und Unlust mischen sich deshalb in dieser ahnenden Trauer, wie auch in der Ode An die Deutschen: »Und zu ahnen ist süß, aber ein Leiden auch« (StA 2.1, 9, V. 17; MA 1, 266, V. 17). Der Begriff des Ahnens erinnert an einen zentralen Gedanken des poetologischen Fragmentes Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ...: »So wie die Erkenntnis die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntnis« (FHA 14, 319, s. Kap. 19). Schon in der dritten Strophe wird dieses Sprachereignis konjunktivisch, in dem Modus des Gebets, evoziert: »Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,/ Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.« (V. 19–20) Nach Heideggers berühmter Erläuterung (s. Kap. 39) wäre dadurch die parousia des Seins jenseits aller ontischen Bestimmungen ausgesprochen (Heidegger, Erläuterungen 1971, 49–77). Das optative »sei« beschwört tatsächlich eine Entsprechung von Wort und Göttlichem, die H.s Auffassung der parousia als eines nicht-subjektiven – pfingstlichen und/oder dionysischen – Sprachereignisses am nächsten kommt, dieses aber zugleich noch in Aussicht stellt oder vielleicht als unerreichbares Ziel ausspricht (de Man 1983, 258). In den folgenden Strophentriaden wird der ganze dichterische Prozess, der in diesem Sprachereignis gipfeln soll, nachvollzogen. Zunächst wird das rezeptive Moment des Prozesses evoziert. Vom Dichter wird verlangt oder genauer: ihm steht es zu, sich von den »Zeichen, den Thaten der Welt« (V. 30; Herv. B. P.) – d. h. von den immer schon symbolisch vermittelten historischen Ereignissen – in dem Maße inspirieren (›anzünden‹) zu lassen, dass er in ihnen die verborgenen und nunmehr offenbar gewordenen Zeichen göttlicher Wirkung sehe. Dass der kulturgeschichtliche Prozess als esoterische Arbeit der »in Knechtgestalt« wirkenden »Allebendigen, [der] Kräfte der Götter« wieder-»erkannt« (V. 36–37) wird, ist nicht nur eine Anspielung auf die christliche Kenosis (Phil. 2, 7) und auf Apolls Rolle als Knecht und Hirt des Admet, sondern auch auf Dionysos, der in Der Einzige neben Herakles und Christus als »Ackersmann, der atmend von der Arbeit/ Sein Haupt entblößet« dargestellt wird (StA 2.1, 164, V. 95–96; MA 1, 469, V. 87–88; Böschenstein 1989, 122). Die Erkenntnis der Götter wird aber vermittelt durch das Lied. »Im Liede wehet ihr Geist«, dessen Zeichen »hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern«, »des gemeinsamen Geistes Gedanken sind/ Still endend in der Seele des Dichters« (V. 44–45; Herv. B. P.). Diesem vor allem rezeptiven Moment folgt die eigentliche Geburt des Gedich-
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tes. Dazu muss die Seele des Dichters aber »von heilgem Stral entzündet« werden, »daß schnellbetroffen sie, Unendlichem/ Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung/ Erbebt, und ihr, von heilgem Stral entzündet,/ Die Frücht in Liebe geboren, der Götter und Menschen Werk/ Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt.« (V. 45–49) Das Drängen zur Sprache eines »Unendlichen«, das sich mit einer erinnernden Tendenz der Sprache kreuzt, vollzieht sich wie ein anamnetischer Prozess (»von Erinnerung ...«), der freilich die Seele als immer noch bloß passives Medium der Geburt trifft und dezentriert (»... erbebt«). Der literarisch vermittelte Mythos von der Geburt des Dionysos – des »heiligen Bacchus« (V. 53) – als Beispiel eines solchen geglückten Werkes verrät zugleich das notwendige Opfer der ›tragenden Instanz‹: »So fiel, wie Dichter sagen, da sie sichtbar/ Den Gott zu sehen begehrte, sein Blitz auf Semeles Haus« (V. 50–51). Gerade dieses Motiv des verpönten Anblicks kehrt am Ende des Fragmentes als Grund der Abweisung und des Scheiterns zurück: »Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen,/ Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden/ Den falschen Priester« (V. 69–71). Die Auslöschung des (über)tragenden Subjektes – des lyrischen Ich – scheint am Anfang der letzen Triade zunächst verdrängt zu werden, indem die »Erdensöhne« durch das mythische Opfer als von der ›Ursünde‹ erlöst dargestellt werden: »Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt/ Die Erdensöhne ohne Gefahr« (V. 54); »die Leiden des Stärkeren/ Mitleidend« bliebe ihr Herz »in den hochherstürzenden Stürmen des Gottes [...] doch fest.« (V. 64–66) Erst die Bedingung des Mitvollzugs göttlichen Leidens – ein wichtiges Motiv in den folgenden Gesängen (s. u. a. Der Rhein) – deckt die Unmöglichkeit einer so verstandenen Mittlerrolle auf: »Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,/ Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,/ Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand/ Zu fassen und dem Volk’ ins Lied gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen./ Denn sind nur reinen Herzens,/ Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände// Des Vaters Stral, der reine versengt es nicht.« (V. 56– 63) Das entblößte Haupt könnte zwar als pietistische Geste frommer Demut gelesen werden (Kurz 2000, 504), so wie auch das reine Herz und die unschuldigen Hände nach Ps. 24 die Bedingung dafür wären, »an der heiligen Stätte des Herrn« zu stehen. Aber die schon oben angedeutete Anspielung auf – u. a. – Dionysos als »Ackersmann, der athmend von der Arbeit/ Sein Haupt entblößet« (die Umschreibung wäre auch auf Apoll oder Herkules zu beziehen), lässt das Motiv
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des entblößten Hauptes auch als unverhüllte Identifikation mit dem Gott und mithin als das Gegenteil der frommen Passivität erscheinen. Wie Szondis akribische Lektüre nachgewiesen hat, hat H. in der Prosafassung den tieferen Grund des Scheiterns selber aufgedeckt: »Aber wenn von selbstgeschlagener Wunde das Herz mir blutet, und tiefverloren der Frieden ist, u. freibescheidenes Genügen, Und die Unruh, und der Mangel mich treibt zum überflusse des Göttertisches« (Szondi 1978, 300). Die selbstgeschlagene Wunde, die in der noch früheren Fassung als »andere[r] Pfeil« bezeichnet wurde, unterscheidet eben das erforderte Mitleiden der Leiden Gottes, von dem die Seele des Dichters »schnellbetroffen« hieß, von der narzissti schen Selbstklage, der Erfahrung eines Mangels, der in und von dem Anderen aufzuheben wäre. »Es ist dieses Moment persönlichen Leids, das aus dem hymnischen Raum, der den Dichter nur als Dienenden kennt, verbannt ist.« (ebd., 313) An diesem noch nicht vollzogenen Verzicht des Selbst, das, statt sich zunächst das Heilige anzueignen und »in der Seele« zu verinnerlichen, um es erst dann auszuteilen, sich in der geteilten Sprache der Gemeinschaft artikulieren soll, zerbricht die Feiertagshymne. Durch ihr Scheitern wird sie zum »warnenden Lied« (V. 72).
32.5 Germanien »Nicht sie, die Seeligen, die erschienen sind,/ Die Götterbilder in dem alten Lande,/ Sie darf ich ja nicht rufen mehr, wenn aber/ Ihr heimatlichen Wasser! jetzt mit euch/ Des Herzens Liebe klagt, was will es anders/ Das Heiligtrauernde?« (V. 1–6) Die ambivalente Beziehung zum (vergangenen) Anfang und Ursprung, deren Spannungen und Verstrickungen auch Die Wanderung (»doch Menschen ist Gegenwärtiges lieb«, V. 86–87) und Der Rhein (»Denn eher muß die Wohnung vergehen,/ ... ehe vergessen/ Ein solcher dürfte den Ursprung«, V. 93–94) beherrschen, bestimmt die Dynamik dieses Gesangs. Vor allem nimmt er die Ankündigung bzw. Aufforderung zu einem neuen hymnischen Sprechen aus den früheren Gesängen Der Mutter Erde und Am Quell der Donau (»Wir nennen dich, heiliggenöthigt, nennen,/ Natur! dich wir«; ebd., V. 89–90) wieder auf. Aber das »Nennen« des noch im Verborgenen wirkenden Göttlichen muss sich zunächst gegen die Nostalgie nach jenem »alten Lande« stemmen, das in der Elegie Brod und Wein als »Seeliges Griechenland! du Haus der Himmlische alle« (V. 55) evoziert wird. Der radikal abwendenden Geste, mit der dieser sieben-
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strophige Gesang überraschend einsetzt – »Nicht sie«–, wird aber sofort eine verzweifelte rhetorische Frage entgegengesetzt, welche die verbotene Liebe des »Herzens« zu jener vergangenen Welt gewissermaßen bestätigt: »was will es anders?« (siehe dazu Heidegger 1980; Warminski 1987, 64–71). Zugleich klingt auch die Möglichkeit einer ›anderen‹ Beziehung an, die sowohl dem »Heiligtrauernde[n]« Herzen – die Qualifikation des Heiligen unterscheidet die Trauer schon von einer bloß subjektiven Empfindung – als auch der »Erwartung« (V. 6) der Gegenwart – dem gegenwärtigen »Land« und »Himmel«, der ahnungsvoll und »voll von Verheißungen« (V. 7, 9–10) heißt – entsprechen würde. Dennoch enthält beides eine Gefahr: zunächst die melancholische Faszination von den »entflohene[n] Götter[n]«, deren imaginäre Vergegenwärtigung einer verpönten Geisterbeschwörung gleichkäme (»Und rückwärts soll die Seele mir nicht fliehn/ Zu euch, Vergangene! die zu lieb mir sind./ Denn euer schönes Angesicht zu sehn,/ Als wärs, wie sonst, ich fürcht’es, tödlich ists/ Und kaum erlaubt, Gestorbene zu weken«, V. 12–16); dann aber auch der Himmel, der uns zwar ahnungsvoll »umschattet heut«, aber auch »drohend« scheint: wie der Donner und die Blitze in der Feiertagshymne ein Hinweis auf die ambivalente, revolutionäre Umbruchsstimmung. Erst die nich mehr melancholische, richtig ›heilige‹ Trauer, die »nichts läugnen will [...] und nichts erbitten« (V. 19) – d. h. die den Verlust zunächst akzeptiert –, macht »uns Zweifelnde[n]« (V. 26) – die in der Falte zwischen Vergangenheit und Zukunft Lebenden –, rezeptiv, um überrascht zu werden (»und keiner weiß, wie ihm geschieht«, V. 27) von der Wiederkehr der »Alten« (V. 29). Diese Wiederkehr wird nun angekündigt von dem »Adler, der vom Indus kommt« (V. 42) und die »Alpen zuletzt überschwingt«, d. h. die geschichtsallegorische Reise vom Osten – dem »Orient« – in den Westen macht. Sein Ziel ist »Die Priesterin, die stillste Tochter Gottes/ Sie, die zu gern in tiefer Einfalt schweigt« (V. 49–50). Die Verkörperung des Deutschen, die an die scheuen, »ahnenden« und schweigenden (deutschen) Dichter in Wie wenn am Feiertage ... oder Deutscher Gesang erinnert, wird nun in einem Monolog des Adlers, der bis zum Schluss des Gesangs reicht, als »auserwählt[e]« angeredet, die »ein ander Wort erprüfen muß«. Ihre Vorbestimmtheit wird zunächst mit einer mythischen Vorgeschichte begründet, die die Sprache als göttliche Gabe und als Aufgabe und Verantwortung gegenüber der ebenfalls zum Ausdruck drängenden Natur darstellt: »Seit damals, da im Walde versteckt [...] ließ ich, ein Bräutigam/ Am Mittag wo
viel Fieber unser harrten, Seufzen der Creatur,/ Die Blume des Mundes zurück und du redetest einsam.« (V. 65, 70–73) Die folgenden Strophen werden beherrscht und vorangetrieben durch eine performative, auffordernde Sprache, welche die angeredete Priesterin Germanien zu einem diesmal »offen[en]« Sprechen an der symbolischen Grenze zwischen Nacht und Tag aufruft (»O trinke Morgenlufte, Biß daß du offen bist/ Und nenne, was vor Augen dir ist«; V. 81–82). Dieses offene Nennen soll das Ungesprochene bezeichnen – die verborgene göttliche Präsenz –, denn »nicht länger darf Geheimniß mehr/ Das Ungesprochene bleiben/ Nachdem es lange verhüllt ist« (V. 84– 86); aber zugleich soll es auch unausgesprochen bleiben, in seiner Unaussprechlichkeit und Unübersetzbarkeit zur Sprache gebracht, allenfalls in einer umschreibenden Schrift bezeichnet werden: »Dreifach umschreibe du es,/ Doch ungesprochen auch, wie es da ist, Unschuldige, muß es bleiben.« (V. 94–96) Der evokative Akt des Nennens, der in seiner Offenheit nichts festschreibt – »O nenne Tochter du der heiligen Erd’« (V. 97) –, lässt nun auch das Vergangene als Vergangenes wieder »ertönen«, doch so, dass die im Anfang ausgesprochene Ambivalenz »was will es anders« von der Bestätigung des Nennaktes, der aus der Ferne spricht und sich mit dem Echo des Vergangenen trifft, aufgehoben wird: »Und bei dem Nahmen derselben/ Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder./ Wie anders ist! und rechthin glänzt und spricht/ Zukünftiges auch erfreulich aus den Fernen.« (V. 99–102) Der Gesang endet mit der »Erinnerung« als »Mitte der Zeit« (vgl. V. 106, 103), in der in den zukünftigen, abendländischen Feiertagen die vergangenen griechischen bewahrt bleiben sollen. Im Zentrum dieser Feier steht die gastfreundliche Begegnung der »Unbedürftigen« mit den Unbedürftigen, der griechischen Götter mit den abendländischen Menschen, d. h. eine Gemeinschaft, die nicht mehr auf der Sehnsucht nach der Aufhebung des eigenen Mangels durch den Anderen basiert. Friedensfeier wird dieses Motiv, insbesondere das – in der Rezeption von Germanien oft ›überlesene‹ – Friedensmotiv (»wo du Priesterin bist/ Und wehrlos Rath giebst rings/ Den Königen und den Völkern«; V. 110–103) in aller Breite und Tiefe entfalten.
32.6 Der Rhein – Die Wanderung In einer Randnotiz zu einer Vorstufe erläutert H. das – poetologisch-musikalische – »Gesetz« des fünfzehnstrophigen, triadisch gebauten Gesangs Der Rhein:
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»Das Gesez dieses Gesangs ist, daß die zwei ersten Parthien der Form ›nach‹ durch Progreß u. Regreß entgegengesetzt, aber dem Stoff nach gleich, die 2 folgenden der Form nach gleich dem Stoff nach entgegengesetzt sind die lezte aber mit durchgängiger Metapher alles ausgleicht.« (StA 2.2, 722; MA 3, 191) Obwohl die genaue Bedeutung dieses Gesetzes sich nur auf der Folie der Homburger Poetologie (s. Kap. 15 und 24) erfassen lässt, leuchtet doch einiges sofort ein: Die ersten zwei Triaden (Str. 1–6) sind insofern durch den »Stoff« verbunden, dass sie die Geburt und den Lauf des Rheins als »Schiksaal« bzw. vom Vater-Gott gesteuerten Bildungsgang eines »Halbgotts« (V. 31) evozieren. Das unerlaubte Verlangen des »Jüngling[s]« (V. 24) zum orientalischen Ursprung (»Asia«) wird noch ausdrücklicher in Die Wanderung beschworen: »Von ihren [der Mutter] Söhnen einer, der Rhein,/ Mit Gewalt woll’er ans Herz ihr stürzen und schwand/ Der Zurückgestoßene, niemand weiß wohin, in die Ferne« (V. 94–96). Die ›Wendung‹, die vielleicht dem Formwechsel entspricht und markiert wird durch den gnomischen Satz: »Ein Räthsel aber ist Reinentsprungenes. Auch/ Der Gesang kaum darf es enthüllen.« (V. 46–47), beschreibt die Korrektur, die den Rhein zum »stillwandelnden« Kulturstifter macht: »[...] und das Sehnen stillt/ Im guten Geschäffte, wenn er das Land baut/ Der Vater Rhein und liebe Kinder nährt/ In Städten, die er gegründet.« (V. 86–89) Die auf die Rhein-Triaden folgende dritte »Parthie« (Str. 7–9) fängt mit einem scheinbaren Widerruf der Zurechtweisung an, die den »ungeduldigen« Rhein in den Westen zwang; das Vergessen des Ursprungs würde zu einer radikalen Selbstzerstörung des Kulturellen führen: »Doch nimmer, nimmer vergißt ers./ Denn eher muß die Wohnung vergehn,/ Und die Sazung und zum Unbild werden/ Der Tag der Menschen, ehe vergessen/ Ein solcher dürfte den Ursprung/ Und die reine Stimme der Jugend.« (V. 90–95) Dieses Paradoxon wurzelt jedoch in der H.schen Dialektik des Eigenen und des Fremden, die auch in Die Wanderung die komplizierte Beziehung zur »Mutter« als eine notwendig von Treue und Untreue bestimmte Liebesgeschichte thematisiert (»Unfreundlich ist und schwer zu gewinnen/ Die Verschlossene, der ich entkommen, die Mutter.« V. 91–93). Die Notwendigkeit einer solchen Beziehung, die das »Rhätsel« des Ursprungs – nicht nur das individuelle R(h)einentsprungene, das der Rhein bzw. das der Gesang Der Rhein selber sei, sondern das »Reinentsprungene« jeder Kulturgründung überhaupt – nur verhüllend, d. h. mittelbar, artikulieren soll, gehört, zusammen mit der damit einhergehenden Sprachpro-
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blematik – der Rhetorik des ›verschweigenden‹ Sprechens oder »Nennen« des Heiligen – zu den Grundthemen der Gesänge. Die verzweifelt-rhetorische Frage »Wer war es, der zuerst/ Die Liebesbande verderbt/ Und Strike von ihnen gemacht hat?« (V. 96–98) spricht die unvermeidliche, mithin tragische, der Ursünde verwandte Ursprünglichkeit des Liebes-Dilemmas aus. Ohne Vermittlung, ohne – zum Teil – selbstgewählte Heteronomie wäre die Liebe selbstvernichtend; aber jede Beziehung enthält die Gefahr der melancholischen Identifikation und somit der Usurpation des Anderen, eines Positivwerdens der Ordnungen und Satzungen, die ihren Bezug zu und Abhängigkeit von jenem »unendlicheren Zusammenhang« des Lebens verneinen, den H. als die umfassende Sphäre der Religion verstand (Über Religion/Fragment philosophischer Briefe; s. Kap. 24). Dass diese Verneinung der Beziehung zum Anderen letzten Endes zu einer Vernichtung des Selbst führen kann, ist immer mitgedacht. Das Vergessen des (göttlichen) Ursprungs wird hier vor allem als ein gefährlich-einseitiger prometheischer Autonomieanspruch aufgefaßt (»Dann haben des eigenen Rechts/ Und gewiß des himmlischen Feuers/ Gespottet die Trozigen«, V. 99–101), der die Differenz zwischen den Göttern und den Menschen auszugleichen sucht (»...Und den Göttern gleich zu werden getrachtet«; »wenn einer, wie sie, seyn will und nicht/ Ungleiches dulden, der Schwärmer«, V. 104 u. 119–120) und somit das allzu ungestüme »blinde« Begehren zum Ursprung des jungen Rheins spiegelbildlich verkehrt wiederholt. In beiden Fällen wird der Kern von H.s Theologie – das Prinzip der wechselweisen Bestimmung von Mensch und Gott – verletzt: »Es haben aber an eigner/ Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen/ Die Himmlischen eines Dings,/ So sind Heroën und Menschen/ Und Sterbliche sonst. Denn weil/ Die Seeligsten nichts fühlen von selbst,/ Muß wohl, wenn solches zu sagen/ Erlaubt ist, in der Götter Nahmen/ Theilnehmend fühlen ein Andrer,/ Den brauchen sie«. (V. 105–114) Die – leere, objektlose – Selbstgenügsamkeit der Götter, die vielleicht auch ihrerseits als verborgenes Spiegelbild der sich absolut setzenden menschlichen Autonomie fungiert (siehe H.s Fichte-Kritik, das absolute Ich könne wegen seiner Objektlosigkeit gar nicht ›sein‹; s. Kap. 12), braucht die stellvertretende, sprachlich vermittelte (»in der Götter Nahmen«) Teilnahme eines endlichen Bewusstseins, so wie jedes andere Selbst die Spaltung und Vermittlung des kollektiven Sprechens – des »Anderen« – braucht, um überhaupt existieren zu können und »etwas für sich zu sein« (Der Einzige, Schluß einer zweiten Fassung, MA 1, 458, V. 3–4). In H.s
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Kommentar zu der späteren Übersetzung des PindarFragmentes »Das Höchste« (s. Kap. 26) heißt es dementsprechend: »Deswegen ist das Unmittelbare, streng genommen, für die Sterblichen unmöglich wie für die Unsterblichen« (MA 2, 381; s. Kap. 26). Und schon am 24. Dezember 1798 schreibt H. an Sinclair, dass »keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden.« (MA 2, 723) Die Christushymnen werden sich intensiv mit dieser Problematik befassen. Die dritte Triade schließt mit dem postkatastrophischen Idyll eines unbestimmten »Kühnen«, »welcher fand/ Ein wohlbeschiedenes Schiksaal,/ Wo noch, der Wanderungen/ Und süß der Leiden Erinnerung/ Aufrauscht am sichern Gestade« (V. 121–125). Die »Leiden«, deren Erinnerung überraschenderweise »süß« heißt, mögen auf die Folgen einer Vorgeschichte hinweisen, die den Kühnen« zum Verwandten jener »Trotzigen« macht, die »sterblichen Pfade verachtend« (V. 102) die Grenzen nicht wahrten. Da er jetzt »seeligbescheiden« ruhet, »umfängt« ihn das »Himmlische«, das er damals mit Gewalt ergreifen wollte, »von selber [...] unbezwungen« (V. 130–133). Abgeklärt durch die leidvolle heroische Vorgeschichte, ist aus dem Handelnden aber ein Empfangender geworden (s. auch den Schluss von Wanderung). Im Gegensatz zu der allgemeinen, mythischen Perspektive der dritten Triade ist die vierte (Str. 10–12) exklusiv der Figur Rousseaus gewidmet; die Erinnerung an Rousseau (s. Kap. 11) wird sogar ganz konkret, indem dessen kurzer Aufenthalt auf der Sankt-Peter Insel im »Bielersee« evoziert wird (siehe Rousseaus Bericht in den Bekenntnissen und dem »Fünften Spaziergang« der Träumereien – Les Confessions, suivis de rêveries du promeneur solitaire, 1782). Obwohl auch er wie der Rhein indirekt als »Halbgott« bezeichnet wird, bezieht sich die ›stoffliche‹ Entgegensetzung zu der vorangehenden Strophentriade besonders auf einen Aspekt, der die Rhein-Parthien (Str. 1–6) noch mit der dritten Triade verbindet. Geht es in all diesen Parthien um die mythologisch-heroische Kühnheit des (unbewussten) Handelns, so wird Rousseau – im Gedächtnis der lyrischen Sprechinstanz freilich – ausdrücklich als ein mit mythischen, dionysischen Zügen versehener hymnischer Sänger apostrophiert, d. h. weniger als Subjekt der Tat denn als hermeneutisches und poetisches Subjekt der Dichtung dargestellt, freilich nicht als einer, der selber als autonomes Ich spricht und das Wort ergreift, sondern als einer der hört, was die Gabe ist, und diese als Sprache der Reinesten, d. h. als eine von allen kommunikativen, instrumentalisierten Inhalten befreite Sprache weiterreicht (Nägele 2005): »Und süße
Gaabe zu hören,/ Zu reden so, daß er aus heiliger Fülle/ Wie der Weingott, thörig göttlich/ Und gesetzlos sie die Sprache der Reinesten giebt« usw. (V. 143–146) In der elften Strophe wird er ein »sterbliche[r] Mann »genannt, der sich mit der einsamen idyllischen Zufluchtsstätte am Bielersee bescheidet: »Dann scheint ihm oft das Beste/ Fast ganz vergessen da,/ Wo der Stral nicht brennt,/ Im Schatten des Walds/ Am Bielersee zu seyn,/ Und sorglosarm an Tönen,/ Anfängern gleich, bei Nachtigallen zu lernen.« (V. 159–165) Das Nachtigallenmotiv sowie die merkwürdige Identitätsfrage – »wie nenn ich den Fremden?« (V. 149) – könnte auch als eine intertextuelle Spur zu H.s Übersetzung des 1. Stasimon aus Ödipus auf Kolonos gelesen werden (Böschenstein 1968). In dieser für H. exemplarischen modernen Tragödie erscheint der ehemalige »Allessuchende, Allesdeutende« (Anmerkungen zu Ödipus) in der Gestalt des selbsterblindeten Weisen, der als exilierter »Fremder« in Kolonos seinem Tod entgegengeht, dafür der Stadt die Verheißung Apolls verspreche. Die poetische Analogie begründet somit die Verklärung Rousseaus zum Wegbereiter einer neuen abendländischen Utopie. Zwischen den beiden Momenten der Bildungsgeschichte Rousseaus liegt eine ähnliche private katastrophische Erfahrung – die heftigen Angriffe auf Rousseaus Werk und Person, die dem Exil am Bieler See vorangingen –, die hier aber auf das problematische Selbstverständnis der Dichterberufung beschränkt wird. Der Hinweis auf die traumatische Erfahrung erinnert an die exemplarische Szene der hymnischen Dichter in der Feiertagshymne (»unter Gottes Gewittern,/ [...] mit entblößtem Haupte zu stehen«) und erklärt sowohl die (Selbst-)Vergessenheit (»fast ganz vergessen da«) als auch die Regression des hymnischen Sprechens in die Sprache des »Anfänger[s]« als Folgen einer kritischen Selbstreflexion. Denn als einer der »Söhne der Erde« ist Rousseau zwar ein mit dem Ursprung bekannter Halbgott, aber in der Betonung des Irdischen klingt auch das Motiv der Sterblichkeit und der (Selbst-)Beschränkung durch: »Und schrökt den sterblichen Mann,/ Wenn er den Himmel, den/ Er mit den lieben Armen/ Sich auf die Schultern gehäufft/ Und die Last der Freude bedenket« (V. 154–158). Das reflexive Moment (»bedenket«, »Dann scheint ihm oft das Beste«) markiert die notwendige selbstvollzogene Distanz des »sterblichen Mann[es]« zu der nicht-evidenten dionysischen Vermittlerrolle, die ihn in die Stelle jenes »Anderen« oder »Fremden« zwang, der »in der Götter Nahmen teilnehmend fühlen« solle. Die in der Feiertagshymne katastrophal ausgehende Selbstüber-
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hebung weicht damit einem selbstgewählten und abgeklärten Selbstverzicht, einer durch den »heiligen Schlaf« – der die Wunden durchs Vergessen heile – bewirkten selbstlosen Rezeptivität, die nun eine erneute Begegnung oder ein Entgegenkommen des Göttlichen im »milderen Licht« des Abends zu ermöglichen scheint und die abendländische Epiphanie der letzten Triade vorbereitet. Die ›formale‹ Analogie zu der vorangehenden Strophentriade betrifft wohl die als Progress und Regress bezeichnete Tendenz zum Ausgleich einer zunächst aufgerufenen katastrophalen Entgrenzungstendenz, der das Ende der jeweiligen Triaden (Strophe 9 und 12) genau wie den Schluss der Rhein-Parthien (Strophe 6) bestimmt und auf den Schluss des ganzen Gesangs vorausweist. Die letzte Triade (Str. 13–15) fängt mit der Beschwörung eines Menschen und Götter vermählenden »Brautfestes« an, das – der mythisch-religiösen Transfiguration Rousseaus entsprechend – als Übertragung von Rousseaus Utopie des öffentlichen Festes (fête champêtre) gedeutet werden kann (Bö schenstein 1968, 11, 13; Kurz 1975, 207). Die Metapher von H.s politisch-theologischer Gemeinschaftsvision, in deren Mitte die »Liebenden« als Ziel und Zentrum einer umfassenden Einkehr evoziert werden (»Die Liebenden aber/ Sind, was sie waren, sie sind/ Zu Hauße«; V. 186–188), erinnert zunächst an die utopische Struktur der in unmittelbar zeitlicher Nähe entstandenen Friedensfeier. Wie dort wird auch hier das abendliche Brautfest als ein epiphanisches Ereignis (in) der Zeit bzw. der Geschichte aufgefasst, das den historischen Prozess nicht transzendiert, sondern für »eine Weile« (V. 183) »ausgleicht« und deshalb der tradierenden Kraft des (dichterischen) »Gedächtnis[ses]« bedarf, um immer wieder erinnert und dadurch »behalten« zu bleiben: als »alles ausgleichende« Metapher, als übertragendes Zeichen, das sich weder mit einem historischen Referenten als solchen noch mit einem transzendenten Bezeichneten identifizieren lässt. Das Gedenken und Behalten wird somit ausdrücklich in der Zeitlichkeit und Endlichkeit menschlichen Daseins gegründet. Ist das menschliche Gedächtnis im Gegensatz zu dem der »ewigen Götter« endlich und unzulänglich (»Doch einigen eilt/ Diß schneller vorüber«, V. 195–196), so kann »bis in den Tod/ [...] aber ein Mensch auch/ Im Gedächtnis doch das Beste behalten,/ Und dann erlebt er das Höchste.« (V. 199–202) Das »Beste« der historischen Epiphanie wird erst zum »Höchsten« – oder kann es werden – in einem Akt (menschlichen) Gedenkens. Dessen Ideal ist »ein Weiser« (V. 204) – Sokrates in Platos Symposi-
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on –, der die Nacht der Reden beim gemeinsamen Trinkgelage hindurch »wachend zu bleiben« (vgl. Brod und Wein, V. 36) vermochte. Im Zentrum der Reden stand der Eros als eine zwischen dem Streben nach Unsterblichkeit und dem Wandel zeitlichen, sterblichen Lebens vermittelnde Kraft: »Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, daß es durchaus immer dasselbe wäre wie das Göttliche Leben selber, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes neues solches zurückläßt, wie es selbst war.« (Symposion 208b; s. Nägele 1985, 206 ff.). Der Gesang, der in einer ursprünglichen Fassung dem Freund Wilhelm Heinse (s. Kap. 11) gewidmet war, endet mit einer Hommage an Isaac von Sinclair (s. Kap. 5). Sinclair wird apostrophiert als ideale Verkörperung eines (politisch) handelnden Dichters und Denkers, dem die Präsenz des Göttlichen (»das Lächeln des Herrschers«; V. 215) sowohl in seiner politisch-revolutionären Tätigkeit (»Im Stahl«; V. 212) als auch im umfassenderen Bereich der Erde und des Himmels (»unter Tannen«, »In Wolken«; V. 210–11 u. 213) vertraut ist. Weil er »Des Guten Kraft kennt« (V. 214) – das innerste Prinzip und telos des Eros – weiß er standzuhalten zwischen den »fieberhaft[en]« Verstrickungen des Lebendigen im historischen Alltag – dem tragischen Dilemma von Bindung und Ungebundenheit, Heteronomie und Autonomie, Rezeptivität/Passivität und Aktivität – und dem nächtlichen Chaos (»uralte Verwirrung«; V. 221), der allen Versuchen zur Ordnung vorangeht und dessen »Abgrund« (V. 22) der Rhein entsprungen war.
32.7 Die Christushymnen Keine anderen Gesänge H.s haben solche Kontroversen ausgelöst wie Versöhnender, der du nimmergeglaubt/Friedensfeier, Der Einzige und Patmos, die hier – wenn auch nicht ohne Bedenken – als Christushymnen bezeichnet werden. Die Hauptproblematik dieses Korpus bildet die poetische Darstellung göttlicher Präsenz (und Absenz) als eines epiphanischen Ereignisses in der Geschichte, deren Zeitlichkeit, anstatt transzendiert und aufgehoben zu werden, zum Herzen einer innerweltlichen Parousie werden soll. Nicht umsonst tritt an einer zentralen Stelle in Friedensfeier »der stille Gott der Zeit« aus seiner »Werkstatt«, nachdem er am »Tagewerk« der Geschichte teilgenommen hatte: »Einmal mag aber ein Gott auch Tagewerk erwählen,/ Gleich Sterblichen und theilen alles Schiksaal.« (MA 1, 364, V. 81–82) Dass diese
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Parousie nicht als individuelle, mystische Erfahrung jenseits der Sprache, sondern als sozial-diskursive Utopie, als »pfingstliche Sprachutopie« (Hart Nibbrig) eines am »Allversammelnde[n]« »Festtag« teilnehmenden Kollektivs – wie sie vor allem in Friedensfeier evoziert und artikuliert wird (MA 1, 364) – zu verstehen sei, gehört zu den Grundgedanken der Vaterländischen Gesänge. Die Motivik des Chors und Gesangs, der Feier und des Festes offenbart die ihnen zugrundegelegte politisch-theologische Gemeinschaftsvision einer herrschaftsfreien, sozial-religiösen Kommunika tion (und Kommunion) – der »offenen Gemein[d]e« aus Der Mutter Erde – als einer historischen Utopie: als einer Utopie also nicht vom oder am Ende, sondern der Geschichte selber, die von ihr zwar unterbrochen, aber nicht aufgehoben wird. Eben diese wichtige Pointe legitimiert die grundlegende, ursprüngliche Abhängigkeits- oder Beziehungsstruktur, in der Götter und Menschen in den Gesängen wie überhaupt in H.s Spätwerk eingebunden sind: Auch die Götter »brauchen« die vermittelnde Teilnahme der Menschen, die aber zu diesem Zweck einander brauchen. Eine spätere Variante der bekannten Anfangszeilen von Patmos (»Nah ist/ Und schwer zu fassen der Gott«; StA 2.1, 165, V. 1–2; MA 1, 447, V. 1–2) artikuliert am besten diese apriorische und zugleich utopische Beziehungsstruktur: »Voll Güt’ ist. Keiner aber fasset/ Allein Gott« (StA 2.1, 173, V. 1–2; MA 1, 453, V. 1–2). Gott ist hier mehr als nur das Objekt einer noch zu erreichenden Erkenntnis – das Objekt, das keiner ›allein fasst‹. Er ist vielmehr zugleich das Subjekt solchen Erkennens: allein Gott fasst, was ›voll Güt‹ ist. Damit wird dies göttliche Erkennen zum Movens (zum Subjekt wie zum Motiv) einer Sprachbewegung, die der Gesang stellvertretend – antizipierend wie erinnernd – vollzieht. Die wesentliche Priorität dieser Beziehung als konstitutiver Struktur für die »offene Gemein[d]e« setzt die gleich grundsätzliche Inkommensurabilität zwischen dem Himmlischen und dem Menschlichen voraus: Schwer zu fassen bleibt deshalb der nahe Gott. In jedem der hier zu kommentierenden Gesänge wird diese Problematik mit der zuerst in der Feiertagshymne thematisierten Gefahr einer allzu persönlich-subjektiven Vereinnahmung dieses Ereignisses und der Absage an ein prophetisches Dichtungsverständnis verknüpft. Die Schlussgnome von Der Einzige, »Die Dichter müssen auch/ Die geistigen weltlich sein« (StA 2.1, 156, V. 104–105; MA 1, 1. Fassung, 390, V. 88–89), spricht die notwendige ›Diesseitigkeit‹ des »geistigen«, sich dem Göttlichen widmenden Dichters aus. Ihre Weltzugewandtheit und Verhaltenheit wird
nicht nur dem destruktiven Jenseitspathos entgegengesetzt (»Nemlich immer jauchzet die Welt/ Hinweg von dieser Erde, daß sie die/ Entblößet; wo das Menschliche sie nicht hält« (StA 2.1, 163, V. 71–73; MA 1, 3. Fassung, 469, V. 71–73), sondern entspricht auch dem schon früher besprochenen Gebot, vom eigenen Ich abzusehen und auf den »anderen Pfeil« des eigenen Leidens, auf das an einer selbstgeschlagenen Wunde leidende Herz zu verzichten. Der Einzige Das allzu große identifikatorische Verlangen nach dem Himmlischen, das dem »falschen Priester« der Feiertagshymne die Sprache verschlug, gilt desto mehr für die abendländischen Dichter, die sich nur »Einem« verschrieben haben: »Es hänget aber an Einem/ Die Liebe. Diesesmal/ Ist nemlich vom eigenen Herzen/ Zu sehr gegangen der Gesang,/ Gut will ich aber machen/ Den Fehl, mit nächstem/ Wenn ich noch andere singe./ Nie treff ich, wie ich wünsche,/ das Maas.« (StA 2.1, 155, V. 83–90; MA 1, 389, V. 66–74) Die Gesänge, in denen die Gestalt Christi thematisch ist, sind keine christlichen Hymnen. Wenn die Christusfigur hier – unmittelbar oder verschlüsselt – ins Zentrum rückt, so bedeutet das nicht, dass er das ausdrückliche Thema oder der Telos dieser Gesänge wäre. Sie scheinen vielmehr über ihn hinauszuweisen und eine messianische Gestalt anzukündigen, deren Konturen sich mit denen der historischen ChristusFigur nicht decken. Aber schon die Identifikation (mit) der historischen Christusfigur selber, »wie er gewesen« (Patmos, StA 2.1, 170, V. 166; MA 1, 451, V. 166), wird problematisiert. Allerdings vollzieht sich in Christus jene komplizierte Wende von dem antiken zum hesperischen, d. h. vaterländischen »Himmel«, die schon in der Anfangsstrophe von Germanien als Abschied von den antiken Götterbildern beschworen wurde (»Nicht sie, die Seeligen, die erschienen sind« usw., StA 2.1, 149, V. 1; MA 1, 404, V. 1). Auch dort wird das Verbot der Nostalgie mit einem apotropäischen, d. h. den Blick abwendenden Gestus verbunden, die »das schöne Angesicht« der »entflohenen Götter« (sowie auch das der »gegenwärtigen«) (StA 2, 1, 149, V. 14, 16; MA 1, 404–405, V. 17) als tödliche Versuchung zurückweist. Die Anfangsstrophe von Der Einzige nimmt dieses Motiv der Nostalgie (verstanden als Faszination für die antik-griechische Kulturlandschaft) noch einmal auf, um schon in der dritten Strophe das neue Objekt des Verlangens und der Verehrung anzukündigen: »Was ist es, das/ An die see-
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ligen Küsten/ Mich fesselt, daß ich mehr noch/ Sie liebe, als mein Vaterland?/ [...]/ Viel hab’ich schönes gesehn/ Und gesungen Gottes Bild/ Hab ich, das lebet unter/ Den Menschen, aber dennoch/ Ihr alten Götter und all/ Ihr tapfern Söhne der Götter/ Noch Einen such ich, den/ Ich liebe unter euch,/ Wo ihr den lezten eures Geschlechts/ Des Haußes Kleinod mir/ Dem fremden Gaste verberget.« (Der Einzige, MA 1, 387– 88, V. 1–4; V. 25–35) Die zentrale Thematik der allzu großen Bindung an den Himmlischen, die aus »Liebesbande[n] [...] Strike [...] gemacht hat« (Der Rhein, StA 2.1, MA 1, 388, V. 97–98) und sich bis zur tödlichen Identifikation entwickeln kann, zeigt sich tatsächlich auf exemplarische Weise in der Beziehung zum »Einzigen«, der als »Sohn des Höchsten« identifiziert wird. Anders als die griechischen Vorfahren, die trotz ihrer anthropomorphistischen Züge kaum als wirklich menschlich im emphatischen Sinne galten, lädt Christus aufgrund seiner Menschwerdung zu einer solchen gegenseitigen Zuneigung ein, wie etwa im Falle des Johannes, »Des Sehers, der in seeliger Jugend war/ Gegangen mit/ Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich, denn es liebte der Gewittertragende die Einfalt/ Des Jüngers und es sahe der achtsame Mann/ Das Angesicht des Gottes genau,« (Patmos, StA 2.1, 167, V. 75–80; MA 1, 449, V. 75–80). In einem seltener zitierten Entwurf, den H. der Gottesmutter widmete (Beißner edierte ihn unter dem Titel An die Madonna), wird Johannnes’ Liebe zu Christus auf die Dichter – die »Dienenden« – erweitert: »Denn nicht der Seher allein,/ Es stehen unter einem Schiksaal/ Die Dienenden auch. Denn weil ich// Und manchen Gesang, den ich/ Dem höchsten zu singen, dem Vater/ Gesonnen war, den hat/ Mir weggezehret die Schwermuth.« (StA 2.1, 211, V. 6–12; MA 1, 408, V. 6–12) Als Beispiel einer anderen, auf Verzicht basierenden Beziehung wird im selben Entwurf »Die allvergessende Liebe« (V. 26) der Gottesmutter genannt. Zunächst soll aber die eigentümliche kultur- und religionsgeschichtliche Perspektive H.s, nach der Christus als »Bruder«, nicht – wie vor allem Nietzsche glaubte – als Widersacher der griechischen Götter und Halbgötter erscheint, berücksichtigt werden. Adorno (1974, 487–88; s. Kap. 40) hat in seinem Parataxis-Aufsatz mit Recht die (zwar später in der Endfassung der Friedensfeier fehlenden) Zeilen in der ersten Fassung von Versöhnender, der du nimmergeglaubt nimmergeglaubt ... hervorgehoben, die in der Darstellung des feierlichen Göttertreffens ausdrücklich der idealistischen Herrschaft des Einen über das Viele ab-
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sagt: »o sei/ Versöhnender nun versöhnt daß wir des Abends/ Mit den Freunden dich nennen, und singen/ Von den Hohen, und neben dir noch andere sein.« (StA 2.1, 131, V. 57–60; MA 1, 357, V. 64–67) Die potenzierte Versöhnung, der Friede, den die an Christus appellierende Gestalt verkörpert, schließt nicht aus, sondern steht gerade dafür ein, dass »neben dir noch andere sein«. Im selben Text heißt es dementsprechend: »Und so auch du, Und gönnest uns, den Söhnen der liebenden Erde,/ Daß wir, so viel herangewachsen/ Der Feste sind/ sie alle feiern und nicht/ Die Götter zahlen, Einer ist immer für alle« (StA 2.1, 132, V. 82–86; MA 1, 358, V. 90–94). Die Exklusivität der Liebesbeziehung zu oder des Verlangens nach Christus droht aber dieses von ihm verkörperte prekäre Gleichgewicht des Einen und des Vielen zu verstören und die melancholische Erfahrung des grundsätzlichen Unbefriedigt-Seins und des Mangels noch zu steigern: »Und jetzt ist voll von Trauern meine Seele/ Als eifertet, ihr Himmlischen, selbst,/ Daß dien ich einem, mir/ Das andere fehlet.// Ich weiß es aber, eigne Schuld/ Ists! Denn zu sehr,/ O Christus! häng’ ich an dir;/ Wiewohl Herakles Bruder/ Und kühn bekenn’ ich, du/ Bist Bruder auch des Eviers [...]« (Der Einzige, StA 2.1, 154, V. 48–53; MA 1, 389, V. 48–53). Christus ist aus H.s Sicht sowohl ein Bruder Herakles’ und Dionysos’ als auch »der Lezte[...] eures Geschlechts« (des Geschlechts antik-mythologischer Götter und Halbgötter). Im Warthäuser Fragment (vgl. StA 2.2, 758) wird die tragisch-heroische Funktion insbesondere des »Eviers« Dionysos noch hervorgehoben. Er ist es, der »die Todeslust der Völker« aufhält und dafür sorgt, dass »die Menschen [...] hüten das Maas, dass einer/ Etwas für sich ist, den Augenblick/ Das Geschick der großen Zeit auch/ Ihr Feuer fürchtend, treffen [...]« (MA 1, 458, V. 1–6). Analog ist es der Menschwerdung des Göttlichen, die in Christus als dem »lezten eures Geschlechts« geglaubt wird, zu verdanken, dass die abendländische Kultur ihre Schwäche – das Schiksaallose, das dysmoron – überwinden kann und stattdessen »etwas zu treffen« oder »Geschick« zu haben vermag (Anmerkungen zur Antigonä, MA 2, 374). Die Verwandtschaft der drei genannten »Brüder« – die dritte Fassung von Der Einzige spricht von einem »Kleeblatt« (StA 2.1, 163, V. 76; MA 1, 469, V. 76) – kann den Widerstand gegen den Vergleich jedoch nicht aufheben: »Es hindert aber eine Schaam/ Mich dir zu vergleichen/ Die weltlichen Männer./ Und freilich weiß/ Ich der dich zeugte, dein Vater ist/ Derselbe« (Der Einzige, 3. Fassung, MA 1, 468, V. 62–66). Die Artikulation des Unterschieds zwischen Christus und
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den anderen, »weltlichen« Gottheiten, welche sowohl die Differenzen als auch die Gleichursprünglichkeit – gemeint ist deren genealogischer Bezug zu »Demselben« – respektiert und Christus als den »Einzigen« profiliert, gelingt H. erst in (einer späten Lesart) der dritten Fassung: Christus aber bescheidet sich selbst. Wie Fürsten ist Herkules. Gemeingeist Bacchus. Christus aber ist Das Ende. Wohl ist der noch andrer Natur; erfüllet aber Was noch an Gegenwart Den Himmlischen gefehlet an den andern. (StA 2.2, 752–53, V. 18–22; MA 1, 469, V. 92–96)
Die Sonderstellung Christi, die durch das adversative »aber« und die das antike Bruderpaar einklammernde Wiederholung markiert wird, basiert auf dessen Selbstverzicht (»bescheidet sich selbst«). Wurde auf die Kenosis schon in den vorangehenden Zeilen hingewiesen, indem Christus als »Bettler« bezeichnet wurde, so wird hier auf deren letzte Konsequenz angespielt, um die »andere Natur« Christi zu erklären. Dass Christus »das Ende« sei, mag sich zwar auf seine eschatologische Rolle als »Letzter« beziehen – auf das was seine Wiederkunft, den Mangel der anderen ergänzend, am Ende »erfüllet« –, aber meint doch an erster Stelle die Annahme der eigenen Sterblichkeit – den »dunkler umschattete, mitten im Wort, [...] Furchtbarentscheidend ein tödlich Verhängniß« (Friedensfeier, MA 1, 363, V. 50–51) – im Tod. »So ist schnell/ Vergänglich alles Himmlische; aber umsonst nicht« (Friedensfeier, MA 1, 363, V. 51–52). Das Opfer der radikalen Selbstverleugnung, für das Christus steht, gilt gerade auch für das Göttliche. Dadurch gewinnt es Anteil an der Bedingung und Bestimmung der Endlichkeit seiner selbst bewussten Daseins. Deshalb heißt es, dass »vor Gott die Gestalt/ Des Verläugnenden, wie wenn/ Ein Jahrhundert sich biegt, nachdenklich, in der Freude der Wahrheit/ Noch zulezt die Freunde« (Patmos, Bruchstücke der späteren Fassung, StA 2.1, 182, v 177–180; MA 1, 462, V. 79–82) sahen. Weil Christus bewusst das Schicksal aller Kreatur geteilt und sich in ihm die Menschwerdung des Göttlichen auf einzigartige erfüllt hat, wirkt er weiter: »Denn noch lebt Christus.« (Patmos, StA 2.1, 171, V. 205; MA 1, 452, V. 205) Der gestorbene Christus, der zum Inbegriff der Zeitlichkeit aller Kreatur wird, nicht der auferstandene, dessen Wiederkunft die Zeit aufheben würde, liegt also H.s Christologie zugrunde (s. auch Kreuzer 2002, Philosophische Hintergründe
der Christus-Hymne der Einzige). »Aber sein Licht war/ Tod« lautet die kühne Zusammenfassung in einer späten Fassung von Patmos (StA 2.1, 182, V. 174– 175; MA 1, 462, V. 76–77). Die melancholische Trauer der Jünger, die nicht »lassen wollten [...]/ Vom Angesichte des Herrn«, so dass »ihnen/ Zur Seite gieng, wie eine Seuche, der Schatte des Lieben«, entwickelt sich, nachdem ihnen das Pfingstwunder zuteil wurde (»Drum sandt er ihnen/ Den Geist«: Patmos, StA 2.1, 168, V. 100–101; MA 1, 449, V. 100–101), zum ›historischen‹ Modell einer abgeklärteren Trauer, welche die personalistische, an der leibhaften Erscheinung und dem »Angesicht des Theuersten« gebundene Beziehung zum »Sohne des Höchsten« (Patmos, MA 1, 449, V. 77) hinter sich zu lassen versucht. Die Rede von Schatten und Seuche, welche die geisterhafte Atmosphäre einer Umbruchsoder Übergangszeit evoziert, deutet freilich auf einen Widerstand innerhalb des Prozesses der Trauerarbeit, der die Distanz zur hegelschen Interpretation der Christus-Figur markiert und den dialektischen Umschlag von Abwesenheit in Anwesenheit, von ausgelöschter Sinnlichkeit in transzendenten Sinn verhindert. Die Aufhebung dieser Gestalt in der Wahrheit des Geistes will in H.s Gesängen nicht ohne weiteres gelingen. In den späten Fassungen von Patmos, die kaum noch über die Beschreibung der melancholischen Stimmung nach dem Tod Christi hinausgelangen, wird das »Angesicht«, von dem die Jünger nicht »lassen wollten«, zum obsessiven Leitmotiv, das sich immer mehr versinnlicht: »Aber jene nicht/ Von Thränen und Schläfen des Herrn wollten/ Lassen« (MA 1, 466, V. 89–91). Dieser Trauer versucht H. immerhin eine andere Beziehung zum Göttlichen abzugewinnen, die nicht mehr auf Anwesenheit und Re-Präsentation, sondern auf einer radikal-hermeneutischen Beziehung zu einer durch die symbolische Ordnung der Sprache konstituierten Welt basierte: »[...] mit Gewalt/ Des Tages oder/ Mit Stimmen erscheinet Gott als/ Natur von außen./ Mittelbar/ In heiligen Schriften. Himmlische sind/ Und Menschen auf Erden beieinander die ganze Zeit.« (Der Einzige, 3. Fassung, StA 2.1, 163, V. 80–85; MA 3, 286, V. 80–85) Vermittelt wird die Gestalt der Transzendenz im geschichtlichen Alltag nicht mehr durch einen halbgöttlichen, heroischen Vermittler, sondern durch die Objektivation des Bewusstseins (des ›Geistes‹) in der und vermittels der Schrift, die, sei es in den »Linien und Winkeln« der Natur (Griechenland, 3. Fassung, StA 2.1, 258, V. 33; MA 1, 479, V. 33), sei es als Schrift im emphatischen Sinne, in den heiligen Texten also, die zurück-
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gezogene Präsenz Gottes bewahrt und unserem Lesen überantwortet. Wenn, mehr noch als die anderen Gesänge, die Christushymnen von einer komplexen Rhetorik der Ankündigung oder des Versprechens sowie der Erinnerung und des Gedenkens, des Be- und Umschreibens und des (Ver)Schweigens beherrscht werden und die damit einhergehende Anwendung von Tropen und Figuren (vor allem solche der Weglassung und der Wiederholung, wie etwa die Aposiopese oder die figura etymologica) in ihnen noch potenziert wird, so entspricht diese Tendenz auch einer ›inhaltlichen‹ Wende zu einer ursprünglichen Schriftlichkeit, um »Gott rein und mit Unterscheidung/ [zu] bewahren« (... der Vatikan ... StA 2.1, 252, V. 12–13; Homburger Folioheft, 89, V. 2–13). Auf die Aufgabe der Übertragung in dem Akt des Lesens spielt auch die Schlussstrophe von Patmos an: »der Vater aber liebt,/ Der über allen waltet,/ Am meisten, daß gepfleget werde/ Der veste Buchstab, und bestehendes gut/ Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.« (StA 2.1, 172, V. 222– 226; MA 1, 453, V. 222–226) In den »Spur[en] eines Wortes« (StA 2.1, 163, 73–74; MA 1, 469, V. 73–74) – des göttlichen Logos – überwintert jener verborgene, kreatürliche Zusammenhang von Transzendenz und Immanenz, von Himmlischem und Irdischem, von Göttlichem und Menschlichem, dessen Andenken und Versprechen die Gesänge artikulieren. Friedensfeier Wird in den Gesängen Der Einzige und Patmos die Figur Christi ausdrücklich zitiert, so wird in Friedensfeier nur verschlüsselt auf sie angespielt. Die Problematik der Personifikation und Identifikation wird hier weniger thematisiert als vielmehr von der Rhetorik des Textes inszeniert. Wie schon oben dargelegt wurde, entstand Friedensfeier aus der Spannung – vielleicht sogar aus einer Kluft – zwischen einem historisch datierten Ereignis (dem Frieden von Lunéville) und der von den überschwänglichen Hoffnungen H.s ausgelösten poetischen Evokation eines »Festtags«, an dem – wie auch am »Brautfest« der Rhein-Hymne – Menschen und Götter, »die Lebenden all« (StA 2.1, 147, V. 181; MA 1, 347, V. 181), sich zusammenfinden und feiern, »jetzt,/ Da Herrschaft nirgend ist zu sehn bei Geistern und Menschen« (MA 1, 362, V. 27–28). Diese, die »Friedensfeier« selber strukturierende Spannung, wird in der 10. Strophe auf eine Weise thematisiert, die das Bewusstsein der historischen Realität sowie das in ihr enthaltene Versprechen und die dadurch ausgelöste Hoffnung am deutlichsten ausspricht: »Leichtathmen-
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de Lüfte/ Verkünden euch schon,/ Euch kündet das rauchende Thal/ Und der Boden, der vom Wetter noch dröhnet,/ Doch Hoffnung röthet die Wangen,/ Und vor der Thüre des Haußes/ Sizt Mutter und Kind,/ Und schauet den Frieden/ Und wenige scheinen zu sterben/ Es hält ein Ahnen die Seele,/ Vom goldnen Lichte gesendet,/ Hält ein Versprechen die Ältesten auf.« (MA 1, 365, V. 118–129) Wie in der Feiertagshymne, an deren allegorische Verschränkung von Natur- und Geschichtsprozessen dieser Gesang in mancher Hinsicht erinnert – am deutlichsten in der Motivik und Metaphorik des verhallenden Donners und des »tausendjährige[n] Wetter[s]« –, verdichtet sich die spannungsvolle Konvergenz von historischer, poetisch beschworener und sowohl erinnerter als auch utopisch versprochener Friedensfeier in dem Begriff der Ahnung. Tatsächlich wird in der letzten Strophentriade das im Hauptteil des Gesangs beschworene Ereignis als Versprechen in die Zukunft verlegt (vgl. Szondi 1978, 316–17). Aber auch die 9. Strophe, in der die poetische Beschwörung der Parousie gipfelt, geht aus in eine Vertagung des Festes: »Bis ihr Verheißenen all,/ All ihr Unsterblichen, uns/ Von eurem Himmel zu sagen/ Da seid in unserem Hause.« (MA 1, 365, V. 114–117) Obwohl jede der vier Triaden oder »Parthien« mehr oder weniger von dieser rhetorischen Grundstruktur des Versprechens, des gerade bevorstehenden, aber noch nicht in seiner Fülle stattgefundenen Ereignisses geprägt ist, unterscheiden sie sich doch in dem Grad der poetischen Beschwörung des epiphanischen Augenblicks. Die erste und die dritte Triade bilden den Kern dieser Beschwörung göttlicher Parousie, während die zweite und vierte eher im Zeichen der Erwartung und – was die vierte angeht – sogar der Zurückhaltung stehen. Wichtig ist die schon erwähnte Differenz, die Christus nach H. von seinen »Brüdern« unterscheidet, eine Differenz, die gewissermaßen durch die Christusfigur selber hindurchgeht. Denn nicht der einmal dagewesene und gestorbene Christus steht im Mittelpunkt des Gesangs, sondern auf den, dessen Wiederkunft »nicht unverkündet« ist, spielt alles an. Kein Wunder also, dass das Göttliche, dessen Parousie erwartet wird, niemals eindeutig benannt, sondern mittels einer Reihe von erhabenen, die Göttlichkeit des oder der Genannten umschreibenden Antonomasien evoziert wird, die sowohl der griechischen Mythologie entstammen (»Der stille Gott der Zeit« mag eine synkretistische Verschränkung von Jupiter und Saturn sein) als der biblischen, vor allem christlichen Genealogie entsprechen. Das gilt am meisten für
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die zweite Triade, deren Anfangsstrophe konkrete, biblische Erinnerungen an den Kontext von Christus’ Leben, Wirken und Sterben enthält (»unter syrischer Palme«, »am Brunnen«, »das Kornefeld«, »die lieben Freunde«, »ein tödlich Verhängnis«, usw., MA 1, 362– 63, V. 40–51). Damit wird der Nerv einer Diskussion getroffen, die vor allem über die 1954 wiedergefundene Reinschrift von Friedensfeier entstanden war, sich aber auch auf die anderen hier zu erörternden Gesänge bezieht. Der sogenannte Streit um die Friedensfeier wurde auf die Frage zugespitzt, wer mit dem in Friedensfeier als »Fürst des Festes« apostrophierten Gast gemeint sein könnte. Durch die Ankündigung dieser mit göttlichen Attributen versehenen Gestalt wird die Feier erst recht ins Utopische entrückt. »Ihn selbst« glaubt das lyrische Ich schon ganz am Anfang des Gesangs in der Dämmerung der »Abendstunde« zu sehen, als »sich liebende Gäste« aus der Ferne zur Feier eintreffen: »Und dämmernden Auges denk’ ich schon,/ Vom ernsten Tagwerk lächelnd,/ Ihn selbst zu sehen, den Fürsten des Fests./ Doch wenn du schon dein Ausland gern verläugnest,/ Und als vom langen Heldenzuge müd,/ Dein Auge senkst, vergessen, leichtbeschattet,/ Und Freundesgestalt annimmst, du Allbekannter, doch/ Beugt fast die Knie das Hohe. Nichts vor dir,/ Nur Eines weiß ich, Sterbliches bist du nicht./ Ein Weiser mag mir manches erhellen; wo aber/ Ein Gott noch auch erscheint,/ Da ist doch andere Klarheit.« (MA 1, 362, V. 13–24) Die heroischen, mythischen und christlich-religiösen Konturen des »Fürsten«, der noch einmal in der neunten Strophe, der letzten der zentralen dritten Triade, beschworen wird, haben eine Reihe von Interpretationen ausgelöst, die sich im Wesentlichen auf die Wahl zwischen einer politisch-historisch identifizierbaren Person wie Napoleon oder aber einer theologisch oder mythologisch bestimmbaren Gottheit, wie Herakles, Dionysos oder Christus (um nur die wichtigsten zu nennen) zurückführen lassen. Andere plädierten für eine abstrakte allegorische Deutung und sahen im Fürst des Festes eben die Verkörperung des Friedens oder den Gott der Zeit. Ohne diesen Streit als nicht-relevant übergehen zu wollen, gilt es doch daran festzuhalten, dass solche Entschlüsselungen, indem sie die vielen Antonomasien und intertextuellen Verweise aus dem textuellen Kontext rücken und hypostasieren, H.s komplexen und dynamischen Begriff des Göttlichen sowie dessen Beziehung zur poetologischen und geschichtsphilosophischen Konzeption des Gesangs (und der Gesänge überhaupt) verkennen: »erst zusammengenommen sind sie [die Bezeichnungen für das
Göttliche] der Name für den Gott, der in der Hymne erscheint, erst in der inneren Dynamik ihrer Gesamtheit spiegelt sich die Bewegung des Gedichts selber.« (Szondi 1978, 332) Die in ihren wechselnden Figurationen apostrophierte Gottheit entzieht sich direkter Nennbarkeit im Text und bewahrt, durch die Artikulationen des Textes, ihre Alterität. Dem widerspricht auf keinen Fall die Mutmaßung, dass H. bei der alle anderen Namen einschließenden Bezeichnung »Fürsten des Festes« an den »Friedefürst« gedacht hat, der in Jesaja 9, 5 als Messias verheißen wird; auch er bekommt viele Namen: »und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, EwigVater, Friede-Fürst«. Aber nur als fließende Gestalt, als metonymische Kette ohne feste Identität entspricht die im Gesang evozierte Gottheit dem Prinzip des geschichtlichen Wandels und des historischen Signifikationsprozesses, das H. seiner Poetologie zugrunde gelegt hatte und das auch die programmatische Rhetorik des »anderen Tons« inhaltlich legitimiert. Die Vorstufen setzten freilich noch mit der Bestätigung der Ankunft dieses Fürsten ein, der dort noch nicht unter diesem Namen, sondern als »Versöhnender«, »Unsterblicher« und – als direkte Anspielung auf den historischen Anlass des Gesangs – als »seeliger Frieden« in Erscheinung tritt: »Versöhnender der du nimmergeglaubt/ Nun da bist,« (MA 1, 356, V. 1–2). Hier, in der Reinschrift, ist das emphatisch ponierte Da-Sein oder Eingetroffen-Sein der ambivalenten Inszenierung einer traumhaften, wörtlich wie figürlich zwielichtigen und schattenhaften Erscheinung gewichen; auch das lyrische Ich ist nicht länger das selbstsicher ›erkennende‹ der Vorstufen (»aber wohl/ erkenn ich das Hohe/ das mir die Knie beugt«; MA 1, 356, V. 3–5), sondern ein verträumtes und zweifelndes Subjekt, das der »Freundesgestalt« des »Allbekannten« zum Trotz »doch« vor dessen erhabenen Hoheit zu Nichts wird, allenfalls um dessen vermeintliche – göttliche – Unsterblichkeit weiß. Die »andere Klarheit« der Epiphanie lässt die Dialektik von Blindheit und Einsicht der endlichen, menschlichen Erkenntnis hinter sich und deutet auf eine Manifestation des Anderen, der zwar nicht auf die menschliche Gestalt und deren Teilnahme am geschichtlichen Alltag verzichten kann, aber innerhalb dieses historischen Raums die Grenzen des Sicht-und Hörbaren, des Bekannten und Erkennbaren, kurz: die Bedingungen und Umrisse der Vorstellung im Sinne einer Repräsentation durch das Subjekt entstellt. Dass er gerne sein »Ausland« verleugnet, sich aber – wie die dritte Triade erläutert und ergänzt – nie erschöpft in seinen Erscheinungen (denn »weit aus reichte sein Feld«), themati-
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siert die Spannung zwischen dem unvorstellbaren und unermesslichen Seinsbereich des Göttlichen, das – wie eine späte Variante von Brod und Wein lautet – »Kolonien liebt«, d. h. das umfassende Außen seiner Transzendenz für den menschlich-historischen Wirkungsraum verleugnet, und eben dem beschränkten Zeitraum der Geschichte, auf den es angewiesen ist. Als (Er) Selbst kann der »Fürst des Festes« – »der Fürst«: d. h. (nach H.s etymologischer Deutung) der Erste, der aber auch als der (heilsgeschichtlich) Letzte eintreffen soll – nur in der kulturgeschichtlichen Dekonstruktion der vielen Erscheinungen und (positiven) Bestimmungen artikuliert oder angedeutet werden: Als Inbegriff einer Differenz, die das Zu-sichSelbst-Kommen grundsätzlich verweigert oder es allenfalls als Wunschbild evozieren und – zugleich – in Zweifel ziehen kann. Eben das geschieht in der ersten Anrufung des Fürsten in der zweiten Strophe. Aber schon im ersten Versentwurf wurde die anfängliche Setzung der Präsenz des »Versöhnenden« rhetorisch zurückgenommen und zum Objekt einer wiederholten Aufforderung gemacht, der die Erinnerung an den Opfertod folgt: »Sei gegenwärtig Jüngling, jezt erst, denn noch ehe du ausgeredet/ Rief es herab, und schnell verhüllt war jenes Freudige, das/ Du reichtest, und weitumschattend breitete sich über dir/ Und furchtbar ein Verhängnis, [...]« (StA 2.1, 131, V. 39–42; MA 1, 357). Die zweite Aufforderung nimmt die Apostrophe der Anfangszeile wieder auf und steigert die herbeigeforderte und hinausgeschobene Parousie des »Versöhnenden« durch eine figura etymologica, die auch die Qualität der Versöhnung ins Unvorstellbare und Utopische entrückt: »Darum, o Göttlicher! sei gegenwärtig,/ Und schöner, wie sonst, o sei/ Versöhnender nun versöhnt daß wir des Abends/ Mit den Freunden dich nennen, und singen [...]« (StA 2.1, 131, V. 56– 59; MA 1, 357, V. 63–66). Die Zurücknahme bzw. der Aufschub der Parousie wird in der endgültigen Fassung noch vertieft und kompliziert. Anstelle der Aufforderung zur Präsenz tritt der zögernde, nur halb geäußerte Wunsch »Und manchen möcht’ ich laden, aber o du,/ Der freundlichernst den Menschen zugethan,/ Dort unter syrischer Palme,/ Wo nahe lag die Stadt, am Brunnen gerne war« (MA 1, 362, V. 40–44). Diese syntaktisch abgebrochene, zurückgehaltene Einladung entspricht der gleichfalls ambivalenten zweiten Beschwörung des Fürsten. Die fragliche Anrede wird noch einmal wiederholt in der dritten Triade, wo die feierliche Abendstunde der ersten Triade zum »Abend der Zeit« allegorisiert wird und die Darstellung und Deutung der Feier ihren Höhepunkt er-
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lebt: »denn darum rief ich/ Zum Gastmal, das bereitet ist,/ Dich, Unvergeßlicher, dich, zum Abend der Zeit,/ O Jüngling, dich zum Fürsten des Festes; und eher legt/ Sich schlafen unser Geschlecht nicht,/ Bis ihr Verheißenen all,/ All ihr Unsterblichen, uns/ Von eurem Himmel zu sagen/ Da seid in unserem Hauße.« (MA 1, 364, V. 109–117) Nicht nur, dass erst hier die – strenggenommen – »nie ausgesprochene Einladung im Rückblick, imperfektisch, ins Wort gebracht wird« (Szondi 1978, 327), verfremdet die Erscheinung des Fürsten, sondern auch die durch das Zeugma bewirkte Mehrdeutigkeit des Rufens. Zunächst vertagt das Rufen die Präsenz des angeblich Gesehenen der zweiten Strophe (»ihn selbst zu sehen«), dann verschiebt oder verzweigt sich auch die Bedeutung des Rufens. Unentschieden bleibt, ob der »Jüngling« (Christus) zum Fürsten des Festes gerufen oder berufen wird. Die letztere Lektüre fasst das Rufen als einen performativen Akt der Investitur auf. Erst durch die Berufung wird »er selbst«, der »Jüngling«, der als »Unvergeßlicher« das in ihm verkörperte Zukünftige auch mit der Vergangenheit verknüpft und somit die für das Spätwerk wesentliche Verbindung von Erinnerung und Hoffnung herstellt, zum »Fürsten des Festes« ernannt. Die Zweideutigkeit macht aber Sinn, wenn man sie auf die Hypothese bezieht, die in Christus sowohl die historisch ›unvergessliche‹ Erscheinung als auch deren messianisch verwandelte, ›nicht unverkündete‹, aber noch nicht eingetroffene andere Gestalt sieht, in deren Silhouette der historische Christus sich auflösen soll. Die drei Strophen der dritten Triade beschwören erst recht jene Zäsur in der Zeit, jenen Augenblick historischer Epiphanie, an dem – wie es in Der Rhein hieß – »eine Weile ist ausgeglichen das Schicksaal« (StA 2.1, 147, V. 183–184; MA 1, 347, V. 182–3) und »nur der Liebe Gesetz,/ Das schönausgleichende gilt von hier an bis zum Himmel.« (MA 1, 364, V. 89–90) Der »vom ernsten Tagwerk lächelnd[e]« Fürst der zweiten Strophe erscheint in der siebten wieder als »Herr« bzw. »Der stille Gott der Zeit«, der, nachdem er das historische Schiksal der Sterblichen geteilt hat und »vollendet sein Bild und fertig ist der Meister,/ [...] selbst verklärt davon aus seiner Werkstatt tritt« (MA 1, 364, V. 87–88). Auch dieses in Aussicht gestellte und dann imaginär dargestellte Hervortreten oder Erscheinen des Meisters ist jedoch ein vermitteltes; denn das vollendete »Bild« des Meisters, von dem er selber erst verklärt wird, wird zum Zeitbild, das nicht mehr in dem Sinn als »Zeichen« aufzufassen ist, dass es für anderes steht. Das Zeichen, »das der große Geist ent-
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faltet«, lässt sich nicht ohne weiteres mit der hegelschen Geiststruktur identifizieren, die die eigene phänomenologische Entfaltung letztlich denn doch wieder aufhebt und die (Selbst-)Bezeichnung ins Begriffliche zurückführt. In der Friedensfeier gipfelt das epiphanische Moment in einem Zeichen, das als Zeichen eines Bündnisses der Liebe mehr anzeigt als einen von der Bedingung der Endlichkeit gereinigten Gegenstand reflexionslogischer Erkenntnis. Die Feier gilt vielmehr »zuletzt« der notwendigen Bestätigung und somit der eigentlichen Form der Epiphanie dieser alles durchziehenden Liebesbeziehung: »Zuletzt ist aber doch, ihr heiligen Mächte, für euch/ Das Liebeszeichen, das Zeugniß,/ Daß ihrs noch seiet, der Festtag,// Der Allversammelnde, wo Himmlische nicht/ Im Wunder offenbar, noch ungesehn im Wetter« (MA 1, 364, V. 100–104). Was hier gefeiert wird oder gefeiert werden soll – Wo aber bei Gesang gastfreundlich untereinander/ In Chören gegenwärtig, eine heilige Zahl/ Die Seeligen in jeglicher Weise/ Beisammen sind, und ihr Geliebtestes auch,/ An dem sie hängen, nicht fehlt.« (MA 1, 364, V. 105–109) –, ist ein alles mit allem verbindendes, immer wieder reziprok dem Anderen gegenüber und vom Anderen zu bejahendes Liebesgeständnis, das – wenigstens für die heiligen Mächte, aber eigentlich für alle Teilnehmer – Identität stiftet, d. h. Zeugnis ablegt davon, »daß ihrs noch seiet«. Das Liebesbündnis wird zum ursprünglichen und konstitutiven Modus der Subjektivität, der individuellen, aber auch und vor allem der kollektiven Subjektivität des »Wir«, das Menschen und Götter vereint. Dieses »Wir« wird aber selber wieder konstituiert durch das Sprachgeschehen, das – wie die früheren Gesänge schon ausdrücklich thematisierten – »von Morgen an« das Sein des Menschen als eine von der Sprache, genauer noch: dem sprachlichen Austausch gestiftete und geformte Existenz bestimmt: Viel hat von Morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang. (MA 1, 364, V. 91–93)
Der qualitative Sprung vom Gespräch zum Gesang macht ersichtlich, dass mit ihm die Sprachgemeinschaft des Verstehens, von der das kollektive Subjekt ›gesetzt‹ und mit dem es gleichgesetzt wird (»seit ein Gespräch wir sind«/ »bald sind wir aber Gesang«) als der eigentliche, apriorische Grund der pfingstlichen Sprachutopie zu betrachten ist. Die Signatur dieses Sprachgeschehens zeigt sich nicht zuletzt in dem
schon in der siebten Strophe eingeführten Ideal einer absoluten, »Alles« einschließenden, reziproken Erfahrung liebender Gemeinschaft, die nur in der Sprache verwirklicht werden und sich erhalten kann: »Schiksaalgesez ist diß, daß Alle sich erfahren,/ Daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei.« (MA 1, 364, V. 83–84) Spätestens hier wird klar, dass die Utopie des Vaterländischen, die sich in der poetischen Feier der Dichtung ereignen bzw. von ihr vorbereitet werden soll, nicht auf ein ›Objekt‹ oder einen ›Inhalt‹ der Gesänge reduziert werden darf. Das Objekt ist das Subjekt der Gesänge, das sich in der Differenz eines realen individuellen und eines in seiner Antizipation erinnerten kollektiven Sprechens zu artikulieren sucht: bald sind wir aber Gesang. Dass hier jedoch, im Kern des Vorhabens ›vaterländischer Gesänge‹, auch dessen Crux sichtbar wird, beweist die Handschrift: Dort fehlt – versehentlich? – das Subjekt (»bald sind aber Gesang«), das nun in der Form des Verschreibens noch versprochen bleibt (Nägele 1985, 219). Das Motiv der Stille (»wenn die Stille kehrt«) markierte schon vom Anfang an die Stimmung der Erwartung, die sich nur zögernd zur Artikulation drängt und im vorsignifikativen Vorraum der »Töne« zu verharren scheint gleich der Stimmung des Orchesters zu Beginn einer Aufführung: »Der himmlischen, still wiederklingenden,/ Der ruhigwandelnden Töne voll,/ Und gelüftet ist der altgebaute,/ Seeliggewohnte Saal« (MA 1, 361, V. 1–4). Die Augenblicke, in denen diese Stille »kehrt«, damit »eine Sprache sei«, appellieren an das Pfingstwunder, das die Einheit des Verstehens mit der Vielheit der Sprachformen versöhnt. Schon in dem frühen Prosa-Entwurf wurde auf diese pfingstliche Sprachgabe und die auf sie folgende Verkündigung der Jünger hingewiesen: »Darum haben/ die denen du es gegeben, die Sprache alle geredet, [...]/ Seelig warst du damals aber seeliger/ jezt, wenn wir des Abends mit den Freunden/ dich nennen und singen von den Hohen« (StA 2.2, 699, V. 11–12; MA 1, 355, V. 11–12). Aber dass die Stille »kehrt« und zur pfingstlichen Sprache wird bzw. werden soll, schließt die Problematik des richtigen »Maases« (vgl. Der Einzige) nicht aus, sondern gerade ein. Denn das »(Sich-)Kehren« der Stille in Sprache kann nicht verhindern, dass jedes Sprechen – auch das heiligste, dessen Residuum das hymnische ist – sich grundsätzlich in einem Spiel von rhetorischen Verkehrungen und Subsitutionen, Figuren und Tropen (›Wendungen‹) zu verwirklichen hat. Das pfingstliche Sprachwunder kann sich mithin leicht ins ›babylonische‹ Gegenteil verkehren, wenn der Sprecher sich in diesem Spiel der Zeichen ver-
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fängt: »Oft aber wie ein Brand/ Entstehet Sprachverwirrung« (... der Vatikan ..., StA 2.1, 253, V. 35–36; MA 1, 433, V. 34–35). Das Versprechen des Gesangs, die Friedensfeier, geht – als Versprechen – notwendigerweise mit einem scharfen Bewusstsein der Gefahr einer übereilten und verfrühten Vereinnahmung der Epiphanie einher. Wie das biblische Bilderverbot hält die rhetorische Struktur des Gesangs die hymnische Repräsentation des Gottes zurück. Der Gesang nimmt sich in die Stille der Natur zurück, als deren ›Kehre‹ er sich begreift (vgl. V. 84): »Denn es haßt dich [Natur], was/ Du, vor der Zeit/ Allkräftige, zum Lichte gezogen./ Nun kennest, nun läßest du diß/ Denn gerne fühllos ruht,/ Bis das es reift, furchtsamgeschäfftiges drunten.« (MA 1, 366, V. 151–156) Patmos Anders als die anderen Christushymnen greift Patmos – mit fünfzehn Strophen in der vollständigen ersten Fassung das längste dieser Gesänge – fast exklusiv auf die biblische Leidensgeschichte Christi zurück. Der Gesang steht somit, mehr noch als die anderen, im Zeichen der Trennung und der Trauer – jener Trauer freilich, in der H., wie in den sophokleischen Tragödien, »das Freudigste« ausgesprochen sah: »Viele versuchen umsonst das Freudigste freudig zu sagen/ Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.« (StA 1.1, 305; FHA 6, 179; MA 1, 271) So auch wird, fast in der Mitte des Gesangs, der dem Kreuzestod geweihte Christus der »Freudigste« genannt. Beherrscht wird Patmos aber nicht zuletzt vom Gebot der Verhaltenheit, die sich sowohl von der melancholischen Verneinung des Todes und der krankhaften Bindung an der Erscheinungsweise des nunmehr verschwundenen »Lieben« wie auch von der absoluten Verzweiflung an dem Sinn des Lebens und der Geschichte, die aus der Erfahrung der Gottverlassenheit und des angeblich gelösten Liebesbündnisses entstehen kann (»[...] und selber sein Angesicht/ Der Höchste Wendet [...]«; StA 2.1, 169, V. 147–48; MA 1, 451, V. 147–48), distanziert. Die Darstellung der ›historischen‹ Erfahrung der Jünger Christi, ihrer Ratlosigkeit angesichts des Todes ihres Meisters, bildet den thematischen Kern des Gesangs. H. bezieht diese Thematik auf die moderne Erfahrung des Sinnverlustes »in dürftiger Zeit« und übersetzt diese heilsgeschichtliche Thematik – vor allem in der vierten und fünften Triade – in geschichtsphilosophische, hermeneutische und ästhetische Fragestellungen.
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Schon in der ersten Strophe wird das poetische und hermeneutische Vermögen beschworen, die abgebrochene Verbindung der – auch buchstäblich – auseinanderliegenden und durch die »Abgründe« und »Gipfel« der Alpen getrennten orientalisch-griechischen und abendländischen Kulturlandschaften wiederaufzunehmen und den scheinbar erloschenen Sinnzusammenhang, der in der schwer fassbaren Nähe Gottes verborgen ist, wiederherzustellen: »Nah ist/ Und schwer zu fassen der Gott./ Wo aber Gefähr ist, wächst/ Das Rettende auch./ Im Finstern wohnen/ Die Adler und furchtlos gehn/ Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg/ Auf leichtgebaueten Brüken./ Drum, da gehäuft sind rings/ Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten/ Nah wohnen, ermattend auf/ Getrenntesten Bergen,/ So gieb unschuldig Wasser,/ O Fittige gieb uns, treuesten Sinns/ Hinüberzugehn und wiederzukehren.« (StA 2.1, 165, V. 1–15; MA 1, 447, V. 1–15) Wie etwa in Der Rhein und Germanien wird auch in Patmos der Text durch das Motiv der imaginären Reise in Bewegung gesetzt. »Entführt« wird das Ich und zwar – wie so oft in den Gesängen – zum Osten: »Doch bald [...] blühte/ Mit tausend Gipfeln duftend,/ Mir Asia auf« (StA 2.1, 166, V. 25–31). Die manchmal episch-narrative, zugleich auch surreal wirkende Beschreibung der Strophen zwei bis sechs führt das Ich von der Heimat weg zu den kleinasiatischen Küsten und Inseln, um schließlich den Blick auf Patmos zu lenken: »Und da ich hörte/ Der nahegelegene eine/ Sei Patmos, verlangte mich sehr, Dort einzukehren und dort Der dunkeln Grotte zu nahn.« (StA 2.1, 166, V. 51–55; MA 1, 448, V., 51–55). Patmos ist die Insel, auf der Johannes, der ›gottgeliebte Seher‹, »der in seeliger Jugend war// Gegangen mit/ Dem Sohne des Höchsten« (StA 2.1, 167, V. 74–77; MA 1, 449, V. 74– 77), sich zurückgezogen hatte, um die Apokalypse zu schreiben. Die überwiegend visuelle Darstellung der kleinasiatischen Landschaft weicht einer ausgesprochen auditiven Beschwörung der sonst öden, »ärmeren« Insel, die auf den dichterisch visionären Charakter der Offenbarung hinweist: »Und wenn [...] Ihr nahet einer/ Der Fremden, hört sie es gern, und ihre Kinder/ Die Stimmen des heißen Hains,/ Und wo der Sand fällt, und sich spaltet/ Des Feldes Fläche, die Laute/ Sie hören ihn und liebend tönt« usw. (V. 64–72; Herv. B. P.). Die Johannes-Figur bildet den Übergang zum zentralen Teil des Gesangs. Die sechste Strophe, die das letzte Abendmahl evoziert, greift auf die nächste über, deren Anfangszeile das Grundthema anklingen lässt:
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Da beim Geheimnisse des Weinstoks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals, Und in der großen Seele, ruhigahnend den Tod Aussprach der Herr und die letzte Liebe [...] Und es sahen ihn, wie er siegend blikte Den Freudigsten die Freunde noch zuletzt, Doch trauerten sie [...] (StA 2.1, 167, 81–91; MA 1, 449, V. 81–91, Herv. B. P.)
Dass die Jünger »doch trauerten«, bildet das Hauptthema der dritten Triade. Nicht einmal das Pfingstereignis, das schon in der siebten Strophe beschworen wird und auch die achte Strophe beherrscht (»Izt, da er scheidend/ Noch einmal ihnen erschien«; StA 2.1, 168, V. 106–107; MA 1, 450, 106–107), kann den Abgrund der Melancholie und der Verzweiflung überbrücken. Die Zuversicht, dass »wiederkommen sollt es/ Zu rechter Zeit« (V. 112–13), die auch die im Verborgenen weiterwirkende Präsenz Gottes zur »Freude« machen würde (»und Freude war es/ Von nun an, Zu wohnen in liebender Nacht, und bewahren/ In einfältigen Augen, unverwandt/ Abgründe der Weisheit«, StA 2.1, 168, V. 115–119; MA 1, 450, V. 115–119), verhindert nicht, dass die Erfahrung des Verlustes, markiert vom adversativen »Doch«, noch einmal durchbricht. Das Motiv der Diaspora, das sich auf die Zerstreuung und Trennung der Jünger bezieht, wird schon am Anfang der neunten Strophe als Grunderfahrung einer globalen Fragmentarisierung und Vereinzelung dargestellt: »Doch furchtbar ist, wie da und dort/ Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott.« (V. 121–122) Die vierte Triade, fasst die verschiedenen Momente dieser umwerfenden Erfahrung der Gottverlassenheit und des Sinnverlustes noch einmal zusammen und schließt bündig mit der Frage: »Was ist diß«, die zum eigentlichen allegorischen, auslegenden Teil des Gesangs überleitet: »Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt/ Mit der Schaufel den Waizen,/ Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne./ Ihm fällt die Schaale vor den Füßen, aber/ Ans Ende kommet das Korn,/ Und nicht ein Übel ists, wenn einiges/ Verloren gehet und von der Rede/ Verhallet der lebendige Laut,/ Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern./ Nicht alles will der Höchste zumal.« (StA 2.1, 169–170, V. 152–162; MA 1, 451, V. 152–162) Das Gleichnis, das auf die verzweifelte Frage antwortet, besteht aus der Verschränkung von zwei bekannten biblischen Gleichnissen, dem Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–9; Mt 13,1–9; Lk 8,4–8) und dem schon auf das Alte Testament zurückgehenden Gleich-
nis des Worflers und der Trennung des Weizens von der Spreu (auf Christus bezogen Mt 3,12; Lk 3,17; s. dazu Warminski 1987, 80 f.). Beide Gleichnisse artikulieren das heilsgeschichtliche Motiv der Auserwählung, deren Ergebnis erst am Ende der Zeiten sichtbar werden soll. Die Verspätung gehört zum Wesen der eschatologischen Planung: »Nicht alles will der Höchste zumal«. Christus selber deutet das Gleichnis vom Sämann aber auch als ein Gleichnis vom Verstehen oder Nicht-Verstehen und somit als ein Gleichnis von der Funktion des Gleichnisses selber: gesät wird das Wort Gottes als dasjenige, was durch Deutung verstanden werden will. Damit wird nicht die heilsgeschichtliche Frage als solche (wer wird auserwählt bzw. gerettet; und was wird am Ende im Klaren liegen), sondern deren hermeneutischer Aspekt zum zentralen Thema der folgenden Zeilen. Die Metapher von Weizen und Spreu, Korn und Schale, die sich auf den Menschen bezieht, wird auf die Sprache selber übertragen. Der »lebendige Laut«, der manchmal von der »Rede« verloren geht, appelliert an die verschwiegene Opposition von Buchstabe und Sinn; dass Letzterer nicht sofort aufleuchtet oder ertönt, so dass vorläufig nur der Buchstabe vorhanden ist, gilt nicht als »Übel«, sondern als eine der heilsgeschichtlichen Logik entsprechende Notwendigkeit, die ›unser Werk‹ überraschenderweise in die Nähe Gottes rückt. Was genau mit »unserem [Werk]« und mit »uns« im Besondern gemeint sein könnte, wird zur Bestimmung des Gesangs. Vergleichbar mit dem Werk Gottes ist das Werk des Gesangs insofern, als er, statt die Erfahrung des Sinnverlustes aufzuheben (d. h. die Frage »was ist diß?« zu beantworten), in Gleichnissen, mittels Tropen und Figuren »die Sphäre, die höher ist, als die des Menschen, diese ist der Gott« (FHA-Suppl. II [Stuttg. Foliobuch], 63), deutbar werden lässt. Ähnlich hatte Christus selber beim letzten Abendmahl den Jüngern zugesprochen – die poetische Sprechinstanz berichtet entsprechend zurückhaltend über diese letzen Stunden: »denn nie genug/ Hatt’ er, von Güte zu sagen,/ Der Worte, damals, und zu schwaigen, da/ ers sahe, das Zürnen der Welt./ Den alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre liebes/ Zu sagen.« (StA 2.1, 175, V. 84–89; MA 1, 456, V. 84–89) Ist der Dichter deshalb (auch) der Sämann und der Worfler, d. h. ein Verwandter Christi bzw. Gottes? Die spätere Überarbeitung des Gleichnisses deckt noch einen anderen ›Sinn‹ auf: »Es ist der Wurf das eines Sinns« (StA 2, 1, 177, V. 152; MA 1, 458, V. 152). Wurde in der früheren Fassung der Unterschied zwischen der Ebene des Gleichnisses und der Ebene von dessen
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(aufgeschobenem bzw. verborgenem) Sinn noch aufrechterhalten, so wird dieser hier ins Gleiten gebracht. Das Subjekt, das über diesen Wurf (und somit auch über Sinn und Nicht-Sinn) zu entscheiden hätte, fehlt, oder es müsste der Sinn selber sein, der (sich) wirft und entwirft: der genaue Status des Genitivs bleibt unentschieden. Entscheidend wird, dass dieser ›Sinn‹ nicht mehr das Produkt eines außersprachlichen Subjekts ist, sondern das Geschehen der Sprache selber. In ihr artikuliert sich zugleich auf eine dem Subjekt unverfügbare Weise Zeit: eben dadurch wird die Rede des Gedichts sinnvoll (s. Kap. 19). Die unmittelbar folgenden Verse leiten zu einer ästhetischen Fragestellung über, die auf der gleichen Subjektkritik basiert und wieder an die ursprüngliche Thematik der Trauer anknüpft: »Zwar Eisen träget der Schacht,/ Und glühende Harze der Ätna,/ So hätt’ ich Reichtum,/ Ein Bild zu bilden, und ähnlich/ Zu schauen, wie er gewesen, den Christ,// Wenn aber einer spornte sich selbst,/ Und traurig redend, unterwegs, da ich wehrlos wäre/ Mich überfiele, daß ich staunt’ und von dem Gotte/ Das Bild nachahmen möcht’ ein Knecht –/ Im Zorne sichtbar sah’ ich einmal/ Des Himmels Herrn, nicht, daß ich seyn sollt etwas, sondern/ Zu lernen.« (StA 2.1, 170, V. 162–173; MA 1, 451–52, V. 162–173) Die notwendige Mittelbarkeit des überlieferten, gleichnishaften Sprechens, dessen weiterer Vermittlung der Dichter sich widmen soll, wird zunächst einem Verlangen nach einem unmittelbar aus der Natur schöpfenden poetischen Schaffensdrang entgegenge setzt. Die figura etymologica »Ein Bild zu bilden« entlarvt aber die angebliche Genialität als einen Nachahmungstrieb, der das göttliche ›Modell‹, nach dessen Bild der Mensch doch geformt sei, nur nach dem eigenen anthropomorphen Bild zu gestalten vermag (das Bild der Ätna ruft nicht zufällig Empedokles in Erinnerung, s. Kap. 22). Der Verweis auf die Trauer der Em mausjünger (Lk 24,17) knüpft erneut an das Motiv des Angesichts an, von dem sie »nicht lassen wollten«, so dass schließlich die Liebe zur »Seuche« wurde. Aber die eigentliche Kritik betrifft nicht nur die Verwegenheit, das Bilderverbot zu übergehen oder die Melancholie, die sich nicht von der Erscheinung trennen kann. Kritisiert wird – wie in den anderen Christushymnen – vor allem das Verlangen nach einer festen, hypostasierten Identität des Göttlichen, nach einem Gottesbild (und einem entsprechenden Menschenbild) also, das die immanente Dynamik des Seins verneinte. Letztlich gilt diese Kritik einer selbstgenügsamen und vermeintlich autarken Subjektivität, die et-
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was »seyn« will und sich aufgrund dieser imaginären Identität, die sich von einem ebenso imaginären, »falschen« Gottesbild legitimiert glaubt, göttliche Privilegien anmaßt, die zur Gewalt und (Selbst-)Vernichtung führen: »und es gilt/ Dann Menschliches unter Menschen nicht mehr« (V. 174/75). Paulus, auf dessen Bekehrung auf dem Weg nach Damaskus angespielt wird, gilt als Beispiel eines Ich, das, anstatt nur »seyn« zu wollen und durch diese Selbstsetzung andere zu vernichten, dem Gebot des »Lernens« gefolgt hat. Aber auch diese Heroik muss jetzt, zu einer Zeit, da »Zu lang, zu lang schon ist/ Die Ehre der Himmlischen unsichtbar« (V. 212–13), einer bescheideneren Aufgabe weichen: »der Vater aber liebt, Der über allen waltet,/ Am meisten, daß gepfleget werde/ Der veste Buchstab, und bestehendes gut/ Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang« (V. 222–226). Anders als Friedensfeier mündet Patmos nicht in die Stille der Natur, sondern in die Zeichenwerke der Schrift. Das Gesetz, dem der Gesang zu folgen hätte, ist kein anderes als das Schicksal jedes Lese- und Schreibaktes: er ist zerrissen zwischen dem Gesetz der Schrift, die als solche respektiert sein will, auf die Gefahr hin, deren tötender, geistloser Positivität zu verfallen, und einem Deutungsdrang, der die Notwendigkeit der Objektivation, den Buchstaben, und damit auch die in ihm verkörperte Alterität und Geschichtlichkeit zu vernichten droht. So bleibt die Lektüre notwendigerweise dem Wurf eines Sinns überliefert. Nicht alles will der Höchste zumal.
32.8 Andenken Andenken ist um 1804 entstanden und erschien noch zu H.s Lebzeiten in Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1808. Die Bordelaiser Landschaft, die H. durch den kurzen Aufenthalt als Hauslehrer im Jahre 1802 in Erinnerung hatte, fungiert als Folie einer poetischen Reflexion über Trennung und Abschied. Am Anfang des Gedichtes schickt die lyrische Sprechinstanz, die selber in der heimatlichen Gegenwart zurückbleibt, den südwestwärts wehenden Nordost (»der liebste unter den Winden/ Mir, weil er feurigen Geist verheißet den Schiffern.« V. 1–4) als vermittelnde Instanz in die erinnerte Ferne fort (»geh aber nun und grüße/ Die schöne Garonne/ Und die Gärten von Bourdeaux«; V. 5–7). In den ersten zwei Strophen wird die französische Landschaft aus dieser Erinnerung und Entfernung heraufgerufen und als Ort eines jahreszeitlichen Ausgleichs von Gegensätzen gefeiert:
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»An Feiertagen gehn/ Die braunen Frauen daselbst/ Auf seidnen Boden,/ Zur Märzenszeit,/ Wenn gleich ist Nacht und Tag« (V. 17–21). Das Motiv der Seefahrt (»Schiffern«) verbindet das erste Strophenpaar mit dem letzten; aber dort wird der Zusammenfluss der Garonne und der Dordogne »an der luftigen Spitz« – dem sogenannten Bec d’Ambès, wo die Flüsse die ›meerbreit ausgehende‹ Gironde bilden – zum Abschiedsort: das Motiv der Verlassenheit und der Trennung bricht unvermittelter hervor (»Wo aber sind die Freunde? Bellarmin/ Mit dem Gefährten?« V. 38–39). Bellarmin war der deutsche Adressat des griechischen Hyperion im gleichnamigen Briefroman. Dessen zentrales Thema ist vielleicht die Geburt des Dichters aus der poetischen und reflexiven Durcharbeitung persönlicher wie geschichtlicher und politischer Enttäuschungen, die aber noch im Rahmen der Vereinigungsphilosophie gedeutet werden: »Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder« (StA 3, 160; MA 1, 760). Zusammen mit den beiden Gesprächspartnern scheint nun jedoch die metaphysische Zuversicht verschwunden zu sein und die Grunderfahrung der Trennung vorzuherrschen. »Nun aber sind zu Indiern/ Die Männer gegangen« (V. 49–50). Das erst in der letzten Strophe genannte Reiseziel verweist offensichtlich auf den Explorator und Kolonisator Kolomb, der zum Osten ausfuhr und das abendländische Neuland entdeckte und dessen Entdeckungsreise somit die von H. entwickelte Dialektik des Eigenen und des Fremden emblematisiert (vgl. auch den späten Entwurf Kolomb). Die »Scheue« zur »Quelle« – die an die in Die Wanderung und Der Rhein thematisierte ambivalente Beziehung zum Ursprung oder zum heimatlichen Eigenen erinnert – treibt sie in die unbehauste Ferne, winterliche Leere und Einsamkeit des Meeres, das durch die wiederholte Negation (»wo nicht die Nacht durchglänzen/ Die Feiertage der Stadt,/ Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht«, V. 46–48) zum präzisen Gegenbild des in den Anfangsstrophen beschworenen Zustandes kosmischer Harmonie und epiphanischer Erwartung wird. In der mittleren dritten Strophe, die wie eine Achse die zwei Anfangs- und Schlussstrophen trennt und verbindet, reflektiert die einsam zurückgebliebene Sprechinstanz auf den Akt des Andenkens selber, dessen Ursprung mit dem dionysischen Weinmotiv verknüpft wird: »Es reiche aber,/ Des dunkeln Lichtes voll/ Mir einer den duftenden Becher«. Der »seellosen« Melancholie, die sich nach der Ruhe oder dem »Schlummer« des Schattenreiches sehnt, wird das Ge-
spräch entgegengesetzt, in dem »Tage der Lieb’« und »Thaten« erinnert werden. Die Warnung, nicht »seellos von sterblichen Gedanken zu seyn« (V. 31–32) bezieht sich nicht nur auf die Gedanken an Sterbliches, sondern auch und gerade auf das menschliche Denken und seine zu akzeptierende Endlichkeit. Diese Hinnahme entspricht der am Ende von Der Rhein ausgesprochenen Zuversicht, auch der sterbliche Mensch könne »bis in den Tod [...] Im Gedächtnis doch das Beste behalten«. Wie die Insistenz der Initialen S und G in dieser Strophe suggeriert, dürfen die Sterblichen Gedanken aber auch das singuläre Trauma der (am 22. Juni 1802) gestorbenen Geliebten Susette Gontard (s. Kap. 4) markieren. Die eindeutige Erschließung dieses buchstäblich schriftlichen, enkryptierten Andenkens bleibt freilich genau so problematisch wie die Vermutung, mit Bellarmin sei auch der ›heroische‹ Freund Sinclair gemeint – oder die Zeile »Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum« sei ein intertextuelles, u. a. Augustinus und Petrarca zitierendes literarisches Erinnerungsmal, das – den Prätexten entsprechend – auf eine Bekehrung hinweise (Haverkamp 1991, 85– 86). Das ›eigentliche‹ Objekt dieser Erinnerung bzw. Bekehrung bleibt im Palimpsest der Zitate – auch der eigenen – unverfügbar. Es bleibt als eine nicht mehr unmittelbar vergegenwärtigbare Spur des Verlustes und des Verzichtes zurück. In Mnemosyne ist »am Feigenbaum mein Achilles mir gestorben«, in H.s Übersetzung (s. Kap. 27) der Bakchen des Euripides steht er an »der Mutter [Semeles] Grabmal« (Böschenstein 1989, 79, 187; Haverkamp 1991, 77–92). Die Bekehrung, der H. hier ein Zeichen setzt, geht – wie in vielen anderen Gesängen – mit einer Kritik der Hermeneutik einher. Indem der Text das deutende Subjekt auf seine Grenzen zurückwirft, wird dem sterblichen Objekt des Andenkens »in seinem Eigenen« entsprochen. Diese hermeneutische Problematik entspricht der Tendenz des Spätwerks zum absoluten Zeichen (»ein Zeichen braucht es,/ Nichts anderes« heißt es in dem zur gleichen Zeit entworfenen Ister). In Andenken wird sie am Ende des Gesangs noch einmal eigens thematisiert: »Was bleibet aber, stiften die Dichter«. Diese oft kommentierte Schlussgnome, die von der Rezeption ›nach‹ Heidegger (s. Kap. 39; und bis Henrich 1986) als poetologische Selbstthematisierung einer ursprünglichen und unmittelbaren Seinsaussage verstanden wurde (»Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins«; Heidegger 1971, 1981, 41), variiert offensichtlich den Topos, wonach Kunst den »Tathen« der Helden erst durch ihre ruhmvolle Darstellung, die ihrer gedenkt, ein bleibendes Nachleben schenkt oder »stif-
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tet«. Dieses Stiften unterscheidet sich »aber« sowohl von dem blinden Geben und Nehmen der »See«, die als Ort der Entfernung das grundsätzlich Unbeständige und Unbestimmte der Geschichte bezeichnet, als auch vom »Gedächtniß« wie den »fleißig« gehefteten Augen, mit denen »die Lieb’« die Geliebten in einem die Zeit suspendierenden oder sogar verneinenden Augenblick illusorischer Ewigkeit entrücken zu können meint. Was dagegen wirklich »bleibet«, ist das Andenken, das die Dichter im Wissen um die Endlichkeit gerade auch des Erinnerns ›stiften‹, indem sie – um nur einen Aspekt der komplexen Semantik dieses ›Stiftens‹ zu nennen – mit dem Stift des Schreibens ein Erinnerungsmal errichten, das der unverfügbaren Wirklichkeit der Toten eine Stätte schenkt. Dass der feste Buchstabe trotz seines Widerstands gegen eine eindeutige Entzifferung zu pflegen und zu deuten sei, war schon die Schlusspointe von Patmos; das dort entwickelte Modell unmelancholischer Trauer wird nun der poetischen Durcharbeitung sterblicher Verlusterfahrungen insgesamt zugrunde gelegt.
32.9 Mnemosyne Obwohl die Ansichten über die unterschiedlichen Entwürfe und Fassungen dieses Gesangs bis heute auseinandergehen, stellen die sogenannte zweite (»Ein Zeichen sind wir, deutungslos«; V. 1) und dritte Fassung (»Reif sind, in feuer getaucht, gekochet/ Die Frücht und auf der Erde geprüfet«; V. 1–2) der StA immer noch die bekanntesten und am meisten kommentierten Textkonstitutionen dar. Alle Fassungen weisen einen triadischen Aufbau auf mit jeweils drei siebzehnzeiligen Strophen (nur die erste Strophe der ersten Fassung ist achtzehnzeilig) – vielleicht eine Anspielung auf die Odyssee: dort trauern die Musen siebzehn Tage und Nächte um den toten Achill (Kurz 2000, 597). Die ihm bzw. seinem Tod gewidmeten Zeilen – »Am Feigenbaum ist mein/ Achilles mir gestorben« (V. 35–36) –, die nach Beißner den (genetischen) »Keim des Gedichtes« (StA 2.2, 828) bilden sollen, eröffnen in allen Fassungen die dritte Strophe, die von der düsteren Beschwörung sterbender griechischer Helden im Trojanischen Krieg beherrscht wird. Deren exzessive Sehnsucht ins Ungebundene – der Zorn des Achilles etwa – wird in den vorangehenden Strophen auf geschichtsphilosophische Umbruchs- und Verwandlungsprozesse (und den damit einhergehenden Dissoziationserfahrungen) bezogen, die in den allegorischen Landschaften der mittleren Strophe – der »ho-
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hen Straß’« der Alpen – mit dem geschichts- und kulturphilosophischen Übergang zwischen Antike und Moderne verknüpft werden. In der Anfangsstrophe der ersten und zweiten Fassung wird die Erfahrung des Umbruchs noch als göttlich inszenierter und kontrollierter »Streit« gedeutet (»Wenn nemlich über Menschen/ Ein Streit ist an dem Himmel [...] Zweifellos ist aber Einer./ Der/ Kann täglich es ändern. Kaum bedarf er/ Gesez.«; 2. Fassung, V. 4–5, 8–11). In der dritten Fassung wird es nur noch als kosmisches Naturereignis evoziert, dessen »Gesetz« in den Bereich des Visionären bzw. Imaginären verwiesen wird. Zurückführen lässt es sich auf das Prinzip der ewigen Verwandlung (der ›Häutung‹): »und ein Gesez ist/ Daß alles hineingeht, Schlangen gleich,/ Prophetisch, träumend auf/ Den Hügeln des Himmels« (3. Fassung, V. 2–5). Dieser kosmischen und geschichtsphilosophischen Auflösungs-, Untergangs- und Umbruchstendenz, die das ganze Gedicht durchzieht, wird sofort die andere Grundtendenz der Gesänge – die dringende Notwendigkeit, die Bruchstücke der aus den Fugen geratenen Welt zusammenzulesen und zu »behalten« – entgegengesetzt: »Und vieles/ Wie auf den Schultern eine Last von Scheitern ist/ Zu behalten« (V. 5–8). In den früheren Fassungen wird diese »Treue« des Behaltens noch auf das H.sche Theorem der wechselweisen Abhängigkeit von Göttern und Menschen bezogen (»Denn nicht vermögen/ Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen/ Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich das Echo/ Mit diesen«, V. 12–15). Zugleich jedoch wird den »Sterblichen«, die »eher« die absolute Negation jeden Sinnzusammenhangs – den »Abgrund« – erfahren können, die Entscheidung über das Ergebnis dieser Beziehung, die die stumme Präsenz des Göttlichen, soll die ›Stille kehren‹, in der irdischen Wirklichkeit als »Echo« wiedergeben müsste, entzogen: »Lang ist/ Die Zeit, es ereignet sich aber/ Das Wahre.« (2. Fassung, V. 15–17) Ist die epiphanische Perspektive früherer Gesänge (vgl. z. B. Friedensfeier) hier abwesend, so artikuliert sich doch ein – allerdings unverfügbares, nicht mehr teleologisch, geschweige denn eschatologisch festschreibbares – »Wahres« (nicht eine positiv bestimmbare Wahrheit) in der Zeit als Form und Bedingung geschichtlicher Erfahrung. Freilich hat sich die Präsenz dieses ›Wahren‹, das in Germanien noch »erscheinen soll« oder (als Zeichen zwar) in Friedensfeier »vor uns liegt«, hier ins Ereignishafte zurückgezogen, das den sinnerfüllten Kairos allein noch als etymologische Spur bewahrt (›ereignen‹ kommt von »sich er-
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äugnen«: vor Augen stehen, sich offenbaren; vgl. Bö schenstein 1989, 192). Damit spitzt H. das schon bekannte Motiv der grundsätzlichen Sprachlichkeit und Zeichenhaftigkeit des sich ereignenden »Wahren«, es thetisch zusammenfassend, zu. Gleichrangig ist die Behauptung am Anfang der zweiten Fassung, dass wir selber – als ›Subjekt‹ oder Instanz der poetischen Erinnerung – zu einem »fast« verstummten Zeichen, »deutungslos« und »schmerzlos«, geworden seien. Damit könnte die moderne Schicksallosigkeit gemeint sein – das δυσμοϱον, von dem H. in den Anmerkungen zur Antigonä spricht (s. Kap. 25) – bzw. die Diagnose der Selbstentfremdung als gleich negativer Alternative zu schrankenlos-selbstzerstörerischer Sehnsucht (Böschenstein, Schmidt u. a.). Oder H. thematisiert mit der apodiktischen Selbstdefinition des modernen Menschen eine Position abgeklärter Passivität, deren radikale Verweigerung – jedem prophetischen Vorausblick bzw. melancholischen Rückblick, jeder einfühlenden Identifikation mit ›heroischen‹ oder sonstigen Vermittlern, jeder Übersetzung in reflexive Eindeutigkeit gegenüber – die einzig gerechtfertigte Haltung angesichts der teleologischen Unfassbarkeit des sich ereignenden Wahren und der darin enthaltenen, nicht aufzuhebenden Verluste und Enttäuschungen wäre. Damit verbände H. in Mnemosyne von Anfang an eine dezidiert geschichtsphilosophische Thematik mit der – für die Gesänge grundlegenden – poetologisch-hermeneutischen Frage, was Dichtung (und unter welchen Bedingungen) noch leisten oder nicht mehr leisten kann und wem der Dichter, paradox gesagt, durch »reine Passivität« (Adorno) die Wirklichkeit zu geben vermöge. In der dritten Fassung ist die gnomische Schlusszeile der ersten Strophe über die Zeit und das in ihr sich ereignende Wahre durch ein abermals Rousseaus »Fünften Spaziergang« (s. Kap. 11) entliehenes Bild ersetzt: »Vorwärts aber und rückwärts wollen wir nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie/ Auf schwankem Kahne der See.« (V. 15–18) H.s Rückgriff auf Rousseaus ›Fünften Spaziergang‹, auf den er schon in Der Rhein (s. o.) angespielt hatte, um das Scheitern der prophetischen Vermittlung und den ›selbstvergessenen‹ Rückzug in das postkatastrophische Idyll am Bielersee zu evozieren, wird von Adorno folgendermaßen kommentiert: »Vorwärts nicht: unter dem Gesetz des Gegenwärtigen, bei H. dem der Dichtung, mit einem Tabu gegen die abstrakte Utopie, in dem das theologische Bilderverbot nachlebt und das H. teilt mit Hegel und Marx. Rückwärts nicht: um der Unwiederbringlichkeit des einmal Gestürzten willen, des Angelpunktes zwi-
schen Dichtung, Geschichte und Ideal. Der als Anakoluth und in wunderlicher Verkehrung ausgedrückte Entschluss endlich »Uns wiegen lassen, wie/ Auf schwankem Kahne der See« ist wie ein Vorsatz, der Synthesis sich zu entschlagen, der reinen Passivität sich anzuvertrauen, um Gegenwart ganz zu erfüllen.« (Adorno 1981, 483) Die dritte Strophe verschärft die Problematik der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit dieses – wie eines jeden – Gesangs. Der symbolische Tod des Helden par excellence, Achilles, wird noch überboten von dem mutmaßlichen Tod der Mnemosyne, der Mutter der Musen (vgl. Hesiod, Theogonie, V. 51 ff.) wie der Dichtung überhaupt – einem von H. ›fingierten‹ Ereignis, das die epische Beziehung zwischen den heroisch-mythischen »Thaten« und deren poetischem ›Andenken‹, das erst ›ein Bleiben stiftet‹, auf radikale Weise problematisiert. Die Infragestellung der Bedingung der Möglichkeit poetischen Gedenkens wird durch den unerhörten Tod der Mnemosyne zwar besiegelt, zugleich artikuliert sich durch die Verhinderung der rühmenden (und ›hymnisch‹ rettenden) Erinnerung ein anderes Modell des Gedenkens, das auf dieser gescheiterten Trauerarbeit basiert. Dieses Zeit als Bedingung des Endlichen erinnernde Gedenken erschöpft sich nicht mehr in einer sich einfühlenden, zum absoluten Selbstverlust führenden Identifikation mit dem verstorbenen Helden. Schon in der zweiten Strophe wird die Gefahr einer solchen ›zornigen‹ Identifikation mit heroischer – antiker und christlicher – Opferbereitschaft in dem komplexen Bild des »Wandersmann[s]« beschworen, der »vom Kreuze redend, das/ Gesetzt ist unterwegs einmal/ Gestorbenen, auf hoher Straß/ [...] geht zornig,/ Fern ahnend mit/ Dem andern« (V. 29–34). Die Verweise auf Ajax, dessen heroischer Zorn in Wahnsinn umschlägt, und Patroklos, der »in des Königes Harnisch starb«, weil er seiner Rolle als Stellvertreter des Helden (Achilles) nicht gewachsen war, setzen die implizite Kritik der heroischen Identifikation mit dem »andern« fort, die das Grundproblem des hymnischen Programms von Anfang an bestimmte und hier noch einmal thematisiert wird in dem Gegensatz zwischen der verwundeten Seele (»gut sind nemlich/ Hat gegenredend die Seele/ Ein Himmlisches verwundet, die Tageszeichen.«; V. 22–24) und dem, der sich »schonend die Seele zusammen[nehmen]« (V. 49–50) muss (s. Kap. 20). Auch hier, wie in dem oben zitierten Schluss der ersten Strophe, greift H. auf Rousseaus »Fünften Spaziergang« zurück (»rassembler tout son être, sans avoir beson de rappeler le passé ni d’enjam-
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ber sur l’avenir«; de Man 1965, 45; Böschenstein 1968, 91). Dem – Rousseau – gleich fehlet die Trauer. Sie, die Trauer, geht fehl, wie jener, der sich die Seele nicht zusammengenommen hat und deshalb sterben muss; sie geht fehl, weil sie – als Trauerarbeit im strikten Sinne – fehlt, d. h. nicht vorhanden ist. Die Polysemie der Zeile lässt schließlich auch noch jene Lektüre zu, nach der die Trauer so oder so »fehlet«, erst recht wenn sie – im freudschen Sinne – ihre Arbeit erledigt und das Objekt, auf das sie verzichtet, beisetzt und verinnerlicht. »Aber er muß doch«. Von diesem verzweifelten Müssen ist nicht zuletzt die von H. selber (als Übersetzer etwa) versuchte Aneignung griechischer Literatur betroffen, deren Scheitern sich in den verborgenen Selbstzitaten als ein »Sich-Zusammennehmen« des eigenen ehemaligen Programms niederschlägt. »Die allegorische Kohärenz des Gedichtes besteht in nichts mehr als in der metonymischen Ansammlung seiner Teile, die nicht den Mythos mehr repräsentiert, sondern seinen Verlust im Prozeß vergeblicher Aneignung darstellt.« (Haverkamp 1991, 62) Erinnerung ist nicht Überwindung, sondern Bewusstsein der Endlichkeit. Darin gründet die (Notwendigkeit der) Sprache des Gesangs, »Daß lieber auf Erden/ Die Schönheit wohnt und irgend ein Geist/ Gemeinschaftlicher sich zu Menschen gesellet.« (Griechenland, 3. Fassung, V. 43–45, StA 2.1., 258) Literatur
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Bart Philipsen
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33 Homburger Folioheft Das sogenannte Homburger Folioheft (HF, auch Hs. 307: Eintragszahl im Katalog der H.-Handschriften) ist eines von zwei großen Manuskriptkonvoluten aus H.s späterer und später Reifezeit. Das andere, das Stuttgarter Foliobuch, übertrifft jenes an physischer Länge, nicht aber an intrinsischer Wichtigkeit, noch an Einheit des Inhalts. An Wichtigkeit für H.s spätere und späte dichterische Entwicklung steht das HF an erster Stelle. Das Manuskriptkonvolut HF besteht aus 23 Doppelblättern in Großfolioformat (ca. 24 × 39 cm; die Angabe »ca. 48 × 39 cm« [FHA Suppl.-III, 25] ist irrtümlich), von fremder Hand von Seite 1 bis 92 paginiert. Von diesen Doppelblättern sind 22 (1–88) ineinandergelegt, während das letzte Doppelblatt (89– 92) nach hinten gefaltet ist und selbständig steht. Dem war nicht immer so; D. E. Sattler (FHA III, 9 f., 21; HJb 25, 213–225) identifiziert zwei frühere physische Zustände des HF, das ursprünglich (wohl von der Mutter oder der Schwester H.s) geheftet war. Das Wasserzeichen des feingerippten Papiers scheint dafür zu zeugen, dass dieses Papier in Stuttgart oder in Nürtingen oder Umgebung zur Jahrhundertwende ohne weiteres erhältlich war (FHA III, 25). Das Manuskriptkonvolut als solches bietet seine eigenen textuellen sowie entwicklungsgeschichtlichen Probleme. Offensichtlich als poetologische Einheit geplant und angelegt (wohl spät im Jahre 1802, hiervon unten mehr), verliert es seinen Anspruch auf Einheit im ursprünglichen Sinne schon nach dem ersten Viertel des Gesamtumfanges. Vorn enthält das HF mehrere wichtige hymnische Dichtungen der Reifezeit. Es fängt mit Reinschriften der Elegien Heimkunft, Brod und Wein und Stutgard an, gefolgt von Reinschriften der pindarischen Gesänge (s. Kap. 32) Der Einzige (erste bekannte Gestalt) und Patmos (zweite Niederschrift), worauf ein Entwurf des späten hymnischen Fragments Die Titanen (s. Kap. 34) folgt. Das HF schließt mit dem hymnischen Fragment 〈Auf falbem Laube ...〉 sowie mit Entwürfen zu H.s letzter Hymne Mnemosyne. Dazwischen kommen Germanien, eine weitere pindarische Hymne in Reinschrift, weitere fragmentarische Niederschriften offensichtlich geplanter Gesänge, isolierte Bruchstücke (StA 2.1, 315– 341, von Sattler Glossen genannt [FHA III, 21 ff.]), leere Seiten (33–35, 42, 52, 54, 56, 80, 85, 86; s. FHA III, 21 ff.), sowie Seiten mit dicht übereinander geschriebenen und höchst schwer zu entziffernden Ansätzen zu hymnischen Texten. Wie Dieter Burdorf überzeu-
gend darstellt, ist unter den schwierigsten und inhaltlich sibyllinischsten Stellen die komplizierte Niederschrift auf HF, 73–76 zu finden, wo der Zustand der Leserlichkeit wohl nur mit dem auf HF, 17 (Ansätze zu drei Stadien von Der Einzige) zu vergleichen ist. Beschrieben wurde das HF schon mehrere Male ganz ausführlich, so von Friedrich Beißner (StA 2.2, 380 f.) und darauf basierend in HK (93 f.) sowie in FHA III (21 ff.). Über fremde Hände im HF, siehe HK (94), FHA III (11). Teilweise ist dieser »kollaborative« Zustand auch in Umschriften von Manuskriptseiten zu erblicken, wie in FHA III (27, 31, 41), vgl. Umschrift, Emery E. George 1999 (28 f., Anfang der Reinschrift zu Der Einzige).
33.1 Entstehung Gegen Norbert von Hellingrath, der die Anlegung des HF vom Herbst 1801 datiert (Hel. 4, 272), vermutet Sattler (FHA III, 14 f.) mit Recht, dass H. mit der Planung der Hs. und der Arbeit daran vor Spätherbst 1802, also vor der Heimkehr aus Regensburg, kaum begonnen haben kann. (Wichtig ist zu bemerken, dass Beißner nicht, wie ihm dies Sattler unterschiebt, Hellingraths Irrtum unterliegt; s. Sattler, FHA III, 14; HJb 25, 215; dagegen George 1999, 184 f. und Kap. VII, Anm. 51 [ebd., 399]). Für das späte Datum der Entstehung gibt es mehrere Indizien. Erstens ist der ruhige, ausgewogene und schöne Duktus, der beim Beginn des HF vorwaltet, nicht zu übersehen. Die ersten dort niedergeschriebenen Gedichte, die Elegien Heimkunft, Brod und Wein und Stutgard sind alle Reinschriften, was auch für die darauf folgenden beiden pindarischen Gesänge, Der Einzige und Patmos, gilt. Am überzeugendsten wirkt hier der starke Kontrast zwischen dieser ersten Niederschrift und späteren Schichten der Bearbeitung, mit denen sowohl die drei genannten Elegien wie auch die beiden Gesangsentwürfe übersät sind. Diese späteren Überarbeitungsschichten rühren wohl von der zweiten Homburger Periode (1804/06) oder sogar von noch späterer Zeit her. Zweitens – und ebenso überzeugend für eine Datierung vom Herbst 1802 sprechend – wirken inhaltliche Indizien für H.s Aufenthalt in Frankreich. Dies sehen wir zunächst in Der Einzige, ganz genau an der ersten Überarbeitung der Anfangsstrophe, auf 307/15 (mit feiner Feder, blasser Tinte), an den Zeile 6 hinzugefügten Wörtern »in flammender Luft«, die H. ohne das Frankreich-Erlebnis (s. Kap. 6) vermutlich nicht hätte schreiben können (s. George 1999, 185). Im Entwurf 〈Vom Abgrund nem-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_33
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lich ...〉 steht der Name »Frankreich« (s. 307/75, 20), an anderen Stellen sind sogar noch stärkere Bezüge auf das Frankreich-Erlebnis sichtbar (so z. B. 307/75, 49 »Citronengeruch [...] aus der Provence«). Auf 307/73, 36 »Sonntags, unter Tänzen« kommen die Bilder denen von Andenken (Strophe 4) nahe; vgl. auch die kontrastierende Paarung der Namen »Frankreich/ [...]/ Frankfurt« (307/ 75, 20, 23; Burdorfs Zeilenzahl: 19– 20; hierzu Burdorf, 384). Bei der Entstehung des HF sind, laut Sattler (HJb 25, 213–225 und FHA III 14–19), drei Phasen zu unterscheiden: Erste Phase (Nürtingen, Spätherbst 1802 bis Juni 1804). Hier wird das Manuskript mit den eröffnenden Reinschriften angelegt. Zu diesen Reinschriften gehören die Elegien Heimkunft (heutige Lage des HF, 1–4), Brod und Wein (5–10), Stutgard (11–15), die Gesänge Der Einzige (15–19) und Patmos (19–28) sowie das monumentale hymnische Fragment Die Titanen (28– 32). Diese ersten fünf Gedichte sind alle mit der gleichsam ausgewogenen Hand geschrieben, die vermutlich die Ruhe und sichere Meisterschaft der Wochen unmittelbar nach der Rückkehr aus Regensburg (s. Kap. II) widerspiegeln. Der Einzige wird von einem jetzt verschollenen ersten Entwurf ins Reine geschrieben, den der Dichter entweder im Laufe von 1801 oder später, fast unmittelbar nach der Heimkehr aus Frankreich skizziert haben muss. Dies gilt auch für den früheren Entwurf von Patmos, der erhalten ist. Gegen Beißner, der ihn in das Jahr 1801 setzen will, lässt sich nahelegen, dass dieser Entwurf zu Patmos, also Beißners H1 (StA 2.2, 764, 17–20 [Beschreibung], ebd., 774, 19 bis 778, 11 [Lesarten]), auch noch aus den schon in Nürtingen verbrachten Sommertagen 1802, allerdings noch vor Regensburg, datierbar ist. Hierfür sprechen solche Bilder wie Z. 125 »über die Berge« und Z. 152 f. »der Wurf/ wenn er faßt mit der Schaufel den Waizen«. Jenes ist wohl eine Anspielung auf H.s Erlebnis der Auvergne im Winter 1801/02, dieses eine Widerspiegelung landwirtschaftlicher Arbeit, die der Dichter bei seiner Heimkehr im Süden Frankreichs ohne Zweifel beobachtet hat (s. H.s zweiten Brief an Böhlendorff, StA 6.1, 432 f.; dies zu StA 2.2, 792, 27–32). Zweite Phase (Homburg, Juni 1804 bis September 1806). Hierzu gehören die Reinschrift von Germanien sowie der monumentale Entwurf 〈An die Madonna〉, neben einer erheblichen Anzahl von weiteren hymnischen Entwürfen, Fragmenten und Glossen, von 〈Einst hab ich die Muse gefragt...〉 (307/45–46) bis zum Entwurf 〈Auf falbem Laube ...〉 (307/90) und dem Titel Cäcilia (ebd.). Beißner setzt jenen Text offensichtlich
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früher an, was daran abzulesen ist, dass der Druck der Entwürfe (s. Kap. 34), wie anderer Texte in der StA, nach einer vom Herausgeber erdachten chronologischen Reihenfolge abläuft. Sattler (HJb 25, 222; FHA III, 18) legt nahe, H. habe mit dem Plan für Mnemosyne, dem letzten entworfenen Text im HF, auf die Nachricht von Schillers Tod am 9. Mai 1805 hin begonnen. Für die Zugehörigkeit von Germanien (307/59–63) zu dieser zweiten Phase spricht zunächst der Duktus des Textes, der wahrnehmbar steiler ist als in den das HF eröffnenden Texten. Man vergleiche Germanien z. B. mit der mittleren Schicht der Umarbeitung von Der Einzige (307/17), beginnend mit der Zeile »Die Todeslust der Völker aufhält und zerreisset den Fallstrik« (feine Feder, blasse Tinte, auffallend steiler Duktus), die ebenso zu dieser Zeit gehören muss. Dritte Phase (Tübingen, 1806 bis um Mai oder Juni 1807). Zu dieser letzten Phase der Entstehung des HF gehören die schweren, mit dunkler Tinte und rundem Duktus vorgenommenen Überarbeitungen der Elegien, von Der Einzige und Patmos sowie die letzten hymnischen Entwürfe, besonders ein Text, wie 〈Vom Abgrund nemlich ...〉 (307/75 f.). Hier zeuge, so Sattler, das Bild vom »(Leuen)« (sic; 307/75, 10) von H.s Erlebnis der Statue des Reuchlinlöwen in der Bursagasse in Tübingen (s. Sattler, LpH, Nr. 4/5, 13 f., mit Abb. des Löwen, ebd., 12). Burdorf (349, Anm. 354) hält Sattlers Vermutung für »nicht implausibel«, doch zeuge sie von einem »Identifizierungsbedürfnis« (ebd.). Die Datierung vom Entwurf 〈... der Vatikan ...〉 scheint nicht sicher zu sein. Beißner setzt sie auf 1805 (StA 2.2, 890, 14 ff.; vgl. Dem Fürsten, ebd., 883, 6–17), Sattler auf 1807 (HJb 25, 223). Die beiden Umfaltungen der Lage des HF sind von Sattler, HJb 25, 219–225 und FHA III, 17 ff., 21, gründlich beschrieben. Über sein in Nürtingen so sorgfältig und plangemäß angelegtes Vorhaben äußert sich H. schriftlich praktisch kaum. In Briefen an Böhlendorff und Friedrich Wilmans (s. Kap. 36) verwendet er die Vokabeln »vaterländisch« und »Vaterland« (s. StA 6.1, 433 ff.) mit Bezug auf die im HF niedergeschriebenen hymnischen Dichtungen sowie auf hymnische Pläne, die außerhalb des HF liegen (z. B. Friedensfeier). Vom Briefwechsel dieser Monate und Jahre gilt auch vieles als verschollen, wie z. B. H.s Brief an Isaak von Sinclair, mit dem er diesem die Widmungsfassung von Patmos nach Homburg schickt. Briefe Sinclairs (z. B. Ba 97: StA 7.1, 174 f.) lassen erkennen, dass der Schreiber um H.s intensive dichterische Tätigkeit dieser Zeit ganz klar weiß. Sinclair dankt seinem Freund auch für die übersandte Flora-Nummer, die Die Wanderung
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bringt und die gerade in diesen Herbsttagen 1802 erschienen war (ebd., 175, 1 f.). Außer Indizien für Datierung, die im Bereich des Inhaltlichen wahrnehmbar sind, gilt es, sich der Frage der Provenienz der allerersten in der heutigen Lage des HF niedergeschriebenen Texte (Reinschriften) zuzuwenden. Wo stammen sie her? Dass H. mit gegebenen Stadien seines Werkes sogar nach einer Publikation nicht zufrieden ist, ist nichts Neues. Er unterzieht seinen Text vielmehr einer ausgiebigen Umarbeitung, er schreibt ihn erneut auf, um ihn nochmals, gegebenenfalls für einen bevorstehenden zweiten Druck, zu überarbeiten. Genau so verfährt er etwa mit der Elegie Der Wanderer; nach Schillers Eingriffen in H.s Text und nach dem Abdruck der Elegie in den Horen bereitet er sein Gedicht für den Neudruck in der Flora (s. FHA 6, 11–72) vor. Ähnliches geschieht mit den das HF eröffnenden drei Elegien. Hier benutzt H. allerdings nicht Drucke als Grundlagen, was er mit der ebenso in der Flora erschienenen Elegie Heimkunft ohne weiteres hätte tun können, sondern vielmehr frühere, gegebenenfalls leicht überarbeitete Reinschriften. Beißner weist zu Recht darauf hin, dass die Niederschrift der Elegie Heimkunft, eine meisterhafte Reinschrift (HF, 1–4), später ist als der Druck in der Flora (StA 2.2, 622, 11 f.). Auch trifft es zu, dass H. diese Reinschrift keineswegs auf der Basis der Druckfassung abschreibt (vgl. Lesarten, StA 2.2, 622 f.). Vielmehr greift er zur Hs. Stuttgart I 5 (StA 2.2, 622, 3; FHA 6, 291–319; vgl. auch die Lesarten). Ebenso schreibt H. die Elegie Stutgard aus der Londoner Hs., auch eine meisterhafte Reinschrift, wiederum ins Reine (HF, 11–15; s. StA 2.2, 584, 23–29; FHA 6, 181). Die Niederschrift des unmittelbar darauf folgenden Gesangs Der Einzige (HF, 15–19) ist ebenfalls eine ausgewogene, schöne Reinschrift. Dies zeugt auch davon, dass H. seinen wohl entweder 1801 oder später in den Spätsommer- oder Frühherbsttagen 1802 in Nürtingen niedergeschriebenen Entwurf im Spätherbst 1802 noch besaß. Von diesem früheren Entwurf zu Der Einzige haben wir nichts mehr, während wir, wie auch oben bemerkt, die entsprechende frühere Niederschrift zu Patmos glücklicherweise noch besitzen. Das wohl interessanteste Merkmal der Entstehung der das HF eröffnenden drei Elegien ist die Tatsache, dass hier die Reihenfolge dieser Werke: Heimkunft, Brod und Wein, Stutgard, die Kriterien, sowohl der Chronologie, wie auch der Vervollkommnung (s. StA 2.1, 86–99; FHA 6, 181–262, 291–319) nach, der Reihenfolge, in der die drei elegischen Werke in der früheren Hs. Stuttgart I 5 zu finden sind, umkehrt. Dies
kann kaum Zufall sein. Es besagt, dass H. mit diesen fertiggestellten Elegien (s. Kap. 30) einen bestimmten Plan hatte, nämlich eine Einheit der Konzeption, was dieses letzte Großkonvolut (HF) betrifft. Abgesehen von der offensichtlichen Ambivalenz der Durchführung bzw. Nicht-Durchführung dieses zu vermutenden Plans, der in den in Frage stehenden Jahren der Entstehung jedenfalls starken Änderungen unterworfen war, kann hier wohl von einem ausgesprochen einheitlichen hymnischen Wunsch, von einem sozusagen mittelbar mitgeteilten Werkstattgeheimnis die Rede sein. Er betrifft das Verhältnis Hymnik – Elegik. Jochen Schmidt (1968, 16–33) spricht von einem Anteil an Hymnik, auf den die Elegie Brod und Wein klaren Anspruch erhebt; dasselbe lässt sich, abgesehen von spezifischen strukturellen Einzelheiten, auf die Schmidt in seiner Studie aufmerksam macht (s. unten), auch von den anderen beiden Elegien sagen. Besonders aussagekräftig ist der Standort dieser ElegienTrias dem Rest der hier – ob in Reinschrift oder im Entwurf – realisierten Hymnik gegenüber. Und am Ende des HF, mit dem Entwurf des Gesangs Mnemosyne, der trotz Infragestellungen (s. Roland-Jensen 1999) der Gesamtkonzeption zugehört, gelangt dieser inzwischen so gut wie als aufgegeben geltende hymnische Plan im Grunde doch an sein Ziel.
33.2 Zweck H.s offensichtliches Anliegen, seine Gedichte nicht als Einzelwerke zu verfassen, sondern sie vielmehr zu gruppieren oder zumindest in gewissen Sequenzen zu planen, ist im HF klar sichtbar. So lässt der Dichter auf Der Einzige Patmos folgen, und dies wiederholte Male, vgl. Hs. 310 (HK 95). Dass diese Permutationen, sowohl in der Planung der Elegien wie auch im hymnischen Bereich, eine poetologische Funktion haben, ist auch hier abzulesen. In den Elegien wendet sich der Dichter vom Bildwerk und von der Rhetorik der persönlichen Heimkehr (Heimkunft) zu einer Form religiös-elegischer Hymnik (Brod und Wein) (s. Schmidt 1968, 153, 167 und HJb 25, 176–212) und endlich zum ausgesprochenen und feierlich erhobenen Vaterländischen (Stutgard). In der Trias (vgl. FHA III, 16) der Gesänge Der Einzige, Patmos, Die Titanen wiederholt sich der Sinn für einen höheren Plan, indem H. von den synkretistischen Vorstellungsweisen religiösen Erlebnisses (Der Einzige) über die Auseinandersetzung mit dessen Selbstdeutung in der Gestalt offenbarter Orthodoxie (Patmos) schließlich zu einem Ge-
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genstandsbereich dichterischen Sprechens gelangt, den man überreligiös und vorolympisch nennen könnte (Die Titanen). Hier erreicht H. sowohl den Bereich des Fragmentarischen wie auch der Stille, zum Teil mit jenen vielsagenden leeren Seiten (HF, 33–35, unmittelbar auf Die Titanen folgend) und anderswo im HF (s. oben). Später, im Umkreis von Germanien und des ausführlichen Entwurfs 〈An die Madonna〉 (s. Kap. 34) geraten Reinschrift und sonstige Überarbeitung in beredten poetologischen wie auch visuellen Widerstreit (wie z. B. auf HF, 73–76; s. Burdorf 1993 [hinten, nicht paginiert]). Zwischen den ausgewogenen Reinschriften am Beginn des HF und den das Konvolut abschließenden Entwürfen zur Hymne Mnemosyne kommt, nach weiteren Reinschriften (so z. B. Germanien, HF, 59–63), ein Bereich von Entwürfen, Bruchstücken, Glossen und Notizen, nicht immer auf deutsch (s. Griechisch, unter Ursprung der Loyoté, HF, 82), die die Frage nach einer intendierten Einheit des Konvoluts erneut aufwerfen. Wichtig ist, dass die Hs. über lange Jahre in H.s Händen war und daß die textuelle Evidenz auf energische Überarbeitungen aus den Jahren 1804 bis 1807 hindeutet. Wie Sattler behauptet, kann das HF sogar noch nach dem Aufenthalt im Autenriethschen Klinikum (s. Kap. 7) in des Dichters Händen gewesen sein: »Die Wegnahme aller Manuskripte« erfolgt erst 1807 (FHA III, 14, 19). Aus diesen chronologischen Gründen ist der Name Homburger Folioheft missverständlich. Das einzig bleibende Argument für ihn ist die Tatsache, dass das HF im April 1856 aus dem Besitz von dessen Erben, Fritz Breunlin, des Sohnes der schon 1850 verstorbenen Schwester H.s, in die Hände des damaligen Leiters der Homburger Stadtbibliothek, Johann Georg Hamel, übergegangen war (s. Kap. 9). Von ihm kam das HF erst in den Besitz der Homburger Stadtbibliothek, wo es sich, seit Januar 1975 allerdings als Depositum in der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart, bis zum heutigen Tage befindet (FHA III, 10–11; HJb 19/20, 581 ff.).
33.3 Analyse und Deutung Wie schon oben angedeutet, hängt die Möglichkeit der Deutung eines Konvoluts wie des HF davon ab, ob wir es als ein einheitliches literarisches Phänomen ansehen wollen oder ob wir die Hs. als eine lose Sammlung von hymnischen Dichtungen und Ansätzen betrachten, die alle einzeln Aufmerksamkeit als fertige oder zumindest ernst zu nehmende dichterische Werke
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bzw. Pläne H.s verlangen. Die Existenz des HF als Sammelort für Texte verdient insofern einen zusammenfassenden Blick, als diese Werke weitgehend bereits Gegenstände textueller bzw. kritischer Untersuchungen sind. So liegen über folgende Werke schon Monographien vor: Brod und Wein (Emil Petzold 1896, 21967; Schmidt 1968); Der Einzige (George 1999); Patmos (Charles de Roche); schließlich Mnemosyne (Schmidt 1970; Roland Reuß; Flemming Roland-Jensen 1989, 1999). Obwohl es über die hymnischen Entwürfe noch keine Monographie gibt, schreiben über gewisse Entwürfe aufschlussreich: Arthur Häny; Werner Kirchner (1949, 21969); Reinhard Zbikowski (HJb 22, 1980/81 u. in: Jamme/Pöggeler 1988); Renate Bö schenstein (HJb 19/20, 1975/77 u. in: Jamme/Pöggeler 1988); Norbert Gabriel; unter der älteren Literatur ganz hervorragend Wilhelm Böhm (1930, 439–529) – zum Ganzen auch vgl. auch Kap. 34: Entwürfe. Die oben zitierten Beiträge untersuchen die im HF zu findenden Entwürfe nicht in Bezug auf die Hs. als Einheit, sondern vorwiegend als Werke für sich. Hier finden sich starke Unterschiede bei den Annäherungsmethoden, die sich besonders in vier Beiträgen, in jeweils zwei von R. Böschenstein und von Zbikowski, deutlich abzeichnen. In einem Essay über den hymnischen Entwurf 〈An die Madonna〉 (1988, 181– 209) theoretisiert R. Böschenstein über die allegorische Ausdrucksform. Obendrein habe der diskutierte Entwurf mit dem Gesang Der Mutter Erde und mit dem Evangelium mehr zu tun als mit dem übrigen im HF zu findenden Textbestand. Näher am Textbestand des HF gelingt es R. Böschenstein, über die »Sprache des Zeichens« in mehreren im HF basierten hymnischen Entwürfen zu reden; hier (HJb 19/20, 267– 284) legt sie etwas über die intrinsische Einheit im Homburger Konvolut nahe. Am meisten ist ihr daran gelegen, thematische Zusammenhänge zu identifizieren, so z. B. das Feurige; Sprache; Gewitter; Strom; Demut; Apriorität (letztgenanntes Stichwort, 307/ 75, 1, nicht großgeschrieben). In mehreren Entwürfen, so z. B. in 〈Und mitzufühlen das Leben ...〉 und 〈... der Vatikan ...〉, spürt R. Böschenstein eine Tendenz, »die Dinge auf die gleiche Ebene« treten zu lassen (HJb 19/20, 282). In ihren beiden Beiträgen beschäftigt sich R. Bö schenstein mit Interpretation und nicht mit dem handschriftlichen Textbestand. Dies tut Zbikowski, der in seinen beiden Studien streng vom Text ausgeht und stets in Bezug auf ihn arbeitet. Seine Studie über den hymnischen Entwurf Dem Fürsten (HJb 22, 232–273) nennt Zbikowski einen philologischen Versuch über
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HF 57/58. Voran gehen Hs. und Umschrift, darauf folgt Interpretation; Zbikowski spricht streng und ausschließlich darüber, was in der Hs. zu finden ist: »in ihnen [in den Kernworten dieses Entwurfes] zeichnet sich eine poetische und existentielle Perspektive ab« (HJb 22, 273). In seinem zweiten Beitrag, über das Thema des Fürsten im Werk des späten H. (1988, 211– 251), ist sein Anfangspunkt die Gruppe von drei Wörtern: »Und der Fürst« im hymnischen Entwurf 〈Einst hab ich die Muse gefragt〉 (HF, 45 f.). Erst dann geht es weiter zu anderen späten Belegen des Wortes, bis zum Entwurf Dem Fürsten. Freilich kommt es auch zur Diskussion über Geschichte und über Biographie H.s. Die Vokabel »Fürst« ist hier »in ein Wirkungsfeld gestellt [...], das seine Dynamik einerseits aus der Reflexion über den Schicksalsgang des Vaterlandes erhält, andererseits aus der Deutung des dichterischen Gesanges als geschichtswirksames Medium« (1988, 223). Die isolierende Behandlung individueller ins HF eingetragener oder dort skizzierter Werke scheint unter den meisten der Beiträge das herkömmliche, vielleicht auch bewusst intendierte Verfahren zu sein, doch findet der H.-Kenner, der das HF als Einheit behandeln will, für die relativ unorthodoxe Annäherungsweise an das Gesamtkonzept HF eine Basis. Thematische und strukturelle Zusammenhänge weisen die hymnischen Entwürfe im HF zweifellos auf, wie die Nebeneinanderstellungen von Griechenland und Heimat (〈Und mitzufühlen das Leben ...〉, Griechenland, Mnemosyne), oder gar wenn es um »›Vaterländische Helden‹« (Michael Franz, HJb 18, 133–148) und sonstige wichtige Gestalten des Mittelalters geht (wie z. B. um Barbarossa [Stutgard], Heinrich vor Canossa [späte Entwürfe zu Patmos]) (s. auch Häny, 65). Wie schon erwähnt, spielt unter den hymnischen Entwürfen auch das Frankreich-Erlebnis eine wichtige Rolle – auch wenn es in dem außerhalb des HF stehenden Gesang Andenken zur Vervollkommnung gebracht wird. In den Bereich des HF gehören hier solche Entwürfe, wie 〈Viel thuet die gute Stunde〉 und 〈Vom Abgrund nemlich ...〉 (HF, 73, 13–32, bzw. 75, 6–17; Zeilenzahlen nach Burdorf), Einträge, die sich bei Burdorf ausführlich kommentiert finden (190– 221, 340–357). Thema, Struktur, Gattung: das eine leitet ins andere über – die Gesetze dieses Übergangs sind für H.s Dichtung, wie jeder H.-Kenner weiß, von zentraler Bedeutung. Vielsagend verfährt hier Jochen Schmidt, wenn er in seiner 1968 erschienenen Monographie zu Brod und Wein über die »Entstehung des hymnischen Stils in der elegischen Dichtung« spricht (16–33). Hier be-
rührt er nämlich das Allerwesentlichste des Zusammenhangs zwischen Elegik und Hymnik, wie dies in den das HF eröffnenden und H.s Vorhaben am unmittelbarsten aussprechenden Partien des Konvoluts vorliegt. Schmidt konstatiert, dass die Elegie in Brod und Wein Geschichtlichkeit und »kühne Objektivität« (20) und dadurch ihren Anteil am Hymnischen erreicht. Ein gutes Beispiel dafür sieht Schmidt im Verlust an Spezifizität; in Stutgard (Z. 80) wird noch die Stadt genannt; auch in Heimkunft: »glükseeliges Lindau!« (Z. 59); in Brod und Wein ist es nur noch »die Stadt« (Z. 1) (Schmidt 1968, 20 ff.). Neben die neue Objektivität und den Sinn für das Vermögen der ›Feier‹ – das die Trauer als das primäre Kriterium für die Elegie als lyrische Gattung überformt oder zumindest überformen soll (s. Kap. 28 und 32) – treten noch die Kriterien des hymnischen Stils (unter Heranziehung der stilkritischen Einsichten von Dionysios von Halikarnassos, Schmidt 1968, 28, 30), daneben Merkmale der Form, die H. von Pindar erlernt (s. Kap. 27), und der Rhetorik (ebd., 30–33). Das alles weist, ohne dass Schmidt darauf direkt hindeutete, auf die wesentliche Einheit des HF hin, in dem sich Elegisches und Hymnisches bis zu einem gewissen Grade vereinen; so könnte man hier sagen, Brod und Wein sei eine hymnisch strukturierte Elegie, Mnemosyne hingegen eine elegisch angehauchte Hymne. Trauer neben Feier (Brod und Wein), Trauer um Vergangenes, Nichtgediehenes, nur in der Sphäre und im Werk des ›Traums‹ (s. Kap. 19) Vollzogenes und Erlebtes (〈... der Vatikan ...〉, vgl. StA 2.2, 890, 7–10) leben auf den Seiten des HF zusammen auch mit stark Aktuellem, sogar leicht Aggressivem (Dem Fürsten). Und am Ende stellt H. die Frage nach der Möglichkeit des Gesangs und dem Fehl der sich der Sprache verschließenden Trauer selbst (Mnemosyne). Das HF ist dergestalt in H.s Leben und Werk die letzte Bühne, auf dem sich die Vielschichtigkeit hymnischen Sprechens in seiner ganzen Breite und Tiefe wie Fülle artikuliert.
33.4 Edition Weder die Ausgabe der Gedichte H.s von 1826, herausgegeben von Ludwig Uhland und Gustav Schwab (ohne Benennung der Hg.), noch die erste Gesamtausgabe der Werke (1846, hg. v. Christoph Theodor Schwab) hat irgend etwas mit den Homburger Papieren zu schaffen. Wohl dem Familienwunsch, und zumal dem Wunsch des Stiefbruders, Karl Gock, entsprechend, beschränken sich diese beiden allerfrühes-
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ten Ausgaben zumeist auf Gedichte H.s, die schon in Almanachen, Taschenbüchern oder Zeitschriften erschienen waren (wie z. B. Die Herbstfeier, die früh betitelte Fassung der Elegie Stutgard, in Leo von Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1807). Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jh.s befassten sich mehrere Wissenschaftler flüchtig mit dem HF, fleißiger unter diesen Carl C. T. Litzmann, Robert Wirth und Karl Köstlin (s. George 1999, 72–75); auch zeigen die früheren populären Ausgaben von Berthold Litzmann (1896/97) und anderer eine wachsende Aufmerksamkeit auf die Manuskripte, nicht zuletzt auf das HF, so die Editionen von Wilhelm Böhm (1905, 1910, 1911, 1921, 1924) und Marie Joachimi-Dege (1908). Trotz alledem gehört Norbert von Hellingrath das Verdienst, H.s erster systematischer kritischer Herausgeber zu sein (s. Kap. 1). In enger Nachbarschaft mit ihm bespricht man auch die Arbeit von Franz Zinkernagel, da die beiden konkurrierenden Editionen fast gleichzeitig erschienen (um den Ersten Weltkrieg und kurz danach: 1913–1923 bzw. 1914–1926). Die persönliche Seite dieser frühen Editionen, auch die polemische Konfrontation beider Herausgeber und deren Kollegen in Euphorion, ist bei George (1999, 77–78) und Burdorf (62–63) dokumentiert. Bezüglich des HF sei das Anliegen beider Editionen umrissen. Norbert von Hellingrath (Hel.) Hellingrath, dessen vierter Band (unter sechs Bänden) »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes« (Hel. 4, XI) enthält und kurz vor dem Tod des Herausgebers vor Verdun (am 14. Dezember 1916) noch abgeschlossen werden konnte, druckt die definitiven Elegien-Texte Heimkunft, Brod und Wein, Stutgard, die Gesänge Der Einzige, Germanien, Patmos und Mnemosyne, und eine Anzahl der Entwürfe im HF ab, zusammen mit Hel.s kritischem Apparat im selben Band. Unter den 32 nummerierten Texten unter der Rubrik »Bruchstücke und Entwürfe« (Hel. 4, 237– 265) sind nicht weniger als 20 Entwurfs-Texte solche, die im HF vorkommen. Nr. 14 druckt 〈Sonst nemlich, Vater Zevs...〉; Nr. 31, 〈... meinest du, es solle gehen ...〉; im Apparat für Nr. 29b steht: »Von ähnlicher fester und klarer Hand wie die erste Niederschrift von Dem Fürsten und Kolomb steht auf S. 75 des Folioheftes: Vom Abgrund nemlich haben Wir angefangen [...]« (Hel. 4, 406) – einem der wichtigsten Texte im HF. Für eine so frühe Ausgabe, wie es die hellingrathsche ist, ist sie bemerkenswert umsichtig; einige wichtige Entwurfs-Texte jedoch konnten in Hellingraths viertem
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Band nicht untergebracht werden. Es sind die Entwürfe: Griechenland (beide Fassungen im HF); Die Natur; 〈... der Vatikan ...〉; Germania (Zeilen aus dem hymnischen Entwurf 〈Vom Abgrund nemlich ...〉); Lichttrunken (aus demselben Entwurf); und 〈Und mitzufühlen das Leben ...〉. Diese Texte, zuerst von Hermann Kasack 1920 in einer limitierten, bibliophilen Ausgabe veröffentlicht, kamen erst in Hellingraths sechstem Band zum Druck (1923), zu einer Zeit also, als Hellingrath selber schon längst tot war und die reelle editorische Arbeit von seinen Kollegen an der Edition, Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot, besorgt wurde. Burdorf (55 f.) fragt, warum diese Texte erstens von Hellingrath nicht aufgenommen wurden und zweitens warum sie im sechsten Band der Ausgabe, zusammen mit »letzten Dichtungen und Briefen« abgedruckt werden mussten. Auf der positiven Seite sei aber zunächst gesagt, dass Hellingraths Errungenschaft bezüglich des HF ganz beträchtlich ist. In Band 4 gilt seine Aufmerksamkeit dem HF über lange Strecken, über Seiten: 107–111, 114–125, 181–234 (Gedichte), 247–264 (Bruchstücke und Entwürfe), 317– 387 (Apparat für die Gedichte), 396–408 (Apparat für die Entwürfe). In seinem kritischen Anhang druckt Hellingrath ihm topographisch unsicher scheinende Texte und Textteile, so z. B. Bruchstücke und Entwürfe Nr. 23 A (〈Wie Meeresküsten ...〉) oder Nr. 24 (〈Auf feuchter Wiese ...〉). Unter seiner Rubrik »Aus dem Motivkreis der Titanen« (Hel. 4, 215–218) druckt Hellingrath den Entwurf 〈Wenn aber die Himmlischen ...〉. Stark interpretatorisch wirkt diese Unterordnung, aber richtig, wenn man sich hier Anliegen und Methoden näher ansieht. Dass Hellingrath Interpretation, die literarische Deutung, in die editorische Arbeit systematisch einbezieht, ist an seiner Edition überall deutlich. Ein prachtvolles Beispiel dafür liefert sein Kommentar zu Patmos (Hel. 4, 360–372), wo er mit der literarischen Deutung anfängt (ebd., 360–365), gefolgt durch Achim von Arnims Prosa-Druck des Gesangs (365 ff.), um erst dann zum Lesartenapparat überzugehen (368– 372). Der Primat literarischer gegenüber textueller Interpretation bei Hellingrath dürfte einen doppelten Grund haben. Erstens ging es Hellingrath hinsichtlich H., wie wohl bekannt, um eine Art prophetischen Seherblick, er kolportiert, wenn auch leise, einen H.-Mythos. Zweitens begründet er dieses interpretatorische Anliegen in streng Philologischem; für die Behandlung von Lesarten gilt ihm als Grundprinzip: »der Text müsse möglichst rund und übersichtlich das zu Ende
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reifende Werk des Dichters darstellen« (Hel. 4, 269). Für Hellingrath ist die Scheidung von Text und Lesarten willkürlich. Das erklärt auch die leicht wahrnehmbare Tatsache, dass sich sein kritischer Apparat als ausgesprochen lückenhaft darbietet. Wie George (1999, 79) zeigt, lässt Hellingrath z. B. für Der Einzige ganze Seiten und längere Passagen unberührt. In diesem Sinne verdient Hellingrath als H.s minimalistischer Herausgeber angesehen zu werden. Anderseits gelingt es ihm, höchst akkurat zu sein, wo er sich mit den Lesarten und Fassungen des Textes in der besten Tradition der Altphilologie befasst. Er druckt zum ersten Mal eine Anzahl wichtiger Texte ab (so z. B. den spätesten bekannten Entwurf zu Der Einzige [Hs. 337]; s. Hel. 4, 389 f., vgl. HK, 100). Aspekte der Arbeit, die Hellingrath am HF begonnen hat, sind bis heute nicht restlos befriedigend geklärt. Franz Zinkernagel (Zk.) Burdorf (55) hat Bedenken dagegen, dass sich die Texte in Hel. zwischen zwei Bänden (4 und 6) verteilt finden. Das betrifft nicht Hellingrath selbst, sondern vielmehr seine Mitherausgeber, wenn sie nach seinem Tod die zuerst von Hermann Kasack veröffentlichten hymnischen Entwürfe aus der Spätzeit, d. h. aus dem HF, in Hel. Band 6 nachträglich unterbringen. Eine Trennung von Texten nimmt dagegen explizit Franz Zinkernagel vor, wenn er in Band 1 seiner Edition die drei Elegien (Zk. 1, 291–311), gefolgt durch im HF vorkommende »Freie Rhythmen« (ebd., 342–346, 351–362, 372) abdruckt, um dann auch zum HF gehörende »Fragmentarische Gedichte« in seinem Band 5 zu bringen. Letzteres geschieht unter vier weiteren Rubriken: »Bruchstücke« (Zk. 5, 107–149); »Entwürfe« (ebd., 150–181); »Versuche« (182–196); »Überschriften« (197 ff.). Unter die Bruchstücke, alles nummeriert, gehören 18 Texte dem HF, von Nr. 12, Die Titanen, bis Nr. 29, 〈Was ist Gott? ...〉, inklusive; unter den Entwürfen gilt dies für sechs Einträge, von Nr. 12, 〈Aber in Hütten wohnet der Mensch ...〉 (Prosaentwurf), bis Nr. 21, Luther, inklusive. Unter »Versuche« finden sich in Zk. die von Hellingrath nicht wahrgenommenen, zuerst von Hermann Kasack im Jahr 1920 gedruckten hymnischen Bruchstücke. Was Zinkernagels Kriterien waren, dies oder jenes Bruchstück unter die oben zitierten ersten drei Rubriken einzuordnen, wüsste man gerne. Unter »Versuche« finden sich z. B. der Entwurf 〈Vom Abgrund nemlich ...〉 und dessen Fortsetzung, unter dem inzwischen eingeschobenen Titel Germania (307/75, 32; HF, 75, 29
[Burdorf]). Unter »Entwürfe« finden wir aber Luther (Nr. 21, Zk. 5, 177), wo der Herausgeber will, dieser Text bestehe aus dem Titel, der alleine oben auf der sonst leeren S. 83 des HF steht, gefolgt durch den Entwurf 〈... meinest du, es solle gehen ...〉 (HF, 84). Dieses Zusammenklammern nicht ohne weiteres zusammengehöriger Textsegmente scheint recht willkürlich. Andererseits setzt Zinkernagel mancherlei richtig, so z. B. den Text von 〈An die Madonna〉 (ohne Titel, Zk. 5, 132–138; vgl. StA 2.2, 843, 19–21). Wie allgemein bekannt, erhebt Zinkernagels Edition nur mit Vorbehalt Anspruch darauf, als eine kritisch-historische Ausgabe zu gelten. Seine Texte durften noch beim Insel-Verlag in fünf Bänden erscheinen, aber der ausführliche Lesartenapparat blieb Manuskript (heute in der Württembergischen Landesbibliothek jedem Interessenten zugänglich). Wer darin (zitiert: Nachlaß, gefolgt durch Seitenzahl) schon Einsicht gewonnen hat, wird wissen, warum Zinkernagel, in starkem Kontrast zu Hellingrath, als H.s maximalistischer Herausgeber gilt. Während Hellingrath in seinem Apparat ein Gattungsgemisch textuellen und literarischen Kommentars darbietet, kommt es Zinkernagel lediglich auf die Darlegung der textuellen Evidenz an. Er bietet einzelne Lesungen, topographisch beschreibend und räumlich sowie zeitlich identifizierend als aus H.s »2., 3. oder 4. Hand« herrührend (s. auch Nachlaß, 8 [Vorbemerkung]). Zu diesem atomistischen Apparat kommen noch gelegentlich getippte Texte, in Querformat, so z. B. für Der Einzige und für Patmos (Nachlaß, 884–889, 891 f., bzw. 908 f., 917–922, 935–940). Kein einziges Wort verliert Zinkernagel über textuelle, geschweige denn eine literarische Interpretation. Ob sein Apparat seinem intendierten Publikum zugänglich gewesen wäre, sei dahingestellt. Heute bietet er dem wissenschaftlichen Benutzer und Leser von H.s Ausgaben eine bedeutsame Ergänzung auf dem Gebiet textkritischer Einsichten. Hinsichtlich der Behandlung der Texte des HF lässt sich wohl sagen, da sich die beiden Ausgaben gegenseitig ergänzen. Dies muss auch kulturpolitisch verstanden werden. Hellingrath tritt gegen den so weit und so früh kolportierten Mythos von H.s Wahnsinn leise, aber unüberhörbar auf, nicht zuletzt in seiner nahen Heranrückung von abgerundeten bzw. fragmentarischen Texten. Demgegenüber stimmt Zinkernagel mit dem Mythos überein und spricht über die »trübe Phantastik dieser Hymnen« (Euphorion 25, 277; vgl. Burdorf, 62–63), von Texten also, die, wie Zinkernagel offensichtlich meint, eher verdienten, den im Turm (s. Kap. 7) geschriebenen Gedichten hinzugezählt zu
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werden. Zur Differenz zwischen Zinkernagel und Hellingrath vgl. insbesondere Zinkernagels Rezensionen der Hellingrathschen Ausgabe (Euphorion, 21, 356– 363; ebd., 25, 274–287) . Friedrich Beißner (StA) Hellingrath (Hel. 4, 272) nennt das HF bei seinem heute gebräuchlichen Namen; bei Zinkernagel (z. B. Nachlaß, 871) heißt die Hs. noch »Folioheft der Homburger Stadtbibliothek«. Beißner gebührt das Verdienst, das HF nicht nur, Hellingrath folgend, bei seinem richtigen Namen zu nennen, sondern es auch zum ersten Mal vollständig und gründlich beschrieben zu haben; einige Einträge und Titel hat er mit eigenen Siglen versehen (StA 2.2, 380 f.). Dieser Beschreibung folgt dann in unmittelbaren Zusammenhang HK (93 f., unter Homburg, Mappe F, auch Hs. 307). Der Beschreibung wird ein Absatz über Eingriffe fremder Hand hinzugefügt (ebd., 94); auch werden die einzelnen Einträge, auf Tintenfarbe hin topographisiert, kursiv gebracht. Man vergleiche diese Beschreibung auch mit derjenigen von D. E. Sattler (FHA III, 21 ff. [»Inhalt der paginierten Anordnung«]). Zu Beißners Arbeit an der StA und zur Kritik, die ihr zuteilwurde, s. George, PMLA 80, 123 ff.; George 1973, 50–59; auch Burdorf, 63–70, dazu Anm. 235. Hier sei hinzugefügt, dass sich die Unzulänglichkeiten der Methode Beißners auch in der Darstellung der Texte des HF spiegeln. Besonders auffällig ist dies in zwei Hinsichten: in der Trennung von Texten und in der Darbietung von Fassungen, auch dort, wo sie objektiv nicht existieren. Mit dieser Trennung von Texten folgt Beißner seinen beiden Vorgängern. Bedenkliche Auswirkungen hat die Trennung insbesondere der Sektion der »Elegien« (StA 2.1, 86–99) und der »Vaterländischen Gesänge« (ebd., 149–187, 193–198) von den »Hymnischen Entwürfen« (ebd., 201–258) und von dem, was im HF übrigbleibt, d. h. von »Plänen und Bruchstücken« (von Beißner nummeriert, ebd., 315–341). In seiner Trennung von mehr oder weniger abgerundeten Texten von Entwürfen und Bruchstücken kommt Beißner über die Methoden seiner unmittelbaren Vorfahren nicht weit hinaus. Die Darbietung von Fassungen auch dort, wo diese keine materielle Existenz besitzen, wie z. B. für Dem Fürsten, Das Nächste Beste und Mnemosyne, hat Beda Allemann (AfdA 69, 79) scharf kritisiert. Auch wo es Fassungen gibt, verfährt Beißner willkürlich. So kontaminiert er z. B. Der Einzige, dritte Fassung, mit Hs. 337, einem Text, den Hellingrath (Hel. 4, 389 f.) separat
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(und als erster) abdruckt (vgl. StA 2.1, 163 f., ebd., 2.2, 752 f.). Auch ist es keineswegs eindeutig, dass die Strophe »Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet« (307/90) dem Mnemosyne-Komplex angehört (s. HJb 3, 66–102; StA 2.1, 197; FHA Einl., 55–70; Roland-Jensen 1999; vgl. Burdorf, 55). Andererseits stellt Beißner in manchen Fällen auch vieles richtig. Ein ganz schlagendes Beispiel hierfür ist seine erneute und höchst überzeugende Trennung des Textes: 〈... meinest du es solle gehen ...〉 von der Überschrift Luther gegenüber Zinkernagel, der die beiden miteinander kontaminiert (Zk. 5, 177, s. auch oben). Auch ist Beißner zuzustimmen, wenn dieser die 18 eindeutig identifizierbaren hymnischen Entwürfe, die vom HF herstammen, mit Titeln bringt, auch wenn die meisten Titel in Winkelklammern zu setzen sind (StA 2.2, 836–889). Allerdings hätte Beißner über die Chronologie wohl etwas sagen können. Nur wenn man sich eine Liste macht, sieht man, dass Die Titanen, ein Entwurf, der poetologisch der Trias Der Einzige – Patmos – Die Titanen angehört, chronologisch keineswegs zuerst nach Patmos in die StA eingetragen ist, sondern vielmehr als siebenter Eintrag, dem sogar der Entwurf 〈An die Madonna〉 vorangeht. Nicht zuletzt im Bereich der Chronologie also bietet die StA dem Benutzer Probleme. Jochen Schmidt übernimmt in seiner Edition für den Klassiker-Verlag (= KA), gerade was das HF angeht, im Wesentlichen Beißners Edition, so wie dies auch in Beißners und Schmidts Insel-Studienausgabe von 1969 (s. Kap. 1) der Fall war, so dass das zur StA Bemerkte auch auf die KA zutrifft. D. E. Sattler (FHA) Ohne die StA wäre die FHA undenkbar, das weiß Sattler sehr gut (s. MLN 94, 601). Trotzdem hat(te) er recht mit der Behauptung, es sei an der Zeit, H. neu zu sehen und zu edieren. Diesem nicht zuletzt sich einem veränderten Rezeptionshorizont verdankenden kulturpolitischen Zweck (vgl. auch Teil VII: Nachwirkungen) dient eine neue historisch-kritische Ausgabe der Werke des Dichters, die ihm durch Klarheit und Scharfsinn angemessen ist. Das Anliegen der FHA, alle Handschriftenseiten zu faksimilieren und H.s Texte nach einem genetischen Verfahren darzulegen – Handschrift, Umschrift, lineare Textdarstellung, emendierter oder konstituierter Text – hat sich in den Bänden der FHA produktiv ausgewirkt. Bezüglich des HF muss andererseits gesagt werden, dass auch Sattler seinem eigenen Vorsatz der Vollständigkeit nicht ganz gleichkommt. Die Londoner Hs. der Elegie Stutgard druckt
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er z. B. nicht ab (FHA 6, 181 [Titelnotiz]), andererseits konstruiert er für die spät überarbeitete Elegie Brod und Wein eine nicht existierende Fassung (Konstituierter Text VI, s. FHA 6, 258–262; Elegien). Hier ist Beißner viel zurückhaltender, wenn er die betreffenden späten Lesarten als solche in seinem Apparat bringt (unter der Sigle H3b, s. StA 2.2, 595, 10 bis 608, 17 inklusive). Sattlers wie Groddecks kühner Sprung zu dem metaphysischen Textangebot einer auf die klassische Reinschrift-Fassung folgenden späteren »Sechsten Fassung« von Brod und Wein (deren erste Strophe in Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1807 unter dem Titel Die Nacht abgedruckt ist) wird von Michael Knaupp in seiner Studienausgabe, in parallel laufenden Texten für die »Cerberus«- bzw. »Hunde der Nacht«-Fassungen der Elegie Brod und Wein (s. MA 1, 372–383), beinahe buchstäblich befolgt. In seinem 1975 erschienenen Einleitungsband widmet Sattler dem HF allererst und vielfach Aufmerksamkeit. Seine neue Methode für die Darstellung schwer entzifferbarer Texte demonstriert er an sieben Gedichten und Entwürfen, von denen vier dem HF angehören: Das Nächste Beste, Mnemosyne, Apriorität des Individuellen, Kolomb. Hier kann man Sattler nur unterstützen, wenn er auf seine konstituierten Texte (»Lesetext« genannt) »Konjekturen« und »Textvergleich« mit der StA folgen lässt (so z. B. ganz ausführlich für Das Nächste Beste, FHA Einl., 30–36). Für Kolomb (Einl., 93–117) fehlt, laut Sattler (ebd., 117), die Basis für einen Textvergleich mit den Ergebnissen in der StA. Gregor Thurmair (JDSG 23, 252–258) bespricht die in FHA Einl. durchgeführte Phasenanalyse; diese Ergebnisse werden in der FHA nicht berücksichtigt. Das wichtigste bisherige Resultat von Sattlers Methode bezüglich des HF ist FHA III, das vierfarbige Faksimile der Homburger Hs. in Originalgröße, begleitet durch einen von Sattler und vom Verf. bearbeiteten Textband. Inwiefern die diplomatische Umschrift dort dem Wunsch des Verf. nicht mehr genügt, ist zum Teil an der Teil-Edition von Der Einzige in George 1999 (26–66) abzulesen. Einzelne Lesungen sind nicht ganz richtig (z. B. sollte »Herakles« [307/17, 20] »Herakles’« heißen, der Apostroph ist in der Hs. klar sichtbar), auch hätte die Umschrift in FHA III topographisch, d. h. hinsichtlich der visuellen Konfigurationen der Hs. vielfach präziser sein können (s. auch in dieser Hinsicht George 1999, 29–53). Das aber sind Einzelfragen. Bezüglich des HF lässt sich sagen, dass wir sowohl im Einleitungsband der FHA wie in FHA III einen überzeugenden Anfang besitzen. Nächstens mehr. So dachte man.
Im Sommer 2001 erschien dann der lange erwartete Doppelband 7/8 der FHA. Er stellt vor allem neue Fragen nach Zweck, Einigkeit und Benutzbarkeit des ganzen Projekts. Leider muss von vornherein gesagt werden, dass diese Bände 7/8 (Gesänge I, II) dem Standard der früher erschienenen Bände der FHA (wie 4/5 Oden, 6 Elegien und Epigramme, 10/11 Hyperion) bei weitem nicht gleichkommen. Ohne jegliche Begründung für seine Entscheidung schreibt Sattler (FHA 7, 8, Hauptwörter kleingeschrieben, wie hier): »die chronologische darstellung [...] tritt an die stelle der werkstufenedition früherer bände; demgemäß ersetzt auch der mit jedem integrierten segment anwachsende ›kumulative text‹ eines gesangs die formal separierten, das resultat einer linearen darstellung fixierenden textstufen; [...].« Hinsichtlich des ursprünglichen Anliegens der FHA lässt sich nur konstatieren, dass Sattler im Laufe der langwierigen Arbeit an den Bänden 7/8 über Editionstechnik weiter nachgedacht hat. Das Ergebnis wirkt, vorwiegend in Band 8, wie ein unüberschaubares Labyrinth. Es ist alles andere als benutzerfreundlich. Dazu kommt natürlich auch noch die Frage nach der wissenschaftlichen Stichhaltigkeit eines von vornherein befestigten Plans zur Durchführung »kumulativer Texte«. Fast alles, was von seiner Natur aus kürzer bleiben muss, hält Sattler für fragwürdig. Zugleich bezeichnet er alle drei kleinen Hymnen in FriedrichWilmans’ Taschenbuch für das Jahr 1805 als »paralipomena«, obwohl Beißner diesen Namen nur dem Gedicht Hälfte des Lebens fest zuspricht; nach ihm sind Lebensalter und Der Winkel von Hahrdt »vielleicht« so entstanden (vgl. StA 2.2, 660, 2). Das Zurückhaltende an Beißners Notiz verdient Aufmerksamkeit. Unübersichtlich ist Band 7 der neuen Edition nicht. Unter »zur edition« (7, 7) schreibt Sattler: »im zentrum [des dokumentarischen Teils, von Band 7 also] steht das in supplement III vollständig, hier ohne die drei am anfang stehenden elegien wiedergegebene folioheft; [...].« Die Qualifikation »im zentrum« trifft jedenfalls in einem sittlichen (übertragenen) Sinne zu; wiedergegeben, so, wie oben angedeutet, steht HF sozusagen exzentrisch, unter Zwischentitel IV: »1802– 1804 / Nürtingen Homburg Tübingen« (7, 227; Hs. 307 [d. h. HF] mit Umschrift, 7, 228–385). Dazu kommen noch zwei Beilagen: 336/1–4, was schon mit Supplement III eingebunden ist (s. dort, S. 121–124) und 368/1–2, erstmals in FHA 7 (die beiden: 7, 386–393, bzw. 7, 394–397). Im großen Ganzen ist an der Darlegung der Manuskripte selbst und an deren Umschriften, letztgenannte hoch differenziert und hilfreich, so
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gut wie nichts auszusetzen. Hie und da zeigt sich eine Lesung, die nicht ganz zu stimmen scheint, wie z. B. der Doppelpunkt nach »Gemeingeist« (307/17, 74; FHA 7, 234, unten: »Gemeingeist: Bacchus«; vgl. Punkt, George, 1999, 32, unten). Mehr Aufmerksamkeit erfordert Sattlers Lesart »immergekettet«, 337/2, 2; FHA 7, 489, 2 (quer gedruckt), wo Sattler Uffhausens richtige Dechiffrierung »immerge[b’unden?’kette[n’t«, ein nicht ausgeführtes Lemma »immergebunden« höchst präzis nahelegend (Uffhausen, 1989, 93, 28), ignoriert (ausführliche Erklärung der Lesart, vgl. George, 1999, Kap. I, Anm. 28 [333]). Die wirklich gravierenden Probleme in und an Sattlers Edition beziehen sich auf den Band 8. Hier waltet, das allererste Mal in der FHA, eine radikal durchgeführte chronologische Anordnung der Texte vor, derart, dass alle edierten Textsegmente mit einem von Sattler erdachten System von »Sigma-Zeilen« (derart: ∑129, öfters ∑1411) versehen werden müssen. Dies soll den Benutzer über die chronologische Lage, recht selten aber über den genetischen Werdegang eines Textes orientieren. Über genetischen Werdegang gibt, hoch subjektiv und erschwert, die einem Eintrag vorausgeschickte Notiz Auskunft, die mit anderen Notizen eine Art laufenden Kommentar bildet. Gegen Klarheit und Übersichtlichkeit wirkt obendrein die so gut wie undifferenzierte Typographie von Band 8, in starkem Kontrast zur optisch sehr klaren und hilfreichen Differenzierung früherer Bände. Hier haben wir praktisch nur noch den Kontrast dunkel/hell der linearen Textdarstellungen, sowie die noch weiter reduzierte Type der (zugegeben: willkommenen) wiedergegebenen Drucke z. B. der Gesänge, die zuerst in Leo von Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1808 erschienen sind (Der Rhein, Patmos, Andenken; s. FHA 8, 634–638, 687–691, bzw. 804–805). In reduzierter Type kommen auch noch die drei kleinen Gedichte (Nachtgesänge; s. Kap. 31) Hälfte des Lebens, Lebensalter und Der Winkel von Hahrdt (8, 756–758) und der allerletzte Text im Band, In lieblicher Bläue ... (8, 1011– 1012). Die visuelle Begrenzung ist der reellen Nutzbarkeit einer historisch-kritischen Edition nicht eben förderlich. Sattlers Spekulieren und Interpretieren ist das Dokument jahrzehntelanger Leseerfahrung und wirkt trotzdem zuweilen willkürlich. Hier kann man nur Beispiele herausgreifen. Unter ∑60 (8, 707) kommt H.s poetologisch wie auch biographisch wichtige Textänderung in Der Einzige, die Zutat zu Z. 6: »gebükt, in flammender Luft« (307/15; vgl. George, 1999, 185, auch Kap. VII, Anm. 52 [ebd., 399]). Hier (8, 707),
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oben in Sattlers laufendem Kommentar, steht: »zu 6 gebükt ... siehe Rudolf Lohbauers und Georg Schreiners zeichnung, bd 9/926«. Das gehört nicht hierher. Die in Frage stehende Zeichnung (zugegeben: eine berühmte) datiert aus dem Jahr 1823. Sachdienlicher wäre es gewesen, auf den zweiten Böhlendorff-Brief zu verweisen, wo H. selbst von seinem in derselben flammenden Luft gebückten und von Apollo geschlagenen Zustand berichtet (vgl. StA 6.1, 432, 7–10). Ebenso wenig überzeugend ist der Hinweis auf J. S. Bach in der Notiz für die Textstufe »Heimath«, wo die Lesungen »Wartburg« und »Eisenach« mit hineingebracht sind (∑225; 8, 909–910; Lesungen 910, Z. [89], [90]; vgl. ∑2313; 8, 917, nach Z. 18). Das laut Sattlers einleitenden Bemerkungen im Zentrum stehende HF steht, wie schon oben bemerkt, zwar nicht genau im topographischen Zentrum von Band 7. Im Band 8 aber nimmt es eine zentrale physische wie auch textuelle Stellung ein. Hier fängt der eigentliche HF-Teil mit dem Gesang Der Einzige an (∑25; 8, 649–651) und erstreckt sich bis ∑283 (8, 991– 993) einschließlich. Anfangs (d. h., beginnend mit ∑25) geht es mit dem Edieren noch erkennbar nach Hs. 307 und der Wiedergabe sowie der Umschrift in FHA-Supplement III. Die zum HF angehörigen Textsegmente der Gesänge Der Einzige, Patmos und Mnemosyne werden dann erweitert und weiterhin ediert, mit jedem Neuansatz unter neuer Segment-Nummer anfangend und früher fixierten Text in sich einverleibend. So wird z. B. Der Einzige dreizehnmal dargestellt, emendiert, konstituiert, erweitert und z. T. neu erdacht. Hier freilich gilt es, der Tatsache eingedenk zu bleiben, dass Der Einzige einer der Gesänge ist, deren Quellenmaterial weit über die Grenzen des HF hinausgeht. Dieses Hinausgehen fängt nach dem konstituierten Text, ∑1261 (8, 783–784), an. Bald kommt man zu Hs. 474, das Warthauser Blatt, ∑130 (8, 786–787), zuvor und in der Nähe aber noch zu einer isolierten Zeile, die auf dem oberen Rand von Hs. 313/2 steht, dem Sattler allzu viel Bedeutung beimisst. Beißner liest die in Frage stehende Zeile wie folgt: »Von Gott aus gehet mein Werk« (Bruchstück 39; StA 2.1, 326; vgl. Sattler, 1981, 282, und Anm. 11), Sattler in Band 8 hingegen: »Vor Gott aus gehet mein Werk« (∑129; 8, 785). In der Notiz zu ∑129 steht die Erklärung: »vgl. Dichterberuf V B 61.62 Furchtlos bleibt aber, so er muß, der Mann/ Einsam vor Gott ... (bd 5/561).« Ist »vor Gott« in Dichterberuf sozusagen problemlos lesbar, so ist das »Vor Gott aus gehet mein Werk« schwierig und möglich nur, wenn man »ausgehet« (im Sinn von: aufhört) konjiziert. Obendrein
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besteht Sattler darauf, diese isolierte, ohne jeden Zusammenhang dastehende Zeile (vgl. Beißner, StA 2.2, 940, 18–20) gewaltig und ohne handschriftlichen Beleg als 474, Z. 99 eingeschoben zu gebrauchen, woraus sich folgende, den Text von 474 verfälschende Verse ergeben: »Nemlich frisch// Noch unerschöpfet und voll mit Loken/ Vor Gott aus gehet mein Werk« (∑1402; 8, 828, Z. [97]–[99]; vgl. Sattler, 1981, 282 und Anm. 11; dagegen George, 1999, 41, ebd., 62, laut Hss. 474/2 und 313/2). Nach solch einer Willkür überrascht es nicht, wenn wichtige Textteile, allerdings den ersten linearen Textdarstellungen folgend, des vorhandenen Textes fehlen, so z. B. 474, Z. 28 »Des Barden oder Afrikaners« (zugegen 8, 787 oben; fehlt 798 [hier ediert Sattler die auf 307/17 nach oben springenden Lesungen zu 474]; fehlt auch 8, 803; auch 8, 828, nach Z. [92]). Zu der gegen Ende des Bandes zu findenden, mit der Zeile »In Stürmen der Zeit. Ist aber geendet.« schließenden Rekonstruktion (∑283; 8, 991–993) vgl. Ludwig von Pigenots »Wiederherstellungsversuch der letzten Fassung« von Der Einzige (Hel., 3. Aufl., 4, 416–421). Erweiterung und Kumulation, auch ohne handschriftlichen Beleg, scheinen Sattlers Methode – nicht zuletzt bei dem Gesang Mnemosyne. Nach den ersten linearen Textdarstellungen (8, 713–716, 732–740) geht Sattler über zu einem Modell von 5 × 18 Zeilen (im Kontrast zu den bisher anerkannten Modellen von 3 × 17 [Beißner], bzw. 4 × 17 [George, 1973; Uffhausen, 1989]). Um dieses neue Modell zu erzielen, muss Sattler (für Strophe 2) neuen Text, hauptsächlich aus den hymnischen Entwürfen Sonst nemlich, Vater Zevs ... und Einst hab ich die Muse gefragt ... in den Text von Mnemosyne heranholen. In restloser Übereinstimmung mit Beißner fangen andererseits alle diese späten und hier letzten Versionen des Gesanges Mnemosyne mit der problematischen Strophe an, die mit der Zeile »Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet ...« beginnt. Bei den hymnischen Entwürfen (s. Kap. 34) und den in der StA nummerierten Plänen und Bruchstücken (letztgenanntes StA 2.1, 315–341) wird Sattlers gleichsam methodische Neigung zu willkürlicher Zusammenstellung mehr als deutlich. So entsteht aus den Entwürfen Heimath, Ihr sichergebaueten Alpen ... und Das Nächste Beste in FHA 8 ein einziges Gedicht. Im HF sind diese drei Entwürfe auf voneinander weit entfernten Manuskriptseiten zu finden: Heimath auf 307/38, Ihr sichergebaueten Alpen ... auf 307/43, Das Nächste Beste auf 307/73. Trotzdem werden diese drei Textsegmente, und zwar in nicht weniger als dreizehn
Ansätzen und Rekonstruktionsversuchen, zusammengebunden. Zum Beleg bekommt man freilich nur minimales Material, wie z. B. den Titel »Heimath« (∑27; 8, 652; vgl. 7, 276, 277). Verbunden werden die drei Entwurfstexte mit den auf 8, 842 und 845 anfangenden Segmenten. Dabei bekommt nicht nur ein Gedicht, betitelt Heimath, den Text »Ihr sichergebaueten Alpen!« zur ersten Zeile, auch verleiben diese Segmente (∑159, 1611) Zeilen aus dem hymnischen Entwurf Das Nächste Beste in sich ein (wie z. B. Z. 39–40 »Offen die Fenster des Himmels/ Und freigelassen der Nachtgeist«; vgl. 8, 873–932). Ähnlich verfährt Sattler mit dem Entwurf zum Gesang Tinian, entstanden aus vier, auf 307 voneinander z. T. wiederum ziemlich weit entfernten Entwürfen: Wie Vögel langsam ziehn ... (307/53, 1; ∑100; 8, 754, mit der Zeile »Der Fittige Schlag« schließend), Wenn aber die Himmlischen ... (307/41, 1; ∑931; 8, 747–748), Wenn nemlich der Rebe Saft ... (307/69, 24; ∑1151; 8, 774), Wie Meeresküsten ... (307/68, 40; ∑1161; 8, 775). Am augenscheinlichsten erscheinen die vier genannten Entwürfe in den Tinian betitelten Texten (8, 895– 974): man suche immer die kumulativen Texte, die mit der Zeile »Der Fittige Schlag« schließen – deren zehn Schlusszeilen sind mit dem Entwurf Wie Vögel langsam ziehn ... identisch. Dieser Passage geht in diesen hymnischen Inventionen der Entwurf Wenn aber die Himmlischen ... voraus. Was als ein bescheidenes Textsegment von zehn Verszeilen anfing (Wie Vögel langsam ziehn ..., ∑100; 8, 754), endigt als eine gewaltige Textkonstruktion von nicht weniger als 156 Verszeilen (∑270; 8, 972–974). Liest man diesen Text sorgfältig durch, fragt man sich, wem es dient, wenn lyrisch suggestive hymnische Entwürfe auf diese Art und Weise und gegen das Zeugnis der handschriftlichen Evidenz zu einer derartigen Synthese zusammengezwungen werden. – Eine nicht zuletzt vom Graphischen her lesefreundliche(re) Fassung konstituierter Texte hat Sattler auf der Grundlage von FHA 7/8 mit dem Band »hesperische Gesänge« (Friedrich H., hesperische Gesänge, hg. v. D. E. Sattler, sonderdruck der neuen bremer presse, bremen 2001) vorgelegt. Dieser Band enthält neben Andenken, Die Wanderung, Der Rhein, Friedensfeier, Hälfte des Lebens, Lebensalter, Der Winkel von Hahrdt und den in der Turmzeit geschriebenen Texten Was ist Gott ..., Was ist der Menschen Leben ..., In lieblicher Bläue ... aus dem HF Fassungen von Der Einzige, Patmos, Tinian, Heimath/Das Nächste Beste, Die Titanen/Die Entscheidung./ Dem Fürsten, Kolomb, Der Ister/Das Zeichen, Griechenland, Mnemosyne/Die Nymphe jeweils in sogenannten Alpha- und
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»betaversionen« (vgl. Heimath/Das Nächste Beste; Mnemosyne/Die Nymphe, ebd., 29–66, 91–131) . Dietrich Uffhausen In starkem Kontrast zu den Standards im Philologischen, die die frühere Arbeit an der FHA etablierte, steht die schon 1989 erschienene Arbeit von Dietrich Uffhausen, der, kategorisch unwillig, die Bände mit den Gesängen in der FHA abzuwarten, mit dem Band »Bevestigter Gesang« eine eigens erstellte und konstruierte Edition von H.s Dichtung von der Jahrhundertwende bis 1806 darbietet. Sein poetisches Material organisiert Uffhausen unter fünf Hauptrubriken, unter denen die vierte (»IV. Das ›Homburger Folioheft‹«, Uffhausen, 74–161) die im HF vorkommenden Dichtungen in 16 Teilen bringt, von 1. Heimkunft bis 16. Die Nymphe Mnemosyne. Uffhausen kommt es auf ein einziges Kriterium an, nämlich zu zeigen, dass alle späten Dichtungen H.s dem strengen pindarischen Gesetz der Architektonik buchstäblich entsprechen, ob sich dies in praktischer Ausführung auswirkt oder nicht. Textkritische Richtigkeit und Verantwortlichkeit weichen unter diesen Voraussetzungen einem vom Herausgeber von vornherein konzipierten Strukturprinzip: »Sie [die Dichtungen nach 1800] alle bezeugen in ihrer wahren, nicht mehr durch Vorurteile zerstückten und durch Textkritik verstümmelten Gestalt Pindarische Größe und geistige Höhe, [...]« (Uffhausen, »Zur Architektonik des Gesangs [Einleitung]«, X). Die erste große textuelle Willkürlichkeit, die aus der Aufgabe textkritischer Kriterien und der Befolgung des extremen pindarischen Prinzips folgt, wird an der konstruierten Hymne ›Heimath‹ (Nr. 7) sichtbar, wo Uffhausen aus seinem Manuskript-Material, d. h. aus vielen Entwürfen im HF, ein einziges Gedicht aus 28 Strophen aufstellt (Uffhausen 121–126, mit freigelassenem Raum für zwei zusätzliche Strophen: vgl. Notiz, ebd., 126, unten). Dies erklärt übrigens auch die auffallend niedrige Anzahl seiner textuellen Darbietungen in dieser vierten Sektion seines Buches. Die Konstruktion ›Heimath‹ setzt sich zusammen aus Material, das sich von 〈Und niemand weiß ...〉 (307/38, 2) bis 〈Wie Vögel langsam ziehn ...〉 (307/53, 1–13 einschließlich) erstreckt. Tatsächlich steht auf dem oberen Rand von HF, 38 der Titel Die Heimath. Dies benutzt Uffhausen als Freibrief zur hier besprochenen Willkürlichkeit. Uffhausens Darbietung der Texte hat auch eine positive Seite; seit Beißner ist er der zweite (nach FHA Suppl.-III), dem es zu zeigen gelingt, wie die Dichtun-
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gen des HF untereinander zusammenhängen. Gegen die Praxis der StA, die die chronologischen Zusammenhänge zerstört zugunsten einer Klassifikation nach literarischer Gattung, zeigt auch Uffhausen, dass H. mit der spezifischen Anordnung seiner Gedichte – den Elegien in Reinschrift, gefolgt von den Gesängen und den Entwürfen sowie dem Gesang Mnemosyne am Schluss – einen Plan hatte, den wahrzunehmen und ihm sorgfältig zu folgen er künftige Herausgeber gewissermaßen gleichsam bat. Uffhausens Chronologie erfolgt mit einem scharfen Auge für Detail, auch sieht er, wie Sattler, daß die Anlegung des HF keineswegs früher als Spätherbst 1802 erfolgt sein kann (Uffhausen, XXIX–XXXVI [»Biographische und zeitgeschichtliche Daten zum Spätwerk«]; hier: XXXI). Die hauptsächliche Schwierigkeit mit der Darbietung der Texte des HF in Uffhausens Edition hat, abgesehen von der Übertreibung des pindarischen Themas, vor allem mit der Frage der Möglichkeit einer synoptischen Darbietung zu tun. Außer der willkürlich konstruierten Hymne 〈Heimath〉 sieht man Uffhausens radikale Abwendung vom Textuellen da, wo er Fassungen von Gedichten simultan, en face oder interlinear, darbieten will. So kann Uffhausen die Elegie Brod und Wein in diesem Sinne nicht-synoptisch bringen, indem er die neun Strophen normal aufeinander folgen lässt, unter interlinearer Einschiebung von Varianten (Uffhausen, 77–81). Diese Methode der Darstellung zeigt noch, in vielsagendem Kontrast zur FHA (6, 258–262) und zur MA (1, 372–383), was tatsächlich in der Hs. steht. Kommt man aber zu einem so komplexen Gesang wie Der Einzige, der, außer seinen Komplikationen innerhalb des HF, noch außerhalb des Konvoluts fortgesetzt und teilweise auch abgeschlossen steht, so sieht man, wohin Uffhausen mit seiner Synoptik gerät. Hier druckt der Herausgeber die frühen Fassungen des Gesangs en face (Uffhausen, 86–95), die späten Fassungen aber (Hss. 313 und 337) interlinear (s. besonders ebd., 93), diesmal auf eine Weise also, die mit dem handschriftlichen Tatbestand nichts mehr zu tun hat. Uffhausen weicht zuweilen von der Evidenz in der Hs. weit ab, erstens um synoptische Simultaneität zu erzielen, zweitens um sich mit seiner zum Teil erdichteten pindarischen Architektonik zu beschäftigen. Von positivem Interesse ist Uffhausens textkritischer Kommentar (222–261). Hier sehen wir, wie in seiner Einleitung und Chronologie, einen Höchstgrad an sorgfältiger Aufmerksamkeit dem Detail gegenüber. Über Mnemosyne (unter »Textkonstitution«) schreibt Uffhausen: »Die Hymne umfaßt 4 Strophen zu je 17
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V Werk
Versen, ist also nicht triadisch gebaut (wie in StA irrtümlich angenommen), sondern dialogisch: als Zwiegespräch des Dichters mit der Nymphe Mnemosyne« (Uffhausen, 259). Zugestanden ohne Vorbehalt. Textkritische und literarisch-interpretatorische Anmerkungen sind andererseits in Uffhausens Kommentar ebenso unzertrennlich verflochten, wie dies in Helling raths kritischem Anhang der Fall ist. Es bleibt Beißners großes Verdienst, die beiden erfolgreich auseinander gehalten zu haben. Anderseits kann eingewendet werden, dass textuelle Arbeit schon ipso facto Interpretation ist, im wichtigen Sinne, dass sie nie wert- und vorurteilsfrei vor sich gehen kann. Letzten Endes schadet es nichts, auch eine so gegensätzliche Edition, wie es Uffhausens »Bevestigter Gesang« ist, vor sich zu haben, denn sie warnt uns davor, die editorische Arbeit erdachten Prinzipien zu unterwerfen. Michael Knaupp (MA) Uffhausens (nicht mehr lieferbares) monumentales Angebot wollte als Studienausgabe verstanden sein. Wer aber eine wirkliche und praktisch brauchbare Studienausgabe vor sich haben will, wendet sich neuerdings der Ausgabe Michael Knaupps, eines der Herausgeber der FHA, zu. In dieser dreibändigen Studien- oder Leseausgabe ist es Knaupp daran gelegen, einen den Handschriften gegenüber möglichst treuen Text darzubieten, ohne dabei die Hss. systematisch zu benutzen. Der Münchner Ausgabe (MA) ging die Ausgabe von Günter Mieth voraus, der, wenn auch mit ersten scharfsinnigen Korrekturen, seine Arbeit doch weitgehend auf der StA basieren ließ. Knaupps Leseausgabe unterscheidet sich von dieser früheren nicht zuletzt dadurch, dass sie H.s Texte von Grund auf wieder von den Hss. ediert und in der originalen Orthographie druckt. Wie Sattler, ermöglicht auch Knaupp, innerhalb der von ihm selbst gesetzten Grenzen, eine Vertiefung in die sich auf die Quellen basierenden kritischen Texte. Insofern zeigt er, dass seine Ausgabe, wie die FHA, nicht zuletzt davon ausgeht, den mündigen Benutzer ernst zu nehmen. Bei der Anordnung der Texte geht Knaupp so vor, dass er eine ausdrückliche und separate Behandlung des HF ermöglicht. Den Inhalt des HF bringt er in seinem ersten Band als integrale Einheit (MA 1, 367– 438), gefolgt durch Anmerkungen, textuelle wie erläuternde, die beiden nicht notwendigerweise getrennt, in seinem Kommentar zum HF (MA 3, 209–262). In einer einleitenden Notiz zu diesem Kommentar schreibt Knaupp, es sei ihm wichtig, keines der beiden
Extreme, der StA oder von Uffhausen, zu befolgen: »Weder werden die Entwurfszusammenhänge zerrissen, noch werden spekulativ größere Einheiten konstruiert, sondern es wird die Stellung der Texte im Heft [im HF] dokumentiert, und neben der Wiedergabe von Varianten werden mögliche Zusammenhänge der Texte untereinander erläutert« (MA 3, 209 f.). Knaupp bevorzugt eine Organisation seiner Texte, die die Darstellung der Einheit des HF ermöglicht. Er weist immerhin darauf hin, dass innerhalb des HF, mit Ausnahme der einleitenden Texte, eine sichere chronologische Ordnung ebenso wenig möglich ist wie die Feststellung dessen, wo ein Entwurf aufhört und ein anderer anfängt. Die Möglichkeiten der Organisation lässt er also offen, aber er verfährt höchst sorgfältig topographisch, indem er ein jedes Mal zeigt, wo auf einer Manuskriptseite – rechts, links, oben oder unten – ein Titel oder Wortlaut zu finden ist. Das ist schon ein Gewinn gegenüber Beißners treppenweiser Anordnung der Lesarten, die zwar den relativen Stellenwert, nicht aber den physischen Standort der gegebenen Lesart auf der Manuskriptseite wiedergibt. Im Bereich der Textkonstitution ist sich Knaupp der Subjektivität seiner editorischen Entscheidungen durchaus bewusst. Besonders ergeben sich Bedenken bezüglich der Neuedition der Ansätze zu Patmos und der Deutung der angeblich strophenförmigen Entwürfe zur Hymne Mnemosyne. Gewisse Schritte bei Knaupp sind zu begrüßen, nach dem Sinn anderer lässt sich fragen. So z. B. bewahrt er sehr sorgfältig die Andeutung der Seitenfolge im HF, wie in MA 1, 430; hier steht: »83 Luther. 84 meinest du [und der Rest dieses Textsegments]«. Anstatt also anzunehmen, wie dies Zinkernagel, Uffhausen und Sattler (FHA 8) tun, der Textanfang »meinest du« sei Anfang eines Gedichts, dessen Titel Luther ist, gibt Knaupp diese textuellen Angaben einfach – so nah dem handschriftlichen Tatbestand, wie nur möglich – wieder und ermöglicht es dadurch dem Leser, über sie nachzudenken. Der Leser erhält die Angaben ohne die Vorwegnahme einer editorischen Festlegung. In diesen Aspekten nimmt sich die MA als progressiv und begrüßenswert aus. Dort, wo der Benutzer erwägen mag, ob Knaupp weit über die sich bisher zeigenden Unzulänglichkeiten der FHA hinauskommt, haben wir textuelle Entscheidungen verschiedener, aber verwandter Art. In MA, Band 1 druckt Knaupp Patmos, HF, 19–28, eben so wenig ab, wie dies Sattler mit der Londoner Hs. der Elegie Stutgard tut (FHA 6, 181 [Titelnotiz]), und man möchte wissen, warum. Als Begründung für die Weglassung von HF, 19–28
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steht eine kurze Notiz, MA 3, 222; sogar noch weniger steht über den Druck der »Cerberus« und »Hunde der Nacht«-Fassungen von Brod und Wein, auf parallelen Seiten (MA 1, 372–383; ebd., 3, 212). Hier konstruiert, wie schon oben erwähnt, die FHA (vgl. 6, 258–262) »Fassungen« im gleichen Sinn wie Beißner. Andererseits konstituiert Knaupp zuweilen zum Teil unabhängig von der FHA (vgl. MA 1, 379, 381 [Brod und Wein, Strophe 7]). In MA 3, 209 kolportiert Knaupp, sich wieder unkritisch an Sattler anlehnend, die Behauptung, Beißner setze die Niederschrift von Der Einzige ins HF auf Herbst 1801. Wer auf Beißners Notiz hier (StA 2.2, 743, 2–7) einen sorgfältigen und unparteilichen Blick wirft, wird sehen, dass Beißner nur den allerersten, jetzt verschollenen Entwurf von Der Einzige vom Herbst 1801 datiert (eine Stellungnahme, mit der sich Verf. immer noch, zumindest in teilweiser Übereinstimmung findet). Jetzt kann man nahelegen, dieser erste (vermutete) Entwurf könnte auch im Spätsommer oder im frühen Herbst 1802, allerdings vor der Reise nach Regensburg, niedergeschrieben worden sein. Zwar sind dies einzelne Detailfragen, sie sind aber wichtig, wenn man bedenkt, dass diese und verwandte Ideen einer neuen Generation von Studenten zum anfänglichen Standard ihres Studiums werden. Abgesehen davon ist die MA begrüßenswert, nicht zuletzt auch als Vorbereitung zur Benutzung und Auswertung der FHA und der mit dieser nahe verwandten Kritischen Textausgabe (KTA). Dieter Burdorf Burdorfs Studie ist eine interessante und höchst ungewöhnliche Behandlung des HF. Ihr Brennpunkt ist HF, 73–76, eine Stelle also, die Burdorfs Meinung nach auch unter Mitbetrachtung der berühmten Stelle HF, 17 die allerwesentlichsten der Homburger Seiten darstellt. Hier, unter den sibyllinischen Zeilen Das Nächste Beste (Titel) und »Offen die Fenster des Himmels/ Und freigelassen der Nachtgeist« (HF, 73, 1–3), folgen Entwürfe so dicht und deutungsbedürftig aufeinander, wie vielleicht nie zuvor. Auf HF, 75 steht z. B. oben: »Die apriorität des Individuellen/ über das Ganze« (HF, 75, 1, 3); unten auf derselben Seite: »und mich leset o/ Ihr Blüthen von Deutschland, o mein Herz wird/ Untrügbarer Krystall an dem/ Das Licht sich prüfet« (HF, 75, 54–57). Das sind Zeilen, auf die sich schon Sattler am Anfang seiner Arbeit bezogen hat (vgl. FHA Einl., 71–92). Diesen Zeilen und den dazwischen liegenden Entwürfen widmet Burdorf eine Ar-
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beit eingehenden textkritischen und interpretierenden Kommentars. Jedes Wort und Zeichen auf diesen vier Seiten wird auf dessen relative Stellung im HF, auch auf seinen topographischen und semantischen Wert hin mit Akribie untersucht – dies alles unter einer Rubrik »Interpretation« (179–544), wobei Überschrift, Bruchstück, linearer Text wie Stichwort unter die Lupe kommen. Dazwischen erfolgen sorgfältige zusammenfassende Deutungen der einzelnen Handschriftseiten. Besonders lobenswert ist Burdorfs Anhang: hier ediert er HF, 73–76, zusammen mit seiner eigenen, an der Hs. orientierten Textkonstitution, aber weiter geht es nicht. Es urteile also der Leser selbst. Was hier durchweg wieder klar vor Augen kommt, ist der Charakter der Sache selber, als die sich das Manuskriptkonvolut des HF erweist: seine Beschaffenheit zeichnet das HF als eine von H.s am schwersten lesbaren und konstituierbaren Hss. aus. In einem gewissen Sinne lässt sich sagen, dass Burdorf mit Helling rath, dem er hier folgt, recht hat: textuelle und literarische Deutung bedingen sich wechselseitig und hängen voneinander ab. Literatur Ausgaben
Hel. [Bd.] 4; Hermann Kasack 1920; Zk. 1, 5; Nachlaß Franz Zinkernagels; StA 1.2, 2.1, 2.2, 6.1, 7.1; FHA Einl.; FHA 6, 7, 8; FHA Suppl.-III; Dietrich Uffhausen; MA 1, 3; KA; Dieter Burdorf; D. E. Sattler [hesperische Gesänge].
zu Entstehung
Burdorf, Dieter: H.s späte Gedichtfragmente, Stuttgart 1993. George, Emery E.: H.’s Hymn Der Einzige, Bonn 1999. Sattler, Dietrich E.: »O Insel des Lichts!« Patmos und die Entstehung des Homburger Foliohefts, in: HJb 25 (1986/87), 213–225. Schmidt, Jochen: Zur Funktion synkretistischer Mythologie in H.s Dichtung Der Einzige, in: HJb 25 (1986/87), 176– 212.
zu Analyse und Deutung
Böhm, Wilhelm: H., Halle 1930, 439–529. Böschenstein-Schäfer, Renate: Die Sprache des Zeichens in H.s hymnischen Fragmenten, in: HJb 19/20 (1975/77), 267–284. Böschenstein-Schäfer, Renate: H.s allegorische Ausdrucksform, untersucht an der Hymne An die Madonna, in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. H.s letzte Homburger Jahre (1804–1806), Bonn 1988, 181–209. Burdorf, Dieter: H.s späte Gedichtfragmente, Stuttgart 1993. Franz, Michael: »Vaterländische Helden« im Spätwerk H.s, in: HJb 18 (1973/74), 133–148. Häny, Arthur: H.s Titanenmythos, Zürich 1948, 65. Schmidt, Jochen: H.s Elegie Brod und Wein, Berlin 1968.
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V Werk
Zbikowski, Reinhard: H.s hymnischer Entwurf Dem Fürsten, in: HJb 22 (1980/81), 232–273. Zbikowski, Reinhard: Und der Fürst. Accessus zu einem Thema des späten H., in: Jamme, Christoph/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus, Bonn 1988, 211–251.
zur Edition
Allemann, Beda: Besprechung von H. Sämtliche Werke, hg. v. Fr. Beißner, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 69 (1956/57), 75–82. Burdorf, Dieter: H.s späte Gedichtfragmente, Stuttgart 1993. George, Emery E.: Some New H. Decipherments from the Homburger Folioheft, in: Publications of the Modern Language Association of America 80 (1965), 123 ff. George, Emery E.: H.’s Ars Poetica, Paris 1973, 50–59. George, Emery E.: H.’s Hymn Der Einzige, Bonn 1999. Sattler, Dietrich E.: 144 fliegende Briefe, Darmstadt 1981.
Katalog der H.-Handschriften, 93 f., 100. Thurmair, Gregor: Apriorität des Individuellen – ein neues Gedicht H.s?, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 23 (1979), 252–258. Zinkernagel, Franz: Besprechung von Hel., in: Euphorion 21 (1914), 356–363, Euphorion 25 (1924), 274–287. Emery E. George, von dem der Beitrag zum Homburger Folioheft stammt, ist am 1. Juni 2016 verstorben. Sein nach wie vor maßstabsetzender Beitrag erscheint deshalb, abgesehen von der Anpassung an die neue Rechtschreibung, in unveränderter Form. – Das Homburger Folioheft war 2016 Gegenstand der Jahrestagung der Hölderlin-Gesellschaft in Bad Homburg v. d. Höhe. Die Ergebnisse dieser Tagung finden sich dokumentiert im HJb 40 (2016/17). Vgl. die Hinweise in der Gesamtbibliographie unter 7.5: Homburger Folioheft. J. K.
Emery E. George†
34 Entwürfe
34 Entwürfe Es handelt sich bei den hier zu erörternden Fragmenten um die Texte, die im Homburger Folioheft – abgesehen von den überarbeiteten Reinschriften der Elegien und Germanien, den Entwurfsstufen von Der Einzige, Patmos und Die Nymphe/Mnemosyne (vgl. FHA Suppl. III, 21–23 und Franz 2016/17, 9 ff.) – auf den Seiten 28 bis 58 und 63 bis 89 sowie auf Einzelund Doppelblättern bis 1806 überliefert sind. Im 4. Bd. der Ausgabe Hellingraths (posthum 1916) erstmals erschienen, ist eine Datierung kaum oder selten möglich; für die meisten gilt die Rückkehr aus Frankreich 1802 als Datum post quem. Die Entscheidung, im Handbuch außer den Gesängen den Gesangs-Entwürfen ein eigenes Kapitel zu widmen, trägt der Tatsache Rechnung, dass ihre Position im Spätwerk ungeklärt ist, d. h. ihr Verhältnis zu den von H. so genannten vaterländischen Gesängen einerseits und den Nachtgesängen andererseits. Dass diese Texte der Spätphase womöglich poetisch von den Gesängen abweichen sollten, dafür könnte der Befund sprechen, dass ihr Tenor dem der späten Überarbeitungen der Reinschriften am Anfang des Homburger Heftes entspricht. Beißner qualifizierte die Entwürfe als hymnisch (StA 2, 199–258) und sonderte von ihnen nummerierte, schwer zu integrierende Bruchstücke ab; diese Trennung ist dank der Faksimile-Editionen überholt. Da die Forschung für die Gesänge im Unterschied zu den Tübinger Hymnen vom Begriff Hymne mangels hymnischer Merkmale generell Abstand genommen hat – Gaier (2004) bringt H.s Terminus »Vorspiel« in Anschlag –, stellt sich die Frage, welcher lyrische Status den Fragmenten in freien Rhythmen zuzuweisen wäre. Der Gebrauch des Attributs ›hymnisch‹ kann fortan lediglich eine Tendenz der Texte meinen. In verschiedenen fortgeschrittenen Entwürfen gibt es eine widerspruchsvolle Verbindung von ›pindarischer öffentlicher Rede‹ und Selbstgespräch (Kurz 1996, 179), eine »Diskurs- und Gemeinschaftskonzeption« (Metzger 2004, 240). Brieflich hat der Dichter 1803 den Tenor der von ihm beabsichtigen Sangart gekennzeichnet: »vaterländisch, natürlich, originell« (StA 6, 433, 51 f.), nämlich im Hinblick auf das ›Nationelle, sofern es von den Griechen verschieden ist‹ (StA 6, 437, 25). Auch in den Entwürfen ist eine ›Verfahrungsweise‹ festzustellen, die im Sinne des ersten Böhlendorff-Briefs (1801) Begeisterung und Nüchternheit ins Verhältnis setzt, wobei einige Forscher H.s Äußerung dem Verleger
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gegenüber, er übersetze Sophokles im Interesse des ›Orientalischen‹ der Griechen, d. h. ihres ursprünglichen, aber vernachlässigten Erbes (StA 6, 434, 17), auf seine eigene Praxis anwenden: Er versuche im Spätwerk (vgl. StA 6, 439, 26–30), sich in der hesperischen Dichtung das zu lernende Fremde anzueignen, d. h. zu orientalisieren (Kocziszky 1997, 27; 2009, 111 f.). Die Beantwortung dieser Frage machte Textanalysen der Entwürfe – auch im Vergleich zum Tenor der vaterländischen Gesänge – erforderlich, die noch fehlen. Erkennbar ist ein poetologischer Zweifel H.s und die Bemühung, um »neues zu sagen« (HF 75, Z. 21, vgl. 25, 45), auch eine andere Sprache zu finden (vgl. die späte Randnotiz an der letzten Strophe von Heimkunft: »wie kann ich saagen« (HF 4; FHA 7, 229); Bö schenstein-Schäfer konstatierte eine ›neue Sprache‹ (1975/1977, 268). Martens vertrat 2016 die Ansicht, »dass es bei den sog. ›Korrekturen‹ nicht um Ersetzungsprozeduren, sondern um Erweiterungen des Vorstellungsraums geht, nicht um Wörter und Bilder, die einander ablösen sollen, sondern um Vorstellungen, die in einer simultanen Setzung gleicherweise gelten.« (2016/17, 148) Der Entwurfscharakter, der sowohl für die Form wie für den Inhalt gilt, hat das Urteil veranlasst, diese Texte seien nicht einmal Gedichte in nuce, eher Zeugnisse von H.s krankheitsbedingtem Unvermögen (Kudzus 1969, Hamlin 1988) und daher nicht interpretierbar. Zumeist hält die Forschung daran fest, dass es sich um poetisches Material handelt, das in Gedichten Gestalt gewinnen sollte. Einige sind bemüht, Einheiten zu konstruieren: Uffhausens Ausgabe (1989, Kap. IV u. V.) versucht, strophische, nach Pindar triadisch gegliederte »hymnische« Gesänge zu erschließen, die einem ›Gesetz des Gesanges‹, wie H. eines für den Rhein geltend machte, gehorchen. Sattler konstituierte größere strophische Gedichte, nämlich hesperische Gesänge in einer α- und β-Version (sonderdruck der neuen bremer presse 2001). Sie basieren auf den 288 Segmenten in linearer und chronologischer Anordnung, die die Bände 7 und 8 der FHA (2000) bieten, weil Sattler bei H. seit dem Frühjahr 1803 eine »segmentierte [...] schreibweise« und »einen zerbrochenen gesang« (FHA 8, 537) meinte feststellen zu müssen. Böschenstein wertete einige kleinere, in sich geschlossen erscheinende Entwürfe, etwa Wie Meeresküsten ..., als »Gegenstück zu den von ihm übersetzten und kommentierten Pindarfragmenten« (1996, 219).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_34
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34.1 Der Stoff Während es eine Aufgabe bleibt, die poetische Verfahrensweise der Entwürfe zu klären, konnte der Inhalt, d. h. das Stoffmaterial, das gegeben ist, vielseitig erschlossen werden. Es sind bestimmte Bereiche auszumachen, die mit H.s letzten wichtigen Briefen aus Nürtingen an die Freunde Böhlendorff (StA 6, 432 f.) und Seckendorf (StA 6, 437 f.) auf den Begriff gebracht werden können. H. spricht dort von einem besonderen Studium, das ihn nach seiner Rückkehr aus Frankreich, dessen Klima und Landschaft ihn Griechenland ahnen ließ, »beschäfftiget«. Es betrifft »das Nächste« (Lefebvre 1994, 21): »die heimathliche Natur« (insbesondere die »Wälder«), »das Gewitter«, »das Licht in seinem Wirken«, – die »Architektonik des Himmels«, ›das Vaterland‹ (seine »Verhältnisse und Stände«) und die »Geschichte«. Das Material der Entwürfe entspricht diesen Studienobjekten. Dabei bedient sich H. der Erkenntnisse der Naturwissenschaften (Astronomie, Meteorologie, Geographie, Geologie), der Geschichtswissenschaft, Religionsgeschichte und der Politik, unterstützt durch die Erfahrungen der Frankreichreise, was sich im Motivarsenal niederschlägt (u. a. Beck, Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, Franz, Häny, Honold, Hornbacher, Kirchner, Sattler, Uffhausen, Zbikowski). Es handelt sich um konkrete Hinweise auf ganz bestimmte Zeiten (Mittelalter bis Neuzeit) und Lokalitäten in Deutschland (z. B. Amberg), Frankreich (z. B. Avignon), England (z. B. Windsor), Italien (z. B. Rom) sowie auf die von den Europäern entdeckten bzw. eroberten überseeischen Gebiete, um eine Auseinandersetzung mit dem Orient (Kocziszky 2009, Burdorf 2012/13), während die Antike als Vorbild zurücktritt; sie wird nur in Beispielen mythischer und geographischer Valenz und im Hinblick auf Götterhandlungen vergleichsweise oder beispielhaft einbezogen. Charakteristisch und nachweisbar ist durch das Vokabular, dass H. bestimmte Lexika (etwa Zedler, Iselin) konsultiert hat, was seinen Niederschlag in einer Auflistung von Wörtern und Namen fand, welche wie eine Stoff-Sammlung wirken (Uffhausen 1980/81). Darüber hinaus sind wörtliche Lektüre-»Reminiszenzen« (Beck 1978/79) relevant, die nicht nur die Bibel und die Literatur, sondern auch die anderen Künste und alle Wissensgebiete betreffen.
34.2 Die verschiedenen Schicksale der Heroen (Synchronie) Die Landesheroen Barbarossa und sein Enkel Konradin, deren H. schon in der Elegie Stutgard (V. 49–51) gedachte, werden – neben Peter dem Großen, Kaiser Heinrich IV und seinem Sohn Konrad – zur Rechten auf dem ersten Blatt des Kolomb-Entwurfs (HF 77) namentlich aufgerufen. Das Fragment selbst (Lefebvre 1994; Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 2007, Kap. zu Kolomb; Polledri 2016/17; Honold zuletzt 2017, 51 ff.) nennt einerseits neuzeitliche Entdecker (Vasco da Gama, George Anson, Bougainville) wie auch die Kreuzfahrer, andererseits mythischen Seefahrer wie Jason und Äneas. Den Entdeckungsreisen kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie einer neuen Welt galten, mit der H. am Quai von Bordeaux in Berührung kam, so dass sich sein Weltbild qualitativ veränderte. Er beginnt den Entwurf mit dem indirekten Hinweis auf seine Jugendlektüre (vgl. StA 2, 82, 79– 81), zu der auch Bilder gehörten, und vergleicht die aufgefächerten Eindrücke, die er vermittelt, mit den Karten eines ›Bildermanns‹ auf dem Markt, der von der weiten Welt erzählt (Kurz 2005; Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 2007, 76 ff.). Deutlich wird an diesem Seefahrer-Beispiel, dass H. mit dem Nationellen keineswegs nur das Vaterland im engeren Sinne meint, sondern sogar den europäischen Raum überschreiten will. Denn er erklärt die Entdeckungsreisen »als Versuche, den hesperischen/ orbis, im Gegensaze gegen den/ orbis der Alten zu bestimmen.« (HF 77; FHA 8, 776), wie denn auch Herder die Seefahrer als moderne Fabel-Erzähler und Mythologen im Journal meiner Reise (1769) gewertet hatte. Die Formel im Brief an Seckendorf: »Fabel, poëtische Ansicht der Geschichte« dürfte sich auf solche lyrischen Fallgeschichten beziehen (Franz 2016/17, 15–20). Knaupp (MA 3, 250) äußert die naheliegende Vermutung, dass H. allen namentlich Genannten vergleichbare Gedichte wie Kolomb widmen wollte. Polledri (2016, 177) appliziert auf sie H.s nähere Bestimmung der Hesperier in den Anmerkungen zur Antigonae, dass sie nämlich »unter dem eigentlicheren Zevs stehen« (StA 5, 269, 24 f.). Es gibt in der rechten Kolumne von HF 77 eine theoretische Bestimmung, die erhellend für sein poetisches Programm sein könnte. Sie erklärt, wie er das »Muster eines Zeitveränderers/Reformators/Conradin u. s. w.« darzustellen beabsichtigte: nämlich »alle, als Verhältnisse/ bezeichnend« (Bennholdt-Thomsen/ Guzzoni 2007, 155 ff.). Das Lexem ›Verhältnis‹, das H. in dieser Zeit häufiger gebraucht, kommt im Brief an
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Seckendorf als Substantiv, wie zitiert, aber auch als Prädikat in Zusammenhang mit den Heroen vor: »Die verschiedenen Schiksaale der Heroen, Ritter und Fürsten, wie sie dem Schiksaal dienen, oder zweifelhafter sich in diesem verhalten, hab ich im Allgemeinen gefaßt.« (StA 6, 438, 26–28) Wie Polledri gezeigt hat, geht es – um der Überwindung der Schicksallosigkeit willen, die die Schwäche der Hesperier ist (StA 5, 270, 3) – um die Auseinandersetzung berühmter historischer Gestalten mit ihrem Schicksal. Michael Franz hat anlässlich seiner Quellenfunde zu den ›vaterländischen Helden‹ von »›genetischer‹ Geschichtsbetrachtung« H.s gesprochen (1973/74, 148). Ein konkretes Beispiel für »die Farbe des Schiksaals«, die den Helden notwendig prägt, bietet der Brief an Neuffer vom 12.11.1798 mit dem Römer Brutus: »ein höchstunnatürlicher, widersinniger Karakter, wenn man ihn nicht mitten in den Umständen sieht, die seinem sanften Geiste diese strenge Form aufnöthigten.« (StA 6, 290, 85 ff.) Das Interesse an Brutus gehört in den Kontext des Iduna-Planes. Die Zeitschrift sollte auch, wie H. am 4.6.1799 an Neuffer schrieb, Aufsätze enthalten; bei der ersten Rubrik dachte H. an »karakteristische Züge aus dem Leben alter und neuer Dichter ...«, so z. B. Sapphos oder Shakespeares (StA 6, 323, 22 ff.) – also an Biographisches. Diese Gegenüberstellung von Viten der Antike und der Moderne war vermutlich nach dem Vorbild Plutarchs entworfen, insofern dieser in seinen Biographien römische und griechische Muster konfrontierte: Brutus etwa dem Dion, – Antonius, den H. im Brief als literarische Figur nennt, dem König Demetrius Poliorcetes, welchen er wiederum auf dem Homburger Blatt 77 aufführt. Seine programmatische Akzentuierung (im Brief an Seckendorf) der Verschiedenheit des Nationellen bzw. Hesperischen im Vergleich zu den »Alten« könnte eine solche Gegenüberstellung antiker bzw. orientalischer und hesperischer Charaktere im Auge haben, wie denn das Blatt 77 auch griechische (Jason, Chiron) und römische (Äneas) mythische Heldennamen neben modernen aufzählt – vielleicht dachte er an eine lyrische Version des prosaischen Modells der gescheiterten Zeitschriften-Rubrik? Dazu würde passen, dass H. nach den ersten Namen sogleich den problematischen Effekt einer solchen poetischen Praxis in Rechnung stellt: »Wir bringen aber die Zeiten/ untereinander«. Die Zusammensetzung des Prädikats ›bringen‹ mit dem Adverb ›untereinander‹ meint weder Unterordnung (im Sinne von sub), noch unordentliche Vermischung, sondern kann, so lehrt Grimms Wörterbuch (Bd. 24, Sp. 1538 f.), ein
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›reziprokes‹ Verhältnis von Gliedern im Sinne von ›inter pares‹ besagen. Es lässt sich nicht leugnen, dass H. in den Entwürfen diese Regel praktiziert, wie etwa im Falle Kolomb: Mit dem Murren der Matrosen auf dem Schiff, als Indien immer noch nicht in Sicht ist, wird das Murren des Volkes Israel in der Wüste, auf dem Wege ins gelobte Land, analogisiert (HF 79). Ein anderes Beispiel: Die erste Hälfte des Vatikan-Fragments betrifft die Zeit der Spätrenaissance oder der sogenannten Gegenreformation, das ausgehende 16. Jh., die Verse 25– 29 das ausgehende 18. Jh., nämlich die Kriegshandlungen zwischen Franzosen und Russen im Gotthard-Gebiet, die Verse 30–40 die Zeit der Chandler-Reise in Kleinasien (1764/65), insofern türkisch-mohammedanische, christliche und antike Ruinen zugleich ins Spiel gebracht werden (Bennholdt-Thomsen/Guzzoni, 1999, 137–160). Ein weiteres Beispiel: In dem Entwurf Und mitzufühlen das Leben ... (HF 68) werden die römische Antike Vergils und das heidnisch-nordische Altertum Ossians in den Versen 14/15 vermittelt, wobei H. die Reminiszenz an »Gestalten« seiner eigenen Jugend unmittelbar anschließt; tertium comparationis ist ein lokales Requisit, ein Bach (Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 1999, 69 f.). Die Retrospektive gewinnt dadurch eine prospektive Valenz.
34.3 Die verschiedenen Charaktere der Natur (Syntopie) Die poetische Zusammenschau des Heterogenen, die H. im Falle der Heroen praktiziert, verfolgt er auch im Falle der Naturdarstellung. Nach seiner Frankreichreise erklärt er im Brief an Böhlendorff: »das Zusammentreffen in einer Gegend von verschiedenen Karakteren der Natur, [...] ist jezt meine Freude« (StA 6, 433, 43–46).Während er bisher die antike und hesperische Topographie kontrastierte oder überlagerte (Reitani 2006/07, 25), wählt er in den Entwürfen einen ungewöhnlichen Weg: Er integriert in die heimatliche Natur charakteristische Elemente der fremden Natur, die er in Frankreich kennenlernte – und auch umgekehrt. Dabei kommt eine Differenz zwischen dem vaterländischen Gesang und den Entwürfen zum Vorschein. In Germanien etwa wird die hesperische Landschaft geschildert als offener, für die erwünschte Zukunft empfänglicher Raum, als Adresse für den Adler, der »vom Indus kömmt« (StA 2, 150, 42). In den genannten Entwürfen dagegen versieht H. den nördlich kühlen, nüchternen Ort mit konträren Elementen der Fremde, der südlich feurigen Hemisphäre (Das nächs-
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te Beste), und zwar auch unter Berücksichtigung der jeweils möglichen aorgischen Extreme: hemmungsloses Wachstum (Wenn aber die Himmlischen ...) oder von der Sonne versengtes dürres Land (An die Madonna). Im Raum des geschichtsphilosophisch wertenden Gedächtnisses korrespondieren die »Nabel«-Punkte unterschiedlich kulturell bedeutsamer Topoi (Delphi und Frankfurt) und können deshalb zugleich geltend gemacht werden (Das nächste Beste, Uffhausen 1986, Burdorf 1993, Kurz 1996, Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 1999, 92 ff.). Wie ernst es H. mit der Syntopie und Synchronie war, bezeugt seine zusammenfassende Aussage auf Blatt 75 im Rahmen der heimatlichen Nürtinger Landschaft: »[...] Allda bin ich/ Alles miteinander .[...]« Die Diagnose Allmachtsphantasie/ Omnipotenzvorstellung (Burdorf 1993, 436), auch wenn der Befund Symptom von H.s Krankheit sein könnte, sollte diese programmatische Feststellung einer Vereinigung verschiedener Räume und Zeiten nicht entwerten. Konkret zeigt sie sich etwa am Landschaftsphänomen Berg: wenn H. bei Tübingen – eingedenk der antiken Straße – römische Töne vom Spitzberg einklagt (HF 44) oder auch, wenn er im Madonnen-Fragment den Knochen bei Bad Driburg als »Knochenberg« der Teutoburger Hermannsschlacht mit dem Namen des griechischen, aus dem Gigantenkampf bekannten Berges »Ossa« (vgl. FHA Suppl. III, 122) benennt (Hock 1995, 121 ff.). Im Dienste dieses Konzepts stehen insbesondere auch die Zugvögel des Spätwerks. Während Vögel in den Gesängen die imaginäre Reise oder den Geschichtsgang präfigurieren und in den Nachtgesängen ohnehin fehlen, verdankt sich der besondere Status der Zugvögel in den Entwürfen ihrer geographisch ambivalenten Relevanz: Sie sind in der Fremde und in der Heimat zu Hause (Louth 2013, 90 f.). Die ›erhabene‹ Perspektive der Zugvögel gibt den Blick frei auf »so etwas wie eine ›Weltlandschaft‹« (Port 2002/03, 62) um die Erde: »Immer [...] gehet/ Die Erd’, und der Himmel hält.« (HF 67), wobei H. Zeus unter hesperischen Bedingungen zum »Vater der Erde« (StA 1, 159 f., 87 u. 96; 5, 268, 9) erklärt und den naturgeschichtlichen Prozess der Erde im Blick hat: »Wenn ausgehn will die alte Bildung/ Der Erde, [...]/ [...], wie auf Höhen führet/ Die Erde Gott« (Griechenland, StA 2, 258, 37–40). Im Spätwerk wird mit der Erde eine Muttergottheit konnotiert (Vöhler 2014/15, 123), für die H., wie R. Böschenstein-Schäfer zuerst gezeigt hat, die Figur der Madonna (HF 63–66) ins Spiel bringt (1988, 191). Sie erhält als schützende und »allvergessende Liebe« vo-
rübergehend sogar eine Stellvertreterfunktion (vgl. Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 2007, 179–215). Luhnen konstatierte unter Berufung auf H.s Brieffragment ›Über Religion‹: »Gegen die oftmals behauptete Rechristianisierung des Spätwerks läßt sich das Verfahren experimenteller Remythologisierung ins Feld führen [...]« (2000/2001, 264). Port verortet H.s ›Arbeit am Marienmythos‹ auf dem Hintergrund der religiösen, politischen und literarischen »Marienmode um 1800« (2014/15).
34.4 Dissonante Natur und Geschichte Dass H. sich im Madonnen- und im Titanen-Entwurf ausdrücklich des Mythos vom Götterkampf bedient, wobei er Titano- und Gigantomachie und den Kampf gegen Typhon verschmilzt (Rehm 1943, Häny 1948, Bennholdt-Thomsen 1986/87, Vöhler 1993), ist darauf zurückzuführen, dass der Mythos für ihn den notwendigen Prozess der Erd-Entstehung versinnbildlicht: Für die Bildung der Erde brauchen die himmlischen Mächte das Material aus dem Inneren der Erde. Die hier waltenden göttlichen Kräfte widerstehen der Gestaltung und trachten, sobald sie zustande kommt, sie zu verunstalten. Dieses geogonische Geschehen, das H. als Bändigung des unterirdischen Feuers durch das himmlische auffasst, was ihn als Vertreter des Vulkanismus (Wenn aber die Himmlischen ..., HF 47) ausweist, wählt er als Folie für den Prozess geschichtlicher Umkehr bzw. revolutionärer Veränderung, auf die er wartet (HF 31 f.). Den Bedarf erkennt er an bestimmten Zeichen der Natur: Die Erde ist ›erkrankt‹ (Überarbeitung des Verses 147 von Brod und Wein HF 10), das Meer ›erkrankt‹ (Die Nymphe/Mnemosyne HF 91) und »seufzt« (Sonst nemlich, Vater Zevs HF 36). Beides verrät einen neuerlichen Zustand der Gärung und Unruhe der Natur und ihrer göttlichen Potenzen: Denn über die Erde wandeln Gewaltige Mächte, Und es ergreifft ihr Schiksaal, Den der es leidet und zusieht, Und ergreifft, den Völkern das Herz. (HF 37)
Der Mensch kann nur Zuschauer dieses dramatischen Prozesses sein, und der ihn erkennende Dichter leidet mit. Der Ausgang dieser göttlichen Auseinandersetzung ist durchaus offen, mit den Worten der Anmerkungen zur Antigonae: »[...] ändert in vaterländischer
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Umkehr [...] die ganze Gestalt der Dinge sich [...], und die Natur und Nothwendigkeit, die immer bleibt, [neiget] zu einer andern Gestalt sich [...], sie gehe in Wildniß über oder in neue Gestalt [...]« (StA V, 271). Dass die Aussicht auf ›Gestalt oder Ungestalt‹ (vgl. Mieth 1976, 7 u. 10; Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 2017, 235 f.) unentschieden bleibt, macht auch die Hoffnungen, die an das Vaterland geknüpft waren, fraglich. Aus der Perspektive etwa der Arche-Bewohner nach der Sintflut – einem anderen Mythos der geschichtlichen Katastrophe – ist nur noch die Rede von der Möglichkeit einer Küste, an dem Mensch und Tier »bleiben« können (Der Adler). Der Ort wird hier – im Unterschied zum Quellgebiet der Donau im vaterländischen Gesang Der Ister – nicht einmal mehr pindarisch-mythisch vorgezeichnet. Ein Vergleich mit der hymnischen Beschreibung des vom Boten seinerzeit – dank unerschöpflicher und ahnungsvoller Ströme – ausgewählten Germanien verrät eine Differenz der geschichtsphilosophischen Einschätzung: Wenn der Adler des Fragments jetzt nüchtern konstatiert: »Und was du hast, ist/ Athem zu holen.« (FHA 7, 450; vgl. HF 76: »Nur Luft.«), dürfte es sich auch um eine Reduktionsstufe der vaterländischen Erwartung handeln (Bennholdt-Thomsen/Guzzoni 2004, Kap. Der Adler u. Der kleine Raum; anders Link 1999, 229–232; Braungart 2000/01, 246–262; Doering 2012). Literatur
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Anke Bennholdt-Thomsen
35 Späteste Gedichte
35 Späteste Gedichte Nachdem H. am 11.9.1806 ins Autenriethsche Klinikum in Tübingen verbracht worden war und im Sommer 1807, als unheilbar entlassen, dem Schreinermeister Zimmer und dessen Frau anvertraut wurde (s. Kap. 7), entstanden in dem Turmzimmer am Neckar jene Gedichte H.s, die allgemein als »späteste Gedichte« bezeichnet werden. »[Ä]ußerst mattes Zeug« (StA 7.3, LD 536e) nannte Eduard Mörike diese Spätestgedichte, und sowohl die naiven Leser wie auch die H.Experten früherer Jahre waren bestürzt angesichts der Differenz zwischen dem weitgespannten Sprachduktus der Gesänge (s. Kap. 32) sowie dem der Entwürfe (s. Kap. 34) aus der Homburger Zeit und den meist in simpel erscheinenden gereimten Vierzeilern geschriebenen, stereotyp wirkenden Gedichten der Spätzeit. Die bei den Zeitgenossen festzustellende, fast einhellige Abqualifizierung der Texte, die sich bis ins 20. Jh. fortsetzte, ermöglichte ihre fast ausschließliche Wahrnehmung als Krankheitsdokumente, als Belege für das endgültige Zerbrochensein eines Geistes. Allerdings ist die vor allem biographisch motivierte Zäsur zwischen späten und spätesten Gedichten auch immer wieder verunsichert worden, und wird gerade heute wieder in Frage gestellt. Hellingrath (s. Kap. 1 und 37) spricht z. B. in der Einleitung zum 4. Band seiner Ausgabe (Gedichte 1800–1806) von einem »Riss« zwischen ihnen und führt zu Letzteren aus: »es sind nicht mehr Werke des klar weiterstrebenden – meinetwegen verirrten – künstlerischen Willens, Geschöpfe einer Anstrengung und Spannung, es ist ein entspanntes willenloses Gleitenlassen« (Hellingrath, Bd. 4, XX). Folgerichtig stehen die ab 1807 entstandenen Gedichte im 6. Band der Ausgabe, dort aber treten sie wieder in Zusammenhang mit späten Bruchstücken, d. h. die Grenzziehung zwischen späten und spätesten Gedichten hat sich auch für Hellingraths stilistisch begründete Entscheidungen als problematisch erwiesen. Die lange währende Geringschätzung der Turmgedichte hat sicher mit dazu beigetragen, dass eine vergleichsweise geringe Zahl überliefert ist und viele wichtige Texte verloren gingen.
35.1 Entstehung und Überlieferung Erste Zeugnisse sind aus dem Jahr 1811 erhalten, als H. angeblich einen Almanach plante und »täglich eine Menge Papiers voll« schrieb (StA 2.2, 899; s. Kap. 7). Zeuge ist ein Mitbewohner H.s, der vor dem 7.1.1811 einen »ganzen Fascikel« seinem Bruder August Mayer
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überließ, in dessen Handschrift Verse aus drei Gedichten überliefert sind (Auf den Tod eines Kindes, Der Ruhm, Auf die Geburt eines Kindes, StA 2.1, 264 ff.) sowie jener vielzitierte Vierzeiler Das Angenehme dieser Welt ... (StA 2.1, 267). Der in der letzten Lebenszeit H.s bis in die 1830er Jahre entstandene erste Teil der spätesten Gedichte ist mehrheitlich in Abschriften überliefert, einige wenige Gedichte haben sich als Einzelblätter in H.s Hand erhalten (z. B. Der Mensch: Wer Gutes ehrt ..., Die Zufriedenheit, 273, 278). Die Gedichte weisen sämtlich keinerlei Datierungen von H.s Hand auf, ein einziges ist »Hölderlin« unterzeichnet (Der Mensch: Wer Gutes ehrt ..., 273). Die zweite, spätere Textgruppe ist wohl in der Zeit zwischen 1838 und Juni 1843, wenige Tage vor H.s Tod, niedergeschrieben worden. Die meisten dieser 27 Gedichte tragen fiktive oder tatsächliche Datierungen wie auch die fingierte Unterschrift »Scardanelli« und bilden aus vielerlei im Weiteren auszuführenden Gründen eine Art Zyklus, obwohl sie, soweit erhalten, auf Einzelblättern von H.s Hand überliefert sind oder in einzelnen Abschriften. Auch von diesen Gedichten hat es nie eine Sammelhandschrift gegeben. Viele der spätesten Gedichte wurden auf Wunsch von Besuchern und zum Teil auch in deren Anwesenheit geschrieben; durch sie wurden Datierungen festgehalten, auf den Originalen oder in den Abschriften, und es gibt so etwas wie Entstehungsprotokolle von einzelnen Gedichten. So berichtet auch Ernst Zimmer, dem wir Kunde von mehreren Gedichten verdanken: »Ich foderde ihn dazu auf mir auch wieder etwas zu schreiben, er machte nur daß Fenster auf, that einen Blick ins Freue, und in 12 Minuten war es fertig.« (StA 7.3, LD 528) In einem Brief Zimmers an H.s Mutter vom 19.4.1812 ist nicht nur das Gedicht Die Linien des Lebens sind verschieden (StA 2.1, 268) überliefert, sondern der Brief enthält auch einen Bericht über den ›Anlass‹ zu diesem Gedicht, ein Gespräch H.s mit Zimmer angesichts einer Tempelzeichnung. Wiederum betont Zimmer das Augenblickshafte der Schreibhandlung: »und in der nehmlichen Minute schrieb Er mir folgenden Vers mit Bleistift auf ein Brett« (StA 2.2, 900). In die breitere Öffentlichkeit gelangten die meisten der spätesten Gedichte erst mit großem Verzug. Christoph Theodor Schwab nahm eine Reihe von ihnen in die Ausgabe von 1846 auf, einzelne Gedichte wurden, meist in biographischem Kontext, in den späteren Jahrzehnten des 19. Jh.s gedruckt, Wilhelm Lange veröffentlichte Gedichte in seiner Pathographie als Beleg für H.s Krankheit (Der Frühling: Es kommt der neue ...,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_35
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Griechenland: Wie Menschen sind ...). Ein Großteil wurde erst im 20. Jh. veröffentlicht (s. Kap. 1). Einen Sonderfall stellt der dreiteilige Text dar, der, mit den Worten »In lieblicher Bläue ...« beginnend, 1823 auf den letzten Seiten von Wilhelm Waiblingers Roman Phaeton stand. Dort ist er Produkt des wahnsinnigen Bildhauers Phaeton und wird mit Sätzen eingeleitet, die das Vorbild H. nur schwach maskieren: »Alles, was er bekommen konnte von Papier, überschrieb er in dieser Zeit. Hier sind einige Blätter aus seinen Papieren ... Im Original sind sie abgetheilt, wie Verse, nach Pindarischer Weise.« (StA 2.2, 991) In seinen Tagebuchaufzeichnungen vom 11. August 1822 bekennt Waiblinger, »Hölderlins Geschichte« benutzt zu haben, und es ist davon auszugehen, dass den oben genannten Texten Gedichte H.s aus den Jahren 1822 und zuvor zugrunde liegen. Friedrich Beißner führt die Prosagedichte noch unter »Zweifelhaftes« in Bd. 2.1 auf, nicht zuletzt, weil die von Waiblinger selbst erwähnte Versgestalt nicht mehr kenntlich ist und Bearbeitungen Waiblingers anzunehmen sind. Die Frankfurter Ausgabe nimmt die Texte in das Corpus der Dichtungen nach 1806 auf und schlägt eine Datierung auf die frühen Jahre 1807/08 vor. Waiblinger besuchte H. am 3.7.1822 zum ersten Mal und im Juni 1823 fand H.s erster Besuch in Waiblingers Gartenhaus auf dem Österberg statt. Waiblingers Aufsatz Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn, der erste biographische Versuch, erschien 1831, ein Jahr nach Waiblingers Tod. Er enthält viele Details über den Alltag H.s in den 1820er Jahren.
35.2 Analyse und Deutung Das halbe Hundert der spätesten Gedichte ist also in den Turmjahren in Tübingen entstanden (1807– 7.6.1843; s. Kap. 7). Die chronologische Abfolge ist nur teilweise gesichert. Wie zuvor erwähnt, ergibt sich ein deutlicher Einschnitt mit dem frühesten »Scardanelli« unterzeichneten und fiktiv datierten Gedicht Der Frühling: Es kommt der neue Tag (StA 2.1, 286), vermutlich aus dem Jahr 1838. Der heute 27 Texte umfassende, in den letzten fünf Lebensjahren, teilweise erst kurz vor dem Tode, entstandene Scardanelli-Zyklus unterscheidet sich von den schon genannten Kriterien abgesehen, maßgeblich von den in den ersten dreißig Turmjahren verfassten Gedichten. In der Forschung wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass für die heutige Wertschätzung der Gedichte die Erfahrung der lyrischen Moderne von Georg Trakl
bis Paul Celan mitverantwortlich sei (s. Kap. 54). Diskontinuität, hohe Rekurrenz schlichter Bilder in Einzeltext und Zyklus, Parataxe, Simplizität der äußeren Form, Ichverschweigung und Ichmaskierung sind Charakteristika der spätesten Gedichte H.s wie auch der nachsymbolistischen Lyrik. Doch treffen sie für die erste Gedichtgruppe nur sehr bedingt zu. So finden wir unter diesen Gedichten noch mehrere alkäische Oden (An Zimmern, StA 2.1, 271; Der Frühling, 272; Wenn aus dem Himmel ..., 269) und in den alternierenden Reimgedichten, die dem Typus der Scardanelli-Gedichte entsprechen, variieren Metrum und Taktzahl (Trochäus/ Jambus; drei-, vier- oder fünffüßig) noch stark. Sehr unterschiedlich ist die syntaktische Struktur der früheren Gedichte; einerseits finden sich Syntagmen, die eine Strophe von acht Versen überspannen, wenn auch in mehrfach wiederholten, parallelen Läufen (Das fröhliche Leben, 274 f., 5. Strophe: »Landschaft ... wo ... wo ... wenn ... wo ... wo«). Hier führen die Parallelismen, die eine »Landschaft« entwerfen, noch zur zusammenfassenden Aktivität des Sprechenden: »wo ... Geh’ ich heim zulezt .../ Dort nach goldnem Wein zu sehn.« Andererseits gibt es asyndetische Reihungen in dem sicher ebenfalls recht frühen Gedicht Freundschaft, Liebe, Kirch und Heilge, Kreuze, Bilder, das Eduard Mörike, von dem »matte[n] Zeug« der späten Gedichte sprechend, ausnimmt und als »diabolisch naiv« bezeichnet (StA 2.2, 897). Auffällig ist an diesem Gedicht auch die noch wirksame Ausdifferenzierung des »Menschen« nach Alter, Geschlecht, Beruf oder Sozialstatus, die auch in anderen Gedichten vor 1838 nachweisbar ist (Der Kirchhof: »Mann, Frau, Pfarrherr«). Die früheren Gedichte weisen auch »konkrete irdische Spuren menschlicher Natur« auf (Böschenstein 1965/ 66, 54), Gebäude und konkrete Gegenstände (»Schenke«, »Schilde«, 274, Vers 11; »Turm«, »Glockenschlag«, 275, Vers 28; »Fenster«, »Glas«, 277, Vers 4; »Kirch«, »Altar«, 277, Vers 13 f.). Besonders auffällig ist, dass nur in den Gedichten vor 1838 der »Steg«, als übergreifender, Ufer verbindender, für den Menschen begehbarer über die zahlreichen Gewässer führt, die in den Scardanelli-Gedichten zwar noch Teil der Wortlandschaft sind, jedoch unüberbrückbar. Auffällig ist auch, in diesen Zusammenhang gehörend, die größere Konkretheit der Naturelemente, der Nahblick, der sie ermöglicht. So gibt es nicht nur »Bäume«, sondern »Eichen« und »Tannen« (269), »Veilchen« (269) und den »Halm« (271), selbstverständlich die »Rebe« und auch den ›Zug der Schafe‹, der im Gedicht von 1824 Wenn aus dem Himmel ... (269) sicher mit dafür verantwortlich ist, dass Mörike von ihm sagt, man dürfe es »ohne
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Frage zu dem Lieblichsten zählen, was sich unter dem Wust dieser traurigen Spätlinge fand« (StA 2.2, 901). Von größter Bedeutung aber ist die Tatsache, dass erst die ichmaskierenden Scardanelli-Gedichte allesamt ichverschweigend sind. Am stärksten ich-setzend ist das für Zimmer geschriebene Gedicht aus dem Jahre 1812 Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossen ..., in dem das Ich in der Negation noch einmal auftrumpft: »Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!« (StA 2.1, 267, Vers 4). Auch die Gedichte An Zimmern (271), Das fröhliche Leben (274) und Der Spaziergang (276) sprechen noch in der ersten Person Singular. Dementsprechend ist der Bereich menschlicher Gefühle viel stärker und vielfältiger präsent (»Entzüken«, »Freude«, »Wonne«, 272), neben der »Freundschaft« die »Liebe«, vor allem aber existieren »Herz« und »Seele« als Sitz menschlicher Leidenschaft und menschlichen Empfindens (265, 269; 266, 271). Auch gibt es noch, als Ergänzung und Entsprechung der Ich-Instanz eine göttliche: »Was hier wir sind, kan dort ein Gott ergänzen« (An Zimmern, 268, Vers 3), in anderen Gedichten als »Himmels Vater« (266), »Gott« (265) oder »Gottheit« (276) bezeichnet. Insgesamt als Ausnahme zu betrachten ist das umfangreiche Rollengedicht in Odenform Wenn aus der Ferne ... (262 f.). Das mit Diotimas Stimme redende und ein Du ansprechende Gedicht ist im Anschluss an ein spätes Bruchstück zum Hyperion überliefert. Das achtseitige Manuskript von H.s Hand befand sich im Besitz Wilhelm Waiblingers, könnte also aus der Zeit des Erscheinens der zweiten Auflage des Hyperion (1822) stammen, die H. so erregte. Plausibler scheint ein früheres Entstehungsdatum, das in Beißners Platzierung des Gedichts impliziert ist. Die Herausgeber des 9. Bandes der Frankfurter H.-Ausgabe nehmen mit guten Gründen einen Entstehungstermin in H.s ersten Jahren im Hause Zimmer an. Spricht das komplexe Rollengedicht im Rückbezug auf die Liebe Diotimas zu Hyperion oder Susette Gontards zu H. (vgl. Liaisons) in seiner ausgeprägten Appellfunktion noch so direkt den Leser an, dass die geringfügigen Irritationen einiger Verse die Lektüre nicht behindern, so irritieren die 27 Scardanelli-Gedichte in vielfacher Weise. Ihre seltsam unlebendige Form, die Stereotypie der Titel, die hohe Rekurrenz der Formulierungen, die häufige Inkohärenz, der augenscheinliche Wechsel zwischen poetischem Naturbild und leeren, abstrakten Formeln wirken erst einmal prohibitiv. Wäre da nicht der Name des Verfassers »Hölderlin«, nicht die Rätsel eindeutig fiktiver Datierungen wie »d. 15ten Nov. 1759.« und des fingierten Namens »Scarda-
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nelli«, die Reibung zwischen Autor, Text und Persona, so käme der Umschlag von Irritation zu Faszination nicht zustande, die zunehmend positive Rezeption der Gedichte nach 1945 wäre nicht möglich gewesen. In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal auf Bö schensteins wichtige Feststellung hinzuweisen, dass die heutige Lektüre gerade der Scardanelli-Gedichte »von der an Beispielen moderner Dichter gewonnenen Einsicht aus[geht], daß Geisteskrankheit und gültige Poesie einander keineswegs auszuschließen brauchen«, und dass unsere »Gewöhnung an Bilderfolgen, denen auf den ersten Blick keine sinngebende Steurung anzumerken ist, gelehrt [hat], einem zunächst befremdenden Zusammenhang seine eigene Gesetzlichkeit zu entringen.« (Böschenstein 1965/66, 36) Doch wirkt die Faszination durch das historische Dichter-Ich, durch den Turmdichter als Schreiber und maskierter Sprecher dieser ichlosen, ichverschweigenden Gedichte weiter, werden die Gedichte sicher – jenseits professioneller Lektüre – vorwiegend als heute eher fesselnde Dokumente einer Verletzung, einer Verstörung gelesen, und der Kunstcharakter wird vernachlässigt. Diese biographische Lesart wird ebenfalls von Zeitzeugen bestätigt, so von Wilhelm Waiblinger, der von »manche[n] schöne[n] Bilder[n]« spricht, die H. »frischweg aus der Natur hohlte, indem er von seinem Fenster aus den Frühling kommen und gehen sah« (StA 7.3, LD 499). Solche Entstehungslegenden scheinen Bestätigung in den Überschriften der Gedichte zu finden, die häufig Jahreszeiten bezeichnen (2/3 aller Texte) und in zwei Fällen die von Waiblinger geschilderte Situation: Aussicht. Doch wird in diesen Gedichten entgegen der gesetzten Erwartung kein Landschaftsraum kenntlich, tritt nichts Individuelles in des Dichters und des Rezipienten Blick: Ebene, Felder, Strom, Bach, Gebirge, Berge, Wälder, Himmel, Wolken, Sterne, allgemeine Bezeichnungen, kaum oder nur stereotyp qualifiziert, wie wir sie aus Gedichten Johannes Bobrowskis kennen: Abends, der Strom ertönt, der schwere Atem der Wälder, Himmel, beflogen von schreienden Vögeln, Küsten der Finsternis, alt, darüber die Feuer der Sterne. (Der Wanderer)
Aufgrund der Einschränkung von H.s Lebensraum und seines Anschauungshorizontes in den Jahren
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1838–1843 auf das Zimmersche Haus und dessen allernächste Umgebung ist es allerdings möglich, das Allgemeine zu konkretisieren: »Hölderlin war und ist noch ein großer Natur Freund und kan in seinem Zimmer daß ganze Näkerthal samt dem Steinlacher Thal übersehen.« (StA 7.3, LD 528) Ernst Zimmers Feststellung benennt den Landschaftsausschnitt, das Angeschaute, mittels dessen der Leser und erst recht der Ortskundige das Allgemeine individualisieren und benennen kann. Die Texte selbst geben dazu keinerlei Anlass, weisen solche identifizierende Lektüre Vers um Vers zurück. Wie schon erwähnt, sind die 27 nach 1838 verfertigten Gedichte ichlos und ohne direkten Adressaten. Eine Spur beider findet sich noch in einem auf den »28. Juli 1842« datierten Gedicht, das ein »uns« kennt und nennt. Auch die letzten Spuren des Gottesnamens sind gelöscht, geblieben sind – in großer Allgemeinheit der Formulierung – »der Mensch« und »die Natur« und, in Verbindung zu beiden stehend »Leben« und »Geist«. So tragen andere Gedichte Titel wie Der Mensch (StA 2.1, 302), Höheres Leben (289), Höhere Menschheit (290) und Der Zeitgeist (310). Keine zeitliche Differenzierung ist festzustellen, Geschichte existiert in den Gedichten nicht, geblieben ist die »Alleinherrschaft des Präsens und einer zugleich perfektischen und passiven Zeitform« (Böschenstein 1965/66, 47). Der Einheitlichkeit der Zeitform wiederum entspricht die formale Einheitlichkeit der Gedichte: ein- bis dreistrophige reimende Vierzeiler, durchgehend jambisch, fünf- oder sechstaktig, zehn- bis zwölfsilbig mit einer Tendenz zur Zäsur vor den letzten sieben Silben. Es dominiert der Paarreim, es finden sich aber auch, vor allem in den ersten Strophen, umarmende Reime und Kreuzreime, wobei es sich fast ausschließlich um orthographisch reine Reime handelt. Die strikte formale und metrische Geschlossenheit war H. sehr wichtig und – der Überlieferung nach – ohne größere Schwierigkeiten zu verwirklichen. G. W. Fischer, ein weiterer wichtiger Zeitzeuge, schildert das »Gesichtsaufleuchten« des »mit den Fingern der linken Hand die Verse auf dem Pult skandirend[en]« Dichters (StA 7.3, LD 608, 295, 301), und andere Berichte wie auch die Handschriften selbst belegen, dass H. seine späten Texte ohne Korrekturen niederschrieb, und dass das in denkbar kurzer Zeit geschah, »12 Minuten« zwischen Aufforderung und Vollendung. Deutet dies alles schon auf einige, wenn auch mechanische Kunstfertigkeit des kranken Dichters hin, so kann die genaue Analyse poetische Verfahren aufdecken, die angesichts der
überlieferten Sprachstörungen des interagierenden Dichters recht erstaunlich sind. Die fiktiven Datierungen der Gedichte verweisen erst einmal auf eine ›Verrücktheit‹ in der Zeit, doch verblüfft die innere Konsequenz der Zahlenfolgen (vgl. Jakobson 1976, 33 f.). Als Beispiel wäre auf die hohe Frequenz der Zahl 24 hinzuweisen, die allein viermal in Kombination mit der Jahreszahl 1748 erscheint, wobei die Verdopplung von 24 zu 48 eine Rolle spielen könnte. Die als Zeichen des Selbstverlusts gelesene Unterschrift »mit Unterthänigkeit Scardanelli« erschüttert, es bietet sich aber zugleich die Lesart der bewussten Maskierung, eines höchst kunstvollen Namensversteckes an. Jakobson bescheinigt H. in seiner epochemachenden Analyse der Spätestgedichte ganz allgemein den Hang zum Anagramm und belegt dies mit vielen, meist überzeugenden Beispielen. Schon im Hyperion sieht er die Identität von Held und Autor im Namensspiel »Hyperion« (H..eri.n)/»Höl- derlin« (H... er.in) angedeutet, in »Scardanelli« aber den eigenen Namen verborgen durch Metathesis nach dem ersten Vokal: -lderlin (1234567)/-rdanelli (4273156) (Jakobson 1976, 31 f.). Andere haben in jenem Namen ein Element der Selbsterkenntnis zu entdecken gemeint, heißt doch italienisch ›scardassare‹ Wolle kämmen, und bezeichnet damit eine Tätigkeit, die häufig von Schwachsinnigen oder Geisteskranken ausgeübt wurde. Ein noch stärkeres Element der Spiegelung und Distanz zu sich selbst wäre in dem fingierten Namen enthalten, würde er willentlich auf Molières »Sganarell«, eine Komödienfigur untertänigen Kriechertums, anspielen. Ein solcher Namensbezug würde die These von H.s Krankheit als Verstellung stützen oder, besser gesagt, voraussetzen. Kenntnis der Komödien Molières scheint für H. nicht belegt zu sein. Allgemein weist Jakobson auf die Bedeutung paronomastischer Stilmittel (Lautumstellung) in den Spätestgedichten hin. H. zerschlägt dabei Wörter und setzt sie neu zusammen (»Inn – erheit/erheit – ert«), ein Verfahren, das in der Lyrik der Moderne einem ›Dichten aus der Sprache heraus‹ subsumiert würde. Jakobson spricht davon, dass eine poetische Etymologie die späteste Wortkunst H.s beherrsche. Als Beispiele sollen im Folgenden zwei Jahreszeitengedichte genauer betrachtet werden, und zwar Der Frühling (StA 2.1, 298) und Der Herbst (299), eines von sieben Frühlings- und eines von nur zwei Herbstgedichten; das erste mit einer der seltenen, möglicherweise korrekten Datierungen »d. 15 Merz 1842« gepaart mit der Unterschrift »Scardanelli«, das andere ohne dieselbe, doch mit der fiktiven Datierung »d.
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15ten Nov. 1759.«, knapp zehneinhalb Jahre also vor H.s Geburt. Das Frühlingsgedicht befand sich ursprünglich wohl im Besitz von Chr. Th. Schwab und wurde 1923 veröffentlicht, das Herbstgedicht trägt auf der Rückseite der Handschrift die Datierung von unbekannter Hand: »Tübingen d. 12. Juli 1842« und wurde 1927 von Stefan Zweig publiziert. In diesen beiden Gedichten sind die Landschaftselemente unterrepräsentiert (Tal, Strom, Felder, Blüten, Früchte). Zwar nennt das Herbstgedicht die umfassenden Begriffe »Aussicht« und »Bild«, die auf Angeschautes verweisen, in beiden Gedichten baut sich jedoch kein Raum auf, es wird keine Landschaft kenntlich. Dass das auch anders sein kann, zeigt ein Sommergedicht, das, wahrscheinlich nur einen Tag später als das Herbstgedicht entstanden, einen etwas anderen Typus vertritt (StA 2.1, 300). Hier geht die »Aussicht« auf eine gestaffelte Landschaft mit Höhe und Tiefe, Vorder- und Hintergrund, wobei vor allem das in diesen Gedichten so seltene deiktische »dort« eine wichtige Funktion hat: der Blick geht von der Ferne in die Nähe, von den fern grünenden »Berg[en]« zum nahen Grün der »Bäume« und zum Detail des »Laub[es]«, die Bewegung geht von der Horizontalen zur Vertikalen, zur doppelten Horizontalen und zurück zur Vertikalen mit umgekehrter Richtung (»Im Thale ... an hoher Seite ... weit umher ... Thales Breite ... gebreitet ... dort ... hinunter gleitet«). Die ›Botschaft‹ des Frühlings- und Herbstgedichtes lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Natur als sich zeigende und erscheinende ist Sinnbild der Vollkommenheit des Lebens. Die Gedichte verweisen allesamt auf den Zeichencharakter der angeschauten Natur und ihrer Bilder. Das dichterische Subjekt aber lebt in der Abgeschiedenheit des Innenraums, hinter dem Grenze setzenden Fenster, es schaut der Natur zu, ist aber nicht einbezogen (Böschenstein 1965/66, 48), in H.s Worten: »Von der Natur getrennt und unbeneidet/ Als wie allein ist er [...]« (Der Mensch (Wenn aus sich lebt ...), 302). Abgeschieden sind der an der Seele nagende Gram des Mannes (»Wenn nicht der Gram an einer Seele naget/ Und froh der Mann[...]«, Der Frühling (Wie selig ists ...), StA 2.1, 283), die »Klage« (z. B. Der Herbst (Die Sagen, die der Erde sich ...), 284, V. 16, Der Frühling (Es kommt der neue Tag ...), 286, V. 8) sowie »des Zweifels dunkle Frage« (Aussicht (Der offne Tag ist ...), 287, V. 8), verabschiedet die exzentrische, heroische Existenz des Menschen zu Gunsten eines Lebens aus der Ruhe der Natur. Im »Glänzen der Natur« (Der Herbst, 299, V. 1) erscheint das höhere Leben des Geistes, darum ist alles draußen »munter«, »hell«, »heiter«, darum herrscht »Frieden« und »Freu-
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de«, ist der lärmende »Schall« zu »frohem Rauschen« gedämpft und die Wärme der Sonne »mild«. Gustav Schwab war wohl der Einzige, der in den spätesten Gedichten »Hölderlins ganzes Genie« wiederfand (StA 7.3, LD 553), während sonst die »Einfalt der Sprechweise, zumal der Gedankenverknüpfungen« (Böschenstein, 39) an den Spätestgedichten hervorgehoben wurde. Ihre genauere Betrachtung anhand der beiden Beispielgedichte erweist, dass es in beiden Texten keine »dem Verstande unzugängliche[n] Wort-Rhythmen« (Bettina von Arnim, StA 7.3, 255) gibt. Die syntaktische Gliederung ist klar, auch von reiner Parataxe kann keine Rede sein. Beide Gedichte weisen einen jener neutralisierten konditional-temporalen »wenn«-Sätze auf, mit denen eine ganze Reihe der spätesten Gedichte beginnen: »Wenn neu« (Der Frühling (Wenn neu das Licht ...), 298, V. 1) und »Wenn schon ... dann« (Der Herbst (Das Glänzen der Natur ...), 299, V. 10). Merkwürdig ist dabei, dass die temporale Qualität durch »neu« und »schon ... dann« zwar verstärkt wird, aber durch das Partizip Präteritum »gezeiget« (298, V. 1) und durch die Abstraktheit des reflexiven Vorgangs (»mit Leere sich die Felder ... vertauschen«, 299, V. 10) fast aufgehoben wird. Zeitlich ähnlich schwebend ist der zweite Temporalsatz (298, V. 4 »nachdem ... geneiget«). Auch das Herbstgedicht gliedert sich in einfache Haupt- und Nebensätze, mit einem maßgeblichen Unterschied. Die gekreuzt parallel gebaute erste Strophe, markiert durch das zweimalige »Wo« am Versbeginn (V. 2 und V. 4), steht in Spannung zu dem umarmenden Reim (V. 1 und V. 4). Das auffällige Enjambement zwischen zweiter und dritter Strophe beendet eine Reihe von fünf Aussagesätzen, die in Vers 5 ihren Ausgang nimmt und, jeweils im Enjambement nach der Zäsur beginnend, in einer Art Hakenstil die Strophe verspannt und bis zu jenem »Wenn« von Vers 10 dynamisiert. Die in den Spätestgedichten ungewohnte Dynamik wird dadurch verstärkt, dass ausnahmsweise hier zwei transitive Verben mit Objekten stehen: »die Sonne wärmet/ Den Tag«, »die Lüffte wehen/ Die Zweig’«. Dass andererseits dieser Aktivität und Dynamik vier reflexive Konstruktionen gegenüberstehen, ist typisch für die Strukturierung der beiden Gedichte – und aller anderen: Ausgewogenheit, Auflösung von Spannungen, Ausgleich durch Umschläge, Vereinigung von Gegensätzen. Die Wiederholung zentraler Wörter im Einzelgedicht wie auch die sich damit ergebenden Entsprechungen und Kontraste fallen jedem Leser auf. Betrachtet man Wortreihen wie ›Licht – Regen – Erde –
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Himmel‹ oder ›Licht – Sichtbarkeit – helle Unterschiede – betrachtet: auf Vollkommenheit achtet‹ so besticht die auffällige Klarheit, Gerichtetheit und Dichte der Textur, die Bewusstheit der poetischen Verfahren. Trotz aller oberflächlichen Stereotypie belegen sie den Kunstcharakter der Gedichte. Von der Alchimie der Laute, der Vokale vor allem, kann sich jeder Leser durch lautes Sprechen der Verse selbst überzeugen. Auf Beispiele sei immerhin hingewiesen, so auf die Reihe der ei-ü-Laute in den semantisch wichtigen Wörtern (Der Frühling) »gezeiget – Frühling – grüne -Blüthen – Weiß – heitrer« oder die o-Kette in Der Herbst: »Wo – Wo – frohem – Sonne – frohem – schon – goldne«, der gegen Ende (V. 10) die der geschlossenen e- und i-Laute entgegenwirkt: »Leere – Felder – Sinn – hellen – Bildes – lebet – Bild – schwebet«. Auffällig ist sicher der noch einmal zusammenschauenden Lektüre der beiden Gedichte die ›Helligkeit‹, die bei einem Frühlingsgedicht weniger erstaunt als bei einem Herbstgedicht, das zugleich Tages- und Jahresende thematisiert. Auffällt weiterhin, wie diese Helligkeit überstrahlt wird vom »Glänzen«, das sowohl als konjugiertes Verb vorkommt als auch als substantivierter Infinitiv und als Substantiv »Glanz«. Verbleibt das Verb in der Anschaulichkeit eines Vorgangs »Von Frühlingsreegen glänzt das grüne Thal« (Der Frühling, V. 2), so führt der substantivierte Infinitiv in die Abstraktion: »Das Glänzen der Natur« (Der Herbst, V. 1), und das Substantiv hat sich so weit verselbständigt, dass »Früchte sich mit frohem Glanz vereinen« können (Der Herbst, V. 4). Das Geistige kommt in der Natur zur Erscheinung und verselbständigt sich, löst sich ab. Dem »frohen Glanz« aber entspricht die »goldne Pracht«, und diese steht nicht umsonst im letzten Vers des Herbstgedichtes an eben der Stelle, an der im Frühlingsgedicht »Vollkommenheit« steht: Ein »Bild«, das »goldne Pracht umschwebet«, ist Zeichen für die »Vollkommenheit des Lebens«. Weitgehend bilder- und menschenlos sind hingegen die sechs Winter-Gedichte. In ihnen herrschen der »Glanz« der reinen Leere, Dauer und Schweigen (»Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder/ Der Jahreszeit, so kommt des Winters Dauer/ ...«: Der Winter (Wenn ungesehn ...) (von H. dat. auf 1849), 303). Ist auch der »Schimmer/ Der prächtigen Natur vorüber« (Der Winter (Wenn sich das Jahr ...) (dat. auf 1676), 304), so ist andererseits die Strahlkraft vom »Blau des Himmels« (Der Winter (Wenn sich der Tag ...) (dat. auf 1743), 305), vom »hohen Sonnenstrale« (Der Winter (Wenn sich das Laub ...) (dat. auf 1841), 295) und vom »blaiche[n] Schnee« (Der Winter
(Wenn blaicher Schnee ...) (undat.), 294) umso größer, und in der Zeitlosigkeit des Winters ereignet sich ein besonderer »Glanz« – »Es glänzt das Fest den Städten aus den Thoren« (Der Winter (Wenn sich das Laub ...) (von H. dat. auf: »d. 25 Dezember / 1841. / Dero / unterthänigster / Scardanelli.«, 295.) – Weihnachten, die Christgeburt am 24. Dezember.
35.3 Rezeption Die spätesten Gedichte H.s stehen bis heute nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Von den Zeitgenossen und Herausgebern des 19. Jh.s – mit der einen, wenn auch schwach dokumentierten Ausnahme Gustav Schwabs – mit Bedauern wahrgenommen als Zeugnisse der endgültigen Zerrüttung der Geisteskräfte, spärlich überliefert und in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen publiziert, wurde ihnen der Kunstcharakter weitgehend abgesprochen. Einzelne Bilder und Wendungen schienen zwar die frühere Höhe zu halten, doch verwirrte die oberflächlich wahrgenommene, fast kindliche Schlichtheit. Fingierte Unterschrift und fiktive Daten bestätigten die Diagnose. Auf die fatale Wirkung von Langes Pathographie wurde schon hingewiesen, ebenso auf Hellingraths mangelndes Verständnis und Interesse an den spannungslosen Reimgedichten. Die Entdeckung der späten Gesänge durch Hellingrath und ihre begeisterte Rezeption, die jeweils durch die Stuttgarter Ausgabe und durch die Frankfurter Ausgabe (s. Kap. 1) einen neuen Anschub erhielt, wirkte sich wiederum ungünstig auf diejenige der Turmgedichte aus. Die Gegenbewegung und Wende setzte ausgangs der 1960er Jahre mit Bernhard Bö schensteins Aufsatz im HJb 1965/66 ein, auf den in schneller Folge zwei größere Arbeiten (Kudszus 1969, Thürmer 1970) folgten. Den passenden Hintergrund für den – mit Jakobsons strukturalistische Ansätze verfolgender Analyse des Gedichtes Aussicht (Wenn in die Ferne geht der Menschen ...) von 1976 einen ersten Höhepunkt erreichenden – Umschlag von Irritation in Faszination bildete die von Pierre Bertaux inaugurierte Diskussion über H.s Krankheit, die 1978 einer breiten Öffentlichkeit vorgeführte These von der bewussten Verstellung H.s als gesellschaftlichem Entzug. War es für Böschenstein die Erfahrung der lyrischen Moderne, die die Neulektüre ermöglichte, so für die späten 1970er Jahre und die Zeit danach die These von der ›Un-Verrücktheit‹ H.s, die »These vom edlen Simulanten«. Die spätesten Gedichte wurden als Rätseltexte lesbar, in die ein sich Verbergender viel hineingeheim-
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nist hatte, und wurden zu Zeugen eines bewussten Versteckspiels. Allerdings folgte auf Bertauxs Friedrich Hölderlin von 1978 schon vier Jahre später von fachlich kompetenter Seite ein Widerruf in Uwe Henrik Peters Studie Hölderlin. Wider die These vom edlen Simulanten. Auffällig ist die große Bedeutung, die gerade die Spätestgedichte, vorzüglich die Scardanelli-Gedichte, für die zeitgenössische Musik gewonnen haben (s. Kap. 57). Es sei hier nur stellvertretend auf Heinz Holligers Scardanelli-Zyklus hingewiesen sowie auf György Kurtág und Wilhelm Killmayer. Als weitere Rezeptionsdokumente seien Stephan Hermlins Hörspiel Scardanelli (1993) und der gleichnamige Spielfilm Harald Bergmanns erwähnt. Schließlich und zuletzt wurden die Gedichte der Jahre 1807–1843 auch einer dekonstruktiven Re-Lektüre unterzogen, die nun neuerdings die Zäsur 1806/07 negiert; so Bart Philipsen in seiner NachLese zu Hölderlins spätester Dichtung von 1995, deren Aufmerksamkeit an erster Stelle den früheren der spätesten Gedichte gilt, »dem quasielegischen und quasiironischen Charakter dieser Texte aus den ersten Jah-
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ren der Umnachtung mit ihren vielen verschlüsselten Anspielungen und ihrem gewollt oder ungewollt parodistisch wirkenden Rückgriff auf frühere Motive und Themen« (14). Literatur
Böschenstein, Bernhard: H.s späteste Gedichte, in: HJb 14 (1965/66), 35–56. Haverkamp, Anselm: Laub voll Trauer. H.s späte Allegorie, München 1991. Jakobson, Roman/Grete Lübbe-Grothues: Ein Blick auf Aussicht von H., in: Jakobson, Roman: H. Klee. Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte, Frankfurt a. M. 1976, 27–96. Kudszus, Winfried: Sprachverlust und Sinnwandel. Zur späten und spätesten Lyrik H.s, Stuttgart 1969. Oelmann, Ute: Fenstergedichte, in: Kurz, Gerhard (Hg.): Interpretationen. Gedichte von F. H., Stuttgart 1996, 201– 212. Philipsen, Bart: Die List der Einfalt. NachLese zu H.s spätester Dichtung, München 1995. Philipsen, Bart: »Worinn Inneres besteht«. Landschaft in den späten Gedichten, in: HJb 33 (2002/03), 122–129. Thürmer, Wilfried: Zur Verfahrensweise in der spätesten Lyrik H.s, Marburg 1970.
Ute Oelmann
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36 Briefe »Wir sprachen nicht immer accordirend miteinander, aber wir waren uns einig, daß neue Ideen am deutlichsten in der Briefform dargestellt werden können« (Nr. 117, StA 6.1, 203; ab jetzt Briefnr., S.). Der Einigung über den Brief als Darstellungsmittel neuer Ideen entspricht ein philosophischer Dissens zwischen H. und Schelling (Kreuzer 2014, 281–283; ders. 2016, 23– 24). Der Dichter bezieht sich auf die in Niethammers Philosophischem Journal erschienenen Briefe über Dogmatizismus und Kritizismus Schellings und auf Schillers Ästhetische Briefe und äußert seine Intention, »Neue Briefe« (vgl. Fragment philosophischer Briefe, FHA 14, 11) zu schreiben, die »von der Philosophie auf Poësie und Religion kommen« (Nr. 117, 203). Die Aussage H.s über die Briefform in einem während der Arbeit am Briefroman Hyperion geschriebenen Brief, dessen Anlass andere Briefe sind, und in dem der Plan kritischer Briefe mitgeteilt wird, ist bezeichnend nicht nur für die Bedeutung des Briefschreibens bei H., sondern auch für eine Epoche, die sich durch das Aufblühen der Briefkultur auszeichnete (vgl. Nickisch 1991, 130–139, 170–176; Bürgel 1976).
36.1 Die Briefform in Hölderlins Werk und seine Briefkonzeption Dass H. dem Brief große Bedeutung zuschrieb, bestätigen sowohl die große Zahl seiner (zum großen Teil verlorenen) Briefe als auch der Rekurs auf die Briefform in seinem Werk: durch seinen Hyperion folgte H. der Mode des Briefromans; in seinem Fragment philosophischer Briefe (FHA 14, 11–49) leistete er seinen Beitrag zu der von Lessing, Herder und Schiller gestifteten Tradition der kritischen Briefe. Die Idylle Emilie vor ihrem Brauttag ist eine Brieferzählung in Versen; zur epistolaren Lyrik gehört An Hiller; andere an Personen gerichtete Gedichte lassen sich auch als Briefe verstehen, z. B. die Oden An eine Verlobte, An Eduard, An eine Fürstin von Dessau. H. äußerte sich an vielen Stellen über die Bedeutung des Briefschreibens. Seine Äußerungen scheinen mit der Auffassung des subjektivistischen Privatbriefs als »Bekenntnis« und »Seelenbesuch« (Bürgel 1976, 296) übereinzustimmen. Wie für Gellert, der den Brief als »eine freye Nachahmung des guten Gesprachs« bzw. »die Stelle eines Gesprächs« (ebd., 111) konzipierte, stand auch für H. »ein gewisser Affekt« (ebd., 137) im Zentrum des Briefs; das Briefschreiben war ihm ein
Geständnis seines »vollen Herzens« (Nr. 15, 25), in dem er sein »Innerstes aufthun« (Nr. 170, 297) konnte, und »das Zeichen aller lebendigen Äußerungen« (Nr. 169, 294), in dem »ein Herz sich regt« (ebd.). Das Schreiben an Herzensfreunde war ihm »ein rechtes Bedürfnis« (Nr. 75, 108), aber auch eine mühsame Arbeit. Zum Schreiben benötigte er »eine ungestörte Seele« (Nr. 173, 308), »eine recht gelegene Stunde« (Nr. 174, 315), eine reine Stimmung, Sammlung, Zeit und Ruhe (vgl. Nr. 153, 265); es fiel ihm schwer, seine Empfindungen in Briefform mitzuteilen (Nr. 160, 274). In den Briefen setzte H. sein »arme[s] Individuum« und seinen Unmut ins Zentrum: »Ich schäme mich, daß ich Dich so mit meinem Unmut plage. Aber wenn ich mit Gewalt von meinem armen Individuum abstrahieren wollte, schrieb’ ich eine Dissertation und keinen Brief« (Nr. 108, 187). Das Briefschreiben verstand er als Bestandteil des empfindsamen Freundschaftskultus, den er im Bund mit Neuffer und Magenau erlebte; er wiederholte seinen Briefpartnern: »Schreibe mir bald wieder!« (ebd, 341); »Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne« (Nr. 240, 433). In der Einsamkeit (vgl. Nr. 230, 418), in seinem Fremdsein (Nr. 227, 412) erschien ihm jeder Brief »eine Art von Fest« (Nr. 185, 344) bzw. ein »Geschenk« (Nr. 161, 275), das er immer wieder las und das ihn lange begleitete. Beim Lesen erlebte er große Freude: »Es war eine der schönsten Stunden meines Lebens, die mir Ihr letzter Brief gab« (Nr. 95, 156). H. reflektierte auch über die Briefform. Er unterstrich den Mangel an Unmittelbarkeit der Briefe: »und was in der einen Stunde wahr ist, können wir ehrlicher weise in der nächsten Stunde nicht mehr von uns sagen, und indes der Brief ankommt, den wir schrieben, hat sich das Leid, das wir klagten, in Freude [...] verwandelt« (Nr. 118, 204). Den Brief als »Nothbehelf« (Nr. 84, 127) konzipierte er als Ersatz für ein Gespräch unter vier Augen bzw. als »imaginativ praktizierte Rede« (Kreuzer 2016, 39). Diese »Psyche unter Freunden« (Nr. 240, 433) war ihm absolut notwendig und das beste Darstellungsmittel neuer Ideen (vgl. Nr. 117, 203); sie erlaubte »in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung« (StA 4, 278) jenen Dank des Erinnerns zu vollziehen, der »weder blos in Gedanken, noch blos im Gedächtniß wiederholt werden« konnte (ebd., 276; Kreuzer 2015, 35–36). In Wirklichkeit sind H.s Briefe nicht nur Ausdruck seiner Empfindungen und Gefühle; viele behandeln pädagogische, poetologische und philosophische Themen, wie im Folgenden gezeigt wird; nur selten ist aber im Metadiskurs über den Brief davon die Rede.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_36
36 Briefe
36.2 Editions- und Überlieferungsgeschichte Die Editionsgeschichte von H.s Briefen ist jene eines Verlusts. Die Zahl der nicht aufbewahrten und verschollenen Briefe ist enorm. Bis auf wenige Überreste sind die Briefe an die Tübinger und Stuttgarter Freunde verloren gegangen, so wie jene an Sinclair und an Susette Gontard, an Cotta und an seine Herausgeber. Die 315 erhaltenen Briefe H.s und die 107 Briefe an ihn sind nur ein kleiner Teil des Briefwechsels. Am Anfang der Überlieferungsgeschichte stehen die Namen von Gustav Schwab und Gustav Schlesier. Der Halbbruder Gok schickte am 21. April 1841 Schwab die »Materialien zu H.s Lebensabriß«, darunter eine Auswahl »seiner vertraulichen Correspondenz« als Beleg« für den »edeln Character« H.s (Wittkop 1993, 259). Schwab verwendete weniges für die Einleitung der Gedichtausgabe (1843); der Sohn hingegen übernahm die meisten Briefe H.s, nicht aber die an ihn gerichteten, in seine Ausgabe (1846). Im zweiten Band sind die »Briefe H.s an die Seinigen und seinen Jugendfreund Nast«, die aus Goks Komplex stammten, die »Briefe an Neuffer« (Hölderlin 1846, 3–130), die Schwab von den Erben Neuffers erhielt (Raabe 1963, 21), und »vermischte Briefe von und an H.« veröffentlicht, darunter elf Briefe an Schiller, zwei von Schiller an H., ein Brief an Hegel, einer an Schelling und einer »an einen Ungenannten« (Hölderlin 1846, 131–160). Was Schwab publizierte, war nicht die ganze von Gok erhaltene Korrespondenz. Das beweist das Konvolut Schlesiers. 1842 erlaubte Schwab Schlesier, den Briefwechsel H.s einzusehen und ihn für eine nie erschienene H.-Veröffentlichung zu exzerpieren. Schlesier verzeichnete 60 von 70 nur durch Abschriften und Drucke überlieferte Briefe H.s; 19 seien allein von ihm überliefert; von den 60 bekannten Briefen an H. seien 52 bei Schlesier zu finden, 49 nur bei ihm (vgl. Steimer 2002, 5–6). Die Briefe der Mutter, der Schwester und einige Karls, so wie jene Susette Gontards wurden von Gok zurückgehalten und kamen nicht in den Band. Schwab (vgl. Raabe 1963, 21–22) sandte die an Neuffer gerichteten Briefe an die Erben zurück, wahrscheinlich auch jene an Schiller, die dann zerstreut wurden; die Familienkorrespondenz und die Briefe an H. schickte er Gok zurück; dieser briefliche Nachlass ist seit 1846 verschollen; dafür sollte der Halbbruder verantwortlich sein. Dafür spricht die Tatsache, dass der Nürtinger Komplex der Briefe von Familienangehörigen, die in Besitz von H.s Schwester waren, erhalten blieben. Obwohl die Textgestalt der Briefe in der Schwab-Ausgabe
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unzuverlässig und die Datierung unsicher ist, hatten Schwab und Schlesier das Verdienst, das unschätzbare Material gerettet zu haben. 1890 folgte die Edition Litzmanns; er fasste das überlieferte Gut der Briefe H.s zusammen: Von den 238 Briefen sind hier 143 »zum ersten Mal aus den Handschriften veröffentlicht« (Litzmann 1890, 672); 39 der schon veröffentlichten wurden mit den Handschriften verglichen. Er publizierte die Briefe an Mutter und Schwester (der Nürtinger Komplex), andere Briefe H.s an die Seinigen, die durch Schwab in der Stuttgarter Landesbibliothek gelandet waren, die Briefe an I. Nast, den Briefwechsel mit L. Nast, alle Briefe an Neuffer und an Landauer; dem bekannten Gut fügte er Briefe an Wilmans, Niethammer und Gonzenbach bei; jene Susettes blieben ihm unbekannt (Litzmann 1890, 672–673; Raabe 1963, 23–24). Gegliedert sind die Briefe nicht mehr nach Verfassern, sondern in Sektionen, die den Phasen von H.s Leben entsprechen, ein Beweis, dafür, dass Litzmann sie als Lebensdokumente betrachtete. Die folgenden Ausgaben werden die Briefe chronologisch gliedern. 1921 gab Viëtor die Briefe der Diotima heraus (Arnold; Viëtor 1921). Eine weitere Bereicherung des Briefkorpus erfolgte 1923, als Böhm aus dem Fundus Schlesiers die Abschriften von H.s Briefen, einige nur bruchstückhaft und in Regesten, veröffentlichte (Böhm 1923). In den Ausgewählten Briefen (2. Aufl. 1924) druckte Böhm nicht den ganzen Fundus. Die Briefe H.s und jene an und über ihn sind chronologisch in Kapitel eingeteilt: von »Bande[n] der Heimat« und »Jugendliches« zu »Einkehr«, »Diotima«, »Schauen«, »Späteres« (Hölderlin; Böhm 1924, 466). Ein Wendepunkt in der Editionsgeschichte war die Ausgabe von N. v. Hellingrath, der in verschiedenen Bänden der Dichtung eines bestimmten Zeitraums die Briefe derselben Jahre anfügte; er druckte zum ersten Mal die Briefe des Kranken ab, die bis dahin nur partiell erschienen waren (Lange 1909, 134–136). Die Entscheidung, die Briefe neben der Dichtung zu veröffentlichen, bedeutet, dass Hellingrath sie als Schlüssel zur Werkinterpretation betrachtete. Zinkernagel widmete den Briefen die Bände 4 (1921) und 5 (1926); darin veröffentlichte er auch die Diotima-Briefe und den Schlesier-Fundus. Er gliederte sie chronologisch nach den entsprechenden Aufenthaltsorten, so wie später Beck. 1954 erschien der Briefband der StA, 1958 die Erläuterungen, 1968 die Briefe an H. Dank der akribischen Arbeit Becks wurden alle Briefe H.s und an H. vereinigt; die Lesarten sind Ergebnis der Vergleiche der vorhandenen Handschriften und der Überprüfung der vorhergehenden Lesungen; der Fundus Schlesiers
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wurde systematisch verwendet und dessen Abschriften führten zu einer neuen Textgestaltung der bis dahin nur durch Schwab überlieferten Briefe. Beck sind auch neue Datierungen, die daraus folgenden Umstellungen in der Anordnung so wie die Handschriftenbeschreibung und die Überlieferungsgeschichte zu verdanken; durch die Erläuterungen erklärte er die Beziehungen H.s zu seinen Adressaten und seinem Lebenskreis und deutete einzelne Textstellen. Die KA (1992) präsentiert die Briefe ebenfalls in chronologischer Reihenfolge, nach den Aufenthaltsorten sortiert. In dem Überblickskommentar werden die Lebensepochen beschrieben, denen sich die Briefe zuordnen lassen. Auch die MA (1993) folgt in Textgestaltung und Datierung der StA, ordnet die Briefe H.s auch nach Aufenthaltsorten, gibt für jeden Brief die Handschrift bzw. den Erstdruck an; Knaupp vermeidet Lesarten, die sparsamen Erläuterungen beziehen sich auf Namen von Personen, Orten, Werken oder Zitate. Die Briefe H.s und an H. werden aber hier als Briefwechsel vorgestellt. Die FHA stellt im Band 18 (1993) die Handschriften der Briefe H.s, im Band 19 (2007) die Briefe, Stammbucheinträge und Widmungen von und an H. in chronologischer Reihenfolge vor; die Ordnung weicht von der Anordnung der früheren Ausgaben ab; für einige undatierte Briefe wird eine neue Datierung vorgeschlagen. Im Kommentarband 20 (2008) wird das in den Bänden 1–17 edierte Werk mit der Korrespondenz chronologisch-integral enggeführt; dadurch werden die Zeit als Ordnungsprinzip und die Beziehung zwischen den Briefen und dem Werk H.s anerkannt. H.s Briefe wurden auch in weiteren Leseausgaben veröffentlicht; z. B. präsentiert Härtling (1994) die Briefe auch chronologisch, aber durch die Titel der Abschnitte (»Der Schüler«, »Der Erzieher«, »Der Liebende«) unterstreicht er die Rolle H.s in der Beziehung zu seinen Gesprächspartnern.
36.3 Forschungsgeschichte und aktuelle Tendenzen Schon in der frühen Monographie Jungs (1848) werden die Briefe als Spiegel von H.s »Eigenthümlichkeit« (Jung 1848, 2) und seines »tragische[n] Verhängniß[es]« (ebd.) betrachtet. Koplowitz bestätigt diese frühe Forschungstendenz; sie setzt sich als Ziel, »die Persönlichkeit des Dichters aus den Briefen darzustellen« (Koplowitz 1931, 2) auf der Suche nach den »seelischen Konflikte[n]« (ebd., 57). In der Biographie Michels (1940) stützen sich die biographischen Daten auf
Briefe, die auch als Lebensdokumente des tragischen Schicksals erscheinen. Einen Wendepunkt stellt Raabe (1963) dar, der H.s Briefe in den Kontext der Briefkultur um 1800 einführt und »Form, Stil und Gehalt der Briefe als literarischen Ausdruck« (Raabe 1963, 11) untersucht. Er möchte »die Gestalt« (ebd., 12), »Persönlichkeit und Weltbild« (ebd.) H.s darstellen, aber auch »über den biographischen Lebensbezug hinaus« (ebd.) gehen und den »Dichterbrief« in seiner »Beziehung zur Dichtung« (ebd.) und als Material zum Werkverständnis untersuchen. Er zeigt Interesse für den »Kunstcharakter« (ebd.) des Briefs und unternimmt eine »stilistische Betrachung« (ebd.). Raabe schlägt eine neue Einteilung der Briefe nach Empfängern vor und untersucht Grundgehalt und Grundstil im Verhältnis zu den Partnern. Im zweiten Teil analysiert er die Korrespondenz unter dem »psychologischen Gesichtspunkt der Lebensentfaltung« (ebd., 14). Im dritten stellt er, abstrahierend von den Lebensbeziehungen, den Briefstil vor. H.s Briefe betrachtet Raabe zugleich als Lebensdokument und als Dichtung. Nach Raabe fehlen bis heute monographische Untersuchungen über H.s Briefkorpus, abgesehen von Dissertationen, die den Akzent auf das Biographische setzen (Shelton 1967; Fechner 1999). Statt Gesamtuntersuchungen zieht die H.-Forschung ab den 1960er Jahren vor, sich der Analyse von einzelnen Briefen zu widmen. Nach Szondis Beitrag Überwindung des Klassizismus wird der erste Böhlendorff-Brief (Szondi 1964, 1967) zu einem der meist untersuchten Briefe und als Beitrag H.s zur Querelle des anciens et modernes interpretiert. Unter den jüngeren Projekten, die die Briefe ins Zentrum rückten, ist die 29. Tagung der Hölderlin-Gesellschaft (2004) zu nennen (»H.s Briefe und die Briefkultur um 1800«), deren Ergebnisse im 34. HJb veröffentlicht wurden. Die Abhandlungen über einzelne Briefgruppen, jeweils an die Mutter (Oelmann), an Schiller (Reitani), an die Freunde (Louth), an Böhlendorff (Ryan) zeigen die zunehmende Tendenz, die Briefe in Zusammenhang mit den Adressaten zu interpretieren; untersucht wird auch die Briefform (Gaier). 2015 widmete die italienische Ortsvereinigung der Hölderlin-Gesellschaft den Briefen eine Tagung (»Die Briefe H.s: Philosophie und Dichtung«); die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift »Studia Hölderliniana« (2016) veröffentlicht; es wurden einzelne Briefe durch ein close-reading (Castellari, Polledri) untersucht, die Beziehungen zu H.s Philosophie (Kreuzer, Santini) und den Briefstil (Reitani) erforscht. In jüngerer Zeit zeigt sich die Tendenz, weniger das biographische Potential der Briefe als vielmehr
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ihre Bezüge zum Werk sowie zu den Adressaten und dem kulturellen und historischen Kontext hervorzuheben; es zeigt sich auch ein zunehmendes Interesse an dem Briefstil. Der Brief gilt heute als biographisches, historisches, literaturhistorisches, poetisches, philosophisches und politisches Zeugnis. Monographische Abhandlungen über die Briefe bleiben aber noch ein Desideratum.
36.4 Die Briefe nach Adressaten sortiert und präsentiert Im Folgenden werden die Briefe H.s nach adressatenbezogenen Kriterien sortiert und in ihrer Beziehung zu den Empfängern, dem kulturellen und historischem Kontext, der Dichtung, der Poetik und der Philosophie H.s vorgestellt. Die Entscheidung hat als Hauptgrund die Notwendigkeit, eine Gruppierung zu wählen, die sich der in der chronologischen Anordnung latenten Gefahr einer rein biographischen Lektüre entziehen möchte. An die Familie Der größte Teil der überlieferten Briefe H.s sind an die Familie gerichtet, darunter die Mehrheit an die Mutter: 73 (1784–1802) und 61 (1812–1828). Erhalten sind 30 Briefe an die Schwester bis 1801, sechs wurden ihr aus dem Turm geschickt; die Briefe an den Bruder bis 1800 sind 31, nur einer von 1822/23; dazu kommen ein Brief »an die Geschwister«, drei »an die Seinigen«, einer an die Großmutter, zwei an den Schwager und einer an den Onkel. Diesen entsprechen wenige überlieferte Briefe der Verwandten an H.: ein Brief der Mutter (1805), drei Bruchstücke von Briefen der Schwester, fünf des Bruders. An die Mutter
Hintergrund zum Verständnis der Mutterbriefe ist die Kenntnis der durch eine pietistische Frömmigkeit geprägten Persönlichkeit der zweifach verwitweten Johanna Gok. Ihr einzig erhaltener Brief an den kranken Sohn (1805) ist voll mit dieser pietistischen Religiösität (»ich dancke es auch dem L. Gott«, Nr. 106, StA 7.1, 187), so wie auch von der Sorge um das Alltägliche (»ich bitte Dich aber, daß Du die Wollene Strümpfe auch trägst.«, ebd., 186). Sie warnt den Sohn, »die Pflichten gegen unser l. Gott u Vatter im Himel nicht« (ebd.) zu versäumen. Auf Bitten und Mahnungen antwortete H. ungerne und mit Verspätung; das Schrei-
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ben empfand er als »schöne Pflicht« (Nr. 160, 274). Er schrieb ihr Dank- und Antwortbriefe: »Sie fragen mich, ob ich nicht Lust hätte zur Pfarre in Nekarshausen?« (Nr. 91, 145); »Sie fragen mich über mein Verhältniß, meine Bekantschafften, meine Hoffnungen.« (Nr. 143, 248). Der »gehorsamst« wiederholte Dank ist ein Dank für das geschickte Geld: »Für das überschikte dank’ ich gehorsamst.« (Nr. 26, 46); »Für das überschikte bezeige ich meinen tausendfachen Dank« (Nr. 41, 64). Im Hintergrund stehen die Geldprobleme, die den von der Mutter abhängigen Sohn sein ganzes Leben quälten. Früh verrät der Briefwechsel Spannungen in der Beziehung, die aus H.s Verweigerung rührte, sich für den geistlichen Beruf zu entscheiden, zu dem die Mutter ihn von Kindheit an bestimmt hatte. Als Anrede verwendet H. als junger Schüler noch »liebste Mamma« (Nr. 2, 4); später distanziert er sich von ihr und nennt sie »liebste Mutter« (Nr. 79, 117). Er unterzeichnet die Briefe mit dem Nachnamen, sonst mit »Ihr gehorsamster Sohn Friz« (Nr. 41, 64; Nr. 44., 67; Nr. 46, 69); dadurch zeigt er seine Distanz. Durch die Adjektive, die seine Unterschrift begleiten, hebt er seine Gehorsamkeit (»ihr gehorsamster Sohn Hölderlin«, Nr. 166, 288), seine Treue und seine Dankbarkeit (»Ihr dankbarer und treuer Sohn Hölderlin.«) und seine Ergebenheit (»Ihr ergebenster Sohn Hölderlin«, Nr. 210, 398) hervor. Die Briefe aus der Schulzeit sind kurz, aus Notwendigkeit, Pflicht und in Eile (»Ich muß eilen« Nr. 18, 28) geschrieben; sie sind Bittbriefe (»meine weitschweifige Bitschrift« Nr. 10, 14) und Berichte über das Klosterleben (vgl. »das sind doch ordentliche Nahrungssorgen«; ebd.); sie erzählen auch das Außerordentliche im Schulalltag (»Neulich stieg hier ein Luftballon«, Nr. 9, 13). H. verwendet einen informativen Stil mit kurzen Sätzen. Auf Wunsch der Mutter schickt er ihr nach dem Besuch in Speyer ein »Reistagebuch«, das für den konzisen und parataktischen Stil dieser Zeit exemplarisch ist (vgl. Nr. 23, 32). H. notierte auch alle Ausgaben. Er ist selten spontan; er schreibt, was sie lesen möchte: »man kann als Dorfpfarrer der Welt so nützlich, man kan noch glücklicher sein, als wenn man, weiß nicht was? wäre« (Nr. 9, 13). Die Briefe aus Tübingen sind unregelmäßig und auf kurze Mitteilungen beschränkt. H. fühlt sich gegenüber der Mutter schuldig, die jegliche Anstrengungen machte, um die Studienkosten aufzubringen: »Sein Sie versichert, liebe Mamma! so viel mirs gegeben ist, will ich streben, Ihnen die vielen Bemühungen und Inkommoditäten, die Sie meinetwegen haben, durch Freude zu ersetzen« (Nr. 34a, 470) Aus Walters-
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hausen informiert er sie über seinen Lebenszustand; der Brotgeberin schreibt er: »Gesund bin ich immer. Auch mein ökonomischer Zustand ist gut« (Nr. 82, 123). Auch aus Jena beruhigt er die Mutter über seine ökonomische Unabhängigkeit: »Ich bin auf meine Kosten hier« (Nr. 92, 146). Die Briefe werden gequälter, nachdem die Mutter ihm das Angebot einer Pfarrstelle vermittelt. H.s Antwort ist lakonisch; in seiner überzeugten Ablehnung »der Einschränkungen eines fixirten bürgerlichen Verhältnisses« (Nr. 82, 122) zeigt sich der gehorsame Sohn untreu (vgl. Nr. 82, 122; Nr. 91, 145). In Frankfurt, in Zeiten der Liebe und der finanziellen Unabhängigkeit, schreibt H. kaum an die Mutter; überliefert sind nur 11 Briefe (1 von 1796; 4 von 1797, 6 von 1798); der Trennung von Susette Gontard entspricht hingegen eine Hinwendung zur Familie. Von der Trennung ist nie die Rede, sondern hauptsächlich von der ökonomischen Lage, dem Wunsch nach einer »ruhigeren Lebensart« (Nr. 165, 283) und vom gutmütigen Sinclair, der ihm half, »ein Logis« (Nr. 165, 283) zu finden, sowie von seiner »Maladie« (Nr. 177, 319). H. wiederholt der Mutter seinen Wunsch, von seiner Dichtkunst zu leben und seiner »von Gott gegebenen natürlichen Gaabe« (Nr. 172, 312) zu folgen: »Es hat es mancher, der wohl stärker war, als ich, versucht, ein großer Geschäfftsmann oder Gelehrter im Amt, und dabei Dichter zu sein« (ebd.). Er erzählt ihr von seinem Journalplan und der Möglichkeit, Schiller möge »ihm einen kleinen Posten verschaffen« (Nr. 197, 368). Bemerkenswert ist, dass H. der Mutter seine literarischen Projekte nie durch Namen erwähnt; er spricht nur vom »Buch« (Nr. 177, 320) oder vom »Werke« (Nr 193, 362) und vom finanziellen Wert, den dieses Werk haben kann. Wenn alle Projekte scheitern, bleibt H. nur festzustellen: »so bedaure ich, daß ich Ihnen von meinen Aussichten noch nichts näheres sagen kann, und es ist mir eigentlich um Ihretwegen unangenehmer, als wegen mir« (Nr. 199, 372). Es folgen in den späteren Briefen weitere Bitten um Geld; an einigen Stellen äußert H. seine Bitterkeit: »Ich wollte, Sie hätten einmal Ruhe mit mir.« (Nr. 207, 391) Als er im Jahr 1800 den Posten als Hauslehrer in Hauptwil annimmt, versichert er ihr, einen Teil der Reisekosten zurückzuerstatten (Nr. 227, 412), was nie geschah. Aus Frankreich sind nur drei Briefe erhalten; hier ist nicht von Geld die Rede, sondern von der Reise und der Hoffnung, ein neues Leben anzufangen (»Ihr Lieben! ich grüßt’ Euch wie ein Neugeborner«; Nr. 238, 430; »›Sie werden glücklich sein‹«, sagte beim Empfange mein Konsul. Ich glaube, er hat Recht«, ebd.). Der Kondolenzbrief für den Tod
der Großmutter ist von der pietistischen Religiosität geprägt (Nr. 239, 431). Es sind auch 60 aus dem Turm geschickte Briefe überliefert. Zimmer informierte die Mutter über die Gesundheit und die Ausgaben H.s; seine Schreiben wurden wahrscheinlich als Beilagen zu Zimmers Briefen geschickt: »Ich habe Hölderlin gefragt ob Er nicht auch schreiben wolle. Es scheint aber das Er würklich keine Lust dazu hat« (StA 7.2, 428). Bemerkenswert sind die häufigen Höflichkeitformeln: »Ich habe die Ehre, mich zu nennen Ihren ergebensten Sohn Hölderlin« (Nr. 247, 443); »Ich nehme schon wieder die Freiheit« (Nr. 291, 461); »Darf ich Sie bitten« (Nr. 258, 449); »Ich bin so frei, mich auf Erlaubniß« (Nr. 305, 466); »wundern Sie sich nicht« (Nr. 148, 255). Er zeigte dadurch Verehrung und Gehorsam. Eine distanzierte Haltung prägten aber schon auch die Briefe an die Mutter der früheren Jahre. In den Turmbriefen drückt er vor allem seine Sorge um die Gesundheit der Mutter aus, spricht aber kaum von seinem Zustand. Er hofft auf ein baldiges Wiedersehen (»Ich hoffe, Sie bald zu sehen«, Nr. 268, 453) und kündigt sogar seinen Besuch an (»Ich bin vielleicht so frei, Ihnen meine Aufwartung zu machen«, Nr. 293, 462), aber Mutter und Sohn werden sich nie wiedersehen. Er sucht auch im Turm noch die Anerkennung seiner Mutter: »Ich bin versichert, daß die Bemühung, Ihre Zufriedenheit zu verdienen, macht, daß die Gütigkeit, mit der Sie immer gegen mich gesinnt gewesen sind, nicht aufhört« (Nr. 276, 455). H.s Briefe an die Mutter sind Bittbriefe, Dankbriefe, Rechtfertigungs- und Rechenschaftsbriefe; Raabe meint, es liege ihnen eine gewisse »Pietät« zugrunde, »die Treue und Liebe, gehorsam und Ergebenheit vereinigt« (Raabe 1963, 33). Diese Pietät erzeugt durch die Höflichkeitsformeln Distanz. Auch die Kluft zwischen Mutter und Sohn und die Unmöglichkeit, den Konflikt zu lösen. »O meine Mutter! es ist etwas zwischen Ihnen und mir, das unsre Seelen trennt« (Nr. 170, 298) zeigt sich in diesem Stil. An die Schwester
Die Briefe an die Schwester sind durch einen ganz anderen Ton geprägt. Zu der zwei Jahre jüngeren Heinrike, die den älteren Klosterprofessor Breunlin heiratete, zwei Kinder gebar und schon 1800 Witwe wurde, hatte H. eine zärtliche Beziehung; der jüngere Bruder verwendete als Anrede »liebe Rike« (Nr. 36, 57), als Unterzeichnung »Dein zärtl. Bruder Friz« (ebd.). Rike stellte für H., wie er aus Frankfurt schreibt, die »goldne Mittelmäßigkeit« (Nr. 156, 270) dar. Sie verkörperte die aurea mediocritas, die »Glük und Friede und
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Herz und reine[n] Sinn« (ebd.) vereinte. Bei der Auswahl des Ehepartners empfahl er ihr, »Herz und Verstand, und auch Glücksumstände, nicht nur Jugend und Wohlgestalt« (Nr. 42, 65) zu betrachten; er selbst lehnte aber die bürgerliche Ehe- und Hausstandgründung ab. Es herrscht in den Briefen ein unbeschwerter Ton; geredet wird »unvernünftig von uns selbst, und unsern unwichtigen und wichtigen Angelegenheiten« (Nr. 138, 240–24). Er erzählt vom »Markttag« (Nr. 36, 57) sowie vom Wohnen und Reisen. Manchmal erwähnt er seine literarische Tätigkeit: »Ich will auch einen kleinen Aufsatz drüber machen« (Nr. 37, 59). Den Aufsatz möchte er aber dann dem Bruder schicken. Er hat bei ihr keine Scheue, vom Dichterberuf zu sprechen: »Und da ist mein höchster Wunsch – in Ruhe und Eingezogenheit einmal zu leben – und Bücher schreiben zu können, ohne dabei zu hungern« (ebd.). Der Stil dieser Korrespondenz folgt der Mode der Briefkultur: H. widmet sich in einem leichten Ton dem Alltäglichem, verwendet Diminutiva (z. B. »Schwesterlein!«; Nr. 43, 66), attributive Adjektive, Ausrufsätze und kindliche Redewendungen; dazu kommen noch die humorvollen »Possen« (Nr. 72, 105; vgl. Raabe 1963, 42–43). Die ersten Briefe sind intimer als jene an die verheiratete Frau. Es ist noch eine »zärtliche Herzenskorrespondenz« (ebd., 43). Sie sind oft vom Augenblick bestimmt: das Wohnen (»Das Zimmer ist eins der besten, liegt gegen Morgen«; Nr. 36, 57), die Ausgaben, das Wetter (Nr. 42, 65), das Leben im Stift (Nr. 48, 72) und die Familie und das künftige Glück der Schwester (Nr. 52, 78) sind die Themen der Korrespondenz. H. kommt auch auf die politische Lage zu sprechen bzw. auf seine Parteinahme für die Franzosen (Nr. 51, 77). Nach der Heirat wird das Schreiben sporadisch. Rike ist jetzt die »teure Schwester« (Nr. 72, 103) und wird zusammen mit dem Schwager und den Kindern genannt. H. spricht vom neuen Leben in Waltershausen, aus Jena von seinen Reisen; die Zärtlichkeit der früheren Briefe fehlt (keine Diminutiva, keine Witze, keine Ausrufe). Es folgen Jahre ohne Briefe. Erst 1797 wird der Briefwechsel wieder aufgenommen, als H., vom Frankfurter Leben enttäuscht, nach der Geborgenheit der familiären Sphäre strebt (Nr. 156, 270). Das idyllische Familienleben der Schwester stellt den Gegenpol zu Frankfurt dar. Alle folgenden Briefe sprechen von der friedlichen häuslichen Existenz der Schwester (»Du wirst recht froh sein, den Frühling in Ruhe genießen zu können, in Deinem schönen häuslichen und gesellschaftlichen Kreise. Dein Glück ist echt« Nr. 156, 269; »Dein häuslich Glük«; Nr. 174, 315; »in
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Deiner glüklichen Haushaltung«; Nr. 188, 352). In einem langen Brief aus Homburg sagt er ihr »brüderliche Worte« (Nr. 188, 351) wieder zu, drückt seine »Sehnsucht an die Jugendtage« (ebd.) aus und spricht von seiner »Maladie« (ebd., 353) so ehrlich wie nie an die Mutter: »Du wirst es mir nicht mißdeuten, Beste, wenn ich Dir eben dadurch gestehe, wie sehr mein Gemüt und meine Geisteskräfte von meinem Körper abhingen« (ebd., 353–354). Er möchte die Schwester (und vielleicht sich selbst) überreden, dass er sich mit einem einfachen Leben begenügen kann: »Jeder Mensch hat doch seine Freude [...] Die meine ist nun das schöne Wetter, die heitre Sonne und die grüne Erde« (ebd., 354). Gipfel der Bruder-Schwester Beziehung ist der Kondolenzbrief zum Tod des Schwagers (Nr. 205, 386–388), ein echter Trostbrief. Den Ruhepol, den sie für H. in jeder Zeit darstellte, wird am besten durch den nach dem Frieden von Lunéville geschriebenen Brief bezeugt (»Ich glaube, es wird nun recht gut werden in der Welt«, Nr. 228, 413). Der Weltfrieden, die kommenden »Tage der schönen Menschlichkeit« (ebd.) sind Anlass für das An-sie-Denken: »Und je friedlicher es in meinem Inneren wird, um so heller und lebender gehet das Angedenken an euch« (ebd., 414). In den 6 Briefen aus dem Turm wird die liebe Rike der Jugendjahre »meine verehrungswürdige Schwester!« (Nr. 308, 467) und »theuerste Schwester« (Nr. 309, 310, 468) genannt. Diese Briefe sind von jenen Höflichkeitsformeln geprägt, die H.s Turmsprache kennzeichnen; er unterschreibt sie mit »Deinen ergebensten Bruder« (Nr. 309, 468) und verwendet Ausdrücke, die Gehorsam und Ergebenheit zeigen: »Ich mache mir meine ergebenste Danksagung« (Nr. 311, 469). Die gebrochene Redeweise entspricht dem Gebrauch von höflichen Anredeformen im Verhalten H.s gegnüber seinen Gästen (StA 7.3, 3–18, 50– 80). H. selbst verschwindet in diesen Briefen. Von seinem Zustand ist kein Wort. Einziges Interesse ist das »Wohlbefinden« (Nr. 311, 469) der Schwester. An den Bruder
Die erhaltene Korrespondenz mit dem Halbbruder beginnt 1793, als Karl seine Ausbildung als Schreiber in Nürtingen antrat. H. als Einziger der Familie, der studieren durfte, fühlte sich verpflichtet, den Bruder in politischen, geistigen und philosophischen Fragen zu belehren, so dass alle Briefe durch eine pädagogische Haltung und einen didaktischen Ton geprägt sind. Wenn H. in den ersten Briefen als der ältere Lehrer erscheint, der dem jüngeren Amtsschreiber schreibt, spricht er in den späteren Briefen von Gleich
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zu Gleich und teilt mit ihm Ideale und Hoffnungen; es sind Geständnisse zwischen gleichempfindenden Seelen: »Willst Du mich zum Freunde, so soll jenes Ziel das Band sein, das von nun an unsre Herzen fester, unzertrennlicher, inniger vereinigt.« (Nr. 65, 93) Als Anreden verwendet H. »Lieber Bruder!« (Nr. 80, 118), »Liebster Bruder!« (Nr. 152, 262), »Mein Karl!« (Nr. 122, 211), »Lieber Karl!« (Nr. 131, 227), alles Zeichen einer innigen Nähe. Bis zur Frankfurter Zeit unterschreibt er meistens mit »Dein Friz« (Nr. 131, 228), später mit »Dein Bruder H.« (Nr. 231, 421); durch die Streichung des Diminutivs und des Vornamens wird »der Übergang vom Jüngling zum Mann« (Nr. 162, 277) in der Beziehung markiert. In den Briefen aus dem Turm nimmt die Distanz und die Ergebenheit zu (»Deinen Dich schäzenden Bruder Hölderlin«, Nr. 312, 469). Die Themen dieser pädagogischen Briefe, deren Ziel die »Bildung des Menschengeschlechts« (Nr. 65, 93) zu sein scheint, sind verschieden. Neben den wenigen Mitteilungen für die Familie handelt es sich um Zeugnisse einer geistigen Entwicklung; der Gedankengang wird nicht vom Gefühl, wie in den empfindsamen Schwesterbriefen, sondern vom Verstand geführt. In den ersten erhaltenen Briefen aus Tübingen, meistens als Auszug und Regest durch Schlesier überliefert, ist von Frankreich, der Revolution, dem ersten Koalitionskrieg (Nr. 58, 85), der Ermordung von »Marat, de[m] schändliche[n]« Tyrann« (Nr. 61, 88) und der Ablehnung des Terrors die Rede; es werden aber auch Lektüren empfohlen, darunter Hemsterhuis und »der furchtbare Lehrer der Despoten, Machiavell« (Nr. 62, 89). Es sind Briefe, die durch den Optimismus für die Zukunft geprägt sind, von dem Wunsch zur »Bildung des Menschengeschlechts« (Nr. 65, 93) beizutragen: »Diese Keime von Aufklärung, diese stillen Wünsche und Bestrebungen Einzelner zur Bildung des Menschengeschlechts werden sich ausbreiten und verstärken, und herrliche Früchte tragen« (ebd.). Voraussetzung für die Bildung des Menschengeschlechtes sei aber, so H., die Wirkung in seinem eigenen »Wirkungskreise« (Nr. 65, 93), d. h. die Bildung des Einzelnen bzw. des Bruders. H. versucht, Karl »ein angenehmeres und seiner Bildung günstigeres Pläzchen zu verschaffen« (Nr. 78, 116). »Philosophie mußt Du studiren« (Nr. 126, 218), schreibt er ihm aus Frankfurt; dafür versucht er ihn vorzubereiten; er ermuntert ihn, jede freie Stunde »zur freien Thätigkeit des Geistes« (Nr. 80, 119) zu nutzen, empfiehlt ihm seine in »Thalia« erschienenen »Kleinigkeiten« (ebd.) zu lesen, vor allem erklärt er ihm die Kantische Ethik so
wie auch Fichtes Philosophie (Nr. 131, 228), die Ästhetik, (Nr. 119, 206) und die Mathematik (Nr. 133, 231). Es kommen in diesen Briefen die philosophischen Ideen zum Ausdruck, die H. im Stift mit Hegel und Schelling und aus der Lektüre Spinozas, Hemsterhuis’ und Herders entwickelt hatte. Als das Projekt eines Studiums in Jena scheiterte, änderte H. Ton und Haltung. Er fand Trostworte für den Bruder (Nr. 162, 277–278) und versuchte, ihm diesmal den Wert eines Lebens als Geschäftsmann zu zeigen: »In jedem Fall ists mir ein groß Vergnügen, daß Du so früh Dich zum gründlichen Geschäfftsmann bildest« (Nr. 152, 265). Er lobte das Leben »in der Schreibstube« (Nr. 112, 195). Seine Hoffnung war jetzt, in ihm »Denker und Geschäfftsmann, wie es sich gehört, vereint zu sehen« (Nr. 126, 218). Diese Briefe haben auch »Bekenntnischarakter« (Raabe 1963, 52), H. teilt seine Lebenssituation mit und betont den Kontrast zwischen seinem Schicksal als Dichter und jenem Karls als Geschäftsmann. Wenn er die »mechanische Arbeit« lobt, die »weniger zerreiße, als ein moralisch Geschäfft« und »leidenschaftloser lasse« (Nr. 152, 262), setzt er den Akzent auf seinen beunruhigten Zustand. In späteren Briefen aus Homburg wechselt das Thema von der Philosophie zur Politik. Karl als Geschäftsmann muss politisch gebildet werden: »Von der andern Seite muß die politische Lectüre eben so günstig wirken« (Nr. 172, 304). Der Gipfel des geistigen Austauschs zwischen den Brüdern stellt der Brief vom Neujahr 1799 (Nr. 172, 301–305; vgl. Polledri 2014) dar; hier werden politische, philosophische und pädagogische Gedanken entwickelt, die für das Verständnis von H.s Werk grundlegend sind; vor allem wird die Überlegenheit der Poesie neben dem günstigen Einfluß der politischen und philosophischen Lektüren und ihr Wesen bestimmt: »Denn alsdann sammelt sich der Mensch bei ihr, und sie gibt ihm Ruhe, nicht die leere, sondern die lebendige Ruhe [...]. Sie nähert die Menschen, und bringt sie zusammen, nicht wie das Spiel, wo sie nur dadurch vereiniget sind, daß jeder sich vergißt und die lebendige Eigentümlichkeit von keinem zum Vorschein kömmt« (ebd., 305). Der Stil dieser Briefe ist komplexer als jene an die Mutter und die Schwester; lange Sätze und komplizierte hypotaktische Perioden nähern sie philosophischen und poetologischen Abhandlungen. Die letzten Briefe sind von der Feststellung der »Verschiedenheit des Lebensgangs« (Nr. 235, 425) diktiert, aber auch von der Hoffnung, den Bund nicht zu lösen: »Laß nur die alte brüderliche Liebe nicht untergehen unter uns« (ebd.). H. zeichnet sich selbst als den Wanderer und seinen Bru-
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der als den Bleibenden, der »vest gewurzelt [...] ans Vaterland war« (ebd.). Aus der Zeit im Turm sind nur ein paar Zeilen überliefert, in denen H. seine Hochachtung für den »teuersten Bruder« sowie die Freude über dessen Wohlbefinden in dem typisch distanzierten Ton Scardanellis ausdrückt (Nr. 312, 469). An die Freunde An Immanuel Nast
Das zweigrößte Briefkorpus besteht aus Briefen an die Freunde. In Maulbronn korrespondierte H. mit Immanuel Nast, Schreiber in Leonberg, der zusammen mit dem Mitschüler Bilfinger und dem in Stuttgart studierenden Karlsschüler Hiemer, deren Korrespondenz verloren ging, zu dem engen Freundeskreis des Klosterschülers gehörte. Die zwischen 1787 und 1788 geschriebenen Briefe sind von dem unbeständigen Gemützustand H.s und seiner Reizbarkeit geprägt. Die Verbindung brach nach dem Einzug ins Tübinger Stift ab. Themen sind die Poesie, die Lektüren (Ossian, Schiller, Klopstock), die Liebe zu Nasts Cousine Louise (Nr. 15, 20–25) und die Freundschaft (vgl. Nr. 14, 19–20; Nr. 24, 40), die als Trost für die schweren Stunden gepriesen wird (Nr. 13, 18). Die Korrespondenz ist der Empfindsamheit treu; die Briefe sind vom Herzen diktiert (»unsre Herzen schlügen gleich«, Nr. 4, 7), enthalten Selbstanalysen und Gefühlausbrüche (» — ich liebe — — — «, Nr. 5, 9). Der aufgeregte Stil ist durch Wiederholungen, Frage- und Ausrufesätze, Gedankenstriche und Sprünge gekennzeichnet, Zeichen eines leidenschaftlichen und schnellen Schreibens. Als Anrede verwendet H. »lieber Bruder« (Nr. 5, 8), oft wiederholt auch im Brieftext und mit Ausrufezeichen (»lieber, lieber Bruder!«, Nr. 21, 30), unterzeichnet meistens »Dein Hölderlin« (ebd.). An Neuffer
Im Stift wurde Nast durch andere Herzensbrüder ersetzt: Neuffer und Magenau, Hegel und den jüngeren Schelling. Überliefert sind 35 Briefe an Christian Ludwig Neuffer, der das Stift bis 1791 durchlief, als er eine Stellung als Vikar am Stuttgarter Waisenhaus antrat, und ein Taschenbuch für Frauenzimmer von Bildung herausgab, in dem H. seine Gedichte veröffentlichte. Den mit ihm und Magenau gebildeten Dichter- und Freundschaftsbund und die gemeinsamen »Götterstunden« (Nr. 47, 70) mit den Freunden pries H. in den Briefen. Sie erstrecken sich über einen weiten Zeitraum, vom Studium in Tübingen bis zum ersten Homburger Aufenthalt. Im Zentrum der Korrespondenz
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aus Tübingen, Jena und Waltershausen stehen die Freundschaft und die »Zeit unserer gemeinschaftlichen Freuden, und Hofnungen, und Beschäftigungen« (Nr. 57, 84); das Briefschreiben erscheint als »die gegenseitige Mitteilung unsers Wesens und seiner Zustände« (Nr. 83, 124). Er betrachtete Neuffer als den Freund seiner Seele (Nr. 87, 133); aus Frankfurt bekannte er ihm seine Liebe zu Susette Gontard (Nr. 123, 213–214). Gipfel der Freundschaft ist der Trostbrief zur Krankheit seiner Braut (Nr. 87, 133–134), H.s Aufforderung zur heroischen Überwindung des Schmerzes ist hier von Kant und Schiller beeinflusst. Der Austausch von Dichter zu Dichter betraf auch Probleme der Dichtkunst. H. schickte ihm Gedichte, sprach ihm von seinem Roman und seinen Lektüren (»Meine letzte Lectüre ist Schillers Abhandlung über Anmuth und Würde gewesen«; Nr. 77, 114). Er erkannte in dem Freund den größeren Dichter (»Neufers stille Flamme wird immer herrlicher leuchten, wenn vieleicht mein Strohfeuer längst verraucht ist«; Nr. 60, 86); seine Gedichte unterschätzte er ihm gegenüber als »Werkchen« (Nr. 99, 169). Alle Briefe bis zur Jenaer Zeit sind durch einen leidenschaftlichen Stil und einen intimen Ton gekennzeichnet: viele Ausrufsätze, kurze Sätze sowie viele Wiederholungen und Fragesätze. H. erinnert immer wieder Neuffer an den Schwur ihrer Jugend (»Wie oft sagten wirs uns, daß unser Bund ein Bund sei für die Ewigkeit«; Nr. 57, 83). Aber der ewige Bund zerriss; Neuffer ging einen anderen Weg und entfernte sich vom Dichterberuf. Aus Nürtingen schickt er kurze Briefe, in denen er die »Trägheit« (Nr. 105, 182) beim Schreiben hervorhebt, spricht von der empfundenen »Trunkenheit« (ebd.) beim Lesen von Schillers Gedicht Das Reich der Schatten (Das Ideal und das Leben) und von seiner Ungeduld als Dichter zum Feilen (»impatiens limae«, Nr. 108, 187). Die Frankfurter Briefe, die das Geständnis der Liebe zu Susette enthalten, haben wieder einen innigeren Ton. Er teilt darin dem Freund seine Freude (Nr. 123, 213–214; Nr. 136, 235– 237) mit, später die ersten Zeichen einer Krise (»Ich bin zerrissen von Liebe und Haß«; Nr. 140, 240). Neuffer verschwindet wie Bellarmin in diesen Briefen. H. spricht nur von seiner Freude, geht nie auf die Lage des Freundes ein; nur durch Andeutungen spricht er von Susette. Die letzten Frankfurter Briefe sind auf kurze Mitteilungen beschränkt, vom Zusammenbruch wird geschwiegen. Der Briefwechsel wird auch in Homburg fortgeführt; Inhalt und Stil sind hier distanzierter und trockener. Diese letzten Briefe tragen einen philosophischen Charakter; er spricht vom »Lebendige[n] in der Poësie« (Nr. 167, 289), das ihn am meisten beschäf-
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tigt, von der Dichotomie zwischen Philosophie und Dichtung und seiner Vorliebe für die »süße Heimath der Musen« (ebd.), vom »Reinen«, dass sich nur »im Unreinen« darstellen kann und vom »Edlen«, das »die Farbe des Schiksaals trägt« (ebd.). Neuffer erzählt er vom Iduna-Projekt (Nr. 178, 323), vom Tod des Empedokles und skizziert ihm seine Poetik des Wechsels der Töne (Nr. 183, 338–341). Die langen Perioden und der komplexe Gedankengang sind von den Herzensergießungen der jungen Briefe weit entfernt. Im letzten Brief (Nr. 202), in dem H. vom neuen Amt des Freundes spricht, das ihm (Nr. 202, 378–380) nicht mehr ermöglicht, sich der Poesie zu widmen, scheint er sich Neuffer immer fremder zu fühlen. An Hegel und Schelling
Von dem wahrscheinlich intensiven Briefwechsel mit Hegel haben sich nur fünf Briefe H.s (1794–1796) und einer des Philosophen erhalten, von der Korrespondenz mit Schelling nur ein Brief H.s und einer an ihn. Sie hatten zusammen im Stift das »Reich Gottes« gegründet, indem sie auf die Vereinigungsphilosophie Spinozas, Hemsterhuis’ und Herders zurückgegriffen hatten. An Hegel wendet sich H. mit vertrauten Worten und Anreden und mit Ausrufen, die ihre Freundschaft preisen (»Lieber Bruder« Nr. 84, 126, »Liebster Hegel«, Nr. 127–219, Nr. 128, 222). Wenn faktische Mitteilungen in kurzen Sätzen zusammengefasst werden, so reflektiert eine komplexere Syntax den Versuch H.s, seinen Gedankengang zu vermitteln (vgl. Nr. 94, 154–156). Im ersten Brief erinnert H. aus Waltershausen Hegel, ebenso damals Hofmeister, an das »Reich Gottes« (Nr. 84, 126) und äußert seine Sehnsucht nach dem Jugendbund. Er weist auf die gemeinsame geistige Grundlage: die kritische Philosophie und die Griechen (»Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lektüre«; ebd., 128). Im Zentrum des Briefs vom 26.12.1795, in dem von den Begegnungen mit Goethe und Herder berichtet wird, steht die in Urtheil und Seyn dargelegte Kritik an Fichtes Absolutsetzung des Ichs, das, wie Spinozas Substanz, »alle Realität« (Nr. 94, 155) enthält. In demselben Brief wird das »Ideal einer Volkserziehung« (ebd., 156) gepriesen, das H. sowohl durch Fichtes Auffassung der »Bestimmung des Gelehrten« zum Volkserzieher als auch durch Schillers ästhetische Erziehung entwickelt hatte. In den Briefen aus Stuttgart und Frankfurt wird das Thema einer Hofmeisterstelle für Hegel besprochen. Die kurzen Briefe erlaubten keine Entwicklung philosophischer Gedankengänge, die H. lieber persönlich mit dem Freund besprach; es werden trotzdem verschiedene philosophi-
sche Fragen angedeutet: der Begriff der »unsichtbaren streitenden Kirche«, (Nr. 106, 185), die ecclesia spiritualis, die Kritik am Dogmatismus (»die Todtengräber in Tübingen«; Nr. 107, 185), Hinweise an Hegels religionsphilosophische Frühschriften (»eine Paraphrase der Paulinischen Briefe nach Deiner Idee«; Nr. 107, 186), pädagogische Gedanken und ihr Scheitern in der Erziehung des jungen Fritz (Nr. 128, 221–223). Häufig sind die Äußerungen, die H.s Nähe zum Freund ausdrücken (»Wir wollen brüderlich Müh’ und Freude theilen, alter Herzensfreund!«, ebd., 222). Die flüchtigere Beziehung zu Schelling ist nur durch einen Entwurf aus Homburg bewiesen, in dem H. den Philosophen zur Mitarbeit an der »Iduna« einlädt. Es ist eine ganz andere Epoche für H., geprägt durch Unsicherheiten jeder Art. Der Brief enthält eine lange Prämisse, in der er sich vor dem erfolgreichen Freund rechtfertigt, sich trotz seiner Hauptbeschäftigung, der »Poësie« (Nr. 186, 346), noch auch der »Wissenschaft« widmen zu wollen, in dem Versuch »etwas Reiferes [...] zu stande zu bringen« (ebd.), ein »humanistisches« (ebd., 350) Journal. Der Brief enthält kaum eine Auseinandersetzung mit Schellings Philosophie; darin drückt H. nur sein Hauptanliegen aus: in seinem geplanten Journal »Iduna« den poetischen, historischen und philosophischen Diskurs zu vereinen, um zum Ideal der durch Herder und Kant vermittelten Humanität zu kommen. An Niethammer
Philosophische Briefe schrieb H. auch an Friedrich Immanuel Niethammer; von dieser Korrespondenz haben sich zwei Briefe und ein Bruchstück erhalten. Den Freund hatte H. in Tübingen kennengelernt und in Jena wiedergetroffen, wo dieser durch eine rasche Karriere Professor der Philosophie geworden war; 1795 begann er mit Fichte das »Philosophische Journal« herauszugeben, wo H. eine Darlegung seiner philosophischen Ideen plante. Der erste Brief ist ein Empfehlungsschreiben für seinen Vetter Majer und ein Zeugnis der Bewunderung des Philosophen; obwohl er ihn duzt, drückt er durch ehrerbietige Worte (»Mein verehrungswürdiger Freund!«, Nr. 111, 190; »Deine Güte«, ebd.; »Versag’ ihm nicht«, ebd.) seine Hochachtung aus. Der zweite, in Frankfurt geschrieben, ist ein »Nachhall aus Jena« (Nr. 117, 202). H. wendet sich an ihn als an seinen »Mentor« (ebd., 203) und teilt ihm mit, dass er sich nach der Jenaer Krise wieder der Philosophie widmet (»die Philosophie ist wieder einmal fast meine einzige Beschäftigung«, Nr. 117, 202). Durch einen nüchternen Stil erklärt er ihm seine Po-
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sition in der philosophischen Diskussion, die aus der Fichte-Kritik entstanden war. Im Brief erwähnt er Gedanken, die auch im Brief an Schiller (Nr. 104, 180– 181) zu finden sind. Er skizziert das Projekt der Neuen Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen und nennt wie schon im Schiller-Brief die »Vereinigung des Subjects und Objects« (ebd., 181) als Ziel; er möchte über Schiller hinausgehen und das »Prinzip« finden, um »den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object« (Nr. 117, 203). Von diesen Briefen, in denen H. »von der Philosophie auf Poësie und Religion kommen« (ebd.) wollte, ist nur das Fragment philosophischer Briefe überliefert (FHA 14, 11). An Sinclair
Von der langjährigen Freundschaft mit Issak von Sinclair, den H. in Jena kennenlernte und der in Notlagen ihm immer treu blieb, ist nur ein Bruchstück aus einem Brief H.s aus Homburg neben Briefen Sinclairs an die Mutter überliefert. H. erzählt hier von dem Rastatter Besuch und von dem gewonnenen »Glauben und Muth« (Nr. 171, 299) sowie von seiner Lektüre des Diogenes Laertius, der am Anfang der Arbeit am Tod des Empedokles steht. Der Brief gilt jedoch als Beweis des philosophischen Austauschs zwischen den Freunden, der die frühe Fichte-Kritik wiederholt, zugleich aber auch den Einfluss von Herders Organisationstheorie beweist. H. behauptet, dass in jeder Organisation, der Natur wie der Gesellschaft (vgl. Waibel 2015, 51–96, insb. 53–55), »keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden« (Nr. 171, 300) und dass in einem »lebendigen Ganzen« (ebd., 301) eine Kraft nur »temporär« »die herrschende« (ebd.) sein kann. H. glaubt an ein Zusammenspiel der Kräfte, in einer Vereinigung der Gegensätze, in einem lebendigen Ganzen. An Landauer
Von der Freundschaft mit Georg Christian Landauer, dem Stuttgarter Tuchhändler, den H. 1795 während seines Stuttgarter Besuchs kennenlernte, der in den Frankfurter Jahren ihm zum engen Freund wurde und der ihn in sein Haus als Erzieher seiner Kinder aufnahm, sind nur 2 Briefe überliefert. Bei ihm lebte H. eine glückliche Zeit. Die aus Hauptwil geschickten Briefe sind »ein schönes Echo« des Stuttgarter Zusammenseins. Er nennt ihn »Mein Teurer!« (Nr. 229, 415), »edler treuer Freund!« (Nr. 230, 417) und dankt ihm für »die goldnen Stunden der Musik! Die freundlichen Töne« (Nr. 229, 415); er spricht nicht von der
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Philosophie, sondern von der politischen Situation, vom Frieden von Lunéville und von seiner Auffassung vom Staat, der den Menschen nicht mehr durch seine »Zwangsgeseze« (Nr. 229, 417) unterdrücken soll. In dem zweiten Brief gesteht er ihm sein »Einsamseyn« (Nr. 230, 418) wie die zunehmende Schwierigkeit, sich zu konzentrieren (»ists seit ein paar Wochen ein wenig bunt in meinem Kopf«, ebd., 417), und wünscht, wieder einen Tag bei ihm zu sein. An Böhlendorff
Zu dem Kreis der Homburger Freunde gehörten neben Sinclair auch Friedrich Muhrbeck, Casimir Ulrich von Böhlendorff und Siegfried Schmid. Alle Briefe an Muhrbeck und Schmid sind verloren gegangen, den 15 überlieferten des in Frankfurt kennengelernten Freundes, der in Jena mit Sinclair studiert hatte, ist zu entnehmen, dass es sich um eine bedeutende Korrespondenz handelte (»Das waren wieder köstliche Worte des hohen Geistes«, StA 7.1, 157). Überliefert sind zwei Briefe an Böhlendorff, die unter den am häufigsten untersuchten des ganzen Briefkorpus sind. Der Freund hatte mit Sinclair in Jena studiert und war dem »Bund der freien Männer« beigetreten, 1797 erlebte er die Errichtung der Helvetischen Republik, war dann in Homburg bei Sinclair und später in Berlin als Publizist tätig; geistig zerrüttet kam er nach Kurland zurück, reiste durch Nordosteuropa und nahm sich 1825 das Leben. Der erste Brief (4.12.1801), seit Szondis Aufsatz »Überwindung des Klassizismus« immer wieder erforscht, wurde als der originale Beitrag H.s zur Querelle des anciens et des modernes interpretiert. In seinen Überlegungen über die Beziehung zwischen Griechen und Hesperiern setzt sich H. Winckelmann entgegen, der die Nachahmung der Alten als den einzigen Weg, unnachahmlich zu werden, betrachtete, und preist »den freien Gebrauch des Eigenen« (Nr. 236, 426), der durch das Fremde erlernt werden kann. H. geht von der These aus, dass das »Nationelle« (ebd.) der Griechen und der Abendländer verschieden ist: den Griechen sei die »Leidenschaft«, das »Pathos«, »das Feuer vom Himmel«, den Hesperiern die »junonische Nüchternheit« (ebd.) angeboren. Beide, von ihrem Bildungstrieb geführt, streben »im Fortschritt der Bildung« (ebd.) zum Gegenteil, d. h. die Griechen entfernen sich vom Pathos, eignen sich die Nüchternheit an und werden »von Homer an« (ebd.) Meister in der »Darstellungsgaabe« (ebd.); die Abendländer kommen von der ihnen angeborenen Nüchternheit zum Pathos. Da beide sich im Laufe der Bildung von ihrem Ursprung progressiv entfernen, wird für sie der Ge-
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brauch des Eigenen immer schwieriger; das verlorengegangene Nationelle kann nur durch das Fremde wiedergewonnen werden. So müssen die Abendländer, die ihre ursprüngliche Nüchternheit verloren, sie wieder von den Griechen lernen, die im Laufe ihrer Bildung Meister »in Darstellungsgaabe« (ebd.) geworden sind. In beiden Fällen erscheint das Ziel der Bildung Hesperiens wie Griechenlands ein Ideal, das in der Mitte zwischen der Darstellungsgabe und dem Pathos steht; es wird aber von ihnen auf entgegensetzten Wegen erreicht. H.s Thesen wurden geschichtsphilosophisch und allgemein-kulturell interpretiert und oft aus dem Kontext extrapoliert; in Böhlendorffs Lob des Dramas Fernando, das den Ausgleich zwischen »Präzision und tüchtiger Gelenksamkeit« (ebd., 425) (»Klarheit der Darstellung«, ebd., 425–426) und »Wärme« (ebd., 425) (»Feuer vom Himmel«, ebd., 426) erreichte, erscheint die Mitte zwischen Pathos und Nüchternheit auch und vor allem als ein Kunstideal. Der am Ende eingeführte Gegensatz zwischen der griechischen Tragödie, in der die Menschen »in Flammen verzehrt die Flamme büßen«, die sie »nicht zu bändigen vermochten« (ebd.) und der »echten modernen Tragödie« (ebd.), in der sie »stille in irgend einem Behälter eingepackt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn« (ebd.), stellt jeweils die griechische und die hersperische Form des Tragischen dar, die in den Anmerkungen zur Antigonä im Unterschied zwischen dem »tödtlichfactisch[en] Wort« (StA 5, 270), das den sinnlichen Leib tötet, und dem »tödtendfactisch[en]« (ebd.) (Oedipus auf Kolonos), das den Geist ergreift, wiederzufinden ist. Im zweiten Böhlendorff-Brief wendet sich die geokulturelle Perspektive H.s von Griechenland nach Südfrankreich. Im Herbst 1802, nach der Rückkehr aus Bordeaux, gesteht H. dem Freund, dass die Reise nach Südfrankreich ihn mit dem Wesen der Griechen bekannt machte. Die Spannung zwischen dem Feuer des Himmels und der junonischen Nüchternheit scheint jetzt das Wesen der französischen Landschaft und der südlichen Menschen zu charakterisieren: »Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen« (Nr. 240, 432). »Das Athletische der südlichen Menschen« (ebd.) erscheint als ein Zeichen der südlichen Fähigkeit, das Feuer des Himmels plastisch zu bändigen bzw. sich durch die »Regel [...] vor des Elements Gewalts« (ebd.) zu behüten. In den Anmerkungen zum Oedipus wird H. die »Haupttendenz« der Griechen mit der Fähigkeit, »sich fassen zu können« (StA 5, 269–270), identifizieren: »Deswegen
hat der Grieche auch mehr Geschik und Athletentugend« (ebd., 270). Neben den südlichen Menschen und der Landschaft macht ihm auch »[d]er Anblik der Antiquen« (Nr. 240. 432), die H. sich vielleicht auf dem Rückweg in einem Pariser Museum ansah, die Griechen und »überhaupt das Höchste der Kunst« (ebd.) verständlich. Dem Wesen der Griechen hatte er sich in Frankreich vor allem durch den Kontakt mit den südlichen Menschen angenähert. Der Reise in das Fremde folgt die Rückkehr zum Eigenen. Durch die Erfahrung des Fremden sensibilisiert ist er jetzt wieder in seiner »Vaterstadt« (ebd., 433) und wird von der »heimathlichen Natur« (ebd.) ergriffen. Es folgt eine Beschreibung der Landschaft, in der H. die nationelle Komponente hervorhebt (»das Licht in seinem Wirken, nationell [...] das Karakteristische der Wälder«, ebd.). Statt der Reise in den fremden apollinischen Süden, der ihn »geschlagen« (ebd., 432) hatte, sind jetzt das Bleiben und »das philosophische Licht« (ebd., 433) um das eigene Fenster seine Freude. Am Ende weist H. den Freund auf die »vaterländische Umkehr« (StA 5, 271) seiner Dichtkunst hin: »Mein Lieber! ich denke, [...] daß die Sangart überhaupt wird einen andern Charakter nehmen [...] weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen« (Nr. 240, 433). An Ebel
Die fünf überlieferten Briefe an Johann Gottfried Ebel stammen aus der Zeit zwischen 1795 und 1799; den Arzt, Naturforscher und Reiseschriftsteller, der H. die Hauslehrerstelle in Frankfurt vermittelte, lernte er 1795 auf seiner Reise von Jena nach Nürtingen in Heidelberg kennen. Nach einer Reise in die Schweiz, deren Bild stark durch Rousseau und Haller geprägt war, wurde Ebel mit seinen Schriften zum Verfechter des »Philhelvetismus«; 1796 ging er als begeisterter Republikaner nach Paris und von dort schrieb er H. enttäuscht über die Verhältnisse. H. antwortete ihm tröstend: »Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird« (Nr. 132, 229). Die Briefe zeigen große Achtung vor dem »verehrungswürdigen Freund« (Nr. 103, 176). Die Nürtinger Briefe zeigen durch Höflichkeitsbezeugungen noch eine gewisse Distanz, aber auch die Hoffnung auf eine Seelenverwandtschaft (»um so mehr muß ich es dem danken, der mich glauben läßt, er finde einen Theil seines Wesens in mir«, ebd.). H. schließt Ebel in den Freundschaftsbund der »unsichtbaren streitenden Kirche« (Nr. 106, 185), der auch von Hegel, Kant und Herder gepriese-
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nen Gemeinschaft gleichgestimmter Geister, ein. Beliebtes Thema ist die Pädagogik: H. gesteht das Scheitern der Erziehung des jungen Fritz und illustriert sein pädagogisches Programm, das sich auf Rousseau (»Rousseau hat Recht«; Nr. 103, 178) und Kant gründet. Aus Frankfurt schreibt er dem Freund in Paris von Politik; der Brief zeigt die Distanzierung H.s von der Revolution als Weg zur Erneuerung; nicht das revolutionäre Frankreich sondern Deutschland ist das Land, das durch eine friedliche Entwicklung zur Demokratie reifen kann: »Je stiller ein Staat aufwächst, um so herrlicher wird er, wenn er zur Reife kömmt. Deutschland ist still, bescheiden, es wird viel gedacht, viel gearbeitet, und große Bewegungen sind in den Herzen der Jugend« (Nr. 132, 229). Im letzten Brief aus Homburg bittet H. den Freund, der nichts für das geplante Journal schicken kann und ihn nach den Gründen seiner »Trennung von dem Hauße« (Nr. 201, 377) Gontards fragt, Susette »das Wort eines ächten Freundes« (ebd., 378) zu bringen, ohne die Umstände zu erklären. Er erinnert ihn an »jene alten Bande« (ebd., 377) und an den »Zusammenklang der Meinungen und Sitten« (ebd.). Vor allem gesteht er dem in Paris weilenden Frend »vor der allmächtigen alles beherrschenden Noth« (ebd., 378) seine Desillusionierung des Glaubens, dass sich die »Keime von Aufklärung, diese stillen Wünsche und Bestrebungen Einzelner zur Bildung des Menschengeschlechts« (Nr. 65, 93) noch ausbreiten können. An Schiller
Vom Briefwechsel H.s mit dem verehrten Meister haben sich nur elf Briefe aus den Jahren 1794 bis 1801, darunter ein Entwurf, und nur drei Briefe Schillers an H. erhalten. Die Eigenschaften dieser Korrespondenz, die durch Kompaktheit charakterisiert ist, wurden von Raabe (1963) und neuerdings von Louth (2000), Reitani (2005) und Kreuzer (2011) diskutiert. Die asymmetrische Beziehung ist gekennzeichnet durch Abhängigkeit und erstrebte Anerkennung. Anlass der Briefe war meistens die Übersendung einiger Gedichte für den »Musenalmanach«; der eigentliche Zweck H.s war aber (vgl. Raabe 1963, 109), von sich »Rechenschaft zu geben« (Nr. 104, StA 6.1, 181) und sich eines Zeichens der Anerkennung des Dichters zu versichern. Die Briefe zeichnen sich durch einen einheitlichen Stil aus. Es fehlen oft die Anreden, Orts- und Zeitangaben und Schlussformeln; wenn sie vorhanden sind, drücken sie H.s Verehrung aus (»Ihr wahrer Verehrer«, Nr. 129, 224); Höflichkeitsbezeugungen und eine gebrochene Redeweise sind Zeichen von H.s Unterwürfigkeit (»Ich gestehe Ihnen«, Nr. 194, 364; »Ich nehme mir die Frei-
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heit«, Nr. 76, 113). Fragesätze enthüllen die Unsicherheit des Dichters; die Verwendung von irrealen Konditionalsätzen, Gleichnissen, Zitaten, Andeutungen und Fremdwörtern sind ein Beweis der Schwierigkeit, sich vor dem Meister direkt zu äußern (vgl. Reitani 2005, 157–158). Die Themen reichen von der Erziehung über philosophische Fragen bis zum Tod des Empedokles und der Bewerbung um die Jenaer Professur. Es ist aber die Beziehung zwischen den beiden, die im Zentrum der Briefe steht. H. setzt den Akzent einerseits auf die Güte und den Großmut Schillers bzw. auf »den Wert des Geistes«, den er »in mancher guten Stunde rein empfand« (Nr. 102, 175), andererseits auf die Wirkung einer solchen Größe auf ihn: das »freundlich[e] Wort« kann ihn »verwandeln« (Nr. 129, 224); seine Nähe empfindet er auch als niederschlagend (Nr. 89); vor ihm fühlt er sich wie in einem »trüben oder ungeschliffnen Spiegel« (Nr. 104, 181); er gesteht: »Sie beleben mich zu sehr, wenn ich um Sie bin« (Nr. 144, 250–251). Der Weggang aus Jena ist auch eine Flucht, um von ihm nicht »durch und durch beherrscht zu werden« (Nr. 59, 373); er sei der einzige Mann, an den er seine Freiheit verloren habe (Nr. 129, StA VI, 224). Ängstlich drückt er diese Befindlichkeit durch einen Vergleich aus: »Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesezt hat. Man muß sie zudeken um Mittag.« (Nr. 144, StA 6.1, 251). Er betont immer wieder seinen Minderwertigkeitskomplex, die »Bedürftigkeit« (Nr. 124, 215), seine Ehrfurcht, seine »tiefe Ergebenheit« (Nr. 184, 342) und seine »Anhänglichkeit« (Nr. 102, 176; Nr. 129, 223); er gesteht ihm: »aber von Ihnen dependir’ ich unüberwindlich« (Nr. 139, 241); »Ihr gänzlich Verstummen gegen mich macht mich wirklich blöde« (Nr. 129, 223). H. brauchte eine Legitimation des eigenen Handelns durch eine Autorität, aber Schiller akzeptierte nur teilweise diese Rolle in der Beziehung. H.s Briefe beantwortete er selten. Im Briefwechsel mit Goethe erwähnte er nicht einmal seinen Namen (»den Verfasser«, StA 7.2, 95) oder sprach mit Plural von »diese[n] Hölderlin und Schmidt«, die er »so spät als möglich aufgeben« (ebd., 107) wolle; de facto gab er sie früh auf. An die Frauen Von H.s Briefen an Frauen haben sich wenige erhalten. Die junge Liebe für Louise Nast wird durch einen Briefwechsel bestätigt, der alle Züge der Empfindsamkeit trägt und die Geschichte einer Beziehung vom Liebesbekenntnis (Nr. 15, 20–25) bis zur Lösung des Verlöbnisses (Nr. 31, 50–52) erzählt. Diese Herzens-
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ergießungen enthalten Ausrufe, Fragen und einen empfindsamen Wortschatz (»mein ganzes wonnerfülltes Herz«, Nr. 25, 43; »Es goß so eine süße Wehmut über meine ganze Seele« Nr. 25, 44); sie folgen der empfindsamen Briefkultur. Von der Tübinger Beziehung mit Elise Lebret sind keine Zeilen erhalten; verloren sind auch die Briefe an Charlotte von Kalb. Von der Korrespondenz mit Susette Gontard sind nur vier Konzepte H.s und 17 Briefe der Geliebten (1798– 1800) überliefert. Susettes Briefe sind ein Zeugnis der Verwandtschaft zweier Seelen, aber auch der Entsagung und des Leidens an der Trennung: »Die ganze Gegend ist stumm, und leer, ohne Dich! und ich bin so voll Angst« (StA 7.1, 103). Die vier Entwürfe H.s wurden vielleicht aus Angst, dass der dunkle Inhalt die Geliebte erschüttern könnte, nie vollendet und abgeschickt. Der erste ist eine Erinnerung an die Tage der Liebe und der Freude (Nr. 176, 318), der zweite ein Beweis der schmerzvollen Trennung; die Gottheit ist verschwunden; H. vergleicht sich mit einem »glimmend[en] Lämpchen, das »um einen Tropfen Öl« bettelt; er nennt sich einen »lebendig[en] Todte[n]« (Nr. 182, 337); nur die Erinnerung an die »ungestörten Stunden« (ebd.) mildere sein »tiefes Unglük« (ebd., 338). Er erzählt von seinen literarischen Plänen, vom Scheitern seines Journals und vom »Verdruß« (Nr. 195, 366), den ihm das verursachte. Er klagt über seine Lage, entschuldigt sich aber für die »gerade Sprache!« und den Verlust der »zarten Töne des innersten Lebens« (Nr. 195, 367), die Susette verletzen könnten. Er schickt ihr den zweiten Band des Romans und bittet um Verzeihung, dass Diotima stirbt. Er äußert vor allem seine »schweigende Verzweiflung« (Nr. 198, 370), seinen »ewige[n] Kampf und Widerspruch im Innern«, die »langsam tödten« (ebd., 371). Mit folgenden Anreden wendet er sich an seine Geliebte: »die Perle der Zeit«, die »Friedliche!« (ebd., 370); »Theuerste!« (Nr. 195, 366), »Liebe!« (Nr. 198, 370), »Friedliche!« (ebd.). Es sind Überreste einer innigen verlorenen Korrespondenz, deren biographische und literarische Bedeutung unschätzbar ist. An Seckendorff Den Brief an Franz Seckendorff, der seit dem Tübinger Studium H. bekannt, in Jena den »freien Männern« nah war und in Zusammenhang mit dem Hochverratsprozess gegen Sinclair verhaftet wurde, schreibt H. im März 1804. Wilmans hatte ihm einen Subskriptionsprospekt zu den Malerischen Ansichten des Rheins geschickt und ihn gebeten, für den Band zu
werben. H.s Gedanken gelten als Zeugnis für seine Abwehr des Romantischen und des Pittoresken. Die Ansichten, die er sich wünscht im Band zu finden, sollten »an beiden Seiten nichts Unzugehöriges und Unkarakteristisches« (Nr. 244, 437) enthalten, die Erde »in gutem Gleichgewicht gegen den Himmel« und »das Licht [...] nicht schief und reizend täuschend« (ebd.) zeigen; sie sollten vom »Winkel innerhalb des Kunstwerks« (ebd.) als auch vom »Quadrat außerhalb desselben« (ebd.) bestimmt, d. h. geometrisch sein. Auch »die Architektonik des Himmels« (ebd.), womit er sich jetzt »vorzüglich« (ebd.) beschäftigt, zeigt H.s Versuch, sich durch »Formen des Himmels« (Nr. 240, StA 6.1, 433) am Festen gegen die Bedrohung des Aorgischen zu halten. Auch die Pariser Antiquen, schon im ersten Böhlendorff-Brief erwähnt, gelten als Kontrast zum Schauerlichen. Im Brief gelangt H.s späte ›vaterländische Wende‹ zum Ausdruck; Gegenstand seiner Gesänge müssen jetzt »die verschiedenen Schiksaale der Heroen, Ritter und Fürsten« des Vaterlands sein (Nr. 244, 438). Dieses poetische Programm wird er nur beschränkt realisieren können (vgl. Polledri 2016). An Verleger und Herausgeber An Steinkopf
Von der Geschäftskorrespondenz H.s haben sich nur wenige Briefe erhalten. Neben dem Brief an Cotta über die Kürzung des Romans (Nr. 120, 207) sind zwei Briefe an Johann Friedrich Steinkopf und vier an Friedrich Wilmans überliefert. Die Briefe an den Stuttgarter Verleger zeugen vom Enthusiasmus für das geplante Journal, aber auch von den Schwierigkeiten H.s, illustre Namen als Mitarbeiter zu gewinnen. Im ersten stellt H. sein Projekt als »Vereinigung und Versöhnung der Wissenschaft mit dem Leben, der Kunst und des Geschmacks mit dem Genie, des Herzens mit dem Verstande, des Wirklichen mit dem Idealischen« (Nr. 181, 335) vor; es klingt darin ein Echo der Wechselwirkung von Natur und Kunst vom Grund zum Empedokles. Im zweiten muss er schon sein partielles Scheitern zugeben; »eine vollständige Anzahl von Mitarbeitern« (Nr. 190, 356) kann er nicht nennen; Conz, Jung, Heinse und Schelling hatten zugesagt, A. W. Schlegel, der auf der Liste steht, war nur angesprochen worden. Ebels Antwort wird negativ sein; man weiß nicht, ob Wilhelm von Humboldt angesprochen wurde; Lafontaine antwortete nicht; unbekannt ist Matthissons Antwort. Beide Briefe verwenden einen nüchternen unpersönlichen Stil; H. listet die potentiellen Autoren
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auf, skizziert seine Pläne und bemüht sich, durch große Namen den Verleger zu überreden. An Wilmans
Die Briefe an Wilmans wurden zwischen September 1803 und April 1804 geschrieben; Anlass war die Antwort H.s auf das Angebot, die Sophokles-Übersetzungen zu verlegen. Es wird aber kein sachlicher Geschäftstil verwendet; es kommen hier schon Ausdrücke, Anreden und Schlussformel, die H.s. Ergebenheit gegenüber seinen Adressaten in den Turmbriefen zeigen (»Insonders hochgeehrtester Herr!«, Nr. 241, 434; »Ich bin mit wahrhaftiger Hochachtung Euer Wohlgebohren gehorsamster Diener«, ebd.). Die Briefe bezeugen die »vaterländische Umkehr« (StA 5, 271) und zugleich H.s Versuch, vor der Bedrohung des Aorgischen, »das Veste« (Nr. 245, 438) zu suchen. Er schreibt, er könne jetzt »mehr des Vaterlandes schreiben« (Nr. 241, 434) und hoffe, »die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler [...] lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen« und »das Orientalische, das sie verläugnet hat« (ebd.), herauszuheben und so den griechischen »Kunstfehler« (ebd.) zu verbessern. Im ersten Böhlendorff-Brief wurde die Entfernung der Griechen vom ursprünglichen »Feuer vom Himmel« (Nr. 236, 426) geschildert. Das »Orientalische« (Nr. 241, 434), das sie in ihrem Kunsttrieb verleugneten, möchte H. jetzt in den Übersetzungen wiedergewinnen, um den »Kunstfehler« (ebd.) zu verbessern, d. h. statt der Kunst das ursprüngliche Pathos hervorheben. Im folgenden Brief behauptet H., dass nach seinen Überarbeitungen die Sprache der Antigonë »lebendig genug« (Nr. 242, 345) ist; seine Aufgabe der Hervorhebung des Orientalischen hat er zu Ende gebracht. Erwähnt werden »kleine Gedichte« (ebd.), die im folgenden Brief als »Nachtgesänge« (Nr. 243, 346) genannt werden (s. Kap. 31). Sie werden den »vaterländischen Gesängen« (ebd.) entgegensetzt (s. Kap. 20). Noch einmal drückt er hier den Wunsch aus, ab jetzt sich hauptsächlich dem Vaterländischen zu widmen. Im letzten erhaltenen Brief vor der Umnachtung (2.4.1804) ist H.s Versuch offenbar, sich an allem Festen anzuklammern und einen Halt zu suchen; er verwendet zweimal den Ausdruck »das Veste« (Nr. 245, 438); er sucht in dem Druck »die Züge, welche an den Buchstaben das Veste anzeigen, gegen das Modifizierende« (ebd.); »das Feste, was diese Typographie charakterisiert« (ebd.); »die festeren Züge« (ebd., 439); er meint, er habe »gegen die exzentrische Begeisterung« geschrieben und »die griechische Einfalt« (ebd.) erreicht. Gegen
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bedeutet hier »in Richtung auf« (vgl. Sophokles-Übersetzungen), womit H. wieder auf sein Bestreben hinweist, das von den Griechen verleugnete Orientalische hervorzuheben, um damit ihre ursprüngliche Natur zu erreichen. Literatur zur Editionsgeschichte
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Elena Polledri
VI Rezeption
A Deutschland 37 Norbert von Hellingrath Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erscheint der vierte Band der von Norbert von Hellingrath besorgten historisch-kritischen Ausgabe Sämtlicher Werke von F. H. »nur vertraulich mitgeteilt« als Sonderdruck. Er enthält, wie der Titel besagt, Gedichte 1800–1806 und darin, wie der Herausgeber in der »Vorrede« der erst 1917 erscheinenden öffentlichen Ausgabe mit einigem Stolz hervorhebt, 1500 unbekannte Verse H.s. 70 Jahre nach dem Tod des Dichters machen 100 Exemplare eine handverlesene Schar von Empfängern mit einem als Werkstufe bislang nicht sichtbaren, weitgehend unbekannten Werkteil H.s bekannt. An der ersten Stelle der erhaltenen Versandliste von Hellingraths Hand steht »StG« [Stefan George], ihm folgen der holländische Dichter Albert Verwey, der Dichter und Freund Karl Wolfskehl, weitere Mitglieder des George-Kreises, aber auch Hugo von Hofmannsthal, Rudolph Kassner und Rainer Maria Rilke, Georg Simmel, Heinrich Wölfflin und Alfred Weber. Wie kam es zu dieser Ausgabe, der doppelten Erscheinungsform des vierten Bandes und wer war Norbert von Hellingrath? »Das sibyllinische buch lang in den truhen verschlos sen weil niemand es lesen konnte wird nun der all gemeinheit zugeführt und den erstaunten blicken er öffnet sich eine unbekannte welt des geheimnisses und der verkündung. Mag dies gefahr sein so bleibt doch der trost dass auch fürder unfassbar was nicht er fühlbar ist und dass beim nahen des schicksalaugen blicks das fromme schweigen gebrochen werden darf.« (Stefan George: Lobrede auf H., B X, 1919)
So begann 1919 Georges Lobrede auf Hölderlin, die auf das Erscheinen von Hellingraths Band der Gedichte 1800–1806 reagierte. George und der Kreis seiner Freunde stellten also eine eingeschränkte Öffentlichkeit idealer Leser dar. Der »schicksalaugenblick« des Kriegsausbruchs, nationale Not und Erhebung, ermöglichen es dann, die »welt des geheimnisses und
der verkündung« einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Georges nachträgliche Mythisierung ist aber durch Fakten und Hellingraths eigene Aussagen zu korrigieren. Norbert von Hellingrath (1888–1916), väterlicherseits aus einer bayrischen Offiziersfamilie, mütterlicherseits aus einer alten Familie griechisch-byzantinischen Ursprungs stammend, hatte es sich als Student der Germanistik und Altphilologie in München auf Anregung seines Doktorvaters Friedrich von der Leyen zur Aufgabe gemacht, eine Doktorarbeit über H.s Sophoklesübertragungen (s. Kap. 27 und 25) zu schreiben. Galten diese, nach 1800 entstanden, der Fachwelt um die Jahrhundertwende als »unverständlich und ungeniessbar«, so galt dies erst recht für die von Hellingrath während seiner Handschriftenstudien in der Bibliothek zu Stuttgart aufgefundenen Pindarübertragungen (s. Kap. 26), denen er schließlich seine Dissertation widmete. »Unverständlich und ungeniessbar«, so qualifizierte sie Hermann Paul, einer der Gutachter im Promotionsverfahren ab, der Hel lingraths Arbeit wegen des Mangels an Objektivität gerne abgelehnt hätte. Ihm war auch der Einfluss »durch eine der jüngsten Richtung[en] der Lyrik« allzu groß (Pieger 1993, 90). »Hölderlins Pindar seie nichts weiter als blosze Verrücktheit« (Hellingrath an Wolfskehl, 30.7.1910), diesem Urteil Pauls stimmte nicht nur der Herausgeber einer konkurrierenden Ausgabe beim Insel-Verlag zu (»fast jede zweite Zeile [trägt] den unverkennbaren Stempel der Katatonie« – Euphorion, 21, Jg. 1914, 357 ff.), sondern noch 1929 Rudolf Borchardt, wenn er schreibt: »Ich behaupte, dass die sogenannten Pindar übersetzungen, die er im Hirnzerfall der Dementia praecox gemalt hat, ein irrer und, wie bei Wahnsinnigen so oft, trockener und pedantischer Versuch der Interlinearversion gewesen sind« (Borchardt an M. Rychner, Mai/Juni 1929). George aber, dem alle drei die Schuld an Hellingraths Verwirrungen geben, George hatte, durch Wolfskehl mit einigen Übertragungen bekannt geworden, ihre Entdeckung im Okto-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_37
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ber 1909 für ein epochales Ereignis gehalten und dem entsprechend gehandelt. Er ließ die neunte Folge seiner Zeitschrift Blätter für die Kunst im Februar 1910 aus Anlass der Erstveröffentlichung von sechs Pindar übertragungen H.s erscheinen und kündigte in einer Vorbemerkung eine Veröffentlichung des Ganzen im Verlag der Blätter für die Kunst an (erscheint 1910). Hellingrath hatte aber nicht nur die Pindarübertragungen in der Stuttgarter Bibliothek entdeckt, sondern in Stuttgart und Homburg auch Handschriften mit jener Spätdichtung H.s, die weitgehend unentziffert, unpubliziert und unbekannt war. Erste Transkriptionen von Gedichten aus den Jahren 1800–1806 erreichten wiederum Wolfskehl und George, die Hellingraths Begeisterung teilten und schon Ende 1910 unter dem Titel Hymne Hellingraths Textkonstitution von Wie wenn am Feiertage ... in die zweite Auflage ihrer Anthologie Das Jahrhundert Goethes aufnahmen. George soll das Gedicht als »wichtigsten Fund der neueren Literaturgeschichte« bezeichnet haben. So stand der kritischen bis ablehnenden, ja feindlichen Reaktion der etablierten Wissenschaft die enthusiastische Wolfskehls und Georges gegenüber, was dazu führte, dass Hellingrath nach schließlich doch erfolgreich abgeschlossener Promotion und einem einjährigen Lektorat in Paris den Studienort wechselte, in das von Georgefreunden geprägte Heidelberg ging, und dass der entscheidende, das Skandalon der Spätdichtung enthaltende vierte Band zuerst als Sonderband für eine eingeschränkte Öffentlichkeit von Freunden und Interessenten erschien. Während des gesamten 19. Jahrhunderts war H.s späte Dichtung unentdeckt geblieben. Das Homburger Folioheft (s. Kap. 33) und die meisten anderen Manuskripte, in denen H. seine späten Gedichte entworfen hatte, waren bis 1856 in Familienbesitz geblieben. Die ersten Herausgeber der Gedichte (1826) und der Sämtlichen Werke (1846) hatten zwar Kenntnis von ihnen, nahmen sie aber nicht auf; ja, Gustav Schwab und Ludwig Uhland ließen sogar das 1808 publizierte Gedicht Patmos weg: »[...] aber Stücke wie Patmos, Chiron p. konnten nicht wohl aufgenommen werden, wenn daran gelegen ist, daß Hölderlins Poesie, beim ersten Erscheinen seiner gesammelten Gedichte, in ihrer vollen und gesunden Kraft sich darstelle.« (L. Uhland an K. Gock, 13.5.1825) Die neu etablierte Fachwissenschaft zählte H. zu den »einseitig krankhaften Talenten« (Pieger 1993, 77). Auch die Werkausgaben von Berthold Litzmann (1897), Wilhelm Böhm (1905) und Marie Joachimi-Dege (1909) bedeuteten keinen Beginn der Erschließung von H.s späten Hymnen und Gedicht-
fragmenten, keine Änderung in der Pathologisierung des Spätwerks. Oden, Elegien und Hymnen bis zum Jahre 1802 waren zwar gedruckt, aber in fragwürdiger, häufig verbesserter Gestalt überliefert. Die Geschichte der Erschließung und Neubewertung setzt erst ein mit Hellingraths Dissertation (1910) und der in Zusammenarbeit mit Friedrich Seebaß verantworteten historisch-kritischen Ausgabe, deren erste Bände schon 1913 erschienen. Dabei war die Ausgangssituation denkbar ungünstig. Angeregt durch Hellingraths Konkurrenten und schärfsten Kritiker, den Tübinger habilitierten Germanisten Franz Zinkernagel, war 1909 die lange Zeit einflussreiche H.-Pathographie des Tübinger Facharzts für Psychiatrie Wilhelm Lange erschienen. Langes Diagnose »Diese Gedichte [Nachtgesänge] sind nicht etwa nur ›schlecht‹ im Verhältnis zu den gesunden Dichtungen Hölderlins, sondern auch an sich betrachtet, sofort als geisteskranke Produkte erkennbar« (Lange 1909, 104) setzte Hellingrath 1914 in der Vorrede zu den Gedichten 1800– 1806 den Satz entgegen: »Dieser Band enthält Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes, das eigentliche Vermächtnis.« (Vorrede, XI) Wie war aber diese Wende möglich, was befähigte einen jungen Philologen gegen die vom Zeitgeist favorisierte Meinung der Wissenschaft, ein neues H.-Verständnis zu entwerfen? Es hatte Vorbereiter gegeben, und Hellingrath hatte sie wahrgenommen. Da ist vor allem Wilhelm Dilthey zu nennen, der schon in seinem Aufsatz von 1867 Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinns die an der Grenze und über der Grenze zum Wahnsinn entstandenen Gedichte für die bedeutendsten erklärte und dies in seinem wichtigen H.Aufsatz von 1906 verstärkte (W. Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung ... Vier Aufsätze, 1906). Entscheidend aber war Hellingraths poetische Sensibilität, die ihn früh neben Schiller, Goethe und den Romantikern, neben Nietzsche und George, H. entdecken und verehren ließ (1906). Im Prozess der Werkaneignung spielte die parallel laufende Schulung durch die zeitgenössische Lyrik, vor allem diejenige Georges, aber auch Hofmannsthals und Rilkes, eine prägende Rolle. Es war nicht Georges symbolistisches, vor 1900 entstandenes und veröffentlichtes Werk, das Hellingrath zu faszinieren vermochte. Es waren die Gedichte aus dem 1907 erschienenen Siebenten Ring und die vor Ende 1913 in den Blättern für die Kunst veröffentlichten Gedichte aus dem Stern des Bundes. Weichenstellend ist für Hellingrath Georges Maximin-Dichtung geworden (das Gedenkbuch Maximin war 1906 erschienen; vgl. Oelmann 2014, 149–152).
37 Norbert von Hellingrath
Im Juni 1907 hielt Hellingrath im Seminar seines späteren Doktorvaters Friedrich von der Leyen ein Referat über Georges Verlaine-Übertragungen. Hier formulierte er mit der Frage, was einen ›Dichter‹ von einem ›Techniker‹ der Sprachkunst unterscheide, die Disposition, mit der er H.s Gedichte wie Georges Dichtung nach der Jahrhundertwende aufnahm. Vorbereitend hatte hier die von Wolfskehl und George 1902 herausgegebene Anthologie Das Jahrhundert Goethes gewirkt, indem sie der dominanten deutschen Liedtradition der ›glatten Fügung‹ eine Gegentradition der von Hellingrath dann für H. reklamierten ›rauhen Fügung‹ entgegensetzte. In von der Leyen fand er einen Lehrer, der, seinerseits von Wolfskehl angeregt, Hellingraths Interesse an H.s späten Übersetzungen förderte. Schließlich kam, hilfreich und verstörend, eine psychische Disposition dazu, die Hellingrath dazu veranlasste, sich ähnlich wie H. als Gefährdeter zu sehen. Durch die vielseitigen Anfeindungen nach Erscheinen seiner Dissertation und während der Arbeit an den späten Gedichten stiegen Verletzlichkeit und Identifikation mit H. So schrieb er schon im Mai 1910 an von der Leyen: »alles feindliche des 19. j[ahr]h[underts] quälte mich im täglichen verkehr: das schreckliche buch eines psy chiaters der nebenbei auch noch mir persönlich – denn ich habe manches mit H[ölderlin] gemeinsam das ich vielleicht besser nicht hätte – aufs höflichste mit psy chopathischer minderwertigkeit und künftigem Irren haus begegnete [...].«
1914, in einem Brief an seine Braut Imma von Ehrenfels, schilderte er den Konflikt seiner Gefühle, beginnend mit einer Beschreibung seines unguten Zustandes. Er fährt dann fort: »[...] ich war mir gewisser der Hölderlin wird sich (und mich mit) und der George wird sich durchsetzen. nur daß ichs nicht aus mir bringen kann alle machtlose feindschaft in mich zu wühlen allen hohn und haß um mich zu versammeln als wär er und würd er tat und zu verschlingen als brächt ich ihn dadurch weg. da sitz ich und jedes neue wort vom Hölderlin das ich aus den pa pieren bekomm wird lebendig in mir daß ich zittre – und die andern werdens kalt und dürr nehmen / sie werdens leicht haben dabei / und reden von wahnsinn und lazareth poesie.« (15.1.1914)
Trotz aller Zweifel und Anfeindungen erschienen in schneller Folge 1910 von Hellingrath herausgegeben
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Hölderlins Pindar-Übertragungen, 1911 Hellingraths Dissertation Pindarübertragungen von Hölderlin, 1913 Band V herausgegeben von Hellingrath mit Übersetzungen und Briefe 1800–1806 und von Seebaß herausgegeben Band I Jugendgedichte und Briefe, 1914 die Sonderausgabe mit den Gedichten 1800–1806, und schließlich hielt Hellingrath im Kriegsjahr 1915 noch zwei weithin beachtete Vorträge in München über Hölderlins Wahnsinn und Hölderlin und die Deutschen. In den Buchhandel kam der vierte Band erst 1917, nach Hellingraths Tod vor Verdun im Dezember 1916. Ludwig von Pigenot setzte die Ausgabe 1922 mit dem dritten Band (Gedichte, Empedokles etc.) fort, ein Jahr später erschienen die letzten Bände, darunter Band VI mit den spätesten, den Turmgedichten H.s (s. Kap. 35) und einigen Gedichtfragmenten aus der Homburger Zeit. Abschließend sei Hellingraths Leistung zusammenfassend dargestellt. Seinem edierenden und deutenden Tun vorausgesetzt ist eine grundlegende Neubewertung des Zusammenhangs von Leben, Werk und Krankheit. Hellingrath formuliert in Notizen zu einer gegen Langes Thesen gerichteten Broschüre: »[...] was dem andern nur noch katatonisches Wortgeklingel schien: darin sehen wir die letzte Reife und heilige Höhe des Dichters. [...] Nicht der Wahnsinn kam aus der Kunst, nicht die Kunst aus dem Wahnsinn: Das eine Lebendige ging eingeborne Bahn nach seinen Gesetzen – der eine aber erfaßt sie als Logik des typischen Krankheitsverlaufes, der andre als Logik der artlosen Offenbarung – weil aber dieser ein Dichter war, ganz rein und ganz dem Gotte eigen, so war alles heilig und geweiht und führte zum Guten.« (Helling rath: Hölderlin-Vermächtnis, 245) Diese Interpretation ermöglicht eine Neubewertung des Werkes; nicht mehr Verfall, sondern Finalität der Produktion wird supponiert, die Spätphase von H.s Dichtung gilt als Höhepunkt seines Werkes: es »öffnet sich uns in erstaunlicher Breite und Tiefe, eine gegliederte Entwicklung, die lezte abschliessende Schicht des Werkes« (Hellingrath, Vorrede, XVI). Schließlich ist auf eine Neubewertung des Nationellen und Vaterländischen hinzuweisen. Sie war bei Hellingrath zwar bar nationalistischer oder chauvinistischer Töne, entfachte aber eine eigene Wirkungsgeschichte und gab zu vielen Missverständnissen Anlass. Festhalten lässt sich, dass Hellingraths Rede vom »Vaterländischen« nicht deutschnational ist, sondern H. folgt und damit dem »Traum von Hellas«, den Griechen, ist doch »Hölderlins vaterländisch werden [...] nur die gerade Folge seines griechisch seins«
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(Vorrede, XIII). Hellingraths ›nationale Verblendung‹ gilt der deutschen Sprache, da »heute allein von allen die deutsche Sprache den Alten sich vergleichen darf an Wucht, Nüchternheit, und heiligem Pathos, unmittelbarem Bild, Ton, Stoss, Sprachewerden des Geschauten.« (Vorrede, XII) Hier ist er Erbe einer Tradition, die von Herder (s. Kap. 11) bis ins 20. Jahrhundert führt. Gegenüber solchen Traditionsbezügen von entscheidender und bleibender Bedeutung aber ist Hellingraths rezeptionsästhetische Bezeichnung des Spätwerks als »Barockstufe«, mehr noch die Beschreibung der sie konstituierenden Stilzüge: »Äusserste Vergeistigung (fast dürfte man auch das Wort Rationalisirung gebrauchen) ist die Grundlage, daraus hervorgehend äusserstes Streben nach Gegen ständlichkeit (Realität) und nach Ausdrucksgewalt (Ex pressivität und Prägnanz) das Bezeichnende, Häufung in grösster Kürze wuchtig angedeuteter Elemente und daher überreiche, ausladende Formen das Ergebnis.« (Vorrede, XVI f.)
Editionsgeschichtlich ist zudem festzustellen, dass Hellingraths vierter Band »einen für die damalige Zeit außerordentlich umfangreichen textkritischen Anhang« enthält. Es werden die »Fundstellen der Texte in den Manuskripten, vereinzelte Ansätze zur Interpretation, zum Teil noch variierende Fassungen und im Textteil als zu bruchstückhaft nicht abgedruckte Texte sowie die nach Hellingraths Ansicht wichtigsten Varianten angeführt.« (Burdorf 1993, 55) Letzteres vor allem wurde später kritisiert, gab aber auch den Ansporn für die Reihe von historisch-kritischen Ausgaben, die bis heute ihren Fortgang nehmen. Für Hellingrath, der sich der Notwendigkeit editorischer Entscheidungen bewusst war, war die Lesbarkeit der Ausgabe entscheidend. Er wollte eine breite Schicht von Lesenden erreichen, die Ausgabe sollte, wenngleich historisch-kritisch, kein »Heiligtum der Gelehrsamkeit sein« (Vorrede, XVIII). Er wünschte sie sich als wirkende, als »Schule der Dichtkunst« (Vorrede, XVIII). Scheint die so formulierte Intention des Herausgebers den fast geheimbündlerischen Formulierungen Georges in seiner Lobrede auf Hölderlin zu widersprechen, so gilt es doch wiederum festzustellen, dass der Einfluss Georges auch in diesem Punkt manifest und dokumentierbar ist. Schreibt nicht Wolfskehl an Hellingrath im September 1910, er möge für den Druck der Pindarübertragungen im Verlag der Blätter für die Kunst eine Einleitung verfassen, »in der kurz
der Wert und das Wesen – das in den besten Stellen wirklich wiedergeburtliche – dieses deutschen Pindar auseinandergesetzt wird und vor allem darauf hingewiesen, daß das Buch wie es vorliegt allerdings nur wieder von Dichtern fachlich und wesentlich gewürdigt werden könne [...] nur daß der Satz von den ›Dichtern‹ hineinkommt ist wichtig« (Pieger 1992, 16). Auch ist von Heidelberger Freunden Hellingraths und Georges überliefert, wie George gegen übertriebenes Philologentum in der Ausgabe mit dem jungen Herausgeber kämpfte (Salin 1954, 19 f.): dem »kauzigen Philologen« gegenüber war er immer distanziert geblieben. Konsequenterweise erschien der Sonderdruck denn auch ohne den Anhang und die Vorrede. Dass die Dichter die richtige Zielgruppe für seine Ausgabe und seine Deutungen waren, zeigen die Reaktionen, die Briefe von Hofmannsthal, Verwey, George und Rilke (s. Kap. 54). Nachzuweisen wäre ihre große Bedeutung für das Werk Rilkes, aber auch für den angehenden Philosophen Walter Benjamin (s. Kap. 40). Grundsätzlich ist die H.-Renaissance des 20. Jahrhunderts ohne Hellingraths Arbeiten nicht denkbar. Literatur Ausgaben
Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911. Hölderlin. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß besorgt durch Norbert von Hellingrath [Bd. 2 und 6: begonnen von Norbert von Hellingrath, fortgeführt durch Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot], Bd. 1–6, München und Leipzig bei Georg Müller [Bd. 2, 3 und 6, Berlin: Propyläen-Verlag] 1913–1923.
Sekundärliteratur
Bothe, Henning: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«. Die Rezeption H.s von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992. Brokoff, Jürgen/Joachim Jacob/Marcel Lepper: Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014. Burdorf, Dieter: H.s späte Gedichtfragmente: »unendlicher Deutung voll«, Stuttgart/Weimar 1993. Hellingrath, Norbert von: H.-Vermächtnis, eingeleitet von Ludwig von Pigenot, München 1936, 21944. Hoffmann, Paul: Hellingraths »dichterische« Rezeption H.s, in: Kurz, Gerhard u. a. (Hg.): H. und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, 74–104. Lange, Wilhelm: H. Eine Pathologie, Stuttgart 1909. Oelmann, Ute: Hellingrath und der George-Kreis, in Brokoff, Jürgen/Joachim Jacob/Marcel Lepper: Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014, 147–160. Pieger, Bruno: Unbekanntes aus dem Nachlaß Norbert von
37 Norbert von Hellingrath Hellingraths, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), 3–38. Pieger, Bruno: Edition und Weltentwurf. Dokumente zur historisch-kritischen Ausgabe Norbert von Hellingraths, in: Volke, Werner/Ders./Nils Kahlefeld/Dieter Burdorf: H. entdecken. Lesarten 1826–1993 (Schriften der HölderlinGesellschaft 17), Tübingen 1993, 47–114.
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Pieger, Bruno: Nobert von Hellingrath und die Entdeckung des späten H., in: Lawitschka, Valérie (Hg.): H. Philosophie und Dichtung, Tübingen 2001, 131–156. Salin, Edgar: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München/Düsseldorf 21954.
Ute Oelmann
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38 Jüdische Rezeption 38.1 Das deutsche Judentum Die jüdische Rezeption H.s ist ein Phänomen des deutschen Judentums, zu dem auch die im Habsburgerreich und in seinen Nachfolgestaaten lebenden deutschsprachigen Juden gehören. Sie geschah im Horizont der seit Aufklärung und Romantik sich formierenden bürgerlichen Kultur und ihres Pathos der Bildung, an die eine weitgehende Anpassung erfolgte, was aber nicht zwangsläufig in der Aufgabe der geistigen oder emotionalen Bindung zum Judentum resultierte. Auch bei ihrer Erforschung ist es nötig »zu fragen, mit welchen argumentativen Verfahren in den verschiedenen historischen Debatten, letztlich aber in jedem einzelnen Schreibakt, in jedem einzelnen Text, der irreduzibel vieldeutige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird.« (Kilcher 2012, XXVI) Nach Anfängen um 1900 vollzog sich die jüdische Rezeption in der Hauptsache innerhalb dreier Jahrzehnte, wobei auch ihr der »grundlegende Perspektivenwechsel« (Bothe 1992, 75) in der H.-Forschung durch Dilthey und den George-Kreis (Norbert von Hellingrath; s. Kap. 37) einen mächtigen Antrieb bot. Konservative und Kulturzionisten, Assimilierte und Konvertiten – die durch den herrschenden Antisemitismus jedoch an ihre Herkunft gefesselt blieben – lasen H. gleichermaßen begeistert. Gewaltsam beendet wurde die jüdische Rezeption, soweit sie sich öffentlich vollzog, in den Novemberpogromen 1938, als die Nazis auch alles offizielle Kulturleben von Juden in Deutschland vernichteten und seine Träger existentiell bedrohten. Äußerungen danach sind erstickte Stimmen Deportierter und Vertriebener, oder werden von Überle benden erhoben, dem Rest der versprengten deutschjüdischen Kultur, die als solche aufgehört hat zu existieren. H.s Leben und Werk fand eine tiefe Resonanz im deutschen Judentum, ähnlich wie in der es umgebenden Kultur, und beschränkte sich nicht auf Philologie und Philosophie. Auch konnte dies geschehen, ohne dass dabei einer genuin jüdischen Problematik Bedeutung zukam, so bei der H.-Biographie von Stefan Zweig (1881–1942), die er in Der Kampf mit dem Dämon (1925) neben die von Kleist und Nietzsche stellte, oder dem Stück Hölderlin von Peter Weiss (1916– 1982), das am 18.9.1971 am Württembergischen Staatstheater Stuttgart Premiere hatte (s. Kap. 55). Dem einen galt er als unglückliches Dichtergenie, dem
anderen als gescheiterter Revolutionär, beide Darstellungen H.s erwiesen sich als Publikumserfolge. Aus dem Folgenden ausgespart bleiben Arbeiten von jüdischen Mitgliedern des George-Kreises, die zur H.-Forschung Entscheidendes beitrugen, sowie die Untersuchungen von Benjamin, Adorno und Szondi (s. Kap. 40), weil sie in eigenen Einträgen behandelt werden.
38.2 Die Bedeutung Hölderlins Krieg und Deutschtum Eine erste breite Wirkung erfuhr H. unter Juden zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als der Berufung auf ihn der Stellenwert eines unbedingten Bekenntnisses zu Deutschland zukam. Bellizistische und chauvinistische Töne, sonst der politischen Rechten zuzurechnen, konnte man nach 1914 von Vertretern beinahe aller gesellschaftlichen Gruppen vernehmen. Martin Buber (1878–1965), Kulturzionist und einer der bedeutendsten geistigen Erneuerer des Judentums in Deutschland, charakterisierte Hyperion bei einer Umfrage über »Weihnachtsbücher im Kriegsjahr« als »die größte dichterische Urkunde träumenden und kämpfenden Deutschtums« (Buber, Werkausgabe, Bd. 1, 290). Wirklich zählte H., auch wenn er anfangs in den Feldbibliotheken nicht zu finden war, unter christlichen wie jüdischen Soldaten zu den bevorzugten Autoren. So berichteten Hugo Bergmann (1883–1975) und Robert Weltsch (1891–1982), Anhänger Bubers aus dem Prager »Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba«, einem der Zentren der jüdischen Jugendbewegung, die später in Palästina/Israel und der Diaspora für das Judentum Bedeutendes leisteten, aus dem Feld selbstverständlich über ihre Lektüre des Hyperion (vgl. Weltsch, in: Buber, Briefwechsel, Bd. 1, 392, Bergmann, Tagebücher, Bd. 1, 66). Auch in der Heimat bemühte man sich um eine aktualisierende Interpretation H.s. Der Kulturphilosoph Georg Simmel (1858–1918) erklärte in einem, in sein Buch Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (1917) aufgenommenen Aufsatz, »das Ideal des Deutschen ist der vollkommene Deutsche – und zugleich sein Gegenteil, sein Anderes, seine Ergänzung.« Er und seinesgleichen »pflegten keine Bastardnaturen zu sein, sondern gerade ganz echtbürtige, kernhaft deutsche Naturen. Daß sie das Fremde, durch den Gegensatz Erlösende suchten – das eben war die echt deutsche Sehnsucht, dieses Hinauslangen über das Heimische wurde gerade von ihrer heimischen Wesensart
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_38
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mitumfaßt. [...] Die stärkste Erscheinung dieses Typus ist vielleicht Hölderlin« (Simmel, Gesamtausgabe, Bd. 16, 30). Was einer bloßen Indienstnahme H.s für Deutschland im Krieg nahekommt, erweist sich als Forderung, des Deutschen »Gegenteil, sein Anderes, seine Ergänzung«, zu dem auch Juden zählen, an Ideal und »Echtbürtigkeit«, als Voraussetzung der Zugehörigkeit, schließlich an der »heimischen Wesenart« überhaupt teilhaftig werden zu lassen. Dass H. eine solche umfassende Verbindung geleistet habe, erwog aber nicht nur Simmel. In einer identifizierenden Bewegung wurde er wiederholt zum Sprecher auch jüdischer Anliegen gemacht. Überhaupt war H. in den 1920er Jahren auf dem Höhepunkt seiner Popularität, nicht nur unter der nationalen Rechten und ihren Anhängern aus dem Bildungsbürgertum. Ihm kam für die Jugend insgesamt, ihre jüdischen Repräsentanten eingeschlossen, identitätsstiftende Bedeutung zu. Ein großer Liebender, von widrigen Mächten in den Wahnsinn getrieben, ein reiner Dichter und echter Patriot, erwies er sich als ihr Vorbild und Idol. Noch im Exil hatte diese Faszination Bestand, wurde seine im Hyperion vorgetragene Kritik doch als vorbildhaft angesehen. Erich von Kahler (1885–1970), Mitglied des George-Kreises, bezog sie in Israel unter den Völkern (1936) auf diejenigen, die sich als Nazis in Rausch und Gewalt verloren (vgl. ebd., 160–162). In Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas (1937) nannte er H., ihn Nietzsche und George gleichstellend, den, der sein »leibhaftiges Leben zum seelischen Opfer bracht[e] bei dem Versuch, die klassische Bewegung in eine Wirklichkeit zu verwandeln« (ebd., 87). Alfred Wolfenstein (1888– 1945), dem expressionistischen Dichter und Essayisten, war H. schon 1919 als Inbegriff des Künstlers erschienen, dessen Werk »das Gegenteil der Gewalt« (Wolfenstein, Werke, Bd. 5, 118) darstellte. Nach der Befreiung Frankreichs und kurz, bevor er desillusioniert Selbstmord beging, wollte er ihn zur Reedukation der Deutschen einsetzen (ebd., 549). Jüdische Mitglieder von Jugendbewegung, George-Kreis und Expressionismus vermochten sich mit H. in ihrem Protest zu identifizieren. Sie sahen in ihm den exemplarischen Außenseiter, darin auch ihrem Geschick als Juden, Künstler und Lebensreformer verwandt. Zionismus und Sprache Erklärte man nun die Rezeption H.s im Judentum zum Zeichen bedingungsloser Assimilation, so vergäße man, dass sich auch der Zionismus in Deutsch-
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land – vor 1933 eine Bewegung der Jugend – nicht unwesentlich in dessen Zeichen vollzog. Gershom Scholem (1898–1982), der die Erforschung der jüdischen Mystik als akademische Disziplin begründete, verdeutlicht diesen Sachverhalt, betrachtet man seine Juvenilia, sogar in einer radikalen Weise. Er stieß sich von der Aufnahme H.s als bloßem Bildungsgut ab und widmete sich, ihm gegenüber eine »unbegrenzte Ehrfurcht« (Scholem, Briefe, Bd. 1, 127) hegend, der Bestimmung der jüdischen Lehre. Worauf sich dieses Gefühl gründete, lassen Einträge im Tagebuch erkennen, geschrieben zur Zeit des Aufenthalts in der Schweiz mit Dora und Walter Benjamin (1918). »Das zionistische Leben hat im deutschen Volke Friedrich Hölderlin gelebt. Hölderlins Dasein ist der Kanon jeglichen historischen Lebens. Hierauf beruht die absolute Autorität Hölderlins [...], seine Stellung neben der Bibel. Die Bibel ist Kanon der Schrift, Hölderlin: Kanon, der Dasein ist. Hölderlin und die Bibel sind die einzigen Dinge auf der Welt, die sich niemals widersprechen können. Das Kanonische ist zu definieren als reine Deutbarkeit« (Scholem, Tagebücher, 2. Hbd., 347, Hervorhebung G. Sch.). Der Dichter und sein Werk werden in messianischer Perspektive gelesen, in der das Beste der Völker seinen wirklichen Gehalt erst zu zeigen vermag, wenn es sich Jüdischem nähert. Dann wird deutlich, dass die utopische Sehnsucht nach Zion als Erfüllung des Bundesschlusses zwischen Gott und Volk Israel auch anderswo statthaben kann, was, wenn auch nicht als Ersatz für Israels endliche Befreiung, »im deutschen Volk Friedrich Hölderlin gelebt« hat. Wer habe »unter den Deutschen [...] über Dichtung tieferes gesagt als Hölderlin?«, heißt es so in einem auf 1919 datierten Manuskript (jetzt in: Scholem, Poetica, 420). Scholem sah ihn nicht einen Nationalismus vertreten, der vorbildlich oder als deutscher analog zu dem der Zionisten war. Die bei H. erreichte Sprache arbeite an der Erlösung selbst mit. Darum komme seinem Werk Kanonizität wie der Bibel zu. Sie »ist der Kanon der historischen Lebensführung der höchsten Sphäre: der Gerechtigkeit, auf der sich die reinen erhobenen Ordnungen des Mythischen ins Messianische verwandeln. Vielleicht ist das letzte Zentrum der messianischen Idee die Aufhebung der Natur in der reinen Historie, denn die messianische Zeit ist als die zu definieren, in der alles Geschehen historisch ist« (ebd., 344, Hervorhebung G. Sch.). Das Postulat uneingeschränkter Zeitlichkeit stellt jedoch keine Beschränkung, sondern die andere Seite der Erlösung dar. Wenn das Reich der Natur dem der Geschichte entspricht, darf auch jenes auf Gerech-
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tigkeit hoffen, die in den mythisch gesetzten Ordnungen zwar vorgebildet, unter deren Zwang aber versteinert war. Davon spreche H. in seinem Werk. Zugleich fand Scholem den materiellen Niederschlag der Erlösung in dessen Gebrauch und Gestaltung der Sprache, was die Gedichte, ihrem Klang und ihrer Musikalität wegen, absolut mache. Überhaupt wirkte H. unter Juden entscheidend auf Sprache und Sprachbewusstsein. Ein Jahr vor seinem Tod erklärte Franz Rosenzweig (1886–1929), wer seine »Sprache gebildet hab[e] – von den Früheren sind es, wie wohl für die ganze Generation der heut Vierzigjährigen, Hölderlin und der letzte Goethe« (Rosenzweig, Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, 1191). Jener schien ihm sogar einen Einfluss auf die deutsche Sprache insgesamt auszuüben, erhofft er doch für einen späteren Übersetzer seiner Schriften ins Hebräische, »[g]ebs Gott, daß der, der sie unternimmt, auch deutsch kann. Hölderlinisch, meine ich natürlich« (ebd., 903). An Scholem schrieb er 1921, gelegentlich von Überlegungen zum Problem der Übersetzung: »Notker – Luther – Hölderlin [...] Die deutsche Sprache ist, in diesen drei Namen, christliche Sprache geworden. Wer ins Deutsche übersetzt, muß in irgendwelchem Maße ins Christliche übersetzen« (ebd., 699). Auch Buber – dessen erste Biographie 1922 ein H.Forscher, Wilhelm Michel, verfasste – zählte ihn zu den prägenden Erfahrungen dichterischer Lektüre und nahm Gedichte in seinen Beitrag zu einer Anthologie auf (vgl. Trunken von Gedichten, 143–145, 155). Wirklich kann H.s Einfluss auf die deutsch-jüdische Lyrik kaum überschätzt werden. Gedichte in seinem Geist und an ihn haben Juden von der Mitte des 19. Jh. bis in die unmittelbare Gegenwart verfasst. Unter ihnen kommt Paul Celan (1920–1970) besondere Bedeutung zu (s. Kap. 54). Nicht nur dass er in Tübingen, Jänner (1963) und Ich trinke Wein (1976 aus dem Nachlass veröffentlicht) dichterische Aussagen zu H. selbst machte, sein Werk der Reife erscheint insgesamt als Fortschreibung von dessen Poetologie und Sprachschöpfungen. Wolfsbohne (entstanden 1959, aus dem Nachlass zuerst 1983 veröffentlicht) ist dafür durch das vorangestellte Motto aus dem Homburger Folioheft der vielleicht deutlichste Beleg. Warum gerade die bei H. erreichte Sprachwirklichkeit auf deutsche Juden eine derartige Wirkung ausgeübt hat, liegt auch darin begründet, dass diesen von antisemitischer Seite beständig der Vorwurf gemacht wurde, die Beherrschung eines korrekten Deutsch nur vorzutäuschen. Indem sie sich dichterisch an Grenzüberschreitungen des konventionellen Sprachgebrauchs versuchten,
wurde die Hetze gleichsam produktiv gemacht und ins Künstlerische gewendet, was unter Berufung auf den geschah, der ähnliches unternommen hatte und doch als idealer Deutscher galt. Umgekehrt wird Scholem zum Abschluss der Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig notieren, dass »den Deutschen« zwischen 1925 und 1960 »mehr widerfahren (ist) als der Dichter voraussah, als er sagte: – Und nicht Übel ist, wenn einiges/ verloren gehet, und von der Rede/ verhallet der lebendige Laut. – Der lebendige Laut [...] ist für das Gefühl von vielen von uns verhallt. Werden sich die finden, die ihn aufnehmen?« (Scholem, Poetica, 307)
38.3 Beiträge zur Hölderlin-Forschung H. begegnete man in der Generation der vor 1870 Geborenen, auch unter Juden, mit so gut wie keinem Interesse. In den literaturhistorischen und -kritischen Arbeiten von Gelehrten wie Michael Bernays (1834– 1897), Ludwig Geiger (1848–1919) und Samuel Lublinski (1868–1910) wird er nicht einmal genannt. Auch Margarete Susman (1872–1966) erwähnte ihn in Das Wesen der modernen deutschen Lyrik (1910) nur beiläufig. Erst in der überarbeiteten Auflage, Die Grundbedingungen der modernen Lyrik, 1965 innerhalb des Aufsatzbandes Vom Geheimnis der Freiheit erschienen, wurde seine Bedeutung gewürdigt. Von deutsch-jüdischen Literaturwissenschaftlern ist H. zuerst in einem als Lehr- und Geschichtsbuch verfassten Werk von Arthur Eloesser (1870–1938) wirklich hervorgehoben worden. In Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart (1930/31) wird er in einer Weise dargestellt, die seiner Idealisierung durch die Jugend der 1920er Jahre nahekommt. Eloesser unternahm sogar noch eine christologische Deutung, die Gedanken aus dem Hebräerbrief des Neuen Testaments aufzunehmen scheint, sie aber ins Jugendbewegte und letztlich Heidnische wendet. H.s »tragischer Genius hatte sich den Göttern anvertraut, zugleich ihr Priester und ihr Opfer. Der Jüngling ist in Jünglingen wieder auferstanden; man hat seiner Jugendschönheit einen Tempel gebaut und eine Art Adoniskult gestiftet« (ebd., Bd. 2, 80). Den entscheidenden Anstoß erfuhr die jüdische H.Forschung aber durch die Veröffentlichung eines Vortrags von Gustav Landauer (1870–1919) im Juniheft 1916 der Weißen Blätter, den dieser innerhalb eines Zyklus »Himmlische und irdische Liebe in Dichtungen Goethes und der Romantiker« im Frühjahr vor
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dem »Berliner Frauenclub von 1900« gehalten hatte. In Friedrich Hölderlin in seinen Gedichten erscheint der Dichter als Künder »der Liebesgemeinschaft, in einer Gesellschaft der Freiwilligkeit und des Bundes« (Landauer, Werkausgabe, Bd. 3, 62). In seiner Gestalt vereinigen sich Deutschtum und Judentum, stehe er doch in der Hymne Der Rhein »mit der einfachen, letztgültigen Strenge des modernen Propheten [...] ebenbürtig neben seinen Brüdern aus der hebräischen Antike« (ebd., 63). Er hoffe, »daß gerade Deutschland einst, nicht auf den Wegen des Lärms und der Waffen, sondern in Stille und durch den Geist die neu erlösende Botschaft zur Menschheit bringen werde« (ebd., 69). Philosophiehistorische und poetologische Fragestellungen bestimmen im Folgenden die Beiträge deutscher Juden zur H.-Forschung. Eröffnet wurden sie von Rosenzweigs Darstellung und Analyse eines handschriftlichen Funds, den er 1914 bei Studien zur Promotionsschrift in der Preußischen Staatsbibliothek Berlin machte und 1917 veröffentlichte. Es handelte sich um ein ca. 1796/97 von Hegel beschriebenes Blatt, genannt Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, das Rosenzweig dem Inhalt nach Schelling zuordnete. Er löste damit eine bis heute nicht abgeschlossene Debatte aus, kommt dem Fund doch eine große Bedeutung für die Frühgeschichte des deutschen Idealismus zu. In der Folge hob man, wenn man nicht H. selbst zum Verfasser einer Urschrift erklärte, seinen Einfluss hervor, wie Ernst Cassirer (1874–1945) in Hölderlin und der deutsche Idealismus, zuerst in zwei Folgen von Logos (1917/18 und 1919/20) erschienen, der, H.s Verhältnis zu den Vorbildern und den Freunden neubewertend, auch eine von der Kritik beklagte Lücke in der vorangegangenen Arbeit zur deutschen Geistesgeschichte, Freiheit und Form (1916), schloss. Nachdem Rosenzweig in den Jahren nach dem Krieg seine Assimilation an das Deutschtum aufgegeben und sich einer Erneuerung des Judentums unter Observanz traditioneller religiöser Riten zugewandt hatte, wurde sein eigentlicher Fortsetzer in der jüdischen H.-Forschung, wenngleich mit anderen Absichten, Ludwig Strauß (1892–1953). Ludwig Strauß Der Dichter und Germanist, seit 1925 Bubers Schwiegersohn, legte sowohl historische als auch systematische Arbeiten zu H. vor und war in seinem lyrischen Schaffen stark von ihm beeinflusst. Diese geistige Nähe bildete die Brücke zwischen Deutschland und Palästina, wohin Strauß 1935 mit seiner Familie emi-
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grierte. Als überzeugter Zionist, dessen Werk einen »messianischen Zug« (Horch, in: Kilcher 2012, 489) aufweist, arbeitete er in dem von deutschen Pionieren gegründeten Kibbutz Hasorea, später in dem Jugenddorf Ben Schemen bei Jerusalem, dabei aber seine H.Studien fortsetzend. Schon 1928 hatte Rosenzweig von ihm erklärt, »Strauß ist ja vielleicht unter den Lebenden der eigentlich ›Kongeniale‹, und sein im Manuskript fertiges Hölderlinbuch wird, glaube ich, das lang erwartete, ›das‹ Hölderlinbuch« (Rosenzweig, Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, 1202). Tatsächlich hatte Strauß in jenen Jahren an einem solchen Vorhaben gearbeitet, ohne es aber je fertigzustellen. Allerdings finden sich in seinem Werk Bruchstücke verschiedenster Form, manches unveröffentlicht im Nachlass. 1916 hielt er vor dem Jüdischen Jugendverein in Aachen, seiner Geburtsstadt, einen Vortrag über H., in dem er dessen »Vision einer messianischen Zeit« hervorhob, »durch die er entscheidend von allen anderen Vertretern des deutschen Idealismus gesondert ist und über sie hinausgeht« (zit. nach Horch 1995, 90). In seiner Dissertation Hölderlins Anteil an Schellings frühem Systemprogramm (1927), in der er Rosenzweigs Studie im Wesentlichen verteidigte, stellte er fest, dass jener die »religiösdichterische Erkenntnisform« (Strauß, Gesammelte Werke, Bd. 2, 106) der philosophischen vorzog. Sie sei die »mythische[, ...] in ihr dokumentiert sich vielmehr, was der bloße Gedanke nicht fassen kann« (ebd., 107). In einer subtilen Analyse von Hälfte des Lebens (s. Kap. 31) (1950) wollte Strauß zeigen, dass dieses Gedicht »außerhalb der Grenzen des Gewohnten« stehe. »In seinem Bereich existieren die Gesetze des Herkommens nicht mehr, auch nicht als zu Überwindendes. Mit ruhiger Gewissheit setzt es die erstaunlichsten Fügungen; es hat die Welt der Konvention einfach vergessen« (ebd., 274). In vornehmer Zurückhaltung (vgl. ebd., 273 f.) korrigierte er auch die Neuordnung des Gedichts, die Rudolf Borchardt (1877–1945), ein Kenner seit dem Studium bei dem H.-Herausgeber Berthold Litzmann in Bonn, in seinem Ewigen Vorrat deutscher Poesie (1926) vorgenommen hatte. Dieser hatte es einem Odenschema angepasst, um seinen angeblichen Entwurfscharakter zu verdeutlichen, aus »Protest gegen das allmählich ruchlos werdende Operieren mit dem und an dem kranken Hölderlin, zu dem die sehr geringe und sehr gering vertiefte Befassung mit dem gesunden das selbstverständliche Komplement macht« (Borchardt, Prosa I, 470). Sein hauptsächliches Interesse richtete Strauß indes auf den Begriff der Gemeinschaft, den er sowohl in
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Stücken der geplanten Biographie, Natur und Gemeinschaft (1927), erschienen in Bubers Zeitschrift Die Kreatur, v. a. aber in seiner Frankfurter Habilitation Das Problem der Gemeinschaft in Hölderlins »Hyperion« (1933) untersuchte. In ihm stelle sich, »in wesentlichen Zügen mit der ursprünglichen biblischen Konzeption der Theokratie überein[stimmend]«, jetzt aber »in der besonderen Form eines Naturreichs« (ebd., 249) die »unmittelbare Realisierung des Gottesreiches« (ebd., 252) dar. In veränderter, weil explizit messianischer Weise nahm Strauß hier auch Überlegungen Landauers auf, so dass die jüdische H.-Forschung auch als Gespräch zwischen den Generationen erscheint, wenngleich es auf das Humane schlechthin gerichtet sein sollte (vgl. Buber, HJb 11, 210 f.). Ästhetik und Poetik Angeregt von H.s Übersetzungen und seinen Einsichten in die Dichtung, konnten neue Wege in der Ästhetik eingeschlagen werden. In Überlegungen, die Carl Einstein (1885–1940) zwischen 1912 und 1914 anstellte, erschien er als Interpret der Antike, der das sie überwölbende Asiatische, Inbegriff des Mythos, wiederentdeckt habe. »Seine Dichtung war gänzlich vom Mythischen beherrscht; wenn er auch die anekdotische Benutzung des Griechischen nicht entbehren konnte« (Einstein, Werke, Bd. 4, 145). Dem dezidierten Antiklassizisten galt in Gestalt des Asiatischen auch das Jüdische als nobilitiert, wenngleich er später in dem Projekt einer Reformulierung der Moderne auf andere Formen des Elementaren setzte, das er in der Kunst Schwarzafrikas erblicken wollte. H.s Auffassung der Antike wurde überhaupt von Juden gewürdigt. So war es der Expressionist Albert Ehrenstein (1886–1950), der die Übersetzungen (s. Kap. 27) von Antigone und Ödipus unter dem Titel Sophokles, Die Trauerspiele (1918), als eigenen Band für ein größeres Lesepublikum neu herausgab. Günther Zuntz (1902–1992), klassischer Philologe aus alter deutsch-jüdischer Familie – wenngleich der Zweig, dem er angehörte, konvertiert war –, promovierte in Marburg über H.s Pindarübersetzung (s. Kap. 26). In der gleichnamigen Schrift (1928) urteilte er über sie anders als Hellingrath (s. Kap. 37). Trotz seiner Absicht, »nicht [zu] verdeutlichen, nicht ein[zu]deutschen« (Zuntz, Pindar-Übersetzung, 2), bleibe H. Pindar gegenüber fremd, »darum letzten Endes mußte sein Übersetzungsversuch scheitern« (ebd., 49). Zur Deutung bemühte Zuntz freilich Bilder, in denen sich
eine erotische und religiöse Erfahrung verschränken (vgl. ebd., 83). Indem H. ihr nachgab, war er imstande, in »bewußter, dankbarer und freier Anlehnung an Pindarische Gestaltung« (ebd., 84) seine späten Hymnen zu verfassen. Die Pindar-Übersetzungen gehörten so seiner Biographie, nicht aber dem Werk selbst an. Drei Beiträge deutscher Juden zur H.-Forschung seien noch erwähnt. Franz Baermann Steiner (1909– 1952) versuchte in seinem Fragment gebliebenen Werk H.s Verständnis des Mythos theoretisch zu durchdringen und seiner eigenen Dichtung anzuverwandeln (vgl. Steiner, HJb 9, 232–237). Werner Kraft (1896–1991), Essayist und Dichter, legte Miniaturen vor, die am Detail und im Vergleich erstaunliche Einsichten über Versbau und Lexikon, über Ausbildung und Rezeption des Werks eröffnen (vgl. Kraft, Wort und Gedanke, 21–105). Michael Hamburger (1924– 2007), H.s Übersetzer in England, übte eine wichtige Vermittlerfunktion aus, die das Pathos des Mehrdeutig-Schwebenden zu einem Funktionsprinzip der Gedichte H.s erklärte (vgl. Hamburger, Das Überleben der Lyrik, 27 f.). Literatur zum deutschen Judentum
Kilcher, Andreas (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart 22012.
zu einzelnen Interpreten
Adler, H. G.: Das H.-Bild Franz Baermann Steiners, HJb 9 (1955/56), 238–240. Böschenstein, Bernhard: H. und Celan, HJb 23 (1982/83), 147–155. Horch, Hans Otto (Hg.): Ludwig Strauß 1892–1992, Tübingen 1995, 89–95 [Bernd Witte], 185–196 [Gert Mattenklott], 199–213 [Bernd Witte], 311–356 [Bibliographie]. Piechert, Rüdiger: Mythische Einsamkeit. Carl Einsteins H.-Rezeption, in: Busse, Wilhelm G./Olaf Templin (Hg.): Der einsame Held, Tübingen 2000, 173–189. Scholem, Gershom: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923, 2. Halbbd.: 1917–1923, hg. v. Karlfried Gründer u. a., Frankfurt a. M. 2000. Scholem, Gershom: Poetica. Schriften zur Literatur. Übersetzungen. Gedichte, hg. u. komm. v. Herbert KoopOberstebrink u. a., Berlin 2019. Wagenknecht, Christian: Rudolf Borchardt und F. H., in: Osterkamp, Ernst (Hg.): Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, Berlin 1997, 132–142.
zum ältesten Systemprogramm
Jamme, Christoph/Helmut Schneider (Hg.): Mythologie der Vernunft, Frankfurt a. M. 1984.
Martin Treml
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39 Heidegger 39.1 Hölderlin als »Geschick« Als »ein Rätsel und Verhängnis«, das seinerseits wieder der Auslegung bedarf, begriff Max Kommerell schon früh, was kaum noch H.-Rezeption genannt werden kann, nämlich, dass H. Heidegger »zum unausweichlichen Schicksal wurde«, das »nichts unverwandelt« ließ. Heidegger selbst betont im Spiegelgespräch den »unumgänglichen Bezug« seines Denkens zur Dichtung H.s und gibt an, dass H.s Wort ihm 1929/30 zur Zeit des Wahrheitsvortrags »in dem Augenblick der ersten äußersten Fragwürdigkeit des Seyns selbst und seiner Wahrheit [...] zum Geschick« geworden sei. H., dessen Wort: »Lang ist/ Die Zeit, es ereignet sich aber/ Das Wahre« (Mnemosyne, StA 2.1, 195) sich als eine im Kern verwandte Geschichtsauffassung deuten lässt, brachte den Denker zu einer Rückbesinnung auf Sprache und Dichtung – ja auf Kunst überhaupt – als geschichtsgründende Macht unseres Daseins (Der Ursprung des Kunstwerks, HW 1980). Zweifellos ist auch die Konstellation seines Spätwerks, das die Welt als »Geviert« von Sterblichen, Göttlichen, Himmel und Erde mit dem neuzeitlichen Wesen der Technik, dem »Gestell«, konfrontiert, von H. inspiriert. Insbesondere mit seinen seit dem Abbruch des Empedokles-Projekts entstandenen Gedichten, Übertragungen und Entwürfen bleibt H. in all den Wandlungen des heideggerschen Denkens seit den dreißiger Jahren wie kein anderer präsent. Seine Dichtung ist ihm bis zuletzt das Maß, an dem er die ›Heimatlosigkeit‹, das ›Undichterische‹ unseres gegenwärtigen Weltaufenthalts misst. Wir haben es bei Heideggers H.-Rezeption mit einer exzessiven »Zwiesprache« (HW 270) von Denken und Dichten zu tun, die sich keineswegs in den Vorlesungen und Vorträgen zu H. erschöpft, sondern seit seiner sogenannten ›Kehre‹ das gesamte heideggersche Denken bestimmt. In dem ganzen Ausmaß ist dies erst seit der Veröffentlichung seines Hauptwerks der dreißiger Jahre deutlich, den Beiträgen zur Philosophie (HGA 65). Dort fungiert H. als »das erste Daß der Seynsgeschichte im Übergang von der Metaphysik in das Erdenken des Seyns«, weil er der erste sei, »der Nähe und Ferne der gewesenen und künftigen Götter zur Entscheidung gestellt« habe (463). Er bettet H. nicht etwa nur ein in sein »andersanfängliches«, »seynsgeschichtliches« Denken, sondern bestimmt umgekehrt die »jetzt und künftig wesentliche Fassung des Begriffes der Philosophie« ganz von H. her: »Die geschichtliche Bestimmung der Philosophie gipfelt in der Erkenntnis der Notwendig-
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keit, H.s Wort das Gehör zu schaffen. Das Hören-können entspricht einem Sagen-können, das aus der Fragwürdigkeit des Seyns spricht« (422). Da Heidegger sich dünkt, der erste Denker zu sein, der mit der »Fragwürdigkeit des Seyns«, nämlich der Wahrheit als »Lichtung des sichverbergenden Seyns« ernst macht, meint er auch bislang der Einzige zu sein, der H.s Dichtung »hören« kann. Alle seine H.-Erläuterungen gehen daher davon aus, dass H.s Wort ansonsten bislang »ungehört« sei, noch der »Deutung harre« (Erläuterungen, 34, 77, 153 f., 191; HGA 52, 2; HGA 53, 58, 155) und verstehen sich als Versuche, uns das »rechte Hören« (HGA 39, 148) auf das Dichterwort zu lehren. Sie wollen keine Beiträge zur H.-Forschung liefern, sondern ›uns‹, die Adressaten dieser Dichtung, auf den (heideggerschen) Weg des Hörenkönnens bringen, uns umstimmen auf den An- und Zuspruch des Gedichteten, auf dass auch wir merken, dass diese Dichtung uns »schicksalhaft angeht« (Erläuterungen, 182), dass sie ›Geschick‹ ist. Was Geschick heißt, dies wandelt, verschleiert und vertieft sich im Zuge der H.-Auslegungen. Von Anfang bis zum Ende aber sucht Heidegger, ›uns‹ diese Dichtung als ein Geschick und als einen verwandelnden Anspruch an uns nahezubringen. Rigoros wird jeglicher historische, wissenschaftliche und ästhetische Zugang abgewehrt, um H.s Einzigkeit herauszustellen. Heidegger isoliert ihn völlig aus dem idealistischen Kontext seiner Zeit und sucht die Gedichte als Gegenstände des Genusses sowie der literaturwissenschaftlichen und philosophischen Forschung zu überwinden, um stattdessen in der von ihnen eröffneten dichterischen Wahrheit zu stehen zu kommen. H.s »seynsgeschichtliche Einzigkeit« (HGA 65, 422) beruht nach Heidegger darin, dass er der »Dichter des Dichters« sei, der zugleich das Wesen der Dichtung neu stifte und damit einen – im Verhältnis zu dem seit Platon herrschenden – anderen Anfang gründe. Um den folgenden Einzelerläuterungen ein Gerüst zu geben, sei Heideggers Hauptthese kurz skizziert. Sie rekurriert in immer neuen Variationen auf das Wort »Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde« (StA 2.1, 372). Das neu gestiftete Wesen von H.s Dichtung wird strikt transitorisch aufgefasst: als ein im Heiligen gründendes und es im nennenden Wort eröffnendes Weisungsgefälle, das die Sterblichen erst wieder in den An- und Zuspruchsbereich des Göttlichen bringt und so wieder geschichtlich, oder wie er später sagt, »heimisch« werden lässt. Damit radikalisiert Heidegger das von H. selbst wiederholt problematisierte Vermittlerda
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_39
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sein des Dichters, und zwar auf der zunächst stark von Nietzsches Wort vom Tod Gottes geprägten Basis, dass H. Dichter »in dürftiger Zeit«, d. h. in der Nacht der Götterlosigkeit ist. Das transitorische Dichterische vermittelt nach Heidegger den übrigen Sterblichen nicht einen bereits irgendwie dem Dichter begegnenden, präsenten Gott, sondern ein Göttliches, das – frei nach H.s Wort: »So ist schnell Vergänglich alles Himmlische, aber umsonst nicht« (StA 2.1, 131) – nichts ist als Zeit: Vorbei- bzw. Vorübergang, ein Göttliches, das zu seinem Erscheinen das Wort des Dichters braucht. Die angemessene Vermittlung dieses vorbeigehenden Göttlichen kann nicht durch eine fixe oder gar fixierende Präsentation und erst recht nicht in einer Repräsentation geschehen. Sie erfordert ein Mitgehen (Fortgehen und Kommen) mit den Vorübergehenden, das im Mitgehen zugleich bei den Sterblichen, um deren Wohnen es dem Dichter zu tun ist, bleibt. In diesem bleibenden Gehen oder gehenden Bleiben erblickt Heidegger den Grundzug von H.s Dichtungen: Sie sind die Zeichen, die das Sichentziehende zeigen und so die Fremde im buchstäblichen (das Unheimische – der Wanderschaft/des »himmlischen Feuers« der Griechen) wie im übertragenen Sinne (die Entfremdung und Deutungslosigkeit des götterlosen Daseins) erfahren lassen. Der Sprachcharakter dieser Dichtung ist deshalb ein Nennen, das zeigend, d. h. enthüllend-verhüllend, das Sichverbergende erscheinen lässt und so in den Bezug versetzt zum offenen Zeit- oder Entscheidungsraum von Flucht und Ankunft der Götter. Um den Bezug zu diesem Offenen, das Heidegger das »Heilige« nennt, zu stiften, muss der Dichter selbst zuerst diese offene Mitte zwischen Flucht und Ankunft ausstehen und das Zwischensein zwischen den Göttlichen und den Sterblichen übernehmen und ergründen. Daher stehen die Feiertagshymne und H.s Stromgesänge im Zentrum von Heideggers Auslegungen. Gemäß dem Sprachcharakter dieser zeigenden, verhüllend- enthüllenden Dichtung, die an Heraklits vormetaphysisches Denken erinnert, sucht er dabei stets das Ungesagte im Gesagten auf: das, was im und durch das Sagen ›erschwiegen‹ wird.
39.2 Hölderlins Dichtung als Stiftung des Seyns Heideggers öffentliche Auseinandersetzung mit dem Dichter beginnt ein halbes Jahr, nachdem er sein Amt als Rektor der Freiburger Universität niedergelegt hat
im Wintersemester 1934/35 mit der Vorlesung Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹ (HGA 39). In Germanien entdeckt Heidegger die Grundstimmung der seit 1800 entstandenen Hymnendichtung insgesamt: die »heilig trauernde bereite Bedrängnis« (103 ff.). Diese Dichtung komme »aus der Erfahrung der tiefsten Not des Zurückweichens und des Andrangs der Götter« (220) und setze diese Not des gedoppelten Entzugs, des Nicht-mehr und Nochnicht der Götter als ursprüngliche Zeitigung ins Werk. Als Stifter dieses »neuen Gottesverhältnisses« (87) sei H. der »Dichter des Dichters« (214), des Stromes qua Halbgott und »Stifter« des künftigen »deutschen Seyns« (220). Diese Dichtung aber, die – wie es im Rekurs auf den Grund zum Empedokles heißt (s. Kap. 22) – im Enthüllen die »innigste Empfindung« (119) verleugne, bedarf noch der denkerischen »Eroberung« (5) zur »Ermächtigung« (222) ihrer Macht: Ihre alles Bisherige umstürzende Wahrheit entdeckt Heidegger in der »Rätselhaftigkeit des Reinentsprungenen« (268), wie sie in der 8. Strophe des Rheins zur Sprache kommt: »Es haben aber an eigner/ Unsterblichkeit die Götter genug und bedürfen/ Die Himmlischen eines Dings,/ So sinds Heroen und Menschen und Sterbliche sonst« (StA 2.1, 145). Das transitorische Geschehen der Dichtung brauche indes noch den Denker, der das gestiftete Sein begrifflich füge und bewahre, was Heidegger deutlich in den Beiträgen versucht (vgl. 1989 HGA 65, 87, 413). Aus der ersten H.-Vorlesung geht der 1936 in Rom gehaltene programmatische Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung (Erläuterungen, 33–48) hervor, der mit fünf Leitworten aus H.s Werk, die das dichterisch gestiftete Wohnen des Menschen betreffen, nicht etwa das allgemeine Wesen der Dichtung zu heben sucht, sondern einzig das für unsere Geschichtlichkeit entscheidende »neu« gestiftete Wesen von H.s Dichtung. Diese sei »worthafte Stiftung des Seins« (41). Als »Hinausgeworfener in jenes Zwischen zwischen den Göttern und den Menschen« bestimme H. eine »neue Zeit«, nämlich »die dürftige Zeit« der Götternacht, deren Erfahrung den Deutschen noch bevorstehe. H. ist nach Heidegger für uns entscheidend nicht etwa als einer, der mit seiner Dichtung der Götterlosigkeit und Zerrissenheit der Moderne Abhilfe zu schaffen sucht, sondern als einer, der erst einmal die Not, das »Nichts dieser Nacht« aussteht und uns zur Erfahrung stellt. Damit erwirke er »stellvertretend und deshalb wahrhaft seinem Volke die Wahrheit« (47 f.). In der Erläuterung von Wie wenn am Feiertage ... (Erläuterungen, 49–77) stellt Heidegger 1939 den Ursprung des dichte-
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risch gestifteten Seins ins Zentrum: als »allebendige Natur« und das unmittelbare »Heilige«, das weder den Menschen, noch den Göttern unmittelbar zur Verfügung stehe. Das Gesetz des Heiligen, so führt er im Rekurs auf das Pindarfragment Das Höchste aus, sei die »strenge Mittelbarkeit« (62). Es verweise die Menschen und Götter, die sich gegenseitig bedürfen, aufeinander und gründe »in seinem Kommen einen anderen Anfang einer anderen Geschichte« (76). Das »Heilige« wird jetzt (analog zu Heideggers »Seyn« qua Lichtung) als das auf den Dichter zukommende, ursprüngliche, d. h. entspringenlassende Wesen des anfänglich (im ersten, griechischen Anfang) Gewesenen begriffen. H.s Dichtung ist ihm »Ereignis des Heiligen«: Das Heilige wird sich zu eigen in dem und durch das dichterische Wort, das sich zugleich in seinem Kommen als Hymne, d. h. als »rufendes Wort« und »stiftendes Sagen« gründe. »Und was ich sah/ Das Heilige sei mein Wort« (72). Dies Wort, das dem »ZeitRaum« der Entgegnung von Göttern und Menschen entspringt und in ihn zu versetzen sucht, sei indes »noch ungehört, aufbewahrt in die abendländische Sprache der Deutschen« (77). Es folgt im Wintersemester 1941/42 eine Vorlesung zu Andenken (HGA 52), wo Heidegger rigoros alles offensichtlich Biographische tilgt. Stattdessen bringt er auf seiner Suche nach dem Ungesagten mit den Böhlendorff-Briefen und der Kolonie-Variante von Brod und Wein die ganze mythopoetische Ansicht der Geschichte, die dieses Gedicht auszusparen scheint, wieder in es hinein. Er begreift das Andenken als ein vom »Heiligen« (dessen verschwiegene Nennung er im »Nordost« entdeckt), dem Wesensgrund der Geschichtlichkeit, gegrüßtes dankendes Denken des heimgekommenen, »nahe dem Ursprung« (173) wohnenden Dichters. Dies denke an »das gewesene Fest« des griechischen Göttertags als Entgegnung von Gott und Mensch im sogenannten ersten Anfang, »indem es vordenkt an das kommende« Fest (194), d. h. den anderen, mit H.s Dichtung anfangenden Anfang. Heidegger bezeichnet jetzt H.s Hymnen – analog zu seinem eigenen Denken – explizit als »nicht mehr metaphysisch« (119 f.). Er konfrontiert ihre Wahrheit mit unseren gewohnten Anschauungen, die allesamt in die Metaphysik, d. h. die seit Platon herrschende Wahrheit des Seins, verstrickt seien und daher H. verfehlen. Bei der Auslegung dieses Gedichts handelt es sich deshalb für Heidegger darum, »ob das Wesen des ungeschichtlich gewordenen planetarischen Menschen ins Wanken und damit in die Besinnung gebracht wird« (6).
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Im Sommersemester 1942 radikalisiert er diese Thesen in seiner Vorlesung zu Der Ister (HGA 53). Er rückt H. jetzt nicht nur aus dem gesamten Bereich der Metaphysik heraus, sondern auch aus dem Bereich der gesamten abendländischen Kunst. Diese bewege sich – im Unterschied zu H.s reifer Dichtung – durchwegs im Bereich der Darstellung von etwas; sie sei sinnbildlich und also metaphysisch, d. h. beruhe letztlich in der platonischen Unterscheidung von Aistheton und Noeton (17 ff.). Heidegger begreift die befremdliche, nicht mehr metaphysische Wahrheit des rückwärts gehenden heimischen Stroms als eine im »Jetzt«, dem Ereignis des Heiligen, gründende »Einheit von Ortschaft« (Heimischwerden im Eigenen) und »Wanderschaft« (im Unheimischsein). Diese konfrontiert er (17 ff., 55 ff.; 66 ff., 203 ff.) mit unseren »seinsvergessenen« metaphysisch-technischen Auffassungen von Raum, Zeit und Geschichte. Die befremdliche Wahrheit H.s erläutert er im Kernstück der Vorlesung (63–152) mit seiner eigenen, aber zweifellos durch H. inspirierten Interpretation einer nochnicht-metaphysischen Dichtung: dem berühmten Chorlied aus der Antigone: Ungeheuer ist viel ... (s. Kap. 27). In ihm sei »das Selbe« (153) wie in H.s Stromhymnen gedichtet. Heidegger legt die »Selbigkeit des Zu-dichtenden« bei Sophokles und H. im Rekurs auf die Kolonie-Verse und die Böhlendorff-Briefe als »Gesetz der Geschichtlichkeit« (170 ff.) aus und begreift H.s Sophokles-Anmerkungen (s. Kap. 25) als »dichterische Zwiesprache«, die ihre Notwendigkeit aus »der dichterischen Sorge um das Heimischwerden des geschichtlich-abendländischen Menschentums der Deutschen« (84) beziehe. Aus diesen beiden Vorlesungen gehen 1943 ein komprimierter Vortrag zu Andenken (Erläuterungen, 78–151) hervor und einer zur Elegie Heimkunft/ An die Verwandten (Erläuterungen, 13–31). Heimkunft fasst Heidegger als eine von der dichterischen Sorge um das Heimischwerden getragene »Rückkehr in die Nähe zum Ursprung« (24 ff.). »Das Heilige zwar erscheint. Der Gott aber bleibt fern. Die Zeit des gesparten Fundes ist das Weltalter, da der Gott fehlt« (28). Dieses Fehlen sei kein bloßer Mangel, sondern versetze den Dichter in einen ausgezeichneten Bezug zum Vorenthaltenen, in eine Nähe, die dem Eigensten gerade im Suchen nahe bleibe und für es dichtend (eben mit den Vaterländischen Gesängen) sorge. In der letzten Strophe hört Heidegger den sorgenden Dichter »geheimnisvoll« »die anderen«, die »Denker« rufen, damit sie ihm helfen, das »Geheimnis der sparenden Nähe zu bedenken« (29). Dann sei Heimkunft »die Zukunft des geschichtlichen Wesens der Deutschen« (30), dieses
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Volks der Dichter und Denker. »Denn jetzt müssen zuvor Denkende sein, damit das Wort des Dichtenden vernehmbar wird« (30). Seit dem 1946 gehaltenen Rilke-Vortrag Wozu Dichter? (HW 265–316), der dem »Fehl Gottes« (265) nachdenkt, der unser Weltalter, die »Weltnacht« (267) bestimmt, dreht sich Heideggers – nun zwar vom »Deutschen« zugunsten des »Hesperischen« schweigende, aber nach wie vor über das Amerikanische wetternde – »seinsgeschichtliche Zwiesprache« (270) mit H. ausdrücklich um das Verhältnis von Dichtung und dem Wesen der Technik. Deren Totalität und Unbedingtheit des Wollens bestimme die Weltnacht, die – anders als die von H. besungene »heilige Nacht« (268) der Götterferne – jeglichen Bezug zum Heiligen, verweigere und versage (vgl. 291). Aus diesem heillosen, unbemerkt bleibenden Entzug und Sichversagen kommt nach Heidegger nur heraus, wer erst einmal richtig in ihn hineingekommen ist. Dies vermögen nur »einige«, die Dichter und die ihnen zugehörigen Denker (266). Sie gehen die Gefährdung des Menschen da an, von wo sie kommt: dem Wesen der Technik. »Wo aber die Gefahr ist, wächst/ Das Rettende auch« (292). H.s Wort bringt Heideggers Denken auf den Weg, sich einzulassen auf das Wesen der Technik als »Geschick« des Seins und als ein »Anspruch an den Menschen« (316), den Heidegger wenig später als »Ge-stell« (Die Technik und die Kehre, 19) denkt. Von nun an begreift er seine H.-Erläuterungen als »Umstimmung [...] aus dem Ge-Stell als dem sich selbst verstellenden Ereignis des Gevierts« (Erläuterungen, 153). Da das Wesen der Technik den gegenwärtigen Weltaufenthalt bestimmt, entrückt er diese Dichtung in seinen Erläuterungen so extrem aus allem Gewohnten, als sei sie quasi nicht von dieser Welt. Er eröffnet sie als anderen, »einfachen« Erfahrungsbereich, den er im herabgestimmten Tone nun nicht mehr das »Heilige« nennt, sondern »un-endliches Verhältnis«, das Zueinander von Himmel, Erde, den Göttlichen und Sterblichen (HW 267), oder eben auch »Geviert«, oder »Welt«. So stellt er in seinem 1951 gehaltenen Vortrag »... Dichterisch wohnet der Mensch ...« (VuA 181–198) das Dichten als »anfängliches Bauen« dar, das, indem es Maß nimmt am sich verbergenden, sich in »Fremdes« – d. h. die Anblicke des Himmels schickenden – Gott (VuA 194), ein »ursprüngliches Wohnenlassen« (VuA 196) des Menschen auf der Erde gewährt. Ausgehend von den Böhlendorff-Briefen und dem späten Entwurf zu Griechenland bedenkt Heidegger 1959 in Hölderlins Erde und Himmel die »Verweigerung des un-endlichen Verhältnisses« (176), das Erde,
Himmel, Gott und Mensch, die »vier Stimmen des Geschicks« (170) versammelt. In dieser Verweigerung entdeckt er ein Kommen des »Großen Anfangs«, d. h. des griechisch Morgenländischen zum »Geringen«, dem »Abendländischen« (Erläuterungen, 176 f.). In dem 1968 gehaltenen Vortrag Das Gedicht steht die späte Variante zu Archipelagus im Zentrum. »Aber weil so nahe sie sind die gegenwärtigen Götter/ Muß ich seyn, als wären sie fern, und dunkel in Wolken/ Muß ihr Nahme mir seyn« (StA 2.2, 646). Die »Nähe« der gegenwärtigen, d. h. nach Heidegger entgegenwartenden, im Kommen bleibenden Götter ist der Grund für H.s eigentümliches ›entbergend-verbergendes‹ Nennen (vgl. Erläuterungen, 191). 1970 konfrontiert Heidegger in »Das Wohnen des Menschen« (Aus der Erfahrung des Denkens, HGA 13, 213–220) das dichterische Wohnen mit dem »Undichterischen«, der Vermessenheit und Maßlosigkeit unseres gegenwärtigen Weltaufenthalts (220). In dem 1974 geschriebenen Text Der Fehl heiliger Namen (HGA 13, 231– 236) stellt sich Heidegger noch einmal als der von H. in Dichterberuf – »Und gern gesellt, damit verstehn sie/ Helfen, zu anderen sich ein Dichter« (StA 2.1, 48) – zur Bewahrung der dichterischen Wahrheit gerufene »andere« dar, der, indem er die Not der »Seinsvergessenheit« als Geschick denkt, die dichterische Erfahrung des »Fehls« vorbereite (HGA 13, 234).
39.3 Die Zwiesprache Heideggers mit Hölderlin im Kontext der Forschung Von den vielen Problemen, die diese »Zwiesprache« mit sich bringt, seien nur drei Schwerpunkte genannt, die in der Forschung kontrovers diskutiert werden: 1. die politischen Implikationen, 2. inwiefern und welche Aufschlüsse daraus für Heideggers Denken zu gewinnen sind, 3. die Frage, ob man in ihnen noch H. wiederfinden kann. 1. Politische Implikationen. Das enorme existentielle Pathos und der erzieherische Anspruch insbesondere der ersten H.-Vorlesung, die die »geschichtsgründende Macht« von H.s Dichtung beschwört und »ermächtigen« will, weil darin das »deutsche Seyn«, die Zeit und »Wahrheit« der Deutschen gedichtet sei, werfen die Frage auf, ob es sich bei diesem »genuin politischen« (Kraft 1984, 94) Zugriff auf H. um eine politische Selbstkorrektur (Jamme 1984, 196; Figal 1992, 142 f.) handelt, mit der sich Heidegger nach der Niederlegung seines Rektorats aus seiner tiefen Verstri-
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ckungen in den Nationalsozialismus (s. Kap. 41) zu befreien sucht. Heideggers kritische Invektiven gegen die zeitgenössische Kulturpolitik und sein Beharren darauf, dass der damals von den Nazis stark usurpierte H. (Storck 1983, 345 ff.) noch »ungehört« und erst recht unverstanden sei, sowie seine These, dass H. die kommenden Deutschen erst dichte, womit ihre eigentliche Revolution noch bevorsteht, scheinen dafür zu sprechen. Doch ersetzt man in Heideggers Rektoratsrede (Selbstbehauptung, 1983) nur die dort beschworene – an und durch das »Geschick« des Volkes gebundene – Wissenschaft als »weltbildende Macht« (ebd., 13) durch die in der H.-Vorlesung beschworene geschichtsstiftende Macht der Dichtung, wird klar, wie oberflächlich und fragwürdig die angebliche Selbstkorrektur ist. Der grundsätzlich revolutionäre, auf eine radikale geistige Wende gerichtete Impetus des heideggerschen Denkens besteht offensichtlich über 1933/34 fort (Grosse 2011, 167). Daher sehen einige Interpreten in Heideggers ›Rückzug‹ aus dem politischen Amt in die Vorbereitung der H.schen Dichtung nicht nur eine – die Differenz von Poiesis und Praxis gefährlich negierende (Pöggeler 1992, 291, Kurz 2012, 105 ff.) – »Überforderung des Dichters in dürftiger Zeit« (Gethmann-Siefert 1988, 191 ff.), sondern eine prinzipielle Legitimierung seines kurzen politischen Engagements (Lacoue-Labarthe 1990, 87 ff.; Lyotard 1988, 86 ff.), eine »Heroisierung des eigenen Denkens« (Wright 2013, 199 f.) und in Heideggers H. einen gefährlichen »Mythos«, der politisch blind die Differenziertheit moderner Lebenswelten hintergeht (Großmann 2005). 2. Aufschlüsse für Heideggers Denken. Die ersten (Allemann 1954, Biemel 1969, Schulz-Seitz 1970) und einige Heidegger-orthodoxere Untersuchungen zur H.Auslegung blenden die Frage nach den politischen Implikationen aus. Sie zerstreuen die politische Fragwürdigkeit dieser Auslegungen entweder, indem sie sie durch Heideggers missverständliche und radikale Aneignung von H.s Tragödientheorie erklären (Buchheim 1994). Oder sie interpretieren sie um und gewinnen aus den H.-Auslegungen Anstöße einer künftigen politischen, Universalismus-kritischen Theorie (Trawny 2004) des »Eigenen«. Andere blenden sie weitgehend aus, weil sie mithilfe der H.-Erläuterungen nur Licht bringen wollen in Heideggers Denkweg nach Sein und Zeit (Kettering 1987) überhaupt, oder nur in einzelne Phasen seines Denkens: etwa die so hermetischen wie pathetischen Litaneien der Beiträge zum »letzten Gott« und den »Zukünftigen« (Bohlen 1993), oder in Hei-
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deggers Konzeption des »ersten und anderen Anfangs« (Ziegler 1991). Es wurde sogar der Versuch gemacht, mit den H.-Erläuterungen eine »Phänomenologie des Heiligen« zu entwickeln (Helting 1999). Diese Untersuchungen laufen – dank der Hermetik H.s und Heideggers – Gefahr, entweder den einen dunklen, unverständlichen Gedanken durch einen noch dunkleren, nur zuzudecken, oder aber in bloße Paraphrasen und aufgebauschte Allgemeinplätze abzugleiten. Seit der Publikation der sogenannten »Schwarzen Hefte« (Heideggers »Überlegungen« und »Anmerkungen« zwischen 1931–1951 in HGA 94 bis HGA 98), die erkennen lassen, dass Heidegger bis zuletzt ein Antisemit war (Di Cesare 2016, 218, spricht von »metaphysischem Antisemitismus«, Trawny 2014, 113 ff. von »seinsgeschichtlichem Antisemitismus«) und nationalsozialistisches Gedankengut vertrat, gerät Heideggers H.-Auslegung in den Verdacht, nichts weniger als eine »Poesie der Vernichtung – von Juden, jüdischem Leben und Denken« (Werner 2017, 254) zu sein. Diese These ergibt sich aus einer konzentrierten und isolierten Lektüre der »Schwarzen Hefte«, die insgesamt eine Konkretisierung (und erschreckende Banalisierung) der oft im hohen Ton daherkommenden Gedanken Heideggers darstellen, weil er in ihnen auf Tagespolitik reagiert und immer wieder seine sonst vernebelten Feinde beim Namen nennt. Allen voran die Juden: Ihnen spricht Heidegger (HGA 96, 56) eine »betont rechnerische Begabung« zu und macht sie zu den Exponenten der neuzeitlichen Machenschaften. Diese wiederholt in ihrer Bodenlosigkeit, Entwurzelung und ihrem zerstörerischen Wesen (HGA 96, 133; HGA 97, 20) negativ gekennzeichnete fremde Spezies wird – so lässt sich schließen – von Heideggers seit 1934 völkisch, rein und in Auseinandersetzung mit den Griechen national konzipierten (H. der Dichter der Deutschen, »Geschick« der Deutschen) Dichtungsbegriff ausgeschlossen (Werner 2017, 225 ff.). 3. Nähe zu Hölderlin. Angesichts der sich durchhaltenden Abwehr aller wissenschaftlichen Bemühungen um H., der Isolation H.s aus dem idealistischen, ja »metaphysischen Kontext« insgesamt, die mit einer zunehmenden Verquickung des eigenen »seynsgeschichtlichen« Denkens mit H.s Dichtung einhergeht, wundert es nicht, dass einige Germanisten (Böschenstein 1977, Beißner 1951, Rey 1956) und Philosophen (Henrich 1986) in Heideggers H.-Auslegung bloß noch Heidegger, aber keinen H. mehr zu finden vermögen. Viele Interpreten sparen indes die Frage, ob Heidegger sich hier bloß mit H. sein eigenes dichterisches »Ge-
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schick« zusammengebastelt habe, oder aber H. zwar unkonventionell, gleichwohl fruchtbar beleuchte, ganz aus (Kraft 1984, Helting 1999, Kettering 1987, Biemel 1988). Differenziertere Analysen legen dar, wie Heidegger H. von seinen Ursprüngen her, sei es der tragischen Auffassung der Geschichte (Pöggeler 1976, Jamme 1987), oder durch sein Konzept der Lichtung des sich verbergenden Seins (Binder 1970) oder auch sein Verständnis der Physis (Bohlen 1993) aufzuschließen weiß, aber zeigen zugleich, dass einige seiner Interpretationen kaum haltbar sind und zu einseitig der griechisch-deutschen Thematik verhaftet bleiben. Ein extremer Versuch, Heideggers gesamte Aufnahme H.s als eine radikale Aneignung, ja Anwendung von H.s Dichtungstheorie – insbesondere von dessen Tragödienkonzeption – auf die Hymnen zu begreifen, liegt bei Buchheim (1994) vor. Das von Heidegger beschworene transitorische Wesen der Dichtung scheint nichts anderes zu sein, als die von H. konzipierte »Metapher« (StA 4.1, 266). Da in diesem als Metapher konzipierten Wesen der Dichtung bei H. die Darstellung, also das erscheinende Gedicht selbst, nur die Mitte eines Übergangs ist, will Heidegger das Gedicht als »Gegenstand« der Forschung oder des Genusses von Beginn an überwinden zugunsten der darin sich indirekt mitteilenden Grundstimmung des Dichters und des in ihr offenbaren Seins. Heideggers Anwendung von H.s Konzeption der »tiefsten Innigkeit«, die um ihrer Bewahrung willen im Gedicht verleugnet werden muss (StA 4.1, 150 f.), auf die Hymnendichtung erhellt zwar Heideggers stete Suche nach dem Ungesagten im Gesagten, aber rechtfertigt keineswegs die dem Ungesagten entnommene widerwärtige Deutschtümelei. Letztere kann seit der Publikation der »Schwarzen Hefte« nicht mehr als politische Blindheit des Philosophen verharmlost werden, sondern ist als eine ganz reale Vernichtungsphantasie zu erkennen, etwa in der Notiz von 1941, »Alles muss durch die völlige Verwüstung hindurch [...]. Nur so ist das zweitausendjährige Gefüge der Metaphysik zu erschüttern und in den Sturz zu bringen« (HGA 96, 195). Literatur Ausgaben
Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975 ff. [HGA]. Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 41978 [VuA]. Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt a. M. 1980 [HW]. Heidegger, Martin: Erläuterungen zu H.s Dichtung, Frankfurt a. M. 1981.
zu H. als Schicksal
Kommerell, Max: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, hg. v. Inge Jens, Freiburg/Br. 1967, 398. Spiegelgespräch von 1966, in: Neske, Günther/Emil Kettering (Hg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, 106.
zu H. als »Geschick«
Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 21983. Kreuzer, Johann: Wozu Dichter? Das Gespräch mit Rilke und H., in: Figal, Günter/Ulrich Raulff (Hg.): Heidegger und die Literatur, Frankfurt a. M. 2012, 76 ff.
zur »Begegnung«
Pöggeler, Otto: Heideggers Begegnung mit H., in: Man and World 10 (1977), 13–61.
zum »Ungehörten«
Heidegger vgl. Erläuterungen, 34, 77, 153 f., 191 etc., HGA 52, 2; HGA 53, 58, 155. HGA 95, 303 f., 333, HGA 97, 95 und 300.
zum »Vordenken«
Jamme, Christoph: Dem Dichten Vordenken, Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1984), 191–218.
zur Kunst als geschichtsgründender Macht
Heidegger, HW, 1–72: Der Ursprung des Kunstwerks.
zu Stiftung des Seyns
Heidegger, Martin, Das Wohnen des Menschen, in: Aus der Erfahrung des Denkens, HGA Bd. 13, hg. v. Hermann Heidegger, Frankfurt a. M. 1983, 213–220. Heidegger, Martin: Der Fehl heiliger Namen, in: ebd., 231– 236. Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1988. Heidegger, Martin: »... dichterisch wohnet der Mensch ...«, in: VuA, 181–198. Heidegger, Martin: H.s Erde und Himmel, in: Erläuterungen, 152–181.
zu Die Zwiesprache Heideggers mit Hölderlin
Allemann, Beda: H. und Heidegger, Zürich 1954. Biemel, Walter: Dichtung und Sprache bei Heidegger, in: Man and World 2 (1969), 487–514. Biemel, Walter: Zu Heideggers Deutung der Ister-Hymne, in: Heidegger-Studien 3/4 1988, 41–60. Böschenstein, Bernhard: Die Dichtung H.s. Analyse ihrer Deutung durch M. Heidegger, in: Zeitenwende 47 (1977), 79–97. Bohlen, Stefanie: Die Übermacht des Seins, Berlin 1993. Buchheim, Iris: Wegbereitung in die Kunstlosigkeit, Würzburg 1994. Di Cesare, Donatella: Heideggers metaphysischer Antisemitismus, in: Homolka, Walter/Arnulf Heidegger (Hrsg): Heidegger und der Antisemitismus, Freiburg 2016, 212 ff.
39 Heidegger Figal, Günter: Heidegger zur Einführung, Hamburg 1992, 142 f. Fischer, Anton M.: Martin Heidegger – Der gottlose Priester, Zürich 2008, 364 ff. Gethmann-Siefert, Annemarie: Heidegger und H., in: Dies./ Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, 191 ff. Grosser, Florian: »Revolution Denken. Heidegger und das Politische 1919–1969, München 2011. Großmann, Andreas: Heidegger Lektüren, Würzburg 2005, 58. Lacoue-Labarthe, Philippe: Die Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990, 87 ff. Heidegger, Martin: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27.5.1933, Frankfurt a. M. 1983. Helting, Holger: Heideggers Auslegung von H.s Dichtung des Heiligen, Berlin 1999. Henrich, Dieter: Der Gang des Andenkens, Stuttgart 1986. Kettering, Emil: Nähe. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987. Kurz, Gerhard: Heideggers H., in: Friedrich Vollhardt (Hg.): H. in der Moderne, Berlin 2014, 93 ff. Lyotard, Jean-François: Heidegger und die »Juden«, Wien 1988, 86 ff.
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Pöggeler, Otto: Neue Wege mit Heidegger, Freiburg 1992, 291. Rey, W. H., Einstimmiges Zwiegespräch, in: DVjs 30 (1956), 89–136. Schulz-Seitz, Ruth-Eva: Bevestigter Gesang, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970. Storck, J. W., »Zwiesprache von Dichten und Denken«. H. bei Martin Heidegger und Max Kommerell, in: Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Bd. 1, Marbacher Kataloge 38, hg. v. Bernhard Zeller, Stuttgart 1983 Bd. 1, 345–365 Trawny, Peter: Heidegger und H. oder Der Europäische Morgen, Würzburg 2004. Trawny, Peter: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt a. M. 2014. Werner, Judith: Poesie der Vernichtung? Literatur und Dichtung in Martin Heideggers Schwarzen Heften, Stuttgart 2017. Wright, Kathleen: Gespräch mit H. II, in: Dieter Thomä (Hg.) Heidegger Handbuch, Stuttgart 2013. Ziegler, Susanne: Heidegger, H. und die Aletheia, Berlin 1991.
Iris Buchheim
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40 Benjamin – Adorno – Szondi Die H.-Rezeption bei Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Peter Szondi erfolgte unter dem Zeichen einer verstärkten hermeneutischen Reflexion, die besonders das Verhältnis von Philosophie und Philologie sowie Fragen nach einer kunst- und geschichtsphilosophischen Begründung der ästhetischen Formen betrifft. Wenn auch mit wechselnden Kontrahenten, teilen alle drei die Position, dass das Kunstwerk sich nicht über die Person, die Weltanschauung des Dichters oder den historischen Kontext unmittelbar erschließe, sondern dass die historische Wahrheit in der ästhetischen Struktur des Gebildes selber aufzusuchen sei. Für alle drei ist auch die Anknüpfung an Norbert von Hellingrath (s. Kap. 37) relevant, der den Stilwandel bei H. von der Oden- zur Hymnendichtung bzw. den Gesängen als Ergebnis der Homburger Zeit und der Beschäftigung mit den Griechen (bes. in den Pindar-Übertragungen) beschrieben hatte. Benjamin wollte ihm seine »Hölderlin-Arbeit zu lesen geben, deren äußerlicher Anlass die Stellung ihres Themas in seiner Arbeit über die Pindar-Übersetzungen war.« (Brief an E. Schoen vom 25.2.1917, Benjamin 1995, I, 355) Den »Geist«, in dem H. aufgefasst wurde, gibt sehr einprägsam eine Notiz Scholems wieder, der von der »absolute[n] Autorität Hölderlins« spricht: »Hölderlin und die Bibel« seien »die beiden einzigen Dinge auf der Welt, die sich nicht widersprechen können« (Scholem 2000, 347). An Scholem hatte Benjamin am 23.12.1917 geschrieben: »Ich glaube nicht daß Sie sich eine Vorstellung von der Freude machen die das Eintreffen des IV Bandes der Hölderlinschen Werke, das so lange und sehnlich erwartet wurde [...] mir machte. Ich war den ganzen Tag vor Erregung fast zu nichts anderm fähig.« (Benjamin 1995, 406) Adornos Hinweis, dass H. »zuerst« durch Benjamin für das 20. Jahrhundert entdeckt und auch erläutert worden sei (vgl. Adorno 1965, 159), hat hier sein fundamentum in re.
40.1 Benjamin Benjamins Studie Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin ist im Kriegswinter 1914/15 entstanden, erschienen ist sie freilich erst 1955 in den von Adorno herausgegebenen Schriften. Sie geht mit dem Vergleich zweier Gedichte bzw. Gedichtfassungen auf eine Anregung Hellingraths zurück. Nach dem damaligen Editionsstand und der von ihm benutzten Ausgabe Böhms musste Benjamin ausgehen von zwei zeitlich dicht bei-
einander liegenden Versionen des Gedichts Dichtermuth, deren Chronologie in Wahrheit umgekehrt ist als von ihm angenommen, und einer erheblich später entstandenen Neufassung unter dem Titel Blödigkeit. Im Anschluss an Hellingraths in seiner Dissertation formulierte These, dass H.s späte Lyrik entstanden sei aus der Übernahme der »inneren Form« griechischer Dichtung, setzt sich Benjamins »ästhetischer Kommentar« das Ziel, die besondere Art der Sprachbewegung in den Gedichten zu verfolgen. Dabei wiederum wird Hellingraths aus der griechischen Rhetorik gewonnener Begriff der »harten Fügung« aufgenommen, der das Gewicht und damit die Freiheit des einzelnen Worts gegenüber der syntaktischen Ganzheit betont. Im Anschluss an Benjamins Hellingrath-Rezeption wird diese Vorstellung später auch für Adornos Begriff der Parataxe bestimmend. Die methodische Einleitung von Benjamins Essay richtet sich auf die Möglichkeit, das einzelne Gedicht verstehen zu können als Funktion einer konzeptuellen Einheit, die als das »Gedichtete« bezeichnet wird. Erst im Übergang zu diesem Ideal, das das Werk in seiner konkreten Totalität apriorisch prägt, wird das einzelne Gedicht Benjamin zufolge verstehbar. In der Konstruktion des »Gedichteten« durch den Rezipienten schließen sich die heterogenen Elemente des einzelnen Gedichts zusammen zur synthetischen Einheit und Geschlossenheit anschaulicher und geistiger Momente. Diese Einheit ist nach Benjamin eine Figur des »Lebens« als der autonomen Gestalt des Kunstwerks selber und in ihrer erfahrungsbindenden, die Verbindung gegeneinander strebender Elemente herstellenden Funktion dem »Mythischen« verwandt. Der Verstehensprozess besteht demzufolge darin, die Gegebenheiten des einzelnen Gedichts zu überschreiten und das »Gedichtete« zu ermitteln als das grundlegend in ihm wirksame Formativ, von dem her die Einheit wie die »innere Form« des einzelnen Gedichts als jeweils besondere Gestalt und semiotische Vielfalt verständlich wird. Mit dem Begriff des »Gedichteten« als eines Beziehungsgefüges, das »Verbundenheiten« herstellt, bezieht sich Benjamin auch auf den Reihenbegriff des Neukantianismus, dem er jedoch eine überraschende antihierarchische und mythenkritische Deutung gibt, wenn es etwa über Blödigkeit heißt, dass »um die Mitte des Gedichts Menschen, Himmlische und Fürsten, gleichsam abstürzend aus ihren alten Ordnungen, zu einander gereiht« (Benjamin 1980, II.1, 112) erscheinen. Benjamins Vergleich der beiden Oden H.s begreift Blödigkeit als Konsequenz aus den Mängeln von Dich-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_40
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termuth. In Dichtermuth, so Benjamin, bestehe noch keine Einheit des »Gedichteten«. Vielmehr werde hier der »Mythos« von einer dem Gestalteten äußerlich bleibenden »Mythologie« durchwuchert; es herrsche die bloß stimmungsvolle Verbindung der Teile und das Gefühl der unmittelbaren Lebensnähe. Während in der früheren Ode der Dichtermut noch als bloße Eigenschaft gesehen werde, begreife Blödigkeit den Mut als geistiges Prinzip, das das ganze Gedicht durchformt. Die »innere Form« beider Gedichte und ihre Vergleichbarkeit also wird im Rekurs auf das »Gedichtete« als Inbegriff dichterischer Gesetzlichkeit, d. h. sprachlicher Selbstbestimmung expliziert. An Blödigkeit wird von Benjamin jedoch nicht nur dargestellt, wie die bloße »Mythologie« von Dichtermuth überwunden wird und die Götter aus der Vorstellungswelt des Gedichts entstehen. Zwar sei hier das »Leben« des Kunstwerks, die mythische »Verbundenheit«, in Formen des griechischen Mythos gebildet, aber zugleich auch die Aufhebung des griechischen Elements durch das »orientalische« geleistet, dem der Begriff der »Nüchternheit« zugeordnet wird. Dieser Begriff des Orientalischen freilich ist, wie Szondi bemerkt hat, in Blödigkeit selbst ungedeckt. Der Sache nach hätte sich Benjamin auf die Briefe an Friedrich Wilmans und Leo v. Seckendorf berufen können (vgl. MA II, 924–930). H. sieht, dass ›das Griechische‹ selbst als Antwort – nicht als zeitloses Muster – zu begreifen ist. Umgekehrt lässt sich an dieser Antwort lernen, inwiefern es in der Sprachfindung des Gedichts um eine Identität geht, die sich zur Form gestaltet hat. Benjamin bezeichnet diese Sprachfindung und die in ihr sich bezeugende Freiheit als »Bestimmung des Schicksals durch Gestaltung [...]« (Benjamin 1980, 120). Gelingende Gestaltung ist das Geschick der Dichtung, das Sprache freisetzt – sowohl im Sinne des Freigesetzten wie des Freisetzenden. Geschick stellt sich als jene Geschicklichkeit dar, die dem Schicksal (dem ›fatum‹) der Fremdbestimmung entronnen sein lässt: die ›Anlehnung an Mythologie‹ weiche der Gestaltung des dem Gedicht ›eigenen Mythos‹ (vgl. ebd., 114). Realisiert wird dabei »etwas« – »Gut auch sind und geschikt einem zu etwas wir« (Blödigkeit, v. 21, MA I, 444) –, was der Gewalt vollständig unzugänglich sei. Wozu die »schikliche(n) Hände« (v. 24, ebd.) der Dichter gebraucht sind, ist Sprache selbst, sie realisiert darin sich. Der reflexive Sinn des ›realisiert sich‹ ist hier entscheidend. Denn das ›etwas‹, zu dem ›die Dichter gut‹ sind, wird nicht durch Sprache realisiert. Es wird als Sprache realisiert. In diesem Sinn teilt Sprache nicht
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etwas, sondern sich mit. Dass H. für diese Sprachund die mit ihr verbundene Kunstauffassung die entscheidende Referenz war, ist eine Subschicht von Benjamins Arbeiten seit seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Der Wandel der Bestimmungen des Dichterberufs, den Benjamin in seinem H.aufsatz herausarbeitet, ist auch im Kontext einer Distanzierung von Stefan George und dessen Vereinnahmung H.s zu sehen. Der unmittelbare Anlass dafür war der Selbstmord des Dichterfreundes Fritz Heinle wenige Tage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wenn Benjamin das »orientalische« Element von Blödigkeit dahingehend bestimmt, dass es die Unendlichkeit der Beziehungen an die Stelle plastischer Gestalt, Passivität an die Stelle von Schöpfung, den Mut als geistiges Prinzip an die Stelle des Muts zum Opfertod setze, so wendet er sich damit auch gegen die Ästhetisierung des Lebens und die Verherrlichung des Opfertodes durch George und seinen Kreis. Die implizite Kritik an der H.-Rezeption durch George und seine Schule, die Benjamins früher H.-Essay formuliert, wird später explizit und richtet sich gegen nationalistische Vereinnahmungen H.s., wie sie in Georges Mythologie vom »geheimen Deutschland« vorgebildet war. In seiner Auseinandersetzung mit Max Kommerells H.-Deutung in Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik schreibt Benjamin 1930: »Hölderlin war nicht vom Schlage derer, die auferstehen, und das Land, dessen Sehern ihre Visionen über Leichen erscheinen, ist nicht das seine. Nicht eher als gereinigt kann diese Erde wieder Deutschland werden und nicht im Namen Deutschlands gereinigt werden, geschweige denn des geheimen, das von dem offiziellen zuletzt nur das Arsenal ist, in welchem die Tarnkappe neben dem Stahlhelm hängt.« (Benjamin 2011, 13.1, 273) Dem setzt Benjamin die »trigonometrischen Signale« entgegen, die H.s Sprache für jene »Länder« setze, »welche »die Herzens- und Nahrungsnot« ihm eröffnete.« (Benjamin 2008, 38)
40.2 Adorno Benjamins Kritik an der H.-Rezeption der GeorgeSchule findet 1963 eine Fortsetzung in Adornos Polemik gegen Heidegger (s. Kap. 39) und eine ihm nahestehende H.-Philologie. Im Erstdruck von 1937 hatte Heidegger seine ein Jahr zuvor verfasste Rede Hölderlin und das Wesen der Dichtung mit der später getilgten Widmung versehen: »Norbert von Hellingrath/ gefallen am 14. Dezember 1916 vor Verdun/ zum Ge-
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dächtnis« (zit. nach: Haverkamp 1991, 76). Die Assoziation von H.-Verehrung, Nationalismus und soldatischem ›Opfertod‹, die hier aufgerufen wird, steht in der Kontinuität der H.-Rezeption durch George und Teile seines Kreises. Doch nicht nur mit der Polemik gegen Heideggers H.-Deutung und eine auf ihn sich berufende Literaturwissenschaft, die den ParataxisVortrag bei der Jahresversammlung der H.-Gesellschaft 1963 in Berlin zum Skandal werden ließ, knüpft Adorno an Benjamin an. Vor allem der Parataxis-Begriff selber wird in Anlehnung an Benjamins aus Hellingraths »harter Fügung« wie aus dem Neukantianismus gewonnenen Begriff der »Reihen« entwickelt und die Parataxis als ästhetische Form geschichtsphilosophisch begründet. Die schon bei Benjamin vorgebildeten antihierarchischen Implikationen des ReihenBegriffs werden von Adorno weiterentwickelt, indem er die Parataxis über eine bloß formendeskriptive Bedeutung hinaus als die Form-Idee, die »innere Form«, von H.s Spätwerk begreift. Dessen Gehalt ist Adorno zufolge die »Auflehnung wider die Synthesis« und damit die Erschütterung der Kategorie des Sinnes. In der parataktischen Gegenbewegung zur synthetisierenden Sinnproduktion wiederum werde, so Adorno, das Subjekt nicht einfach aufgelöst, vielmehr spreche die Sprache selber für ein Subjekt, »das von sich aus – Hölderlin war wohl der erste, dessen Kunst das ahnte – nicht mehr reden kann« (Adorno 1965, 193). Im Kontext der Dialektik von Naturbeherrschung bezeichnet die Parataxis und ihr Pendant in der musique informelle bei Adorno eine Sprache des Nichtidentischen, des freien Miteinanders des Verschiedenen, wie das Unterlaufen von Identität und Synthesis als Figuren von Herrschaft durch die Selbstreflexion des naturbeherrschenden Geistes. Adornos H.deutung beginnt in Parataxis gleichsam damit, dass bei H. die »Idee einer allegorischen Naturgeschichte« aufblitze, »die das gesamte Spätwerk [...] durchherrscht« (ebd., 159). Gesagt ist das bezüglich Der Winkel von Hahrdt. Natur hält Geschichten der Mündigkeit »bereit«. »[N]icht gar unmündig« werde sie genannt, weil »[n]achlebende Natur« am »übrig gebliebenen Ort [...] zur Allegorie des Schicksals« wird und im Gebilde des Gedichts als »Ausdruck« dessen erscheint, »was Benjamin zuerst und Heidegger später das Gedichtete nannte« (ebd., 159). Die philosophische Idee des »Gedichteten« aber sei nun nicht, wie bei Heidegger, gleichzusetzen mit dem gedanklichen Material von Dichtung, sondern erschließe sich erst über H.s Brechung der Begriffe in Namen und Korrespondenzen, die die Abstrakta aushöhlen und ebenso leer wie
fremd erscheinen lassen. Die Begriffe werden, wie es im Anschluss an Benjamins Trauerspielbuch heißt, zu »capita mortua dessen an der Idee, was sich nicht vergegenwärtigen läßt« (ebd., 176) und eben damit zum Medium der Kritik an der idealistischen Synthesis. Von Hegel und dem Idealismus unterscheidet sich H.s Dichtung nach Adorno dadurch, dass sie aufgrund der Distanz ihres Formgesetzes, d. h. ihrer »inneren Form«, von der empirischen Wirklichkeit reflektiert, »daß das Leben nicht die Idee, daß der Inbegriff des Seienden nicht das Wesen« (ebd., 175) sei. Auf die an H.s Spätwerk abgelesene Idee einer allegorischen Naturgeschichte ist Adorno an zentraler Stelle der Negativen Dialektik zurückgekommen. Es gehe dabei, »fast wie bei Hölderlin (um die) Anamnesis des Naturhaften, das hinab mußte« (Adorno 1973/1997, 160). H.s reihende Technik, die parataktische Tendenz besonders der Gesänge, ist nach Adorno nicht einfach ›philologisch‹ aus Pindar und dem rhetorischen Terminus der »harten Fügung« abzuleiten. Die Störungen der logischen Hierarchie, der Ausdruck von Fremdheit und Unverbundenheit, die Dissoziation symbolischer Einheit durch allegorische Vielfalt, die durch die sprachliche Verfahrensweise der Parataxe erzeugt werden, resultieren Adorno zufolge vielmehr aus H.s »Fügsamkeit« gegenüber der Sprache, die schon Benjamin als das »orientalische« Prinzip in Blödigkeit beobachtet habe. Eben diese »metaphysische Passivität« als Gehalt der Dichtung H.s sei gegen den Mythos der Naturbeherrschung gerichtet und lasse – etwa in der Friedensfeier – Versöhnung aufscheinen als Vergehen des Äons der Gewalt. Die von H.s Dichtung erreichte Sprachwirklichkeit wird aus diesem Grund zum Vorbild gerade auch der philosophischen Reflexion. Auf das, »was in den Hymnen des späten Hölderlin philosophisch der Philosophie voraus ist [...]«, verweist Adorno in der Negativen Dialektik als programmatischen Maßstab (Adorno 1973/1997, 381). Über seine eigene »Methode« hat er notiert, »daß sie mit den ästhetischen Texten des späten Hölderlin am engsten sich berühre« (vgl. Adorno 1970, 541; Indiz dafür (und kein sprachlicher Manierismus) ist auch, dass Adorno H.s terminus technicus ›Verfahrungsweise‹ durchgängig verwendet). Aus der geschichtsphilosophischen Deutung der parataktischen Form in H.s Spätwerk, die ganz in den Kontext einer Dialektik der Aufklärung gestellt ist, ergeben sich die angedeuteten philosophie- und literaturgeschichtlichen Bestimmungen von H.s Werk als Einspruch gegen die Prinzipien von Synthesis und Identität, gegen Hegels Opfer der Empirie, gegen den
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romantischen Rekurs auf Natur ohne die Vermittlung der Reflexion sowie gegen den Symbolbegriff der Weimarer Klassik. Ausgangspunkt dieser konsequenten Historisierung H.s und seiner Ästhetik ist die Kritik an Heideggers Enthistorisierung wie auch Entästhetisierung von H.s Werk. Heidegger, so Adornos zentraler Vorwurf, reduziere H.s Gedichte, ganz im Sinne einer traditionellen Hermeneutik, auf die Intentionen, das gedankliche Material, die Absichten des Dichters, noch wo er als »Stifter« angesehen werde. Damit wiederum sei nicht nur eine Entästhetisierung des Gehalts verbunden, der sich erst vermittels der Form, der Konfiguration der Momente, der Brüche und Zäsuren konstituiere. Vielmehr werde auch generell das Erlöschen der subjektiven Intentionen im Wahrheitsgehalt des Kunstwerks und – bezogen auf die ästhetische Entwicklung der Moderne – die Tendenz auf eine intentionslose Sprache verkannt, mit der sich bei H. ein Prozess eingeleitet finde, der zum einen in die sinnlosen Protokollsätze Becketts münde. Auf eben diese Tendenz, so Adorno, habe schon Benjamin hingewiesen, wenn in seinem Kommentar zum Abdruck von H.s zweitem Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff (vom November 1802, Benjamin versieht ihn, der Hellingrathschen Ausgabe folgend, mit dem Datum 2. Dezember 1802) in der Anthologie Deutsche Menschen die Rede ist von »schroffen Höhen, wo der nackte Fels der Sprache schon überall an Tag tritt« (Benjamin 2008, 38). Zum anderen gründe in H.s Tendenz auf eine intentionslose Sprache deren Affinität zur Musik. Nachzuahmen, was »nicht eingelegte menschliche Intention« ist, darin bestehe »im Stande von Rationalität die einzige Figur, in der etwas wie Sprache der Schöpfung widerscheint« (Adorno 1970, 121). H. gilt Adorno als derjenige, bei dem sich dies in originärer Weise registriert findet: »Das Subjekt wird es erst durch Sprache. Hölderlins Sprachkritik bewegt sich darum in der Gegenrichtung zum Subjektivierungsprozess, ähnlich wie [...] Beethovens Musik [...]. Vorm Konformismus, dem ›Gebrauch‹, hat Hölderlin die Sprache zu erretten getrachtet, indem er aus subjektiver Freiheit sie selbst über das Subjekt erhob.« (Adorno 1965, 193) Wie nur noch Beethoven wird H. für Adorno zum Kronzeugen: »Große Musik ist begriffslose Synthesis; diese das Urbild von Hölderlins später Dichtung, wie denn Hölderlins Idee des Gesangs streng für die Musik gilt, freigelassene Natur, die [...] eben dadurch sich transzendiert.« (ebd., 184) In Vers une musique informelle bezeichnet Adorno »das Komponierte« in strenger Engführung als das, was Benjamin an H.s Dichtung als »das Gedichtete« erschlossen
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hatte (Adorno 2014, 405; vgl. Benjamin 1980, 105 ff.). »Anders als in Musik kehrt in der Dichtung die begriffslose Synthesis sich wider das Medium: sie wird zur konstitutiven Dissoziation [...]« (Adorno 1965, 184/85), dies freilich um einer »sprachkritischen Selbstreflexion« (vgl. ebd., 191) willen, die erinnerungsfähig macht, was »anders wäre [...], die Versöhnung, welche den Äon der Gewalt nicht wiederum ausrottet, sondern als vergehenden, in der Anamnesis des Widerhalls, errettet. Denn Versöhnung, an der Naturverfallenheit ihr Ende erreicht, ist nicht über der Natur als ein schlechthin Anderes [...]. Was dem Naturstand Einhalt gebietet, ist zu diesem vermittelt [...] in der Natur selbst.« (ebd., 208)
40.3 Szondi Auf der Jahresversammlung der H.-Gesellschaft von 1963 hatte Szondi Adornos Parataxis-Vortrag gegen die empörten Anhänger Heideggers verteidigt. Auch deshalb ist ihm die erweiterte Druckfassung des Parataxis-Essays von 1964 gewidmet. Szondi seinerseits schließt in seinen Hölderlin-Studien von 1967, in denen die Ergebnisse der Vorlesungen Einführung in die literarische Hermeneutik und Poetik und Geschichtsphilosophie I und II zusammengefasst und um eine methodische Einleitung ergänzt sind, an Benjamin und Adorno an, indem er die kunsttheoretischen und geschichtsphilosophischen Implikationen und Reflexionen H.s selber entfaltet und sie erläutert in permanenter Abgrenzung gegen die H.-Rezeption im näheren und weiteren Umfeld des Nationalsozialismus. Bis in die Editionspraxis etwa Beißners, so Szondi, lassen sich die Spuren jenes Zeitgeistes verfolgen. An Benjamin und Adorno schließt Szondi auch mit seiner Kritik an bloß biographischen bzw. pathologisierenden H.-Deutungen an. Die Wendung gegen das Biographische und Persönliche – so Szondi – sei vielmehr eine zentrale Intention von H.s Spätwerk selber, die in solchen Deutungen ignoriert werde. So wird im Aufsatz Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils mit der Frage nach der Begründung für den fragmentarischen Schluss der Feiertagshymne das Problem eröffnet, dass H. das Verhaftetsein am persönlichen Leiden – am Verlust Diotimas – als Hindernis für eine adäquate Begegnung mit dem Göttlichen erkannt habe, ohne sich doch von diesem Leiden, der selbstgeschlagenen Wunde, lösen zu können. Der Grund für die Unvollendbarkeit der Feiertagshymne liegt nach Szondi eben darin, dass die Ebene
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des Erlebens hier noch nicht verlassen werden konnte zugunsten eines selbstlosen Preisens der Götter. Heideggers Annahme, dass die Feiertagshymne nicht fragmentarisch sei, sondern am Schluss zum »Heiligen« zurückkehre (s. Kap. 39), wird von Szondi ebenso widersprochen wie – unter Berufung auf Adornos Parataxis-Essay – dem Missverständnis der pindarischen Gnomen bei H. als »Leitworte« und Heideggers Versuch, H. aus der »Historie« zu befreien und der Geschichte des Seins zuzuführen. Zum strikt historischen Verfahren Szondis, das gleichzeitig insistiert auf der Differenz von historischer und poetischer Wirklichkeit und sich gegen Verwechslungen beider Bereiche – etwa bei Bertaux – verwahrt, gehört freilich auch, dass er in der Rekonstruktion des dichterischen Selbstverständnisses H.s verbleibt und nicht übergeht zu einem eigenen kunsttheoretischen bzw. geschichtsphilosophischen Entwurf, in dessen Kontext H.s Werk bei Benjamin und Adorno jeweils gestellt wird. Entsprechend wird auch im Aufsatz Er selbst, der Fürst des Festes H.s Distanzierung vom Mythos und von der Mythologie primär als poetisches und poetologisches – nicht so sehr als mythenkritisches – Problem erörtert. Im Prozesscharakter von H.s Sprache ist nach Szondi begründet, dass der »Gott« unter vielen Bezeichnungen erscheint: er ist nicht definitorisch festzulegen auf Christus, Dionysos, Napoleon oder den »Genius unsers Volks« (Beißner), sondern erscheint nur im Gedicht und in wechselnden Bedeutungen, die jeweils funktional mit bestimmten Versen oder Sequenzen in den Gesängen verbunden sind. Die Frage: Wer ist der Fürst des Festes? ist daher nach Szondi falsch gestellt. An ihre Stelle hat die Versenkung ins Werk zu treten, dessen Sprache nicht als bloße Chiffre verstanden werden darf. In dieser Kritik an einem bloß instrumentellen Sprachverständnis auch in weiten Teilen der damaligen H.-Philologie dürfte wohl die wichtigste Übereinstimmung zwischen Adornos und Szondis H.-Rezeption zu sehen sein. Im die Hölderlin-Studien einleitenden Essay Über philologische Erkenntnis hat Szondi die hermeneutischen Konsequenzen dieses Verständnisses poetischer Sprache entwickelt und zugleich die Konvergenz einer solchen Sprachauffassung mit spezifischen Konzepten der Moderne – vor allem Mallarmés – zur Geltung gebracht. Auch bei Benjamin findet Szondi dieses Sprachund Dichtungsverständnis bestätigt. Im vorletzten Aufsatz der Hölderlin-Studien mit dem Titel Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in dem es – wie auch im letzten – um H. als Ästhetiker geht, verweist er auf Benjamins
Kommentar zum zweiten Brief an Böhlendorff (vom November 1802, s. o.), in dem H.s Reflexion auf das Handwerk des Dichters, auf die sprachlichen Verfahrensweisen, hervorgehoben wird. Primär aber geht es in diesem Aufsatz zunächst um die Konstellation von Antike und Moderne bei H. als geschichtsphilosophisch begründetem Übergang vom »heiligen Pathos« griechischer Kunst und »orientalischer« Archaik der Antike zur hesperischen »Nüchternheit«, die sich schon Homer angeeignet habe als ein Fremdes, das dem bloß »Nationellen«, Eigenen, harmonisch entgegengesetzt sei. Im vehementen Widerspruch gegen die Forschungsthesen der »vaterländischen Umkehr« oder »abendländischen Wende« H.s entfaltet Szondi die Dialektik von Eigenem und Fremdem in H.s Konzeption von Antike und Moderne und polemisiert, auch unter Berufung auf Adornos Parataxis-Essay, gegen Heideggers Annahme einer »Heimkehr ins Eigene«. Diese käme einer Rückkehr in den »Ursprung« gleich, die das aus ihm ›Entsprungene‹ regressiv tilgt – und H.s Gnome: »Schwer verläßt,/ Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.« (Die Wanderung, MA I 337) missversteht: als befürworteten diese Zeilen solche Schwerfälligkeit. Schon Adorno hatte darauf hingewiesen, dass H. an den Beginn der folgenden Strophe »die ungeheure Zeile ›Ich aber will dem Kaukasos zu!‹« setzt, die bei ihm »im Geist von Dialektik – und dem der Beethovenschen Eroica – fortissimo dazwischenfährt« (vgl. Adorno 1965, 166). Szondi schließt sich an: H. denke die Vermittlung der Gegensätze, d. h. die Aneignung des Eigenen nicht um den Preis der Tilgung des Verschiedenen und des Verlusts des Fremden. Gerade dadurch gelinge ihm eine Überwindung des Klassizismus, ohne sich von ihm abzuwenden. Nicht verhindern konnte Szondi Adornos restriktive Deutung der »Alles ist gut«-Formel aus Patmos. Dessen These von der »trostlosen Quintessenz des Idealismus« und der »verzweifelten Affirmation«, die H. im »Alles ist gut« ratifiziert habe (vgl. Adorno 1965, 203), setzte er entgegen: »Ich glaube nicht, daß man den Satz ›Denn alles ist gut‹ als verzweifelte Affirmation des Todes Christi als des Halbgotts verstehen darf, verweist er doch durch die Konjunktion ›denn‹ auf das im Text Vorausgegangene, nicht auf das Folgende. Er gehört zu ›... denn nie genug/ Hatt er von Güte zu sagen/ Der Worte, damals, und zu erheitern, da/ Ers sahe, das Zürnen der Welt.‹« (Szondi 1993, 140; vgl. Patmos, 2. Fassung, MA I, 456) Trotz dieses Hinweises hat Adorno an seiner Kritik der »Alles ist gut«-Formel festgehalten. Festgehalten hat er auch an der seit Nietz-
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sche üblichen Gegensatzbildung von Antike und Christentum, der Adorno folgt und die von H. gerade unterlaufen wird. Dieser verstehe das Christentum nicht als Opposition der Antike, sondern, so Szondi, als deren Resultat. »Der Vers ›Darum, o Göttlicher ...‹ nimmt Vers 39 ›Sei gegenwärtig, Jüngling ...‹ wieder auf: angeredet ist in beiden Christus: die Anderen, die »neben« ihm sein sollen, sind die griechischen Götter und Halbgötter. Ich würde also doch meinen, dass es um die Versöhnung von Christentum und Antike geht, während ich für die Richtigkeit der These, das Christentum sei geschichtlich verurteilt wie diese, bei Hölderlin keine Zeichen finde.« (ebd., 140/141; vgl. H., Friedensfeier, 1. Versentwurf: Versöhnender der du nimmergeglaubt, MA I, 357) Dieser Deutung sich anzuschließen oder zumindest die eigene zu korrigieren, hat Adorno ebenfalls verweigert. Er sieht in Patmos das Christentum zum einen »in die mythische Opferreligion« zurückgesiedelt, zum anderen wird ihm Christus »zur alleinigen Anweisung auf das Wahre, Versöhnte, den Frieden als den Zustand, über den der Mythos, das alte Unwahre, seine Gewalt verloren hat.« (Adorno 1965, 203–205). Motiv für Adornos Deutung dürfte gewesen sein, dass er bei der Versöhnung von Christentum und Antike ein Verständnis von Versöhnung zu erspüren meinte, das als »Symbiose« und als Form einer »idealistischen Synthesis« zu werten sei, der H.s Sprache abgesagt habe. Vom Pathos benennbarer Versöhnung ausgegangen war Wie wenn am Feiertage ..., als könnten die »Dichter [...] dem Volk’ ins Lied/ Gehüllt die himmlische Gaabe« reichen (vgl. MA I, 263). Dieses Pathos ist H. zugrunde gegangen, »wenn von/ selbstgeschlagener Wunde das Herz mir blutet, und tiefverloren/ der Frieden ist, und freibescheidenes Genügen [...]« (Wie wenn der Landmann ..., MA I, 261). Szondi liest, wie erwähnt, am Motiv der selbstgeschlagenen Wunde eine entscheidende Zäsur in H.s poetischer und für seine poetische Arbeit ab. Die Idee der Versöhnung ist kein Gegenstand, der ungebrochen und in einem direkten Bezug zum Göttlichen benennbar und für den Sprache nur das Mittel wäre (die ›idealistische Synthesis‹ Adornos). Was Versöhnung meint, erscheint vielmehr in der und als Sprachgestalt selbst und ist das Maß ihres Gelingens – sofern »der Götter und Menschen Werk,/ Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt.« (Wie wenn am Feiertage ..., V. 48/49, MA I, 263). Mit der Idee der Versöhnung war H. »an einen Punkt gelangt, an dem das hymnische Prinzip selber in Frage gestellt wurde.« (Szondi 1975, 320) Als Antwort auf diese Zäsur und das von Szondi diagnostizierte Fraglichwerden setzt bei H. eine poetologische
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Selbstreflexion ein, als deren bedeutendste Ergebnisse die theoretischen Fragmente Das untergehende Vaterland ... und Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... gelten können (s. Kap. 19). Im Hinblick darauf, was H. (in Wenn der Dichter ... insbesondere) als »Verfahrungsweise des poëtischen Geistes« konzipiert hat, gilt Szondis Augenmerk vor allem der Deutung der Lehre vom »Wechsel der Töne« im letzten Aufsatz der Hölderlin-Studien über Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie, der im Anschluss an L. Ryan der Kombination der Töne naiv – heroisch – idealisch in den Homburger Fragmenten nachgeht und sie geschichtsphilosophisch begründet (s. Kap. 15). H., so Szondi, begreife die Unterschiedenheit der Gedichtarten auf der Basis einer gemeinsamen Struktur, als deren dreifach spezifizierte Erscheinungsformen sie angesehen werden. Die drei Dichtarten werden also nicht den drei Tönen zugeordnet, sondern sie werden bestimmt durch deren jeweilige Konstellation. Die geschichtsphilosophische Dynamisierung des Gattungssystems bei H. findet Szondi in Benjamins H.-Essay bereits erkannt, obwohl dort wegen fehlender Textkenntnisse die Begriffe der »Nüchternheit« und des »Orientalischen« in ihrem Verhältnis zueinander noch nicht angemessen erfasst werden konnten. Auch Adorno, so Szondi, habe mit dem Begriff der Parataxis und der Beobachtung des erzählenden Moments der lyrischen Sprache beim späten H. den Zug zur Episierung herausgearbeitet und damit die Dynamik des »Wechsels der Töne« getroffen. Diese erfüllt sich in jener ›begriffslosen Synthesis‹, die als ›Urbild‹ von H.s später Dichtung gedacht werden kann. Literatur zu Benjamin, Quellen
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Marlies Janz / Johann Kreuzer
41 Nationalsozialismus und Exilrezeption
41 Nationalsozialismus und Exilrezeption H.s Rezeption zwischen 1933 und 1945 ist von einer Fülle einander widersprechender und zudem auf verschiedenen Ebenen kultureller Produktion angesiedelter Charakteristika geprägt: Vom Abdruck der Scheltrede aus dem Hyperion in Feldpostausgaben für die Ostfront über die Initiierung der bis heute maßgeblichen Stuttgarter Ausgabe im Jahre 1943 bis hin zur Reproduktion von Nachdichtungen verschiedenster Qualität selbst in Tageszeitungen spannt sich in Deutschland wie im Exil eine Fülle von Bezugnahmen, hinter denen das Realobjekt H. gelegentlich verschwindet. Die H.-Rezeption zwischen 1933 und 1945 bietet daher auch für die ideologiekritische Faschismusforschung eine besondere Herausforderung, da sie nur in geringem Maße mit Begriffen wie »Instrumentalisierung«, »Propagandaphilologie« oder »Hölderlinidolatrie« – so noch Bothe (1992, 218 u. 275) – erfasst werden kann. Vielmehr erlaubte die von oben »geduldete Mehrstimmigkeit« (Bollenbeck 1999, 322 ff.) innerhalb verschiedenster kultureller Praxen Freiräume; so konnten etwa zwei der meistzitierten Gedichte H.s zu dieser Zeit, Der Tod fürs Vaterland (StA 1.1, 299) und der Gesang des Deutschen (StA 2.1, 3–6) einmal als Aufruf zu praktischer Bewährung an der Ostfront, zum anderen aber als Appell an das »andere« oder »bessere Deutschland« im Exil gelesen werden (vgl. Albert 1991a/b, 1994, 1995). Die Vielfalt der Rezeptionsweisen wird noch dadurch begünstigt, dass seit dem Tode Norbert von Hellingraths an der Westfront im Jahre 1916 dessen Gestalt, vermittelt durch George, sich untrennbar mit seiner »philologischen Antiphilologie« (Bothe 1992, 96) mischte und so einer »Sakralisierung der Dichtergestalt« (Albert 1994, 193 ff.) Vorschub leistete; über interpretatorische Gewissenhaftigkeit dominierte ein vages Ergriffensein, das sich an den Topoi »Jugend«, »Dichter-Seher« und »Führer« inspirierte und seine Distanz zur schulmäßigen Literaturwissenschaft deutlich markierte. Die mit dem Konstrukt H. betriebene Ästhetisierung von Leid, Kampf und Tod eröffnete in den letzten Jahren des Dritten Reiches einen Raum für Allmachtsphantasien, dessen Wert gerade in seiner Differenz zur Alltagsrealität lag. Massive Versuche zur Popularisierung mit der hunderttausendfachen Verbreitung von »Hölderlin im Tornister« (Klassiker 2, 1983, 300 ff.) lassen sich denn auch erst in den 1940er Jahren verzeichnen, in denen der ›totale Krieg‹ die gesamte
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Bevölkerung auf ihre Ressourcen an Sinnbildung und Identifikationsmodellen verwies. H.s 100. Todestag am 7. Juni 1943 bot die Gelegenheit, wissenschaftliche, publizistische und rezeptionsorientierte Aktivitäten zu bündeln und so ein letztes Mal Deutschland als ›Kulturnation‹ zu präsentieren. Zu diesem Zeitpunkt initiiert, konnte sich auch die ›Stuttgarter Ausgabe‹ mitsamt dem ›Hölderlin-Jahrbuch‹ – sein erster Band trug den Titel Iduna – bis in die Gegenwart der Anerkennung im In- und Ausland sicher sein. Autoren des Exils wie auch H.-Komponisten reagierten auf diese widerspruchsvolle Situation teils mit Enttäuschung, teils mit einer Tendenz zur Verinnerlichung, die den Topos des ›Fremdlings im eigenen Haus‹ (vgl. Albert 1995, 155) aufgriff und ihn zur existentiellen Grundsituation stilisierte.
41.1 Philologie oder Deutung? Das Bild einer widerspruchsvollen, in sich zerklüfteten Rezeption H.s reproduziert sich auch in der H.-Philologie der Jahre 1933–1945. Nachwirkungen der elitären Aneignungspraxis des George-Kreises lassen sich ebenso feststellen wie das Auftreten einer jüngeren Generation von Wissenschaftlern wie Johannes Hoffmeister (1907–1955), Friedrich Beißner (1905–1977), Paul Böckmann (1899–1987) oder Adolf Beck (1906– 1981), die, in Absetzung von den Deutungsexzessen ihrer Vorgänger, zu Nüchternheit und philologischer Gewissenhaftigkeit aufruft. In diesem Ethos gründet auch die StA, die sich »sauber« und (text-)«treu« als »Ort einer leidenschaftslos-sachlichen, der Tagespolitik enthobenen« Literaturwissenschaft sieht (Albert 1994, 217). Explizit anti-akademische Positionen bezogen dagegen Heidegger (s. Kap. 39), insbesondere mit seinem einflussreichen Vortrag zu Wie wenn am Feiertage (Heidegger 21951, 47–74), und die Adepten einer völkischen (oder zumindest an Kategorien wie »Ergriffenheit«, »Entscheidung« und »Artung« orientierten) ›Literaturbetrachtung‹. Zu dieser Gruppe zählen nicht zufällig später in der Germanistik marginale Gestalten wie Hermann Pongs (1889–1979) oder aufstrebende Nachwuchskräfte wie der bei Heinz Kindermann in Münster promovierte Werner Bartscher (1911-?, wahrscheinlich gefallen) oder der Privatgelehrte und Studienrat Helmut Wocke (1890–1966). Die dichte Folge von vier H.-Forschungsberichten zwischen 1934 und 1944 wie auch die Auseinandersetzung in der Iduna können – nebst zahlreichen weiteren Rezensionen und Repliken in den wegen Papiermangels zunehmend
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_41
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schmaler werdenden Bänden der Fachzeitschriften – als Indiz dafür gewertet werden, dass die H.-Philologie ein besonders geeignetes und prestigeträchtiges Feld für Selbstdefinitionen und Abgrenzungskämpfe bot. War doch in ihr mehr als in der Forschung zu anderen ›Klassikern‹ auch jener (nicht unbedingt nationalistisch eingestellte) Typus des Privatgelehrten und Volkspädagogen vertreten, der die Analyse des Textes durch dessen direkte ›Erfahrung‹ ersetzen wollte und sich in Schule und Erwachsenenbildung bis weit in die 1950er Jahre hielt (vgl. Albert 1996). Gerade dieser Ansatz ließ sich zumindest punktuell auch mit dem Anspruch promovierter (!) HJ-Führer verbinden, die, gegen Heidegger gerichtet, behaupteten: »Der Dichter steht mitten im Volk: da beginnt für uns die Deutung vom Wesen der Dichtung« (zit. nach Albert 1994, 215 f.). Der bei Ernst Bertram promovierte Hajo Jappe (1903–1988) etwa erfüllt diese Erwartung in seinem Werk Jugend deutschen Geistes (Berlin 1939), in dem H. als Ideal des »echt völkischen Jünglings« (414) fungieren und gegen allen Augenschein »das Preußische« (15) repräsentieren soll. Auf ähnlichem Wege gelingt es dem 1945 amtsenthobenen Altgermanisten Hans Naumann (1886–1951) den Gefolgschaftsgedanken in seinem Werk Wandlung und Erfüllung (Stuttgart 1933) auf H. zu projizieren und in den »Rausch des Gleichschritts« (62) zu integrieren. Selbst wenn nach 1945 das philologische Ethos der StA (ebenso wie der SchillerNational-Ausgabe) auch vom ›neutralen Ausland‹ aus positiv gewürdigt wurde und erst durch die in den 1970er Jahren begonnene FHA ins Wanken geriet, bleibt die H.-Forschung in ihren vielfältigen Verwerfungen und Verzweigungen ein bisher nur wenig erforschtes Beispiel für konkurrierende Wissenschaftsund Rezeptionsstile, deren Kontinuität weit über das Jahr 1945 hinausreicht (vgl. Gärtner 1997; s. Kap. 42).
41.2 Popularisierungen und Hölderlin- Paraphrasen »[M]ein Gewehr und meinen H. [...] habe ich immer [...] mitgenommen.« (zit. nach Albert 1994, 228) – diese Äußerung aus einem Soldatenbrief ist symptomatisch für den Versuch breiter Bevölkerungskreise, in der Situation des ›totalen Krieges‹ auf ein ›Bleibendes‹, nicht ideologisch Infiziertes zurückzugreifen. Nach der Kapitulation in Stalingrad und dem Scheitern des Afrika-Feldzuges bot H. – sei es als durch Hellingrath verbürgte Führer-Figur, sei es im Pathos seiner Texte selbst – eine Möglichkeit, Todes-
und Verlusterfahrungen mythisch zu überhöhen und mit dem Nimbus der Auserwähltheit zu versehen. Trotz ihrer Distanz zu ideologischen Verwertungen arbeiteten auch die jüngeren H.-Philologen diesem Bedürfnis zu: F. Beißner besorgte die – dringlich erbetene – Feldauswahl, die vor Weihnachten 1943 in einer Auflage von 100.000 Exemplaren an die Ostfront geschickt wurde; P. Kluckhohn knüpfte 1944 in der Iduna mit dem Abdruck authentischer Kriegsbriefe an das ›H.-Erlebnis‹ aus dem Ersten Weltkrieg an (vgl. Albert 1994, 204 f., 227–229; Albert/Weilnböck 2002). Die – weitgehend wertungsfreie – Verbesserung der Textgrundlagen (Beißners Feldauswahl enthält keinerlei Kürzungen oder Kommentare!) wird vor allem im Jubiläumsjahr 1943 durch den Versuch staatlicher Institutionen ergänzt, doch noch ein militaristischkämpferisches Bild von H. zu zeichnen. »Dient Kulturarbeit dem Sieg?«, fragt der Leiter des Hauptkulturamtes der NSDAP, Karl Cerf, am 7.6.1943 im Westdeutschen Beobachter. H. sei »der gute Kamerad unserer Männer«, und selbst Das Schwarze Korps, als Organ der Reichsführung SS, verweist mit H. darauf, »daß der Mensch in den schrecklichen Zonen des Zweifels nicht stehenbleiben darf« (zit. nach Albert 1994, 229 u. 231). Solche grobschlächtigen Aktualisierungen finden ihre Grenze zum einen an den realen Texten, die jenseits der ritualisierten Zitate aus Der Tod fürs Vaterland (StA 1.1, 299) und (StA 2.1, 3–6) kaum zur Kenntnis genommen wurden, zum anderen an dem umfassenden Bildungshorizont H.s, der kaum zu popularisieren war. Einen Vermittlungsversuch wagt – als einer der wenigen Germanisten – der Weinheber-Herausgeber Josef Nadler (1884–1963), wenn er »Hellas als Gleichnis für Deutschland« und H. als »Verkünder der kommenden neu geordneten Welt« versteht (zit. nach Albert 1994, 234). Die Mehrzahl der bildungsbürgerlich orientierten H.-Verehrer aber ersparte sich solche Kurzschlüsse und wich auf das Genre der H.-Nachdichtung aus. Von den 1940ern bis weit in die 1960er Jahre kann man, insbesondere in kulturkonservativen Blättern, H.-Paraphrasen finden, in denen das substantivierte Adjektiv, etwa in Gestalt des ›Unausweichlichen‹ oder des ›Dämonischen‹, die Realität als unerklärlich präsentiert und durch transhistorische Größen wie ›Tiefe‹, ›Gesetz‹ oder ›Gesang‹ ersetzt. Gesetz wird Gesang heißt auch ein Gedichtband des Tübinger HJ-Führers, Germanistikstudenten und ersten Präsidenten der H.Gesellschaft, Gerhard Schumann (geb. 1911). Nicht zufällig zeichnen sich seine H.-Anleihen wie die zahlreicher Hobby-Lyriker (vgl. Albert 1995, 162 f.), aber
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auch Josef Weinhebers (1892–1945), durch die strenge Form des Sonetts, der Ode oder der Hymne aus. Den Anfang machte 1938 Reichsjugendführer Baldur von Schirach, als er in der Zeitschrift Wille und Macht, dem Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend, drei Gedichte publizierte, die unter Berufung auf H. den Tod im Krieg als letzte Erfüllung des Lebens präsentierten. Dieser offizielle Vorstoß wurde begleitet von huldigenden Kommentaren, die etwa erklärten: »Schirach entspricht einem antiken Ideal, von dem sich Hölderlin nichts hat träumen lassen« (zit. nach Albert 1994, 237). H.s diffuses Bitten, Klagen und Prophezeien sei in Schirachs »Geist der Vollendung« aufgehoben. Selbst wenn zahlreiche H.-Epigonen sich gegen eine solche Festschreibung gewehrt hätten, streben doch auch sie nach einer Selbstvergewisserung durch Form, die nach wie vor der Macht des Wortes traut. Offizieller Vertreter dieser Position ist der Wiener Metzgerssohn und Postinspektor Josef Weinheber: Er wird 1938 auf dem Großdeutschen Dichtertreffen in Weimar als H.-Nachfolger etabliert, seine Ode an H. eröffnet die Gedenkschrift zum 100. Todestag des Dichters. Weinhebers formale Souveränität – keine antikes Metrum, das er nicht beherrscht, kein Sprachexperiment, das er nicht unternommen hätte – findet aber seine Grenze in der Stilisierung des Dichters zum Hüter der Sprache: H.s »[d]ichtestes deutsches Deutsch« formuliere »wolkig Gewolltes« und charakterisiere so des »Deutschen Gestalt« (zit. nach Albert 1994, 245; vgl. Ketelsen 1992). Die prätendierte Sprachautonomie bietet hier also nicht etwa Widerstandskräfte gegen Ideologisierung auf; sie fördert diese geradezu, wenn schließlich in der deutschen Sprache »nicht bloß Deutsches sagbar« sein soll: »[I]n den Augenblicken ihrer höchsten Erhebung und Vollkommenheit wird sie griechisch« (zit. nach Albert 1994, 247). Weiter kann man sich nicht von H.s widerständiger Poetologie entfernen, doch griffen gerade Nachwuchsgermanisten wie Wocke, Pongs und Bartscher, die an der direkten Wirkung von Literatur interessiert waren, Weinhebers Œuvre gern auf: Nach all den Entstellungen und Verkomplizierungen der Moderne habe es den »Blick des Zeitalters« wieder geöffnet »für die Weltkräfte« (zit. nach Albert 1994, 246)! Das H.-Jubiläum 1943 (vgl. Kurz 1994) ist Kreuzungspunkt der vulgär popularisierenden, der bildungsbürgerlich konservierenden und der sprachkritisch überhöhenden Tendenz. Wie bereits bei den Jubiläen von Schiller 1934 und Kleist 1936 wird vor allem die schwäbische Hoffnung auf ›echte‹ oder ›authentische‹ Würdigung des Dichters enttäuscht:
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War schon »die maßgebliche Beteiligung an der Schiller-Ausgabe« entfallen, so Ministerialrat Dr. Theophil Frey (sie etablierte sich unter der Mithilfe von Julius Petersen 1943 in Weimar), sollte doch zumindest das Gedenken an H. »als eine schwäbische nationale Aufgabe, ganz anders noch als Schiller«, aufgefaßt werden (zit. nach Albert 1994, 217). Monument solcher Erwartungen bleibt immerhin – erst in den 1970er Jahren ernsthaft angegriffen – die StA (s. Kap. 1).
41.3 Hölderlin im Exil/Vertonungen Die Vielfalt der H.-Rezeptionen in Deutschland überforderte die Verständnismöglichkeiten der Emigranten; die Erwartung, man hätte H. als ›Kulturbolschewisten‹ oder ›Marxisten‹ verdächtigt (zit. nach Albert 1995, 166), lief ins Leere, ja sie wurde durch die H.-Popularisierungen regierungsoffizieller deutscher Stellen geradezu konterkariert. So war es kaum möglich, aus H.s Versen – wie es der Emigrant Hans Rodenberg 1939 hoffte – »Kraft zu sammeln gegen des Tyrannen Spruch« (zit. nach Albert 1991a, 728); vielmehr dominierte der Topos des ›Fremdlings im eigenen Haus‹ – so 1937 selbst die Moskauer Exilzeitschrift Das Wort (Albert 1995); es blieb dem späteren DDR-Kulturminister Johannes R. Becher vorbehalten, von der »Hohen Warte« des Sehers und Künders aus mit H. »zur Bildung einer deutschen Nation, im Geiste eines freiheitlichen Volksprinzips«, und zum »Sturz Hitlers durch die Kräfte des deutschen Volkes« aufzurufen (zit. nach Albert 1991a, 729). Von Anna Seghers über Stephan Hermlin bis zu Hermann Hesse und Stefan Zweig hat es keiner der prominenten Emigranten versäumt, ›sein‹ H.-Gedicht zu schreiben, und viele folgten dabei dem Motiv jenes Tübinger Studenten, der nach der H.-Feier in Tübingen 1943 feststellte, »daß die Wirkung dieser Stunde voll darauf beruht, daß so gar nichts Gegenwärtiges mitzureden hatte, sondern das einst gültig Gestaltete mehr sagen konnte als alles dumme Geschwätz unserer Tage« (zit. nach Albert 1995, 156). Selbst wenn Gottfried Benn, eingedenk eigener ideologischer Anfälligkeiten, 1943 dekretierte, es gebe im NS »auch eine sanfte Tour, die arbeitet mit Hölderlin und Rilke« (zit. nach Kurz 1994, 113), sind die H.-Rezeptionen des inneren wie des äußeren Exils – anders als die Weinhebers und seiner Adepten – zu würdigen als Spuren und Stellvertreter für »das zertretene Bild« H.s (Bobrowski, Anruf, zit. nach Kurz 1994, 128), über das in anderen Zeiten neu zu verhandeln ist.
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Vertonungen aus dieser Zeit bestätigen das zwischen Monumentalität und Verinnerlichung schwankende Bild. Von wenigen voluminösen Chorwerken, vorzugsweise zu »O heilig Herz der Völker«, abgesehen, dominiert auch bei den, meist als klavierbegleitete Sololieder gestalteten, Versionen in Deutschland die Erfahrung der Fremde, einer Existenz am Rande oder in einem ständig als bedroht empfundenen Freiraum. H.-Vertonung ist für die innere wie die äußere Emigration produktive Selbstbefragung wie auch Hinweis auf die Grenzen der Darstellbarkeit. Viktor Ullmann (1898–1944) komponierte 1943 im KZ Theresienstadt Abendphantasie und Der Frühling als Reminiszenz an verlorene Einheitserfahrungen; Hanns Eisler (1898–1962) integriert seine Hölderlin-Fragmente im gleichen Jahr in das Hollywooder Liederbuch, das »Anatomie der Trauer und Bild des neuen Deutschland« zugleich sein soll (Albert 1991b, 103 ff.). Für alle nicht explizit national ausgerichteten H.Kompositionen aber bleibt entscheidend, was Eisler angesichts seiner eigenen Produktionssituation im Exil formulierte: Man müsse die ›heilige Nüchternheit‹ H.s »kühl, höflich und zärtlich« aufnehmen, um so dem »Stillstand des wirklichen Lebens« (StA 4.1, 275) entgegenzuarbeiten (vgl. Albert 1991a, 731). Auch nach 1945 wird diese Devise zahlreiche Komponisten beflügeln und insbesondere eine Ästhetik des Fragments fördern (s. Kap. 57; Schuhmacher 1967, Andraschke 1988). Literatur
Albert, Claudia: H. im Exil, in: Weimarer Beiträge 37 (1991a), 723–736. Albert, Claudia: Das schwierige Handwerk des Hoffens. Hanns Eislers Hollywooder Liederbuch (1942/43), Stuttgart 1991b. Albert, Claudia: H., in: Dies. (Hg.): Deutsche Klassiker im
Nationalsozialismus. Schiller – Kleist – H., Stuttgart 1994, 189–248. Albert, Claudia: H.-Rezeption von 1933–1945, in: Kurz, Gerhard/Valérie Lawitschka/Jürgen Wertheimer (Hg.): H. und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, 153–173. Albert, Claudia: Die erfolgreichen Vermittler: Studienräte, Publizisten, Editoren, in: Barner, Wilfried/Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 1996, 245– 255. Albert, Claudia/Harald Weilnböck: Der Schützengraben als Lese-Ecke des Frontkämpfers. Topos und Realität des lesenden Soldaten, in: Bollenbeck, Georg (Hg.): Traditionsanspruch und Traditionsbruch. Die deutsche Kunst und ihre diktatorischen Sachwalter, Wiesbaden 2002, 131–156. Andraschke, Peter: H.-Fragmente, in: Danuser, Hermann u. a. (Hg.): Das musikalische Kunstwerk. Geschichte – Ästhetik – Theorie. FS für Carl Dahlhaus zum 60. Geburtstag, Laaber 1988, 743–752. Bollenbeck, Georg: Tradition – Avantgarde – Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880– 1945, Frankfurt a. M. 1999. Bothe, Henning: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«. Die Rezeption H.s von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, 201–220. Gärtner, Marcus: Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945, Bielefeld 1997. Heidegger, Martin: Erläuterungen zu H.s Dichtung, Frankfurt a. M. 21951. Ketelsen, Uwe-Karsten: Literatur und Drittes Reich, Schernfeld 1992, 364–372. Kurz, Gerhard: H. 1943, in: Härtling, Peter/Gerhard Kurz (Hg.): H. und Nürtingen, Stuttgart 1994, 103–128. Schuhmacher, Gerhard: Geschichte und Möglichkeiten der Vertonung von Dichtungen F. H.s, Regensburg 1967. CD: H.-Gesänge. Mitsuko Shirai/Höll, Hartmut: Capriccio 10534, Königsdorf: Delta Music GmbH 1994.
Claudia Albert
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42.1 Germanistik West: ›heilig-nüchtern‹
Die Rephilologisierung der Literaturwissenschaft in den letzten Kriegsjahren wie die scheinbar unpolitische Popularisierung im Zeichen von Natur- und Seinserfahrung (s. Kap. 41) ließen das Jahr 1945 im Westen nicht als Einschnitt der H.-Rezeption erfahrbar werden. Vielmehr festigten sich deren organisatorische und personelle Grundlagen auf der Basis weitgehender Kontinuität. Durch Johannes R. Becher und im Rückgriff auf G. Lukács gefördert, wurde im Osten zunächst das Bild des (an der deutschen Enge gescheiterten) Revolutionärs vermittelt, bis in der Mitte der 1960er Jahre Pierre Bertaux zu dessen Radikalisierung im Zeichen des Jakobinismus wie zu einer generellen Fachkritik ansetzte. Die H.-Rezeption politisierte sich so parallel zum Impuls der Studentenbewegung auf wissenschaftlicher wie auf literarischer Ebene in Ost und West (s. Kap. 54); H. wurde – wie die wiederentdeckten Exil-Autoren, die ihn ihrerseits adaptiert hatten –, zum Inbegriff des kritischen, Einspruch erhebenden, aber an seiner Zeit leidenden Intellektuellen. Dieser Impuls motivierte auch die FHA (s. Kap. 1), deren dynamisierter Textbegriff sich als Widerpart einer konservierenden (und konservativen) Philologie verstand. Parallel stellten poststrukturalistische Lektüren die zentralen Kategorien europäischer Sinnbildung ihrerseits in Frage und transformierten so den politischen Impetus der FHA in einen identitätskritischen. An ihm partizipieren psychoanalytische Richtungen, die das Interesse inzwischen vom ›Patienten H.‹ auf die im Text nachvollziehbaren Entfremdungserfahrungen richten. Eine stärker philosophisch orientierte Tendenz versucht H. im Kontext des deutschen Idealismus und seiner Aporien zu verorten, während seit den 1990er Jahren wieder eine Rephilologisierung zu beobachten ist, die H.s Werk im Zeichen grammatischer und genrespezifischer Beobachtungen interpretiert. Gleichwohl profitieren auch sie von der Skepsis ihrer Vorgänger gegenüber Sinn- und Wertbildungsmustern. Insgesamt bietet H. – wie mehrere Sammelbände mit methodenkritischer Tendenz zeigen (etwa Kurz et al. 1995 und Bay 1998) – ein (nach wie vor emotional hoch aufgeladenes) Erprobungsfeld für germanistische Selbstreflexion, -definition und -dekonstruktion.
Nimmt man die umfassenden Forschungsberichte von Adolf Beck 1947 (entst. Februar 1945) und Emil Staiger 1946 zur Kenntnis, könnte man vermuten, das Jahr 1945 sei an der H.-Philologie spurlos vorübergegangen. Mit den Epitheta »philologische Treue, Entsagung und Nüchternheit« und »unmittelbarste[m] Sinn für die Dichtung« (zit. nach Albert 1994, 223) skizziert Staiger nicht nur Friedrich Beißner, sondern das Selbst- und Vorbild, dem sich die Mehrzahl der Germanisten für mindestens zwanzig Jahre verpflichtet fühlte. Beck verbreitet 1945 die »Losung: zurück zur praktischen Interpretation, zur Auslegung und Exegese, zur Erschließung des Gedichtes als eines konkreten, in sich vollendeten und ruhenden Gebildes« (222). Auch hier erfährt Beißner in seiner »Meisterschaft [...] der Sicherung des Dichtertextes« und deren Verbindung »mit feiner Divination« eine Überhöhung zum Modellgermanisten, von der nicht nur die H.Philologie noch lange zehren konnte. Die »sakrale Tonlage« vermochte ebenso über den »Bedeutungsverlust der Hochkultur gegenüber den Massenmedien« hinwegzutrösten (Gärtner 1997, 57, vgl. auch 49 u. 42) wie sie den »Zusammenbruch« des Jahres 1945 als Bewährungsprobe für den Dichter (und seine Interpreten) verstand. Becks Forschungsbericht zu den Jahren 1945–1949 sieht zwar »Die Hölderlinforschung in der Krise« (HJb 1948/49, 211–240), doch dekretiert er gleichzeitig: »Er ist uns nicht entfremdet; wir können seiner nicht entraten« (212), um dann den Beitrag der Auslandsgermanistik zu würdigen. Politisch nur wenig – und wenn, dann durch Randgestalten wie Hermann Pongs – kompromittiert, konnte sich die H.-Forschung so in vornehmer Distanz vom Tagesgeschehen halten und die Werte des christlichen Abendlandes für sich beanspruchen. Die Tendenz zu einer Rhetorik des ›Feierns‹, ›Rühmens‹ und ›Preisens‹ wurde zum einen durch H.s Vokabular selbst begünstigt, zum anderen aber dadurch, dass zahlreiche H.-Exegeten entweder – wie Romano Guardini – Theologen waren oder durch Herkunft und Überzeugung dem schwäbischen Protestantismus zumindest nahestanden. Gleitende Übergänge von der Philologie zu Schule und Volks(-hochschul-)bildung sichern Vermittler wie Otto Heuschele oder Helmut Wocke, die dem »Schwabentum in der Geistesgeschichte« – so der Titel von Hermann Burgers Habilitationsschrift 1932 – transzendentale Weihen verleihen. H. wird als Person wie als Autor zur Projektionsfläche für Orientierungsbedürfnisse und Sinnstiftungen aller Art; substantivierte Adjektive wie
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_42
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›das Abendländische‹, ›das Heilige‹, ›das Nationelle‹ lassen historisch konkret bestimmbare Größen als ›Schicksal‹ oder ›Sendung‹ erscheinen und entziehen sie so der Analyse (vgl. Albert 1996). Vor diesem Hintergrund verwundert es weniger, dass der sprach- und textkritische Impuls, der sich in Frankreich schon seit den 1950er Jahren an Heidegger (s. Kap. 39) inspirierte, in Deutschland zunächst keine Wirkung entfaltete. Staiger findet schon 1946 H. durch Heideggers »Scheinphilologie« »vergewaltigt« (Staiger 1946, 214, 215); die Ansätze von Else Buddeberg (HJb 1952, 293–330) und Beda Allemann, um 1954 H. und Heidegger zu vermitteln (vgl. Albert 1994, 213), gelangen erst in den 1970er Jahren auf dem (Um-)Weg über Frankreich und insbesondere über Maurice Blanchot in die deutsche Diskussion. So erklärt es sich auch, dass zum Teil Jahrzehnte alte Texte von Benjamin, Kommerell, Adorno, Szondi (s. Kap. 40) oder Jakobson eine Wirkung ausüben konnten, die, weit über die H.Philologie hinaus, die Germanistik zur Befragung und Überprüfung ihrer eigenen Grundlagen zwang (vgl. Schmidt 1970) Diese Rolle des ›agent provocateur‹ teilt H. allenfalls mit Kleist. In den Schul- und Leseausgaben für das breite Publikum dagegen war zumindest H.s Dichtung durchgehend unter dem Titel »Höhepunkte klassischer Lyrik« präsent (Paefgen 1990, 219– 222), während Texte von Beißner und Böckmann aus den 1940er Jahren unverändert in die Aufsatzsammlungen der Fünfziger und Sechziger übernommen werden konnten.
42.2 Germanistik Ost: Der Revolutionär in der Sackgasse Die intensive und oft identifikatorische Leseerfahrung, mit der die Exilanten Hanns Eisler, Anna Seghers, Stephan Hermlin und der Frontsoldat Johannes Bobrowski H. als geistesverwandten ›Fremdling im eigenen Haus‹ wahrgenommen hatten, fand in der frühen DDR keine offizielle Resonanz (vgl. HJb 23, 1982/83, 166– 177). Vielmehr mussten gerade die ›West-Emigranten‹, selbst wenn sie nun Teil der kulturellen Elite waren, schmerzlich erfahren, dass ihre zweifelnden, fragenden und hoffenden Lektüren unbeantwortet blieben. Johannes R. Becher, seit 1954 Kulturminister der DDR, hatte bereits im sowjetischen Exil die Leitlinie vorgegeben: H. sei Verkünder der »Stimme des Volkes als Aufruf zur Bildung einer deutschen Nation, im Geiste eines freiheitlichen Volksprinzips«. Von der »Hohen Warte« der »Seher und Künder eines Volkes« aus sollte auch er
für jenes »neue Deutschland« zeugen, das sich in der DDR materialisierte (vgl. Albert 1991, 729 f.). Die erste repräsentative H.-Ausgabe von 1952 – sie enthielt ausschließlich Lyrik – wurde daher von Becher eingeleitet; Georg Lukács’ Analyse des Hyperion, 1935 in der Exilzeitschrift Internationale Literatur erschienen, präsentierte danach H. als gescheiterten Revolutionär, zwischen »jakobinisch-griechische[m] Ideal« und »miserable[r] bürgerliche[r] Wirklichkeit« schwankend und in der »verzweifelte[n] Sackgasse« des deutschen Idealismus endend. Lukács’ skeptische Prognose: »Ein späterer Hölderlin [...] wäre [...] ein borniert klassizistischer Liberaler gewesen« mag auf Becher selbst zutreffen; sie beschreibt aber auch jene Begrenzungen des H.Bildes in der frühen DDR, die erst in den 1970er Jahren durch die Initiativen von Germanisten-Schriftstellern wie etwa Gerhard Wolf und Volker Braun (s. Kap. 54) überwunden wurden (vgl. auch Packalén, Fehervary). Für die H.-Philologie lieferte Günter Mieth (1931– 2013) mit seiner unveröffentlichten Leipziger Dissertation von 1964 (vgl. Mieth 1978) und der 1970 folgenden Edition (s. Kap. 1) die Grundlagen (Hamlin 1971, 133 ff.). Ebenso sicherte er mit der mehrfach neu aufgelegten H.-Gedichtauswahl im Reclam-Verlag (Leipzig 1963) die Möglichkeit zu einer breiten H.-Rezeption. Einen späten Versuch, die Entfremdung in den sozialistischen Lebensverhältnissen mit der »Verselbständigung« der »geschichtlichen Mächte« bei H. zu koppeln, unternahm der Philosoph Wolfgang Heise (1925–1987). H. habe diese »nur poetisch – als mythische – zu bannen« vermocht (Heise 1988, 33), ein Befund, den die Grundlinien der literarischen H.-Rezeption in der DDR vollauf bestätigen!
42.3 Edition, Revolution, Subversion Kein Editionsprojekt hat – bis in die Spalten des Tagespresse und bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen – mehr öffentliche Aufmerksamkeit gefunden als die FHA (s. Kap. 1). Entstanden aus dem antigermanistischen Impuls des Graphikers Dietrich E. Sattler und dem – ästhetisch gewendeten – revolutionärmaterialistischen Engagement des Verlags ›Roter Stern‹ (später: ›Stroemfeld Roter Stern‹), wurden die grünen Bände der FHA mit ihrem außergewöhnlichen Format und ihrer dynamisierten Textdarbietung zum Kristallisationspunkt des abebbenden politischen und des aufkeimenden poststrukturalistischen Impulses in der Germanistik. Auch die ungewöhnlichen Darbietungsformen der begleitenden Publika-
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tionen – etwa des Periodikums Le pauvre Holterling (1975 ff.) und Sattlers Fliegender Briefe – erleichterten gleitende Übergänge zwischen enttäuschter Revolutionserwartung und beginnender Sprach-, Subjekt- und Diskurskritik. So konnte die nachhaltige Verunsicherung und Politisierung, die Pierre Bertaux seit 1967/68 mit seiner Jakobiner-These in die deutsche H.-Philologie hineingetragen hatte (s. Kap. 43, 54), durch Überlegungen zum »Diskurs des anderen« (so Nägele) ersetzt und ergänzt werden. Ohnehin hatte schon die sofortige Reaktion von Adolf Beck auf Bertaux, später dann die Arbeit von Christoph Prignitz, verdeutlicht, in welchem Maße auch ›revolutionär‹ deutbare Äußerungen H.s im Kontext mythologischer Konstruktion standen. Die Rede über ›Volk‹, ›Fest‹, ›Gesang‹, aber auch ›Auflösung‹ oder ›Umwälzung‹ partizipierte zwar vom republikanischen Schwung der Epoche und insbesondere des Tübinger Stifts, ging aber darin nicht auf. So lag es schon Ende der 1970er Jahre nahe, nicht mehr im realen Leben, wohl aber in der Dichtung Hierarchien in Frage gestellt zu sehen und »die Arbeit des Sinns als Arbeit des Subjekts in der Geschichte, aber auch als Arbeit des Textes im Subjekt« zu fassen (Nägele 1985, 2). Bezugsgrößen waren nun, statt Staiger und Beißner oder auch Bertaux, Manfred Frank und Jacques Lacan, Julia Kristeva oder Jacques Derrida. Selbst wenn eine Lektüre nach strikter poststrukturalistischer Observanz inzwischen eher als modische Geste erscheint (vgl. als Indiz Ler nout 1994), bleibt auch in der neuesten Forschung die Faszination für H.s Unterlaufen etablierter Gattungsund Sprachkonventionen spürbar – ein Befund, der seine Parallele in der anhaltenden Konjunktur von H.Vertonungen, insbesondere aus dem Spätwerk, findet. »Unendlicher Deutung voll« – diese Formulierung aus dem Homburger Folioheft (s. Kap. 33) scheint auch zukünftig für die H.-Forschung eine Quelle der Faszination zu bilden – selbst wenn H.s späte »List der Einfalt« (Philipsen 1995) eine Rückkehr zum spontan Verständlichen nahezulegen scheint.
42.4 Patient Hölderlin? Die Pathologisierung und gleichzeitige Verklärung H.s zum ›edlen Wahnsinnigen‹ hat eine lange Tradition, die bis zu den Besuchen der Romantiker im Turm zurückreicht (s. Kap. 7, 8; vgl. Bothe 1992). Auch in jüngerer Zeit greifen praktizierende Analytiker und Psychiater auf H.s Vita zurück, um an ihr die »Suche nach dem Vater« (Laplanche 1975) oder Züge der »Schizo-
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phasie« (Peters 1982) zu exemplifizieren – oder aber wie Bertaux 1978 H.s ›Wahnsinn‹ als Maske und freiwillige Flucht vor der Öffentlichkeit zu verstehen (vgl. Weinholz 1990). Natürlich entgehen diese Versuche nicht dem Dilemma der nachträglichen Diagnose. Zudem sind sie auf schriftliche, hoch stilisierte Zeugnisse angewiesen. Als klinische Aussagen haben sie keinen Bestand; sie weisen aber, wie Jean Laplanche selbst es sieht, auf die Problematik der Kategorien ›gesund‹ und ›krank‹ hin und tragen zu einer psychohistorischen Kontextualisierung zumindest des Lebens von H. bei. Übergänge zur Textanalyse sind bei Laplanche in einer strukturalistischen Methode angelegt, die Texte als Transformationen eines anwesend-abwesenden Begehrens liest. Neuere Ansätze aus der psychotherapeutischen Beziehungsanalyse nehmen insbesondere die Kommunikationsweisen der Textfiguren in den Blick und versuchen von dort aus Mechanismen der Selbstinszenierung und der Abwehr von Ambivalenzen zu diagnostizieren (vgl. Weilnböck 2000). Angesichts seiner wechselnden, aber immer pathetisch aufgeladenen Rezeptionsgeschichte und der politisch extremen Adaptierbarkeit von H.s Werk lenkt ein solcher Ansatz zu Recht die Aufmerksamkeit auf latente Gewaltpotentiale und Selbstermächtigungsphantasien – beim Autor wie bei seinen Interpreten. Ihnen ging 2008 ein Symposion, initiiert von den beiden Psychiatern und Psychotherapeuten Uwe Gonther und Jann E. Schlimme, nach, dessen Ergebnisse sich in dem Band Hölderlin und die Psychiatrie (Bonn 2010) dokumentiert finden. 14 Beiträge rekonstruieren H. als Patienten innerhalb der Psychiatriegeschichte seiner Zeit wie als literarisches Sujet bis in die Gegenwart. Auch populärwissenschaftlich angelegte Einführungen, etwa die Dieter Burdorfs (2011) leiten mit besonderer Aufmerksamkeit für Porträts seiner Person H.s psychi scher Verfassung aus seinen Erfahrungsräumen und unsteten Lebenssituationen sowie der Dominanz älterer Frauen ab.
42.5 Rephilologisierung erneut? Unbeirrt von avancierten Theorien (wie auch von deren schnellem Verschleiß) haben sich zwei Linien der H.-Forschung seit Jahrzehnten durchgehalten: zum einen die nach wie vor notwendige, zunehmend mühsame Rekonstruktion von H.s biographischem und literarischem Umfeld wie sie etwa Ursula Brauer im Hinblick auf Isaac von Sinclair und Gregor Wittkop zur Turmzeit unternahmen. Zum zweiten ist das Höl-
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derlin-Jahrbuch zum repräsentativen Forum geworden, in dem sich die Arbeit an und die Kontroversen um H.s Werk artikulieren. Wolfgang Binder hatte hier über Jahre einen wichtigen Part inne. Aus der philologischen Arbeit hat sich schließlich ein philosophiegeschichtliches Interesse entwickelt, das H.s Schriften im Kontext und im Spannungsfeld des Deutschen Idealismus liest (genannt seien hier Bruno Liebrucks, Gerhard Kurz, Otto Pöggeler, Jochen Schmidt und Dieter Henrich). Auf dem Hintergrund der ambitionierten und mit zahlreichen Erwartungen überfrachteten H.-Philologie überrascht es vielleicht nicht allzu sehr, dass Untersuchungen zu den konkreten textuellen Verfahrensweisen und genrespezifische Einordnungen eher in der Minderheit blieben. Nach zahlreichen vergeblichen Bemühungen, den ›Wechsel der Töne‹ (s. Kap. 15) poetologisch abzuleiten, legte Herta Schwarz 1994 eine grammatische Analyse der späten Hymnen vor, die deren geschichtsphilosophischen Gehalt in semantische und syntaktische Strukturen übersetzte; Fridolin Ganter entwickelte, an Jakobson orientiert, eine metrische Analyse des Hexameters im Archipelagus, die dessen Zeichencharakter betont. Einen neuen Anstoß zur Internationalisierung und Entpersonalisierung der H.Forschung gab schließlich Jürgen Link 1996 mit seiner historisch-diskursanalytischen Arbeit zu H. und Rousseau. Hier werden sowohl zeitgenössische Molekülund Äther-Theorien als auch H.s Konstruktion von Götter- und Heldenfiguren als sprachliche Zentren einer konkreten Entfremdungserfahrung um 1800 gefasst. Eine Verknüpfung dieser Befunde mit den Ergebnissen der prosperierenden, auch an den aufkommenden Naturwissenschaften interessierten, Romantikforschung steht noch aus. Inzwischen hat sich der Fokus auf die Betrachtung von H.s naturphilosophischem Denken jenseits spekulativer Ansätze verlagert. Hier interessieren insbesondere die Homburger Fragmente (s. Kap. 34), denen sich Anke Bennholdt- Thomsen und Alfredo Guzzoni seit 1999 kontinuierlich widmen (vgl. Bennholdt-Thomsen/Guzzoni: Analecta Hölderliniana, 1999–2017; Marginalien zu Hölderlins Werk, 2010). Dem Zusammenwirken von Sprachgestalt und philosophischem Gehalt galt auch 2007 Michael Luhnens grundlegende monumentale Studie zum Kontext von Naturerkenntnis und zeitgenössischer Geschichtsphilosophie. Auch im Zeichen von Intermedialität und der Aufmerksamkeit für die Materialität des Sprachlichen erschienen seit 2007 mehrere Beiträge, zumeist Dissertationen. Uta Degner und Mari-
on Hiller betrachteten jeweils H.s Texte in ihrer spezifischen Sprachgestalt und Schriftbildlichkeit. Kurz zuvor hatte Martin Götz H.s Sprach- und Darstellungszweifel zum Anlass genommen, nicht nur die Pindar-Fragmente Die Asyle und Untreue der Weisheit einer akribischen Sprachphilosophischen wie textologischen Analyse zu unterziehen, sondern auch die Textsorte Dissertation selbst. Der zunehmenden und gelegentlich kritisierten Abstraktheit der Forschung steht eine Tendenz entgegen, sich der materialen Grundlagen neu zu versichern. Winnfried Menninghaus kehrte 2005 zur akribischen Text- und Metrenanalyse seiner KlopstockLektüren von 1989 zurück und fand zwar nicht dessen Poetik der schnellen Bewegung, wohl aber das Versmaß des Adoneus als Repräsentation der Sappho und Gegenpol zur prominenten Leitfigur um 1800, Pindar. Entsprechend versteht er sein Unternehmen als Beispiel einer »allegorischen Metrik« (10). Wolfram Groddeck und Felix Christen haben die Maßstäbe für die Auseinandersetzung mit Brod und Wein oder Die Nacht (2012) und Hölderlins Ister (2013) neu justiert. Literatur
Albert, Claudia: H. im Exil, in: Weimarer Beiträge 37 (1991), 723–736. Albert, Claudia: Die erfolgreichen Vermittler: Studienräte, Publizisten, Editoren, in: Barner, Wilfried/Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 1996, 245– 255. Bay, Hansjörg (Hg.): Hyperion – terra incognita. Expeditionen in H.s Roman, Opladen/Wiesbaden 1998. Beck, Adolf: H.s Weg zu Deutschland. Fragmente und Thesen, Stuttgart 1982. Bertaux, Pierre: F. H., Frankfurt a. M. 1978. Brauer, Ursula: Isaac von Sinclair. Eine Biographie, Stuttgart 1993. Fehervary, Helen: H. and the Left. The Search for a Dialectic of Art and Life, Heidelberg 1977. Ganter, Fridolin: Versus heroicus: eine sprech-, sprach- und textanalytische ästhetische Konstruktion von H.s Archipelagus, Frankfurt a. M. 1999. Gärtner, Marcus: Kontinuität und Wandel in der neueren deutschen Literaturwissenschaft nach 1945, Bielefeld 1997. Gonther, Uwe/Jann E. Schlimme (Hg.): H. und die Psychiatrie, Bonn 2010. Hamlin, Cyrus: H. in perspective 1770–1970, in: Seminar 7 (1971). Heise, Wolfgang: H. Schönheit und Geschichte, Berlin 1988. Honold, Alexander: Nach Olympia. H. und die Erfindung der Antike, Berlin 2002. Kurz, Gerhard/Valérie Lawitschka/Jürgen Wertheimer (Hg.): H. und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995.
42 Germanistik nach 1945 Laplanche, Jean: H. und die Suche nach dem Vater (EA Paris 1961), Stuttgart 1975. Lernout, Geert: The Poet as Thinker: H. in France, Camden House 1994. Link, Jürgen: H. – Rousseau: Inventive Rückkehr, Opladen/ Wiesbaden 1999 (EA St. Denis 1996). Mieth, Günter: F. H. Dichter der bürgerlich-demokratischen Revolution, Berlin/DDR 1978. Nägele, Rainer: Text, Geschichte und Subjektivität – »Uneßbarer Schrift gleich«, Stuttgart 1985. Packalén, Sture: Zum H.bild in der Bundesrepublik und der DDR. Anhand ausgewählter Beispiele der produktiven H.-Rezeption, Göteborg 1986. Paefgen, Elisabeth Katharina: Der Echtermeyer (1836–1981) – eine Gedichtanthologie für den Gebrauch in Höheren Schulen. Darstellung und Auswertung seiner Geschichte im literatur- und kulturhistorischen Kontext, Frankfurt a. M. 1990, 218–222. Peters, Uwe Hendrik: H. Wider die These vom edlen Simulanten, Reinbek bei Hamburg 1982.
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Philipsen, Bart: Die List der Einfalt. NachLese zu H.s spätesten Dichtungen, München 1995. Prignitz, Christoph: H.s ›Empedokles‹, Hamburg 1985. Sattler, Dietrich E.: F. H. 144 fliegende Briefe, Neuwied 1981 ff. Schmidt, Jochen (Hg.): Über H., Frankfurt a. M. 1970. Schwarz, Herta: Vom Strom der Sprache. Schreibart und ›Tonart‹ in H.s Donau-Hymnen, Stuttgart 1994. Staiger, Emil: H.-Forschung während des Krieges, in: Trivium 4 (1946). Weilnböck, Harald: »Was die Wange röthet/kann nicht übel seyn«. Die Beziehungsdynamik der Entfremdung in H.s Empedokles-Projekt, Würzburg 2000. Weinholz, Gerhard: Zur Genese des »Wahnsinns« bei F. H. Ein Erklärungsmodell aus dem Kontext seines Lebens und seiner Zeit, Essen 21991 (EA 1990). Wittkop, Gregor: H. Der Pflegsohn. Texte und Dokumente (1806–1843) mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten, Stuttgart 1993.
Claudia Albert
B Europa 43 Frankreich Eine besondere Stellung im Spektrum der westlichen Rezeption nimmt Frankreich ein. Das rührt daher, dass die französische H.-Rezeption zugleich eine Diskussion literarischer und philosophischer Grundfragen war. Was in Frankreich im Lauf der letzten 50 Jahre über H. – oder zumindest ausgehend von H.-Texten – geschrieben wurde, hat in beinahe allen Ländern unseres Kulturkreises nicht nur die Deutung seines Werks, sondern die Auffassung von Literatur, von Textualität, von Sprache und Verstehen verändert. Verantwortlich für die philosophische Auszeichnung H.s in Frankreich war ein deutscher Exeget: Martin Heidegger. Die immense Wirkung Heideggers im Frankreich der Nachkriegszeit bewirkte, dass auch H., der für ihn der ›Dichter des Dichters‹ war, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. H. als ›le poète des poètes‹ (sic!) bildet den Bezugspunkt vieler französischer Stellungnahmen. Doch ist die H.-Rezeption in Frankreich nicht bloßes Unterkapitel der Heidegger-Rezeption. Die Erfahrung von H.s singulärer Sprache dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass französische Intellektuelle ein anderes, radikaleres Heidegger-Verständnis entwickelten. Insbesondere die subversive, anarchische Lesart Heideggers, die in der Philosophie des französischen Neostrukturalismus begegnet, ist ohne die Anregung durch Literaten und deren Auseinandersetzung mit H. nicht denkbar. Eine Schlüsselfigur in diesem Kontext ist Maurice Blanchot, der ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine kurze Abhandlung La parole ›sacrée‹ de Hölderlin veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt war H. unter den Intellektuellen Frankreichs bereits eine feste Größe. Nach sporadischen Erwähnungen im 19. Jh. hatte auch in Frankreich die eigentliche Rezeption erst nach der deutschen Wiederentdeckung H.s eingesetzt. In den 1920er Jahren erschienen die ersten wissenschaftlichen Studien; 1925 (B. Groethuysen) und 1930 (P. J. Jouve in Zusammenarbeit mit P. Klossowski) die
ersten Übertragungen. 1943 präsentierte G. Bianquis eine umfangreiche zweisprachige H.-Ausgabe; ihr Vorwort beginnt mit dem lapidaren Satz: »Hölderlin, ou le poète«. Im selben Jahr veröffentlichte das Institut Allemand im besetzten Paris einen Gedenkband, der eine französische Übersetzung von Heideggers Aufsatz Hölderlin und das Wesen der Dichtung enthielt. Die Weichen für eine emphatische Rezeption waren gestellt. Erst die Verquickung mit der zweiten Welle der Heidegger-Begeisterung in Frankreich machte auch hier aus H. den Dichter, an dem das Denken seine Möglichkeiten jenseits der begrifflichen Zwänge erkunden, ja selbst zur Dichtung werden kann. 1946 ist ein wichtiges Jahr für die Wirkung Heideggers in Frankreich: Blanchots Essay erscheint, Sartre schreibt seinen Aufsatz über den Existentialismus als Humanismus; im September stattet Jean Beaufret, der spätere Adressat von Heideggers Brief Über den Humanismus, dem mit Lehrverbot belegten Philosophen seinen Antrittsbesuch in Todtnauberg ab. Exemplarisch lassen sich hier die drei Linien der weiteren Nachkriegsrezeption festmachen: Sartres Existentialismus (von dem Heidegger sich bald distanzierte); ein orthodoxer Heideggerianismus um den getreuen Geistesbotschafter J. Beaufret; eine unorthodoxe, literarisch inspirierte Heideggeradaption, die im Neostrukturalismus der 1960er Jahre kulminiert. Für die beiden letztgenannten Strömungen wird mit der Hinwendung zu Heideggers Seins- und Sprachphilosophie nach 1935 auch H. zu einer Figur von überragender Bedeutung. Blanchot geht in seinem Aufsatz von Heideggers Meditation der Hymne Wie wenn am Feiertage aus. Im Zentrum stehen H.s Begriffe des ›Offenen‹, des ›Leuchtenden‹, des ›Tagens‹. So wenig wie Heidegger will Blanchot in dem »Jetzt aber tagts« der Hymne einen Hinweis auf die Französische Revolution sehen; auch für ihn ist ausgemacht, dass H.s Gesang keine realgeschichtliche Zeitenwende, sondern ein wesentlicheres ›Erwachen‹ im Blick hat: das Lichtwerden durch das Wort des Dichters. In deutlicher Abwendung von Hei-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_43
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degger nimmt Blanchot dieser ›Lichtung‹ aber alle Attribute des Bergenden, des Bewahrenden, der Rettung. Wer jenes Aufgehen der poetischen Sprache bei H. erfährt, werde von einer Bewegung »dans le néant« (La part du feu, Paris 1949, 121) ergriffen, die dichterische Existenz sei die Bezeugung einer kruzialen »impossibilité« (ebd., 131), der Dichter – »suspendu dans le vide même« – bewohne seine Sprache nur, indem er sie zerstört (ebd., 134). Folgerichtig verwahrt sich Blanchot in einem späteren Essay gegen Heideggers Deutung des Schlussverses von Andenken (»Mais ce qui demeure, les poètes le fondent«): Was die Dichter stiften, sei eben »nicht das Bleibende, [...] nicht der Schlupfwinkel, in dem der Mensch sich bewahrt« (Das Schweigen der Sirenen, Frankfurt a. M. 1988, 322). Der Raum des Ästhetischen, dekretiert Blanchot, ist ein »Abgrund«, seine Erfahrung versetze in »jene ›denkwürdige Krise‹, die allein der beweglichen Leere zu nahen erlaubt, jenem Ort, an welchem die schöpferische Aufgabe beginnt.« (ebd.) Blanchot schließt das »Offene« H.s mit Mallarmés »beweglicher Leere« kurz; H.s Aufbruch ins Offene wird in dieser Lesart das Hineinbegeben in einen bodenlosen Raum des Bedeutungsentzugs, in dem dennoch etwas – aber nichts Benennbares, Festes – aufgeht. Die Formel, mit der Blanchot dieses »Offene« wiedergibt: »s’ouvrir à ce qui s’ouvre« (La part du feu, 117) umschreibt zugleich seine Konzeption der Lektüre, die die Erfahrung einer nicht in Verstehen überführbaren Alterität sein soll: »Lire se situe au delà [...] ou en-deçà [...] de la compréhension« (L ’espace littéraire, Paris 1955, 205). Heideggers religiöse Sprechhaltung, in der H. zum Künstler des »Seyns« wird, stößt bei der jüngeren Generation französischer Heidegger ianer nun zunehmend auf Ablehnung. In ihren Augen verweisen H.s Texte nicht auf eine – wie auch immer geartete – sakrale Dimension; sie sind vielmehr der exemplarische Ort einer unendlichen, jede Bedeutungsfixierung unterminierenden Streuung (»dissémination«) von Sinn. Neben Heidegger ist Nietzsche der zweite deutsche Philosoph und H.-Verehrer, der bei dieser sprachphilosophischen Wende Pate stand. H.s heraklitische Formel »Das Eine in sich selber unterschiedne« erfährt, maßgeblich unter dem Eindruck von Georges Batailles Nietzsche-Buch von 1943, in Frankreich eine drastische Umdeutung ins Dionysische (vgl. Martens). Das »Eine« ist demnach nichts als die beständige Produktion von »Unterschieden«, eine Bewegung permanenter Neudifferenzierung, der kein in Einheitsbegriffen fassbares Substrat zugrunde liegt. Das
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entgrenzte Spiel der Differenzen geht weder aus einer ursprünglichen Einheit hervor, noch hält es auf eine finale, versöhnende Einheit zu. Aus dieser Perspektive vermitteln H.s Texte eine andere Art von Utopie als die in Deutschland diskutierte: nicht um Bilder eines erneuerten Soziallebens im »Gemeingeist« geht es, sondern um die Befreiung, die, um es mit Nietzsche zu sagen, im Ausbruch aus den »Gefängnisswänden« der »Conventionalsprache« (F. Nietzsche: Krit. Studienausgabe, hg. v. Colli/Montinari, Bd. 1, 883) liegt. H. wird in dieser Sicht zum Repräsentanten jenes intuitiven Ausnahmemenschen, den Nietzsche in seinem nun heftig rezipierten Traktat Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne feierte: der »freigewordene Intellekt«, der das gewöhnliche »Gebälk und Bretterwerk der Begriffe [...] zerschlägt, durcheinanderwirft« und in »unerhörten Begriffsfügungen« wieder zusammensetzt (ebd., 888 f.). In zahlreichen Schriften der 1960er Jahre figuriert H. als Kronzeuge einer Vernunftkritik, die unter Berufung auf Heidegger und Nietzsche die Alterität ästhetischer Erfahrung gegen das »Regulirende und Imperativische« (Nietzsche, ebd., 882) der verbindlichen Sprachordnungen ausspielt. H.s Wahnsinn rückt in ein anderes Licht. Auf seltsame Weise pulverisiert die französische Linke den Mythos vom wahnsinnigen Dichter und beerbt ihn zugleich. Wenn die Vernunft der Moderne selbst in Verdacht gerät, ein totalitärer Wahnsinn zu sein, ist H.s Geisteskrankheit endgültig nicht mehr nach erbaulichen Schemata wie ›Genie und Irrsinn‹ zu begreifen. Die Erosion des Denkens, die H.s späte Texte reflektieren und an sich selbst vollziehen, wird zum Wahrheitsgeschehen. Die psychische Krankheit, von genierten Philologen »Umnachtung«, von Psychiatern »Schizophrenie« genannt, erscheint dadurch aber nur noch signifikativer und geheimnisvoller (s. Kap. 8). Es ist sicher kein Zufall, dass das Buch eines Psychoanalytikers zum Kristallisationspunkt der H.-Diskussion in den frühen 1960er Jahren wird: Jean Laplanches Studie Hölderlin et la question du père (1961). Im Sinn der Lacan-Schule führt Laplanche H.s Krankheit auf ein regressives Verharren in der Sphäre des ursprünglichen Bedürfnisses (»besoin«) zurück. Die Eingliederung in die Welt der artikulierten Sprachzeichen durch die Vater-Instanz (»le nom du père«), die immer auch Durchtrennung der Mutter-Kind-Dyade ist (»le non du père«), werde in H.s Entwicklung durch die Übermächtigkeit der »verschlingenden« Mutter gestört. Infolgedessen bleibe H. sein Leben lang süchtig nach Verschmelzungsbeziehungen. Gleich nach
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dem Erscheinen verwirft J. Beaufret das Buch als Versuch, H.s Sprache in Kategorien einer klinischen Wissenschaft zu fassen. Hingegen erkennt eine ebenfalls 1962 unter dem Titel Le ›non‹ du père publizierte Rezension Foucaults (Dits et écrits I: 1954–1969, Paris 1994, 189–203) dem Autor das Verdienst zu, die Monotonie der abgestandenen Diskurse über ›Kunst und Wahnsinn‹ weit hinter sich gelassen zu haben. Bereits am Ende von Wahnsinn und Gesellschaft, dem Buch, mit dem Foucault 1961 erstmals Aufsehen erregt hatte, war H.s Werk als einer der Orte gerühmt worden, an denen sich blitzartig jene »souveräne Arbeit der Unvernunft« manifestiere, an die Psychiatrie und Psychoanalyse – eben weil sie den Wahnsinn in einen rationalen Diskurs überführen wollen – niemals heranreichen (Frankfurt a. M. 1969, 536). Die LaplancheRezension knüpft an diese Überlegungen zur Sprachwerdung des Anderen der modernen Vernunft an; vom Wahnsinn als essentieller, geheimer Erfahrung ist hier aber schon nicht mehr die Rede. H.s »einzigartige und exemplarische Stellung« (Dits et écrits I, 203) begründet Foucault nun mit einer Negativitätsfigur: sein Schreiben bezeuge wie kein anderes den »Tod Gottes«. Wenn es so etwas wie ein ursprüngliches, reicheres Wissen vor den Zurichtungen der abendländischen Rationalität gab, kann sich in der Moderne eine Sprache darauf nur mehr im Modus der Abwesenheit beziehen. Nur eine Sprache, die sich im Schmerz über den verlorenen Ursprung gleichsam selbst ›verzehrt‹, zum ›deutungslosen Zeichen‹ macht, kann erinnernd beschwören, was aus der Erfahrungswelt des modernen Menschen ausgeschlossen bleibt. In diesem Sinn versteht Foucault auch in Die Ordnung der Dinge H. (zusammen mit Heidegger und Nietzsche) als einen der Denker, bei denen es die »Wiederkehr« nur »in dem extremen Zurückweichen des Ursprungs gibt, dort, wo die Götter sich abgewandt haben und die Wüste wächst« (Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1974, 402). 1965 schaltet sich Jacques Derrida in die Debatte ein. In einem längeren Aufsatz über Artaud geht er von Foucaults Rezension aus, um grundsätzlich die Frage nach dem Status der – sei’s psychoanalytischen, sei’s literaturwissenschaftlichen – Interpretation zu stellen. Foucaults Satz, H. nehme eine »einzigartige und exemplarische Stellung« ein, sei, so erklärt Derrida, nur scheinbar ein Widerspruch. In Wahrheit zeige sich in ihm die Aporie jedes Kommentars, das Singuläre zum exemplarischen »Fall« machen zu müssen. Der Kommentar ist unweigerlich »Entwendung« der dichterischen Sprache, »um sie in eine Ordnung wesenhafter
Wahrheit oder einer realen, psychologischen oder anderen Struktur einzureihen.« (Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1976, 267 f.) Der Sprache H.s wäre demnach allein eine Auslegung angemessen, die sich als Kommentar setzt und zugleich selbst zerstört (ebd., 266), die die negative Kraft ihres Gegenstands durch Ordnungsverweigerung an sich selbst bezeugt. In den erregten Pariser Debatten der 1960er Jahre bleibt H. ein ständiger Bezugspunkt. Die Aversion gegen Systemphilosophie, der neue Gestus eines ›nomadisierenden‹ Denkens in Brüchen und Grenzüberschreitungen lenkt dabei fast zwangsläufig das Interesse auf den späten H. 1967 erscheint, ediert von Philippe Jaccottet, eine umfangreiche Werkausgabe H.s in der den literarischen Kanon Frankreichs maßgeblich bestimmenden ›Bibliothèque de la Pléiade‹ (Jaccottet ist als einer der wichtigsten Übersetzer auch mitbeteiligt am französischen Text). Diese Ehre war bis dahin nur Goethe zuteil geworden. Nach dem stark selektionierten Frühwerk präsentiert die Ausgabe nicht nur einen großen Teil der Oden, Elegien und Hymnen nach 1800 (s. Kap. 29, 30, 32)), sondern auch das gesamte Entwurfsmaterial, das StA 2.1 in den Abteilungen ›Hymnische Entwürfe‹ und ›Pläne und Bruchstücke‹ zusammengestellt hatte (s. Kap. 34). Eine analoge Tendenz zeigt sich in der literarischen Rezeption. Dem späten H. gilt das Interesse des Lyrikers René Char (der 1966–1968 mit Heidegger die berühmten Seminare von Le Thor abhält). Um den späten H. kreist Louis Aragons 1967 publiziertes Gedicht Hölderlin, das eine Sprache aus Schweigen als Konstellation von Lücken (»trous«) zu figurieren versucht. Dem späten H. versucht der Dichter André du Bouchet durch eine »parole de la rupture« in seinen H.-Übertragungen, die auf den englischen Übertragungen von Michael Hamburger basieren, und in eigenen Gedichten gerecht zu werden. So wird, unter Leitbegriffen wie »Bruch«, »Vielheit«, »Verschiebung« im intellektuellen Klima Frankreichs der ›vollendete‹ H., wie ihn die StA akzentuiert hatte, dezentriert, Jahre bevor in Deutschland mit dem Beginn der FHA die analoge Betonung eines fragmentarischen, offenen, undomestizierbaren Schreibprozes ses einsetzt. Angesichts der französischen Konzentration auf H. als revolutionäres Textgeschehen überrascht es nicht, dass der politische H., den Pierre Bertaux Ende der 1960er Jahre in die Debatte einbrachte, in Frankreich kaum auf Resonanz stieß. Bertaux, bereits in den 1930er Jahren mit zwei ungewöhnlich differenzierten Büchern einer der Pioniere der französischen H.-Forschung, löste in seiner Heimat weder mit der These
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von H. als Jakobiner (1968) noch mit der Infragestellung von H.s Wahnsinn (1978) Reaktionen aus, die auch nur entfernt vergleichbar gewesen wären mit dem Rumoren, das durch die deutschen Feuilletons ging. Diese späteren Studien Bertaux’ (die ja auch gezielt als Provokation des deutschen H.-Bildes gedacht waren) gehören so eher zur deutschen Rezeptionsgeschichte. In Frankreich dominierten weiterhin Arbeiten, die im weitesten Sinn der Heidegger-Tradition entstammen. Zu nennen wären (folgt man Lernouts Klassifizierung) auf dem ›linken‹, hauptsächlich durch Derrida inspirierten Flügel Autoren wie Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, auf dem ›rechten‹, um den Patriarchen Beaufret gruppierten Flügel François Fédier und Alain de Benoist. 1987, im Jahr der vorerst letzten großen Heidegger-Kontroverse (ausgelöst durch V. Farias’ Buch Heidegger et le nazisme, Paris 1987), erschien der deutsch-französische Kolloquiumsband Hölderlin vu de France. Auch hier ist in den französischen Beiträgen der lange Schatten Heideggers unübersehbar, im Gestus der Affirmation wie dem der Distanzierung. Der Schriftsteller und Kritiker Michel Deguy, der in den 1960er Jahren H.- und Heidegger-Texte für ›Tel Quel‹, das Zentralorgan der Pariser Semiologie, übersetzt hatte, fasst für seine Generation noch einmal die unhintergehbare Prägung »par l’herméneia de Heidegger« (79) zusammen: sie habe vor allem geholfen, die Separierung von Philosophie und Literatur in Frankreich zu überwinden. Auf der anderen Seite steht Jean-Pierre Lefebvres Interpretation von Andenken, die – ausdrücklich gegen die »Verschwarzwaldung heideggérienne« (ebd., 59) – dieses einzige Frankreich-Gedicht H.s als »poème hanséatique« der Sehnsucht nach Meerfahrt, nach Weite und Weltgewinn deutet. 1993 hat Lefebvre in einer 1800 Seiten umfassenden Anthologie bilingue de la poésie allemande eine bemerkenswerte, von mittelalterlichen Texten bis ins 20. Jh. reichende Anthologie deutschsprachiger Dichtung und darin 30 Gedichte H.s zweisprachig vorgelegt. Von den 30 Gedichten sind 23 neu übersetzt, darunter Andenken und Friedensfeier. Mit Friedensfeier setzte sich Lefebvre 2012 zudem in einer
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detaillierten Textanalyse und Interpretation auseinander und diskutierte mögliche Referenzen auf realpolitische Geschehnisse. 2002 erschien die bilinguale Ausgabe der Nachtgesänge von Philippe Marty. 2001 übersetze Bernard Pautrat in einer zweisprachigen Ausgabe H.s späteste Gedichte (1806–1843), 2004 fand H.s Hauptwerk (1796–1804) in Hymnes et autres poèmes Berücksichtigung. Die von Alain Préaux bereits 1993 in der bilingualen Publikation Poésie de l’autre vie veröffentlichten Turmgedichte übersetzte Jean-Pierre Burgart in einer zweisprachigen Ausgabe 2011 neu. Erstmals das gesamte dichterische Werk H.s übersetzte (auf der Grundlage der Ausgabe von Michael Knaupp) François Garrigue in seiner 2005 erschienenen Edition Œuvre poétique complète. Gravierende Fehler, die dem Übersetzer nachgewiesen wurden (vgl. B. Böschenstein, HJb 35, 410–412), schmälern das Verdienst dieser Ausgabe nicht. Vielleicht mag man die Verwechslung von »Liebenden« (»aimants«) und »Lebenden« (»vivants«) sogar als »clin d’oeil« (»Augenzwinkern«) verstehen – eingedenk des Schlussverses von Andenken (in der Übersetzung Lefebvres): »Mais ce qui reste est œuvre des poètes.« Literatur
Böschenstein, Bernhard/Jacques Le Rider (Hg.): H. vu de France, Tübingen 1987. Böschenstein, Bernhard: H. in Frankreich. Seine Gegenwart in Dichtung und Übersetzung, in: HJb 26 (1988/89), 304– 320. Böschenstein, Bernhard [Rez.]: F. H.: Œuvre poétique complète. Texte établi par Michael Knaupp. Traduit de l’allemand par François Garrigue. Edition bilingue, Paris 2005, in: HJb 35 (2006/07), 410–112. Hoffmann, Paul: H.s Weltrezeption, in: HJb 29 (1994/95), 1–22. Lernout, Geert: The poet as thinker: H. in France, Columbia, S. C. 1994. Martens, Gunter: H.-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches, in: HJb 23 (1982/83), 54–78. Oelmann, Ute/Aude Therstappen (Hg.): F. H., Présences du poète. Katalog zur Ausstellung (Bibliothèque nationale et universitaire du Strasbourg), Paris 2010.
Manfred Koch
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44 England Auch im englischen Sprachraum setzt eine nennenswerte Beschäftigung mit H. in den 1920er Jahren ein: Dichter wie der Schotte Edwin Muir (1887–1959) und Stephen Spender (1909–1995), der 1944 das Gedicht Hölderlin’s Old Age verfasste, weisen schon früh auf die Bedeutung widerständiger Texte wie Patmos hin. Während des Zweiten Weltkriegs sind es vor allem Emigranten (August Closs), die versuchen, englischen Studenten, aber auch schon einer breiteren Öffentlichkeit H. nahezubringen, oft in ausdrücklicher Opposition gegen den ›deutschen‹ H. der Nationalsozialisten. Von entscheidender Bedeutung für die Aufnahme H.s im angelsächsischen Sprachgebiet wird die Übersetzungsarbeit des schon 1933 ins Exil ausgewichenen Literaturwissenschaftlers und Lyrikers Michael Hamburger (1924–2007). Bereits 1943 übersetzte er als 19-jähriger H.s Gedichte. Sein Anliegen, dem Sprachleib des Originals immer noch näher zu kommen, galt sein Bemühen. Das Fremde im Original sollte auch in der anderen Sprache fremd bleiben. Mindestens neun Versionen entstanden im Verlauf der Jahre allein von Hälfte des Lebens. Seine zweisprachige Gedicht-Auswahl erfuhr etliche Neuauflagen, so 1952, 1966 und mit Ergänzungen 1980 und 1994. Wie für die Übersetzer der romanischen Sprachen besteht auch für die Übersetzer ins Englische die Hauptschwierigkeit in der Wiedergabe der antiken Metren. Das gilt gleichermaßen für alle anderen Sprachen. Versuche, die klassischen Versmaße nachzubilden, gelingen nicht. H.s Oden- und Elegienstrophen zwingen deshalb die Übersetzer zu einer mehr oder minder »unbefriedigenden Kompromißformel zwischen Prosa und Stilisierung« (Böschenstein 1988/89, 311). Hamburgers Übertragungen gehen in dem Willen, auch die rhythmischen Eigenheiten von H.s Versen genau abzubilden, sehr weit in Richtung ›Stilisierung‹. In einer neueren Auswahlübertragung von Gedichten (1990) hat sich David Constantine (geb. 1944)
hingegen am entgegengesetzten Pol orientiert, um einen forciert ›antiquarischen‹ Ton zu vermeiden. Seine Übersetzungen wie auch seine H.-Monographie von 1988 werden bis heute immer wieder neu aufgelegt. An Hamburger und Constantine lassen sich die beiden gegensätzlichen Übersetzungstheorien fassen: zum einen die unbedingte Texttreue, geradezu mimetische Nachbildung des Textes, die den Leser auf den Text zubewegt, und andererseits die auf den Leser hin orientierte Übertragung. Zu erwähnen ist der britische Dichter Christopher Middleton (1929–2015) mit seiner Übersetzung des Empedokles und Übersetzungen von Gedichten H.s, die 1972 in Chicago erschienen. Der auf deutsche Literatur spezialisierte gefragte Übersetzer brachte vor allem die Klassiker, Autoren des 20. Jh.s (Robert Walser, Georg Trakl, Gottfried Benn) und zeitgenössische Schriftsteller (Gunter Kunert, Günter Grass, Christoph Meckel) ins Englische. Middleton lehrte in England, in Zürich und ab 1966 an der Universität Texas at Austin Germanistik. Charlie Louth und Jeremy Adler brachten 2009 die lang erwarteten Essay- und BriefÜbersetzungen H.s heraus. Die jüngsten H.-Übersetzungen stammen von der kürzlich verstorbenen Lyrikerin India Russell: Hyperion von 2016 und eine posthum veröffentlichte zweisprachige Gedichtauswahl (An die Parzen, Hyperions Schiksaalslied, Da ich ein Knabe war, Achill, Der Nekar, Stutgard, Brod und Wein, Heimkunft) von 2019, die der Textgestalt der Beißnerschen Edition folgt. Literatur
Böschenstein, Bernhard: H. in Frankreich. Seine Gegenwart in Dichtung und Übersetzung, in: HJb 26 (1988/89), 304– 320. Constantine, David: Selected poems, Newcastle upon Tyne 1990. Constantine, David: H., München 1992. Hamburger, Michael: Die Aufnahme H.s in England, in: HJb 14 (1965/66), 20–34.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_44
Manfred Koch / Valérie Lawitschka
45 Spanien, Katalonien, Portugal
45 Spanien, Katalonien, Portugal 45.1 Spanien und Katalonien Ein erstes Zeichen von H. in Spanien ist eine skurrile Nachricht: Drei Monate vor H.s Tod, am 14. März 1843, erscheint in der Tageszeitung El Heraldo (Nr. 204; in der StA fälschlicherweise mit Nr. 264 angegeben) – und sie wird damit geradezu ihres Namens als »Bote« und »Vorbote« gerecht – die Nachricht von seinem Tod. Der Artikel ist nicht unterzeichnet, die Quelle jedoch eruiert: Der Anonymus übersetzte auszugsweise rund ein Fünftel dieses verfrühten Nachrufs ins Spanische, den J. Duesberg im Moniteur universel in Paris am 8. Februar 1843 veröffentlicht hatte (StA 7.4, 213–225). In dieser Wochenzeitschrift als Autor bekannt – er schrieb über Wilhelm Heinse –, hält Heinrich Heine seinen Freund und Professor Duisberg [!] für den Einzigen »hier« in Paris, der »gut geschriebene und zuverlässig gedachte Uebersichten aus Paris geben kann.« (Brief an Laube, 19. Dezember 1842) Doch auf welchen Nachrichten basiert seine Totsagung? Sicherlich auf einer Zeitungsente aus Deutschland. Jedenfalls schöpft Duesberg in seiner Nachzeichnung des Lebenslaufs H.s eindeutig aus Waiblingers Friedrich H.s Leben, Dichtung und Wahnsinn – ein ganzer Abschnitt wird unter Angabe der Stelle übersetzt. Diese erste H.-Biographie, aus der Retrospektive 1827 in Rom von dem Dichter Wilhelm Waiblinger (1804–1830) verfasst (posthum 1831 veröffentlicht), der H. im Zimmerschen Haus während seiner eigenen Tübinger Stiftszeit in den Jahren 1822– 1826 mehrfach besuchte, prägte das H.-Bild der Zeitgenossen und die Rezeptionsgeschichte. Oft folgt der Duesbergsche französische Artikel bis in den genauen Wortlaut Waiblingers Ausführungen und teilt dessen Einschätzung von H.s Schicksal. Doch auch eine andere Quelle, Zimmers Brief an einen Unbekannten (22.12.1835, StA 7.3, 132–135), scheint dem Verfasser bekannt gewesen zu sein. Mehrere Stellen sprechen für diese Annahme (StA 7.4, 219). Das abschließende Urteil, H. habe seinen Lebensplan selbst verwirkt, schreibt der Verfasser der Hybris H.s zu, Gott zum Kampf herausgefordert und an seiner Güte gezweifelt zu haben (»il a douté de la bonté divine.« StA 7.4, 217). H.s sozusagen selbstverschuldete »geistige Umnachtung« (StA 7.4, 222) ist in der spanischen Version nicht aufgenommen. Sie bricht mit der Kampfansage an Gott ab, doch das Unheil ist abzusehen, denn H. »zerbricht so die letzte Stütze, die dem Menschen in seinem Unglück bleibt.« (ebd., 223) Die Warnung ist
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deutlich und richtet sich an einen Typus von jungen schwärmerischen, »verirrten« Talenten, »etwa den von Byron beeinflussten José de Espronceda« (ebd., 224). Der Dichter Espronceda (1808–1842) gehörte zu den Romantikern, die entschieden für ein Freiheitskonzept im Sinne der Französischen Revolution eintraten. Die Stoßrichtung der Zeitung El Heraldo – die erste Nummer erschien im Juni 1842 – trifft bewusst das progressive Lager, wurde sie doch von der ehemaligen Regentin María Cristina (1806–1878), Gemahlin des Königs Fernando VII., die 1840 abdanken musste, aus dem Exil in Paris initiiert und bezahlt. Derselbe Artikel, ebenfalls mit Hölderlin betitelt, wurde in Mexiko am 25. Juni 1843 in der Zeitung El siglo Diez y Nueve, 2. Jg. (Das 19. Jh.) gedruckt. Die unmittelbare Nähe zu H.s Todesdatum ließ ihn als Nachruf erscheinen, doch handelt es sich um den identischen Abdruck des spanischen. Die langen Transportwege könnten den dreimonatigen Unterschied des Erscheinens erklären (StA 7.4, 223). Die ersten Übersetzungen in Spanien datieren aus den 20er Jahren des 20. Jh.s. Sie verdanken sich dem katalanischen Philologen und Lyriker Manuel de Montoliu (1877–1961). Er hatte 1908 vom Provinzialrat von Barcelona ein dreijähriges Stipendium erhalten und studierte in Halle bei den Professoren Hermann Suchier, der dort maßgeblich das Fach Romanistik aufbaute und bei Bernhard Schädel, der sich bei Suchier habilitiert hatte. Zeitweise studierte er auch bei Karl Vossler in München, dessen Italienische Literaturgeschichte u. a. er ins Spanische übersetzte. Von 1920–1923 war er Lektor für Kastilisch und Katalanisch bei Schädel in Hamburg. Montolius Übersetzertätigkeit ist beachtlich: aus dem Lateinischen, Französischen, Italienischen, Englischen und Deutschen. Er schrieb das Vorwort zu der Anthologie Las Cien mejores poesías (líricas) de la lengua alemana (Die hundert besten (lyrischen) Gedichte der deutschen Sprache), die im Editorial Cervantes von Valencia 1919 erschien und drei spanische Übersetzungen H.s des Dichters Fernando Maristany enthielt (Hyperions Schiksaalslied, Die Kürze, Geh unter, schöne Sonne). Maristany orientierte sich in der Auswahl an der zehn Jahre zuvor von dem Germanisten Richard Moritz Meyer besorgten Anthologie Die hundert besten Gedichte der deutschen Sprache (Lyrik). 1921 veröffentlichte Montoliu in dem H. gewidmeten Band 30 Las mejores poesías (líricas) de los mejores poetas (Die besten (lyrischen) Gedichte der besten Dichter) im selben Verlag, jetzt mit Sitz in Barcelona, 20 Übersetzungen der Gedichte H.s ins Kastilische.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_45
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Wieder ist es ein Katalane, der als erster in Spanien H. ins Katalanische übersetzte: der Hellenist, Dichter und Übersetzer Carles Riba (1893–1961). Er hatte von der Mancomunitat de Catalunya ein Stipendium erhalten und reiste im März 1922 nach München, wo er bei Karl Vossler studierte. Hier entdeckte er H. Sieben Gedichte übersetzte er, die im selben Jahr bei einem literarischen Wettbewerb vorgestellt wurden und die 1923 im Verlag Publicacions Empordá in Barcelona erschienen. Seine Beschäftigung mit H. in den Folgejahren zeitigten 24 Gedicht-Übersetzungen ins Katalanische, die in dem Band Versions de Hölderlin 1943 in Buenos Aires veröffentlicht wurden. Wie Montoliu ging er in der Zeit des spanischen Bürgerkriegs ins Exil nach Frankreich und kehrte 1943 nach Barcelona zurück. Mit dem Dichter Luis Cernuda (1902–1963) beginnt in Spanien eine herausragende Wirkung H.s. Er gehörte mit Federico García Lorca, Vicente Aleixandre, Rafael Alberti und anderen zum Kern der literarischen Gruppe der ›Generation von 1927‹. Zu ihren Vorbildern gehörten Rubén Darío und Juan Ramón Jiménez, die für eine »reine Poesie« eintraten. Geschlossen erschien die Gruppe zur Feier des 300. Todestages des Barockdichters Luis de Góngora in Sevilla, bei der García Lorca den Festvortrag La imagen poética de Don Luis de Góngora (Das poetische Bild bei Góngora) hielt, der gleichsam zum Manifest der Gruppe wurde. Sie öffnete sich auch gegenüber Antonio Machado und dem französischen Surrealismus, vor allem zu dessen Vertretern Louis Aragon und René Char. Ihr Organ war die Zeitschrift Litoral. Das Postulat von der reinen Poesie rief bald einen Stimmungswandel und eine Gegenbewegung auf den Plan, die unter dem Einfluss des chilenischen Dichters Pablo Neruda, seit 1934 Konsul in Madrid, befördert wurden. Nicht zuletzt war die sich ankündigende politische Veränderung Auslöser für die sich neu orientierende Poetikkonzeption. Auch das konservative Lager mit José Ortega y Gasset hatte die Gruppe schon früh als antihumanistisch kritisiert. Jeglichem Ästhetizismus und Formalismus abhold, wurde die Zeitschrift Caballo verde para la poesía, herausgegeben von Neruda, zum neuen Sprachrohr der Gruppe. Im Oktober 1935 veröffentlichte die erste Nummer den Artikel Sobre una poesía sin pureza (Von einer Poesie ohne Reinheit), der als Gegenmodell des alten Manifests und als Attacke gegen Ramón Jiménez zu werten ist. Damit war die bisherige Einheit der Gruppe empfindlich gestört. Im Sommer 1936 brach der Bürgerkrieg aus und zerstreute die Mitglieder. Gleich zu Beginn wurde
García Lorca in Granada ermordet. Die meisten mussten ins Exil gehen. Unter Mithilfe des deutsch-schweizerischen Hispanisten Hans Gebser, der seit 1932 in Spanien lebte und Mitglieder der ›Generación del 27‹ kannte, übersetzte Cernuda einige Gedichte H.s, die 1935 die Zeitschrift Cruz y Raya publizierte. Cernuda ging über England und die Vereinigten Staaten nach Mexiko ins Exil. Sein schmales Bändchen mit Übersetzungen von H.s Gedichten erschien 1942 in Mexiko. Ein Übersetzungsfehler im Schlussvers von Hälfte des Lebens hat ihn zeitlebens geplagt. In allen weiteren Auflagen und späteren Publikationen wies er stets darauf hin: Er hatte den Vers »Klirren die Fahnen« mit »restallan las banderas« wiedergegeben; in der späteren Version korrigierte er den Vers in »rechinan las veletas«, d. h. die »Flaggen« werden korrekterweise zu »Wetterfahnen«. Warum die neueste Übersetzung von Helena Cortés Gabaudán (2017) das treffliche lautmalerische Verb »chirrar« für »klirren« im Imperfekt verwendet, bleibt zu fragen. Der Literaturkritiker José María Valverde reagierte enthusiastisch auf Cernudas erste H.-Übersetzung und erkennt die Rezeption H.s in dessen lyrischem Werk, vor allem in Invocaciones a las gracias del mundo. Auch Aleixandre und Riba schreibt er jenen Widerhall zu, den ein Dichter in einem anderen Dichter hervorzurufen vermag. Valverde, selbst Übersetzter, veröffentlichte 1949 zwölf Gedichte H.s, deren Übersetzung er im Vorwort seiner Ausgabe als »Herausforderung« bezeichnet. Die Studie von Wilhelm Dilthey Das Erlebnis der Dichtung und Heideggers Abhandlung Hölderlin und das Wesen der Dichtung ist auch in Spanien präsent und prägend für die Aufnahme H.s in den 1950er bis 70er Jahren. Nach der Franco-Diktatur beginnt 1976 eine breitere Rezeption H.s. Folgt man den Ausführungen des Philosophen und H.-Forschers Anacleto Ferrer, Universität Valencia, so markiert die spanische Übersetzung von H.s Hyperion oder der Eremit in Griechenland den Wendepunkt in der Rezeption H.s in Spanien. Der Dichter, Übersetzer und Verleger Jesús Munárriz – ein H.-Begeisterter, der u. a. eine Hommage Monólogo de Zimmer verfasste (HJb 29, 186– 191) – gründete seinen Madrider Verlag Hiperión und veröffentlichte als ersten Titel H.s Hyperion. Die Resonanz war überwältigend, wie kaum bei einem deutschen Klassiker: Bereits nach 15 Jahren erfuhr er die dreizehnte Auflage, was einen Verkauf von rund 25.000 Exemplaren bedeutet. Signifikante Stellen im Hyperion – u. a. »Es werde von Grund aus anders!« (StA 3, 89) –
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entsprachen dem politischen Bedürfnis nach Freiheit und Veränderung nach vier Jahrzehnten der Diktatur. Inzwischen wurden alle früheren Übersetzungen H.s neu ediert und fast alle Werke H.s übersetzt und größtenteils im Hiperión-Verlag publiziert. Auch etliche einschlägige Sekundärliteratur zu H. wurde inzwischen übersetzt. Offenkundig erfährt H. wie kaum ein anderer deutscher Autor eine derart große Rezeption. 1994 erschien zum 150. Todestag H.s die international angelegte Hommage-Edition Poetas del poeta mit einem Vorwort von Hans-Georg Gadamer zur Aktualität H.s. Der Titel lehnt sich an Heideggers Postulat ›der Dichter des Dichters‹ an. In den meisten Übersetzungen ist jedoch der genaue Wortlaut Heideggers nicht korrekt wiedergegeben. Die inkorrekte französische Version ›le poète des poètes‹ (›der Dichter der Dichter‹) tradiert sich in andere Sprachen, obwohl die erste französische Übersetzung wortgetreu mit ›le poète du poète‹ Heideggers Formulierung wiedergibt (Approche de Hölderlin. Paris: 1962; Erläuterungen zu H.s Dichtung, Frankfurt a. M.: 1951, 32). Denn gemeint ist, dass »H.s Dichtung von der dichterischen Bestimmung getragen ist, das Wesen der Dichtung eigens zu dichten.« In diesem Sinn ist H. der Dichter der Dichtung überhaupt. Ein Novum ereignet sich 2015: Erstmals erscheinen die Übersetzungen ins Kastilische von Joan Vinyoli (1914–1984), des wohl wichtigsten katalanischen Dichters des 20. Jh.s, nachdem die Familie dessen Nachlass freigab. Vinyoli übersetzte auf der Grundlage der H.-Ausgabe von Norbert von Hellingrath und Friedrich Seebaß in den 1940er Jahren unter dem Einfluss von Cernuda und Riba Gedichte von H. Wieder ist es Anacleto Ferrer, der, diesmal in Zusammenarbeit mit Tobias Christ, die zweisprachige Edition besorgte. Auch das Fragment von Hyperion hat inzwischen durch Manuel Barrios 2016 eine Übersetzung mit Kommentar erfahren. Der Schriftsteller, Essayist und Übersetzer Eduardo Gil Bera veröffentlichte 2012 eine zweisprachige Gedicht-Ausgabe, die in epochaler Anordnung alle Schaffensperioden H.s berücksichtigt.
45.2 Portugal In Portugal wird die europäische Literatur vor allem über französische Übersetzungen vermittelt. Die Aufnahme deutscher Literatur geschieht durch die Werke Goethes: Fausts erster Teil wurde 1867 übersetzt, der zweite 1873. Doch erst Mitte des 20. Jh.s machte der
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Dichter, Germanist und Übersetzer Paulo Quintela (1905–1987), Universität Coimbra, in seiner annotierten Ausgabe von 1953 diese Übersetzung bekannt. Mit ihm beginnt die eigentliche Rezeption H.s in Portugal, wiewohl schon 1943 erste Übersetzungen H.s erschienen: Hyperions Schiksaalslied in der Zeitschrift A Esfera, im selben Jahr Hälfte des Lebens und Die Linien des Lebens, ein Jahr später An die Parzen und Aussicht. Quintelas Übersetzungen, immer wieder aufgelegt, die letzte von 2004, sind bis heute verbindlich. Der Schriftsteller Jorge de Sena (1919–1978) übersetzte einige H.-Gedichte, darunter An die Parzen und Hälfte des Lebens. Er opponierte gegen das Salazar-Regime und ging 1959 ins Exil nach Brasilien und von dort 1964, aufgrund der Militärdiktatur, in die USA, wo er an der Universität Santa Barbara in Kalifornien Literatur lehrte. Die Literaturhistorikerin Maria Teresa Dias Furtado (Universität Lissabon), die eine Dissertation zu Hölderlins Schweigen (1982) vorlegte, leistete eine umfangreiche Übersetzerarbeit von H.s Werk, die jeweils der Stuttgarter Ausgabe folgt: die Elegien (Elegias, 1992), Hyperion (Hipérion, 1997), die späten Hymnen (Hinos tardios, 2000). Ihrer Initiative verdankt sich das Lissaboner Kolloquium 1994, das in der Zeitschrift Runa, Revista Portuguesa de Estudios Germanísticos 22 dokumentiert ist. Luis de Camões, Fernando Pessoa und die zeitgenössische Lyrik sind ihre Forschungsschwerpunkte. 2000 veröffentlichte Daniel Costa in einer illustrierten Ausgabe In lieblicher Bläue; 2010 veröffentlichte Bruno C. Duarte zweisprachig die Pindar-Fragmente. In der zeitgenössischen Lyrik Portugals, bei Fiama Hasse Pais Brandão (1938–2007) und Nuno Júdice (*1949), um nur zwei Lyriker zu nennen, finden sich H.ische Spuren. Literatur zu Spanien und Katalonien
Ferrer, Anacleto: H., Madrid 2004. Ferrer, Anacleto: Bemerkungen bezüglich der Rezeption H.s in Spanien, in: HJb 29 (1994/95), 103–111. H. F.: Poemas / Holderlin [!]. Versión española de Luis Cernuda y Hans Gebser, Mexico 1942.
zu Portugal
Furtado, Maria Teresa Dias: H. ins Portugiesische übersetzt. Am Beispiel von Brod und Wein, in: HJb 29 (1994/95), 112–119.
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46 Niederlande und Skandinavien 46.1 Niederlande Der Lyriker, Essayist und Germanist Ad den Besten (1923–2015) brachte in den 1980er Jahren seine H.Übersetzungen heraus, wiederaufgelegt 2011. Auf frühere Übersetzungen in Holland und Flandern weist er in seiner Untersuchung H. in den Niederlanden hin (HJb 24, 218–228). Bereits um die Jahrhundertwende hatte der mit Stefan George befreundete Albert Verwey (1865–1937) in Poëzie in Europa ausgewählte Gedichte H.s veröffentlicht, u. a. Die Eichbäume, An die Parzen, Die Heimat. Seine antikisierenden Verse hält den Besten für nicht gelungen, da sie das Original übertreffen wollen. Dass gerade zur Gedenkfeier H.s 1943 im Nazi-Deutschland eine stärkere Rezeption in den Niederlanden zu verzeichnen ist, hinge nicht zwangsläufig mit Nazi-Sympathisanten zusammen, sondern sei eher als Folge der Verbreitungsmechanismen der Nazis zu bewerten. 1950 erschien in Amsterdam eine bemerkenswerte vollständige niederländische Hyperion-Ausgabe von G. L. Dijkman. Luc Indestege brachte 1957 eine Übersetzung der neu entdeckten Friedensfeier H.s heraus, die Ad den Besten als »geradezu unsägliche« verurteilt (HJb 24, 220). Der Publizist Gerrit Komrij legte 1982 drei Fassungen von Hälfte des Lebens in seiner Rubrik der Zeitung NRC/Handelsblad vor. Unter Beteiligung der Leser sollte eine Art Idealversion entstehen. Tatsächlich beteiligten sich an die 250 Personen mit Vorschlägen. Die Kritik Ad den Bestens überrascht nicht, denn rigoros ablehnend ist das Urteil nicht nur über diese Übersetzungen, und seine Ausführungen dazu kommen einem Postulat gleich: Ein Formprinzip des Originals sei grundsätzlich zu respektieren: »Eine Ode muß eben als Ode, ein Sonett als Sonett übertragen werden, wobei nicht nur die metrische Struktur des Gedichtes, sondern gegebenenfalls auch seine Reimanordnung nach Möglichkeit beibehalten werden sollte.« (ebd., 221) Aussagegehalt, Metaphorik, Rhythmus, stilistische und klangliche Elemente, Alliteration, Onomatopoetisches, Reimanordnungen des Originalgedichts müssten beim Übersetzen leitend sein. Ehrlicherweise kritisiert Ad den Besten auch seine eigenen Übersetzungen und führt an Hand von Hälfte des Lebens wortgetreu bis ins kleinste Detail Verbesserungen und Varianten vor. Damit sind wir bei dem Postulat der vielbeschworenen Treue, und es zeigt sich natürlich, dass die Sprachkompetenz des Übersetzers und Interpreten sowie die Kenntnis der Interferenzen
in den beiden Kulturen die Grundvoraussetzungen für eine gelingende Übersetzung sind. H.-Reminiszenzen sind in den Niederlanden festzustellen: bei dem Dichter und Maler Lucebert (1924– 1994), bei Jan Wit (1914–1980), dem Schriftsteller Kester Freriks (*1954), der sich für Peter Weiss und Peter Handke interessierte, und 1982 den Roman Hölderlins toren, (H.s Turm in deutscher Übersetzung 1985) veröffentlichte, brachte 1990 eine Übersetzung der Briefe H.s heraus. In der Zeitschrift De Revisor 2, Jg. 14, 1987, einem H. gewidmeten Heft, wurden verschiedene Übersetzungen ins Niederländische vorgestellt. Der Groninger Dichter und Essayist Cornelis Onno Jellema (1936–2003) publizierte 1995 Aangaande Hölderlin (Über H.). Auch der 1933 geborene Schriftsteller Cees Nooteboom ist in diesem Kontext zu nennen. Der Literaturwissenschaftler Bart Philipsen veröffentlichte 2014 seine Empedokles-Übersetzung.
46.2 Skandinavien Dänemark. Erste H.-Übersetzungen ins Dänische stammen aus den späten 1920er Jahren. Der Lyriker Kai Friis Møller (1888–1960) übersetzte acht Gedichte H.s: Da ich ein Knabe war, An die Parzen, Buonaparte, Abendphantasie, Die Nacht, Hyperions Schiksaalslied, Hälfte des Lebens und aus den spätesten Gedichten Das Angenehme dieser Welt. Der Dichter und Theologe Harald Vilstrup (1900–1972) übersetzte, so im Urteil Roland Jensens (HJb 19/20, 414), altertümlich und sentimental. Für die frühen 1930er Jahre wird ein stärkeres Interesse und ein verändertes H.-Bild konstatiert: Die Lyriker Per Lange und Paul la Cour (1902–1956) haben zwar keine H.-Übersetzungen gefertigt, doch auf H. als Dichter der Moderne aufmerksam gemacht, und auch der Dichter Tom Kistensen (1893–1974) bekennt seine Affinität zu H. In der Folgezeit entstehen drei Hyperion-Übersetzungen, die alle nicht fertig geworden sind: Der Lyriker Ole Wivel (1921–2004) schildert, wie sie im Freundeskreis gemeinsam arbeiteten, und wie sehr sie sich mit diesem Buch identifizierten; die geplante Edition wurde infolge der deutschen Besatzung nicht verwirklicht. Tage Skou-Hansen scheiterte mit seinem Versuch 1950; eine neue Sprache müsse gefunden werden, um dem Text beizukommen. Schließlich versuchte sich Peter Seeberg (1925–1999) vergeblich an H.s Briefroman. Dagegen gibt es gleich fünf Werther-Übersetzungen. Die Nähe zu H. ist auch bei den Dichtern Frank
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_46
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Jæger (1929–1977) und Jørgen Gustava Brandt (1928–2006) festzustellen. Gustava Brandt berichtet, dass er als Soldat der Alliierten in einer Lübecker Buchhandlung auf ein Gedicht-Heftchen H.s stieß. In seinem Aufsatz Der Dichter der Dichter. F. H. und das Wesen der Dichtung (1962) – auch hier wird wieder Heideggers Formulierung verfälscht wiedergegeben – schreibt er, mit welcher Begeisterung er H.s Gedichte gelesen habe. Der Lyriker, Kulturkritiker und Rilke-Forscher Thorkild Bjørnvig (1918–2004) gilt als wichtigster Übersetzer H.s im dänischen Sprachraum. Er übersetzte auch Mörike, George, Benn und Enzensberger. Zusammen mit dem Schriftsteller Bjørn Poulsen gründete er 1948 die Zeitschrift Heretica, die bis 1954 erschien, und literarisches Forum für die Nachkriegsgeneration war. Bjørnvig veröffentlichte darin fünf erste Übersetzungen von Gedichten H.s, An die Parzen, Der Abschied, Menons Klagen, Wie wenn am Feiertage, Hälfte des Lebens, die bei Karen Blixen (1885– 1962) einen starken Eindruck hinterließen. Mit dem Dichter Martin A. Hansen (1909–1955) diskutierte er höchst kontrovers über die Bedeutung des Dichters H. Seine Übersetzungen der drei Fassungen von Mnemosyne lösten eine scharfe Polemik zwischen ihm und Per Lange aus. Die Veröffentlichung 1970 von Brod og vin og andre digte (Brod und Wein und andere Gedichte), der StA folgend, enthält 44 Gedichte. Seine NaturAuffassung bringt ihn in Beziehung zu H.: Der »Intellekt als die einzige Wahrheitsinstanz« (HJb 19/20, 409) lässt er nicht gelten, das Körper-Sinnliche in der Erfahrbarkeit der Welt sei unerlässlich. »Als Wunder der Übersetzungskunst« bezeichnet ihn Roland Jensen und bescheinigt ihm Meisterschaft in seiner strengen Akribie, wortgetreuen, rhythmischen und metrischen Wiedergabe des Originals bis in die Lautung hinein, wiewohl das alkäische Odenmaß nicht immer eingehalten werden konnte. Der Literaturkritiker und vergleichende Literaturwissenschaftler Jørn Erslev Andersen (*1953) hat in den vergangenen 20 Jahren einschlägige H.-Studien, Interpretationen und Übersetzungen H.s ins Dänische vorgelegt und diskutiert: zu Heidegger, zu H.s Nachtgesängen, übersetzt von Michael Penzold. Seine ausgedehnte Lehrtätigkeit führte ihn in die skandinavischen Länder und in die USA. Sein Beitrag in der Zeitschrift Passage (Nr. 10) löste einen heftigen Streit über dänische H.-Übersetzungen bezüglich Syntax, Wortwahl, Metrik und Rhythmik mit den namhaften Übersetzern Thorkild Bjørnvig und Per Aage Brandt (*1944) aus.
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Auch eine Hyperion-Übersetzung von Christian Fink ist inzwischen erschienen (2011). Die jüngste Übersetzung ins Dänische ist die zweisprachige Ausgabe von 2016 der Turmgedichte H.s. Ejler Nyhavn firmiert als Übersetzer, Jørn Erslev Andersen schrieb das Nachwort, Peter Brandes gab Illustrationen bei. Von Letzterem wurde die Ausgabe mit angeregt. Brandes hatte in seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit H., von der im Kapitel über die künstlerische Rezeption noch die Rede sein wird, das komplette Spätwerk H.s nach der FHA abdrucken können. 2016 erscheinen auch die Pindar-Fragmente in der Übersetzung von Anders Abildgaard. H.-Reminiszenzen entdecken wir bei der Lyrikerin Inger Christensen (1935–2009). Norwegen. Der norwegische Lyriker Olav H. Hauge (1908–1994) hat acht Gedichte (1967) übersetzt, Sverre Dahl Hyperion (1993), Torgeir Skorgen eine Gedichtauswahl der Elegien und der sogenannten vaterländischen Gesänge (1996), Gjert Vestrheim berücksichtigte in seiner Publikation von 2007 die Schaffensperioden H.s von Da ich ein Knabe war bis Mnemosyne, mit einer ausführlichen Einleitung zu Leben und Werk, einem Abschnitt zur Metrik H.s und mit einem Erläuterungsapparat versehen. In Norwegen ist auch die dänische Übersetzung von Bjørnvig zugänglich, da vier Fünftel der Bevölkerung Dänisch lesen können. Schweden. In seinem Gedichtband Orfika von 1923 brachte Bertil Malmberg fünf Übersetzungen von H. heraus. Ein Jahr später folgte von Elof Hellquist eine Gedichtsammlung zu H., Eichendorff, Lenau, Mörike, Platen u. a. Der schwedische Dichter Erik Blomberg (1884–1965) übersetzte 48 Gedichte in seinem Band Ett lyriskt urval ins Schwedische. Diese Übersetzungen sind auch in Finnland zugänglich, da Schwedisch gesprochen wird. Der Lyriker und Novellist Lars Gustafsson (1936–2016) beschäftigte sich in seiner Poetik intensiv mit H.s Hälfte des Lebens (Augenblick und Gedicht: Tübinger Poetik-Dozentur 2005. Künzelsau 2006, 7–18). Die schwedische Dichterin und Malerin Elisabet Hermodsson (1927–2017) besuchte in den 1990er Jahren den H.turm; ihren Übersetzungen H.s, erschienen 2017, gibt sie Illustrationen bei. Finnland. In Finnland gibt es erste Übersetzungen schon zu Beginn des 20. Jh.s: 1908 Gedichte H.s, übersetzt von V[eikko] A[ntero] Koskenniemi, 1909 Hyperions Schiksaalslied von Aarni Kouta, 1913 Die scheinheiligen Dichter von J[uhani] Siljo. Die Reihe setzt sich bescheiden fort bis zur Vertonung von Hälfte des Lebens, op. 30 für Gesang und Klavier (1980) von Paavo Heininen. Von Johann L. Pii erschien 2012 ein
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umfassender Band der H.-Gedichte, der auch Emilie vor ihrem Brauttag, die Turmgedichte und die theoretischen Schriften mit einschließt. Literatur zu Niederlande
Besten, Ad den: H. in den Niederlanden, in: HJb 24 (1984/85), 218–228.
zu Dänemark
Roland Jensen, Flemming: Die Aufnahme H.s bei dänischen Dichtern, in: HJb 19/20 (1975/77), 408–433.
Andersen, Jørn Erslev: H.s danske passage, in: Passage 10, 1992, 7–10. Andersen, Jørn Erslev: Poetik og Fragment. H.-Studier. Aarhus: 1993. (Dt.: Poetik und Fragment: H.-Studien, Würzburg 1997). Andersen, Jørn Erslev: H.s Nachtgesänge im Bereich der modernen Dichtung, in: Bad Homburger Vorträge 1996/97, Bad Homburg v. d. H. 1999, 58–49.
zu Schweden
Blomberg, Erik: F. H. Ett lyriskt ural, Stockholm 1960.
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47 Osteuropa 47.1 Tschechien und Slowakei Erste Erwähnungen H.s gibt es bereits Anfang des 20. Jh.s bei den Dichtern František Šalda 1911 und bei Jiři Karásek ze Lvovic 1912. Zur der Zeit gehörte Tschechien zu Österreich-Ungarn; 1918, nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Tschechoslowakei gegründet mit den historischen Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien; 1992 kam es zur Teilung in die beiden autonomen Länder Tschechien und Slowakei. Otokar Fischer (1883–1938), Literaturwissenschaftler (Universität Prag) und Dramaturg (Direktor des Nationaltheaters), übersetzte Heine, Kleist, Nietzsche, Shakespeare, Molière, Villon u. a. ins Tschechische. Seine Faust-Übersetzung erfuhr mehrere Auflagen. Schon 1913 erschien seine Übersetzung von Hälfte des Lebens in einer Literaturzeitschrift. 1916 folgten weitere Gedichte H.s – An die Parzen und Hyperions Schiksaalslied – und 1937 die sogenannte Scheltrede aus dem Hyperion. Erik Adolf Saudek (1904–1963), Kritiker, Dramaturg und Übersetzer – wie schon sein Vater Emil – war Schüler von Otokar Fischer, später dessen Mitarbeiter. In zweiter Ehe war er verheiratet mit Vĕra Davidová, der Tochter von Franz Kafkas Schwester Ottla. 1929 war er Regisseur der ersten Aufführung von Goethes Faust in tschechischer Sprache in der Übersetzung Fischers. Er übersetzte 15 Shakespeare-Stücke – fast die Hälfte der dramatischen Werke –, Goethe, H. und Molière. Jüdischer Herkunft, konnte er nicht mehr veröffentlichen; sein Freund Aloys Skoumal (1904– 1988), selbst Übersetzer aus dem Deutschen und vor allem aus dem Englischen, lieh ihm seinen Namen für Veröffentlichungen. Engagiert in der Kulturpolitik, war Saudek nach dem Zweiten Weltkrieg Dramaturg am Nationaltheater. Seine H.-Übertragungen sind die Grundlage für die Vertonungen von Gideon Klein (s. Kap. 57). Otto František Babler (1901–1984) übersetzte 1917 als Sechzehnjähriger drei Gedichte H.s, die 1928 in einer Anthologie in Olmütz erschienen. Der in Bosnien in der Nähe von Sarajevo geborene Schriftsteller und Bibliothekar muss ein Sprachgenie gewesen sein. Von Haus aus mit Deutsch und Tschechisch – die Mutter stammte aus Mähren – sowie Serbokroatisch aufgewachsen, lernte er in der Schule Französisch und Latein, später Englisch, Italienisch, Polnisch und Russisch; schließlich befasste er sich auch mit Kaschubisch, Provenzalisch und Sorbisch. Nach dem Attentat
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auf den Thronfolger Erzherzog Franz-Ferdinand am 28. Juni 1914 zog er mit der Mutter nach Böhmen zu ihrer Verwandtschaft. Sein frühes Interesse für Sprachen rühre aus der Erfahrung, wie benachteiligt bosnische Kinder mit nur rudimentären Sprachkenntnissen waren. Er gilt als produktivster tschechischer Übersetzer – an die 4.000 Übersetzungen –, der nicht nur aus den verschiedenen Sprachen übersetzte, sondern auch in verschiedenste Sprachen. Ins Tschechische übersetzte er Werke von Achim von Arnim, Martin Buber, Franz Kafka, Edgar Allen Poe, Rainer Maria Rilke, Adalbert Stifter, Anna Seghers. Als Herausgeber einiger Zeitschriften musste er seine Tätigkeit 1938 (Münchner Abkommen) einstellen. In der Zeit bis Kriegsende übersetzte er zusammen mit Jan Zahradníček Dantes Göttliche Komödie, sein größtes Übersetzungswerk, das erst 1952 erscheinen konnte. – Babler stellte im HJb 9 (1955/56) drei tschechische H.-Gedichte vor, Hommagen an H., verfasst zwischen den beiden Weltkriegen: H. am Neckar (1928) von Petr Bezruč (1867–1958), H. (1932) von Jan Zahradníček – wurde von der Komponistin Kristýna Šenkyříková vertont, Einspielung 1999 und 2007 – und H. von Otokar Fischer, allesamt drei- bis vierstrophige vierzeilige Gedichte. Der Dichter Bezruč, politisch engagiert, kritisierte die elenden sozialen Verhältnisse der schlesischen Bergbauarbeiter und identifizierte sich mit einem rebellischen H.-Bild, das auf Veränderung der bestehenden Herrschaftsstrukturen setzt. Jan Zahradníček (1905–1960), geboren in Mähren, Dichter, Journalist, gehörte als Priester zu den wichtigsten Vertretern des Katholizismus. Deshalb wegen staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagt, verbüßte er eine 13-jährige Haftstrafe. Kurz nach seiner Freilassung starb er. 1966 posthum rehabilitiert, wurden seine Schriften nach dem Prager Frühling (1968) erneut verboten. Zwischen 1930/32 übersetzte er 27 H.-Gedichte, darunter Hälfte des Lebens, die in einem eigenen Bändchen 1932 in Prag erschienen. Den interessanten Versuch, fünf Übersetzungen von Hälfte des Lebens vergleichend zu untersuchen, unternahm der Komponist und Musikologe böhmischer Herkunft Karl Michael Komma (1913–2012). Alle stammen aus der Hand tschechischer Dichter: Fischer und Zahradníček wurden bereits erwähnt; ferner Miloš Hlávka (1907–1945) mit seiner Übertragung von 1931, Bohumil Novák (1908–1992) von 1944 und Antonín Brousek (1941–2013) von 1967, für den H. die »Schlüsselgestalt der Weltdichtung« (zit. nach Komma 1970, 331) ist. Von ihm kündigt Komma eine große H.-Übersetzungsarbeit an, die 2015 post-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_47
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hum erschien. Sie enthält rund 90 Gedicht-Übersetzungen H.s, Gedichte von Sebastian Brant, Albrecht Dürer, Manfred Peter Hein, Konstaninos Kavafis und Vsevolod Nĕkrasov. Desgleichen erschien ein Themenheft zu H. (2016). In Kommas Detailanalyse treten, wie nicht anders zu erwarten, alle Übersetzungsprobleme auf, die der Dichter-Übersetzer lösen muss, von der Prosodie bis zur Klanggestalt des Gedichts, das in der Zielsprache eine neue »Instrumentierung« brauche (ebd., 333). Eine Wertung wird nicht vorgenommen – wiewohl offenkundig Fischers Übersetzungen mehr geschätzt werden als Saudeks freiere –, sondern ein eigener Versuch unter Zuhilfenahme von fünf weiteren Übersetzungen von Hälfte des Lebens: zwei polnische von Mieczysław Jastrun und von Adolf Sowiński, zwei serbokroatische von Ivan V. Lalič und von Dragutin Tadjanovič sowie einer slowakischen von Július Lenko. Der slowakische Dichter Július Lenko (1914–2000) ist bekannt durch seine umfassende Übersetzertätigkeit aus dem Deutschen – H., Goethe, Schiller, Heine, Novalis, Hesse, Brecht –, dem Russischen und Französischen.
47.2 Ungarn Ungewöhnlich frühe Rezeptionsspuren H.s verzeichnet Ungarn Mitte des 19. Jh.s. Kurioserweise erscheint H.s Name bereits in der von Julius Schröer in ungarischer Sprache verfassten ersten deutschen Literaturgeschichte, gedruckt in Budapest 1853 im damaligen Königreich Ungarn. Hier der Eintrag: »Den Romantikern beizustellen ist jedenfalls auch Friedrich Hölderlin (geb. 1770, starb in Wahnsinn 1842 [sic]). Seine Gedichte (2. Aufl. Stuttgart 1826) und sein Hyperion (1797–99) zeugen von ächt romantischer Sehnsucht nach dem griechischen Althertum. Antikes ist jedoch daran, meines Erachtens, nichts als zum Theil das Metrum.« (Schröer 1853, 273) In allen folgenden Literaturgeschichten und Schulbüchern ist H.s Name präsent: Szende Riedl, 1866, Henrik Schiller, 1871, István Szewák, 1871, Gusztáv Heinrich, 1903 ff. und findet Eingang in Pallas’ Lexikon (1893–1897; 1900), dessen Artikel auf die Studie von Carl Conrad Theodor Litzmann zurückgeht. Die epochale Zuordnung H.s zur Romantik erstaunt nicht, folgt sie doch im Wesentlichen der deutschen H.-Rezeption und der H.-Biographie Waiblingers. Zum 100. Geburtstag H.s 1870 erschienen allerorts Artikel, doch ein Artikel Egy örült költö (Ein wahnsin-
niger Dichter) vom 14. September 1872 in der weit verbreiteten literarischen Tagespresse Fövárosi Lapok (Hauptstädtische Blätter) eines anonym gebliebenen Autors, mit M. A. unterzeichnet, ist bemerkenswert. Nicht nur die Lebensdaten und ein Abriss des Werkes sind Gegenstand, sondern erstmals werden Gedichte H.s in deutscher Sprache publiziert – Gedichte an Louise Nast, An Lyda, die gedruckten Gedichte aus dem Musenalmanach 1792, aus Schillers Thalia, der Flora und der Urania. Und ein weiteres Novum gilt es festzuhalten: Erstmals werden Passagen aus zwei Briefen H.s ins Ungarische übersetzt – an Neuffer vom November 1794 mit der berühmten Episode der Begegnung mit Goethe (MA 2, 553) und an den Bruder vom September 1793 mit den markanten Stellen der Vision einer künftigen besseren Welt (»unsere Enkel werden besser sein, als wir, die Freiheit muß einmal kommen«; MA 2, 508). Hervorgehoben wird Die Nacht (die gesondert publizierte erste Strophe aus Brod und Wein) und traditionsgemäß Hyperion. Drei Quellen sind auszumachen: ein Artikel in der Kölnischen Zeitung vom 19.3.1870 zu H. und Goethe, Essays von Max Ring (1869) und Arnold Wellmer (1870). Mit diesem Artikel, der H. nicht als Epigonen Schillers behandelt, sondern ihn gleichberechtigt neben Goethe und Schiller stellt, wird H. einem breiteren Leserpublikum bekannt. In seiner Arbeit Über die Anfänge der H.forschung in Ungarn am Beispiel des Aufsatzes von Andor Sas wertet Ágoston Zénó Bernád (*1971) – mit dem Thema der Rezeption H.s in Ungarn beschäftigte er sich in mehreren Studien – den 1908/09 verfassten Aufsatz des Historikers, Literaturwissenschaftlers und Übersetzers Andor Sas (1887–1962) als erste profunde Auseinandersetzung mit H.s Werk, der im Anschluss an dessen Studium in Berlin entstand. Seiner Analyse legte er die Werkausgaben von Berthold Litzmann (1895), diejenige von Wilhelm Böhm (1905) und die Veröffentlichungen zur Biographie H.s von Carl C. T. Litzmann (1890) und Wilhelm Waiblinger (1831) zugrunde. Durch die Kenntnisnahme der aktuellen Sekundärliteratur konnte Sas den Paradigmenwechsel, der sich in der H.forschung abzuzeichnen begann, mit nachvollziehen. Der bislang positivistische Ansatz mit den tradierten romantischen Topoi ist zwar weiterhin präsent, doch Sas stützt sich vor allem auf Wilhelm Diltheys Schrift Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, H., die, obwohl erst 1925 ins Ungarische übersetzt, gleich nach Erscheinen der zweiten, vermehrten Auflage von 1907 von dem Sprach- und Literaturwissenschaftler Frigyes Lám (1881–1955) re-
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zensiert wurde. Die Lebensphilosophie Diltheys und die starke Nietzsche-Rezeption dürfen als wegweisende Anreger für die H.-Rezeption in Ungarn gelten. Auch hier zeigt sich, wie in der Heidegger-Rezeption in Frankreich, die vermittelnde Rolle philosophischer und literaturästhetischer Interpretationen. Einen ersten Vergleich zwischen dem poetischen Werk H.s und demjenigen seines ungarischen Zeitgenossen Dániel Berzsenyi (1776–1836) leistet 1929 der jüdische Schriftsteller und Literaturhistoriker Antal Szerb (1901–1945) – im Arbeitslager Balf zu Tode geprügelt – in der Zeitschrift Minerva mit seinem Artikel Der inspirierte Dichter und fast gleichzeitig erscheint die erste Übersetzung von Menons Klagen um Diotima in der Zeitschrift Symposion. Die um 1900 geborene Dichtergeneration ist zugleich die DichterÜbersetzergeneration. Exemplarisch sei der Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer Gábor Hajnal (1912– 1987) mit seinen H.-Übersetzungen hervorgehoben, sowie István Bernáth (1918–2012), László Kálnoky (1912–1985) und Miklós Radnóti (1909–1944) – im Arbeitslager von der SS hingerichtet –, die GedichtAnthologien in ungarischer Übersetzung in der 1960er bis 90er Jahren vorgelegt haben. Eine erste H.-Monographie stammt von der Germanistin und Altphilologin Éva Kocziszky (*1953) aus dem Jahr 1994. Der Dichter Endre Kukorelly (*1951) veröffentlichte 1998 seinen Gedichtband mit dem Titel H.Ö.L.D.E.R.L.I.N. Márton Kalász (*1934), Reporter, Redakteur, Verlagsleiter, von 1991 bis 1994 Leiter des ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart, Dozent an der Budapester Protestantischen Universität, hatte in Pecs (Fünfkirchen) studiert. Er übersetzte Autoren des 20. Jh.s ins Ungarische wie Günter Kunert, Franz Fühmann, Günter Grass, Christoph Meckel. Er veröffentlichte über 20 Gedichtbände, darunter Sötét seb (Dunkle Wunde) 1996, einen Zyklus von H.-Gedichten, der 2002 in der deutschen Version erschien. Er spreche mit der Stimme des kranken H., geheimnisvoll, metaphorisch, ein hymnisches Sprechen, so die Buchankündigung. Eine weitere von H. angeregte Publikation, H.: Bruchstück eines Spaziergangs, erschien 2005.
47.3 Rumänien Auch Rumänien hat Rezeptionszeugnisse H.s aufzuweisen. Victor Morariu (1881–1946), geboren in Czernowitz, studierte Germanistik und Rumänistik. Seine Forschungsinteressen gelten dem Sturm und
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Drang, der Klassik und Romantik mit Goethe, Schiller, H. und Novalis. Er befasste sich in einer vergleichenden Studie mit H. und dem berühmtesten rumänischen Dichter der Romantik Mihai Eminescu (1850– 1889). Eminescu studierte in Berlin und Wien. Als erster übertrug er Kants Kritik der reinen Vernunft ins Rumänische. In Motivik, Metrik und Formen ist sein wohl berühmtestes Gedicht Luceofărul (Hyperion), ein Langgedicht in 392 Versen (vierzeilige Strophen in a b a b-Reimen, eingeteilt in sechs Abschnitte), zwar nicht auf direkte Bezüge zu H. zurückzuführen, doch eignet ein Vergleich. In zehnjähriger Entstehungszeit, ab 1873, entwickelt sich das Gedicht Eminescus zu seinem alter ego mit der Aufgabe, den Jüngling zum Manne zu formen, in H.s Formulierung im Brief an Schiller vom April 1794 heißt es: »Meinen Zögling zum Menschen zu bilden, das war und ist mein Zwek.« (MA 2, 524) Auch die poetologische Reflexion über die Bedingungen des Dichters, sein Dichten und sein Dichterdasein bringen ihn mit der Konzeption vom DichterVates in unmittelbare Nähe zu H. Die Literaturhistorikerin und Komparatistin Zoé Dumitrescu Busulenga (1920–2006) befasste sich in einer eingehenden Studie mit Eminescu und der deutschen Romantik. Die Anthologie Tălmăciri (Bukarest 1909) von Stefan Octavian Iosif enthält u. a. Gedichte von Goethe, Schiller, Heine, Lenau, Uhland, Keller und eines von H. Ab 1937 folgen Übersetzungen von Ion Pillat, von Al[exandru] Philippide Poeme (1940), zusammen mit Novalis, Mörike und Rilke, Lucian Blaga (1957). Zum 200. Geburtstag H.s erscheinen mehrere Ausgaben von Ştefan Augustin Doinaş und Virgil Nemoianu, die auch später die Übersetzung der Turmgedichte (1972) und Hyperion (1977) besorgen. Der im Banat geborene Dichter Werner Söllner (1951–2019) übersiedelte 1982 in die BRD. Sein dichterisches Werk ist von Celan und H. stark beeinflusst. Nach eigenen Angaben war er ab 1975 zwei Jahre lang Spitzel der Securitate. 1989 kämpfte er mit Mircea Dinescu (*1950) dezidiert gegen das Ceausescu-Regime und trug wesentlich zum Umsturz bei. Oskar Pastior (1927–2006), Dichter und Übersetzer, geboren in Hermannstadt (Rumänien), wurde als einziger deutschsprechender Autor in die Gruppe OULIPO (Ouvroir de Littérature Potentielle) aufgenommen. In seinen Stilübungen à la Raymond Queneau begab er sich wie Georges Perec unter bestimmte »contraintes« (»Zwänge«), die neue poetische Formen hervorbrachten. Seine Systemkritik am sowjetischen wie am rumänischen Regime versteckte er subtil in oulipistischen Verfahrensweisen, die ihm eine Art Überlebenstechnik
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boten. Auf H. nimmt er in seinem lyrischen Werk mehrfach Bezug, vor allem in den poetologischen Gedichten. Gelegentlich scheint ein H.-Satz am Ende einer poetischen Reflexion als Pointe auf. H. selbst bezeichnet er als Sprache: »H. ist eine Schönheit, dem Deutschen verwandte Sprache.« (Pastior 1985, 15) Pastior war als 17-jähriger in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert worden. Nach seiner Rückkehr 1949 nach Rumänien nahm er verschiedene Arbeiten wahr und absolvierte den Militärdienst. Von 1955 bis 1960 studierte er an der Universität Bukarest Germanistik. Nach einem Studienaufenthalt in Wien blieb er im Westen und lebte seit 1969 in Berlin. Ab 1978 gehörte er zum Bielefelder Collegium Neue Poesie. Seine posthum aufgedeckte Zugehörigkeit zur Securitate wurde zunächst mit Wut und Enttäuschung von seinen Schriftstellerkollegen quittiert, auch von Herta Müller, die später Milde walten ließ, wusste sie doch um die Gefahr, der ihr lebenslanger Freund Pastior als Homosexueller in seinem Land ausgesetzt war. Mit ihm hatte sie 2004 eine Reise an die Lagerorte in der Ukraine unternommen; für ein gemeinsames Buchprojekt trafen sie sich wöchentlich zur Aufarbeitung der Erinnerungen. Als Pastior starb, war das Buch Atemschaukel (2009) zur Hälfte fertig. Im Protagonisten ist das Schicksal eines Deportierten thematisiert. Die im Banat geborene Schriftstellerin Herta Müller (*1953), von der Securitate bespitzelt und massiver Bedrohung ausgesetzt, konnte 1987 vor der CeausescuDiktatur in den Westen fliehen. Nobel-Preisträgerin 2009, erhielt sie, neben ungezählten Auszeichnungen, auch den F.-H.-Preis der Universität und Universitätsstadt Tübingen 2015. Schon 2001 hatte sie anlässlich der Tübinger Poetik-Dozentur ihre Collagen Damenlaub und Herrenstaub im H.turm ausgestellt. Ihre Vorlesung stand unter dem Titel In jeder Sprache sitzen andere Augen – wir ergänzen »in den Wörtern«, denn so lautet das vollständige Zitat Müllers. Unabdingbare Sprachgenauigkeit, den Wörtern auf den Grund gehen, sie hölderlinisch »buchstabengenau« au pied de la lettre begreifen, ihre Fremdheitserfahrungen, die zunehmende Intensität ihrer Lyrik: all das verbindet sie mit H.
47.4 Bulgarien Die H.-Feier zum 100. Todestag am 7. Juni 1943 muss besonders eindrücklich gewesen sein: Eine H.-Lesung mit eigens für diesen Anlass übersetzten Gedichten ins Bulgarische wurde zu Gehör gebracht. Den Auftrag dazu hatte der Turkologe und Präsident des Deutschen
Wissenschaftlichen Instituts (DWI), Herbert Wilhelm Duda (1919–1975), gegeben. In 16 europäischen Hauptstädten wurden im Zweiten Weltkrieg DWIs gegründet, ein probates Propaganda-Instrument des NSRegimes, das sogenannte Deutschtum zu verbreiten. Dieses Machtinstrument wurde nicht als billiges Propaganda-Organ eingesetzt, sondern konsequent zur kulturpolitischen Untermauerung der Expansionspolitik. Das erste DWI wurde 1940 in Bukarest eröffnet, im selben Jahr wie diejenigen in Paris und in Sofia und noch 1944 in Odessa; in rascher Folge erhielten die mittel- und osteuropäischen Städte Institute. Der Freiburger Literaturhistoriker Frank-Rutger Hausmann hat in seiner Studie Auch im Krieg schweigen die Musen nicht die einzelnen Einrichtungen und ihre jeweilige Arbeitsweise untersucht. Ihrem Einfluss in den verschiedenen Ländern wäre gesondert nachzugehen. Gerhard Kaiser hat die Problematik der Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus in seinem Buch Grenzverwirrungen (2008) grundlegend untersucht. Eine Ausgabe von Auszügen von H.s Hyperion datiert von 1928 von Elena Dikova. Eine bulgarische Empedokles-Übersetzung von Sawa Manolowa ist von 1938 belegt. Der Sammelband von Dimitŭr Stoevski und Dimitŭr Dublev (1966) bringt eine kleine H.-Gedicht-Auswahl in der Übersetzung des Dichters Atanas Dalčev (1904–1978). Ihm wird eine Schlüsselposition in der modernen bulgarischen Lyrik zugeschrieben. In vielen Sprachen zuhause, übersetzte er aus dem Französischen, Spanischen, Deutschen, Englischen und Russischen. Seine Gedicht-Auswahl (unter Mitarbeit von Čilo Šišmanov) von 1966 aus allen Schaffensperioden H.s zählt 117 Texte. Von Stefan Inanov Stančev stammt eine Hyperion-Übersetzung, ebenfalls aus dem Jahr 1966. In rascher Folge erscheinen ab 1995 H.-Ausgaben: eine kleine Auswahl 2000 der ReclamGedicht-Ausgabe (1963), 2005 ein kompletter Hyperion-Band mit allen Fassungen in der Übersetzung von Ivo Milev. Hervorzuheben ist auch der in Sofia lebende Schriftsteller und Übersetzer Venceslav Konstantinov (*1940) Rund 80 Werke übersetzte er: Klassiker, Romantiker und viele namhafte Autoren des 20. Jh.s. 2012 erschien seine Gedicht-Anthologie (12. bis 20. Jh.), die 15 Gedichte H.s enthält.
47.5 Polen Eine Studie über die Rezeption H.s in Polen liegt nicht vor, doch gilt auch hier, dass die nach 1900 geborene Dichtergeneration die Übersetzer stellen. Der in Gali-
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cien gebürtige jüdische Dichter, Essayist und Schriftsteller Mieczysław Jastrun (1903–1983) studierte Polonistik, Germanistik und Philosophie. In der wechselvollen Geschichte Polens nahm er teils im Untergrund sein Lehramt wahr. Nicht denunziert, überlebte er den Holocaust. Seine dichterische Arbeit ist vom Symbolismus beeinflusst. Zu seinem Hauptwerk zählen die biographischen Romane über die drei großen Dichter Polens: Adam Michiewicz, Juliusz Słowacki und Jan Kochanowski. Studien legte er zur russischen, französischen und deutschen Literatur vor. Ins Polnische übersetzte er Lorca, Puschkin, Rilke und H., zu dem er 1964 einen ganzen Gedichtband Übersetzungen vorlegte. Er wurde mit den namhaftesten Preisen ausgezeichnet. Der Dichter Adolf Sowiński (1914– 1963) übersetzte aus dem Französischen, dem Griechischen und dem Deutschen, vor allem Brecht, doch auch H., u. a. Hälfte des Lebens. In den 1930er Jahren gründete er die Zeitschrift Echa Szkolne. Aleksander Wat (1900–1967), einer der wichtigsten polnischen Dichter, von den Russen im Zweiten Weltkrieg gefangen genommen, konnte 1946 nach Polen zurückkehren und wurde Chefredakteur der kommunistisch orientierten literarischen Zeitschrift Miesiecznik Literacki. 1953 interpretierte er seine Hirnblutung als Strafe für sein kommunistisches Engagement. Aufgrund seines gesundheitlichen Zustands konnte er 1959 nach Frankreich ausreisen. Literarhistorisch gehört der H. und Celan affine Wat zu den AvantgardeDichtern. In den Zyklus Pieśni wędrowca (Lieder eines Wanderers), die Wat 1961–63 in Cabris in der Provence schrieb, finden sich in Lied IV Zitate aus »In lieblicher Bläue ...« im Original (d. h. auf deutsch) einmontiert, darunter der bekannte Satz »dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.« Sein Gedicht H., eine Hommage an H., wurde 1964 veröffentlicht. Identifikationsfigur ist »Scardanelli«, der auf die Frage (in der englischen Übersetzung) »What am I?«, die sowohl die Frage nach dem lyrischen Ich wie nach der Dichterexistenz stellt, seinen Namen preisgibt und sich untertänig mit der Formel auf Französisch »Votre humble serviteur« verbeugt. Das achtstrophige Gedicht, teils in a b a b-Reimen gefasst, ist dem H. der Turmzeit gewidmet, evoziert Empedokles als Vorbild, ruft das Haus am Neckar und Lotte Zimmer auf, integriert in seiner siebten Strophe H.s Vierzeiler Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossen, um dann mit einer sechszeiligen Strophe, die, als siebte Zeile abgesetzt, die Unterschrift »Diotima« trägt, und den beiden Versen zu enden: »Mountain camfire smoke enwrap me./ Fifers call me for a long night’s march.«
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In den Gedichten von Tadeusz Różewicz (1921– 2014), auch als Theaterschriftsteller bekannt, finden sich Anleihen bei H.; Verse oder Teilverse H.s bilden die Titel, »Was bleibet aber, stiften die Dichter.« (MA 1, 475) und »Einst hab ich die Muse gefragt« (MA 1, 398). Różewicz war in den 1980er Jahren zur Gedichtlesung im H.turm. Aus der um die Mitte des 20. Jh.s geborenen Generation mehren sich die H.-Spuren. Die Germanistin Sława Lisiecka (*1947) arbeitete in Łódź, u. a. an der dortigen Universität. Sie übersetzte Heideggers Erläuterungen zu H.s Dichtung und Peter Härtlings literarische H.-Biographie. Anna Milska und Wanda Markowska übersetzten H.-Briefe und Hyperion (mehrere Auflagen, 1976 und 1982) und auch in einer großen Gedicht-Anthologie von 1987, die von Du bist mîn bis in die Moderne reicht, in der Goethe, H., Heine, Celan, Bachmann und Mayröcker am ausführlichsten vertreten sind. Eine komplette Gedicht-Edition (1998) stammt von Andrzej Lam. Für den Dichter Wojciech Izaak Strugalai, der mit seinen Gedichten Ende der 1970er Jahre debütierte, sind H. und Novalis Wegbeleiter. Der Lyriker Adam Zagajewski (*1945) zeigt deutliche H.-Motive und -Anklänge. Nicht von ungefähr wählt er die Formen der Hymne, Ode und Elegie. Sein Gedicht-Zyklus über die Garonne ist von H.s Andenken inspiriert; darin findet sich die Gedichtzeile »Geh aber nun und grüße/ Die schöne Garonne« (MA 1, 473) zitiert. Andrzej Kopacki (*1959), in deutscher Literatur promovierter, in Warschau lehrender Dichter und Essayist verfasste den jüngst aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzen Band Bordeaux – Nürtingen.
47.6 Russland Die Rezeption H.s in Russland komme derjenigen Goethes oder Schillers keineswegs gleich, doch verdanke sie sich herausragenden Dichtern wie Aleksandr Gerzen (1812–1870), Marina Cvetaeva (1892–1941), Anatolij Lunačarskij (1875–1933) u. a., stellt der mit einer H.Arbeit diplomierte Germanist Grejnem Rathaus (Ratgauz) in seinem Beitrag zur Tübinger H.-Jahrestagung 1994 fest (HJb 29, 153–158). Bereits zu Lebzeiten H.s erschien 1840 in der russischen Zeitschrift Bibliothek für Leser ein Artikel, der über Hyperion und Empedokles Auskunft gibt und leider auch mit »grotesken Phantasien« (ebd., 153) zu H.s Biographie aufwartet. Erste H.-Spuren finden sich in Aleksandr Gerzens Tagebüchern und Aufsätzen (1844/45); es sind Bemer-
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kungen über H. und einige Gedicht-Zitate. Für 1888 ist eine russische Nachdichtung aus dem Gedicht Der Wanderer von N. Posnjakov bekannt, die allerdings einer kritischen Betrachtung nicht standhält. Der Symbolismus bringt neue Impulse. In den 1920er Jahren beschäftigen sich mit H. vor allem Lunačarskij und der Antike-Forscher und Philosoph Jakov Golosovker (1890–1967). Der Tod des Empedokles erscheint 1931 in ihrer gemeinsam besorgten Edition. 1936 verurteilt das russische Regime Golosovker zu einer 3-jährigen Lagerhaft, später, bis 1942, zur Verbannung. Cvetaeva, die schon in ihren Jugendjahren H. zu ihren favorisierten Dichtern erklärt hatte und in einem Aufsatz (1932) H. mit Goethe verglich, wobei sie H. größere geistige Höhen zuschreibt, wird in den Suizid getrieben. Ein junger Dichter, Eugenij Sadovski (1911–1942), der im Zweiten Weltkrieg fiel, hatte 1942 Hyperion und Gedichte H.s übersetzt, die posthum 1969 erschienen. In der Kriegszeit entstand ein Vortrag des Historikers A. Neussychin über Tjutčev und H., in welchem Analogien zwischen den beiden Dichtern aufgezeigt werden. Der harte Kurs der Sowjetregierung mit ihrer ideologisch geprägten Zensur bewirkte im folgenden Jahrzehnt Schweigen in der H.-Rezeption. Erst ab 1956, so Rathaus, erscheinen wieder Aufsätze zu H., vor allem zu Empedokles, und die Jahre bis 1970 widmen sich auch Hyperion, wie etwa die Studie von Aleksander Deutsch. Die erste H.-Monographie stammt von der Literaturhistorikerin Klavdija Protassova 1962, die den politischen H. stark macht. Die ersten Werk-Übersetzungen H.s – GedichtAuswahl, Hyperion, Empedokles, Briefe – erschienen erst in den 1970er Jahren von Deutsch und Rathaus. Die Publikation darf als Kulturereignis gelten, und erst ab diesem Zeitpunkt gehört H. zum festen Kanon der Autoren. In wichtigen literarischen Reihen werden Übersetzungen und Abhandlungen publiziert: Hyperion (1988) von N. T. Beljaeva, die ihrer Übersetzung auch eine Brief-Auswahl, Briefe der Diotima und Gedichte beigibt; 1989 Arbeiten zu Hyperion von Rimma Gabitova, K. Chanmurzaev und Vera Obrascova; Gedicht-Übersetzungen von Rathaus, der Trakl und Rilke bereits seit den 1960er Jahren nachdichtete; von der Lyrikerin S. Krasnobaeva der Vergleich zwi-
schen H. und Novalis; schließlich als Dichterübersetzer der 1939 geborene Vačeslav Kuprijanov. Als »Gipfelleistung der Forschung dieser Zeit« wertet Rathaus die Publikation Das Drama der deutschen Romantik (1992) von Al’bert Karel’skij (1936– 1993). In dessen Ausführungen erscheint H.s Empedokles als »Drama einer ganz neuen Gattung: die tiefste Tragik des isolierten romantischen Helden, ›des großen Einzelnen‹ wird hier dichterisch genial aufgedeckt.« (HJb 29, 157) Im lyrischen Werk von Aleksandr Kušner (*1936) lassen sich deutliche H.-Reminiszenzen ausmachen. Literatur zu Tschechien
Babler, Otto František: Drei tschechische H.-Gedichte, in: HJb 9 (1955/56), 241–245. Fröschle, Ulrich: H. in Böhmen und Mähren? Zur Rezeption und Funktion eines ›vaterländischen‹ deutschen Dichters in Böhmen und Mähren zwischen den Weltkriegen, in: Bartečková Nováková, Martinha (Hg.): Kulturtransfer am Beispiel (Post-)Kakanien. Beiträge zur internationalen Konferenz Searching for Culture, 16./17. Oktober 2014, Olomouc 2015, 51–70. Komma, Karl-Michael: H.s ›Hälfte des Lebens‹ in tschechischen Nachdichtungen, in: HJb 16 (1969/70), 325–335. Mareček, Zdenek: Zu einigen Fragen der H.-Rezeption in Böhmen. Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik, III, 1982, 99–109.
zu Ungarn
Bernád, Ágoston Zénó: Paradoxe Kanonisierung. Die ungarische H.rezeption im 19. Jh., in: WEB-FU, Wien 2006, 5, 1–26. Schröer, Karl Julius: Geschichte der deutschen Literatur. Ein Lehr- und Lesebuch für Schule und Haus, Pest 1853.
zu Rumänien
Wiedemann, Barbara (Hg.): Paul Celan. Die Gedichte. Neue komm. Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange, Frankfurt a. M. 2018.
zu Bulgarien
Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2008.
zu Russland
Rathaus [Ratgauz], Grejnem: H. in Rußland (1840–1993), in: HJb 29 (1994/95), 153–158.
Valérie Lawitschka
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48 Südwesten 48.1 Griechenland H. als »der Sänger Griechenlands« (Gundolf 1961, 4) wurde von den Neugriechen lange Zeit kaum gehört. Warum?, fragt Christoph W. Clairmont (HJb 29, 89– 102) mit Laurentius Gemerey, der erstmals eine vollständige Übersetzung des Hyperion 1982 publizierte, und beantwortet die Frage, weshalb es zuvor keine griechische Gesamtübersetzung gegeben hat, mit dem Hinweis, dass der Bericht von der Plünderung in Misistra in H.s Roman antihellenische Tendenz habe und aus diesem Grund von den Neugriechen abgelehnt worden sei. Diese Annahme verwirft Clairmont und stellt die Ereignisse von 1770 und die griechischen Freiheitskämpfe von 1821, die H. antizipierend vorwegnimmt, in den Vordergrund. Adolf Beck spricht von einer »unmittelbaren Wirkung des Romans auf den schwäbischen Philhellenismus« und zitiert den Brief von Karl Gock an Cotta (1. September 1821), in welchem dieser die Hälfte des Honorars der zweiten Auflage des Hyperion (1822) dem 1822 gegründeten Stuttgarter Griechen-HülfVerein zukommen lässt »zur Unterstützung für die Befreiung des unglücklichen Griechenlands, des geistigen Vaterlandes meines Bruders« (HJb 1948/49, 211–240; 238). H. hat offenbar die aktuellen Geschehnisse aus Zeitungsnachrichten verfolgt: »Er lies’t jetzt auch die Zeitung«, berichtet Kostherr Zimmer (zit. nach Franz 2013, 262), so dass die »plötzliche Veränderung in H.s Bewusstseinszustand« im März 1823 der »Anteilnahme an den politischen Tagesereignissen« geschuldet sei. Der Soziologe und Rechtswissenschaftler Panagiotis Kanellopoulos (1902–1986) stellte fest: »Wenn, 1823, H. gesund gewesen wäre und im Alter des Hyperion oder Byrons, dann wäre vielleicht auch er [...] nach seinem geliebten Griechenland aufgebrochen« (zit. nach Clairmont, HJb 29, 94 f.). Eine Identifikation mit H.s Hyperion und viele einschlägige Gedicht-Stellen müssten die Neugriechen geradezu »in eine triumphale Stimmung« versetzen (ebd., 98). Freilich ist ihr Verhältnis zur griechischen Antike sehr ambivalent. Exemplarisch für dieses schwierige Verhältnis darf die Studie Dialog über die Dichtung des in Smyrna geborenen Georgius Seferis (1900–1971), Diplomat, Schriftsteller und Nobelpreisträger, von 1963 gelten. Eine der markanten Stellen lautet, dass es »eine von Griechen geschaffene Renaissance, die gewiß etwas anderes als die durch Europäer geschaffene gewesen wäre«, nicht gegeben habe. »Damals – wie auch heute – versuchten
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die besten unter uns, durch Studien im Abendland das Leben, welches vor Jahrhunderten aus unserem Land floh, um sich zu retten, in ein freies Griechenland zurück zu bringen.« (ebd., 99) Seferis bezweifelt, »daß die griechische Hülle uns diesen Werken [Dante, Shakespeare, Racine und H.s Hyperion] näher bringt. Im Gegenteil, sie bedeutet manchmal eine Art Hindernis.« Eine Annäherung werde erst möglich, wenn sie »unabhängig von ihrer griechischen Form« betrachtet werden können (ebd., 100). Die Gedicht-Übersetzungen ins Neugriechische beginnen 1921. Unter den Übersetzern gibt es, wie in allen anderen Ländern, Dichter: Takis Papatsonis (1895– 1976) und Ares Diktaios (1919–1983) etwa. Rund 70 Gedichte wurden insgesamt übersetzt, manche in mehreren Versionen (von Da ich ein Knabe war gar neun). Übersetzungen aus Teilen des Empedokles datieren von 1937 und 1959, von Pavlos Flores eine Gesamtübersetzung von 1944. Seit den 1970er Jahren ist ein stärkeres Interesse an H. zu beobachten. Vasilis Lazanas übersetzte mehrfach Gedichte H.s, darunter auch erstmals Archipelagus (1978), und kommentierte sie. Die Athener Lyrikerin Stella Nikoloudi übersetzte in ihrem Band aus dem Jahr 1996 21 Gedichte des Spätwerks, ferner die beiden Böhlendorff-Briefe und drei Texte von den H.-Interpreten Philippe Lacoue-Labarthe, Martin Heidegger und Peter Szondi. Eine beachtliche zweisprachige Gedicht-Edition brachte Symeōn Stampulú 2013 heraus, die auf Pläne und Bruchstücke nicht verzichtet und ein ausführliches Nachwort und Anmerkungen beigibt. Von Antonis Koutsouradis (1958–2020) stammt die Übersetzung von Brod und Wein von 1999, mit einem Vorwort von Michael Franz. Die Edition enthält die erste und zweite Fassung des Gedichts sowie die von Michael Knaupp konstituierte Vorfassung Der Weingott. Koutsouradis und Franz übersetzten in Zusammenarbeit jüngst H.s Pindar-Fragmente, die in der griechischen Zeitschrift The Books’ Journal, Nr. 91, Oktober 2018, erschienen.
48.2 Vorderer Orient (Libanon) Der in Syrien geborene, in Beirut im Libanon aufgewachsene Fu’ād Rifqa (1930–2011), Philosoph, Lyriker und Übersetzer aus dem Deutschen in die arabische Sprache, studierte in Tübingen, wo er 1965 mit einer Arbeit zur Ästhetik Martin Heideggers und Oskar Beckers bei Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) promovierte. Von 1966 bis 2005 lehrte er an der Libane-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_48
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sisch-Amerikanischen Universität in Beirut. Als Gründungsmitglied der avantgardistischen Lyrikzeitschrift SHI’R (Poesie) – 1957 in Beirut gegründet, ist sie eines der wichtigsten Publikationsorgane für Literaturübersetzungen der Moderne aus dem Englischen und dem Französischen, das u. a. die free-verse-Bewegung initiierte – gilt er mit Yusuf-al-Khal (1917–1987), dem 1930 geborenen Lyriker Adonis (Ali Ahmad Said Esber), der heute in Paris lebt, und Mahmud Darwisch (1941–2008) als Erneuerer der arabischen Lyrik. Rifqa übersetzte Novalis, Goethe, Trakl, auch Rilke und H. Seine Übersetzung von Brod und Wein datiert von 1960, die zweisprachige Ausgabe einer Auswahl von H.s Gedichten von 1989, Andenken von 2002. Da-
mit legte Rifqa die ersten Übersetzungen von H.-Gedichten ins Arabische vor. Die Gedicht-Publikation von Hasan Hilmī von 2009 berücksichtigt auch H.s Turmgedichte. Literatur zu Griechenland
Clairmont, Christoph W.: H.-Rezeption bei den Neugriechen. H.-Übersetzungen, in: HJb 29 (1994/95), 89–102. Franz, Michael: Neue Miszellen, in: HJb 38 (2012/13), 249– 264. Lazanas, Vasilis: H.-Rezeption bei den Neugriechen. Eine Ergänzung, in: HJb 30 (1996/97), 430 f.
Valérie Lawitschka
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49 Italien H. war zeitlebens, anders als mancher berühmte Zeitgenosse, nie selbst in Italien; die in Werk und Vorstellungswelt durchaus präsenten Verweise auf das Land, Italiener und italienische Konstellationen stammen dementsprechend aus zweiter Hand, hauptsächlich aus Lektüren, und stellen oft Ergebnisse imaginierter und imaginärer Landschafts-, Geschichts- und Kulturreisen dar. Des Italienischen laut einer sonst nicht bestätigten Aussage Ch.Th. Schwabs kundig, misst H. in seiner dichterischen und denkerischen Antike-Moderne-Dynamik Italien eine »vermittelnde Rolle« zu; trotz der nicht sonderlich exponierten und quantitativ relativ geringen Okkurrenzen gelangt er zu einem »differenzierte[n] Bild oder vielmehr unterschiedliche[n] Bilder[n] des Landes«. Am berühmtesten und zugleich enigmatischsten wird H.s Italienbezug in extremis, als sich der Dichter im Turm hinter esoterisch ausgedachten, mehrheitlich Italienisch klingenden Identitäten verbarg, etwa mit dem Namen Scardanelli einige der spätesten Gedichte signierend (Reitani 2014, 73 f. und passim).
49.1 Anfänge der Rezeption im 19. Jahrhundert Vor dem Hintergrund der die dichterischen Gemüter seit den späten 1810er Jahren erhitzenden sogenannten ›Polemik zwischen Klassikern und Romantikern‹ dauerte es nicht lange (in Anbetracht der bis auf wenige Ausnahmen geringen Anerkennung H.s in seinem Heimatland freilich erstaunlich wenig lange), bis sein Name auf einer italienischen Zeitschrift auftauchte: als titelgebende Figur (in der Schreibweise: Holderlin) einer fiktionalisierend-mythisierenden pseudo-biographischen Erzählung, die 1841 im Mailänder »Corriere delle Dame« anonym und von einem Unbekannten übersetzt erschien (dabei handelt es sich um die Übertragung der französischen Legende von SamuelHenry Berthoud aus dem Jahr 1840). Nach diesem, wohlgemerkt noch zu Lebzeiten erfolgten, Debüt verstrichen vierzig Jahre, bis ein großer poeta laureatus H.s Lyrik für sich entdeckte, punktuell übersetzte und in die eigene dichterische Werkstatt nachwirken ließ: Es handelt sich um den späteren Literaturnobelpreisträger Giosue Carducci (1835–1907), der sich seit Mitte der 1870er Jahre an sechs Gedicht(stück)en H.s versucht hatte und mit dem die literarische Rezeption im eigentlichen Sinn beginnt. Nicht nur erfolgt aus
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dieser Arbeit die allererste Publikation eines H.-Gedichtes auf Italienisch (am 16. September 1883 erschien in der »Cronaca Bizantina« Carduccis titellose »freie Übersetzung« einiger Strophen der Tübinger Hymne Griechenland. An Stäudlin), die in späteren Editionen um den Schlussteil vermehrt wurde und diesen ›italienischen‹ H. autoritativ bis ins 20. Jahrhundert führte. Carduccis produktive Rezeption H.s ist in Sammlungen wie etwa Brindisi funebre (1874), Odi Barbare (1877) augenfällig und zeugt von einer »aneignenden Transformation«, und zwar nicht nur in metrischer Hinsicht, sondern auch, und sehr intensiv, bei der Übernahme und Adaption von Motiven und Bildern, die den toskanischen Dichter und Universitätsprofessor in Bologna bis in hora mortis beschäftigen sollten – erleuchtend etwa der Schlussvers besagter Hymne, »Mein Herz gehört den Toten an«, der in Carduccis Lyrik und Briefen fast obsessiv wiederkehrt. Die Präsenz H.s bei Carducci und im italienischen Ottocento findet sich mit feinem Gespür und archivalischen Trouvaillen durch Giovanna Cordibella rekonstruiert (vgl. Cordibella 2009 und 2014).
49.2 Übersetzung, literarische Rezeption und Forschung im 20. Jahrhundert Wie im deutschsprachigen Raum und mit je unterschiedlichem Tempo in anderen kulturellen Kontexten ist aber in Italien das 20. das H.-Jahrhundert überhaupt. Die gärende Moderne ist hier wie da der Inkubator einer in erster Linie literarischen und kritischen, dann auch in anderen künstlerischen Diskursen aufbrausenden Rezeption. Auch im ›Bel Paese‹ spielen essayistische Auseinandersetzungen in Zeitschriften, insbesondere denjenigen mit ›internationalem‹ Blick, oder überhaupt das durch derartige editorische Unternehmungen entstehende Netzwerk eine zentrale Vermittlungsrolle, und zwar bereits sehr früh, wie im Florentiner Leonardo um Giuseppe Prezzolini (1882– 1982) und Gianni Papini (1881–1956) (1903–1907; mit diesem Kreis verbunden ist auch die 1911 erschienene Teilübersetzung des Hyperion von Gina Martegiani). Nach dem Ersten Weltkrieg intensivieren sich die H.-Begeisterungen (etwa um La Ronda, mit Sitz in Rom) und das Ausmachen biographisch-existentieller Parallelen und geistiger Verwandtschaften mit Dichtern und Denkern, welche die italienische H.-Rezeption weiter anfachen sollten (im engeren Bezug zu Nietzsche und noch stärker zu Leopardi, vgl. Doering/ Neumeister 2017). Der für die erhoffte Modernisie-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_49
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rung der heimischen Dichtung gesuchte Anschluss an Europa erfolgt über Frankreich. Ein als Zeitgenosse empfundener H. gelangt von da in den Süden: der Beitrag von Giuseppe Ungaretti (1888–1970) ist mit seiner Mitarbeit an Commerce in den späten 1920ern zu verbinden (vgl. wieder Cordibella 2009, 83–148). Gerade Ungarettis große Lyrik der mittleren Jahre, insbesondere die Sammlung Sentimento del tempo (1933), wird dann als das Sternzeichen benannt, unter dem im »Jahrzehnt der Übersetzung« H.s Lyrik vielstimmig ins Italienisch übertragen wird. Auf Cesare Paveses Spuren gelten in der Italianistik und Komparatistik die 1930er Jahre als eine für die Aneignung fremdsprachlicher Literaturen besonders wichtige Dekade. Bezeichnend für diese Phase – aus der einige Früchte allerdings erst nach dem Fall des Faschismus zur Buchpublikation gelangen sollten – ist die Permeabilität zwischen Übersetzungsarbeit, dichterischer Produktivität und denkerisch-kritischer Auseinandersetzung: Dies gilt nicht nur für die Personen (so sind die Übersetzer meist Dichter und/oder Literaturwissenschaftler) oder Sprache und Stil (bei einigen Nachdichtungen spürt man deutlich die Überführung von H.s Duktus in italienische Muster, ob nun in traditionelle oder bereits ›hermetisch‹ klingende Formen), sondern auch in dem Sinne, dass über diese H.Übersetzungen und -Annäherungen die italienischen Lyriker unterschiedlicher Generationen H. zum Geistesbruder erwählen. Weniger als frühe, im Rahmen germanistischer Arbeiten entstandene Einzelübersetzungen Lorenzo Bianchis (1925) und Italo Maiones (1926) und als die adaptierend-erläuternde Übertragung von Vincenzo Errante (die eigenwilligen, aus heutiger Sicht eher un-hölderlinisch klingenden Nachdichtungen waren unter dem faschistischen Regime 1939 in bereits großer Auswahl samt Kommentar erschienen), waren es Übersetzungen einzelner Gedichte in Zeitschriften seitens der Dichter und Philologen, die neue Akzente setzten – maschinenhandschriftlich zirkulierende Vorlagen, die dann in den 1940/50ern in Buchform ediert wurden – am wichtigsten: Gianfranco Contini 1941 ff., Diego Valeri 1955 ff., Leone Traverso 1955 ff., Giorgio Vigolo 1958, die mit einer erstaunlich breiten Vielfalt an sprachlich-stilistischen Lösungen für H.s lyrischen Schwung und harte Fügungen experimentierten, wie vergleichende Analysen an unterschiedlichen Beispielen haben nachweisen können (Pellegrini 1962, Orelli 1971, Reitani 2002, 2005; Vivarelli 2004; Castellari 2005; Menicacci 2018). Inzwischen sehr gut erforscht ist die »funzione H.« (Cordibella 2014, 139): die hauptsäch-
lich von der regen Übersetzungsarbeit ausgehende Ausstrahlung auf italienische Lyriker unterschiedlicher Herkunft und Ausprägung, die H. zum Vorbild dichterischen Sprechens in der »dürftigen Zeit« der Moderne machten. Bei Mario Luzi etwa (1914–2005), der dem Freund Traverso eine ›Annexion H.s an die italienische Poesie‹ bescheinigte, ist der schwäbische ein »Integraldichter«, dessen erst über Übersetzungen angeeigneter Sprache sein Gesamtwerk viel schuldet (dazu neulich Cordibella 2009 und eingehend Menicacci 2014, Zitate bei Menicacci 2018, 168); Giorgio Vigolos (1894–1983) eigene Lyrik und essayistisches Werk sind ebenso hölderlinisch durchdrungen (Cordibella 2009 und 2014). Andrea Zanzotto (1921– 2011) ist wohl die Galionsfigur dieser von H. ›geschlagenen‹ Generationen: Das poetische Leben und Werk des H.-Preisträgers 2005 durchziehen von früh an H.Klänge, -Gnomen und -Reminiszenzen; Sammlungen wie Dietro il paesaggio (1951), La Beltà (1968, dt. 2001) mit der berühmten Elegia in Petèl wie auch spätere Arbeiten bis Sovrimpressioni (2001) geben von einem lebenslangen Gespräch mit dem Dichter Zeugnis, den Zanzotto darum anfleht, ihm eine »bebende Zeile« einzuflößen: »Una riga tremante H. fammi scrivere« (Retorica su: lo sbandamento, il principio »resistenza«, aus: La Beltà – neben bereits zitierten Studien vgl. grundlegend Cordibella 2002, 2004; zuletzt monographisch Bubola 2018). Neben diesen Höhepunkten des italienischen ›Hölderlinismus‹ lassen sich Anklänge, intertextuelle Adaptionen und Auseinandersetzungen mit dem Dichter bei vielen Mitgestaltern des literarischen Novecento finden – so bei Eugenio Montale (1896–1981), Giacomo Noventa (1898–1960), Sandro Penna (1906–1977), Elsa Morante (1912–1985), Alessandro Parronchi (1914–2007) und Angelo Maria Ripellino (1923–1978); unter den heute aktiven italienischsprachigen Lyrikern ragt der Tessiner Fabio Pu sterla heraus (1957) (Cordibella 2009, 2014). Das mittlere und spätere 20. Jahrhundert wartet mit weiteren Übertragungsversuchen auf. Verwiesen sei auf die umfangreiche Auswahl von Enzo Mandruzzato aus dem Jahr 1977, auf die Ausgabe des Germanisten Sergio Lupi von 1966 und auf die dichterischen Übertragungen des Graubündner Remo Fasani, 1950, ges. 1990, und des Tessiner Giovanni Bonalumi 1948– 1951, ges. 2000). Ein weiteres, weniger erforschtes Kapitel stellt alsdann die Rezeption nicht-lyrischer Werke dar, wobei angemerkt sei, dass seit 1886 (!) der Hyperion-Roman mindestens achtmal, seit 1936 Der Tod des Empedokles fünfmal, seit 1958 die Theoretischen Schriften fünf-
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mal ins Italienische (teil-)übersetzt und veröffentlicht wurden; auch die Übersetzungen und die Briefe wurden übersetzt und teilediert (vgl. Castellari 2014 für bis dahin möglichst vollständige bibliographische Daten; Balbiani 2016 zum Hyperion). Parallel zur Übersetzungsarbeit entwickeln sich weiter literaturwissenschaftliche, philosophische und im Laufe der Zeit immer dezidierter interdisziplinäre Forschungslinien. In der italienischen Germanistik ist H. seit inzwischen mehr als einem Jahrhundert präsent, sprich fast seit ihren eigentlichen Anfängen (die erste umfangreiche Studie ist diejenige Aldo Oberdorfers aus dem Jahr 1915, die ersten Monographien erscheinen Mitte der 1920er Jahre durch Giovanni Vittorio Amoretti, Maione und, in deutscher Sprache, Bianchi). 1961 konnte Alessandro Pellegrini im Rückblick behaupten: »Die italienische H.-Forschung hat sich nicht darauf beschränkt, die Ergebnisse der deutschen zu wiederholen, sie hat im Gegenteil neue und tief originelle Beiträge geleistet« (211); Pellegrini hatte damals bereits ein bedeutendes Buch über die Rezeptionsgeschichte H.s geschrieben, die bald in einer erweiterten deutschen Fassung vorliegen und lange maßgeblich bleiben sollte. Mit einigen Schwankungen bleibt H. bis Ende des Jahrhunderts zentral und wird von namhaften und einflussreichen Lehrstuhlinhabern wie Ladi slao Mittner, Giuseppe Bevilacqua, Giovanni Scimonello und Luciano Zagari mit einschlägigen Studien und Monographien bedacht; Untersuchungen von GermanistInnen der darauffolgenden Generationen wie u. a. Michele Cometa, Luca Crescenzi, Luigi Reitani und Elena Polledri führen die italienische H.-Forschung ins neue Jahrtausend und verstärken den Anschluss an die internationale Diskussion. Für die philosophische Auseinandersetzung mit dem Dichter und Denker in Italien – wenn man überhaupt eine strikte Unterscheidungslinie zur germanistischen ziehen kann – repräsentieren wieder die 1930er Jahre einen nicht nur symbolischen Anfangspunkt: Martin Heidegger hält am 2. April 1936 im Istituto Italiano di Studi Germanici in Rom seine Rede Hölderlin und das Wesen der Dichtung, die kurz darauf in italienischer Sprache erscheint. Daraus bilden sich – verbunden damit, dass im selben Jahr Gedicht-Übersetzungen unter H.-Anhängern zirkulierten (der Dichter und Kritiker Piero Bigongiari bezeichnete jenes Jahr als den »Ort von H.s Dichtung in Italien«, 1957, 273) – Stichworte einer philosophischen H.-Lektüre, die auch in Italien lange maßgeblich bleiben sollte (vgl. etwa die Untersuchungen Gino Zaccarias). Bis heute hat sich allerdings nördlich wie südlich der Alpen, in theoreti-
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scher wie geschichtlicher Perspektive die Auseinandersetzung mit H.s Denken ungemein erweitert und spezialisiert; für die italienische Debatte besonders wichtig erscheinen die tiefgründigen Arbeiten von Remo Bodei; es seien auch die Beiträge Riccardo Ruschis und Franco Morettis sowie die Untersuchungen von Daniele Goldoni, Andrea Mecacci und Mauro Bozzetti erwähnt, dessen zweites H.-Buch, 2004 bei Laterza in der verbreiteten Einführungen-Reihe erschienen, von einer endgültigen Kanonisierung H.s als Denker auch in Italien zeugt (bibliographische Ergänzungen zur Forschung in Castellari 2014).
49.3 Künstlerische Rezeption und Entwicklungen im 21. Jahrhundert Für all diese ›italienischen H.s‹, seien es Übersetzungen, geschichtliche Rekonstruktionen oder kritische Auseinandersetzungen, gilt: Sie stellten und stellen die wichtigste Grundlagen für eine produktive Rezeption dar, die – selbstverständlich auch durch ausländische Konstellationen inspiriert – seit den 1960er Jahren auch in Italien über die intramediale, also literarische Ebene hinaus in Musik und Theater, später auch in weiteren performativen Künsten ihre Kreise zieht, dabei auch internationale Resonanz erlangend. Bruno Maderna (1920–1973, Hyperion-Oper als work in progress 1964 ff.) und Luigi Nono (1924–1990, Fragmente – Stille. An Diotima, 1979–1980) ragen als jene Komponisten heraus, die H.-Texte zur Grundlage von künstlerischen Versuchen im Rahmen serieller bzw. absoluter Musik gemacht haben. Gleichzeitig beginnt die Rezeption im Sprechtheater: Nachdem bereits 1964 Brechts Antigone-Bearbeitung die italienische Erstaufführung erlebt hatte (Triest, Regie: Fulvio Tolusso), kam Der Tod des Empedokles erstmals 1973 auf die Bühne (Neapel, Regie: Gennaro Vitiello); wie die vier Jahre später in Rom und Mailand gezeigte, resonanzreichere Inszenierung Bruno Mazzalis, ein typisches Beispiel der H.-Rezeption jener Jahre, zwischen politischem Engagement und existentieller Gefährdung. Künstlerische Höhepunkte stellten in den 1980er Jahren Cesare und Daniele Lievis EmpedoklesInszenierungen dar, zuerst im heimatlichen Gargnano am Gardasee (1982), dann auf Sizilien (Gibellina 1987); zu ihrem Modellcharakter für das italienische Panorama trägt die Übersetzung von Cesare Lievi (1952), später überarbeitet und erweitert sowie mehrfach ediert, nicht unwesentlich bei. Sie wurde sowohl für die klassisch strenge Inszenierung Francesco Guic-
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ciardinis im Teatro Antico di Segesta (1993) als auch im Rahmen des »Progetto Hölderlin« des Teatro Lenz benutzt: Zwischen 1991 und 1994 wurden unter der künstlerischen Leitung von Maria Federica Maestri und Francesco Pititto an unterschiedlichen Aufführungsorten in und um Parma alle dramatischen Texte H.s, inklusive der Übersetzungen und Übersetzungsfragmente, im Rahmen einer einheitlichen Theaterarbeit inszeniert (zur italienischen Bühnenrezeption bis 2000 vgl. Castellari 2006). Für die jüngste, sehr lebendige Phase der produktiven Wirkung H.s bei italienischen Künstlern ist vor allem Romeo Castellucci zu nennen (1960): Der Mitbegründer der international gefeierten Theaterkompanie Societas Raffaello Sanzio hat zwischen 2012 und 2015 H.-Performances bzw. -Inszenierungen realisiert, die Empedokles, Hyperion und Ödipus der Tyrann zur Grundlage für visuell und akustisch bannende Bühnenarbeiten nehmen. Weitere experimentelle Annäherungen an H. sind die multimediale Performance Le voci del vulcano (La torre di Hölderlin) von Andrea Balzola (2012) und der Film Hyperion der 1983 geborenen Filmemacherin Maria Giovanna Cicciari (2014; dazu vgl. Buglioni 2016). Seit 2000 erlebt diese intensive und verzweigte Rezeptionsgeschichte eine Blütezeit. Das neue Jahrtausend wurde durch zwei wichtige zweisprachige Ausgaben der Lyrik aus der Feder der Germanisten Luca Crescenzi und Luigi Reitani eröffnet. Stellt Crescenzis kommentierte Auswahl (2001) eine solide und sensible, dem aktuellen Forschungsstand wie auch der langen Übersetzungstradition Rechnung tragende Arbeit dar, so ist Reitanis in der Mondadori-Prachtreihe I Meridiani erschienene, vollständige Edition die weltweit erste überhaupt, die alle zu Lebzeiten veröffentlichten von den aus dem Nachlass editierten Texten trennt; die textkritisch revidierte Ausgabe der Originaltexte hat dadurch in der internationalen H.-Forschung große Resonanz gefunden. Zanzottos Vorwort, Reitanis Einführung und ausgiebiger Kommentar haben sie schnell zum Referenzwerk werden lassen. 2019 ist der zweite Meridiani-Band, der alle nicht-lyrischen Texte mit Ausnahme der Übersetzungen enthält und somit zum ersten Mal einen beinahe kompletten italienischen H. bietet, erschienen; die Arbeit mehrerer Übersetzer und Reitanis Herausgabe, Einführung und Kommentar lassen auch für diese Ausgabe eine große Resonanz prognostizieren. In den letzten zwanzig Jahren sind zudem weitere wichtige Ausgaben und viele (immer häufiger deutschsprachige) monographische Studien erschienen, die das zunehmende italienische Engagement für H. und seine internationale Dimensi-
on weiter bekunden; davon zeugen auch die Beteiligung italienischer Germanisten an Institutionen und Organen der Forschung, viele wissenschaftliche Veranstaltungen, Projekte und Foren, das interdisziplinäre Netzwerk, in dem sich der philosophische und literaturwissenschaftliche Nachwuchs rege betätigt. So wurden 2003 (Balbiani, Polledri) und 2015 (Balbiani, Giuseppe Landolfi Petrone) das Empedokles- und das Hyperion-Projekt in philologisch und interpretatorisch tadelloser Form vollständig übersetzt und kommentiert (Bompiani-Reihe Il Pensiero Occidentale, begr. von Giovanni Reale); weitere Lyrik-Sammlungen (zuletzt 2018 bei Feltrinelli durch Susanna Mati) sowie die erste vollständige Briefwechsel-Ausgabe (Gianni Bertocchini 2015) sind inzwischen erschienen. Hinzu kommen über zwanzig monographische Untersuchungen zu H.s Dichtung, Philosophie und Rezeption seit 2000 – in Auswahl erwähnt seien das vieldiskutierte Buch zu Wahnsinn und Poesie beim späten Dichter, mit der Bevilacqua wieder die H.-Bühne betreten hat (2006, dt. Ausgabe 2007) sowie die Untersuchungen von: Laura Anna Macor (2006, zu Aufklärung und Revolution), Pietro Massa (2006, zu H. und Carl Orff), Cordibella 2009, Polledri (Hg. 2012, Sammelband zu ›Dichten und Denken‹), Goldoni (2013, zur Dankbarkeit) und Marco Castellari (2018, zur Theaterrezeption). 2013 wurde im Rahmen einer internationalen Tagung in Rom die italienische örtliche Vereinigung der H.-Gesellschaft gegründet; nicht zuletzt um ihre Arbeit und die italienische H.-Forschung und Rezeption zu dokumentieren, erscheinen seit 2014 zweijährlich die Hölderliniana-Bände (Hg. von Castellari und Polledri als Sondernummer der open-access-Zeitschrift Studia theodisca, http://www. riviste.unimi.it), in der Texte, Studien und Rezensionen in deutscher und italienischer Sprache erscheinen: Dort kann die H.-Rezeption in Italien, deren Darstellung hier zum Ende kommt, weiter verfolgt werden. Literatur (chronologisch)
Bigongiari, Piero: H. e noi, in: Paragone 92 (1957), 39–47; Wiederabdruck in Ders.: La poesia italiana del Novecento, Firenze 1965, 273–282. Pellegrini, Alessandro: H. in Italia, in: Il Veltro 4 (1962), 203–212. Orelli, Giorgio: Su alcune versioni d’una poesia di H., in: Studi urbinati di storia, filosofia e letteratura 45 (1971) 1–2, 727–747. Cordibella, Giovanna: L ’ hölderlinismo di Andrea Zanzotto: un percorso interpretativo dai »Versi giovanili« a »Sovrimpressioni«, in: Poetiche. Rivista di letteratura 4 (2002) 3, 391–414 [Teil I]; 6 (2004) 1, 47–69 [Teil II].
49 Italien Reitani, Luigi: Da H. a H. Le traduzioni italiane di H. e la poesia italiana del Novecento. In »Il bianco e il nero. Studi di filologia e letteratura« 5 (2002), 95–104; leicht abgewandelt in: Il Veltro 49 (2005) 4–6, 188–197. Vivarelli, Vivetta: L ’ incipit di »Patmos« nelle versioni di Jean Jouve, Errante, Traverso e Vigolo, in: Anna Dolfi (cur.): Traduzione e poesia nell’Europa del Novecento, Roma 2004, 421–432. Castellari, Marco: H. in Italien. Übersetzer und Dichter zwischen Eifer und Wagnis, in: Studia theodisca 12 (2005), 147–171. Castellari, Marco: H. im italienischen Theater, in: Estudios Filológicos Alemanes 12 (2006), 301–318. Cordibella, Giovanna: H. in Italia. La ricezione letteraria, Bologna 2009. Cordibella, Giovanna: H. e le riviste letterarie italiane del Novecento, in: Elena Polledri (cur.): F. H. Pensiero e poesia. Humanitas 67 (2012) 1, 55–66. Castellari, Marco: Cent’anni di consuetudine. Studi italiani su H. dal 1915 a oggi, in: H.iana 1 (2014), 109–123. Cordibella, Giovanna: Ancora su H. e gli scrittori di lingua
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italiana (da Giosue Carducci a Fabio Pusterla), in: H.iana 1 (2014), 125–145. Reitani, Luigi: F. H.s Italienbild: Ein Versuch, in: H.iana 1 (2014), 71–84. Menicacci, Marco: Mario Luzi e la poesia tedesca: Novalis, H., Rilke, Firenze 2014. Balbiani, Laura: Iperione »reloaded« o la dinamica della (ri)traduzione, in: H.iana 2 (2016), 71–87. Buglioni, Chiara, Maria: La ricezione produttiva contemporanea di H.: La performance poetico-biografica di Andrea Balzola (2012) e il film sperimentale »Hyperion« di Maria Giovanna Cicciari (2014), in: H.iana 2 (2016), 107–117. Doering, Sabine/Sebastian Neumeister (Hg.): H. und Leopardi, Tübingen 2017. Bubola, Sara: Dietro il paesaggio. F. H. nell’opera di Andrea Zanzotto, Udine 2018. Menicacci, Marco: »Im Kunstwerk lerne das Leben«. Tradurre H. al tempo dell’ermetismo, in: H.iana 3 (2018), 145–170.
Marco Castellari
C Amerika 50 USA In den USA wurde H. mit der intensiven Rezeption französischer Texttheorien zuletzt zu einem der meistdiskutierten Autoren. Seit den 1970er Jahren lässt sich in Nordamerika eine geradezu euphorische Hinwendung zu Derridas Programm einer »deconstruction« der abendländischen Sinnordnungen beobachten. Zum wichtigsten Vermittler wurde der in Yale lehrende Komparatist Paul de Man (1919–1983). De Man hat mehrere vergleichende Studien über H. veröffentlicht; seine Bücher haben großen Anteil an H.s Aufstieg zu einem der beliebtesten Autoren des Dekonstruktivismus (neben Rousseau, Baudelaire, Proust, Kleist, Nietzsche, Rilke u. a.). Blindness and Insight enthält einen 1959 zuerst auf Französisch erschienenen Aufsatz über Heideggers H.-Exegese (de Man 1971/1983). Der Text beginnt mit einem glänzenden Referat von Heideggers paradoxaler Konzeption eines »Seins«, das sich einzig im Verbergen offenbart, und leitet daraus H.s singuläre Bedeutung für Heidegger ab: Der Philosoph benötigt einen Zeugen der Seinsenthüllung, um das Andenken des Seins nicht gänzlich ins Abgründige versinken zu lassen. Dieser Zeuge ist H. Es folgt auch hier eine Diskussion des »Jetzt aber tagts« der Feiertagshymne, in der de Man Heidegger einen Widerspruch in seiner Apotheose der Dichtersprache nachweist. Denn Sprache gehört, wie Heidegger konzedieren müsse, bei H. zur Sphäre der Mittelbarkeit, kann also stets nur Bedingtes artikulieren und niemals das Unbedingte. Zugleich reklamiere Heidegger aber, weil er den fundierenden Zeugen benötige, H.s Sprache als reine Parusie des Seins. So muss er, de Man zufolge, die ganze Dimension der geschichtlichen Taten und Leiden, in denen sich das Göttliche gemäß der Feiertagshymne vermittelt, mit stupendem rhetorischem Aufwand hinwegzaubern. De Mans Fazit: »Hölderlin says exactly the opposite of what Heidegger makes him say.« (ebd., 255) Gerade diese Oppositionsfigur ist es aber, die de Man in Bann schlägt. Wird in diesem frühen Aufsatz noch in traditioneller Philologenmanier
die eigene H.-Interpretation als plausibler, besser begründet der Heideggerschen Auslegung gegenübergestellt, so rückt in seinen späteren Essays der unentscheidbare Konflikt zwischen verschiedenen Lesarten ins Zentrum. Nicht mehr widerlegt oder überbietet ein Interpret den anderen in einem Kontinuum der Text erhellung. Die Lektüre zeigt nun vielmehr, wie die Texte in sich eine unaufhebbare Selbstbestreitung darstellen und so gleichsam bei jedem Versuch, sie einsichtig zu machen, in ein aporetisches Dunkel zurücktreten. H. gilt dabei als der Autor, der sich dem idealistischen Bedürfnis nach »reconciliation« verweigert habe (ebd., 265 f.), und aus diesem Grund dem dekonstruktivistischen Theoriemodell von vornherein besonders nahe stehe. In die Reihe der Dekonstruktivisten gehört der in Liechtenstein geborene amerikanische Literaturwissenschaftler Rainer Nägele. Seit 1980 beschäftigt er sich kontinuierlich mit H., Celan, Norbert von Helling rath und Benjamin. In seinen Echos: Über-setzen: Lesen zwischen Texten (2002) untersucht er nicht nur die Räume, die sich zwischen den Texten auftun, sondern auch zwischen den Sprachen, d. h. im Übersetzen, Übertragen und Lesen, das für ihn auch immer ein Übersetzen ist. Die Figur des Echos wird zur Transferfigur. In den sogenannten Echokammern habe Geschichte ihren Ort und werde lesbar. In seiner Studie zur Kritik der poetischen Vernunft – die Titelanleihe bei Kant ist unüberhörbar – geht Nägele von der Setzung aus, »dass H.s poetisches Verfahren dem philosophischen Verfahren Kants entspricht.« (Nägele 2005, 6) In der Differenzierung zwischen theoretischer und poetischer Vernunft, die er als komplementär auffasst, gilt sein Versuch, »H.s Dichtung als umfassende und durchgängige Kritik der poetischen Vernunft zu verstehen und deren Verfahrensweise in einzelnen Gedichten nachzugehen.« (ebd., 7) In dieser Studie findet die Figur des Echos erneut Anwendung: »In der Distanz und Differenz zwischen poetischer und kritischer Sprache erst ergibt sich, vielleicht, die Möglichkeit einer Konstellation, in der die eine Sprache von der an-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_50
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dern her sich jeweils als Echo neu vernimmt.« (ebd.) In den poetologischen Aufsätzen H.s sieht Nägele geradezu eine Notwendigkeit, dass sie Fragment geblieben sind, »liegt es doch in der Logik der theoretischen Vernunft, dass sie nur ein Stück weit in jenes Gebiet hineinreicht, wo die poetische Vernunft ihre eigentümliche Arbeit und Aufgabe hat.« (ebd., 6) In detaillierter Analyse der fragmentarisch gebliebenen Ode An die Deutschen, die in der Umarbeitung den Titel Rousseau erhielt, zeigt er, das die poetische Rede nicht Schöpfung ist, sondern von dem zeugt, was ein angesprochenes Du vernommen hat: »als Vernehmende ist sie poetische Vernunft.« (ebd., 27) Und die Reihe ist fortzusetzen mit Alice Kuzniar mit Nonclosure in Novalis and Hölderlin (1987), Eric L. Santner mit F. H.: Narrative Vigilance and the Poetic Imagination (1986) und Robert Bernasconi The Question of Language in Heidegger’s History of Being (1985), worin er die Sprache Heideggers, Hegels und Derridas analysiert. In dieser Folge steht auch Adrian Del Caro mit H.: The Poetics of Being (1991). Helen Christine Chapman hat sich in ihrer Dissertation The Philosophy of Tragedy: The Tragedy of Philosophy. The Mimetic Interrelationship of Tragedy and Philosophy in the Theoretical Writings of F. H. (1992) mit H.s Verhältnis zu Griechenland, seinen Übersetzungen und Übersetzungsmodellen beschäftigt, wobei sie von der Prämisse Philippe Lacoue-Labarthes ausgeht, dass H. ein moderner Schriftsteller sei. Die Philosophin Babette B. Babich beschäftigt sich seit 1993 schwerpunktmäßig mit Heidegger, Nietzsche und H. Die neueren Veröffentlichungen sind: And words in blood, like flowers: philosophy and poetry, music and eros in H., Nietzsche and Heidegger (2006) und »Eines Gottes Glück voller Macht und Liebe«. Beiträge zu Nietzsche, H. und Heidegger (2009). Heidegger hat weiterhin ungebrochen Konjunktur: Die Neueste Publikation gilt der Übersetzung von Heideggers H.’s Hymn »Remembrance« von William McNeill und Julia Ireland (2018). Auch außerhalb der dekonstruktivistischen Schulen ist H. in den USA ein vielbehandelter Autor. Stefan Zweigs Der Kampf mit dem Dämon: H., Kleist, Nietzsche (Leipzig 1925), übersetzt 1939, blieb nicht ohne Resonanz. Der Vergleich zwischen H. und Walt Whitman, dem amerikanischen Dichter der Romantik, in Zweigs Essay H. gilt u. a. dem Rhythmischen. H.s Rhythmus sei »kein stabiler wie etwa jener Walt Whitmans (dem er im Verlangen breithin rollenden fluthaften Wortes oftmals ähnlich ist).« (Zweig 2002, 110 f.) Whitman habe »seinen Wesenstakt, seine dich-
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terische Sprachform« von Anfang an gefunden, während bei H. »sich der Rhythmus der Rede unablässig« verwandele (ebd.). Der Essayist, Übersetzer und Verleger Richard Sieburth hat in 45 Jahren Universitätslehre in New York und Harvard als Spezialist für französische Renaissance-Lyrik, europäische Romantik und moderne Literatur aus dem Französischen und Deutschen übersetzt. H.s Hymnen und Fragmente in seiner Übersetzung (auch Spätestes von H. wie Kolomb, Einst hab’ ich die Muse gefragt, Mnemosyne) datieren von 1984, die bis heute mehrere Auflagen erfuhren. Amerikanische Literaturhistoriker haben wichtige Beiträge zur H.-Forschung geleistet und sind mit ihren Studien Vermittler des H.schen Werkes an ihren Universitäten: In ihrem Buch The Potestant Mystics (1964) führt die Autorin, Literaturkritikerin und Übersetzerin Anne Fremantle H. biographisch kurz ein und schließt mit einer Auswahl an Übersetzungen an. Von H. wählte sie Andenken, in der Übersetzung von Vernon Watkins und Patmos in der Übersetzung von R. F. C. Hull. Der vergleichende Literaturwissenschaftler Andrezj Warminski machte bereits 1980 H. und Hegel zum Gegenstand seiner Dissertation. Neben H.s Anmerkungen zum Oedipus, den Anmerkungen zur Antigonä, der 3. Fassung des Empedokles, allen Fassungen von Patmos sind auch die späten Hymnen und Urtheil und Seyn Gegenstand seiner Untersuchungen. Seine folgende Publikation erweitert er um Heigegger (Warminski 1987), behandelt aber auch Lacoue-Labarthe, Peter Szondi und insbesondere die Bedeutung der Figur des Manes aus der 3. Fassung des Empedokles. Seither publiziert er zu seinen Forschungsschwerpunkten, zu denen auch die Lyriker der Romantik William Wordsworth und John Keats sowie die Philosophen Blanchot, Derrida und der Literaturtheoretiker Paul de Man gehören, dessen Aesthetic Ideology er 1996 herausgab. Letzterem widmete er sein jüngstes Buch Ideology, Rhetoric, Aesthetics: for de Man (2013). Der Germanist Cyrus Hamlin publizierte seit 1983 zu H., u. a. Hermeneutics of Form. Romantic Poetics in Theory and Practice (1998). Eine zentrale Rolle spielt H.s Mnemosyne in der 1990 von dem Philosophen David Farrell Krell vorgelegten Studie Of Memory, Reminiscence and Writing. On the Verge. Der Literaturwissenschaftler Mark W. Roche legte seit 1987 H.-Studien vor allem zu Hyperion vor, die jüngste Die unverwechselbare Auffassung des Göttlichen in H.s Hyperion (HJb 39, 66–78). Priscilla A. Hayden-Roy, H.- und Pietismus-Forscherin, dissertierte mit A fortaste of Heaven (1988)
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und leistete mit ihrer exemplarischen Fallstudie »Sparta et Martha«. Pfarramt und Heirat in der Lebensplanung H.s und in seinem Umfeld (2011) einen entscheidenden Beitrag zum Verhältnis von Amt und Ehe in der württembergischen Ehrbarkeit. Anhand von vier Familien (Köstlin, Efferenn, Neuffer, Magenau) zeigt sie, dass im 18. Jh. zum Lebensplan eines württembergischen Pfarrers neben der Bestallung im Amt eine standesgemäße, möglichst sozial und finanziell vorteilhafte Ehe gehörte. Die Verquickung von Amt und Heirat war eine Selbstverständlichkeit. Ein Novum ihrer Studie ist die Figur Eberhardine Blöst, die ein neues Licht auf die Familienpolitik der H.s wirft. In einer minutiösen Analyse rezensierte sie die voluminöse, über 900seitige zweisprachige Gedichtauswahl von 2012 des Dichters und Literaturhistorikers Emery E. George (1933–2016), dessen Beschäftigung mit H. in die 1960er Jahre zurückreicht und der die Edition des Homburger Foliohefts im SupplementBand 3 der FHA mitbesorgte (s. Kap. 33). Mehrfach als Dichter hervorgetreten, sind seine Gedichte von der Metrik H.s stark beeinflusst und zeigen deutliche H.-Anleihen: After the floods (1974); seinem siebenteiligen Gedichtzyklus stellt er ein Motto aus H.s Patmos voran (1987). Charles Bambachs Studie Thinking the Poetic Measure of Justice: H. – Heidegger – Celan (2014) ist anzuführen. Bambach rezensierte die neue Übersetzung der drei Fassungen des Empedokles von David Farrell Krell (2008) und wies auf die neuesten Übersetzungen hin: Oden und Elegien (zweisprachige Edition) von Nick Hoff (2008), Gedicht-Auswahl von Maxime Chernoff und Paul Hoover (2008), Hyperion von Ross Benjamin (2008). Seit der Übersetzung ausgewählter Gedichte durch Frederic Prokosch (1943) und vor allem durch die Übersetzung H.s ins Englische durch Michael Hamburger ist H. in den USA konstanter Bezugspunkt nicht nur literarischer Selbstverständigung. Dies zeigt sich gerade an den über Heidegger und die phänomenologischen, später dekonstruktivistischen bis in die jüngste Gegenwart vermittelten Bezugnahmen. In ihnen spiegelt sich, was H. an der »luftigen Spiz’« der Mündung der Garonne als ›Neue Welt‹ im Blick hatte.
50.1 Künstlerische Rezeption Zahlreiche amerikanische Schriftsteller haben die Bedeutung H.s für das eigene Schreiben hervorgehoben: Wallace Stevens (1879–1955), der als Vorläufer moderner amerikanischer Lyrik gilt; die afro-amerika-
nische Dichterin und Universitätsprofessorin Rita Dove (geb. 1952), die in Tübingen studierte und sich vor allem mit deutscher Literatur beschäftigte (mit expressionistischem Theater und Rilkes Werken); Paul Auster mit Die Erfindung der Einsamkeit (1993); Edward Sanders H.’s tower (2015). Susan Stewarts (*1952) Poem from H. ist inspiriert von H.s An die Deutschen und Hyperion. Jesse Glass (*1954) kreierte in H.’s Cabinet eine Motivmontage, in der er H.s Dichterwerkstatt nachbaut. »Hölderlins Fremdheit macht er [Glass] durch einen distanzierenden Blick vertraut, wenn das Bild der Vitrine gewählt wird, um christliche Motive und solche der antiken Tradition auszustellen.« (HJb 29, 87 f.) Durchgängig erscheint die Bezugnahme auf H. als Wegweiser der Suche nach einer wiederzufindenden Sprache. William Stanley Merwin (1927–2019) – vielfach ausgezeichneter, zum Kreis der (Anti-)VietnamKriegs-Poeten gehörender wie später von der HaikuDichtung sich anregen lassender Verfasser zahlreicher Lyrik- und Prosabände, der vor allem auch als Übersetzer (u. a. von Persius, des Rolandsliedes, von El Cid, Dantes Purgatorio, Neruda, Mandelstam, Musō Soseki, Yosa Buson wie aus dem Sanskrit, dem Jiddischen und von Quechua-Gedichten) hervortrat und eng mit Sylvia Plath und Ted Hughes befreundet war – kommt auf H. in dem 1996 erschienenen Band The Vixen mit H. at the River zu sprechen. Das Gedicht ruft Allusionen insbesondere an Hälfte des Lebens, Der Ister und Andenken wach, nicht zuletzt mit dem Abgesang auf dessen berühmte Schlussverse: »if any of this remains it will not be me«. John Ashbery (1927–2017), Dichter, Essayist, Literaturkritiker, Dramaturg und Übersetzer, inspiriert und beeinflusst von W. H. Auden, Octavio Paz, Walt Whitman, T. S. Eliot und H., ist Mitbegründer der New York School, welche seit den 1950er Jahren die US-Lyrikszene prägte. In seiner Gedicht-Sammlung What shall I wander: new poems (New York 2006, 17– 22) findet sich ein Gedicht mit dem Titel H. Marginalia, gewidmet der in New York lebenden englischen Künstlerin Anne Dunn (*1929). Es ist ein Langgedicht von 158 Versen, eingeteilt in sechs Strophen ganz unterschiedlicher Länge von eigenwilligem formalem Aufbau: sich abwechselnde Versblöcke, eingerückt, ausgerückt, weisen auf eine dialogische Struktur; einzelne Verse sind in der Odenform H.s angeordnet. Seine Reflexionen über das Tragische bringen ihn in die Nähe H.s. In seiner Studie Render unto Caesura: Late Ashbery, H., and the Tragic (Contemporary Literature 49 (2), June 2008, 180–208) bestätigt Luke Carson den
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Einfluss H.s auf den späten Ashbery. Der amerikanische Komponist deutscher Herkunft Christian Wolff (*1934) wuchs in New York auf, lernte bei John Cage und kam früh durch ihn in die Künstlerszene, die sich um Cage bildete. Die Eltern, das Verlegerpaar Helen und Kurt Wolff, gaben als erste Kafka heraus; 1941 flohen sie vor dem NS-Regime über Frankreich in die USA. Wolff vertonte Ashberys H.-Gedicht für Violine und zwei Klaviere (Einspielung 2004). Schon seit den 1970er Jahren sind H.-Kompositionen entstanden: die Vertonung von John Harbison von H.s Die Kürze (1970) für Klavier und vier Instrumente, die Orchestermusik Diotima, komm und besänftige (1976); von Miriam Gideon Songs of youth and madness on poems of F. H. (1977) für hohe Stimme und Klavier; von Theodore Saunway Hälfte des Lebens für Kammerchor (1980); von Denis Ragan Floyd To the fates (An die Parzen) für Sopran, Cello und Schlagzeug (2003); von Paul Amrod H.-Lieder-Zyklus für Tenor und Klavier (2007), der 14 Gedichte H.s enthält, sodann An den Aether für Tenor, Violine, Cello und Klavier (2007); von Robert Spano 2017 drei H.-Lieder (Lebenslauf einstrophig, Sokrates und Alcibiades, An die Parzen). Eine Komposition sei genauer betrachtet, die, gleichzeitig eine polnische Rezeption H.s, vermittelt über die Übersetzung in die englische Sprache, ein Zeugnis einer musikalischen Rezeption darstellt. Die Komponistin Ann Frenkel (*1962) machte 2012 mit einer Vertonung H. auf sich aufmerksam. Es handelt sich dabei um das Gedicht H. aus der Feder des polnischen Dichters Aleksander Wat (1900–1967). Die Übersetzung aus dem Polnischen besorgte Frank L. Vigoda. Die eingerückte, abgesetzte einzeilige Unterschrift »Diotima«, zwei Zeilen vor dem Ende des Gedichts, mutet wie eine Invokation an (in den Viertelnoten c, c″, Oktavsprung Di-o-o-ti, endend auf einer ganzen Note g -ma), bevor das Gedicht endet mit dem
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langen Weg durch die Nacht, »for a long night’s march«. Die Komposition steht ganz in der Liedtradition. Für Gesang und Klavier in g-Moll im 6/4-Takt komponiert, setzt sie ein mit einem drei Takte lang dauernden Bass-Rubato des Sekundintervalls FG, wobei jedem Intervall eine Viertelpause folgt. Gleichmäßig rezitativisch der Gesang, changierend ebenfalls zwischen g′ und f ′, zeigt nur die nach c-Moll transponierte sechszeilige Strophe, firmiert mit »Diotima«, eine choralisch angelegte Akkordbegleitung im Arpeggio. Die beiden Schlusszeilen, wieder in g-Moll wie zu Beginn, beschließt ein einziger Ton, eine dreimalige Bass-G-Viertelnote, jeweils zäsiert durch, wieder wie zu Beginn, Viertel-Atempausen, wohl um ›für den langen Weg‹, wie es in H.s Fragment Der Adler (MA 1, 471) heißt, »Athem zu hohlen.« Literatur
Bamberg, Charles [Rezension]: F. H.: The death of Empedokles. A Morning Play. A new translation of the three versions and the related theoretical essays with introduction, notes and an analysis by David Farrel Krell, New York 2008, in: HJb 38 (2012/13), 308–312. de Man, Paul: Heidegger’s Exegeses of H., in: Blindness and Insight, London 1971, Sec. rev. Ed. 1983, 246–266. Frenkel, Ann: H.: a song to a poem by Aleksander Wat, transl. From the Polish by Frank L. Vigoda with music composed by Ann Frenkel, Riverside CA 2012. Hayden-Roy, Priscilla A. [Rezension]: F. H.: Selected Poems. Bilingual edition. Edited an translated with a preface, introduction and notes, by Emery George. Princeton 2012, in: HJb 38 (2012/13), 302–307. Krell, David Farrell: Of Memory, Reminiscence, and Writing. On the Verge, Bloomington/Indianapolis 1990. Nägele, Rainer: H.s Kritik der poetischen Vernunft, Basel/ Weil am Rhein/Wien 2005. Andrzej Warminski, Readings in Interpretation: H., Hegel, Heidegger, Minneapolis: University of Minnesota, 1987. Zweig, Stefan: Der Kampf mit dem Dämon: H., Kleist, Nietzsche, Frankfurt a. M. 22002.
Manfred Koch / Valérie Lawitschka
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51 Lateinamerika Bis zur Herausgabe seiner Werke durch Hellingrath blieb H. im deutschsprachigen Raum außer in bestimmten Kreisen ziemlich unbekannt, und diese Situation war in Lateinamerika nicht anders. Wichtig sind die erscheinenden Übersetzungen sowohl in spanischer als auch in portugiesischer Sprache. Schritt für Schritt ändert sich damit die H.-Rezeption. Besonders im Bereich der Philosophie ist die Arbeit von Heidegger über den Dichter, die bald übersetzt wurde, unbedingt zu erwähnen. Denn Heidegger macht H. nicht nur philosophisch bekannt. Genauso bedeutsam für die Verbreitung dieser Rezeption sind allerdings einigen Autoren, die nach wie vor eine eindeutige überregionale Resonanz haben, etwa der Mexikaner Octavio Paz, der Peruaner Mario Vargas Llosa, der Chilene Gonzalo Rojas, der Argentinier Julio Cortázar, der Kubaner Severo Sarduy und nicht zuletzt auch der Argentinier Jorge Luis Borges. In dieser Hinsicht spielt Der Bogen und die Leier (1956) des Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz eine wichtige Rolle. Paz formuliert eine Deutung, die die ›Tragödie‹ von H.s Leben in Bezug auf die menschliche Freiheit, und zwar in ihrer Verbundenheit mit dem Schicksal, erklärt. Was der Mensch tue, wenn er seine vom Schicksal gegebene Freiheit akzeptiert, besteht darin, dass er das ursprüngliche Chaos, in dem es keine Freiheit gibt, verneint. Daher ist Freiheit nach ihm »die menschliche Dimension des Schicksals« (vgl. 1983, 269). H. ist dann der einzige moderne Dichter vor Nietzsche, »der das griechische Erbe angetreten hat: Der Mensch ist der Wächter der Schöpfung, und seine Aufgabe ist es, die Wiederkehr des Chaos zu verhindern« (vgl. 1983, 270). Noch erwähnt werden muss, dass H. in dieser Schrift als ›Dichter der Sonne‹ Novalis als dem ›Dichter der Nacht‹ gegenübergestellt wird (vgl. 1983, 314–315). In Die andere Zeit der Dichtung kann Paz dann die Dichtung des nun genannten Sonnendichters »als Schnittpunkt der göttlichen Macht und der menschlichen Freiheit« profilieren (1989, 60). Als solcher ist nach ihm der Dichter also der »Hüter des Worts, das uns vor dem ursprünglichen Chaos bewahrt« (ebd.). In Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto (1997) hinterlässt H. seinen Einfluss auch bei Mario Vargas Llosa (ebenfalls Literaturnobelpreisträger). Am Anfang dieses Romans kann man auf der erste Seite als Leitmotiv das berühmte ins Spanische übersetzte Zitat aus dem Hyperion lesen: »O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.«
Gewiss ist aber H. in der lateinamerikanischen Literatur eher in der Lyrik gegenwärtig. Bei Gonzalo Rojas z. B. wird dies in El alumbrado (1985) nämlich in der Dichtung Adiós Hölderlin [Abschied von H.] expliziert. Es ist, schreibt er, »nicht mehr so einfach, im Rauch das/ Unbekannte zu lesen, es gibt kein Unbekanntes« (vgl. 1986, 25). Später schreibt Rojas dazu in Ochenta veces nadie [Achtzig mal niemand] (1997): »Hölderlin/ war der letzte, der mit den Göttern gesprochen hat,/ ich/ kann es nicht« (vgl. 2005, 68). Da H. mit den Göttern noch sprechen konnte, ist er für Julio Cortázar ein seltsames Geschöpf. Aus seinem Nachlass wurde ein Buch mit dem Titel Salvo el crepúsculo (1984) veröffentlicht. Dort erscheint ein kurzes Gedicht – Hölderlin –, in dem die Rede von den Wolken ist, die »Wasser-und Rasenkreaturen« sind. Severo Sarduy betrachtet H., wie auch den berühmten Lezama Lima, als einen Dichter, der aus der Zukunft kommt. Sarduy schreibt ein Gedicht zu H. – Acróstico traidor [Verräterisches Akrostichon]. Dort kann man lesen: »Schleichender Wahnsinn, wo Du manchmal fließt/ erfindest Du einen verlassenen Turm/ oder du siehst ihn von oben und schreibst ihn zu,/ wenn nicht schon die Delirien, dann doch den Blick/ ohne Blick von Hölderlin« (vgl. I, 2007, 153). Und in seinem berühmten Gedicht An die deutsche Sprache, das in Das Gold der Tiger veröffentlicht wurde (1972), betrachtet Borges H. neben Angelus Silesius (Johannes Scheffler) als Vertreter der deutschen Gedankendichtung überhaupt: »Voll von Vergil sind meine Nächte, habe ich/ einmal gesagt; ich hätt auch sagen können/ voll Hölderlin und Angelus Silesius« (vgl. 2007, 403). Weiter sind es viele Übersetzungen, die H. jenseits der ursprünglichen Kreise bekannter machen (dazu Martinho 1994, Assef 2012, Rondinelli 2015 und Ferrer 2004). Da eine Übersetzung immer auch eine Auslegung und als solche nie nur Kopie der übersetzten Vorlage ist, weist sie gerade in ihrer Unvollkommenheit auf das zu Übersetzende und dessen Sprachform hin. In jeder auslegenden Annäherung an ein Original ist die Form genau so wichtig wie die Wörtlichkeit. Haroldo de Campos hat übrigens in diesem Zusammenhang geklärt, dass und inwiefern die Übersetzungen H.s, über die Schiller, Schelling und Voß gelacht haben, trotzdem als vorzüglich gelten können. Denn »die Form zu übersetzen, ist ein grundsätzliches Kriterium« (1969, 98), da in der Übersetzung eines Gedichtes »die ästhetische, nicht die bloß semantische Information das Wesentliche ist« (1969, 100). Zu diesen unterschiedlichen Annäherungen an H. gehören in
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_51
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Venezuela die Arbeiten von Verónica Jaffé (Sobre traducciones. Poemas, Caracas 2010 und Cantos hespéricos, Caracas 2016). Auch in Argentinien gibt es ähnliche Versuche, die sich über Alicia Molina und Rodrigo Rudna zum Hyperion (Buenos Aires 1946), dann aber auch über José Vicente Álvarez (H., Poemas, Córdoba, Argentinien 1955) und später über den Dichter Norberto Silvetti (H., Himnos tardíos. Otros poemas, Buenos Aires 1972) der Dichtung H.s nähern. Zudem sind in diesem Bereich in Brasilien viele der bekannten Übersetzer auf Portugiesisch auch Dichter, z. B. Manuel Bandeira (Poemas traduzidos, Sao Paulo 1945), Mário Faustino (Canção-do-destino de Hiperião, in: SDJB, Rio de Janeiro 21.10.1956), Roswitha Kempf (A poesia alemã – breve antologia, Sao Paulo 1981), Marco Lucchesi (Patmos e outros poemas de Hölderlin, Niterói, Brasilien 1987), José Paulo Paes (Poemas, Sao Paulo 1991) und Antonio Medina Rodrigues (1994). Ludwig Zeller, ebenfalls ein Dichter (mit Vera Zeller), hat die erste Übersetzung in Chile veröffentlicht (Grandes elegías, Santiago de Chile 1951). In Chile gibt es außerdem eine Übersetzung von Breno Onetto, der aus der Philosophie kommt (H. Revolución y memoria, 2002). Dass H. vor allem von übersetzenden Dichtern rezipiert wird, wiederholt sich in Kolumbien mit Otto de Greiff (Hölderlin. Poemas, in: Revista de la Universidad Nacional, No. 5, 1970, 171–197) und dem bekannten Übersetzer Rafael Gutiérrez (Fiesta de paz, Bogotá 1994). Dasselbe geschieht in Mexiko z. B. mit der Arbeit von José Manuel Recillas (Tres poemas inéditos de Hölderlin, in: La jornada semanal, No. 620, 26.1.2007). H. steht ferner im Mittelpunkt einiger Theaterstücke, wie z. B. El otro Hölderlin der Argentinierin Pilar Alberdi (2000) oder La muerte de Empédocles des Uruguayers Ugo Ulive in Venezuela (1988). Selbstverständlich haben dabei auch noch die schon erwähnten übersetzten Arbeiten von Heidegger über H. einen enormen Einfluss. In der philosophischen Rezeption bleibt H. daher oft entweder im Schatten von Heidegger oder anderer übersetzter Philosophen wie z. B. Nietzsche oder Dilthey. Doch finden sich zweifelsohne auch dadurch H.s. Schriften präsentiert. In einer der ersten Festschriften zu H. (der zum 200. Geburtstag des Dichters 1970) betont Mariane de Bopp, dass H. in Lateinamerika »fast unbekannt« sei (vgl. 1970, 185). Anfang des Millenniums ändert sich diese Situation nicht nur wegen der Werke, die seinen Namen erwähnen, sondern auch durch die Erscheinung von Dossiers, Reportagen und weiterer Werke, die den Dichter umfassender vorstellen. In diesem
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Sinne sind vor allem zu nennen Band 20 der berühmten Zeitschrift Eco. Revista de la cultura de Occidente, den Ernesto Volkening in Kolumbien – In memoriam Friedrich Hölderlin. Poemas, prosa, ensayos – koordiniert hat (1970) sowie Nummer No. 475 der Revista do Instituto humanitas Unisinos – Hölderlin. O trágico na noite da modernidade (2015), der in Brasilien erschienen ist. Dazu gibt es auch Beiträge, in welchen die Auffassung H.s zur Religion, Sprache oder Philosophie systematischer dargestellt wird. Carlos Disandro führt z. B. eine nähere Interpretation vieler Gedichte aus dem griechischen bzw. christlichen Erbe vor (vgl. 1971). Disandro sammelt und legt das Werk des Lyrikers aus, und zwar in einer Verbindung, die er aus der Entfaltung unterschiedlicher Momente rechtfertigt. Er entwickelt zunächst das von ihm so genannte ›erste Hymnen-Moment‹, in dem H. besonders das Griechische herausbildet, dann ein zweites ›hellenisch-germanisches‹ Moment, in dem er außer dem passiven Moment des bloßen Hörens das schöpferische Moment der Hymnen als solche heraushebt und endlich das letzte bzw. dritte Moment, in dem H. seine Hymnen bzw. Gesänge eigenständig kreativ verfasst (vgl. 1971, 11–18). Disandro hebt noch hervor, dass und inwiefern das Unerwartete eine sehr wichtige Rolle in H.s Dichtung spielt (vgl. z. B. Der Rhein, Patmos). Im Zentrum dieser Entwicklung hebt er das ›Numinose‹, d. h. das Göttliche (von den Musen bis Christus) heraus, das nicht jenseits der Menschen, sondern in ihrer Mitte bzw. in Form eines Gesanges erscheint. Wo H. also in seinem Hyperion das Diktum »das Schönste ist auch das Heiligste« schreibt, verkehrt es Disandro konsequent zu etwas Anderem: »Das Heiligste ist auch das Schönste« (1971, 96). Auf der H.s Spur beschäftigt sich Carlos Másmela seinerseits philosophisch mit der genannten hesperischen Kehre. Hesperisch, so betont Másmela, meint hier nicht eine Neuzeit, sondern eine neue Welt (vgl. 2005, 16), in der H. nicht aus dem hen kai pan, sondern dem hên diaphéron eautô komme. Gerade darin bestehe die neue Welt (vgl. 2015, 134). In dieser neuen Welt ist der Mensch allein, d. h. ohne Götter und ohne Schicksal (vgl. 2005, 206). Was aus dieser Interpretation folgt, erklärt Másmela in einem anderen Beitrag, in dem er pointierter schreibt, dass es dort »ein Woher und ein Wohin« auf dem Weg zu einer neuen Zeit gibt (vgl. 2015, 146). Másmela setzt sich in seinen Schriften außer mit H. auch noch mit Hegel auseinander. Während bei Hegel die vereinheitlichende Vernunft (vgl. Wissenschaft der Logik wie Enzyklopädie) im Mittel-
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punkt stehe, betont H., dass weder aus den Daten des Verstandes (der beschränkten »Erkenntniß des Vorhandenen«) noch aus »bloser Vernunft« (und ihrem »blinde[n] Fordern«) kommen könne, was Philosophie meint (vgl. Hyperion, Athener-Brief. MA 1, 686/87). Was damit herausgestellt werde, sei keine isolierte Naturfähigkeit des Menschen. H. betrachtet nach Másmela vielmehr die Vernunft wie Heraklit »in harmonischer Gegenüberstellung mit dem Ganzen« (vgl. 2012, 112). Diese Interpretation sollte auch durch den kairologischen Blick von Manfred Kerkhoff in Puerto Rico ergänzt werden. In seiner Auslegung stellt sich in der Tragödie nicht nur die Zeitlichkeit dar. Als Geschehen hat das Tragische »sein eigenes Moment, ein eigenes Wann und Wie seines Sich-Gebens« (1994, 20). Aus dieser Beziehung der Zeit und Unzeit betrachtet Kerkhoff den »Kairos der blitzenden Erscheinung des Schönen« (1994, 22). Das, was sich in der Tragödie vorstellt, ist die intellektuelle Anschauung des Dichters, die »der dynamische Aspekt von dem [ist], was man statisch gesprochen Sein nennt« (1994, 31). Es ist dann die Tragödie »die opportunste poetische Gattung« (1994, 96), in der sich das unzeitige Sein zeitlich schön vorstellt. Carlos Astrada hat in Argentinien die Art der Einbeziehung H.s, die Heidegger in seinem Denken vollzieht, in Frage gestellt. Er, der die Arbeiten von Heidegger sehr gut kannte, kommt dazu durch eine Interpretation des Brief über den Humanismus (1947); Astrada setzt dem seinen Aufsatz El humanismo de Hölderlin (1957) entgegen. Dabei bezieht er sich besonders auf das Schicksal im Empedokles. Er betont zunächst, dass das Schicksal »in der Totalisierung des Daseins vollzogen wird«. Das »Sein zum Tode« Heideggers meint gerade dies (1963, 293). Wenn der Mensch sich also vom Göttlichen getrennt habe, vernichtet er seine Endlichkeit, indem er sein »menschliches Tun vom göttlichen Sein« unterscheidet (1963, 296). Es ist eben diese Entzweiung das Problem, das Astrada im Vergleich entwickelt. Während bei H. die Götter mit den Menschen versöhnt sind, so dass sie sich eben als solche daran erinnern können, und somit das Schicksal, dass die Götter durch die Menschen geworden sind, geklärt werden kann, betont Heidegger dagegen, dass der Mensch zu spät für die Götter komme. Bei ihm bleibt dann der Mensch von den Göttern getrennt (1963, 299). Wenn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen das Wesentliche nicht der Mensch, sondern das Sein ist, steht er nur als »ein hilfsbedürftiger Hirte des Seins« herum (1963, 300–301). Daher kann »das heilige Sein«
laut Astrada nur zu einem heiligen Mythos werden (1963, 302). Dass es immer wieder neue Stimmen zu H. gibt und sie immer noch vernehmbar werden, sollte mit diesen Ausführungen angedeutet werden. Auch die innere Kraft der Rezeption kann damit bestätigt werden. Was diese mächtige Stimme vorzeigt, ist aber auch gefährlich. Wenn die Sprache »die höchste Macht unter den Menschen« ist, wie Hegel betont (vgl. Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, § 159, 1808), darf nicht übersehen werden, dass H. zu diesem Pathos der Sprache einen Hinweis ergänzt bzw. eingeschrieben hat. Es sei »die Sprache dem Menschen/ gegeben« als »der Güter Gefährlichstes«, damit »er [...] zeuge, was/ er sei« (vgl. Im Walde). Im Hinblick darauf, dass die H.-Rezeption gerade auch in Lateinamerika mittlerweile zu einem dichten Wald aufgewachsen ist, ließe sich die Mahnung anschließen, unter so vielen anderen Stimmen H.s Wort nicht zu überhören. Literatur
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Max Maureira
D Asien 52 Japan
52.2 Erste Phase bis 1945
52.1 Ansätze
Seit den 10er Jahren des 20. Jh.s erscheinen H.s Gedichte in japanischer Sprache. Als erstes wurde 1914 Da ich ein Knabe war ..., wenn auch auszugsweise (V. 1–7 und 26–32), unter dem Titel Aus Hölderlins Versen von einem Dichter Rofû (Kikuo) AKIMOTO übersetzt. 1918 publizierte Shungetsu IKUTA, ebenfalls ein Dichter, die japanische Übersetzung der Ode Einst und jetzt. Als sie 1919 wieder erschien, wurde auch H.s Leben in ein paar Zeilen erläutert. Mit ihr wurden in Ikutas 1920 zusammengestellter Anthologie westlicher Gedichte weitere vier Gedichte H.s aufgenommen: Hyperions Schicksalslied, Der gute Glaube, An die Parzen und Empedokles. Ikutas 1929 veröffentlichtes Buch Mörike und Hölderlin ist wohl das erste in japanischer Sprache, in dessen Titel ausdrücklich H.s Name vorkommt. Hier findet sich auch eine Biographie des Dichters. Im Kapitel »Ausgewählte Gedichte von Hölderlin« stehen über die bereits veröffentlichten fünf Gedichte hinaus An die Ehre, Schwärmerei, Lebensgenuß (An Neuffer, 1794), Hymne an die Liebe, An Diotima (Schönes Leben! ... und Komm und besänftige mir ...), Wohl geh ich täglich ..., Heimat, Rückkehr in die Heimat und Andenken. Vorher waren 1922 Hideo FUJIMORIs Übersetzungen von Lebensgenuß. An Neuffer, An die Deutschen (1798), Rückkehr in die Heimath und Hyperions Schicksalslied erschienen. Die genannten Übersetzer stützten sich noch auf die H.-Ausgaben vor Hellingrath (s. Kap. 37) und berücksichtigten die nach 1800 entstandenen Gedichte kaum. Eine Ausnahme macht nur Ikutas Andenken-Übersetzung. Dagegen richtete nun der über den aktuellen Forschungsstand im deutschsprachigen Raum gut informierte Fachgermanist Junsuke SUITA seit der Mitte der 1920er Jahre sein Augenmerk auch auf die größeren Werke des reifen Dichters. So erschienen in Suitas japanischer Übersetzung 1926 Menons Klagen um Diotima, An den Aether und Heidelberg. 1927 wurden Archipelagus und Brod und Wein sowie 1929 Der Einzige, Abendphantasie und An Landauer in japanischer Spra-
Nach den mehr als zwei Jahrhunderten der japanischen »Abschließungspolitik«, wie sie seit Engelbert Kaempfer im Westen genannt wird, öffnete Japan unter dem Druck der westlichen Großmächte 1854 zunächst gegenüber den USA das Land. Nicht zuletzt durch Literatur und Philosophie sollten dabei westliche Mentalität und Lebensformen vermittelt werden, welche sich die Japaner damals rasch aneignen wollten, um nicht nur Wissenschaft und Technik, sondern auch die kulturellen Selbstverständigungsmuster im ›seelischen‹ Bereich zu modernisieren. Als erstes Werk der deutschen Literatur seit der Öffnung des Landes erschien 1880 die Anfangsszene von Schillers Wilhelm Tell in einer japanischen Nacherzählung. Was H. betrifft, so wurde 1886 nachweislich zum ersten Mal in Japan der Hyperion in einer christlichen Frauenzeitschrift Jogaku-zasshi (d. h. wörtlich »Zeitschrift für Schülerinnen«) erwähnt – allerdings ohne den Autor des Romans anzugeben. 1898 war der Name des Dichters H. in japanischer Sprache zu lesen. Das ist erstaunlich früh, wenn man bedenkt, daß H.s Ruhm selbst in Deutschland erst im 20. Jh. zu allgemeiner Geltung kam. Bemerkenswert ist auch, dass 1904 Teiho KOYAMA in der damals repräsentativen Zeitschrift für Literatur und Geisteswissenschaften Teikoku-bungaku (d. h. wörtlich »Reichsliteratur«) ein Manifest der »Partei für die Transzendierung der Gegenwart« veröffentlichte und sich dabei auf Novalis’ und H.s »traumhafte Sehnsucht« berief, deren »reine Schönheit« dem »imperialistischen Japan«, das »Dichter dieser Art verfluchen würde«, entgegenzusetzen sei.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_52
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che vorgelegt und jeweils kommentiert. 1932 brachte Suita eine zweisprachige Anthologie Hölderlins Gedichte heraus und gab in vier Teilen mit den Titeln »Aus der Jugend«, »Aus Oden«, »Aus Elegien« und »Aus Hymnen« insgesamt 22 Gedichte in deutscher und japanischer Sprache zu lesen. Neben den bereits in Suitas Übersetzung veröffentlichten Gedichten wurden hier präsentiert: An die Natur, An Herkules, Diotima (»Lange tot und tiefverschlossen ...«), Des Morgens, Abendphantasie, Neckar, Am Abend (»Geh unter, schöne Sonne ...«), Rückkehr in die Heimat, Der gefesselte Strom, Da ich ein Knabe war ..., Hyperions Schicksalslied, Die Wanderung, Germanien, Hälfte des Lebens und Andenken. Parallel zu den Übersetzungen wurden bereits Grundkenntnisse über H. und seine Werke vermittelt. Die zuerst 1915 und auch später mehrere Male erschienene Teilübersetzung von Georg Brandes’ Literatur des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen enthält ein kleines H.-Kapitel. In den 1920er Jahren traten eigene Beiträge von japanischen Fachgermanisten auf, die zunächst biographischen Interessen entgegenkamen, sich bald danach aber auch mit den Werken des Dichters beschäftigten. Kunio TAKAOs biographischer Aufsatz Friedrich Hölderlin zeichnet sich durch seine Ausführlichkeit aus. Ihm folgten 1921 und 1924 Takeo KOMAKIs Aufsätze Hölderlins Leben und Geschichte von Hölderlins Krankheit sowie 1923 Mitsunobu YAMAGISHIs Aufsatz Friedrich Hölderlin. 1925 wandte sich Takao an H.s Roman mit seiner Studie zu Friedrich Hölderlins Hyperion. Im selben Jahr erschien Yamagishis Aufsatz Friedrich Hölderlins Werke. Daß auch die philosophischen Implikationen nicht vernachlässigt wurden, bezeugen Gorô MORIs 1929 vorgelegte Betrachtungen der Verhältnisse von Hölderlin und Hegel. Suita dann orientierte sich u. a. an Dilthey, Cassirer und Gundolf und brachte in seinen beiden H.-Aufsätzen aus dem Jahr 1930 sein geistesgeschichtliches Interesse zum Ausdruck. Dementsprechend gab 1934 Tsutomu SUYAMA der ersten japanischen Hyperion-Übersetzung den Titel Der denkende Hyperion. Ein Jahr danach erschien schon die zweite Hyperion-Übersetzung von Kakuji WATANABE, der den Titel getreu dem Original wiedergab. Auch Suita übersetzte den Roman 1943 im Rahmen der Reihe Sammlung der deutschen Romantik. Sehr einflussreich war Friedrich Gundolfs Essay Hölderlins Archipelagus, dessen freie Übersetzung Suita 1924 publizierte. Eine wichtige Orientierungshilfe lieferte Gundolf auch dem H.-Verständnis der Literatengruppe Japanische Romantik, die sich in den 1930er
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Jahren durch eine Hervorhebung der »Reinheit« des Dichters von Gundolf zu unterscheiden versuchte. Ihr Wortführer und Haupt, Yojûrô YASUDA, schrieb 1933 in ihrer lateinisch lautenden Zeitschrift Cogito einen H.-Essay Der reine Dichter. Gemeint ist hier mit dem Stichwort »rein«, dass der Dichter angesichts der Wirklichkeit des Lebens in jeder Hinsicht, also auch politisch, keinerlei Kompromisse mache. Für den Dichter sei die Wirklichkeit abstrakt und der Mythos im höchsten Grad real, behauptete 1934 in der Zeitschrift Cogito Eijirô NAKAJIMAs Schrift Über die Wehmut. Notizen zu Hölderlin. Im selben Heft der Zeitschrift steht auch Jirô HIDAKAs Beitrag, der die Bedeutung Griechenlands für den Dichter unterstreicht und dessen Titel an Gundolfs Essay erinnert: Inseln. Gedanken über Hölderlin. In der Zeitschrift Cogito wurde 1932–1933 das H.-Kapitel aus Wilhelm Diltheys Buch Das Erlebnis und die Dichtung zum ersten Mal auch in Japanisch zugänglich. Seine großen Einflüsse auf die japanische H.-Rezeption ist von deren erster Phase an nicht genug hochzuschätzen. Ferner erschienen in der Zeitschrift Cogito 1943 drei weitere Gesänge: Wie wenn am Feiertage ..., Am Quell der Donau und Germanien in Shin’nosuke YAMADAs Übersetzung. Auch ein Dichter im Kreis der Japanischen Romantik, Shizuo ITÔ, wurde von H. beeinflußt. Die Atmosphäre des Kriegs spiegelt sich in Masani FUJITOs Übersetzung der Ode Der Tod fürs Vaterland (s. Kap. 41), die 1940 vorgelegt wurde – und zwar mit den Worten versehen: »Den Seelen im Yasukuni gewidmet«. Im schintoistischen Yasukuni-Schrein, dessen staatliche Unterstützung aber wegen seiner Verwicklung in die damalige Kriegsideologie heute noch umstritten ist, sollen die Seelen der in den Kriegen seit dem Beginn der Modernisierung gefallenen japanischen Soldaten ruhen. Im Kontrast zu Fujitos affirmativer Übertragung der im Krieg H. zugeschriebenen Funktion in Deutschland auf die militärfaschistische Situation in Japan hatte Takejirô USUI (1908–1985) bereits 1937 darauf hingewiesen, dass der Dichter nicht für, sondern gegen das nationalsozialistische Regime spreche. So schreibt er in der von einer germanistischen Arbeitsgruppe in Kyoto publizierten Zeitschrift Die Kastanien: »Hölderlin [...] brachte in seiner Innerlichkeit das Leiden und die Sehnsucht seiner Zeit zum Ausdruck. [...] Deshalb muss man es für ein merkwürdiges Phänomen halten, dass er heute in Deutschland Beifall findet. Man kann sagen, es wäre dann recht, wenn mit Thomas Mann auch Hölderlin verboten würde.« Hier spielt offenbar das H.-Bild von Georg Lukács mit, dessen Aufsatz Hölderlins Hyperion
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Usui auszugsweise ins Japanische übersetzt und 1935 in Die Kastanien, der Zeitschrift der Kyotoer Gruppe, publiziert hatte. Im Jahr 1940 übersetzte ferner Watanabe eine Sammlung von H.s Briefen, nachdem Tsuneo MIURA 18 Briefe des Dichters übersetzt und 1935 in der Zeitschrift Cogito veröffentlicht hatte. Daß Martin Heideggers (s. Kap. 39) im Dezemberheft 1936 der Zeitschrift Das innere Reich veröffentlichter Aufsatz Hölderlin und das Wesen der Dichtung bereits 1937 in japanischer Sprache und 1943 in zweisprachiger Ausgabe erschien, ist auch deshalb bemerkenswert, weil der Name des Dichters nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt durch Heideggers Werke über den Germanistenkreis hinaus bekannt wurde.
52.3 Zweite Phase 1945–1970 Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Suitas Hyperion-Übersetzung zunächst 1947 und dann in einer Taschenbuchreihe 1949 wieder herausgebracht. 1949 erschien eine Anthologie der von Suita übersetzten Gedichte, zu denen jetzt auch Der Rhein, Am Quell der Donau und Patmos gehörten. 1950 publizierte Masao ASAI ein Buch, in dem Diotimas Briefe und H.s Diotima-Gedichte in seiner Übersetzung zusammengestellt wurden. Auch die EmpedoklesFragmente einschließlich des Aufsatzes Grund zum Empedokles wurden von Tomoyuki TANI 1953 zum ersten Mal ins Japanische übersetzt. Nun wurden fachgermanistische Forschungsergebnisse erneut publiziert. So erschien 1949 Suitas Buch Hölderlin. Leben, Kunst und Denken. Es ist die erste H.Monographie, die in japanischer Sprache verfasst und in Buchform veröffentlicht wurde. Suitas Darstellung basiert auf seinen eigenen Arbeiten seit den 1920er Jahren und somit auf der entsprechenden deutschsprachigen H.-Literatur. Sein Buch zeigt eine exemplarische Grundeinstellung der japanischen Germanistik und damit auch der H.-Forschung: Die Angleichung an die Ansichten der westlichen, insbesondere deutschsprachigen Forschung und die dadurch entstandene Übereinstimmung mit ihnen gilt als Kriterium für die wissenschaftliche Objektivität der eigenen Forschung. In diesem Sinn vermittelte auch lange nach dem Kriegsende die japanische H.-Literatur zu einem Großteil die jeweils in der deutschsprachigen Forschungsliteratur vertretenen Ansichten. Das eigene H.-Verständnis kam dabei nur durch gewisse Akzentsetzungen bzw. -verschiebungen zum Ausdruck.
So lässt sich die japanische H.-Rezeption durch eine Vorliebe für den Naturdichter H. charakterisieren. Das ist in Komakis 1953 publiziertem Buch Hölderlin-Studien deutlich zu erkennen. In dieser Zusammenstellung fast aller der seit 1924 geschriebenen Beiträge des Fachgermanisten geht es um das »Verhältnis von Mensch und Natur« und um jene Problematik der Entfremdung des Menschen von der Natur in der europäischen Moderne. H. wurde als Kritiker der Moderne in Anspruch genommen. Für Komaki unterscheidet sich H.s »Geisteshaltung« dadurch von derjenigen der »Moderne überhaupt«, daß der Dichter »sich entschieden gegen den Willen der modernen Kultur zur Überwindung der Natur im Glauben an die Allmacht der menschlichen Vernunft, gegen die Betonung der Autonomie der menschlichen Vernunft und gegen die Ablehnung des Höheren im Geist der Aufklärung wendet«. Komaki bringt die von ihm so gemeinte »unmoderne« Geisteshaltung H.s mit einem in der östlichen Tradition verwurzelten Verhältnis zur Natur zusammen. Dabei zieht er H.s Gedicht Am Quell der Donau heran und scheint mit dem Dichter zu meinen, dass die Kultur der Zukunft, d. h. das »Evangelium des neuen religiösen Geistes, das in der Lehre des gehorsamen Naturglaubens besteht«, gerade von Asien komme. 1954 stellte das Organ der Japanischen Gesellschaft für Germanistik DOITSU BUNGAKU in Nr. 13 unter dem Rahmenthema »Hölderlin« sieben Beiträge zusammen. Auch in Universitätszeitschriften, die seit Ende der 1940er bzw. Anfang der 1950er Jahre als akademisches Publikationsorgan fast an jedem Institut gegründet wurden, erschienen jedes Jahr mehrere H.Beiträge, die bis heute zumeist die Tendenzen der deutschsprachigen Forschung widerspiegeln. Zur Vermittlung des Dichters trug die 1955 erschienene Übersetzung von Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung auch angesichts der Popularität des Philosophen unter Angehörigen der japanischen Intelligenz nicht wenig bei. Hierzu ergibt sich ein besonderer Aspekt daraus, dass der weltbekannte Schriftsteller Yukio MISHIMA (1925–1970) sich für H. interessierte. Die Hauptfigur seiner 1964 publizierten Erzählung Kinu to meisatsu (d. h. wörtlich: Seide und klare Einsicht) soll nach der Lektüre der 1951 erschienenen Originalausgabe Erläuterungen zu H.s Dichtung von Heidegger zum »Liebhaber von H.s Gedichten« geworden sein und »eine Passage aus Hölderlins Andenken vor sich hin rezitieren« können. Alle Übersetzungen der im Werk auszugsweise zitierten Verse aus H.s Gedichten einschließlich der Elegie Heim-
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kunft stammen vom Autor Mishima selbst, der bereits 1955 die ersten acht Verse aus dem Hexametergedicht Der Archipelagus und 1958 drei Oden Einst und jetzt, Abendphantasie und Sokrates und Alcibiades in japanischer Sprache veröffentlicht hatte. Jene 1949 von Suita zusammengestellte Anthologie von H.s Gedichten wurde 1959 dadurch beträchtlich erweitert, dass sich zu Suitas Übersetztungen nun 28 von Komaki übersetzte Gedichte gesellten. Ein Jahr später wurde eine »Sammlung von Hölderlins Gedichten« in die Große Sammlung von Meisterwerken der Gedichte der Welt aufgenommen; sie umfasst 53 Gedichte. Diese Anthologie der von Tomio TEZUKA, Toshihiko KATAYAMA und Tomoyuki TANI übersetzten Gedichte erschien 1968 nochmals in einer populären Serie Meisterwerke der Gedichte der Welt. Die zweite Phase der japanischen H.-Rezeption wird gekrönt durch Hölderlins Sämtliche Werke, die von 1966 bis 1969 in 4 Bänden publiziert wurden. Auf der Grundlage der Stuttgarter Ausgabe (s. Kap. 1) wurden hier fast alle Werke und Briefe in japanischer Sprache wiedergegeben und kommentiert.
52.4 Dritte Phase ab 1970 In seinen Schlussbemerkungen der 1979 zusammengestellten Bibliographie: Japanische Forschungsliteratur zu Hölderlin meint Takuya AKIYAMA, dass unter den von japanischen Germanisten verfassten H.-Beiträgen seit 1965 Akira MIYAHARAs Arbeit zur Dichtung der Homburger Zeit (1971), Ichirô NOMURAs Analyse der Theorie vom »Wechsel der Töne« (1969) und Teruaki TAKAHASHIs Interpretation der Elegie Stuttgart (1974) besonders zu nennen seien. Nicht nur sie, sondern beispielsweise auch Masafumi TAKAGIs ebenfalls von Akiyama hervorgehobener Beitrag zu H.s Pindar-Rezeption (1974) bezeugen, dass die Angleichung der japanischen H.-Forschung an die deutschsprachige jetzt das Stadium erreicht hat, in dem jene nicht nur die Ergebnisse von dieser vermittelt und verarbeitet, sondern auch korrigiert und ergänzt. Dabei sind die japanischen Arbeiten sowohl in thematischer als auch in methodischer Hinsicht von denjenigen der deutschsprachigen Germanistik kaum unterscheidbar. Einen anderen Weg hat Tezuka mit seiner monumentalen Monographie über H.s Leben und Werk unter dem Titel Hölderlin eingeschlagen, die 1980 und 1981 in zwei Bänden erschien. Ihm geht es darum, »von der Berührung mit dem eigentlichen Ge-
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müt« des Dichters aus sich dessen »Werk und Person« zu nähern. Damit belegt Tezuka eine japanische Haltung gegenüber der Literatur, die in der japanischen Mentalität und Kultur begründet sein dürfte. So arbeitet er in seine H.-Biographie auch die seinen unmittelbaren Eindrücken entsprechenden Ergebnisse der westlichen H.-Forschung und u. a. aus der Großen Stuttgarter Ausgabe gewonnene Informationen auf seine eigene »Verantwortung« hin ein. Hier setzt Tezuka zumindest dadurch, dass er Ergebnisse der deutschsprachigen Forschung reichlich übernimmt, zum einen die Arbeitsweise seines Vorgängers Suita fort, während zum anderen seine verantwortungsbewusste Initiative bei den Akzentsetzungen in seiner H.-Darstellung eher die Verfahrensweise seines anderen Vorgängers Komaki reflexiv vertieft. Tezuka konstruierte sein perspektiven- und inhaltsreiches H.Bild u. a. auf der Erkenntnis der »Polarität«, die sowohl an der Person wie auch im Werk des Dichters in verschiedenen Modifikationen zu beobachten sei. Auf diese Weise wird bei Tezukas H.-Rezeption gleichsam jene »Polarität« von Wissenschaft und Literatur, von »Wissenschaftlichkeit« im deutschen Sinn und dem durch die japanische Kulturtradition bestimmten Zugang zur Literatur sowie von DichterVerständnissen im deutschsprachigen Raum und denen in Japan ausgetragen. 1982, also gleichzeitig mit Tezukas umfangreicher Arbeit, wurde dem Dichter ein Rahmenthema der populären Monatsschrift für Philosophie Risô (d. h. wörtlich »Ideal«) gewidmet. Hier sind neben einem Dialog von Tezuka und T. Takahashi sechs japanische Beiträge und eine Übersetzung von Heideggers Aufsatz Das Gedicht zu lesen. Auffallend ist seit Mitte der 1980er Jahre, daß im philosophischen Lager Beiträge zum Dichter publiziert wurden. Angeregt wurden sie nicht zuletzt dadurch, daß über H. in der deutschen Idealismus-Forschung immer mehr diskutiert wurde. 1985 erschien Hiroyoshi KATÔs Buch Heidegger und Hölderlin und 1989 Takako SHIKAYAs Buch Die Funktion der Dichtung in der Geschichte. Hegels Ästhetik und Hölderlin. H.s »Natur« wurde nunmehr nicht nur in den fachgermanistischen Beiträgen, sondern auch in Juichi MATSUYAMAs zwei naturphilosophischen Beiträgen Hölderlin und Schelling (1990) und Aether und Abgrund (1989/1992) sowie in T. Takahashis 1993 in einem philosophischen Sammelband erschienenen Aufsatz über H.s Natur und Geist zentrales Thema. Der Altphilologe Rinshô TAKEBE stellte 1994 unter dem Titel Hölderlin und die griechische Antike seine eigenen Aufsätze und seine Übersetzun-
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gen der Beiträge von W. F. Otto, Hölscher, Binder, Schadewaldt und Bertaux zusammen. Zudem wurden aus der Heidegger-Gesamtausgabe 1986 Bd. 39, 1987 Bd. 53, 1989 Bd. 52, 1997 Bd. 4 und 2003 Bd. 75 in japanischer Übersetzung publiziert, so dass auch sie das philosophische Interesse für H. in weiteren Kreisen geweckt haben dürfte. 1997 wurde von einer H.-Arbeitsgruppe eine Fachzeitschrift für den Dichter mit dem Namen Iduna gegründet. Sie nahm sechs Beiträge ins Gründungsheft auf, dem 2002 das 2. und 2006 das 3. Heft folgten. Die 2001 erschienene H.-Bibliographie von Hidemasa TAKAHASHI und Takashi EBISAKA geben ca 500 Beiträge an, die seit 1978 die japanische Germanistik hervorgebracht hat. In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen drei germanistische Dissertationen über H. in Buchform: Anhand von H.s Gedicht Andenken handelt Takashi YAHABA von Individualität und Sozialität des Dichtens (1997), während Yûji NAWATA aus komparatistischer Perspektive die H.Rezeption von Shizuo Itô, jenem Dichter der Japanischen Romantik, in seine Diskussion über die bei H. zu beobachtende im Voraus verfallende Moderne einbezieht (1996) und Masaki NAKAMASA sich mit dem Thema Entstehung der deutschen Moderne und Hölderlin (2000) befasst. Sowohl Nawata als auch Nakamasa betrachten H. aus der Perspektive der westlichen Postmoderne, wobei der letztere in einer Neuauflage seines H.-Buchs (2012) durch eine Titelveränderung das Thema Sein und Sprache hervorhebt und mit einer ›Poetik der Krise‹ verbindet. Dem japanischen Interesse eines breiteren Leserkreises für die postmoderne Tendenz kommen auch die auf H. bezogenen Arbeiten von Philippe Lacoue-Labarthe entgegen: Tôru TAKAHASHI übersetzte zusammen mit Harumi YOSHIDA La Poésie comme expérience (1997) und Hiroshi TANIGUCHI Métaphrasis, suivi de Le théâtre de Hölderlin (2003). Seit der Milleniumswende wurden neben Tatsuya TAKEDAs japanischer Übersetzung der Ausgabe von H.s Theoretische[n] Schriften (2003) drei H. gewidmete Bücher aus dem Lager der japanischen Germanistik publiziert. Im Gegensatz zu postmodernen und kulturwissenschaftlichen Interessen suchen Motoyuki AOKIs H.-Studien (2010) und Masafumi Takagis H. und die Gegenwart (2014) weiterhin die Aspekte der bis Anfang der 1980er Jahre vorwiegend in deutschsprachiger Forschung etablierten H.-Verständnisse in japanischer Sprache zu verarbeiten und zu modifizieren. Takeo TANOs Monographie Der Wandel des Naturbegriffs bei H. (2015) wendet sich an die Natur-
Thematik, indem sie eine in Japan besonders auffallende Tendenz des H.-Interesses fortführt. Ebenfalls besteht das philosophische Interesse für den Dichter vor allem in der Erforschung des deutschen Idealismus fort. Zu nennen sind u. a. zwei auch mit H. befasste Bücher, nämlich Yôichi KUBOs Was ist der Deutsche Idealismus? (2012) und Kazuo SETOs Von Kant zu Hölderlin (2013). Zu H.s Popularisierung trägt das 2000 in einer Taschenbuchreihe »Person und Gedanken« erschienene Bändchen Hölderlin bei, dessen Autor Masashi KOISO bereits 1980 Allemanns Hölderlin und Heidegger ins Japanische übersetzt hatte und mit dem 2004 erschienenen Buch Hölderlin im Bild der Liebe eine populäre Attraktivität von H.s Diotima-Briefen appelliert und somit an das 1950 von Masao Asai der Allgemeinheit nahegebrachte H.-Bild als Dichter der Liebe erinnert. Dieser sentimentalischen Vorstellung der Dichterliebe zu Susette Gontard läuft ein nüchternes Susette-Bild zuwider, das Seichô MATSUMOTO (1909–1992), seit Ende der 1950er Jahre u. a. als Krimiautor in Japan sehr populär, in seiner 1990 veröffentlichten Kurzerzählung Neckar-gawa no kage (d. h. wörtlich: Schatten auf dem Neckar) entwirft. Als Aufgabe ließe sich für die japanische H.-Forschung formulieren, solche Beiträge hervorzubringen, in denen die Spannung von westlicher Moderne und japanischer Tradition nicht überspielt, sondern fruchtbar ausgetragen wird. Ansätze dazu würden z. B. in komparatistischen und kontrastiven Studien zu H. und japanischen Literaturtraditionen bzw. Kulturelementen zu finden sein. Literatur
Takuya AKIYAMA: Bibliographie: Japanische Forschungsliteratur zu H., in: Doitsu Bungaku 62 (1979), 150–161. Naonosuke SASAKI: H.rezeption in Japan, in: Doitsu Bungaku 66 (1981), 59–66. Teruaki TAKAHASHI/Tomio TEZUKA: H. I. und II. Teil, in: Arbitrium 3 (1985), 3. H., 293–297. Teruaki TAKAHASHI: H. – Ein ›Lieblingsdichter‹ der Japaner. Zum historischen Hintergrund der Rezeption der deutschen Literatur in Japan, in: Turm-Vorträge 1985/86, hg. v. Uvo Hölscher, Tübingen 1986, 111–133. Hidemasa TAKAHASHI/Takashi EBISAKA (Hg.): Bibliographie: F. H. in Japan, Übersetzungen und Forschungsliteratur, I. und II. Teil, in: Doitsu Bungaku 106 (2001), 173–198, III. Teil, in: Doitsu Bungaku 107 (2001), 155– 191. Tatsuki SHIGI (Hg.): Eingesandte Literatur, in: Doitsu Bungaku 18 (1957) – 105 (2000), digitalisiert und fortgeführt in: JGG-Datenbank bei NII-DBR: http://www.jgg.jp/ modules/organisation/index.php?content_id=245; (erneuert) in: Bibliographia Germanistica Japonica:
52 Japan https://dbr.nii.ac.jp/infolib/meta_pub/ G0000052DOKUBUN. Teruaki TAKAHASHI: Geschichte der H.-Rezeption in Japan, in: Teruaki TAKAHASHI: Japanische Germanistik
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auf dem Weg zu einer kontrastiven Kulturkomparatistik. Geschichte, Theorie und Fallstudien. München 2006, 109– 131.
Teruaki Takahashi
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VI Rezeption – D Asien
53 China 53.1 Anfangsphase (Rezipienten erster Generation, 1907–1958) Nicht wie bei Goethe, der schon in den 1920er Jahren durch seinen Roman Die Leiden des jungen Werther schlagartig den chinesischen Leser faszinierte, auch nicht wie bei Heine, von dem bis zum Ende der 1920er Jahre sieben Gedichtbände und eine Prosaausgabe in chinesischer Sprache erschienen, setzt die H.-Rezeption in China ein: sie hat einen anderen Charakter und einen anderen Stil. Zwar gab es einen recht frühen Zugang wie bei Goethe, Heine und den Gebrüdern Grimm, doch bedurfte es eines jahrzehntelangen und mühsamen Anlaufs, so dass für diese Anfangsphase nur kurze Erwähnungen des Dichters, lediglich zwei, drei übersetzte Kurzgedichte und ebenso wenige Aufsätze zu verzeichnen sind. Der Wegbereiter der chinesischen H.-Rezeption war der namhafte Gelehrte Wang Guowei 王国维 (1877–1927), der im März und April 1907 in der Zeitschrift Jiaoyu shijie 教育世界 (Pädagogische Welt) im Aufsatz Xiju dajia Haibie’er 戏剧大家海别尔 (Der große Dramatiker Friedrich Hebbel) erstmals H.sche Dichtung charakterisiert hat. Bei ihm habe er eine Reinheit und Schönheit wie bei der Hebbels wahrgenommen. Ihm folgte Ji Xianlin 季羡林 (1911–2009). In den 1930er Jahren schrieb Ji seine Magisterarbeit Das erst in der jüngsten Zeit erkannte Genie – der deutsche Dichter Hölderlin und den Aufsatz Studien zur frühen Dichtung des großen deutschen Dichters Hölderlin aus der neueren Zeit, in denen er den Dichter vom Lebenslauf bis zur Neuentdeckung und -bewertung in Deutschland bekannt machte. Leider vertiefte er sein H.-Bild nicht, sondern wandte sich dem Sanskrit und der indischen sowie der fernöstlichen Kultur zu. Nicht zu vergessen sei das Verdienst von Li Changzhi 李长之 (1910–1978), der in seiner Monographie Deguo de gudian jingshen 德国的古典精神 (Der Geist der deutschen Klassik, Chengdu 1943) H. ein ganzes Kapitel widmete: nämlich Hölderlin – Die Eichbäume. Vor diesem Gedicht steht eine recht ausführliche Einleitung, in der die aktuelle Bedeutung des Gedichts für seine Landsleute in der kriegerischen Zeit des damaligen China und seine Ermutigung durch das Gedicht zum Ausdruck gebracht wurden. Auf dem Gebiet der chinesischen H.-Rezeption sollten aus dieser frühen Phase außer den oben geschilderten Personen auch noch einige große Namen
wie Hu Yuzhi 胡愈之, Zheng Zhenduo 郑振铎, Yu Xiangsen 余祥森, Lü Tianshi 吕天石, Li Jinfa 李金发, Huang Shiqi 黄似奇 nicht übersehen werden, obwohl sie nicht auf H. spezialisiert waren, sondern ihn lediglich gestreift haben. Dies geschah in Zeitschriften wie Dongfang Zazhi 东方杂志 (Zeitschrift für Osten), Xiaoshuo Yuebao 小说月报 (Monatsschrift für Romane), Qinghua Zhoukan 清华周报 (Wochenblatt Qinghua) oder in einigen Literaturgeschichten. Sie gelten als Vorläufer der gegenwärtigen Rezipienten, denen wir heute Hochachtung entgegenbringen.
53.2 Übergangsphase (Rezipienten zweiter Generation, 1958–1994) Der besonders verdienstvolle und namhafteste chinesische Germanist Feng Zhi 冯至 (1905–1993), der in den 1930er Jahren in Heidelberg über Rilke promoviert wurde, war zugleich auch ein H.-Forscher. Bereits im Jahr 1925 hat Feng als Erster ein H.-Gedicht übersetzt, und zwar Hyperions Schicksalslied. Sein Hauptbeitrag zeigt sich jedoch nach der Gründung der Volksrepublik China. In der von ihm herausgegebenen, bis zu den 1980er Jahren in der chinesischen Germanistik als Standardwerk geltenden Deguo wenxue jianshi 德国文学简史 (Kurze Geschichte der deutschen Literatur, Peking 1958) wurde H. als »ein großer deutscher Dichter«, als »neben Goethe und Schiller der beste Dichter vom ausgehenden 18. Jahrhundert zum beginnenden 19. Jahrhundert« vorgestellt. In den 1980er Jahren hat er aus seinem Tübinger Aufenthalt einen Artikel mit dem Titel Nieka hepan 涅卡河畔 (Am Neckar) über seine Begegnung mit H. während seiner Promotion in Heidelberg geschrieben. Das ist ein eleganter Essay von hoher literarischer und zugleich wissenschaftlicher Bedeutung. Yang Yezhi 杨业治 (1908–2003), Prof. an der Universität Peking, gehörte zur gleichen Generation wie Ji Xianlin und Feng Zhi, fing aber erst später an, sich mit H. auseinanderzusetzen. Vor Yang wurde die Tübinger Hymnen und einige kurze Oden als repräsentative Werke des Dichters hervorgehoben und somit nur ein unvollständiges Bild von der Dichtung H.s vermittelt. In der Großen chinesischen Enzyklopädie, Band für ausländische Literatur 大百科全书/外国文学卷 (Peking/Shanghai 1982) hingegen hat Yang als Erster in China einen wissenschaftlich fundierten Beitrag über H.s Leben und Werk geliefert. Er hat darauf hingewiesen, dass bei H. die deutsche Sprache und die antike Poetik sowie die Vollkommenheit der Form und des
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_53
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Rhythmus mit der Tiefe der Gedanken und Gefühle vollständig verschmelzen und dass H.s Elegien um und nach 1800 sowie die freirhythmischen Gesänge eine reizvolle Schönheit in sich bergen. Auf diese Weise hat Yang das Wesen und die Merkmale H.scher Dichtung treffend charakterisiert. Sein diesbezügliches Interesse zeigt sich auch in seinem Aufsatz O, Fittige gieb uns – Zu Hölderlins klassischen Gedichten mit strenger Prosodie (Peking 1986). Zudem übersetzte er die Abhandlung Hölderlins Hyperion des ungarischen Philosophen Georg Lukács ins Chinesische. Jünger als Feng Zhi und Yang Yezhi, trat nun der Übersetzer Qian Chunqi 钱春绮 (1921–2010) auf die Bühne der chinesischen H.-Rezeption. Seine H.Übersetzungen präsentieren sich hauptsächlich in den von ihm veranstalteten zwei Gedichtsammlungen Deguo shixian 德国诗选 (Ausgewählte deutsche Gedichte; Shanghai 1960) und Deguo langmanzhuyi shuqing shixuan 德国浪漫主义诗人抒情诗选 (Ausgewählte Lyrik der deutschen Romantiker, Nanking 1984). Erstere war zunächst die einzige Anthologie mit H. auf dem chinesischen Buchmarkt. Sie erlebte in den folgenden zwei Jahrzehnten drei weitere Auflagen. Qian wollte außerdem H. noch einen Gedichtband in seiner Übersetzung widmen und hat leider aus Altersgründen dieses Vorhaben nicht verwirklichen können. Qian war der Erste in der chinesischen H.-Rezeption, der eine nennenswerte Anzahl von Gedichten H.s ins Chinesische übersetzte (An die jungen Dichter, An die Parzen, Gesang des Deutschen, Die Heimat, Hyperions Schicksalslied, Der Neckar, Andenken, Der Tod fürs Vaterland, Männerjubel, Griechenland – an Gotthold Stäudlin, Diotima »Lange tot und tiefverschlossen«, Abbitte, »Wohl geh’ ich täglich«, Der Main, Der Wanderer, Die Wanderung, Da ich ein Knabe war, Hälfte des Lebens).
53.3 Neuphase (Rezipienten dritter und vierter Generation, 1994 bis heute) Vom Vorgänger Qian Chunqi angeregt und in den 1980er Jahren mit den Studien und Übersetzungen beginnend, veröffentlichte der in Tübingen über H. promovierte Germanist Gu Zhengxiang 顾正祥 (geb. 1944) im Verlag der Universität Peking die erste selbständige chinesische Gedichtsammlung H.s 荷尔德 林诗选 mit 40 Gedichten, zumeist Oden und Elegien aus der Frankfurter Zeit sowie einige späte Hymnen (Peking 1994). Ein Jahr später erschien Gus Doktor-
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arbeit Deutsche Lyrik in China. Studien zur Problematik des Übersetzens am Beispiel Friedrich Hölderlin (München 1995). Es handelt sich um die erste ausschließlich H. gewidmete deutschsprachige akademische Schrift aus der Hand eines chinesischen Germanisten. Sowohl seine Gedichtsammlung als auch seine Dissertation, die gleichzeitig entstanden, beruhen auf langjährigen wissenschaftlichen Untersuchungen und Forschungen, aus denen sich außerdem eine umfassende chinesische H.-Bibliographie ergab: Hölderlin in chinesischer Übersetzung und Forschung seit hundert Jahren. Analysen und Bibliographien (Berlin 2020). Die Gedichtsammlung wurde später um 22 Gedichte erweitert. Dank der finanziellen Unterstützung des Goethe-Instituts in München erschien sie beim traditionsreichsten Verlag Chinas 商务印书馆 (The Commercial Press, Peking 2012). Besonders erfreulich war die Nachfrage für diese Sammlung. Sie zählte im Monat nach der Veröffentlichung zu den zehn Bestsellern in ganz China, war in neun Monaten vergriffen und erreichte bisher die dritte Auflage. H.s Gedichte werden in China stärker als jede seiner anderen Gattungen rezipiert. In den letzten 24 Jahren wuchs die Anzahl von H.s Gedichtbänden in chinesischer Sprache ständig an, wobei oft verschiedene Sammlungen gleichzeitig in verschiedenen Städten erschienen. Es handelt sich um: Gu Zhengxiang 顾正 祥 (Peking 1994); Xian Gang 先刚 (Shanghai 2004); Gu Zhengxiang 顾正祥 (Peking 2012; 2013; 2016); Liu Haoming 刘皓明 (Shanghai 2009; 2013); Lin Ke 林克 (Chengdu 2010; Shanghai 2014; Peking 2018); Wang Zuoliang 王佐良 (Peking 2016; 2018), wobei zahlreiche Anthologien mit H.-Gedichten hier nicht berücksichtigt worden sind. Diese bei Provinz- und Universitätsverlagen zumeist in Peking und Shanghai erschienenen Ausgaben haben – ungeachtet ihres unterschiedlichen Umfangs (von 40 Gedichten bei Gu bis zu 167 Gedichten bei Wang) – zumindest die beiden Gemeinsamkeiten: zum einen findet sich die frühe Dichtung H.s (insbesondere die von der Französischen Revolution beeinflussten und von Schillers »Gedanken-Lyrik« geprägten Tübinger Hymnen) kaum berücksichtigt; zum anderen wird jeweils angestrebt, sich möglichst nah am Original zu halten und dabei zu versuchen, die drei metrischen Hauptgattungen – Oden, Elegien und späte Hymnik – aus den reifen Schaffensperioden des Dichters »wiederherzustellen« (mit Ausnahme der »Turmgedichte«, denen Xian Gang einen eigenen Band widmete). Besonders bemerkenswert ist, dass sowohl Gu wie Wang sich der Mühe unterzogen, die
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VI Rezeption – D Asien
rätselhaften freirhythmischen und gerade auch unter deutschen Forschern vieldiskutierten »vaterländi schen Gesänge« zugänglich zu machen. Dabei haben sie durch den Kulturaustausch ermöglicht, dass die aktuelle deutschsprachige H.-Forschung verarbeitet werden konnte. Besondere Beachtung verdient die dreibändige, sehr umfangreiche chinesische H.-Ausgabe des in den USA lebenden chinesischen Literaturwissenschaftlers Liu Haoming 刘皓明 (Shanghai 2009), Bd. 1 (616 S.) mit einer deutsch-chinesischen Paralleledition. Sie umfasst – mit Ausnahme von Oden wie Die Heimat, Der Neckar – alle Gattungen von H.s Dichtung aus den Jahren 1800 bis 1807, die in verschiedenen Fassungen und Fragmenten überliefert sind. Wichtige Gesänge wie Am Quell der Donau, Friedensfeier, Fragmente wie An die Madonna, Die Titanen erscheinen bei Liu erstmals in chinesischer Sprache, ebenso berühmte Elegien wie Der Wanderer, Stutgard und große Dichtungen wie Der Rhein, Patmos in neuer Übersetzung. In Bd. 2 und 3 (zus. 1014 S.) schließen sich nach einer außergewöhnlich langen Einführung in die H.sche Dichtung (174 S.) detaillierte Wort- und Texterläuterungen und tiefgründige Interpretationen zu jedem einzelnen Gedicht an. Hinzu kommen eine ausführliche H.-Chronik, ein Sachregister (chinesisch/deutsch u. deutsch/ chinesisch) und ein umfangreiches Literaturverzeichnis, leider nur westlich, ohne Angabe von Arbeiten seiner chinesischen Vorgänger und Fachkollegen. Liu verfügt über reiche Kenntnisse der europäischen Geistesgeschichte und rückt oft auch die chinesische Philosophie und Literatur ins Blickfeld. Seine Arbeit, die auf mehreren historisch-kritischen H.Ausgaben in der deutschen Ausgangsliteratur beruht (StA, FHA u. a.), kann mit ihrer umfassenden Kommentierung als ein gutes Beispiel für anspruchsvolle Übersetzung hoher Dichtung gelten. Mit der Vermehrung der Gedichtbände und der Übersetzer wurde naturgemäß auch ein lebhafter, heftiger Diskurs entfacht, an dem sich sogar ein deutscher Sinologe (Peter Hans Hoffmann) beteiligte, wobei es ihm weniger um den Gehalt der Gedichte H.s als um die Kriterien der Übersetzung H.scher Dichtung, d. h. um Methode, Stil und Qualität der Übersetzung ging. Es handelt sich um einen grundsätzlichen Streit darüber, ob eine streng wortwörtliche Übersetzung, die mehr an der Ausgangsliteratur orientiert, oder eine sinngemäße vorzuziehen ist, die sich mehr an dem Gesetz der chinesischen Grammatik und am Lesegeschmack des chinesischen Publikums orientiert. Auch sie sucht eine Annäherung an das Original,
nicht aber allein an das Wort, sondern auch an Bild, Figur, Stimmung und Poesie. Während Liu als Einzelgänger radikal eine in Wort, Zeile, Syntax bis hin zu den Satzzeichen möglichst originalgetreue Übersetzung bot, gingen andere Übersetzer den mittleren Weg. Strittig ist bei Liu auch noch, dass er zahlreiche seit jeher geltende Begriffe und Orts- wie Personennamen völlig anders übersetzte und somit ein Befremden des chinesischen Lesers in Kauf nahm. Das Aufblühen der Rezeption zeigt sich nicht allein an den stetig wachsenden Neuausgaben und -auflagen der Gedichtbände, sondern auch an der Übersetzung anderer Gattungen in H.s Werk. Ein Zeichen dafür ist die von Dai Hui 戴晖 veranstaltete, 536 Seiten umfassende H.-Ausgabe (Peking 1999). Diese erste und bislang einzige chinesische Mischanthologie enthält H.s Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland, das Dramenfragment Der Tod des Empedokles, 23 Aufsätze und 42 literaturtheoretisch geprägte Briefe sowie die späte Hymne Patmos. Sie wurde ebenfalls von chinesischen H.-Liebhabern und Wissenschaftlern beachtet und trug somit zur Verbreitung von H.s Werk in China bei. Ein weiteres Beispiel dafür ist die von Zhang Hongyan 张红艳 übersetzte Ausgabe von 66 Briefen H.s, die inzwischen bereits drei Auflagen erlebt hat (Peking 2011; 2012; 2018). Nicht nur das Werk H.s, sondern auch die deutschsprachige dichterische und philosophische Auseinandersetzung damit hat einen Platz in China gefunden: 1. Lebensbeschreibungen wie – Zweig, Stefan: Der Kampf mit dem Dämon: H., Kleist, Nietzsche, ins Chinesische übers. v. Xu Chang 徐畅. Peking 1998 – Zweig, Stefan: Der Kampf mit dem Dämon: H., Kleist, Nietzsche, ins Chinesische übers. v. Pan Lu, He Shiping u. Guo Yingjie 潘璐, 何世平, 郭 颖杰. Hefei 2000 – Härtling, Peter: H. Ein Roman, ins Chinesische übers. v. Chen Min 陈敏. Nanking 2009 2. Werkbeschreibungen Martin Heideggers wie – Erläuterungen zu H.s Dichtung 荷尔德林诗的 阐释, übers. v. Sun Zhouxing 孙周兴 (Peking 2000; 2002) – Holzwege 林中路, übers. v. Sun Zhouxing 孙周 兴 (Shanghai 2004) – Existence and being 存在与在, übers. v. Wang Zuohong 王作虹, unter Mitwirkung v. Li Ming 黎鸣 (Peking 2004) Eine neue Stufe erreichte die chinesischen H.-Rezeption durch zahlreiche Aufsätze, seit wenigen Jahren auch noch durch umfangreiche Monographien aus
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der Hand chinesischer Wissenschaftler wie Xu Huanguang 许环光 (Verf.): Vom poetischen Gefühl zum poetischen Wohnen. Shanghai 2015 (Diss.); Cai Xinle 蔡新乐 (Verf.): Einführung in die Übersetzungsphilosophie: Auffassung von Yin und Yang in der H.s Hymne Der Ister. Nanking: Verlag der Universität Nanking, 2016; Zhao Leilian 赵蕾莲 (Verf.): F. H.s Auffassung von der Harmonie. Eine Untersuchung. Peking: Verlag der chinesischen Volksuniversität, 2017 (staatliches Forschungsprojekt für Sozialwissenschaften). Nicht zuletzt sorgen chinesischsprachige Enzyklopädien und Lexika jeweils mit einem H.-Artikel und die zahlreichen Weltliteraturanthologien mit H.s Gedichten für einen breiten Leserkreis. Zum regen Leben rings um H. und zu seiner Popularität trägt das Netzwerk bei, das sich aus der Ankündigung oder Werbung für neue Veröffentlichungen, Nachdrucke, Be-
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sprechungen, Diskussion übersetzter Texte (zumeist Gedichte), Kritik und Gegenkritik der Übersetzungsproblematik u. a. speist und auf diese Weise H.s Leben und Werk immer weitere Kreise ziehen lässt. Ein Sonderphänomen geht dabei von dem Satz »doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde« – auch wenn er dem in vielerlei Hinsicht umstrittenen Gedicht In lieblicher Bläue entstammt – aus. Als Motto für Lebens- und Berufsperspektiven findet er sich von einer breiten Leserschaft verschiedener Berufsgruppen immer wieder zitiert. Literatur
Gu, Zhengxiang: H. in chinesischer Übersetzung und Forschung seit hundert Jahren. Analysen und Bibliographien, Berlin 2020.
Gu Zhengxiang / 顾正祥
VII Nachwirkungen
54 Nachwirkungen in der Literatur
54.2 Philosophen und Hölderlin
54.1 Vorbemerkung
Die unmittelbarsten und nachhaltigsten Ausstrahlungen hatte H. in der Philosophie, lässt er sich doch mit seinen Zeitgenossen Schiller, Jean Paul, Novalis, Friedrich Schlegel als Philosoph betrachten, der aus philosophischer Einsicht Dichter geworden ist und dessen Dichtungen eine durchgängige, wenn auch nicht sie erschöpfende philosophische Lesart zulassen. H.s Hyperion-Fragment mit seiner bedeutungsvollen geschichtsund individualphilosophischen Vorrede erreichte Schiller im Herbst 1794 zur Zeit einer grundlegenden Neukonzeption seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen; es lässt sich wahrscheinlich machen, dass H.s »systematologische«, organisationstheoretische Argumentation (auf der Basis von Herder und Kant, s. Kap. 11 und 12) den Anstoß, zumindest die Bekräftigung für Schillers systematologische Theoreme und Darstellungsform gegeben hat (T 2, 40 f.). Ebenso ist wahrscheinlich zu machen, dass H.s Kritik im Gespräch mit Fichte 1794/95 (s. Kap. 12) dessen Ausarbeitung der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre besonders im praktischen Teil entscheidend beeinflusste (Waibel 2000). Das Gespräch mit den Stiftsgenossen Schelling und Hegel, das »mit der Loosung – Reich Gottes!« (StA 6.1, 126; 7.2, 19; s. Kap. 3) beendet worden war, wurde in der Folge immer wieder aufgenommen, am intensivsten zwischen Hegel und H. während der gemeinsamen Zeit der Hauslehrerschaft in Frankfurt und anschließend mit Sinclair und anderen in Homburg (s. Kap. 5). Die Losung »Reich Gottes« galt trotz aller divergenten Entwicklungen für alle drei bis zum Ende ihres Philosophierens und bezeichnete das aus der Natur- und Lebensphilosophie Oetingers und dem vor allem durch Herder neuplatonisch dynamisierten Pantheismus stammende Problem der »Offenbarung« des Hen im Pan, des Seins im Seienden, des Lebens in der Gestalt der Natur und der Kunst, des Geistes in der Erscheinung. Man erkennt die Fortführung dieser Probleme bei Hegel über die Phänomenologie des Geistes und die Grundlinien der Philosophie des Rechts bis hin zur Ästhetik und Logik, bei Schelling über die Naturphilosophie bis hin zur Philosophie der Offenbarung. H. war derjenige, der mit seiner ontologischen Begründung des Subjekts in Urteil und Sein
Nirgends kommt eindrucksvoller zum Bewusstsein, wie weitgehend das Bild H.s und seines Œuvres, das Verständnis und die Bewertung seines Denkens und seiner poetischen Leistung von Interessen und Moden bestimmter Gruppen und Zeitepochen abhängt, als beim Blick in die Geschichte seiner Wirkung. »Hölderlin«, das ist bei allen, die ihn rühmen, weiterschreiben, bemitleiden, studieren, benutzen, vereinnahmen, ablehnen, ein Konstrukt, bestenfalls ein Torso, meist eine Selbstprojektion, vielfach ein Zerrbild. Leider erkennt man auch, dass Gadamers Annahme, die Verstehens- und Wirkungsgeschichte bringe Wahrheit zum Vorschein, ein idealer Traum ist, weil z. B. zum 100. Todestag der angesehene H.-Forscher Wocke sagen konnte: »Die Forderung des Tages jedoch gestattet – bei aller Verehrung für H. – oft nur eine Sicht, nur eine Blickrichtung, erheischt eine Nachfolge, die (bisweilen in Entscheidendem von ihm sich entfernend) im Einklang stehen muß mit dem Gehorsam gegen die eigenste Stimme und mit dem Gebot der unmittelbaren Gegenwart.« (1943, 210 f.) Umgekehrt, da es offenbar ohnehin nicht um Wahrheit gehen kann, lässt sich die aisthetische Qualität und vor allem die kulturelle Bedeutung H.s daran ermessen, dass er all diese Bilder, von den offenkundigen Fehllesungen abgesehen, leidlich begründet ermöglicht und so nach Th. Mundt »als eine tiefsinnige Hieroglyphe der modernen Bildung dasteht« (StA 7.4, 262), die sich an ihm zu enträtseln sucht. Im Folgenden wird versucht, einige dieser Bilder ungefähr in der Reihenfolge ihrer Entstehung nachzuzeichnen und mit den Namen ihrer wichtigsten Verfechter zu belegen. Der Schwerpunkt soll dabei auf den literarisch-poetischen Nachwirkungen liegen, wiewohl sich in der Wirkungsgeschichte H.s genaue Trennlinien zwischen Edition, weltanschaulichem Bekenntnis, literarischer Wertung, wissenschaftlicher Forschung und poetischer Zueignung/Fortschreibung nicht ziehen lassen.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_54
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VII Nachwirkungen
(s. Kap. 24) den Zusammenhang zwischen objektivem und subjektivem Idealismus erstmals dachte, der Schelling auf seinem Weg über Fichte hinaus bestärkte (StA 7.2, 47 f., 71 f.) und der Hegel in Frankfurt zur Konzeption der dialektischen Logik und Geschichtsphilosophie anregte, wie die gegenwärtige Hegel-Forschung immer deutlicher herausarbeitet. Ohne H.s theoretische Aufsätze zu kennen, war schon K. Rosenkranz überzeugt, H. sei »Schellings und Hegels dichterische Bevorwortung« gewesen (HJb 16, 302). Seitdem mit den Ausgaben des 20. Jhs. das vollständige Briefwerk und die theoretischen Fragmente zugänglich gemacht wurden und Gegenstand immer tiefer dringender Untersuchung sind, lässt sich H.s Rolle als zunächst führender Partner in dem symphilosophischen Gespräch mit Hegel, Schelling, Sinclair und anderen ermessen. H. war es auch, der schon in seiner Magisterarbeit über Salomon und Hesiod 1790 sich im Anschluss an Hamanns und Herders Überlegungen zur Neuen Mythologie oder zum »neuern Gebrauch« (Herder) der alten Mythologie mit der Notwendigkeit der auf Verstand, Empfindungs- und Begehrungs-Vermögen zugleich wirkenden »Totalvorstellung« befasst und in der »Personifikazion abstrakter Begriffe« ein modernes Analogon zu den alten »Mythologien, Mythen und Mysterien« ausgemacht hatte (StA 4, 183 f.). Sicher hat Hegel in seinem noch aus der Schweiz geschriebenen Gedicht Eleusis// An Hölderlin. August. 1796. an dieses Theorem gedacht: »Dem Sinne nähert Phantasie das Ewige/ vermählt es mit Gestalt – » (StA 7.1, 234). Die Zeilen sind in der Handschrift gestrichen; für Hegel hat sich das Problem vertieft. Nicht nur sind aus der alten Mythologie nur »Staub und Asche«, kein Wort, Zeichen, Bild übriggeblieben. Schon die eleusinischen Mysterien waren stumm: »Dem Sohn der Weihe war der hohen Lehren Fülle/ des unaussprechlichen Gefühles Tiefe viel zu heilig,/ als daß er trokne Zeichen ihrer würdigte./ Schon der Ge danke fast die Seele nicht,/ die ausser Zeit und Raum in Ahndung der Unendlichkeit/ versunken sich vergist, und wieder zum Bewustseyn nun/ erwacht. Wer gar davon zu andern sprechen wollte,/ spräch’ er mit En gelzungen, fühlt der Worte Armuth/ ihm graut das heilige so klein gedacht,/ durch sie so klein gemacht zu haben, daß die Red’ ihm Sünde deucht,/ und daß er be bend sich den Mund verschliest.« (StA 7.1, 235)
Philosophie und Dichtung als gedachter Gedanke und ausgesprochenes Wort sind angesichts »des unaus-
sprechlichen Gefühles Tiefe« und der »Ahndung der Unendlichkeit« streng genommen Sakrileg, nur im »Leben« der Menschen, »als Seele ihrer Thaten«, in ihrem »hohen Sinn« und »treuen Glauben« »offenbahrt« sich die Gottheit (ebd., 236). Von H. über seine ontologische Fichte-Kritik auf dem Laufenden gehalten (StA 6, 155 f.; s. Kap. 12), provoziert Hegel den Freund mit seiner poetisch sich selbst aufhebenden Folgerung, dass nur Schweigen und Tun, nicht aber Gedanke und Wort der geahnten Seins- und Gefühlstiefe angemessen seien, H.s Antwort sind die von der StA Über Religion betitelten Fragmente philosophischer Briefe, geschrieben im Jahreswechsel 1796/97 (vgl. T 3, 226–31), »Positionspapier« in dem beginnenden Gespräch über Neue Mythologie wie das Anfang 1797 geschriebene Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus’, das in Hegels Handschrift vorliegt (Jamme/Schneider 1984). Mit der Unterscheidung der unmittelbaren Empfindung des »höheren Zusammenhangs« einer Lebenssphäre, seiner erinnernden Vorstellung in der »Mythe« und dem dadurch ermöglichten Dank, mit der Erkenntnis vom poetischen Charakter der Religion und der freien Vergesellschaftung der Menschen und ihrer Mythen begründet H. Poesie, Religion und Gesellschaftstheorie samt dem Vorrang der Poesie vor der Philosophie (StA 4, 275– 281). Dagegen setzt das Älteste Systemprogramm im Grunde nur H.s Personifikationstheorie von 1790: »So müssen endlich aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.« (zit. nach StA 4, 299) Hegel kann der Poesie den von H. begründeten Rang nicht zusprechen, ringt aber bis zum Schluss mit dem Problem von Offenbarung und Sprache. Schelling setzte noch im System des transzendentalen Idealismus die Kunst als Vereinigung der bewussten und unbewussten Produktion des Absoluten, also mit einer H. vergleichbaren Argumentation die Kunst an erste Stelle; in der Philosophie der Kunst (Vorlesungen 1802/03) rückte sie schon unter die Philosophie und wurde in der schroffen Trennung von Mythologie und Dichtung in den religionsphilosophischen Spätschriften abgewertet – das in Frankfurt neu angeschlagene, auch von Fr. Schlegel, Schleiermacher, Creuzer und anderen bedachte Problem der Mythologie ließ ihn nicht los. Unter den Hegelianern, links oder rechts, kritisch oder affirmativ, finden sich bemerkenswert viele Verehrer H.s. Der Königsberger Kreis um den Literaten Bogumil Goltz (1801–1870), zu dem A. Jung, K. Ro-
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senkranz, F. Gregorovius gehörten (HJb 16, 291–324), brachte mit Alexander Jungs Buch H. und seine Werke, mit besonderer Beziehung auf die Gegenwart (Stuttgart 1848) den ersten gewichtigen Versuch einer Gesamtdeutung hervor, der allerdings wenig bewirkte, wohl weil dem von seinen Freunden als ›Doctor ecstaticus‹ bezeichneten Jung (1779–1884) »die Kraft zur Organisation des Stoffs« fehlte (HJb 16, 310). Als Motto setzte er der Schriftstellerin Karoline von Woltmann (1782–1847) prophetisches Wort vor sein Buch: »H. wird aufsteigen am literarischen Himmel Deutschlands wie ein Stern, wenn Deutschland Dichter von seiner Großartigkeit der Begriffe und Einfachheit des Ausdrucks vertragen kann.« (StA 7.3, 462) Gewidmet ist das Buch Karl Rosenkranz (1805–1879), dem philosophischen Mentor des Königsberger Kreises und Verfasser der Schrift Hegels Leben (1844). Rosenkranz, der sich in Hegels Umfeld mit Sinclair und Schelling befasste, hatte früh H.s philosophische Ausstrahlung auf diese drei Freunde erkannt, die unmittelbare Abhängigkeit Sinclairs in seiner Erkenntnistheorie und Ästhetik (vgl. T 4), die »tiefe und daurende Beziehung zu Hegel« (StA 7.3, 424), den »großen Einfluß« H.s auf Schelling (ebd., 354). Von ihm, der sich intensiv mit Poetik und Dichtungsgeschichte befasst hatte, stammen bemerkenswerte Analysen des Verhältnisses H.s zur Romantischen Schule (ebd., 559 f.) und vor allem Hegels zu H., dessen Hyperion mit dem »Cultus einer intellectuellen Anschauung des Alls und seiner selbst als des Alls ein nothwendiger Durchgangspunkt für Hegel gewesen« sei, den er »schon im Verkehr mit H. in der größten Ursprünglichkeit und Überschwänglichkeit durchgemacht« habe (StA 7.4, 226). Die Rühmung der »großartigen Composition« der Empedokles-Fragmente, die tiefsinnige Bemerkung, der spätere H. habe sich eine »Kamalattasprache [erfunden], um nur noch mit Dir selbst umzugehen und über das ›Εν και Παν‹ zu brüten« (StA 7.3, 559 f.), zeugen von eindringender Befassung, die allerdings immer wieder von Waiblingers Phaeton-Bild (ebd., 560) der »Maßlosigkeit der Sehnsucht«, der fehlenden »plastischen Anschaulichkeit« überlagert wird (StA 7.4, 226). Auch andere Hegelianer arbeiteten daran, H. »in der neueren Literatur wieder lebendig [zu] machen«, so der Ästhetiker und Kulturphilosoph Moriz Carriere (1817–1895; StA 7.3, 269–75) und der mit ihm befreundete Jungdeutsche Theodor Mundt (1808–1861), der in seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart (Leipzig 1842) H. ausführlich würdigt, Arnims und Carrieres Urteil über H. als »den größten aller elegi-
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schen Dichter der Deutschen« übernimmt, am Hyperion die geschichts- und bildungstheoretische Lesart, die politische Relevanz in der »Verzweiflung über Deutschland« und an den Sophokles-Anmerkungen H.s (s. Kap. 25) »wahrhaft moderne Weltanschauung« herausstellt. Im Scheitern seines Versuchs »einer thatsächlicheren Gestaltung des modernen Geistes« an der Wirklichkeit, die ihn »zerschmetterte und auf sich selbst zurückwarf«, sieht ihn der Jungdeutsche 1842 »an der Gränzscheide unseres Jahrhunderts als eine tiefsinnige Hieroglyphe der modernen Bildung« dastehen (StA 7.4, 262–65). Theodor Opitz, Schüler Ludwig Feuerbachs und Mitarbeiter an Wigands Vierteljahrsschrift, um 1844 einem Organ Feuerbachs, trug mit einem Gedicht H. (StA 7.3, 534 f.) und einem großen Essay zu der Kampagne bei, in der H. von dieser Zeitschrift für die feuerbachsche Anthropologie und Religionskritik als früher Verkünder vereinnahmt wurde. Hyperions Naturfrömmigkeit, Religion als Liebe der Schönheit, Hyperions späte Erkenntnis vom Schmerz als dem Vertrauten der Natur und Gefährten der Menschen (StA 3, 150) konnten zur Bestätigung von Feuerbachs heidnischer Diesseitigkeit und seinem Grundsatz vom Schmerz als der »Quelle der Poesie« dienen. Opitz bezeichnet H. als »einen der größten Genien der Nation«, beansprucht gegen Rosenkranz das »Plastisch-Lebendige« für H.s Dichtung und bezeichnet ihn erstmals als »recht eigentlich politischen Dichter in der schönsten Bedeutung, Dichter des ganzen, vollen Menschen, Dichter im Reich der Freiheit.« (StA 7.4, 233–39) Nietzsche schrieb 1861 einen Schulaufsatz über seinen »Lieblingsdichter« H., den »die Mehrzahl seines Volkes kaum dem Namen nach« kenne; auch sein Lehrer scheint gemeint gewesen zu sein, denn der empfahl ihm, »sich an einen gesünderen, klareren, deutscheren Dichter zu halten.« (HJb 23, 54) Die Bedeutung H.s für Nietzsche ist vor allem auf die »Entdeckung des dionysischen Elements der griechischen Kultur« als Voraussetzung für die Geburt der Tragödie, auf die Zeitkritik im Hyperion als Anregung für die Unzeitgemäßen Betrachtungen und auf die lyrische Sprache des Hyperion als Voraussetzung des Zarathustra bezogen worden (z. B. HJb 1, 6). Allerdings war H. nicht der Entdecker des von Nietzsche dionysisch genannten Elements der griechischen Kultur gewesen – Goethe hatte mit der »ungeheuren Opposition im Hintergrunde meiner Iphigenie« schon deutlich darauf hingewiesen (Dichtung und Wahrheit, 15. Buch) –, es mochte Nietzsche in der Opposition zum »Apollinischen« in den Empedokles-Fragmenten nur besonders deutlich entgegen-
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getreten sein. Diese muss er genau studiert haben, plante er doch selbst 1871 eine Empedokles-Tragödie. Der geklitterte Zagreus-Mythos im 10. Kap. der Geburt der Tragödie, nach dem der eine Dionysos in die vier Elemente des Empedokles zerrissen wird und damit »den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens« allegorisiert (Nietzsche KSA I, 72), interpretiert wie H. den Vorsokratiker Empedokles zum Einheitsphilosophen um, der nicht nur den Einklang des Unterschiedenen in der Natur lehrt, sondern auch in seiner Person die »gewaltigen Entgegensezungen« seiner Zeit »als in einer augenbliklichen Vereinigung, die sich aber auflösen muß«, darstellt (StA 4, 154 f.). Die zentrale Argumentation im 3. Kap. der Geburt der Tragödie ist einerseits durch verschiedene Zitate an Goethes Faust geknüpft, andererseits auf eine eindringende Interpretation des Hyperion gegründet. Zunächst wird das Silen-Wort zitiert (KSA I, 35), das H. als Motto aus Sophokles’ Oedipus auf Kolonos vor den zweiten Teil des Hyperion setzt: »Nicht geboren zu werden, übertrifft jeglichen Wert; das weitaus zweitbeste jedoch ist (wenn einer schon erschienen), schnellstens dorthin zu gehen, woher er gekommen.« Dann wird die Aufstellung der »glänzenden Traumgeburt der Olympischen«, die Kunst »als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins« erklärt (ebd., 35 f.). Hyperion erkannte das Leiden an der Individuation als notwendigen Grund des Daseins und seiner wechselnden Wonnen (StA 3, 150), Diotima hatte ihm die ontologische Ästhetik der Darstellung des Vollendeten im Wechsel gewiesen (ebd., 148), aber schon der Athenerbrief gegen Ende des ersten Teils hatte gelehrt, in den Götterbildern der Kunst stelle der göttliche Mensch »seine Schönheit gegenüber sich«; das Wesen der Schönheit aber wird dort mit dem »εν διαφερον εαυτω (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit« erklärt (ebd., 79, 81), was Nietzsche mit anderen Heraklit-Worten unschwer als Bestätigung des Dionysischen als des leidenden, in sich zerrissenen Ur-Einen lesen konnte. Wie eine Erinnerung an den aus der Qual Smyrnas auf der Überfahrt nach Kalaurea, der Insel Diotimas, im Boot wie »in Charons Nachen« ruhenden und »aus der Schaale der Vergessenheit« trinkenden Hyperion (ebd., 49) mutet es deshalb an, wenn bei Nietzsche Apollon zeigt, »wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde, und dann, in’s Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.« (KSA I, 39) So kann, wie übrigens der Faust, H.s Hyperion als bedeutender phi-
losophischer Subtext zu Nietzsches Geburt der Tragödie gelesen werden; auch der Empedokles, von dem nur ein Fragment aus der zweiten Fassung bekannt war, ist für Nietzsche wichtig. Auch in der Unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1873) ist H. präsent. Zitiert wird er explizit (KSA I, 300) mit seinem Brief an Sinclair vom 24.12.1798 über die Lektüre des Diogenes Laertius, bei der ihm »das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme« tragisch auffiel (StA 6, 300): auch H.s »Stimmung« belege die Gefährlichkeit, die »ein solches überschwemmendes, betäubendes und gewaltsames Historisieren« für die Jugend habe. Bemerkenswert ist die Assoziation H.s mit »Jugend«, wird er doch im Gefolge Nietzsches bis in den H.-Kult der 1920er Jahre mit dem Signum der Jugend versehen. Nietzsche sagt nach einer der Scheltrede Hyperions ähnlichen Analyse der Deutschen: »Es ist das schmerzlichste Schauspiel: wer es über haupt sieht, wird hier eine heilige Nöthigung erken nen: er sagt sich, hier muß geholfen werden, jene hö here Einheit in der Natur und Seele eines Volkes muß sich wieder herstellen, jener Riß zwischen dem Innen und Außen muß unter den Hammerschlägen der Noth wieder verschwinden.« (KSA I, 278)
Die in den Nachrufen und Würdigungen immer wiederholte Strophe aus Das Schiksaal beginnt: »Mit ihrem heil’gen Wetterschlage,/ Mit Unerbittlichkeit vollbringt/ Die Noth an Einem großen Tage,/ Was kaum Jahrhunderten gelingt;« (StA 1, 185). Das ist auch Nietzsches Argumentation und nahezu Wortlaut H.s, den auch Opitz mit dem Lob H.s als »politischer Dichter in der schönsten Bedeutung« zitiert hatte (StA 7.4, 236, s. oben), und wie Opitz geht es Nietzsche dabei um den »ganzen, vollen Menschen«: »So soll hier ausdrücklich mein Zeugniß stehen, daß es die deutsche Einheit in jenem höchsten Sinne ist, die wir erstreben und heißer erstreben als die politische Wiedervereinigung, die Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Convention.« (KSA I, 278)
Man sieht: hier ist das Bild von H., dem Künder einer Verjüngung und Erneuerung des deutschen Volkes unter den Wetterschlägen der Not vorgezeichnet, wie es die ersten drei Jahrzehnte des 20.Jhs. beherrschte
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und, unterstützt durch Kriegsausgaben, die Begeisterten in die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs begleitete. Verstärkend kamen natürlich die Ausgaben (s. Kap. 1) und der große H.-Essay Wilhelm Diltheys (erstmals 1906) hinzu, der Nietzsches eher sporadische Hinweise auf H. zusammenfasste und einem »weitreichenden Einfluß H.s auf Nietzsche« zuschrieb (HJb 23, 58). Zu den noch weiterreichenden Wirkungen dieses Essays mit seiner Nietzsche rückprojizierenden Interpretation H.s vgl. den erhellenden Aufsatz von Gunter Martens (ebd., 54–78). – Die Theorie von der kulturrelativen Metaphorizität der Begriffe im Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, mit der Nietzsche weit ins 20.Jh. hineinwirkt, mag auch durch das Studium H.s angeregt sein; Nietzsche nimmt ja hier nach der Begriffsnaivität des Positivismus die in Herders Schriften Über den Ursprung der Sprache und Über Bild, Dichtung und Fabel dargelegte, Kants Kritiken metakritisch entgegengehaltene Theorie wieder auf, »daß unsre Seele, so wie unsre Sprache, beständig allegorisiere« (Herder FA 4, 635; s. Kap. 11 und 12). Diese kulturbedingte Bildlichkeit des Denkens und mithin der Sprache ist zentrales Theorem in des Herder-Schülers H. Kulturphilosophie, und Nietzsche konnte auch ohne Kenntnis der Homburger Aufsatzfragmente (s. Kap. 24) diesen Grundgedanken erfassen: als tragische Empfindung angesichts der Vergänglichkeit philosophischer »Wahrheit« und Geltung im zitierten Brief an Sinclair, als das kulturbedingte Entstehen von Konzepten und Worten »wie Blumen« (Brod und Wein, 5. Strophe), als den ganz auf das unzeitige und das schaffende Wort gestellten Untergang und Übergang des Vaterlandes im Empedokles, den Nietzsche im Zusammenhang seiner eigenen Empedokles-Pläne besonders intensiv durchdachte. Insgesamt geht es sicher zu weit zu behaupten, dass ohne H. »ja in vieler Hinsicht Nietzsche nicht zu denken ist, worauf schon Wilhelm Dilthey in dem berühmt gewordenen Essay von 1905 hingewiesen hat« (Wocke 1943, 198); aber Nietzsche hat zweifellos mit grundlegenden Theoremen H.s ins 20. Jh. hineingewirkt, die dann ihrerseits, vermittelt durch Diltheys Essay, die Renaissance und wachsende Ausstrahlung H.s wesentlich beeinflussten. Beispiel ist Rudolf Pannwitz (1881–1969), der mit dem später zum Nationalsozialismus (s. Kap. 41) tendierenden Rudolf Paulsen (1883–1966) schon als Schüler des Steglitzer Gymnasiums einen literarischen Verein »Hyperion« und 1904 unter dem Lyriker Otto zur Linde die Zeitschrift »Charon« gründete. Im »Charonkreis« war H. als »Holder alter H.« (Pann-
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witz) allgegenwärtig; Pannwitz schrieb ein Empedokles-Drama, das in der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Die den Expressionismus einleitenden Versuche der Schaffung eines neuen Mythos auf altnordischer Basis mit dem Ziel einer Wandlung des Denkens und Lebens, einer neuen verjüngten Zeit verfolgen H.s Ziel einer »künftigen Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten« (StA 6, 229), bei der ja Mythologie eine Schlüsselrolle spielte, wenngleich H. im Gegensatz zu den Urtümlichkeits-Tendenzen des Charonkreises eine »überall beweisbarer« dargestellte Mythologie angestrebt hatte (StA 5, 268). Der Kulturphilosoph Pannwitz nimmt, über George zu Nietzsche und dessen Anregern zurückkehrend, das HesperienKonzept H.s eines kulturellen, auf den ganzen Menschen gerichteten und nicht durch Einzel- oder Gruppeninteressen zersplitterten Europa auf; sein zentrales Theorem, Natur als Kultur zu betrachten, erscheint als Wiederaufnahme der Bildungstheorie in H.s Vorrede zum Hyperion-Fragment. Zweifellos greift auch Pannwitz viel weiter aus, aber Grundgedanken etwa seines Werkes Die Krisis der europäischen Kultur (1917) sind offensichtlich im Nachdenken der Gedanken des »holden alten H.« gefasst, wie auch verschiedene Aufsätze (IHB Nr. 2025, 2609, 5632) die immer wieder aufgenommene Befassung mit H. belegen. Die Reihe der von H. als Gesprächspartner lernenden und sich mit ihm auseinandersetzenden Philosophen kann hier unterbrochen werden, da seine Bedeutung für Heidegger und, teils über Nietzsche, teils über Heidegger für französische Philosophen wie Foucault und Derrida (s. Kap. 43) oder auch für Benjamin und Adorno Gegenstand besonderer Kapitel ist. Weltweit gibt es in der Philosophie eine Auseinandersetzung mit H. als Philosoph (vgl. auch weiter unten).
54.3 Schwäbische Schule Der deutsche Nord-Süd-Konflikt, der sich im 18. Jh. z. B. in dem Literatur-, Orthographie- und Hochsprachenstreit zwischen Leipzig und Zürich artikulierte, stellte auch der Preußen-Propaganda vornehmlich der Berliner Schriftsteller eine Schwaben-Propaganda entgegen, die sich von Bodmer und Breitinger ausgehend auf die Wiederaufrichtung des alten staufischen Herzogtums Schwaben (deutsche Schweiz, Elsaß, bayrisch Schwaben, etwa bis zur Mainlinie) wenn nicht im territorialen Sinne, so doch im kulturellen Bewusstsein konzentrierte. Württemberger wie Jo-
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hann Balthasar Haug, H.s Mentoren Stäudlin und Conz, der junge Schiller stimmten mit patriotischen Dichtungen ein, in denen der für das 19. Jh. so wichtige Hohenstaufen-Mythos, vor allem aber mit den mythisierten Figuren der Herzöge Eberhard und Ulrich das Bewusstsein einer seit 1514 bestehenden konstitutionellen Monarchie gepflegt wurden (vgl. T 1). H.s vaterländische Dichtungen stehen z. T. bis in die Spätzeit in dieser Tradition, und die Schwabenpropaganda des 19. Jhs. hat nicht wenig dazu beigetragen, dass sich mehrere Tübinger Dichterkreise des Kranken im Turm (s. Kap. 7) annahmen, sein Werk erhielten, sammelten und herausgaben, und in eigenen Dichtungen auf ihn Bezug nahmen. Die Freundschaftsdichtungen im Tübinger Dichterbund mit Christian Ludwig Neuffer und Rudolf Magenau (s. Kap. 3) hatten zunächst gemeinsame Themen und gemeinsamen hymnischen Ton, von dem der prosaischere Magenau am schnellsten abfiel und den auch Neuffer nur mühsam hielt: H. hat die Freunde wohl eine Zeitlang mit seinen Tübinger Hymnen (s. Kap. 28) begeistert. Frühere Dichtungen der Freunde an und über H. (StA 7.1, 193–225) klingen in vielem an die Freundschaftsdichtung des 18. Jhs. an, geben aber auch humorigen Einblick in die Studienverhältnisse des Tübinger Stifts. Während Magenaus poetische Ader vertrocknete, blieb Neuffer in heimlichem oder offenem Wettstreit mit H. produktiv, der seinerseits am »Herzensbruder« hing und den Wettkampf mitspielte, bis es in Stuttgart 1800 darüber zum Bruch kam. Unentschieden, wohl auch unwichtig, ist die Priorität in der poetischen Verknüpfung von Gewitter und Revolution, wie sie bei Neuffer in Das Gewitter. An H. und bei H. in Die Muße, Die Völker schwiegen ... bis hin zu Wie wenn am Feiertage ... verwendet wird; auch das archilochische Maß in Neuffers Gewitter-Gedicht und H.s An Diotima (»Komm und siehe«, StA 1, 210 f.) gehört in dieses Wett-Dichten. Als H. an Neuffer 1798 seine Frankfurter Kurzoden zur Publikation schickte, probierte auch dieser die Form; H.s idyllische Dichtung Emilie vor ihrem Brauttag regte Neuffer wohl zu eigenen idyllischen Dichtungen an, brachte aber auch ersten Dissens über die Ernsthaftigkeit und poetologische Reflektiertheit des Dichtens, die H. gegenüber dem viel eingängigeren und erfolgreicheren Neuffer verteidigte. In Stuttgart schließlich scheinen sich die Wettdichter wieder gemeinsame Themen gewählt zu haben: Neuffers Die Herbstfeier (1802) und Der Tag auf dem Lande (1800), zwei lange Hexameteridyllen (die letztere wurde als Werk J. H. Voß’ kolportiert und da-
durch berühmt) konkurrieren mit H.s Elegien Stutgard bzw. Der Gang aufs Land (vgl. T 4). Nach dem Bruch in Stuttgart reißt die Beziehung ab; Neuffer hat H. nie im Turm aufgesucht und sich erst im Gefolge der schwabschen Ausgabe (s. Kap. 1) um die noch in seinem Besitz befindlichen Gedichte H.s gekümmert. Die Generation der Tübinger Romantiker um Ludwig Uhland (1787–1862), Justinus Kerner (1786– 1862), Gustav Schwab (1792–1850), war diejenige, in deren Studienzeit die Einlieferung H.s ins autenriethsche Klinikum und seine ersten Jahre des Lebens bei der Familie Zimmer fiel; Kerner als Mediziner hatte ihn sogar im Klinikum zu behandeln und zu pflegen (s. Kap. 7, 8). 1809 verließ Kerner Tübingen und ließ 1811 seine Reiseschatten. Von dem Schattenspieler Luchs erscheinen, in dem er den wahnsinnigen Dichter Holder nach D. F. Strauß’ Analyse »mit verworrenen Reden, aber von tiefem Sinne gleichsam die tollgewordene Romantik vorstellen [läßt], oder die Romantik, wie sie den Anhängern des Alten erscheint, nämlich als Tollheit« (Seebaß 1922, 138). Die H.-Parodie (vgl. StA 7.3, 470–73) wurde als »gemeine Gassenbüberey, wie sie auch nur aus einem tiefen romantischen Gemüthe hervorgehen kann« (StA 7.2, 413) kritisiert, aber Kerner war später einer derjenigen, die sich am eifrigsten um das Zustandekommen der Gedichtausgabe 1826 bemüht haben, die auf Berliner Betreiben (Diest, s. u.) durch Schwab, Kerner und Uhland 1826 ediert wurde. Uhlands Poetik hat bedeutsame Ähnlichkeiten mit H.s Poetik des gesetzlichen Kalküls, wie sie ihm zumindest aus den Sophokles-Anmerkungen bekannt war (Gaier 2000, [26]), und Schwabs unermüdliches Wirken für den Erhalt der humanistischen Bildung, von dem seine Schönsten Sagen des Classischen Alterthums, nach seinen Dichtern und Erzählern (1838/40) zeugen, mag durch H.s Hyperion angeregt worden sein, wie ja überhaupt der Roman schon auf viele Zeitgenossen eine bleibende Faszination ausgeübt hat (vgl. z. B. C. P. v. Lohbauer StA 7.3, 469 f.). Die jüngere Generation mit Wilhelm Waiblinger (1804–1830) und Eduard Mörike (1804–1875) ging mit dem kranken H. wie mit einem Inventarstück ihres Tübinger Studentenlebens um; insbesondere Waiblinger (s. Kap. 7) nahm ihn oft mit zu seinem Gartenhaus auf dem Österberg. Von ihm stammen (StA 7.3) wertvolle Aufzeichnungen in Tagebüchern, eine Ode An H., die erste biographische Skizze und der Beginn der pathographischen Beschreibung des Kranken in Friedrich H.s Leben, Dichtung und Wahnsinn (entstanden 1827/28, publ. 1831), endlich der Roman Phaeton (1823), der zwar, mit einem Bildhauer
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als Helden, in Italien spielt, für den Waiblinger aber selbst sagt: »H.s Geschichte benüz’ ich am Ende« (StA 7.3, 8). Denn Phaetons idealisch phantastische Liebe zu Atalanta stürzt wie der vom mythischen Vorbild in entgrenzender Raserei missbrauchte und von Zeus mit dem Blitz zerstörte Sonnenwagen bei der am Abschiedstag vollzogenen körperlichen Vereinigung Phaetons und Atalantas ab; während Phaeton sich den wüstesten Ausschweifungen hingibt, siecht Atalanta dahin und stirbt; an ihrem Totenbett wird Phaeton wahnsinnig. Aber nicht nur der wahnsinnige H. steht Modell für Phaetons Ende (StA 7.3, 479 f.), sondern auch umgekehrt interpoliert Waiblinger Phaetons Ausschweifungen frei erfindend in H.s BordeauxAufenthalt (s. Kap. 6): »Ein Geist wie H., der von der Himmelsunschuld durch eine fürchterliche Verirrung in die gräßlichste Befle ckung gerieth ist mehr als die Schwächlinge, die ewig im Gleise blieben. H. ist ganz mein Mann. Sein Leben ist das große, furchtbare Räthsel der Menschheit. Die ser hohe Geist mußte untergehen oder er wäre – nicht so hoh gewesen.« (StA 7.3, 8, vgl. 60)
Diese Erfindung Waiblingers wurde zwar von den verärgerten Bekannten H.s sogleich dementiert (StA 7.2, 198), geisterte aber noch Jahrzehnte durch Nachrufe und Würdigungen H.s. Aber für Waiblinger, das enfant terrible dieser Tübinger Generation, war dies die erhaben-plausibelste Antwort auf das Rätsel der von ihm so exakt beobachteten geistigen Ermattung und Konzentrationsunfähigkeit H.s, für den er abschließend fragte: »Wird der verwegen aus den Schranken getretene, sich mit Gott zu messen erkühnende, in seinem Riesenschmerz in und durch sich selbst zermalmte Geist anderswo Licht, Maaß und Wahrheit finden, und wie?« (StA 7.3, 480) Ganz anders als Waiblinger verhielt sich Mörike zu H.; Hötzer hat darauf aufmerksam gemacht, dass er in Zeiten, als persönliche Begegnung möglich war und mindestens in Begleitung Waiblingers stattgefunden hat, gänzlich darüber schweigt, während mit wachsender zeitlicher und räumlicher Distanz »der erinnerte Eindruck lebendiger in den Einzelzügen und bewusster im deutenden Erfassen« wird (HJb 24, 167–70). Das früheste und schmerzlich anrührende Dokument einer ambivalenten, faszinierten und scheu distanzierenden Beziehung Mörikes zu H. ist, durch Mörikes Freund und Hyperion-Maler Rudolf Lohbauer überliefert, die Ballade Der Feuerreiter: »H., der oft mit einer weißen Mütze auf dem Kopf unruhig in seinem Zimmer hin u.
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her lief, so daß man ihn bald an diesem bald an jenem Fenster vorbeischweben sah, brachte Eduard auf den ersten Gedanken« daran (StA 7.3, 38). Die Ballade wurde im Maler Nolten 1832 in einer ersten Fassung aus dem Jahr 1828 (ohne die 1841 zugedichtete christlichmagische »Übermalung« der 3. Strophe) veröffentlicht und im Roman in einen latent politischen Kontext gestellt, wie überhaupt eine politische Lesart jetzt immer deutlicher hervortritt (Freund, Bruch) und die bei Mörike rote netzartige Strickmütze als Jakobinermütze gelesen wird, die auch beim Untergang in der Mühle nicht verbrennt. H. erscheint dann als Paradigma des jakobinischen Dichters, der die Revolutionen und demokratischen Bewegungen nicht durch sein Besprechen dämpft (wie in der späteren dritten Strophe), sondern unwiderstehlich von ihnen angezogen wird, jetzt aber, nach Einsetzen von Restauration und Zensur, zum Gegenstand spöttischer Distanzierung von seiner Narrheit und Absonderlichkeit wird und wegen mangelnden Rückhalts im Volk untergeht oder, wie H., wahnsinnig wird oder, wie Wilhelm Hauff mit seinem Feuerreiterlied (1824) und Mörike mit seiner Ballade, scheinbar harmlos und biedermeierlich vor der Zensur und Demokratenschnüffelei sich maskieren muss. – Während Mörike einige Gedichte H.s schätzte, bemerkenswerterweise auch eines aus der Turmzeit (Wenn aus dem Himmel ...; s. Kap. 35), konnte er sich mit dem Hyperion wegen seiner Athen-Verherrlichung und seiner lyrischen Behandlung des Epischen nicht mehr anfreunden, nachdem er in der Jugend ein, wie er meinte, unkritisch schwärmerisches Verhältnis zu dem Buch hatte (StA 7.3, 125 f.). Verdienstvoll, aber unter der Masse des ihm Vorgelegten und zumeist Verworfenen nur weniges auswählend, ist seine Bemühung um den Erhalt von H.s ungedruckten Gedichten (StA 7.3, 313). Annette von Droste-Hülshoff wunderte sich 1844 über die mangelnde Anerkennung in ihrer Heimat und das Ansehen, das sie im deutschen Südwesten genoss. Ihre Erklärung: »Ich muß mich mehr als ich es selber weiß der schwäbischen Schule zuneigen.« (HKA X 1, 201) weist auf die Beziehung ihrer historischen Balladen zu Uhland und Gustav Schwab sowie auf die Beobachtungstreue ihrer Naturlyrik, die seit Heines Spott über die Schwäbische Schule als deren Kennzeichen galt; die Beziehung scheint sich für sie auch auf H. ausgedehnt zu haben, der ja durch die Ausgabe der Gedichte in der Obhut der Schwäbischen Schule stand und von ihrem gefürchteten Kritiker Wolfgang Menzel in den Literaturstreitigkeiten der Zeit auch strategisch benutzt wurde. Menzel vergleicht Drostes Freund Wilhelm Junkmann in einer
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sehr anerkennenden Rezension seiner Gedichte (1836) mit H. wegen seiner kühn dynamisierten Landschaften und der dunklen Originalität seiner Sprache: H. allein »im ganzen Umfang unsrer Literatur« sei Junkmann »einigermaßen ähnlich« (StA 7.4, 54); in der Tat bezog Junkmann sich ständig auf H., galt selbst als »der westfälische H.« und zitierte H.s Alpen- und Strom-Mythos, der aus den vielzitierten Anfangsstrophen des Rheins bekannt war, in der Droste gewidmeten Elegie An eine Münsterländerin am Bodensee. Droste charakterisierte im Kontext einer Erwähnung von Menzels Lob Junkmanns Dichtung als »sehr tief und originell nur mitunter etwas dunkel« (HKA X 1, 198); obskurer schwieriger Stil wurde ihr selbst vorgeworfen, so dass es nahe liegt, in H. ein stilistisches Vorbild beider Münsteraner Poeten zu sehen. Droste jedenfalls war mit H. vertraut; ihre Freundin Johanna Mockel, Gattin Gottfried Kinkels in Bonn, schwärmte für Platen und H. (StA 7.3, 175 f.); bei den Stuttgarter Freunden Schott war H. präsent und wurde angedichtet (StA 7.3, 94; 7.4, 181). Jedenfalls bekannte Droste sich in dem Zeitgedicht Die Schulen intertextuell zunächst zu Goethes Mignon-Lied, abschließend aber, gegen den kalten Positivismus der zeitgenössischen Naturwissenschaft gerichtet, zum demütigen Deuten und Singen der »Sprachen des Himmels«, die statt in den staubigen Hörsälen von den Kathedern des verborgenen Meisters im Gebirge tönen – Bezug zu H.s Unter den Alpen gesungen und zu Der Rhein. In der von ihr geplanten Gedichtausgabe 1844 sollte dieses über Mignons Sehnsucht zu H.s Naturdeutung immer weiter von der bloßen Phänomenalität sich entfernende Gedicht unmittelbar vor die Haidebilder gesetzt werden (ein übrigens wie von Lenau auch von Junkmann benutzter Titel) und programmatisch die in diesem Zyklus experimentell durchgespielten Möglichkeiten der Spannung zwischen beobachteter und gedeuteter Natur einleiten (vgl. Gaier 1991/96).
54.4 Romantiker August Wilhelm Schlegels Hervorhebung von H.s Gedichten in seiner Rezension von Neuffers Taschenbuch 1799 als »Beyträge [...] voll Geist und Seele« (StA 7.4, 11) war die erste und lange Zeit einzige Anerkennung durch einen prominenten Kritiker. Leo von Seckendorfs verdienstvolle, wiewohl vom Herausgeber stark entstellte Publikation von Gedichten H.s in seinen Musenalmanachen für 1807 und 1808 eröffnete erstmals ein breiteres Publikum für die Lyrik; die Gedich-
te waren für Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck »das Höchste in ihrer Art in der ganzen modernen Poesie«, H. gebühre »eine der ersten Stellen unter den Dichtern Deutschlands« (HJb 1, 2). Das ist umso bemerkenswerter, als Schlegel bei der Rezension von Schillers Musen-Almanach 1796 von H.s Gott der Jugend nicht einmal hatte reden wollen. Besonders die Publikation des ersten Teils von Brod und Wein unter dem Titel Die Nacht durch Seckendorf (s. Kap. 30) brachte H. viele Verehrer, vor allen Clemens Brentano, der noch 1816 bekannte, er habe das Gedicht viel hundertmal gelesen, »nie ohne tiefe Bewegung und ohne neue Bewunderung«: »Es ist dies eine von den wenigen Dichtungen, an welchen mir das Wesen eines Kunstwerks durchaus klar geworden. Es ist so einfach, daß es Alles sagt: das ganze Leben, der Mensch, seine Sehnsucht nach einer verlorenen Vollkommenheit und die bewußtlose Herrlichkeit der Natur ist darin. Ist das Alles? Wo ist denn die Erbarmung und die Erlösung? fragt sie [Luise Hensel] vielleicht, und ich sage: sie lese es als ein Ebenbild aller Geschichte, und sie wird auch Erbarmung und Erlösung darin finden.« (StA 7.2, 434) Da er nur diesen Anfang kannte, dichtete Brentano sogar eine Fortsetzung (StA 7.3, 539). An Philipp Otto Runge schrieb er schon 1810, mit Hinweis auf Seckendorfs Almanache: »Niemals ist vielleicht hohe betrachtende Trauer so herrlich ausgesprochen worden. Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bittern Brunnen seines Herzens; meistens aber glänzet sein apokalyptischer Stern Wermuth wunderbar rührend über das weite Meer seiner Empfindung. [...] Besonders ist die Nacht klar und sternenhell und einsam und eine rück- und vorwärts tönende Glocke aller Erinnerung; ich halte sie für eines der gelungensten Gedichte überhaupt. Während ich Solches erlebte, entstand in mir unbewußt die Begierde, ein Gedicht zu erfinden [...]. Der Titel würde seyn: Die Erfindung des Rosenkranzes.« (StA 7.2, 407) Brentanos Romanzen vom Rosenkranz darf man wohl als das Ergebnis einer tiefgreifenden anverwandelnden Erfahrung der Dichtungen »des wahnsinnig gewordenen Würtemberger Dichters H., z. B. seine Elegie an die Nacht, seine Herbstfeyer, sein Rhein, Pathmos, und andere« (ebd.) verstehen. Auch den Hyperion hielt Brentano für »eines der trefflichsten Bücher der Nation, ja der Welt« (StA 7.2, 430) und empfahl Rahel Varnhagen 1814 die Lektüre – Gustav Schwab, der Brentano im Kreis der Berliner Romantiker antraf, notierte 1815; »Sein höchstes Ideal sey H.« (StA 7.2, 432). Achim von Arnim kannte H.s Dichtungen vielleicht schon 1805 (HJb 18, 151), sicher seit 1808; in-
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tensive und kontinuierliche Befassung ist seit 1813 nachweisbar. H.s Krankheit, in Zusammenhang gesehen mit einem längeren Zitat aus der Scheltrede des Hyperion, soll nach Napoleons Sturz den Fürsten zur Warnung dienen, bei der Neuaufrichtung Deutschlands »alle die herrlichen teutschen Geister« wie bisher ohne Förderung und Unterstützung zu lassen: »Auch dieser Herrliche mußte in Armuth und Wahnsinn erkranken, daß er lebt und doch verloren ist für uns, denen seine Trauer in trüber Zeit das Herz erweiterte, und den Drang der gemeinen Noth von der Seele enthob.« (StA 7.2, 436) 1817 berichtet er von einem »Plan, eine Aesthetik nach H.s Hyperion auszuarbeiten, denn elegisch wird sie ihrer Natur nach, und diese herrlichste aller Elegien giebt dazu den mannigfaltigsten Anlaß« (StA 7.2, 437). 1818 wünscht er eine Ausgabe der »Werke H.s, des größten deutschen Elegikers, von denen der Hyperion vergriffen, die einzelnen Gedichte in Zeitschriften zerstreut und mit ihnen unter gegangen sind, von sorgfältiger Hand vollständig gesammelt zu sehen. Vollständig müßten sie gegeben werden, weil er nie ein leeres Wort geschrieben, gleich [Laurence] Sterne, mit welchem ihn ein gleiches Geschick traf: daß ihr irdisches Auge die Fülle des angeschauten Lichtes nicht ordnen, ihr liebevolles Gemüth die Kränkungen des Lebens nicht überwinden konnte; so ward den Menschen ihr Geist entzogen, während ihr Leib noch unter ihnen fort lebte.« (StA 7.4, 359) Ein Essay Ausflüge mit H. (StA 7.4, 55–60) antwortet 1828 auf die Neuauflage des Hyperion und die Ausgabe der Gedichte, mit denen Arnims Forderung von 1818 erfüllt wurde, allerdings nicht im Hinblick auf Vollständigkeit, wie er durch Aufzählung von neun Spätgedichten deutlich macht. Beglückt ist er über die neu erschienenen Empedokles-Fragmente, in die er mit tiefem Verständnis eindringt, wie er auch aus den Sophokles-Anmerkungen von 1804 bemerkenswert ausführlich zitiert. Wahrscheinlich ist Arnim, anders als der anempfindende Brentano und die sammelnden, eher das vertiefte Verstehen scheuenden Schwaben, durch sein rekonstruierendes Eindringen der bedeutendste und genaueste Kenner H.s unter den Zeitgenossen gewesen. Wie er Empedokles, die Sophokles-Anmerkungen, Patmos ernst nahm und auf »das überaus Glückliche, das Neue im Gebrauche abgenutzter Wörter« hinwies, »was H.s Poesie so eindringlich macht«, das ist bis hin zu Nietzsche einmalig. Unerforscht ist H.s Ausstrahlung auf Arnims poetisches Werk, doch scheint mir Arnims Romanfragment Die Kronenwächter (1817), gerade in der Zeit intensiver Befassung mit dem Elegischen und Satirischen im Hy-
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perion und dem Plan einer Ästhetik aus H.s Roman geschrieben, in vielem als geistreiche Übertragung von Hyperions idealischer Athen-Schwärmerei in die mittelalterlich-romantische Chimäre der kristallinen Kronenburg, während die grausame Realität der die eigenen Landsleute plündernden Räuberbanden Hyperions und Alabandas oder die im Scheltbrief geschilderte deutsche Misere sich in Arnims Burg Hohenstock oder der philiströsen Wirklichkeit der alten Stauferstadt »Waiblingen« und Bertholds Tuchfabrik in den Ruinen der Stauferburg spiegelt. Hyperion erscheint damit keinesfalls als der Einzige, aber als ein wichtiger Intertext der Kronenwächter. Joseph Görres war wohl derjenige, der Brentano auf das faszinierend romantische Lyrische mancher Texte H.s und Arnim auf das Politische im Elegischen des Hyperion hinwies, als man sich seit 1806 zur sogenannten Heidelberger Romantik traf. Nach schwärmerischer Begeisterung für die Französische Revolution und ernüchterter Enttäuschung durch die während eines Paris-Aufenthalts erlebte Realität veröffentlichte Görres, damals noch Gymnasiallehrer in Koblenz, 1804 anonym eine Rezension der 1. Auflage des Hyperion, in der er die politische Bedeutung des Romans durch den Vergleich mit dem illuminatistischen Geheimbund-Roman Dya-na-sore Wilhelm Friedrich Meyerns (1787/89) andeutete und in H.s. Werk die eigene Ernüchterung gespiegelt fand: »Wer je entrüstet war in seinem innersten Herzen über die Schlechtigkeit des Jahrhunderts, und die Verworfenheit der gezähmten und dressirten Menschen-Natur [...] – der wird in Hyperion einen Bruder grüßen, erstaunt wird er seine ganze Vergangenheit in ihm umarmen« (StA 7.4, 78 f.); Görres hat sogar die Veröffentlichung der Nachtgesänge in Wilmans’ Taschenbuch für Freundschaft und Liebe (s. Kap. 31) sogleich zur Kenntnis genommen und schließt seine Rezension: dort »schlägt ein Adler krampfhaft mit den geknickten Flügeln, die bösen Buben auf den Straßen hetzen ihn und jagen ihn, aber wer seine Zeit kennt, und ein Gemüth im Busen hat, sieht trauernd ihm nach, wenn er vorüberflattert, und noch immer zur Sonne hinan will« (ebd., 80). Bettine Brentano-Arnim lernte zwar H. nie persönlich kennen, hörte aber von Clemens Brentano und Achim von Arnim, vor allem von Isaak von Sinclair offenbar viel über den Kranken und studierte, vielleicht auf Sinclairs Veranlassung, die Sophokles-Übersetzungen und die Sophokles-Anmerkungen (s. Kap. 25, 27). Sie bildete sich ein hinreißend romantisches Konstrukt von H. und entfaltete es in ihrem Briefroman Die Günderode (1840): »Mir sind seine Sprüche wie Orakel-
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sprüche, die er als der Priester des Gottes im Wahnsinn ausruft, und gewiß ist alles Weltleben ihm gegenüber wahnsinnig, denn es begreift ihn nicht.« (StA 7.4, 199) Karoline von Woltmann meinte zwar: »Daß sein Wahnsinn eine phantastisch abstracte Bedeutsamkeit gehabt habe glaube ich nicht, Bettine träumt von dergleichen einen Modetraum, auch die Vorstellungen haben ihre Moden, die Literaturen; sie gehört zu diesen.« (StA 7.3, 462) Aber was Bettine über Sprache und Rhythmus schreibt, gehört, ob überliefert oder aus eindringendem Verstehen »diviniert«, zum Bedeutendsten, was über H.s späte Dichtung gesagt worden ist. Zum Beispiel lässt sie Sinclair H.s Worte berichten, »die Sprache bilde alles Denken, denn sie sei größer wie der Menschengeist, der sei ein Sclave nur der Spra che, und so lange sei der Geist im Menschen noch nicht der vollkommne, als die Sprache ihn nicht allei nig hervorrufe. Die Gesetze des Geistes aber seien me trisch, das fühle sich in der Sprache, sie werfe das Netz über den Geist, in dem gefangen, er das Göttliche aus sprechen müsse, und so lange der Dichter noch den Versaccent suche und nicht vom Rhythmus fortgeris sen werde, so lange habe seine Poesie noch keine Wahrheit, denn [...] das sei Poesie: daß eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, daß nur im Rhythmus seine Sprache liege.« (StA 7.4, 195)
So noch mehrere Stellen, mit denen Bettine schon Zeitgenossen faszinierte (z. B. Geibel, StA 7.3, 264 f.). Auch in ihrem Briefroman Ilius Pamphilius und die Ambrosia (1848) kommt sie auf H., wobei sie nun Waiblingers H.-Essay und ihren eigenen Roman Die Günderode zitiert. Mit Bettine Brentano, die 1811 Achim von Arnim heiratete, ist schon eine der Hauptgestalten der Berliner Romantik um Rahel und August Varnhagen von Ense genannt, wo H. zu den Hausgöttern zählte, wie schon anlässlich der Verbindungen zum Königsberger Kreis um Rosenkranz und Jung sichtbar wurde. H. war Varnhagen (1785–1858) durch den Hyperion zur »Erquickung« geworden (StA 7.2, 306), die literarische »Tollheit« der Sophokles-Übersetzung wollte er in seinem mit anderen Autoren verfassten Doppelroman Die Versuche und Hindernisse Karl’s (1809) mit einer Übersetzerfigur Wachholder parodieren, war aber dann froh, es unterlassen zu haben, als er 1808 von H.s tatsächlicher Geisteskrankheit erfuhr und von Kerner zu ihm geführt wurde (StA 7.2, 370 f.). Er setzte sich für die Werkausgabe ein und bekannte 1846: »So erstreckt sich mir die Wirkung dieses Namens über
mehr als vierzig Jahre!« (StA 7.3, 385) Aus Berlin kam überhaupt der entschiedenste Ruf nach einer Sammlung und Herausgabe der Gedichte H.s. Nicht nur suchte de la Motte Fouqué (1777–1843), von Hyperion begeistert wie so viele, Gedichte H.s zur Veröffentlichung zu erhalten und schwärmte: »Ein wahnsinniger Dichter erscheint mir ganz besonders furchtbar, und rührend, und geheiligt« (StA 7.2, 425 f.). Auch ein Leutnant von Diest (1791–1824) setzte sich, nun direkt bei Cotta, für eine Ausgabe ein; der Hyperion wurde 1822 neu herausgegeben – Fouqué hatte die Korrektur übernommen –, aber Cottas Gezerre wegen Honorar und Herausgeberschaft, die dann doch an den Berlinern vorbei von den Schwaben besorgt wurde, zögerte die Publikation der Gedichte bis 1826 hinaus. Da war Diest, der eigentliche Initiator, schon im Duell gefallen. In seinem letzten Brief an Cotta gestand er, mit seinem Einsatz »bloß eine alte heilige Schuld abzutragen. In meinem 14. Jahre kam mir zum erstenmal Hyperion zu Gesich te, er ergriff mich mit wunderbarer Gewalt [...], und ich darf sagen, daß wenn ich einige wahrhaft innere Bil dung besitze, ich sie lediglich ihm danke, einmal habe ich ihn ganz abgeschrieben und kann ihn fast wörtlich von Anfang bis zu Ende auswendig, allein wenn noch jetzt in so manchen Augenblicken die Prosa des Lebens mich hart bedrängt, so ergreife ich meinen Talismann und suche und finde Ruhe und Trost in seinen wunder baren Klängen.« (StA 7.2, 545)
Dieses Bekenntnis ist um so bemerkenswerter, als Diest den Aussagen seiner Bekannten nach ein draufgängerischer Raufbold gewesen sein soll.
54.5 Jungdeutsche und Realisten Hyperions Leiden an Deutschland war den Literaten des Jungen Deutschland und des Vormärz aus dem Herzen geschrieben, ihr Bild von H. durch den Scheltbrief bestimmt. Gustav Kühnes (1806–1888) Essay H. und sein Wahnsinn (1843) fingiert einen Besuch beim Kranken weitgehend nach Waiblingers Darstellung, untermischt mit z. T. nicht gekennzeichneten Zitaten aus dem Hyperion; für ihn erklärt sich H.s »Wahnsinn« aus der arroganten Ungenügsamkeit des Idealisten: »Da habt Ihr’s, da steht’s; in den glänzenden Stellen seines Buches, die Ihr bewundert, liegt sein Wahnsinn. An Deutschland’s Philisterthum und ihm gegenüber
54 Nachwirkungen in der Literatur am Hochmuth des Selbstgefühls ist er zu Grunde ge gangen. Die Vergötterung des Schönen ging Hand in Hand mit dem Gefühl der Verwesung des eigenen Volks und in diesem Gefühl der Unheilbarkeit des alten Jahrhunderts lag schon Wahnsinn. Wer dabei stehen blieb, in diesen Schacht sich grub, in seinem feuchten Moder schwelgte, war schon verloren für sich und sein Volk.« (StA 7.3, 159 f.)
Anders, wie angedeutet, Theodor Mundt (1808–1861) in seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart (1842), der aufgrund der sonst nur von Arnim beachteten und nur in der Erstpublikation vorliegenden Sophokles-Anmerkungen die »vaterländische Wendung« H.s bemerkt und als »Uebergang aus der classischen Bildung in ein nationales Literaturleben« zu deuten sucht: »Doch würde dieser Dichter, wäre er seines Geistes und seiner Richtungen Herr geblieben, vielleicht zu ei ner thatsächlicheren Gestaltung des modernen Geis tes gediehen sein, als die innerhalb des Reflexions standpunctes verbliebenen Romantiker. Wenigstens suchte sich H. mit Gewalt von der Reflexion zur That gestaltung loszuringen, wobei ihn aber die Wirklich keit, der er sich hingab, zerschmetterte und auf sich selbst zurückwarf, daß er in seinen eigenen Geist hi nein vergehen mußte.« (StA 7.3, 265)
Die Modernität H.s, dessen große Worte »noch so mächtig in den jugendlichen Gemüthern [zünden], als ob sie erst gestern gesprochen worden wären«, betont auch Georg Herwegh (1817–1875) in seinem Essay Ein Verschollener (1839): »Aus unsern jämmerlichen Zuständen, ehe noch unsere Schmach voll wurde, hat er sich in die heilige Nacht des Wahnsinns gerettet, er, der berufen war, uns voranzuschreiten, uns ein Schlachtlied zu singen. Ach! Er hat sich umsonst gewünscht zu fallen am Opferhügel, zu bluten des Herzens Blut fürs Vaterland!« (StA 7.3, 198) Hier erscheint H. zum ersten Mal als der Vorsänger eines Heldentods im Kampf um die vaterländische Befreiung, als der er in den zwei Weltkriegen so schlimm missbraucht wurde. Herweghs Sonett Hölderlin (StA 7.3, 506) meditiert über die Güte der Gottheit, die »ums Aug’ des Wahnsinns Binde [legte], Daß es nie sehe, was das Herz verloren«; mit Herweghs ungemein wirkungsmächtigen Gedichten eines Lebendigen (1841) und ihrer leidenschaftlichen Agitation für demokratische Freiheit wurde das Bild H.s als des genialen Vorkämpfers und Verkünders der politischen Umsetzung und
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Verwirklichung der göttlichen Instanz der »großen Mutter« (ebd.), der reinen Allnatur in die Freiheit der Gesellschaft verbreitet. Emanuel Geibel (1815–1884) dagegen, als bedeutendster Lyriker des 19. Jhs. gefeiert, fand zu »dem unglücklichen H.« über Bettine von Arnim, die ihm eine Hofmeisterstelle in Athen und damit eine Reise durch das »mit der Seele« gesuchte »Land der Griechen« ermöglicht hatte. Seine Vermutung, es müsse Bettines »Geist unbewußt von dem Geiste des ächten Griechenthums innig durchdrungen und befruchtet worden sein«, wurde ihm bei der Lektüre der H.-»Zitate« »über den Zauber und die Gewalt des Rhythmus« in der Günderode zur Gewissheit; wenn er dann H. »unsern deutschen Griechen« nennt, bedeutet das höchste Anerkennung von H.s Formkunst und poetischer Gewalt durch diesen Virtuosen aller, besonders auch der klassischen Formen (StA 7.3, 264 f.). 1841 ist ihm H. »Schwan von Hellas, schönheitstrunk’ner Hölderlin« (StA 7.3, 513); wie bedeutsam ihm die von Bettine überlieferte Theorie des Rhythmus war, zeigt der Schluss einer sapphischen Ode von 1863, in der er zwischen Klopstock und Platen H. als Wegbereiter klassischer Form gepriesen hatte: »Doch der inhaltschwere Gedanke wiegt sich/ Gern, der Ernst tiefsinniger Weltbetrachtung/ Auf der langsam rollenden, tongeschwellten/ Woge des Rhythmus.« (StA 7.3, 514) Geibel bekannte: »Nennt Epigonen uns immer! Ein Tor nur schämt sich des Namens,/ Der an die Pflicht ihn mahnt, würdig der Väter zu sein.« Er wollte »Das Schwerste klar und allen faßlich sagen«, was ihm oft als Trivialisierung ausgelegt wurde und es nicht selten auch war. Aber was die Zeitgenossen fesselte, war die Magie seiner Formkunst, die vom Volkston bis in die politische Propaganda alle Register zum Klingen brachte – eben jener Rhythmus, den Bettine ihm als H.s Poetik vermittelt hatte. Friedrich Hebbel (1813–1863) hielt Geibels Erfolg für eine Folge seiner Trivialität; seine eigene Beziehung zu H. ist deshalb gedanklich. Verwundert notiert er 1841: »Es ist mir auffallend, wie manche Gedanken und Anschauungen im Hyperion den meinen ähnlich, ja gleich sind. Ich wollt’ aus meinem Tagebuch zu Dutzenden die Beispiele heraus finden.« Sogar aus seinem Stück Judith zitiert er bis zur Wörtlichkeit gehende Übereinstimmungen, will aber H.s Roman erst nachträglich gelesen haben. H. als Denker wird um die Mitte des Jahrhunderts immer wichtiger, wurde ja auch 1846 eine umfangreichere und genauere Ausgabe vorgelegt und bot etwa den Lesern von Alexander Jungs H.-Buch eine Textgrundlage. Sogar ein popula-
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risierender »kulturhistorischer Roman« in zwei Bänden, Hölderlin (Leipzig 1862) von dem Vielschreiber Heribert Rau (1813–1876) konnte erscheinen; es war die Zeit, als der junge Nietzsche seinen Schulaufsatz über H. unter ausgiebiger Benutzung der anonymen Einleitung des H.-Bändchens der Taschenbuchreihe Moderne Klassiker (51859, nach Zuberbühler 1997, 106 f.) schrieb. Trotz solcher Popularisierungen muss man Nietzsche recht geben: seit den 1860er Jahren kannte ihn »die Mehrzahl seines Volkes kaum dem Namen nach«.
54.6 Ende 19. Jahrhundert und Jahrhundertwende Doch im »Ländle« pflegte man sein Gedächtnis. Der Bauer Christian Wagner (1835–1918), Naturdichter und Mystiker, orientierte sich in seinen Naturinterpretationen oft an H., um wie er die »Sprachen des Himmels« zu deuten und zu singen. Isolde Kurz (1853–1944) verlangte, gegen die Anempfindungen der Biographen und Vereinnahmungen durch Propagandisten, eine »Zone des Schweigens« um das Heiligtum seiner Dichtung zu legen (HJb 1948/49, 196). In seinem Roman Freund Hein (1902) schildert Emil Strauß (1866–1940) quasi autobiographisch das Jugenderlebnis seiner Erweckung zur Poesie und zur vaterländischen Heimat durch H.; er bildet durch seine Wendung zur Heimatkunst eine der Brücken zur nationalsozialistischen Vereinnahmung H.s, erhielt er doch während des 3. Reichs aufgrund seiner Unterstützung des nationalsozialistischen »Kampfbunds für deutsche Kultur« zahlreiche Ehrungen (s. Kap. 41). Er schrieb auch die Einleitung zur Pantheon-Ausgabe von H.s Gedichten (1913). – Hermann Hesse (1877– 1962) schreibt in seiner Nürnberger Reise (1927): »Es fiel mir der Augenblick wieder ein, der mich viel leicht zum Dichter hat werden lassen (obwohl ich auch vorher schon Verse gemacht hatte). Dies war so: in un serm Schullesebuch, das wir als zwölfjährige Latein schüler hatten, standen die üblichen Gedichte und Ge schichten [...], aber mitten zwischen diesen Sachen stand etwas anderes, etwas Wunderbares, ganz und gar Verzaubertes, das Schönste, was mir je im Leben begegnet war. Es war ein Gedicht von H., das Fragment Die Nacht. Oh, diese wenigen Verse, wie oft habe ich sie damals gelesen, und wie wunderbar und heimlich Glut und Bangigkeit weckend war dies Gefühl: das ist Dich tung! Das ist ein Dichter! Wie klang da, für mein Ohr
zum erstenmal, die Sprache meiner Mutter und mei nes Vaters so tief, so heilig, so gewaltig, wie schlug aus diesen unglaublichen Versen, die für mich Knaben oh ne eigentlichen Inhalt waren, die Magie des Seher tums, das Geheimnis der Dichtung mir entgegen! [Zi tat Brod und Wein V. 15–18] Nie mehr, so viel und so begeistert ich auch als Jüngling las, haben Dichterwor te mich so völlig bezaubert, wie diese damals den Kna ben.« (Ges. Schriften 1957, Bd. 4, 148)
Von da an wusste Hesse, dass er »Dichter oder garnichts werden« wolle und widersetzte sich bis zur Einlieferung in eine »Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische« den Ausbildungswünschen seiner Eltern – H.s Verse hatten ihm die bedingungslose Orientierung gegeben. In der Musik des Einsamen (1914) veröffentlichte er eine Ode an H., deren Schlussstrophe lautet: »Ach, und glühender brennt, wenn dein Lied uns entzückt,/ Schmerzlicher brennt nach der Vorzeit seligem Land,/ Nach den Tempeln der Griechen/ Unser ewiges Heimweh auf.« (ebd., Bd. 5, 580) Im Fabulierbuch findet sich, Waiblinger, Mörike und H. im Gartenhäuschen auf dem Tübinger Österberg vereinend, die Erzählung Im Presselschen Gartenhaus (ebd., Bd. 2, 851–84), wobei Waiblingers Bericht intensiv genutzt wurde. Ein bedeutender Versuch der Charakterisierung H.s als eines »echten Heros«, Beispiel für »ehrwürdige und gefährliche Versuche des Menschentums, sich zu veredeln«, unternimmt Hesse in dem Essay Über H. (1924): »Durch und durch ›sentimentalisch‹ wie Schiller, hat sein Verehrer und Schüler H. sich an der Forderung auf gerieben, die er sich selbst gestellt hat, er hat ein Bei spiel von Vergeistigung angestrebt, das im Versuch mißglückte. Und wenn wir H.s Dichtung betrachten, so finden wir, daß gerade jene Schillersche Geistigkeit, so edel sie ihm auch zu Gesicht steht, im Grunde seinem Wesen doch aufgezwungen war. Denn das, was wir in dieser herrlichen Dichtung als einzig und unnachahm lich verehren, ist weder ihre bewußte Meisterschaft, so hoch sie auch sei, noch ist es ihr ›Inhalt‹ von Gedanken, sondern es ist die ganz einzige, vom Schillerschen Vor bilde oft nahezu erdrückte Unterströmung von Musik, von rhythmischem und klanglichem Geheimnis. Diese wunderbare geheimnisvoll schöpferische Unterströ mung, im Unterbewußten wohnend, liegt in vielen Ge dichten H.s geradezu im Streit mit seinem bewußt ge pflegten Dichterideal, und an der Vergewaltigung die ser heimlichen und heiligen Schöpferkraft ist er zu grunde gegangen.« (ebd., Bd. 7, 278 f.)
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Dieser Charakterisierung liegt Diltheys H.-Essay und Nietzsches Opposition von Dionysischem und Apollinischem zugrunde, wohl aber auch die von Sinclair angeblich überlieferte Poetik des Rhythmus in der Günderode Bettine Brentanos – gut möglich, dass der von Hesse mehrfach als Pseudonym verwendete Name Sinclair auf H.s Freund zurückweist, der als erster seine ganze Größe erkannte und seine Wertschätzung vielen Zeitgenossen weitergab. Nicht nur im Schwäbischen regten sich gegen Ende des 19. Jhs. Freunde H.s. Rolf Zuberbühler hat in einer feinsinnigen und umsichtigen Studie nachgewiesen, dass in Fontanes Erstlingsroman Vor dem Sturm (1878) H.s Ode An die Parzen in den »Rang eines Leitmotivs« gehoben wird. »Dieses Leitmotiv wird mit den großen Themen und Handlungssträngen des Romans verbunden: Poesie, Liebe, Patriotismus. H.s Gedicht liefert Fontanes vaterländischem Roman also nichts Geringeres als den Grundgedanken, daß es nicht auf ein langes, sondern auf ein erfülltes Leben im Dienst einer ›Idee‹ ankommt« (Zuberbühler 1997, 71). – Eine ähnliche Erweckung durch H. wie Hesse berichtet Paul Ernst (1866–1933) in seinen Jugenderinnerungen. »Seine Gedichte haben mich auf das Tiefste aufgewühlt.« »So wurde mir H. der lyrische Dichter und nicht Goethe.« (HJb 1, 6) Ernsts Abwendung vom Naturalismus und Marxismus und Hinwendung zum Neuklassizismus (neuklassisches Triumvirat mit Wilhelm von Scholz und Samuel Lublinski in Weimar seit 1903) stand im Zeichen H.s; wie Scholz eine Bühnenfassung des Empedokles mit tiefgreifender Wirkung erarbeitete, so ist Ernst entscheidender Anreger der im Verlag Eugen Diederichs 1905 erschienenen Ausgabe, die nach Berthold Litzmanns Edition (1896) »für eine tiefere Erkenntnis der Werke und Persönlichkeit H.s von Wichtigkeit wurde« (Dichtung und Volkstum 43, 1943, 194). Wie hoch Ernst H. einschätzte, wird nicht so sehr aus seiner Novelle Hölderlin ersichtlich als aus dem in den Erdachten Gesprächen (1921) veröffentlichten Dialog zwischen den Seelen Schillers und Dostojewskis In der Ewigkeit, in dem H. singend als brennender Schmetterling vorüberfliegt und erkennt: »Ich bin Ich in allen Dingen./ Gott ist Flammen. Wir zusammen sind nicht Ganzes mehr und Stück,/ Ich bin Gott nun, und in Gott ruhn Leiden, Schaun und Tun als Glück.« In der Meditation über diesen Vollendeten lernt der im Sumpf watende Dostojewski auf festem Grund zu stehen, Schiller, der schon anfangs Boden unter den Füßen hat, lernt sich in die Luft zu erheben. Schiller erkennt:
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»Ich weiß, daß auch das deutsche Volk seine Pflicht nicht getan hat; ich weiß, daß auf mir die Schuld liegt. Die Deutschen hätten die Welt erlösen müssen; ich war nahe an dem befreienden Wort. Vielleicht hatte es von uns allen allein H. gefunden, und es war so schwer, daß es ihn vernichtete, daß er es nicht sagen konnte. Wir Deutschen sind schmachvoll zusammengebro chen, und dann war nur noch das russische Volk in der Welt, das den Heiland hervorbringen konnte. Aber nun habt auch ihr Russen versagt.« (Ausg. 1934, 317, 323)
Wie Paul Ernst gegen Ende seines Schaffens mit H. den Weg zurück in die Religiosität suchte, war auch für Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) H. ein Gewährsmann zunächst für einen elitären Neuklassizismus, der gleichwohl den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit H.-Zitierung vom Heilig Vaterland feierlich begrüßen konnte – in den Deutschen Oden (1909– 1913) wird H. oft als Begleitstimme gewählt. Während des Dritten Reichs schloss Schröder sich der Bekennenden Kirche an, um die Werte des Abendlands, die er in der Umdeutung des Christentums, der Humanität, des religiös fundierten Vaterlandsgedanken untergehen sah, zu bewahren. Damit änderte sich auch sein früheres H.-Bild. Der im Zusammenhang mit Pannwitz erwähnte Charon-Kreis um den Berliner Lyriker Otto zur Linde (1873–1938), Vorspiel des Expressionismus, suchte das Bewusstsein der Zeit durch Mythen zu verändern; H.s Griechenbild, das als Voraussetzung auch für Nietzsche verstanden wurde, galt als neuer rettender Mythos. Rudolf Paulsen (1883–1966), der sich mehrfach intensiv mit H. befasste und sich in Dichtung, Abhandlung und Essay häufig auf ihn bezog, konnte den Hyperion bruchlos in die nationalsozialistische Lehre überführen (s. Kap. 41): »Des Schwaben Hyperion hat uns gelehrt und lehrt uns immer aufs neue, wie Hellas deutsch zu sein vermag.« H.s Interpretation von Religion als »Liebe zur Schönheit« nennt Paulsen »völkisch und kerngesund« und lobt Hyperion dafür, dass er nicht Diotima, sondern Alabanda folgt: »Sein höchster Traum ist die Volksgemeinschaft und die Kameradschaft.« (Wocke 1943, 196–98) Die religiöse Neuromantik vertrat im Charon-Kreis und später als Herausgeber der Zeitschrift »Brücke« Karl Röttger (1877–1942), der seine bekenntnishafte Lyrik an H.s hymnischer Dichtung orientiert, wie überhaupt das hymnische Werk Gertrud von Le Forts (1876–1939) »ohne H. kaum zu denken« ist (HJb 1, 11); auch der Hymniker Ernst Droem (1880–1947), der mit Gesän-
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gen 1905 erstmals vortrat, sah in H. »den Gipfel der deutschen, ja der europäischen Lyrik« und bewunderte »die Tiefe der Vorstöße in das Ur-Anfängliche, in das Ur-Wesen des Dichterischen [...]. Als unsere Aufgabe betrachtet er es, das ›Ewige Eleusis‹ unserer Zeit wiederzufinden: Mahner, Führer auf diesem Wege ist ihm H., der im wirklich Urhaften Alt-Griechenlands Wurzelnde.« (Wocke 1943, 200 f.) Auch der Österreicher Max Mell (1882–1971) Freund Hofmannsthals, war schon als Jugendlicher von H. fasziniert – Beleg ist sein Gedicht Susette Gontard, den Hyperion lesend von 1903 – und machte vor allem die späten Gesänge für seine christlich grundierten, der Natur, der Heimat und den Werten der Tradition gewidmeten Dichtungen fruchtbar.
den letzten und höchsten Begriff seiner Philosophie – den Rhythmus des Lebens selbst« (zit. HJb 23, 59) und berührte damit das Zentralproblem Sprache, das Nietzsche mit seinen Überlegungen zur Metaphorizität aufgedeckt hatte. Es ist nach intensivem NietzscheStudium eines der Grundanliegen Hellingraths (s. Kap. 37), seiner Dissertation über die Pindarübertragungen H.s und der von ihm begonnenen H.Ausgabe, es ist nach Gottfried Benns (1886–1956) Analyse im Essay Expressionismus (1933) die reinste Ausdrucksform des Expressionistischen, das er als »Bestandteil aller Kunst« sieht: »Wir finden es bei Nietzsche, seine und ebenso H.s bruchstückartige Lyrik sind rein expressionistisch: Beladung des Worts, weniger Worte, mit einer ungeheuren Ansammlung schöpferischer Spannung, eigentlich mehr ein Ergreifen von Worten aus Spannung, und diese gänzlich mysWilhelm Diltheys (1833–1911) für das Sammelwerk tisch ergriffenen Worte leben dann weiter mit einer Das Erlebnis und die Dichtung (1906) neu geschriebereal unerklärbaren Macht der Suggestion.« (zit. nach ner H.-Essay mit der wechselseitigen Interpretation HJb 23, 68) Martens bestätigt: »In diese Schule eines Nietzsches und H.s auf der Basis von Diltheys Phispannungsgeladenen dichterischen Sprechens sind losophie des Lebens ist mit seinem von Martens dardie expressionistischen Autoren ganz offenbar gegangestellten Folgenreichtum schon genannt worden, gen; unmittelbare Anklänge oder Übernahmen H. Folgen einerseits für eine dem Lebensgefühl des Unscher Formulierungen lassen die Herkunft solcher tergangs und notwendigen Neubeginns entsprechenStrukturen bei Heym, Trakl, Stadler, Becher und viede zeitgenössische Auffassung H.s, andererseits für die len anderen in aller Deutlichkeit erkennen.« (ebd.) Vernachlässigung der geschichtsphilosophischen und Die große H.-Ausgabe Hellingraths (s. Kap. 37), die gegenwartsbezogenen Aspekte der Dichtung H.s. nach seinem Tod 1916 von Seebaß und Pigenot weiDiltheys Vergleichspunkte zwischen H., Byron, Leotergeführt wurde (s. Kap. 1), war nicht nur der editoripardi, Schopenhauer, Nietzsche – das geistesaristokrasche Ausdruck des George-Kreises, sondern gewann, tische Bewusstsein und die zerstörende Widrigkeit begleitet von Feldausgaben, H. ein breites Publikum der Lebensverhältnisse – wurden von den Expressiojunger Menschen, die ihn zunächst etwa mit der Ode nisten begierig aufgegriffen; H. mit seinem Schicksal Der Tod fürs Vaterland als sinngebende Instanz und wurde zum Mythos der in das Desaster des Krieges hiGaranten letzter geistiger Schönheit und seelischen neingezogenen und sehnsüchtig nach Führung suAdels in einer sich sinnlos und grässlich selbst zerstöchenden Jugend. Kasimir Edschmid (1890–1966) renden Welt lasen und die ihn nach dem Krieg in ihrer schrieb in seiner 1918 gehaltenen Rede Über die dichOrientierungslosigkeit als geistigen und religiösen terische deutsche Jugend: »Gibt es Literatur, wo die Führer brauchten. Hofmannsthal schrieb im 4. Brief Besten, so viele der Auserwählten, im Wahnsinn erst, an ›The Dial‹: »Diese junge Generation findet sich auf im Tod Erlösung fanden? Gibt es nicht die unsterbliden Trümmern einer Welt: nicht nur die politische chen Namen, den unsterblichsten Namen: H.? Ging Welt ist ihr ein Trümmerhaufen, sondern auch die darum nicht Georg Büchner in so frühen Tod, weil geistig-wissenschaftliche.« Neue Bindung, Ordnung, sein ungeheurer Anspruch vorbeizuckte an der Zeit? Sinn suche sie in »zwei Strömungen des Denkens und Verkam darum nicht Grabbe, verreckte nicht Lenz? Fühlens [...]: einer mehr christlichen oder mystischen, Stand nicht Hebbel wüst kämpfend gegen die Epoche, das Zusammenströmen aller Dinge in Gott erkennenschoß Kleist die Kugel nicht durch sein unauslöschden, sozusagen über dem Rationalen schwebenden, liches Leben? Ist nicht solches Schicksal, das ich anruund einer mehr antik, ja orientalisch heidnischen, fe, das Tragischste und Panische, die Tragik, die ich welche von der grandiosen Erfassung des sinnlichen beschwöre, wenn ich Nietzsches heiligen Namen nenLebens her zum Begriff des Schicksalhaften gelangt, ne?« (Über den Expressionismus in der Literatur und und die gleichsam unterhalb des Rationalen im dunkdie neue Dichtung 41919, 22, mit H.-Motto) H.s len Bett dahinströmt.« Zusammengeführt, ergäben sie Sprachrhythmus bezeichnete Dilthey als »Symbol für
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den Strom »einer neuen und nicht dogmatisierten, aber bebenden und pulsierenden Religiosität«, die viele junge Menschen der Zwanziger Jahre erfülle. »Es ist dies ein Zustand sozusagen vormessianischer Religiosität, und er hat sich auch einen Führer oder Vorläufer des Führers heraufbeschworen, nicht in Ge stalt eines Menschen von Fleisch und Blut, sondern in der Gestalt eines Toten, eines durch fast hundert Jahre von der Nation fast vergessenen geistig hohen Indivi duums, dessen geistige Präsenz und Gewalt über die sich um ihn scharende jetzige Generation eine so gro ße und besondere ist, daß man auch hier fast eher von einem religiösen Phänomen sprechen möchte als von einem bloß literarischen. Dieser durch den Drang einer ganzen Generation aus dem Grabe Gerufene, Wieder geborene ist der Dichter Friedrich Hölderlin.«
Hofmannsthal macht auf die Menge der Ausgaben aufmerksam, die »begierig vom Publikum aufgenommen« werden. »Merkwürdig genug ist es aber, zu denken, daß besonders die Strophen seiner letzten, vom Wahnsinn schon beschatteten produktiven Jahre, die jahrzehntelang für schlechthin unverständlich, ja einfach für sinnlose Produkte eines Wahnsinnigen galten, jetzt wirklich verstanden werden, und zwar nicht von Einzelnen sondern von Vielen, und daß ein unendlicher Gehalt sich von diesen sibyllinischen Blättern in die Herzen ergießt und ein solcher, der genau als einzig möglicher Trost für die gegenwärtige Stunde und Lage erscheint.« (Aufzeichnungen 1959, 310–313) Der Funktionswandel von H. als sinngebender Instanz im Krieg zu H. als Leit- und Führergestalt bei dem Entwurf einer neuen Ordnung der Wirklichkeit ist auch im Werk Rainer Maria Rilkes (1875–1926) zu beobachten. »Wie für George wird auch für Rilke im Ersten Weltkrieg H. zum Sprachrohr gegenwärtigster Erfahrung.« (HJb 16, 63) H.s Dichtung ermöglicht Rilke die Vollendung der Fünf Gesänge im August 1914; im Gedicht An H. (September 1914) spricht er aus: »Was, da ein solcher, Ewiger, war, mißtraun wir/ immer dem Irdischen noch? Statt am Vorläufigen ernst/ die Gefühle zu lernen für welche/ Neigung, künftig im Raum?« Mit H.s großen Elegien im Hintergrund wurden die Duineser Elegien 1912 begonnen und 1922 vollendet; es geht wieder um H.s Frage in Brod und Wein: »Wozu Dichter in dürftiger Zeit?«, nun unter den verschärften Bedingungen einer sich im Krieg zerstörenden und unter den Entwicklungen der modernen Wissenschaft und Technik sich in die Abstraktion entziehenden Wirklichkeit. Wie bei H.
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werden threnetische und paränetische Elegie zusammengeführt: Klage und Trauerarbeit bis zur Gewinnung neuen Lebensmuts einerseits, Suche nach Erkenntnis und Erarbeitung neuer Gewissheit andererseits. Eine der tragenden Ideen H.s, die Notwendigkeit von Trennung und leidvoller Individuation im Alleinen, bestimmt den Weg der Duineser Elegien von der Entstehung der Kunst aus der Klage (Ende 1. Elegie) bis zur Wanderung des Toten durch das Glück, die Sinnordnungen und den Reichtum des Leidlands in der 10. Elegie – Bild und Kunst gewordene Klage, in der der Lebende neuen Sinn findet. H. war für Rilke ein ähnlich bestürzendes Erlebnis wie einst für Brentano (vgl. HJb 1947/48, 176), aber ein Erlebnis, das Rilke nicht nur mit der poetischen Magie, sondern vielleicht erstmals mit der philosophischen Tiefe betraf, die die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus in Rilkes Werk auszeichnet.
54.7 Literatur der Nachkriegszeit Zur Vereinnahmung H.s im Nationalsozialismus (s. Kap. 41) muss hier nichts gesagt werden, auch nicht über Josef Weinheber (1892–1945), dessen ambivalente Beziehung zum Dritten Reich ihn nicht hinderte, zu H.s 100. Todestag 1943 eine Ode zu verfassen, deren nach Böschenstein »frevelhafter vaterländischer Kitsch sich arkadisch tarnt« (HJb 16, 67) und der im Übrigen in dem nicht selten apostrophierten und zitierten H. nur den Formkünstler erkennt. Weinhebers letztes, 1947 erschienenes Gedichtbändchen Hier ist das Wort stellt die Schlusspassage aus Patmos von der Pflege des Buchstabens und guten Deutung des Bestehenden als Motto voraus »Dem folgt deutscher Gesang.« und enthält ein Gedicht an H. in drei »Fassungen«: H.!, An H., An den Genius H.s (33–36). Von der Kriegsgeneration der Dichter konnte keiner so einfach und zynisch zur artistischen Tagesordnung übergehen. Günter Eich mit seinem in der Gefangenschaft geschriebenen Gedicht Latrine schockierte: »Über stinkendem Graben,/ Papier voll Blut und Urin,/ umschwirrt von funkelnden Fliegen,/ hocke ich in den Knien, [...] Irr mir im Ohre schallen/ Verse von Hölder lin./ In schneeiger Reinheit spiegeln/ Wolken sich im Urin. [...]«
Hier lässt sich Bestehendes schlecht deuten, und die Pflege des Buchstabens, die Verlässlichkeit des Worts
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wird durch den Reim von H. mit Urin aufs äußerste problematisiert. Die Schlussstrophe ist ganz exakt: »›Geh aber nun und grüße/ die schöne Garonne –‹/ Unter den schwankenden Füßen/ schwimmen die Wolken davon.« (Gnüg 1993, 9)
H.s Verse sind unverändert, zitierbar, wenn auch fragmentarisch und sarkastisch wenigstens den Wind anredend, aus dem umzäunten Lager Grüße an die schöne Garonne zu bestellen. Aber wie die gespiegelten Wolken weit oben und fern sind, ihre schneeige Reinheit im Ekelhaften sich spiegelt und mit ihm davonschwimmt, so sind auch H.s Verse ohne jeden Bezug zu der Realität des Gefangenen. Aber sie sind da wie die Wolken, bleiben rein, worin sie sich immer spiegeln, und ziehen als Träger der Hoffnung frei wie der angeredete Wind in Richtung der Landschaft des Andenkens. Man sieht hier: H. muss nicht mehr entdeckt werden, seine Verse sind bekannt ohne Buchvorlage und werden beim Leser als bekannt vorausgesetzt. Schwierig geworden ist der Umgang mit seinen Versen, wenigstens mit der hehren idealischen Art, wie man sie bisher interpretiert hatte. H. ist intertextuell markierbar geworden; der Autor kann (hier allerdings noch mit Namensnennung) annehmen, dass mit der Zitierung zweier Verse das Gesamtgedicht und das in den Schulen vermittelte Bild H.s beim Leser ins Andenken kommt – dieses Bild erweist sich jetzt als der gegebenen Elendsituation unangemessen und ohne wirksamen Trost für sie: die Lage, aber auch das Bild H.s begann sich, schon mit diesem Gedicht, zu ändern. Um dieses Bild geht es nun, das vereinnahmte und missbrauchte: »Hörst du Hölderlin noch? Kennst du ihn wieder, blut berauscht, kostümiert und Arm in Arm mit Baldur von Schirach?« »Und die Helden, die Hölderlinhelden, für die kein Tag zu hell und keine Schlacht schlimm genug war – wir wollen sie lieben um ihren gebrochenen Stolz, um ihr ungefärbtes heimliches Nachtwächter dasein.«
So schreibt Wolfgang Borchert (1921–1947) in Das ist unser Manifest. Und Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) fragt in Schaum (1960): »wohin mit dem/ was da sagt Hölderlin und meint himmler ...?« (HJb 16, 68) Oder er parodiert in landessprache (1960): »deutschland, mein land, unheilig herz der völker,/ ziemlich verrufen, von fall zu fall,/ unter allen gewöhnlichen leuten« (Gnüg 1993, 60). Bitterböse ist die Parodie Pe-
ter Rühmkorfs (1929–2008) Variation auf ›Gesang des Deutschen‹ von Friedrich Hölderlin (1962): Gegrüßt in deinem Glanze, mein Vaterland! Mit neuen Namen lockst du, mit Blust und Bluff, wenn das entbundene Fett als Flamme mächtig über die eigenen Ufer lodert. Noch schwillst du an von unterdrücktem Krieg, sinnest ein neu Gebild, das von dir zeuge, das, einzig wie du selbst, das aus Stroh geschaffen, goldene Körner treibt. Wo sind nun Dichter, die ein neu Gemythe auftuen diesem blauen Schlaraffenblick? Tausendgut – Güldenfett – Rosenschleck – Eselein deck dich, Deutschland, käufliche Mutter. (Gnüg 1993, 54)
H.s Ode wird hier nicht etwa selbst angegriffen, sondern dient durch die Titelangabe und die parodierten Zeilen als Maßstab, an dem die realen Zustände einer dem Profit und dem Wohlstand voll hingegebenen Gesellschaft gemessen werden. Dass auch H.s Ode nicht reale, sondern sehnsuchtsvoll antizipierte Zustände beschrieb und damit ebenfalls einen Maßstab an die Gegenwart legte – »Wo ist dein Delos, wo dein Olympia?« – kommt nur in sarkastischen Parodien zum Ausdruck wie: »Du Land, chromblinzelnd, wo man die Meinung verzieht/ bei stillem Anteil, bin ich der deine schon?« Während H. fragt: »Du Land der Liebe! Bin ich der deine schon«, prüft sich das sprechende Ich hier, wie weit es schon korrumpiert ist durch die Zustände, die es zu beschimpfen und satirisch anzugreifen im Begriff ist. Interessant und für die Folgezeit in den 1960er Jahren ist jedenfalls, dass hier, bei Rühmkorf wie bei Enzensberger, mit dem Gesang des Deutschen der politische Realutopist H. – in der Naherwartung der »Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten« hat er sich und seine Aufgabe ja bis in die letzte Homburger Zeit hinein verstanden (s. Kap. 2 und 36) – ins Blickfeld einer wenn auch bitter enttäuschten Satire auf die Bundesrepublik der Adenauer-Ära gerückt wird. Dass der Wiederaufbau nach der Stunde Null nur ein besinnungslos materieller gewesen war, machte gerade H. wieder zum heimlichen Sprecher und Maßstabgeber derer, die Besinnung und Gesinnung statt einer nur am ökonomischen Profit orientierten Form gesellschaftlicher ›Rationalität‹ forderten. Hinzu kommt, wie es Enzensberger mehrfach lesbar formuliert: »meine zwei länder und ich, wir sind
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geschiedene leute,/ und doch bin ich inständig hier,/ in asche und sack, und frage mich:/ was habe ich hier verloren?« (Gnüg 1993, 60) Eine Lesung deutet auf die Teilung Deutschlands, die sich auch auf die Rezeption H.s ausgewirkt hat. Der Beginn der H.-Wirkung in der DDR zögert lange, sieht man von Johannes R. Bechers (1891–1958) Fortführung früherer Anmessungen seines eigenen Dichtens an H.s »Schönheit der Sprache« und seine politisch-revolutionäre Intention ab, deren Vermittlung bei H. zu erfassen und in der eigenen Dichtung zu leisten Becher jedoch versagt blieb. Brecht hatte schon 1947, frühere Pläne verfolgend, in seine Antigone-Bearbeitung Passagen aus H.s Übersetzung eingebaut, betroffen von H.s »erstaunlicher Radikalität« (zit. HJb 16, 67 f.). Die poetische Aneignung H.s beginnt in den 1960er Jahren mit mehreren Arbeiten Johannes Bobrowskis (1917–1965), z. B. dem in seiner Zweiteiligkeit an H.s Hälfte des Lebens orientierten Gedicht H. in Tübingen (1961/62), das die Natur von Bäumen und Fluss, Licht und Schatten gegen die Kunst von Turm und schweren Mauern, Glocke, Uhr und eisernen Fahnen setzt, deren »Drehn« den Versuch überwiegt, »zu wiegen/ beides in einer Hand« (Gnüg 1993, 76). Ins Philosophische und Politische weist die Erzählung Boehlendorff (1965), die zwar H.s Freund und dessen Rückkehr als geistig Verwirrter in die baltische Heimat ins Zentrum stellt, jedoch die Theorien des Mythos in H.s Fragment Über Religion (s. Kap. 24) und im Ältesten Systemprogramm als philosophische Grundlage nutzt, ohne allerdings die radikal verschiedenen Theorieansätze zu trennen. Die Zentralfrage der Figur Boehlendorff ist: »Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?«, also ein Zitat aus dem ›Systemprogramm‹, in dem der Mythos nur eine gesellschaftliche Funktion als Katalysator für die Begegnung zwischen Philosophen und Volk, absoluter Forderung der Sittlichkeit und bestehender Wirklichkeit hat. Die offiziell behauptete Vermittlung dieses Widerspruchs im sich auf den Kommunismus zu entwickelnden Gesellschaftssystem der DDR, so kann man aus der mehrfachen Metaphorisierung lesen, lässt sich im individuellen Leben des Dichters nicht verwirklichen; er verliert sich im Versuch, Idee und Wirklichkeit zusammen zu leben. Den geistig Verwirrten akzeptiert das einfache Volk der baltischen Dörfer als guten Menschen – mythische Einlösung der Mythostheorie des ›Systemprogramms‹ und Mythisierung H.s. Aus dessen ›Religion‹-Aufsatz wird zwar zitiert, aber nicht die weit komplexere, die Poetizität aller Religion und die Vergesellschaftung der Religionsvorstellungen aufgrund gemeinsam in Freiheit erfahrener Le-
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benssphären herleitende Mythostheorie, die einen nicht zu überbrückenden Gegensatz zur DDR-Ideologie gebildet hätte. Paul Celans (1920–1970) berühmtes Gedicht Tübingen, Jänner (1963; Gnüg 1993, 89) gedenkt des Gedenkens an H. anlässlich eines Besuchs in Tübingen; das sprechende Ich stellt sich in einer Paradoxie des Sprechens dar, das mit einer »tauschenden«, Gemeintes nicht mehr sagenden Sprache nur noch lallen könnte, hätte es prophetische Weisheit der »Patriarchen« des Alten Testaments zu sagen. Deshalb hat das Ich die Augen vor der realen Welt verschlossen, sie sind »Zur Blindheit über-/ redete Augen.«, zuge schwatzt von einer Sprache, die im scheinbaren Benennen die Wirklichkeit verändert. Hinter den Augenlidern erscheint das Bild, die erinnernde Spiegelung des H.turms auf der Wasserfläche des Neckars, und erst diese Erinnerung hat die Wahrheit, aus der auch der Patriarch mit dem »Lichtbart« sprechen würde; mit dem Zitat »Ein Rätsel ist Reinentsprungenes« aus dem Rhein wird sie als aus heiligem Ursprung kommend erkannt. Das Sprechen aber über diese Erinnerung und schon das Erinnern verändert das Beobachtbare und Historische »möwen-/ umschwirrt«, »Besuche ertrunkener Schreiner« –, muss im argumentativen Zusammenhang mehrfach ansetzen und endet wie das Reden des vorgestellten Weisheitslehrers im Lallen. Die Schlusszeile »(»Pallaksch, Pallaksch.«)« zitiert H.s unverständliche Kunstwörter aus der Turmzeit nach Waiblingers Bericht: Sprache und Sprachverweigerung, lallendes Sprechen eines Menschen, der, wie die Turmgedichte und die Berichte über seine kommunikativen Reaktionen belegen, zum Gebrauch lexikalisch korrekter Wörter durchaus in der Lage war (s. Kap. 7). Damit wird einerseits H.s Gebrauch dieser Kunstwörter in Analogie zu der Sprachnot des sprechenden Ich gesetzt und als vergleichbar lallendes Sprechen in einer unzuverlässigen Sprache erklärt, andererseits wird verständlich, warum das sprechende Ich seine Not gerade anlässlich seines Besuchs in Tübingen artikuliert. H. ist hier in einer der tiefsinnigsten, da an die Wurzeln seiner Sprachphilosophie und Poetik (s. Kap. 19) etwa in der ›Verfahrungsweise‹ reichenden Argumentation verstanden, in seinem Fortsprechen und -dichten in der Turmzeit gedeutet und auf die Situation eines Dichters »heute«, etwa nach den traumatischen Erfahrungen Celans, vorausdeutend bezogen. Welch eminente Bedeutung H. für Celan hatte, verdeutlicht das 1959 entstandene, aber erst 1997 aus dem Nachlass publizierte Gedicht Wolfsbohne (vgl. jetzt: Celan 2018, 419–421, 1071–
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1074), eines seiner autobiographischsten, dem er als Motto neben einem Zitat aus Jean Pauls Kampaner Tal die Verse »... o/ Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird/ Untrügbarer Kristall, an dem/ Das Licht sich prüfet, wenn Deutschland« mit dem Nachweis »Hölderlin, Vom Abgrund nämlich ...« voranstellt (vgl. Celan 2018, 419; vgl. StA 2.1, 250/51). Die Tübingen, Jänner implizierte Vermutung, H.s Verhalten im Turm sei bewusst gewählte Maske, war schon von Bettine Brentano geäußert und etwa von Trakl wiederholt worden. Sie erhielt gewaltigen Vorschub durch die Arbeiten von Pierre Bertaux über H. und die Französische Revolution (HJb 15 und als Suhrkamp-Band Frankfurt a. M. 1969) (s. Kap. 43). Sie machten H. zur Identifikationsfigur für die 68er-»Revolutionäre« in der BRD und, affirmativ oder subversiv, für die Kulturschaffenden im Staat der vollendeten Revolution. Folgerichtig erschien er vergegenwärtigt in Hörspiel, Drama und Film: Stephan Hermlin (1915–1997) schrieb 1969 das Hörspiel Scardanelli, in dem er den Dichter als Produkt seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit und, da er ihre Widersprüche zu prononciert artikuliert, als Objekt ihrer zerstörerischen Aggressivität darstellt. Die von Hermlin eingeführte Figur »Waiblinger« zitiert ausführlich aus Waiblingers Bericht und liefert Material für die materialistische Pointierung der Erklärung. – Peter Weiss (1916–1982) schrieb 1971 sein Drama H. in Annäherung an Paul Ernsts Erdachte Gespräche, werden doch Gespräche nicht nur mit Zeitgenossen wie Goethe und Schiller, sondern auch mit Nachgeborenen wie Marx erfunden. H. wird hier als utopischer Revolutionär dargestellt, der seine Idee von einer humanen Gesellschaft nicht durch den Kompromiss mit einer unvollkommenen Wirklichkeit verunreinigen will und bewusst das Scheitern seiner poetischen Mission auf sich nimmt. Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist das Stück mangelhaft, da es die eigentlich der vertieften Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit gewidmete Periode der späten Gesänge ausspart und H. ganz schnell im Turm als Flucht- und Schutzraum verschwinden lässt. Dennoch werde er, so Weiss, »den nach ihm Kommenden/ zum VorBild«, die dann die von ihm gar nicht versuchte Revolution durchführen. Marx steht dafür ein, dass diese magische Umsetzung des bloßen revolutionären Gedankens in soziale Realität stattfindet. Neben den problematischen Behauptungen eines über die Stiftszeit (s. Kap. 3) hinausreichenden Jakobinertums und einer bloß simulierten Krankheit ist die gänzlich unmarxistische, weil undialektische und auch dem Vermittlungsbemühen H.s
zuwiderlaufende Geschichts- und Wirklichkeitsscheu der H.-Figur ein fundamentaler Mangel des Stücks. Ungleich differenzierter argumentiert Martin Walser (geb. 1927) in seiner Rede Hölderlin zu entsprechen (1970). Auch er folgt Bertaux’ Jakobinerthese, stellt jedoch die Frage, wie revolutionäre Dichtung möglich ist, wie Dichtung und gesellschaftliche Wirklichkeit zu vermitteln sind, wie der Dichter in diese Wirklichkeit verändernd eingreifen kann. Walsers großes Thema der Erinnerung wird in dem autobiographischen Essay Hölderlin auf dem Dachboden (1961) angeschlagen. Erinnerung, Gedächtnis, Vorstellung, erdachtes Gespräch ist auch die Quelle des Romans Hölderlin von Peter Härtling (1933–2017): » – ich schreibe keine Biographie. Ich schreibe vielleicht eine Annäherung. Ich schreibe von jemanden, den ich nur aus seinen Gedichten, Briefen, aus seiner Prosa, aus vielen anderen Zeugnissen kenne. [...] Ich bemühe mich, auf Wirklichkeiten zu stoßen. Ich weiß, es sind eher meine als seine. Ich kann ihn nur finden, erfinden, indem ich mein Gedächtnis mit den überlieferten Er innerungen verbünde. Ich übertrage vielfach Mit geteiltes in einen Zusammenhang, den allein ich schaffe. Sein Leben hat sich niedergeschlagen in Poesie und in Daten. Wie er geatmet hat, weiß ich nicht. Ich muß es mir vorstellen.« (Härtling 1976, 7)
Aber die Vorstellungen sind exakt, beruhen auf Recherche und Plausibilisierung: »Aber diese Geschichte [mit Wilhelmine Marianne Kirms] kann ich so nicht beginnen, weil ich hinein reden, zum ersten Mal die Undeutlichkeiten und die Vielfalt der Überlieferungen und der Kommentare aus breiten und beklagen muß. Da ich an dieser Figur an schaulich vorführen kann, wie und zu welcher Ge schichte ich mich entscheide.« (ebd., 284)
Härtling entscheidet sich vor allem für Geschichten und bekennt in einer allerdings problematischen Engführung zwischen Erzähler, erzählter Figur und dem sprechenden Ich der Gedichte: »Ich kann nicht ohne Einwurf weiterschreiben, denn ich merke, daß ich von seiner Gestalt immer mehr mitgenommen werde, daß der Abstand zwischen ihr und dem Erzähler kleiner wird. [...] Ich erläutere nicht seine Gedichte, sondern mit seinen Gedichten allenfalls sein Leben.« (ebd., 461–63) Es ist also zugleich ein Roman des Erzählens über H., ein Roman, der nicht den Philosophen und wenig den Dichter schwieriger Texte, wohl aber den
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Menschen H. und seine rätselvollen Lebenswendungen verstehend zu rekonstruieren sucht. Pierre Bertaux hat mir nicht lang vor seinem Tod eröffnet, es sei ihm weniger wichtig, ob seine Thesen über H.s Jakobinertum und vorgetäuschten Wahnsinn stimmten, als dass man über H. nicht aufhöre zu reden; das hat er geleistet. Die H.-Forschung in Editorik, Literaturwissenschaft und Philosophiegeschichte ist nicht nur ihrem Umfang nach, sondern auch dadurch herausragend, dass sie ihren Gegenstand nicht antiquarisch behandelt, vielmehr ständig neue, avancierteste Methoden fordernde und die Gegenwart über sich selbst aufklärende Aspekte seiner Dichtung und Philosophie herausarbeitet. Hölderlin und die Moderne, ein von G. Kurz, V. Lawitschka und J. Wertheimer herausgegebener Sammelband (1995), bestätigt das schon im Titel. Seit Bertaux H. ins Gespräch einer ganzen Generation gebracht hat, ist er auch bei Dichtern und Literaten zum selbstverständlichen Subtext und Autor der Vorverständigung geworden, wo eine leise Anspielung genügt, um ganze Hall-Räume an Sinn und Bedeutung zu eröffnen. So, wenn Volker Braun in seinem Gedicht Prag, auf die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings anspielend, schon »Überrollt und blühend aus meinem Mund« in Klammern hinzufügt: »(Freunde, die ihr mit mir lebt, redet, freßt -/ Menschen seh ich, keine Handwerker -/ Fahrt aus aus den Rissen der Zeit [...]«, dann spielt er an auf Hyperions Scheltbrief: »Handwerker siehst du, aber keine Menschen« (StA 3, 153): mit dieser den Wortlaut invertierenden Markierung des ganzen Hyperion und H.s Leiden an seiner menschenzerstörenden Gesellschaft benennt Braun das momenthafte Aufleuchten ganzer Menschheit, damit die Überwindung des von H. beklagten Zustands moderner Entfremdung, und zugleich die brutale Zerstörung des momentan beglückende, erfüllte Wirklichkeit gewordenen Traums. Oder Paul Wühr (1927–2016), der in Um uns atmet (in Rede, 1979/1990) Dichtermuth (1. Fassung) und Blödigkeit der Selbstverständigung der eigenen Gegenwart anverwandelt.
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Wolf Biermann, Johannes Bobrowski, Erich Fried, Uwe Kolbe, Heiner Müller, Wolf Wondratschek, Friederike Mayröcker, Elfriede Jelinek, Christa Wolf, Sarah Kirsch, Annette Kolb, Peter Handke, Hubert Fichte, Robert Gernhardt, Kurt Marti – man müsste unter den zeitgenössischen Dichtern und Literaten eher eine Negativliste derer anfertigen, die sich nicht kürzer oder ausführlicher, poetisch oder essayistisch zu H. geäußert und sich mit ihm auseinandergesetzt haben, nachdem ihn Bertaux auf seine Weise ins Gespräch gebracht und ihn endgültig zum »Dichter der Dichter« gemacht hat. Die Internationale Hölderlin-Bibliographie verzeichnet seit 2002 ca. 2000 Gedichte an H. Literatur
Böckmann, Paul (Hg.): Hymnische Dichtung im Umkreis H.s. Eine Anthologie, Tübingen 1965. Celan, Paul: Die Gedichte. Neue komm. Gesamtausgabe. Hg. u. komm. v. Barbara Wiedemann, Berlin 2018. Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe [HKA], hg. v. Winfried Woesler, Tübingen 1987. Figal, Günter: Kunst: philosophische Abhandlungen, Tübingen 2014, 128–139. Gaier, Ulrich: Die historischen Balladen der schwäbischen Schule, in: Woesler, Winfried (Hg.): Ballade und Historismus. Die Geschichtsballade des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2000, 35–62. Gaier, Ulrich: Begleitstimmen. Annette von Droste-Hülshoffs Umgang mit literarischen Anregungen, in: DrosteJahrbuch 3, 1991–1996, 19–34. Gnüg, Hiltrud (Hg.): An H. Zeitgenössische Gedichte, Stuttgart 1993. Hötzer, Ulrich: Mörike und H. Verehrung und Verweigerung, in HJb 24, Tübingen 1987, 167–70. Jamme, Christoph/Helmut Schneider: Mythologie der Vernunft. Hegels Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1984. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988. Wocke, Helmut: Nachwirkungen H.s in der deutschen Dichtung der Gegenwart. Zu H.s 100. Todestag, in: Dichtung und Volkstum 43 (1943), 193–211. Zuberbühler, Rolf: Fontane und H. Romantik-Auffassung und H.-Bild in Vor dem Sturm, Tübingen 1997.
Ulrich Gaier
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55 Nachwirkungen auf der Bühne H.s Theatertexte (Empedokles-Bruchstücke, entst. 1797–1800) und -Übersetzungen (Ödipus der Tyrann; Antigonä, Druck 1804) wurden erst Anfang des 20. Jahrhunderts uraufgeführt. Als 1916 in Stuttgart Der Tod des Empedokles Premiere hatte (Bearbeitung und Einrichtung: Wilhelm Scholz), blickten die Trauerspielbruchstücke bereits auf 100 Jahre Rezeption (bei Achim von Arnim, Friedrich Nietzsche, Rudolf Pannwitz, Wilhelm Dilthey u. a.). Vollendungspläne, Fortschreibeversuche und Nacheifer-Ambitionen, die bis dahin keine bühnenreifen Ergebnisse gezeitigt hatten, bestimmten noch jahrzehntelang die dramatische und theatralische Nachwirkung des editorisch erst spät gesicherten, lange als bühnenunreif gescholtenen Empedokles (s. Kap. 22); dabei spielten neben dem Interesse für den vorsokratischen Philosophen und einem besonderen Antike-Bild die formale Faszination des Unvollendeten bzw. Offenen einerseits und die thematische des Vermessenen/Opferfreudigen bzw. Vulkanischen/Revolutionären andererseits mit. Bei Antigonä (UA Zürich 1919, R. Josef Danegger) und Ödipus der Tyrann (UA Köln 1921, Regie: Otto Liebscher) erwiesen sich die unerhörte sprachliche Beschaffenheit und das im Sinne einer ›Überwindung des Klassizismus‹ neuentworfene Antike-ModerneVerhältnis als die (nicht immer gleich präsenten) Hauptmotoren der produktiven Rezeption, bei der H.s Übersetzungen und Anmerkungen spät, aber massiv als für die jeweilige Gegenwart adäquate Wege in das Altertum und wieder zurück entdeckt wurden. Erklärt sich die Ankunft auf der Sprechbühne in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch philologische und interpretatorische (Norbert von Hellingrath), philosophische (Walter Benjamin) und literarischtheatralische (Vor-)Arbeit (in expressionistischen Kreisen, etwa bei Walter Hasenclever und Albert Ehrenstein wie auch beim Regisseur Richard Weichert), so lassen sich selbst im spärlich gesäten Feld der Rezeption der Sophokles-Übersetzungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert auffallende Vorwegnahmen aufspüren. Bereits Bettina von Arnim bearbeitete (und vertonte höchstwahrscheinlich) H.s Übersetzung eines Ödipus-Chors (Die Günderode, 1840); ihre ekstatischen Rhythmus-Beschwörungen und romantischen Apotheosen des Dichterleidens sollten bis in die ›H.Renaissance‹ und weiterhin nachwirken. Als 1904 Ernst Hardts Stück Der Kampf ums Rosenrote in Hannover uraufgeführt wurde, kam gleichzeitig H.s Übersetzungssprache zur allersten performativen Wirkung
auf einer Bühne: Ausgerechnet als Kunststück für einen angehenden Schauspieler (die Hauptfigur Vult) ertönt gleich in der ersten Szene eine Passage aus H.s Ödipus-Übersetzung, kurz darauf noch eine zweite und letzte. Sowohl in der Stückfiktion als auch im Spiel mit den Publikumserwartungen diente hier H.s unerhörte Sprache zum Bühneneffekt. Hardts Stück ist auch in anderer Hinsicht für die Bühnenrezeption H.s um 1900 und für deren Wurzeln im vorigen Jahrhundert von Bedeutung, denn die Figur des Dichters selbst, seine ›unglückliche‹ Lebensund sogar Rezeptionsgeschichte stehen im Mittelpunkt von Handlung und intendierter Wirkung. Klischeehaft umrissene Liebesleiden und (dadurch erklärte) Wahnsinnserscheinungen sowie inszenierte ›Vergessenheit‹ und ›Wiederentdeckung‹ des Dichters prägen die Präsenz H.s in der Figurenrede und entsprechen etwas reißerisch – anders als die Exotik der laut gesprochenen Zitate aus dem Ödipus – dem Erwartungshorizont des damaligen Publikumsgeschmacks. Somit knüpft Hardt an die anekdotische Biographik und pseudobiographische Prosa des 19. Jahrhunderts, indirekt aber auch an Feodor Wehls weniger bekannten Verseinakter Hölderlin’s Liebe an – eine Art Tasso-Kontrafaktur aus dem Jahr 1850, bei deren Dresdner Uraufführung 1852 Emil Devrient die Titelrolle gespielt hatte und die Karriere H.s als Bühnenfigur im deutschsprachigen Theater ein knappes Jahrzehnt nach dem Tod des historischen Dichters inauguriert wurde. Das Dichterdrama stellt nicht nur die erste, und lange die einzige, Form von H.s Bühnenpräsenz, sondern auch eine rezeptionsge schichtlich immer wiederkehrende Aneignungsmöglichkeit für die jeweilige Epoche, Ästhetik, Ideologie dar; dabei wird die mehr oder weniger akkurate Lebens- und Kontextrekonstruktion oft durch Zitate aus Briefen und Werken H.s bzw. seiner Wegbegleiter angereichert. Insgesamt spielt die Anknüpfung an H.s Lebensgeschichte und an den historischen Zusammenhang, eventuell mit deutlichem Aktualisierungsangebot an das jeweilige Publikum, eine nicht wegzudenkende Rolle in vielen H.-Bearbeitungen und vor allem -Inszenierungen, wobei sich insbesondere der Empedokles durch Figurenkonstellation und Themenkreise als geradezu prädestiniert erweist. Durch Rekurs auf H.s Prosa bzw. Lyrik entworfene Dramaturgien, szenisch-performative H.-Projekte und selbst Ödipusund Antigonä-Inszenierungen sind allerdings ebenso alles andere als dagegen immun. So verzichtete auch das Theater zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit, um den historischen Überblick über die Bühnenrezeption wieder-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_55
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aufzugreifen, auf ›sein‹ Dichterdrama nicht (die Szenen aus einem Schicksal des Österreichers Walther Eidlitz wurden 1917 verfasst und 1919 in Berlin uraufgeführt). Performative Darbietungen zwischen Lesung und Aufführung wurden 1920 durch den 150. Geburtstag des Dichters begünstigt; im selben Jubiläumsjahr kam Scholzens Empedokles-Bearbeitung deutschlandweit in fünf unterschiedlichen Inszenierungen auf die Bühne (auch durch bedeutende Regisseure wie Richard Weichert). Als Höhe- und gleichzeitig Schlusspunkt von H.s Bühnenrezeption in der Weimarer Republik gelten die drei Darmstädter Inszenierungen von Wilhelm Michels Ödipus(1922), Antigonä- (1923) und Empedokles-Bearbeitungen (1926). Letzterer lag eine sich als explizit behutsam (d. h. anti-scholzisch) ausgebende Adaption der ›ersten Fassung‹ zugrunde, die allerdings Partien aus der ›dritten‹ einarbeitete; Intendant Ernst Legal inszenierte sie recht nüchtern, damit dem auf Stilisierung, Harmonisierung und Heroisierung hinzielenden Zurechtstutzen des Bearbeiters entsprechend. Auch die vorangegangenen Sophokles-Inszenierungen, für die Ernst Keller als Regisseur verantwortlich zeichnete, zeugen von der Intention Michels, H.s Sprachkunstwerke wie ein Heiligtum zu betreten, zumal in diesem Fall anders als beim fragmentarisch vorliegenden Empedokles keine makrostrukturellen Eingriffe nötig sind. Hier bewirkt der pathetisch-sakrale Gestus Michels, der durch eigene Essays und publizistische Interventionen die entsprechende Rezeptionshaltung bei Publikum und Kritik steuerte, eine noch ausgeprägter behutsam-konservative Idealisierung, welche durch szenische Mittel in Richtung Abstraktion nur bestärkt wurde. Die somit eingeleitete Wende zur »Betonung des Erlebnisses, der strengen Form, des Sakralen, des Rituellen, des Archaisch-Mythischen, der Begegnung von Mensch und Gott« in der kritischen wie inszenatorischen Rezeption der griechischen Tragödie (Flashar 1991, 146) mag auch die Resonanz der Darmstädter H.-Inszenierungen erklären, die oft als die ›eigentlichen‹ Uraufführungen bezeichnet wurden (in belasteten Rekonstruktionen auch aus ideologischen und rassistischen Gründen, vgl. Kindermann 1943). Was die Beteiligung H.s am regen Bühnenleben der Weimarer Republik angeht, bedeuteten sie allerdings das Aus. In den zehn Jahren, die zwischen den Uraufführungen von Scholzens (1916) und Michels (1926) Empedokles-Bearbeitungen liegen, hat der insgesamt neunzehnmal inszenierte H. es demnach nicht bis ins feste Repertoire gebracht. Dazu mag der Umstand beigetragen haben,
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dass sich bis auf wenige Ausnahmen im Expressionismus die Bühnenrezeption hauptsächlich in konservativen bis deutschnationalen Kreisen entfaltete, während das Spektrum der damaligen H.-Bilder bei marxistisch bzw. progressiv orientierten Schriftstellern und Regisseuren von der strikten Ablehnung Erwin Piscators bis zu Alfred Döblins verhaltener Begeisterung reichte. Als Anfang 1933 die Inszenierung der Heiligen Johanna der Schlachthöfe aufgrund antibrechtscher Kampagnen verhindert wurde, verfloss die allerletzte Möglichkeit, im Theater der Weimarer Republik Textbruchstücke H.s auf einer Bühne zu hören – in Brechts Stück diente allerdings die Parodie von Hyperions Schicksaalslied nur noch zur Anprangerung von kapitalistischen Erscheinungen und sie rechtfertigender Überhöhung der menschlich bedingten Vorgänge ins Schicksalhafte. H.-Inszenierungen waren zuerst auch in den Spielplänen der gleichgeschalteten Theater im NS-Deutschland nicht aufzufinden, obwohl der Dichter von Anfang an für die Propaganda mobilisiert wurde und dessen Rezeption (auch in vermeintlich apolitischen bzw. regimefernen Kreisen sowie auf internationaler Ebene) eine Steigerung erfuhr – in Edition und Forschung, Philosophie und Publizistik, Übersetzung und produktiver Aneignung. Umso auffallender ist der braune Aufmarsch von H.- und insbesondere Empedokles-Inszenierungen zwischen 1938 und 1944. Den Auftakt gab Peter Smolny, der die eigene, später mehrfach wiederaufgenommene Bearbeitung 1938 in Leipzig leitete; eine ungefähre Zählung kommt auf über zwanzig neue Empedokles-Inszenierungen und -Reprisen bis zur Theaterschließung. Um den 100. Todestag am 7. Juni 1943 herum, den Höhepunkt der NS-Instrumentalisierung H.s, wird Empedokles zur Galionsfigur des Opfers im Zeichen des ›totalen Krieges‹ verzerrt. Versuche, sich ins Philologisch-Nüchterne (Georg Seidler 1939 in Göttingen) bzw. Apolitisch-Abstrakte (Günther Hadank 1942 in Berlin) zu flüchten oder gar verhüllt Gegenakzente zu setzen (Heinz Hilpert 1943 in Wien), wurden spätestens durch das offizielle Raunen der Presse zum Schweigen gebracht – maßgebend waren das monumentalisierend-heroisierende Pathos eines Smolny und die Anbindung an die ›deutsche Schicksalsfrage‹ (s. Kap. 41). Freiräume im Rahmen der verbreiteten Inanspruchnahme des Dichters waren auch bei den selteneren Einstudierungen beider Sophokles-Übersetzungen kaum zu finden. Von hohem künstlerischem Niveau war die Wiener Antigonä-Inszenierung von Lothar Müthel, die zwischen 1940 und 1943 im Spielplan des Burgtheaters bleiben konnte – in
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vielem, nicht nur wegen der Mithilfe des Bearbeiters Michel, eine Kontinuitätserscheinung zur Darmstädter Dreierreihe. Uneinig ist bis heute die Forschung bei der Beurteilung dieses stark archaisierenden Weihespiels hinsichtlich seines Verhältnisses zum nationalsozialistischen Antike-Diskurs. Große Antigonä-Transformationen prägen alsdann das Theater der unmittelbaren Nachkriegszeit. Steht Orffs Antigonae-Oper (UA Salzburg 1949) ästhetisch und inhaltlich in der Michel-Müthel-Linie und verzichtet auf jeglichen Eingriff in H.s als unantastbar heilig behandelten Text, dem Musikalischen und Szenischen für die mitreißende archaisch-rhythmische Übersteigerung anvertrauend (ähnliches gilt für Orffs Oedipus der Tyrann, 1959), so zeichnet sich Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlin’schen Übertragung für die Bühne bearbeitet von Bertolt Brecht (UA Chur 1948) als das in Form und Gehalt konträre Beispiel aus. Der Stückeschreiber bezweckt einerseits eine (wie er zugibt, nicht gänzlich gelungene) ›Durchrationalisierung‹ des Mythos, ertappt sich andererseits bei dem affektiven und intellektuellen Genuss von H.s Sprache, die er durch komplexe intertextuelle Strategien variiert und imitiert und für das episch-politische Theater förmlich neuentdeckt. Diese produktive Arbeit am Sprach-›Material‹ wie die davon ausgehend erzeugte, szenisch-gestisch verfremdete Antike (im Antigonemodell 1948 für die Zukunft aufbewahrt) sollten langfristig wirken, auch über die SophoklesH.-Rezeption hinaus. Bleibt auf DDR-Bühnen H. zwei Jahrzehnte lang nur über Brechts Bearbeitung präsent, und zwar in schulmeisterlichen bis gipsernen Einstudierungen, so dominierte im westlichen Intendantentheater bis in die 1960er Jahre hinein, im Einklang mit dem allgemeinen kulturellen Klima und den Tendenzen der H.-Forschung, restaurative bzw. vermeintlich apolitische Werktreue, sei es im Zeichen der Kontinuität mit früheren Versuchen (dies hauptsächlich bei einigen nicht sonderlich beeindruckenden Empedokles-Inszenierungen), sei es durch relativ neue und sicher starke Akzente, in manchem durch die Konkurrenz namhafter Philologen (Beißner gegen Schadewaldts Bühnenfassung des Empedokles von 1962) und vornehmlich in den gefeierten Antigonä-Inszenierungen Gustav Rudolf Sellners: Nach der Essener von 1950 ragt insbesondere die Darmstädter Inszenierung von 1957 mit ihrer feierlich-sakralen Stimmung und Konzentration auf das dichterische Wort heraus – der letzte und wohl bedeutendste Höhepunkt einer kaum vierzig Jahre früher begonnenen Tradition der Insze-
nierung von H.s Sophokles-Übersetzungen als Weihespiele. Definitiv überholt wird diese Tradition zwischen den späten 1960er und den 1970er Jahren, als der Bühnenrezeption H.s der Anschluss an das deutschsprachige Regietheater und an die internationale engagierte bzw. experimentelle Szene gelingt. Entscheidend dafür sind zuerst einmal zwei Arbeiten zwischen Ost und West, die Brechts Pionierleistung produktiv-transformativ weiterführen: 1967 kommt Heiner Müllers Sophokles-H.-Bearbeitung Ödipus, Tyrann in Benno Bessons Regie in Berlin/Ost zur Uraufführung, während auf der anderen Seite des ›Eisernen Vorhangs‹ die Antigone des Living Theatre in Krefeld ihre Weltpremiere erlebt. Ist Letztere eine von Judith Malina und Julian Beck von Brechts Antigone-Bearbeitung und -Modell inspirierte, mit Körper und Stimme neoavantgardistisch arbeitende Inszenierung, so stellt Müllers minimalistische Transformation von H.s ÖdipusÜbersetzung für die zeitgenössische Bühne eine Art Brecht-gerechtes und gegen-Brechtsches Modellfortschreiben dar. Durch die punktuelle Nutzung der gleichen intertextuellen und sprachlichen Praktiken, die sein Vorbild extensiv benutzt hatte, gelingt dem sich zugleich von Brecht und dem Brechtismus distanzierenden Müller eine politisch-aktualisierende Umakzentuierung des Stoffes und eine Herausstellung der (gerade durch ihre ›Fehler‹ und die über die reine Mitteilungsebene hinausgehende Wirkung) erst auf der Bühne zu voller Entfaltung kommenden Sprache H.s. Dies sollte bald auch Müllers Bearbeitung zum Ausgangspunkt für weitere H.-Erkundungen werden lassen, wobei Benno Bessons Regie teilweise auch stilbildend wirkte. Somit steht von nun an auch H.s Ödipus, sei es in bearbeiteter ode unbearbeiteter Form, dem zeitgenössischen Theater als ›Material‹ zur Verfügung, wenn auch die Antigonä-Inszenierungen quantitativ weiter deutlich überwiegen. Bis heute sind H.s Antigonä und Ödipus der Tyrann, auf Brechts und Müllers Spuren, die im deutschsprachigen Raum am meisten gespielten Vorlagen, verstanden als eigenständige, dem Gegenwartstheater affine Tragödien; Übersetzungen und Inszenierungen im Ausland bezeugen einmal mehr von ihrem anerkannten Status origineller Theaterwerke (etwa in Frankreich, mit Philippe Lacoue-Labarthes und Michael Deutschs Straßburger Einstudierungen seit 1978, und in Italien mit dem RifrazioniProjekt des Teatro Lenz aus Parma, 1991/92, in dessen Rahmen alle Trauerspielfragmente und Tragödienübersetzungen H.s szenisch realisiert wurden). Seit Anfang der 1970er Jahre ist die Wirkung besag-
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ter Wende in Verständnis und dramaturgischer-szenischer Behandlung von H.s Sophokles-Übersetzungen vor allem im BRD-Theater zu beobachten – unter den vielen Inszenierungen im ›Antigone-Jahr‹ 1978/79 seien diejenigen von Valentin Jeker in Stuttgart, von Ernst Wendt in Bremen, von Christof Nel in Frankfurt a. M. und von Niels-Peter Rudolph in Berlin/West erwähnt, in denen H.s Stück zu einem auch kontextbedingten Politikum wurde. Parallel dazu erfolgte im Einklang mit Entwicklungen in der H.-Forschung und -Rezeption sowie in kulturpolitischen und ästhetischen Diskursen der Zeit eine erneute Hinwendung von Dramatikern und Regisseuren zu H. als Figur und, in enger Verbindung damit, zu dessen tragischen Helden Empedokles. Pate dafür stehen einerseits Peter Weiss’ vieldiskutiertes Dichterdrama Hölderlin (UA Stuttgart 1971), in dessen Mittelpunkt eine für den deutsch-jüdisch-schwedischen Autor und den zeitgenössischen Kontext überaus brisante Reflexion zu Subjektivität, Engagement und Künstlertum anhand von Leben, Dichtung und (fingiertem?) Wahnsinn des schwäbischen Dichters, Denkers und wohlgemerkt Jakobiners steht, andererseits Klaus Michael Grübers Berliner Inszenierung Empedokles. Hölderlin lesen (1975), mit Bruno Ganz in einer Titelrolle, die den antiken Philosophen und gleichzeitig den Intellektuellen/Welterforscher um 1800 und in der Gegenwart mitmeint. War bereits in Weiss’ Stück die Empedokles-Intertextualität für die Herausstellung des poetisch-politisch visionären Auftrags H.s zentral, so wurde in Grübers ›Lesen‹ die ›dritte‹ Stückfassung zur Grundlage für eine Arbeit, die das Fragmentarische und Offene der Vorlage – inhaltlich wie formal – nicht als dramaturgische Schwäche, sondern gerade als Potential einer H.-Lektüre im Hier und Heute versteht. Dabei kommt bei Grüber stärker als bei Weiss der Schiffbruch der Utopie – figuriert durch C. D. Friedrichs Eismeer als Ort der Haupthandlung – szenisch zum Vorschein. Grübers Schaubühne-Inszenierung markiert die bedeutendste Wende in der Bühnenrezeption des Empedokles überhaupt, wie die bundesdeutsche (Frank Patrick Steckel 1984 in Hamburg, Hansgünther Heyme 1990 in Düsseldorf) und internationale (etwa in Cesare Lievis Inszenierungen der 1980er Jahre) Weiterwirkung seines Ansatzes bestätigt. Auch in der DDR erlebt mutatis mutandis die H.-Empedokles-Linie zeitgleich eine Konjunktur, wobei ihre szenische Realisation oft zuerst auf westdeutschen Bühnen erfolgte – zwischen Volker Brauns anspielungsreichem Guevara oder der Sonnenstaat (1975, UA 1978) und Uwe Saegers desolater Umschreibung Empedokles (1988, UA 1989) ist vor
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allem ein Übergang vom kritischen zum vernichtenden Blick auf aktuelle Verhältnisse zu beobachten, während in Stephan Hermlins Hörspiel Scardanelli (1970) eher der isolierte, gestrandete Dichter im Turm in den Vordergrund gestellt wird und in Heiner Müllers Dramen und Inszenierungen bereits postdramatische Verfahrensweisen die fragmentarische H.- und Empedokles-Intertexualität bestimmen. Nach einigen Vorläufererscheinungen in den 1950er bis 1970er Jahren sind in der Rezeption von H.s Theater und von H. im Theater seit den 1980er Jahren zwei grundsätzliche, sich einander befruchtende Erweiterungslinien auszumachen, die sich bis heute weiter auswirken und ausbreiten und die die Weiterentwicklung der Wirkung der Empedokles- und Sophokles-Projekte im Sprechtheater begleitend ergänzen. Zum einen vermehren sich intermediale Transformations- und Performanceformen, so dass neben dem Musiktheater – von Bruno Madernas Hyperion als work in progress (1964 ff.) über Wolfgang Rihms Ödipus (1987) bis zur bio-poetischen Oper Hölderlin. Eine Expedition von Peter Ruzicka (2008) – auch hauptsächlich der Film sich H.s annimmt. Neben hier nicht einschlägigen bio-pics oder experimentellen Streifen und über die im zeitgenössischen Theater immer häufigere Verwendung von Video-Elementen hinaus sind hier Literaturverfilmungen von Dramentexten zu nennen – etwa die radikal puristischen Empedokles- (Der Tod des Empedokles Oder Wenn dann der Erde Grün von Neuem euch erglänzt, BRD/F 1986, 132 min; Schwarze Sünde, BRD 1989, 42 min) und Antigone-Filmen (Brechts Bearbeitung, BRD/F 1991, 99 min; vorausgegangen war im selben Jahr eine Berliner Inszenierung) des französischen Filmerpaars JeanMarie Straub und Danièle Huillet. Zum anderen intensiviert sich die Präsenz von Theatertexten und Dramaturgien, die nicht (nur) dramatische Werke H.s be- und oft auch weitere disparate Quellen einarbeiten bzw. zum Ausgangspunkt für poetisch-politische Arbeiten nehmen. Steht weiter Grüber mit seiner legendären Winterreise-Inszenierung im ›deutsch-herbstlichen‹ Berliner Olympiastadion für derartige szenische Experimente Pate (1977, Haupttextvorlage waren bruchstückhafte Zitate aus dem Hyperion-Roman), so ist Elfriede Jelineks Stück Wolken.Heim. (1988) das Paradebeispiel eines literarischen Montageverfahrens, bei dem H.s Sprache (hier dessen Lyrik) in ihrer evokativen und performativen Kraft und gleichzeitig rezeptionsgeschichtlichen Zerbrechlichkeit ausgestellt wird, indem sie durch Gegenzitate und Verzerrungen irritiert wird (etwa Heideg-
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gers Rektoratsrede oder das raunende Sprechen eines nationalgesinnten ›Wir‹). Es entsteht eine Wortpartitur für eine chorisch-szenische Darbietung, in der der wiederkehrende H.-Klang mangels traditioneller dramatischer Elemente wie Handlung, Nebentext, Personenrede und -charakterisierung zum strukturbildenden Element wird. Durch den späten Müller, Jelineks ›Sprechflächen‹ und deren Inszenierungen wird H. zum Zeitgenossen des postdramatischen Theaters (Lehmann 1999), dessen Entwicklung er dann vielfältig, in den Dramaturgien und auf der Bühne begleitet – dafür haben ihn die sprachlich-gedankliche Dichte, die nicht kanonische Handhabung dramaturgischer und ästhetischer Konstellationen und die intensive Rezeptionsgeschichte prädestiniert. Das internationale Gegenwartstheater im weiten Sinne kann auf H.s Sprache, Bilder und Vorlagen direkt oder (über Bearbeitungen, Übersetzungen, Transformationen) indirekt, fragmentarisch oder ganz, ›nur‹ literarisch oder intermedial, mit oder ohne Interferenzen mit der biographischen Figur des Dichters rekurrieren und tut es in so gut wie voller Breite. Unangefochten ist die Resonanz des Ödipus (Müllers Bearbeitung wurde prominent von Dimiter Gotscheff 2009 in Hamburg inszeniert; Romeo Castelluccis Berliner Ödipus der Tyrann machte 2015 Furore) und vor allem der Antigonä: George Tabori (Berlin 2006) und wieder Gottscheff (Hamburg 2011) inszenierten Brechts Bearbeitung, Regisseure unterschiedlicher Generationen gingen von H.s Übersetzung – nach Jürgen Flimm (Hamburg 1996) und Frank Patrick Steckel (Wuppertal 1997) etwa Wanda Golomka (Frankfurt a. M. 2003) und Laurent Chétouane (Oldenburg 2003) – oder von der für einige Jahre gerne benutzten, stark vereinfachenden Bearbeitung Martin Walsers und Edgar Selges aus (1989–2008). Der Tod des Empedokles wird deutlich seltener inszeniert, dabei scheint heute das Stück für experimentelle Arbeit besonders geeignet zu sein: Nach Christian Schlüters Tübinger
Einstudierung 2007 ragen insbesondere Castelluccis Projekt Four Seasons Restaurant (seit 2012) und Chétouanes Arbeit am Fragmentarischen in Empedokles/ Fatzer (Köln 2008) heraus. Wie das letzte Beispiel einer H.-Brecht-Kombination zeigt, häufen sich heute Bühnen-Diptycha mit faszinierenden Zusammenstellungen (Jan Bosse ›H.-intern‹ in Antigonae/Hyperion, Berlin 2008, Werner Schroeter kombiniert mit Hofmannsthal in seiner Antigone/Elektra. Formen der Einsamkeit, Berlin 2009) und dramaturgisch-szenische Mosaikarbeiten (wieder Castellucci mit Hyperion. Briefe eines Terroristen, Berlin 2013). Das Jubiläumsjahr 2020 wird gewiss mit neuen, H. und sein Werk übersetzenden Experimenten aufwarten. Literatur
Kindermann, Heinz: H. und das deutsche Theater, Wien 1943. Rüppel, Rudolf: H.s »Tod des Empedokles« als Trauerspiel. Die Bühnenbearbeitungen und ihre Erstaufführungen nebst einer Bibliographie der Inszenierungen und Kritiken seit 1916, Univ. Diss. Mainz 1954. Flashar, Hellmut: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit, München 1991, 22009. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. 6 Bde., Stuttgart u. a. 1993–2007. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999. Birkenhauer, Theresia: Theater – Theorie. Zwischen Szene und Sprache, Berlin 2008. Oelmann, Ute (Hg.): H. – Entdeckungen. Studien zur Rezeption, Stuttgart 2008. Flashar, Hellmut: H.s Sophokles-Übersetzungen auf der Bühne, in: HJb 37 (2010/11), 9–29. Vöhler, Martin: H. auf dem Theater. Podiumsgespräch mit Dörte Lyssewski, Andrea Koschwitz, Laurent Chétouane, Ralf Fiedler, Carl Hegemann, Cesare Lievi und Patrick Primavesi, in: HJb 37 (2010/11), 110–130. Castellari, Marco: H. und das Theater. Produktion – Rezeption – Transformation, Berlin 2018.
Marco Castellari
56 Nachwirkungen in der bildenden Kunst
56 Nachwirkungen in der bildenden Kunst 56.1 Vorbemerkung Der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen zur Nachwirkung H.s in der bildenden Kunst liegt auf der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, die – wie die Rezeption in der Musik – eine ungeheure Produktivität aufweist. Die Frage, die alle Rezeptionsweisen leitet, ist die Frage nach dem Bild-Text-Bezug. Auffallend ist: Viele Künstler setzten sich mit der Rhein- oder Strom-Thematik auseinander; ihre genaue Lektüre von Wilhelm Waiblingers erster H.-Biographie lässt sich in Anspielungen erkennen; ihr Hauptaugenmerk liegt auf H.s spätem und fragmentarischem Werk. Auf die Bildnisse von H., die zu seinen Lebzeiten entstehen, soll hier nicht eingegangen werden; sie sind hinlänglich bekannt. Von den vielen H.-Denkmälern, die gelegentlich ihrer Einweihung und Feiern bereits Gegenstand der Betrachtung waren, werden zwei, die sich in Tübingen befinden, herausgegriffen. Für die ungezählten Turm-Ansichten soll eine aus dem Expressionismus exemplarisch stehen. Als Ordnungskriterium gilt das Entstehungsdatum eines künstlerischen Werkes. Die bibliographischen Angaben folgen dieser Ordnung. Diese Darstellung kann bei weitem nicht alle Künstler, die Arbeiten zu H. vorgelegt haben, berücksichtigen. Allein die H.-Bezüge eines Anselm Kiefer herauszuarbeiten, bedürfte einer eigenen Monographie. Einzelne neuere Arbeiten von Friedrich Meckseper, den Bildhauern Johannes Kares, Helga JanzenAllgaier und Ralf Ehmann, dem Druckgraphiker Hermann Rapp, von den bildenden Künstlern Markus Daum, Ena Lindenbaur, Madeleine Heublein u. a. wären weiter zu verfolgen.
56.2 Die Künstler und ihre Werke Emmerich Andresen (1843–1902), Bildhauer und Porzellangestalter, studierte ab 1863 bei dem Bildhauer Ernst Julius Hähnel (1811–1891) in Dresden und erhielt von ihm den Auftrag, die Reiterstatue für das Schwarzenberg-Denkmal in Wien fertigzustellen, die 1867 eingeweiht wurde. Seine Statuen Gefesselte Psyche und Genius des Ruhmes (beide aus Carrara-Marmor) waren auf der großen Wiener Weltausstellung 1873 zu sehen, wofür er die Medaille für Kunst erhielt.
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Die Statue Genius des Ruhmes schenkte er der Stadt Tübingen. Im Alten Botanischen Garten der Universität sollte sie ihren Platz erhalten. Erklärtes Ziel war, dass den Betrachter ein »Hauch aus Griechenland anwehen« sollte (Brief von Andresen an Goez vom 27.3.1881). Die Sockelinschrift stammt von Andresens Freund, dem Grazer Dichter Robert Hamerling (1830–1889): »Dem hohen Sänger, der durch Wolkennacht/ Empor geschwebt zum Lichtreich ew’ger Schöne,/ Verschwisternd mit dem Reiz der Griechentöne/ Des deutschen Sängers urgewalt’ge Macht./ Ihm sei aus Geniushänden dargebracht,/ Der ewig-grüne Stirnschmuck der Kamöne.« Ein heroischer Jüngling, halb entblößt, den linken Arm auf einen Säulenstumpf gestützt, der rechte, in einer Geste des Gebens ausgestreckt, hält einen Lorbeerkranz, ein vergoldeter Stern sitzt im Scheitel. Ein wechselhaftes Schicksal bescherte ihm der Garten, manchen Anschlag hat er durch Andenkensammler und Zerstörungswütige überstanden: der Stern verschwunden, der Lorbeerkranz entwendet, der rechte Arm abgeschlagen, der Sockel mit dem Hakenkreuz beschmiert, Besprüher in flagranti ertappt ... Und 1999 hätte eine morsche Eiche den hohen Sänger H. fast vom Sockel gestürzt. Heinrich Reifferscheid (1872–1945), Maler, Radierer, Zeichner. Der Gedichtsammlung Der Gott der Jugend. Gedichte von Hölderlin (1924) ist eine Originalradierung als Frontispiz beigegeben: eine idyllische Flusslandschaft. Im Verlauf von zehn Jahren schuf Reifferscheid Widmungsblätter: An Hölderlin I (1913), Radierung (H. 21 × B. 11 cm), An Hölderlin II (1917), Radierung und Kaltnadel (H. 23 × B. 12,5 cm), An Hölderlin III (1923), Radierung und Kaltnadel (H. 25 × B. 16,7 cm). Das erste Widmungsblatt zeigt eine baumbestandene Wiese, Tannenwald im Hintergrund, am Horizont eine angedeutete Hügellandschaft, links ein schroffer Felsblock, der mit einem starr aufragenden, halb kahlen Baum, auf der rechten Bildseite korrespondiert; er nimmt die gesamte Bildhöhe ein, sein Blätterwerk füllt bogenförmig den Vordergrund im oberen Bild; im Mittelgrund ein prächtiger Laubbaum. Ganz ähnlich ist das zweite Blatt aufgebaut: Der Baum scheint knorriger, doch im Ganzen eine beruhigte Landschaft. Mit handschriftlicher Widmung An Hölderlin eine Textpassage von anderthalb Versen aus H.s Rhein-Hymne zitiert: [...] wie der Bliz, muß er/ Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn/ Die Wälder ihm nach und zusammensinkend die Berge.« (MA 1, 344) Im dritten Blatt erscheint dieser Baum wieder, diesmal wurzelt er in der Bildmitte unten, kahler als zuvor, nicht mehr steil aufragend, sondern gekrümmt; wieder
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_56
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füllt er die gesamte Bildhöhe aus, doch aus dem fast verdorrten Stamm ragt ein geschwungener Zweig; wieder der kräftige Laubbaum im Mittelgrund. In der Ferne zieht sich eine Flusslandschaft hin, eingeschnitten in schroffe Abhänge: eine Art heroisches Arkadien, angesiedelt mitten in der heimischen Landschaft. Das Bild vereint den Hellespont in Griechenland mit dem Rhein in Hesperien. Inzwischen sind die Arbeiten in einem Katalog (2007) dokumentiert. Erich Heckel (1883–1970) steht mit seinen Darstellungen von Tübingen am Beginn einer langen Reihe von Städte- und Landschaftsansichten, die sein Malen, Zeichnen, seine Aquarelle und Graphik kennzeichnen. Mit dem Titel Tübingen schuf er 1920 eine streng lineare Lithographie. Die Komposition zeigt die Neckarfront mit dem H.turm und findet in dem ebenfalls 1920 entstandenen Ölgemälde (H. 80 × B. 70 cm) eine Entsprechung. Vom Blickwinkel von der Neckarbrücke aus ist der Kristallisationspunkt mittig angelegt: der Dichterturm, der sich neben auseinanderdriftenden Stocherkähnen im klaren Neckar spiegelt. Dahinter geht die Häuserfront an der ehemaligen Stadtmauer in einer Linienführung nach oben, spitzgiebelige Häuser zur Hochburg aufgetürmt, kulminierend im Schloss. Dieses Bild gehört sicherlich zu den bedeutendsten Tübingen-Ansichten. Die Witwe Heckels hatte es 1971 der Sammlung des Brücke-Museums, Berlin, dem Dahlemer Expressionisten-Spezialmuseum, geschenkt. Max Ernst (1891–1976) stand zu Beginn seiner künstlerischen Entwicklung dem Dadaismus und der Gruppe der Surrealisten um André Breton bis in die Jahre 1938 nahe. Angeregt durch den Kubismus, der sich in Frankreich seit 1906 ankündigt, den Futurismus, der sich seit 1909 in Italien herausbildet, und die Pittura metafisica von Giorgio de Chirico, entwickelt Ernst die Montage zur ikonographischen Collage, in der die Materialauswahl themenabhängig gewählt wird. Ernsts Wortspiele sind inspiriert vom Dadaismus; Kurt Schwitters hatte er 1919 kennengelernt. Seinem Selbstporträt von 1920 mit dem Titel The punching ball ou l’immortalité de buonarroti (Collage auf Photographie und Gouache, H. 17,6 × B. 11,5 cm) schreibt er das Wort »dadamax« ein; den Beinamen »minimax dadamax« hatte er, zurückgehend auf seine Freud-Lektüre von 1913, für sich selbst erfunden. Durch die Inschrift »caesar buonarroti« wird ein Maßstab zu Michelangelo Buonarroti und Caesar gesetzt. Handelt es sich um eine frühe Anspielung auf H., der sich gelegentlich den Namen Buonarotti zuge-
legt hat? Als Beleg könnte das Blatt Von der Realität des Lebens angeführt werden, das mit diesem Namen unterzeichnet ist. Es ist ein kurzer Text von H.s Hand, vermutlich aus dem Jahr 1840, der auf einem doppelseitigen Brief von Lotte Zimmer steht. Sie hatte das Blatt 1864 an Theodor Eimer, ihren ehemaligen Lo gier-Gast im Turm, geschickt. Max Ernst gestaltete für die Zeitschrift View 1942 eine Doppelseite Collage (mit typographischem Material, H. 26,2 × B. 37 cm) mit der Nennung H.s. Auch sein Bild Vater Rhein (1953, Öl auf Leinwand, H. 144 × B. 146 cm) wird in Verbindung gebracht mit H. Virtuos überlagern sich darin Figur und Landschaft in transparenten, lasierenden Farben. Es ist ein hermetisches Bild, ähnlich wie der Polnische Reiter. Ivo Beucker (1909–1965) schuf 1955 die Bronzeplastik Hölderlin, die er der H.-Gesellschaft schenkte. Im östlichen Teil des H.gartens, auf dem schmalen Streifen zwischen Neckar und Zwingermauer, vor dem H.turm, bekam sie ihren Standort. Anlässlich der Jahresversammlung der H.-Gesellschaft enthüllten der damalige Präsident Theodor Pfizer und Oberbürgermeister der Stadt Tübingen, Hans Gmelin, die Plastik am 9. Juni 1956. Die Statue stellt eine nackte, kniende, männliche Gestalt dar. Der linke Arm hängt nach unten, korrespondiert mit der Bewegungslinie des linken knienden Beins, der rechte weist nach oben, korrespondiert mit dem rechten, etwas nach außen gebogenen, vorgestellten und angewinkelten Bein. Der Kopf ist schräg nach oben gewendet, die Augenlider sind geschlossen. Eine Gestalt in klaren Linien, aufstrebend und gleichzeitig niedergebeugt – »Aufwärts oder hinab!«, heißt es in H.s Ode (MA 1, 325, 2. Fassung, 2. Strophe) –, steht sie für H.s Lebensschicksal, für seinen Lebensbogen, sein Lebenslauf (ebd. 1. Strophe) scheint ihr eingeschrieben: Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt All uns nieder, das Laid beuget gewaltiger, Doch es kehret umsonst nicht Unser Bogen, woher er kommt.
Josua Reichert (*1937 in Stuttgart) ist vor allem als Druckgraphiker bekannt. Wohl unter dem Einfluss seines Lehrers HAP Grieshaber schuf er Gedichtfahnen von monumentalem Ausmaß. 1970 hat er acht ausgewählte Gedichte H.s großformatig – bis zu vier Meter breit und entsprechend hoch – in klaren Lettern, meist serifenlos, gedruckt: außergewöhnliche Kompositionen von Schrift, Farbe und Fläche. 1971 und 1972 schuf er 36 Bild-Schrifttafeln in zwischen 100
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und 280 cm Höhe und Breite variierenden Maßen für die Bibliothek der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, die er eindrucksvoll in die Architektur des modernen Betonbaus zu integrieren wusste. Die Arbeiten von 1999 gelten der Umsetzung dreier der neun Pindar-Fragmente: Vom Delphin, Das Alter und Das Unendliche (Siebdruck, Reiberdruck auf Kupferdruckkarton, H. 107 × B. 78 cm). Drei Ebenen – den griechischen Text, die Übersetzung und den Kommentar – galt es, zusammenzubringen. Die leitende Idee für Reichert war dabei, die Blätter als Palimpseste zu gestalten: Die Schrift konnte von dem beschriebenen Pergament abgeschabt und das Pergament neu beschriftet werden. Die vorhergehende Schrift schien aber immer unter der neuen hindurch. Die gedachte Tiefendimension der Schreibschichten ist dem H.schen Schreibprozess vergleichbar. Buchstaben-, Textbilder sind entstanden, die gleichzeitig visuelle mises en relief und dramatische mises en scène von Inhalt und Rhythmus sind. Die neueste Mappe Gedichte. H. (2013) enthält neun Blätter zu Gedichten H.s; eines davon übergab Reichert anlässlich seiner Ausstellungen im H.turm 2007/08 der H.-Gesellschaft: Aussicht. (Der off ’ne Tag ist Menschen hell), in dem er den ganzen Text des in der Turmzeit H.s entstandenen Gedichts ins Zentrum rückt. Alfred Hrdlicka (1928–2009) arbeitete und lebte in Wien. Sein satirisches und sezierendes Instrument: Plastik und Zeichnung. Hrdlickas Themen sind die Brutalität der Gräuel und der Verbrechen, die Menschen anrichten. Mit seinen Radierungen Wie ein Totentanz (1974), den er mit Texten kommentiert, thematisiert er den Offiziersaufstand vom 20. Juli 1944 und stellt die Todesmaschinerie der NS-Diktatur in ihrer Grausamkeit dar. Er reagiert mit diesem Zyklus auch auf den in den 1960er Jahren wieder aufkommenden Faschismus. In seiner zyklischen Gestaltung hat er Vorbilder in Callots Misères de la Guerre, in Goyas Desastres de la Guerra; Otto Dix’ Zyklus mit 50 Aquatinta-Radierungen schätzt er als die bedeutendste Kriegsdarstellung des 20. Jh.s. Zum Thema der Revolution sind seit 1970 an die 200 Zeichnungen, Aquarelle, Tempera- und Ölbilder und einige plastische Arbeiten entstanden. Schon 1971 begann Hrdlicka, über H. zu arbeiten. Sein Hölderlin-Zyklus besteht aus drei Radierungen (H. 49,5 × B. 65,4 cm) und mehreren Studienblättern und zeichnet ein distanziertes, reflektiertes Bild von H. Die Rückkehr aus Frankreich und Reise nach Innen (1972) ist mit ihrem Titel bereits ein Stück Interpretation. Eine Radierung heißt Im Tübinger Klinikum
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(1972); sie geht aus vom Klischee des Pathologischen, schafft aber durch dessen Brechung einen originellen Zugang zu dem Dichter: alle ver-rückten (sic!) Gestalten streben wie in einem Sog zur linken Bildseite, an deren Rand eine Gestalt, massiv aufgerichtet, sich ihnen entgegenstellt. Im Turm beim Tischler Zimmer (1971) ist in ähnlicher Weise organisiert. Hier ist die Widerstandsfigur, im Dunkeln, ebenfalls im linken Viertel angesiedelt – sie stellt H. dar, steif, wächsern, in der Tat als Konterfei nach dem von Wilhelm Paul Neubert um 1840 geschaffenen Wachsrelief –, die im Geist päpstliche und königliche Gestalten aufruft; unter ihnen ist auch, zwischen Stiftskirchturm, Stift und H.turm, der Kopf des jugendlichen 18-jährigen H. zu erkennen. Offenkundig ist dieses Bild von einem Bericht über H. inspiriert, nach welchem er auf die Frage nach seiner Diotima antwortet: »dreizehn Söhne hat sie mir geboren, der eine ist Kaiser von Rußland, der andere König von Spanien, der dritte Sultan, der vierte Papst u. s. w. Und wissen Sie was dann? [...] Närret ist se worda« (StA 7.3, 294). Folgt Hrdlicka in seiner Interpretation Wilhelm Waiblinger (1804–1830), der als H.s erster Biograph gelten darf? Waiblinger selbst, der sicherlich manche Beschäftigung mit H. angeregt und auch die Überzeichnung des Dichterbilds vom Wahnsinnigen genährt hat, widerspricht deutlich: »Der gröste Irrthum, in den manche flüchtige Beobachter dieses verwirrten Seelenzustandes gefallen, ist der, daß sie glauben, Hölderlin habe die fixe Idee, mit nichts als Königen, Päbsten und vornehmen Herrn umzugehen, weil er jedermann, und auch dem Tischler jene hohen Titel gibt. Allein das ist ganz falsch. Hölderlin ist ohne eine durchgehends ihn beherrschende fixe Idee. Er ist mehr in einem Zustand der Schwäche« (StA 7.3, 74). Bram van Velde (1895–1981), Niederländer, Bruder von Geer van Velde, lernte 1922 die Künstlerkolonie in Worpswede kennen. Sein malerisches Werk ist nicht umfangreich: etwa 300 Bilder und Gouachen. Es ist das Werk eines Künstlers, der völlig vereinsamt und in großer Armut starb. Über Marthe Arnaud bekommt er in Paris Kontakt zu Samuel Beckett, der in seinem Text Le monde et le pantalon (Cahiers d’Art, 1945) die Werke der beiden Künstlerbrüder einer scharfsinnigen vergleichenden Beschreibung unterzieht, die – wie schon in seinen früheren Essays (um 1930) über Dante, Bruno, Vico, Joyce und Proust – programmatischer Selbstkommentar ist. Es geht nicht darum, »sich etwas bewußt zu machen, sondern darum, ein inneres Bild einzufangen, um eine Innenaufnahme [...]. Um das Erfassen einer Vision auf dem
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einzigen Feld, das man bisweilen ohne weiteres zu Gesicht bekommt [...]: das innere Gesichtsfeld.« (Beckett 1990, 26) »Das Bild kommt nicht aus dem Kopf, aber aus dem Leben.« (Juliet/ van Velde, 1989, 26) Der Maler bekennt selbst, dass er das Leben suche, dass Malen das Leben sei. Beim Malen drängt er die Welt zurück, erst der Rückzug aus der sichtbaren Welt ermöglicht, klar zu sehen. Im Hinblick auf H. ragt das Künstlerbuch L ’Unique heraus. Es enthält die drei Fassungen von Der Einzige in der Übersetzung ins Französische von André du Bouchet (1924–2001) und nimmt eine besondere Stellung unter den lithographischen Editionen van Veldes ein. Er schuf dazu sechs Lithographien; in 150 Exemplaren wurde das Werk in der Handpresse von Pierre Badey 1973 in Paris gedruckt. Mit Knut Hamsun, Dostojewskij und mit deutscher Dichtung war Bram van Velde vertraut. Buchillustrationen fertigte er u. a. für Beckett, Marthe Arnaud, Maurice Blanchot, Charles Juliet und André du Bouchet. Das Centre Pompidou in Paris widmete ihm endlich 1989/90 die gebührende Retrospektive. Simone Boisecq (1922–2012), in Alger geboren, erhielt ihre entscheidenden Anregungen im Paris der Nachkriegszeit. Hier begegnete sie dem Bildhauer Karl-Jean Longuet (1904–1981), den sie 1949 heiratete. Sie lernte Brancusi, Picasso und Germaine Richier kennen, die sie bei ihrer ersten Ausstellung in der Galerie Jeanne Bucher, Paris, sehr ermutigte. Ein umfangreiches bildhauerisches und zeichnerisches Werk liegt vor, das von Themen der Natur und der Mythen ausgeht und sich zu Städten, dann zu Figuren und Menschen hinbewegt. Die Zeit nimmt eine Schlüsselposition ein: Sie ist gleichzeitig Maske, Totem-Figur, Vanitas, orbitale Architektur, durchlöcherte Zeit und Chiffre für das Reale, zugleich Form und Leere, Raum und Zeit. Seit ihrer Jugend begleiteten Simone Boisecq die Dichter. Der Dialog mit ihnen – H., Rilke, Kafka, Pessoa, García Lorca, Victor Segalen, Saint-John Perse, Aimé Césaire, Beckett – inspirierte viele ihrer Werke. Das Große Paar, 1999 (Harz-Steinverbindung, H. 168 × B. 115 × T. 60 cm), die erste große Realisierung von Paar III, 1976 (Gips, H. 27 × B. 20 × T. 10 cm), ist die Skulptur, die ein Echo auf H.s Hyperion ist, den Boisecq aus der ersten französischen Übersetzung (Paris/ Neuchâtel 1930) kennt. Die Plastik, in warmen Erdfarben, zeigt – in der klaren Form eines dreidimensional aufgespannten Segels – eine Einheit zweier miteinander eng verbundener Individuen, die dennoch in ihrer Zweiheit erkennbar bleiben. Die lesbare Dimension einer Liebesbeziehung bekommt eine allgemein
gültige, über die individuelle hinausgehende, durch den beigegebenen Text H.s (StA 3, 148): »Wir trennen uns nur, um inniger einig zu seyn, göttlicher friedlich mit allem, mit uns. Wir sterben, um zu leben. Ich werde seyn; ich frage nicht, was ich werde. Zu seyn, zu leben, das ist genug, das ist die Ehre der Götter; und darum ist sich alles gleich, was nur ein Leben ist, in der göttlichen Welt, und es giebt in ihr nicht Herren und Knechte. Es leben umeinander die Naturen, wie Liebende; sie haben alles gemein, Geist, Freude und ewige Jugend. Beständigkeit haben die Sterne gewählt, in stiller Lebensfülle wallen sie stets und kennen das Alter nicht. Wir stellen im Wechsel das Vollendete dar; in wandelnde Melodien theilen wir die großen Akkorde der Freude.« Zur für den H.turm konzipierten Ausstellung ihrer Werke 1999/2000, die im Anschluss in der Casa Fernando Pessoa in Lissabon und im Saint-John-PerseMuseum in Point-à-Pitre auf Guadeloupe gezeigt wurde, entstand der gleichnamige dreisprachige Katalog Le sculpteur et ses poètes. In Frankreich wurde in Reims, Limoges und im Museum Unter den Linden in Colmar 2011/12 eine große Doppelausstellung des Bildhauerpaares Longuet und Boisecq präsentiert. Eduardo Chillida (1924–2002), dem in San Sebastián (Spanien) geborenen Bildhauer, wird »bis in die Konkretion bestimmter poetologischer Begriffe hinein« eine Nähe zu H. zugeschrieben (Lichtenstern 2002, 8). Auf drei Ebenen wird der Vergleich geführt: der griechisch-mediterranen, der Vergleichbarkeit der Natur-Abstrakta von ›Äther‹ (Raum) – Licht – Erde, den Gemeinsamkeiten in den künstlerischen Verfahrensweisen. Ausgangspunkt ist die intensive H.Lektüre Chillidas in seinen Pariser Jahren 1948–1951. Die H.-Übersetzungen von Pierre Jean Jouve (Poèmes de la folie, 1930), Gustave Roud (1942) und der Hyperion (1930) waren erschienen; auch die Gedicht-Übersetzungen von Geneviève Bianquis waren zugänglich. Die Begegnung 1968 und die Freundschaft mit Heidegger waren offenkundig prägend für Chillidas H.Bild. Auf der ersten Vergleichsebene, der griechischmediterranen, führt Lichtenstern Chillidas Naturerfahrung der heimatlichen Küstenlandschaft an, aus der sich seine »griechische Gestaltsicherheit« nähre (ebd., 10). In diesem Sinn wird die Plastik Homenaje a la mar I (Hommage an das Meer I, 1979, Alabaster, H. 115 × B. 68 × T. 30 cm) mit H.s Dichtungskonzeption analogisiert. Auf der Ebene der Verfahrensweisen in der Gestalt-Gebung ist der wohl fruchtbarste Vergleichspunkt der ›Rhythmus‹. Genannt werden die großartigen Werke Rumor de limites VII (Gerücht der
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Grenzen VII, 1968, Eisen und Granit, H. 101 × B. 76 × T. 52 cm), Monumento a la Tolerancia (Monument für die Toleranz, 1985, Stahl, H. 94 × B. 264 × T. 220 cm) und Tolerancia a través del diálogo (Toleranz durch Dialog, 1993, Corten-Stahl, H. 112 × B. 135 × T. 292 cm). Doch ob der Rhythmus – als konstitutives Element der Poesie wie in der Musik und der Kunst – allein anhand einer »Geistesverwandtschaft« (ebd., 22) diskutiert werden kann, bleibt zu fragen. Eine überlebensgroße Skulptur aus Chillidas Serie Besarkada X (Umarmung, 1996, Stahl, H. 247 × B. 100 × T. 80 cm) steht in Bad Homburg vor der Höhe im Garten vor Isaac von Sinclairs Haus. CHC [Curt Hans Chrysostomus] Geiselhart (*1949 in Tübingen) schuf 1981 fünf graphische Blätter zu H. Die Radierungen haben die Titel: Morgenlandfahrt, Ecce Homo oder H. wird dem Volk gezeigt, Im Turm oder The Downfall of Icarus, Die drei Philosophen und H./Befragung der Bildbiographie. Das erste Blatt, inspiriert vom Altarbild Gefolge der hl. Drei Könige (1450) des süddeutschen Malers, der als Meister des Sterzinger Altarflügels bekannt wurde, stellt den Aufbruch zu einer »einzigartigen Reise« auf der Suche nach der Weisheit dar. Über der Gruppe der ›drei Weisen‹ klirren die Fahnen: Waiblinger, Dostojewskij, Schiller, Mörike, H. (Silhouette und Gestalt), Hermann Hesse (vgl. dessen Morgenlandfahrt), und auch der Künstler selbst reitet mit unter dem Wahlspruch Hen kai pan. Die zweite Radierung greift die Thematik von Hieronymus Bosch (1453–1516) auf: Ein Mensch wird verurteilt, der Menge vorgeführt und gerichtet. Zwei Figurengruppen teilt das Bild. Die rechte Seite, auf einem Podest erhöht, versammelt den Arzt Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (1772–1835) – H. war einer seiner ersten Patienten in der damals neu eingerichteten Psychiatrie im Gebäude der Alten Burse, dem Tübinger Universitätsklinikum –, H., abgerückt von ihm, Isaak von Sinclair, die Turmbesucher Waiblinger und Mörike und die Mutter H.s, die eine Art Mittlerfunktion einnimmt. Vor dem Podest, in der linken Bildhälfte, schauen gestikulierende Zeitgenossen zur oberen Gruppe: Goethe, Schelling, Nietzsche (in Gestalt des Prometheus), Hesse, Cotta, Matthisson; in der zweiten Reihe: Schiller, Schubart und Hegel, hinter ihnen drängen sich Stäudlin, Gontard, Fichte, Landauer, Uhland und wieder der Künstler. Die dritte Radierung hat ein Vorbild in William Hogarths A Rake’s Progress. Als Zeugen des Ikarus gleichen Sturzes von H. werden aufgerufen: Nikolaus Lenau, der unmittelbar hinter dem gestürzten H. steht und ein Jahr nach H.s Tod den Turm übernimmt,
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E. T. A. Hoffmann, der sein Fernrohr auf eine Welt außerhalb der gezeigten Szenerie richtet, Edgar A. Poe, Van Gogh, James Ensor, Karl Blechen, Trakl und Stifter. Nietzsche tritt mit einem Säbel aus der Tür, sein Zimmernachbar ist Ludwig II. Auf der Treppe als skurrile Dreiergruppe: Lenz, Schumann und C. F. Meyer. Diotima leuchtet weiß heraus. Das vierte Blatt der Folge entlehnt den Titel Die drei Philosophen Giorgione. Das Dreigestirn H., Hegel und Schelling wird, transponiert in die schwäbische Landschaft – darin eingebettet das Tübinger Stift –, abgesondert voneinander dargestellt: im Vordergrund links Hegel stehend, leicht zurückgesetzt Schelling, ebenfalls stehend, H., wieder um denselben Abstand nach hinten gerückt, sitzend neben einem Baum, sein Blick, licht und hell, in die Ferne gerichtet. Das fünfte Blatt schreibt, in der Zusammenschau aller von H. (vom 16-Jährigen bis zum 72-Jährigen) bekannten Bildnisse, eine Biographie, die in der Höhen- und Tiefenanordnung und in den Hell-Dunkel-Kontrasten der Radierung Vorausschau und Erinnern interpretiert. Paul Pfarr (*1938 in Stuttgart), Objektkünstler, nimmt das Fundstück als Zeuge für real Geschehenes; es ist Anregung für sein Schaffen. So wird eine mit schwarzem Leder überzogene Sanitätsliege mit Kopfkeil, in die in der Mitte der Länge nach ein Vierkantstahlblock eingerammt ist, zum Ausgangspunkt einer Bildsequenz Hölderlin-Räume. Unter dem Titel Psychonorm hat der Objektkünstler bereits 1981 mit diesem Schockobjekt operiert, das als Chiffre für PsychoQual, Krankheit, Entblößung, Folter und Tod steht. Die Idee für eine künstlerische Aktion bestand darin, die Couch auf Reisen zu schicken: Berlin – Tübingen – Berlin. 1985 wurde sie verwirklicht. In den verschiedensten Räumen und Umgebungen kommt es zu Konfrontationen zwischen Objekt und Ort. Einmal verwehrt es den Eingang zum ans Dritte Reich gemahnenden Olympiastadion, ein anderes Mal gerät es als Opfer in die Absperrung eines weißroten Polizeigitters oder zwischen die nummerierten Särge im gekachelten Krematorium. In Tübingen stand das Neugier und Anstoß erregende Objekt u. a. in der Münzgasse, vor dem H.turm, auf dem Friedhof – hier spiegelt sich die Grabinschrift auf dem Stahl, lesbar als »Dem Leben« – und für kurze Zeit im H.zimmer im Turm (Juli 1988) in unmittelbarer Nähe zum Autenriethschen Klinikum. Die Ausstellung wurde im Frühjahr 1993 in Berlin gezeigt, als Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern zum 150. Todestag H.s seinen bemerkenswerten Zyklus Hölderlin 93 mit der Sprecherin Edith Clever aufführte.
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Erich Walz (1927–2011), der in Kirchheim unter Teck geborene Holzschneider, setzte sich seit 1983 mit H. auseinander. Vor allem zwei Themenbereiche sind es, die seine Annäherungen an H. kennzeichnen: zum einen das Spannungsverhältnis H.s zwischen rastloser Produktivität und zerstörerischer Destruktivität – Holzschnittfolge I[m] N[amen] H[ölderlins], 1983 –, zum anderen regten ihn die Verse Kolomb aus dem Homburger Folioheft an, wozu er 1985 eine Holzschnittfolge schuf. Bestimmte Zeilen greift Walz heraus, beispielsweise »Gestalten« sind wir, »Gefäße [...], voll, von Bildern«. Unter dem eigentlichen Holzschnitt lässt er häufig einen zweiten mitlaufen, meist kretische Vasen oder auch ins Bild gebrachte Szenen aus den Gedichten H.s. In äußerster Reduktion will er H.s Sprachbild übers Wort hinaus in eine Art Urbild bringen. Dabei verhält sich Farbe – Pastelltöne oder gedeckte erdige Farben – zu weißem unbedrucktem Papier in einer vorsichtigen Spannung. Ergänzende Einzelblätter thematisieren die Beziehung Diotima – Hyperion und H.s Begeisterung für die Griechen. Hansjörg Quaderer (*1958 in Schaan/Liechtenstein) hat sich als Graphiker, Maler und Dichter aufgrund seiner Lebenssituation eingehend mit dem Rhein beschäftigt. Er setzte sich für eine Revitalisierung des Rheins und gegen ein Atomkraftwerk ein. Die Zeno-Blätter, 1981, Ins Weiß, 1983 und das Penta-Projekt, 1984/85 gehören zu seinen wichtigsten Arbeiten. Der Zyklus Ausgesetzt auf den Sedimenten des Rheins (1984–1991) besteht aus 42 Farbholzschnitten und 12 Gedichten; er ist die Frucht der zehnjährigen Beschäftigung mit dem Rhein, mit H. und mit H.s RheinHymne. Sie ist einmal als »Schicksalsschule für den vaterländischen Dichter« (Böschenstein 1968, 141) bezeichnet worden. Rhein und Rhein-Hymne sind es für Hansjörg Quaderer. Der Gedanke vom Strom, vom Fluss, in seinen verschiedensten Konnotationen wird zentral. Ausgehend von der konkreten Erfahrung der Landschaft, in der Quaderer lebt, die untrennbar mit dem Rhein – in all seinen Erscheinungsformen, Farben, Tönen, Dimensionen, den ihn prägenden Elementen, Kräften, Kiesbänken in ihren mäandernden Strukturen und in seiner Bedeutung als Gefährte und Gefahr – verbunden ist, geschieht Deskription, Inskription, Translation und Transposition. Der ›Lebensfluss‹ Rhein und sein Kulturraum sollen für die Kunst erschlossen werden. Leitmotiv ist H.s Aufforderung, »an die Quelle zu gehn«, auch wenn davor ›mancher Scheue trägt‹, wie es in Andenken heißt. An die Quelle zu gehen, ist als Prozess des Erinnerns, der dem Strom der Zeit um der Vorausschau willen im Gegen-
sinn folgt, gerade in geschichtlicher Hinsicht unerlässlich. Nur das realisiert sich, was H.s Wort »es ereignet sich aber/ Das Wahre« (StA 2, 195) bezeugt: Nicht von ungefähr zitiert Quaderer gerade diesen Vers aus Mnemosyne. Nicht zum gegengeschichtlichen Mythos wird die Landschaft verklärt. Vielmehr wird sie zur Grunderfahrung des in die Zukunft hinein offenen Zeit- und Gesprächsraums ›Geschichte‹: »den Freunden/ dem Rhein/ dem Offenen« lautet das Motto seines Gedichtbandes. Eine nüchterne Geometrie der Beschränkung folgt dieser Grunderfahrung und erfasst in der von Bild zu Bild fortschreitenden äußersten Reduktion das Wesentliche. Hans Joachim Madaus (*1943 in Balow/Mecklenburg), Maler und Bildhauer; seine Beschäftigung mit H. fällt in die Jahre von 1985 bis 1987. U. a. schuf er Vier Farblithographien zu Hölderlin, 1985, von vier und zwei Steinen, H. 46,5 × B. 36,5 cm auf H. 76 × B. 64,5 cm, zwei querformatige, zwei hochformatige Farblithographien: Hölderlin als Sieger, Neckartal, Nike und Achill ersticht Penthesilea. Die zweite Lithographie Neckartal geht auf das Experiment zurück, in Spaziergängen in H.s Landschaft dem Dichter nachzuspüren, ihn einzufangen und zu vergegenwärtigen. Während hier die Idylle vorherrscht, tritt in den übrigen dreien der Kampf, die Konfrontation zwischen Natur-, Menschen- und Götterwelten – unter dem Motto der ersten beiden Strophen von Patmos (Erste Fassung) in H.s Handschrift (»Nah ist/ Und schwer zu fassen der Gott./ Wo aber Gefahr ist [...]« – hinzu, wobei der Schlussvers der zweiten Strophe fehlt: Der vierte Block endet also »Mit Schritten der Sonne« (MA 1, 447). Im ersten Blatt sind die Verse sieben und acht der ersten Strophe von Patmos mit der berühmten Widmung H.s für Susette Gontard »Wem sonst/ als/ Dir.« übermalt. Zwei Elemente sind vorherrschend: Ein überdimensioniertes Perlhuhn, das seine Pracht entfaltet und symbolträchtig das Unglück verkörpert, wird überwunden vom »Sieger« H., der als kraftstrotzender nackter Jüngling mit Adlerflügeln, gleichwohl als eine Lichtgestalt, dargestellt wird. Die dritte Graphik nimmt die mythologische Gestalt der Nike auf, die als Attribut des Zeus gilt, und den Sieg symbolisiert. Die vierte setzt – wie schon die erste – H.s Porträt mittig in den oberen Bildrand, in den Giebel eines ionischen Tempels, nach links und rechts wegschwebend, ein luftgeistiger 16-jähriger H.kopf. In der Mitte des Bildes, rechts und links, blicken uns zwei Porträts mit starren Augen an: links Susette Gontard, rechts H., aus dem eine Sprechblase kommt, worin in Spiegelschrift ein dreimaliges »Punker« steht; in der unteren
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Bildmitte, an griechische Vasenmalerei erinnernd, die Szene der Tötung. Die Legende will, dass sich Achill in Penthesilea in dem Augenblick verliebt, als er ihr den Todesstoß beibringt. Eine Allusion an H.s HyperionRoman, in welchem Diotima stirbt? Herbert Göser (*1955), Angela Laich (*1963) und Joachim Sauter (*1956): für die drei Schüler von Alfred Hrdlicka wurde der zum H.turm gehörende H. garten im Sommer 1986 zur Arbeitsstätte. Steinerne Gäste, aus Sandstein- und Marmorblöcken gehauen, entstanden unter ihren Händen. In Zeichnungen, Radierungen und Skulpturen näherten sie sich dem Thema Hölderlin und die Französische Revolution. Als Ergebnisse dieser Beschäftigung gelangten nicht etwa uneingelöste Utopien zur Darstellung, zur Darstellung kam vielmehr das brutale Scheitern Einzelner an der Wirklichkeit: der an Händen gebundene Jakobiner mit dem abgeschnittenen Kopf, die Ermordung Marats, eine Tyrannenmördergruppe, Revolutionäre, Zeitgenossen und Freunde H.s, die in der Resignation versanken, ins Irrenhaus kamen oder Selbstmord begingen: Stäudlin – Sauters Kaltnadelradierung Der Rhein, 1987; Georg Kerner, der Bruder von Justinus Kerner – Sauters Marmorskulptur Georg Kerner, 1987; Böhlendorff – Sauters Kaltnadelradierung An Böhlendorff, 1987. Wie für Hrdlicka ist für seine Schüler das Ziel eine »Kunst, die unter die Haut geht.« (Hrdlicka, zit. nach Skulpturen und Graphik 1987, 29) Gösers Marmorplastik Werden im Vergehen (1987) – ein Echo auf H.s Text Das untergehende Vaterland ..., von Friedrich Beißner mit dem Herausgebertitel Das Werden im Vergehen ediert – folgt der Grundidee des H.schen Textes: Im Übergang (von Kulturepochen) kündigt sich das Werdende im Vergehenden an, Letzteres wird im Werdenden erinnert. Das Kommen der neuen Zeit, die anbrechen soll, ist noch ungewiss. Deutlich lesbare Konturen fangen ein Jetzt ein, verschwinden aber nach unten und oben (in der Zeitachse als Vergangenheit und Zukunft zu lesen) im Ungewissen. Ein Rest bleibt unbehauen. Steht er für Freiheit, Offenheit, Öffnung? Gösers Sandsteinskulptur Heimkunft (1986) – auch hier ist der Titel H.s Gedicht entlehnt – spannt den Bogen zu seinem Ikarus (Jurakalkstein, 1986), der fliegen will, jedoch angespannt am Boden verharrt, da ihn etwas festhält. Frédéric Benrath (1930–2007), französischer Maler, gehört zu den Monochromisten. Die Abwesenheit der Formen – die Suche nach dem, was als Raum (nicht: was im Raum) präsent ist, der Versuch, das Nicht-Sichtbare darzustellen, nicht etwa, damit man es sehe, sondern damit man im Raum, in der Malerei,
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sei – bringt ihn in die Nähe von Mark Rothko (1903– 1970) und Bram van Velde. Ihm geht es nicht um die Darstellung der realen Natur, sondern um die psychische. In seinem ›Organon‹ sind drei der zwölf (philosophischen) Sätze an H. angelehnt oder verdanken sich seiner Dichtung: Keiner kann, es sei denn, er hätte Flügel, das Nahe fassen. – »Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines.« (MA 1, 908) – In dem Versuch, die Leere des sich selbst generierenden Raumes durchbrechen zu lassen, erscheint die Farbe als absolutes Ereignis, das ein Jenseits der Farbe aufscheinen lässt und ins Offene weist. Vielleicht trifft eine Bemerkung von Augustinus Benraths Begriff vom plastischen Raum: »Wir gehen zurück, wir gehen voran, und nirgends ist der Ort« (Confessiones X.26.37). Diotima (1987; Öl auf Leinwand, H. 162 × B. 114 cm) erscheint als zinnoberrotes Monochrom. Im oberen Drittel taucht schwarzes Gewölk auf, darüber – wie eingeritzt – feinste weiß-schwarz-grau-rote Horizontlinien, weiß-graues Gewölk, das im undefinierten Grau über die Bildgrenze nach oben entweicht. Mes Archipels (1991; Öl auf Leinwand, H. 120 × B. 120 cm) ist zweifelsohne eine Anspielung auf H.s Archipelagus. Vergleichbar der Gesamtanlage des Diotima-Bildes ist es in gelb-grünlichem Farbton gehalten, dunkler Nebel im unteren Drittel, doch hier ist nur das obere Zehntel in weißgelblichen gipsförmigen horizontalen Einfaltungen gestaltet: eine verkrustete Planetschicht. Giuseppe Satta (*1951 in Rom), schuf 1987 das Triptychon La terra e il fuoco sacro, drei Öltafeln H. 120 × B. 70 cm (Erde und heiliges Feuer). Es hat den Empedokles-Stoff zum Thema und ist inspiriert vom Empedokles-Film, den Jean-Marie Straub und Danièle Huillet 1987 in Neapel gedreht haben und der in Italien eine erstaunliche Rezeption hatte. Die Bildfolge ist eine Erwerbung und Dauerleihgabe von Hans-Jörgen Scheffler, Hamburg, und hing bis 2018 im langen Gang des Erdgeschosses im H.turm. Ein Werk Sattas führt, auf die Legende von Empedokles’ Freitod im Ätna Bezug nehmend, »volcáno« im Titel. Empedokles läuft auf den Schlund des Vulkankraters zu, langsam, allein: die Erfahrungswirklichkeit wird ihm zum Magma, in dem die verwirrenden und einsamen Elemente unruhig (ver)schmelzen. Wenn Leben nur möglich ist im Übergang von der Schöpfung zur Zerstörung, dann symbolisiert der Vulkan Leben: Er zerstört und formt im Zerstören neue Existenz. An Böhlendorff hatte H. am 4. Dezember 1801 geschrieben: »Denn das ist das tragische bei uns, daß wir ganz stille in irgend einem Behälter eingepakt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn, nicht daß wir in Flammen
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verzehrt die Flamme büßen, die wir nicht zu bändigen vermochten.« (MA 2, 913) Die Erforschung des lebendigen Feuers führt bei Satta zu Gestalten, die graue, zu Lava erstarrte Gewänder tragen, hohle Pappzylinder als Köpfe, Fragmente des Gehirnlabyrinths, ohne Gesicht: unbestimmt, ernst, massiv, gleichzeitig leicht, flüchtig. Sie bewegen sich schattenhaft im Dunkeln – manches Mal erinnern sie an Masken tragende Gestalten aus der comedia dell’arte –, auf doppelbödigem Theater. Das italienische Wort buio bedeutet dunkel und ist ein Synonym für scuro, schwarz, das Schwarz der Nacht. Buio, vom Lateinischen burium abgeleitet, meint ein dunkles Rot. Das könnte heißen, dass die Nacht nicht allein schwarz und undurchdringlich ist, sondern mit dunkelroter Farbe assoziiert wird: dem Feuer und dem glutrot lumineszierenden Schimmer vulkanischer Nacht wie heiligen Feuers. Ihm konfrontiert sich der Maler, wie der Dichter dem Blinden Sänger gleich: »Auch der Maler ist blind, aber er muß sehen«, so drückte es einmal Bram van Velde aus und weiter: »Er muß das Gesicht [suchen] von etwas Gesichtslosem« (Juliet/van Velde 1989, 77; 16). Robert Schwarz (*1951 in Ludwigshafen) hat sich als Graphiker der Buchkunst verschrieben, einer Kunst, die seit dem 15. Jh. zunehmend in Vergessenheit geraten ist und erst in den letzten 30 Jahren eine Erneuerung als Kunstgattung erfährt. Zwei Richtungen haben sich in der Kunstgeschichte herausgebildet: das Buchobjekt wie es auf der documenta 6 1977 in Kassel vorgestellt wurde und das Künstlerbuch. Schwarz verbindet Buchkunst und Lithographie miteinander – zwei althergebrachte Künste –, wobei bei ihm der Text von zentraler Bedeutung ist. Den gesamten Text Der Tod des Empedokles schreibt er seinem Künstlerbuch, das in den Jahren von 1989 bis 1993 entstand, ein. Es ist eines von fünf Werken (Phaëton, 1989; Pindar/Hölderlin, Pythische Ode 1 und 2, 1989; Friedrich Hölderlin, Hyperion, 1991), das aus der Beschäftigung mit H. hervorgeht, wobei Katharsis (1988), bereits Gestaltungselemente des Empedokles vorbereitet. Insgesamt sind 180 großformatige Lithographien entstanden. Schwarz folgt der Textfassung der Frankfurter H.-Ausgabe (FHA 19 und 20). Im Katalog sind alle Seiten abgebildet, zudem läuft daneben die Sattlersche Fassung des Textes. Der Text wird bildkünstlerisch inszeniert in großformatigen Folianten: 75 cm hoch, 50 cm breit, 15 Lagen zu 3 Doppelbogen, 90 Doppelseiten. Der Text ist durchgängig lesbar; der Bearbeitung des Manuskripts folgt die typographische und lithographische Übersetzung durch Robert Schwarz. Nur einmal wird H.s Text getrübt, als sei er
mit dem eigenen Inhalt in Konflikt geraten. Es ist der Text, gedruckt auf rotweiß-gelblich geflecktem Grund, der auf dem Scheidepunkt der Entwicklung des Dramas steht: Der 3. Bürger, der die Denkdimension eines Empedokles zu ahnen scheint, bittet ihn, stellvertretend für die anderen, er möge bei ihnen, bei ihrem Volk bleiben. Text wird hier nicht zum Objekt, das in Kunst übersetzt wird, sondern bleibt kommunikativer integraler Bestandteil im Bild-Text-Bezug. Jürgen Brodwolf (*1932 in Dübendorf/Zürich), Zeichner, Lithograph, Maler, Objektkünstler und Freskenrestaurator, entdeckte in den 1960er Jahren die »Tubenfigur«, aus der eine ganze Figurenfamilie und -typologie entwickelt wird. Zerdrückte Farbtuben werden zur Chiffre für den gequälten, gekrümmten, den leidenden, gefolterten und ›zerquetschten‹, von Tüchern in Grabkammern umhüllten Menschen. – Zusammen mit Peter Härtling (1933–2017) hat er zwei Bücher herausgebracht, die in den Kontext des großen Themas eines Dialogs von Bild und Text und beider wechselseitiges Weiterdenken gehören. Es sind die Bände: Zwanzig Transparentblätter/Briefe von drinnen und draußen; Fünfzehn Gedichte (1989) und Sternbilder: Arbeiten auf Papier von Jürgen Brodwolf und Gedichte von Peter Härtling (2000). Brodwolf schuf einen 30seitigen Zyklus Hölderlin’s Diotima (1992), eine Bildfolge, in der jedes Blatt das Antlitz von Susette Gontard/Diotima trägt und uns in gleicher Weise, frontal und mit geweitetem Blick, entgegenkommt: es ist die Totenmaske. Variiert wird das Bildnis durch Abdunkelung, Aussparungen, Akzentsetzungen bis zur Reduktion auf den Bogen der Augenbrauen und der Oberlippe. H.s gesamtem Text Heimath. Und niemand weiß ..., in der genauen Abfolge Handschrift – Umschrift (Homburger Folioheft, 36–54 mit der Umschrift von Dietrich Uffhausen, 1983), ist das Bildnis als Grundmuster eingeschrieben. Einzelne Sätze, wie »Der Augen Zorn« oder »Gefäße machet ein Künstler«, »Und keusch die Lippe«, »das Liebste«, »das Heilge«, erfahren eine Akzentuierung und treten in eine Korrespondenz mit dem Bildnis. 1998 als Variante wiederaufgenommen, gewidmet für Adelheid, schrieb sich Brodwolf als pars pro toto selbst ins Bild mit ein. Hubertus Gojowczyk (*1943 in Oels/Schlesien), Buch- und Objektkünstler, ist mit seiner Installation Tür zum Lesezimmer (BV 282, 1975) auf der documenta 6 in Kassel bekannt geworden. In seinem Werk fehlt die Farbe. In Schwarz-, Weiß- und allen Abstufungen von Grautönen geht er behutsam mit Schrift, Bild und Objekt um. 1994 hat er Arbeiten eigens für das Turm-
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zimmer geschaffen (Ausstellung im H.turm vom 30.10.1994 bis 5.2.1995). Fünf kleine, einfühlsame Objekte sind in der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit H. entstanden. Das erste trägt den Titel Gelesenes Gedicht II (BV 531): In einem verglasten Holzkasten hängt eine Buchseite auf Japanpapier, H. 18,9 × B. 12 cm, auf der ein Gedicht an seiner Odenform und an der Strophenanzahl erkennbar, jedoch nicht mehr lesbar ist, denn die Buchstaben sind ausgebrannt: Es ist die um 1800 entstandene asklepiadeische Ode Die Liebe. Das Gedicht, das gegen Osten, gegen Morgen, schaut, ist an der Stelle, an der sich zu H.s Zeit ein Fenster im halben Achteckzimmer befand. Das zweite Objekt, Der Neckar (BV 532), besteht aus zwei Texttafeln (H. 38,5 × B. 25,3 cm), auf beiden steht das Gedicht H.s, dessen Entstehungszeit ebenfalls um 1800 liegt. Weiße Fäden verbinden die gleichen Verszeilen miteinander und verhängen damit das Fenster, das zum Süden, zum Mittag, geht. Hinausschauen ist nur durch die leichten Fäden – wie Spinnengewebe – hindurch möglich, das Fenster nicht mehr zu öffnen, versperrt. Die Aussicht (BV 533), zum Abendfenster hin, schließt sich an. Auf eine Spiegelglasscheibe (H. 23,4 × B. 23,3 cm) ist in Spiegelschrift H.s Gedicht von 1842 eingeritzt. Zwischen den Fensterscheiben steht es, für den Leser seitenrichtig, der, geht er nahe genug heran, sein eigenes Spiegelbild sieht, und durch die Buchstaben hindurch nur eingeschränkte Aussicht hat. Gegen Westen, genau gegenüber dem ersten Objekt – auch an dieser Stelle war zu H.s Zeit ein Fenster – wieder ein verglaster Holzkasten (H. 19 × B. 25 × T. 6 cm): Hobelspäne sind darin; zugespannt ist er mit einer durchsichtigen Folie, auf der das Gedicht An Zimmern, 1812, steht. Das fünfte Objekt schließlich – mit dem Nichttitel Ohne Titel (BV 535), ist ein Stein, genauer ein Brandungsstein, aufgelesen in einer Bucht, in der sich unzählige Bruchstücke aneinander reiben, aneinander abreiben und so zu einer glatten, geschliffenen, abgeklärten Form kommen. Die Worte »nicht mehr gerne« stehen darauf, entnommen der Schlusszeile von H.s um 1810 entstandenen Turmgedicht Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossen ... Linda Schwarz (*1963 in Stuttgart) studierte Bildhauerei, dann Freie Kunst. Kombinierte Malerei und Druckgraphik sind ihre bevorzugten Techniken. Seit 1994 hat Schwarz mehrere Arbeiten, teils auch großformatige (H. 190 × B. 118 cm), wie Pergamentfahnen anmutende, mit dem Titel Hölderlin (Textfragmente) geschaffen. Der Untertitel signalisiert den Akzent, der auf H.s Spätwerk liegt. Originale Handschriften waren die Vorlage für diese Blätter. Über die verwendeten
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Materialien und angewandten Techniken gibt die Legende Auskunft: handgeschöpftes Papier, Holzschnitt, Radierung, Xeroxtransfer, bemalt. Weitere Arbeiten sind betitelt mit In lieblicher Bläue – völlig geometrisch im Quadrat aufgebaut, erinnern diese Arbeiten an Günther Uecker (*1930) –, Giebt es auf Erden ein Maaß?, Hälfte des Lebens, Die Tugend der Heiterkeit. Der verwendete Noten- oder Gedichttext bleibt nicht bloß Zitat, das assoziativen Charakter hat, sondern wird integraler Bildgegenstand dieser Meditationsund Klangbilder im wörtlichen Sinne. Es sind Bilder, die bei einlässlicher Betrachtung – ohne Schall – zum Klingen kommen. Linearität und Vertikalität der Partitur (Rhythmus, Versmaß, Wort/Ton) und Textbild werden zum synergetischen Erlebnis. André Butzer (*1973 in Stuttgart), bildender Künstler, studierte zunächst an der Merz-Akademie Stuttgart, dann ab 1995 in Hamburg an der Hochschule für Bildende Künste, von der er nach zwei Semestern verwiesen wurde: Seine Bilder wurden als ›bedrohlich‹ empfunden. Daraufhin gründete er mit Freunden 1996 die Akademie Isotrop, die vier Jahre lang bestand. Butzer bezeichnet seine Bilder als »Science-Fiction-Expressionismus« und gibt sich u. a. den Namen »N-Hölderlin«. 2001 übersiedelte Butzer in die USA; zurückgekehrt nach Europa, findet er in H.s Hyperion eine Identifikationsfigur. Weitere Lektüren H.s – Die Wanderung, Brod und Wein, Wie wenn am Feiertage ..., Germanien – inspirierten ihn zu Werken wie Wanderer (2001, H. 200 × B. 140 cm) und brachten das Künstlerbuch Wanderung nach Annaheim, später Nasaheim hervor. In allen Bildern des Zyklus – eines ist Hölderlins Apotheke (2003, Öl auf Leinwand, H. 270 × B. 210 cm) betitelt – erscheint immer derselbe Kopf, fratzenartig: die Augen als übergroße runde schwarze Kugeln, die Haare rechts und links wie drei Finger abgespreizt, der Mund als Zahnreihe in schwarzen vertikalen Strichen. In N-Leben (2005) taucht er wieder auf. Die Erfindung des fiktionalen Ortes N bildet »die ›Koordinate‹ seines erträumten kosmischen ›Elysiums‹.« (Malycha 2017, 152) Zu dem grellbunten Kosmos tritt ein monochromes Grau, fast schwarze Bilder entstehen. In die Reihe der Monochrome gehört auch der Ingenieur des Todes Eichmann und Seine N-Tödlichkeit Heinrich Himmler – als Gegenfigur erscheint: Ohne Titel (Friedrich Hölderlin). Durchgängig scheinen H.-Bezüge auf: H-Menschen, Kommando Friedrich Hölderlin (Ausstellung in Berlin, 2007), Vaterländischer Gesang: Friedrich Hölderlin (2016/17). Gang in den Garten von N (2006, Öl auf Leinwand, H. 280 × B. 460 cm) erinnert den Vers
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aus Mein Eigentum: »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!« (StA 1, 307) Ist für den Dichter der Gesang »der Garten«, in dem der Dichter »in sichrer Einfalt wohne«, so ist für Butzer der geschützte Ort jener Garten, in dem die Malerei sich ereignet. Erich Mansen (1929–2012), Zeichner und Maler, schuf 2004 einen H.-Zyklus mit dem Titel Ein Zeichen braucht es, den er H.s Der Ister entlehnt, Arbeiten in einer Kombination von Aquarell und Federzeichnung. Zwei späte Texte H.s legt Mansen seiner Gestaltung zugrunde. Dem ersten In lieblicher Bläue ... nähert er sich mit 17 Blättern, dem zweiten Der Ister mit 25. Beim ersten geht er jedoch nicht von der Prosaform aus, sondern von der von Dietrich Uffhausen rekonstruierten Versform (9 Strophen von je 12 Versen). Wilhelm Waiblinger hatte den Text In lieblicher Bläue ... in seinen Roman Phaëton integriert, den er wohl bei einem seiner Besuche im Turm von H. erhalten hatte (Waiblinger, Tagebücher, Bd. 1, 666). Beim zweiten Gedicht Der Ister geht Mansen von der erstmals 1916 im Druck erschienenen Textgrundlage der Edition von Norbert von Hellingrath aus und begründet seine Wahl durch einen Zusatz, der in allen späteren H.-Ausgaben nicht enthalten ist: »die Ströme sollen nemlich zur Sprache seyn«. Der Satz bezeichne, so Clemens Ottnad im Vorwort zu dem Ister-Teil des Künstlerbuches, »bei Friedrich Hölderlin einen Bewusstseinszustand, der angesichts der neuen Zeichnungen von Erich Mansen der Bildwerdung – gewissermaßen als Seinswerdung im Bild – analog verläuft. Die Entschlüsselung des Bildcodes selbst erfolgt in beiden Fällen erst allmählich, von den vielarmigen Mündungen des sprachlichen wie bildlichen Ausdrucks zum Bedeutungsursprung zurück: Zeichensammeln als Verstehensübung.« Alle 42 Blätter sind als Paare auf Doppelblättern (H. 63 × B. 45 cm) entworfen: zwei Rechtecke, die gelegentlich einen Rahmen durch einen leichten Farb- oder Federstrich erhalten. Das in japanischer Bindung ausgeführte Künstlerbuch ist ein Kleinod: Die Blätter wurden in der Mitte nach hinten gebogen gefaltet, ihnen ist jeweils ein Pergamentblatt vorgesetzt, auf dem in bescheidener Schrift die einzelnen Strophen von In lieblicher Bläue ... integral aufgedruckt sind, wobei Verse, Segmente oder Worte in unterschiedlicher Graphik stark hervorgehoben werden. So wird gewissermaßen durchsichtig auf das Kommende verwiesen (beispielsweise am Anfang des zweiten Teil des Buches Der Ister im imperativischen »Jezt komme, Feuer!«). Den Ablauf des Bilderstroms beschreibt Mansen in der Einleitung: »Im Wenden der Seite, im Umblättern wird
rückblickend der ursprüngliche Zusammenhang wieder hergestellt. Im selben Augenblick beginnt ein neuer. Erinnernde und gleichzeitig fortschreitende Betrachtung sind die Folge.« Daniel Seret (*1948 in Durbuy/Belgien) operiert in seinem Schaffen mit dem Begriff der »Form-Matrix« (»matrice formelle«) und entwickelte einen Spontan-Realismus, der die These, das Modell macht die Form, zum Ergebnis hat. Sein Interesse für H. beginnt um 1970 mit Lektüren von Pierre Bertaux und Jacques Teboul; die intensive Beschäftigung mit H. setzt ein, als Alain Préaux 1993 die Übersetzungen der Spätesten Gedichte (Poèmes de l’autre vie) herausbringt und die H.-Lieder (1982–1991) von Wilhelm Killmayer und der Scardanelli-Zyklus (1975–1991) von Heinz Holliger erschienen. Interessant ist der schöpferische Prozess, den Seret seit 1994/95 anstrengt: Er malt die Musik, zuerst diejenige von Killmayer, dann diejenige von Holliger. Das Malen beginnt beim ersten Hören und hört mit der Musik auf, und entstanden ist das Bild in der erlebten (Musik-) Zeit. Nach diesem »Malen in Musik« widmet sich Seret den 50 Turmgedichten. Unmittelbar nachdem ein Gedicht vorgelesen wurde, bringt es Seret in einer Art von gestischer Zeichnung, in schwarz, mit rascher Pinselführung, auf ein Blatt. Nach den 50 Blättern entstehen sogenannte Porträts von H. und Evokationen, die aus den spezifischen Farb-Formen der zuvor entstandenen Bildfolgen schöpfen. Am Schluss stehen Synthesen-Bilder, welche die Musik der Wörter malen. Ein Vergleich dreier Bilder, die dasselbe Gedicht zur Grundlage haben, zeigt Analogien in Form, Struktur und in der räumlichen Anlage. Daraus ist zu schließen, dass das Modell-Gedicht – auch in der Übersetzung – seine Form und Struktur der Musik quasi eingedruckt hat; ebenso hat es dies durch die Lektüre und wiederum via Musik in der Malerei getan. Als wesentlich Verbindendes in diesem Bezug von Bild-Musik-Text erscheint der Rhythmus, der sich als das strukturierende und letztlich verbindende Basiselement aller Ausdrucksformen zeigt – H.s Wort umsetzend, »daß eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, daß nur im Rhythmus seine Sprache liege« (StA 7.4, 195). Mit Daniel Seret lief 2005 über ein Jahr lang das Bild-Musik-Projekt im H.turm. Gezeigt wurden die drei oben in ihrem Entstehungsprozess beschriebenen Zyklen (134 Blätter): Bilder, gemalt nach den H.-Vertonungen der Turmgedichte von Killmayer (41 Arbeiten), Bilder nach den Kompositionen aus dem Scardanelli-Zyklus Holligers (31 Arbeiten) und die Bilder, je-
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weils gemalt unmittelbar nach dem Rezitieren aller 50 Turmgedichte, sowie Synthesen-Bilder. Während des Projekts waren Konzerte zu hören, in denen Seret ihm bislang unbekannte H.-Vertonungen malte, und es wurden insgesamt drei Ateliers mit SchülerInnen verschiedener Altersgruppen zu Musik malen (peindre en direct) durchgeführt, eines davon mit belgischen und deutschen. Der zugehörige Katalog Hölderlin l’autre – Der andere Hölderlin wurde am Ende des Projekts konzipiert, damit die Ergebnisse mit dokumentiert werden konnten. Seret schuf während dieser Zeit zwei Blätter zu In lieblicher Bläue ... (H. 57 × B. 76,5 cm), die er dem H.turm widmete. Peter Brandes (*1944 in Assens/Dänemark) ist Maler, Graphiker, Holzschneider, Bildhauer und Photograph. Auftragsarbeiten führten ihn nach Schweden, Norwegen, Israel, Italien, Frankreich, Deutschland und in die USA. Seine Beschäftigung mit ältesten Ausgrabungen der Kulturgeschichte, griechischer Mythologie, Geschichte und Literatur (Homer, Celan, H.), der Bibel – in der Domkirche von Roskilde gestaltete er das große Eingangstor und eine Kapelle – bestimmen sein Werk. Besonders eindrücklich ist der monumentale Fuß (1994; H. 500 × B. 600 cm), der, als Symbol des Übergangs, über dem Wasser im Hafen von Tuborg (Dänemark) schwebt. Einige Angaben zum biographischen Hintergrund sind unerlässlich. Sein Vater konnte vor den Nazis über Frankreich nach Dänemark fliehen – der Großvater wurde in Auschwitz ermordet. Brandes schuf enorm hohe Vasen; sie zu brennen, verlangte entsprechende Öfen und Gas. »Ich habe immer an meinen Großvater denken müssen. Also machte ich die Vase für Yad Vashem. Die Vase als symbolisches Vorratsgefäß für Öl und Wein, als Urne für Gebeine und Asche und als Symbol für das Spirituelle, den Geist und den Glauben, denn auch Texte, die man im Toten Meer fand, wurden in solchen Gefäßen aufbewahrt. Sie sind mit ihren fünf Metern Höhe monströs, diese Vasen. Monströs wie die Tötungen. Ich kann das nicht begreifen, aber so habe ich meinem Großvater Isaak Brandes ein bisschen Ruhe bereitet.« (Brandes, zit. nach Baltzer 2008, 9) Seine Tante Rosa Höfer hat Brandes über viele Umwege in Israel 85-jährig in einem Altersheim aufgefunden. Sie gehörte zur jüdischen Familie Brandes aus Moldavien (heute Rumänien) und war in Czernowitz Paul Celans Französisch-Lehrerin. Im Ceaucescu-Regime war sie gegen Devisen nach Israel verkauft worden, wo sie im Eichmann-Prozess als Dolmetscherin ins Hebräische und ins Französische übersetzte.
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Brandes’ Bildgespräche nahmen ihren Ausgang mit dem Besuch eines Konzertes im H.turm: Von den verschiedenen H.-Porträts in den Vitrinen fertigte er Skizzen. An die hundert Werke, vor allem Holzschnitte entstanden (spielen könnte man mit der Koinzidenz, dass H. in seiner Stiftszeit im Dichterbund mit den Freunden Magenau und Neuffer den Namen »Holz« bekam). Brandes zu dieser Technik: Man finde »im Charakter des Holzschnitts dieselbe einfache Kraft [...], die den Granit und die Turmgedichte kennzeichnet. Die gleiche Einfachheit und Stärke findet man in den Aussagen der Runen wieder. Als bilde das Ganze einen Kreis. Anfang und Ende, Leben und Tod sind durch ausgemeißelte ›Wegmarken‹ der Erinnerung miteinander verbunden. Gezeiten.« (Brandes 2009, 70) Brandes’ Bildgespräche gehen aus von vier Bildnissen aus H.s Turmzeit und nehmen eben jene Gedichte in den Blick, die H. hier geschrieben hat: eine Bleistiftzeichnung von Johann Georg Schreiner und Rudolf Lohbauer datiert vom 17. Juli 1823; eine Kohlezeichnung von Schreiner um 1825/26; ein Wachsrelief von Wilhelm Paul Neubert um 1840; eine Bleistiftzeichnung von Louise Keller von 1842. Die Kohlezeichnung Schreiners hat die längste Reihe von Versuchen ausgelöst. Brandes setzt ein Element daraus besonders in Szene: die Hand mit den gespannten Fingern, »das ›Hineingreifen‹ der rätselhaften Hand in den Raum. Dieser zeigende Finger hat mich fasziniert. Eine Waffe, ein Degen, ein Taktstock, ein Schlüssel, ein Ruf, ein Ausrufezeichen, eine Aussage, ein Versuch, ein Nagel, die Form eines Schattenrisses, eine Alternative zu nichts, eine Frage.« (ebd., 71) Die Hand taucht ein in die Farbe rot, »in einen mohnfarbenen Fluss.« Blut und Leben bedeutet diese Farbe zugleich, »sie glüht wie das Feuer. Wenn draußen vor dem Fenster der Tag beginnt, ist der Himmel rot. Und wenn draußen die Nacht vor das Fenster kommt, ist der Himmel rot. Die Gedichte sind zwischen die äußersten Punkte gespannt, und in ihrem zyklischen Verlauf wird der Dichter – einsam – mit sich selbst vereint.« (ebd.) Im Katalog zur Ausstellung (2009) konnte das gesamte Spätwerk H.s nach der FHA abgedruckt werden. Brandes erhielt als erster bildender Künstler 2013 den von der Universität und Stadt Tübingen gestifteten (von 1989 bis 2015 zweijährlich vergebenen) Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Bronze-Plastik Hölderlin – Heidegger – Celan schuf Peter Brandes 2015 für den H.turm. Thomas Ranft (*1945 in Königsee/Thüringen), Graphiker, entwickelte sich an der Leipziger Hochschule zu einem herausragenden Radierer, der später
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den künstlerischen Nachlass von Max Beckmann (1884–1950) druckte. Nach Goethe und Jandl wurde H. der dritte Autor, mit dem sich Thomas Ranft bildkünstlerisch auseinandersetzt. Auslöser dafür war die Einspielung der integralen Lesung von H.s Briefroman Hyperion, den Christian Brückner in vier Lesungen an dem Tisch vortrug, auf den »der Dichter Hölderlin mit d. Hand geschlagen, wenn er Streit gehabt – mit seinen Gedanken!«, so die Überlieferung von Lotte Zimmer (StA 7.3, 250). Ranfts erstes Blatt und titelvisualisierendes Bild Ich suche den Anfang hält diesen Auslöser fest. In seiner intensiven Beschäftigung mit H.s Hyperion oder der Eremit in Griechenland näherte er sich bildnerisch dem Roman und schuf seine eigenen »Papiere«: Gedanken, Erzählungen, Erfahrungen – im intermedialen Bild-Text-Bezug Texte in eine andere Materie über-setzend. Beeindruckt von den Lebensumständen und dem Schaffen des Dichters, zeichnete der Radierer 22 Blätter in die Platten – 11 erzählende Landschaften und 11 Gefühlslandschaften. Zu den beiden Mappen schuf er 15 Unikate, experimentelle Drucke, die mit ihren Schichtungen, Überdrucken und Montagen verschiedener Reispapiere ein Ausdruck seiner H.-Interpretationen sind. Das große Thema ist dabei die Landschaft. In seiner Ausstellung im H.turm 2013 wurden die genannten Werke gezeigt (vgl. den Katalog, der die geschaffenen Werke der Jahre 2011/12 enthält, denen Textpassagen aus dem Hyperion beigegeben sind, die sich wie Inschriften auf Stelen lesen). Den Mappen schrieb er jeweils das lateinische Motto ein, das H. dem ersten Band des Romans gab: »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est.« (»Nicht eingeschränkt werden vom Größten, umschlossen werden vom Kleinsten, ist göttlich.« (MA 1, 610; MA 3, 319 und 303). Thomas Ranfts künstlerische Auseinandersetzung mit dem Hyperion zeigt, wie aktuell H.s Briefroman noch immer ist. Literatur zu Andresen
Selbmann, Rolf: Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein, Stuttgart 1988.
zu Reifferscheid
Reifferscheid, Heinrich. 1872–1945: Radierungen 1899– 1909, Bonn 2007. Roth, Bärbel: Werkverzeichnis Heinrich Reifferscheid. Gemälde, Aquarelle, Pastelle, Zeichnungen, Druckgraphik, hg. v. Martin und Gerhard Reifferscheid, Ainring 1992.
zu Heckel
Felix, Zdenek (Hg.): Erich Heckel (1883–1970). Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Graphik, München 1983.
zu Ernst
Max Ernst, Gemälde, Plastiken, Collagen, Frottagen, Bücher. Ausstellung, Katalog und Typographie von Uwe M. Schneede, Württemberg. Kunstverein Stuttgart, 24.1.– 15.3.1970, Stuttgart 1970. Ernst, Max: Max Ernst’s favorite poets/painters of the past, in: View, 2. Serie, Nr. 1, Sondernummer, New York, April 1942, 14–15. Spies, Werner: Max Ernst-Collagen. Inventur und Widerspruch, Paris/Köln 1974.
zu Beucker
Hornbogen, Helmut: Niedergebeugt aufstrebend: Die plastische H.-Huldigung von Ivo Beucker im Garten am Turm, in: Schwäbisches Tagblatt, Tübingen, 26.7.1990.
zu Reichert
Neumann, Michael: Laßt Gedichtfahnen wehen. Zu den Stuttgarter Drucken von Josua Reichert, in: Westermanns Monatshefte, November 1974. Unterwegs. Stipendiaten der Akademie, Bayerische Akademie der Schönen Künste, München 2001. Vom Delphin (mit seinen kurzen Flügeln): H. und Pindar. Drucke von Josua Reichert, Tübingen 2007, 22009.
zu Hrdlicka
Hrdlicka, Alfred: Otto Dix wie ich ihn sehe, in: Das neue Forum, Heft 245, Wien 1974. Hrdlicka, Alfred: Schaustellungen. Bekenntnisse in Wort und Bild, hg. v. Walter Schurian, München 1984.
zu van Velde
Beckett, Samuel: Le monde et le pantalon. Paris: 1989. Dt. Übers.: Die Welt und die Hose, Frankfurt a. M. 1990. Bram van Velde 1895–1981, hg. v. Bonnefantenmuseum Maastricht/Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris/Maastricht/Bern 1989. Juliet, Charles: Rencontres avec Bram van Velde, Paris 1978. Dt.: Begegnungen mit Bram van Velde, Tübingen 1989. Putman, Jacques/Charles Juliet: Bram van Velde, Bern 1975. L ’Unique. Künstlermappe von Bram van Velde. Drei Fassungen von H.s Gedicht Der Einzige in der Übersetzung von André du Bouchet mit sechs Lithographien von Bram van Velde, H. 42 × B. 29,5 cm. In der Handpresse von Pierre Badey, Paris 1973.
zu Boisecq
Daive, Jean: Ce que trouvent les formes. L ’œuvre sculpté de Simone Boisecq/O que encontram as formas. A obra escultórica de Simone Boisecq/Was die Formen finden. Das bildhauerische Werk von Simone Boisecq, Eggingen 1999. Karl-Jean Longuet et Simone Boisecq: De la sculpture rêvée, Lyon 2011. Lawitschka, Valérie/Anne Longuet Marx: Simone Boisecq:
56 Nachwirkungen in der bildenden Kunst Le sculpteur et ses poètes/ A escultora o os seus poetas/ Die Bildhauerin und ihre Dichter [französisch, portugiesisch, deutsch]. Katalog zur Ausstellung von Oktober 1999 bis Januar 2000 im H.turm Tübingen; von Januar bis März 2000 in der Casa Fernando Pessoa in Lissabon/Portugal, Tübingen/Eggingen/Lissabon 1999. Sobre Simone Boisecq, in: Tabacaria, Nr. 9, 2. Serie, Oktober, Lissabon 2000, 6–41.
zu Chillida
Chillida, Eduardo: Skulpturen aus Ton. Ausstellungskatalog, Museum Bellerive, Zürich 1997. Lichtenstern, Christa: Der Bildhauer Chillida und H., in: Bad Homburger Hölderlin-Vorträge, 1998–2000, hg. v. der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe in Zusammenarbeit mit der Hölderlin-Gesellschaft, Bad Homburg vor der Höhe 2002, 7–24.
zu Pfarr
Pfarr, Paul: Arbeiten 1971–1984, Berlin 1984. Pfarr, Paul: H.-Räume. Text von Walter Aue, Stuttgart 1988.
zu Quaderer
Böschenstein, Bernhard: H.s Rheinhymne, Zürich/Freiburg i. Br. 1968. Das Pentazelt. Ein Werkbuch, hg. v. Scherrer, Sigi/Hansjörg Quaderer/Joachim Kranz, Bern 1987. Quaderer, Hansjörg: Stromschwärzen der Landschaft. Ein Libretto [dt.-it.], Schaan 1992.
zu Göser/Sauter
Herbert Gösert/Joachim Sauter: H. und die Französische Revolution. Skulpturen und Grafik, Tübingen 1987.
zu Benrath
Frédéric Benrath, Galerie Etats d’Art, 28.1.–26.2.2000 und Galerie Simon Blais, 5.4.–5.5.2000, Montreuil 2000.
zu Robert Schwarz
Robert Schwarz, »O ehre, was du nicht verstehst!« H.s Empedokles (Katalog zum Buch F. H., Empedokles, 1. Entwurf, mit Lithographien von Robert Schwarz. Mainz: 1989– 1993), hg. vom Museum für Kunsthandwerk Frankfurt a. M. im Auftrag des Dezernats für Kultur und Freizeit, Autoren: Dietrich E. Sattler/Stefan Soltek, Mainz 1993.
zu Brodwolf
Brodwolf, Jürgen/Thomas Kliemann: Lesespuren – Die Lust an Büchern, in: Bateria, Zeitschrift für künstlerischen Ausdruck. Nürnberg, Nr. 13/14, 1993, 66–79. Brodwolf, Jürgen: Stationen. Ein Künstlerbuch. Texte von Wolfgang Heidenreich, Stuttgart 2002. Heimath. Und niemand weiß ..., hg. v. Dietrich Uffhausen, Stuttgart 1983.
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zu Gojowczyk
Hubertus Gojowczyk: Worte ohne Bücher und Bücher ohne Worte, Ausstellung in der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel, 16.5.–13.7.1980, Ausstellung und Katalog: Adolf Flach/Paul Raabe, Braunschweig 1980. Hubertus Gojowczyk: Bücher und Noten 1968–1982. Katalog zur Ausstellung in der Pfalzgalerie Kaiserslautern, 16.1.–27.2.1983, Kaiserslautern 1983. Hubertus Gojowczyk: Bücher Graphik und »Die Doktorarbeit«. Arbeiten seit 1968. Katalog zur Ausstellung im Sprengel Museum Hannover, 14.9.–6.10.1986, Hannover 1986.
zu Linda Schwarz
Linda Schwarz, Berlin 1996. Linda Schwarz, hg. v. Jörg und Sabine Maaß, Berlin 1998.
zu Butzer
Butzer, André: Tous mes adieux, alle meine Abschiede, hg. v. Malycha, Christian/Josef Zekoff, Wien 2017. Malycha, Christian: Sein und Bild. André Butzer 1994–2014, Bielefeld/Berlin 2017.
zu Mansen
Fichtner, Gerhard: »Ein Zeichen braucht es«. Einführung zur Ausstellung des H.-Zyklus von Erich Mansen im H. turm Tübingen vom 8. Juni 2006 bis 11. März 2007, in: HJb 35, (2006/07), 440–447, mit 16 Farbabbildungen. F. H.: »Bevestigter Gesang«: die neu zu entdeckende hymnische Spätdichtung bis 1806, hg. und textkritisch begründet v. Dietrich Uffhausen, Stuttgart 1989, 177–179. Mansen, Erich: ›Ein Zeichen braucht es‹. Einübung in H.: ›In lieblicher Bläue‹. ›Der Ister‹, Stuttgart 2005. Waiblinger, Wilhelm: Tagebücher 1821–1826, Bd. 1, hg. v. Hans Königer, Stuttgart 1993.
zu Seret
Seret, Daniel: H. l’autre – Der andere H. Zur Ausstellung im H.turm Tübingen vom 20. März 2005 bis zum 20. März 2006, Eggingen/Tübingen 2006.
zu Brandes
Baltzer, Burkhard: Der Fuß über dem Wasser, in: Kunst + Kultur, Jg. 15, Nr. 2, April/Mai 2008, 8 f. Brandes, Peter: H.s Turmgedichte. Späteste Fragmente nach 1806. Bildgespräche, Arbeiten und Skizzen, Gylling/ Dänemark 2009.
zu Ranft
Ranft, Thomas: Radierungen zu H.s ›Hyperion‹. Zur Ausstellung im H.turm Tübingen vom 23. März bis 31. Dezember 2013, Eggingen/Tübingen 2013.
Valérie Lawitschka
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57 Nachwirkungen in der Musik 57.1 Hölderlin und die Musik H. erhielt bereits zuhause in Nürtingen und dann ab Oktober 1784 in der niederen Klosterschule Denkendorf Klavierunterricht. Wann er das Flötenspiel erlernte, ist nicht bekannt, noch was er spielte, und bei wem er gelernt hatte, im Tübinger Stift jedenfalls erscheint er unvermittelt als Virtuose. Einer Nachricht zufolge, überliefert von Christoph Theodor Schwab 1846, nahm H. im Sommer 1789 bei dem berühmten blinden Flötenvirtuosen Friedrich Ludwig Dulon (1769–1826) Unterricht, doch »bald erklärte der Meister, daß der Schüler bei ihm nichts mehr zu lernen habe.« (StA 7.1, 392) Eigene Kompositionen sind von dem hochmusikalischen H. nicht bekannt. Erhalten ist lediglich eine dreizeilige Partitur auf einer Seite eines Doppelblatts, auf welchem sich auch die letzte Strophe des neunstrophigen Gedichts Burg Tübingen notiert findet (StA 1, zwischen 404 und 405; FHA 2, 15), das auf Ende/Anfang 1789/90 zu datieren ist. Die einstimmigen Notenzeilen auf unregelmäßigen Pentagrammen, ohne Schlüssel, ohne Taktbezeichnung, Vorzeichen und Taktstriche, wurden jüngst als Kadenz zu Dulons Flötenkonzert in G-Dur, op. 8 (1. Satz: Allegro) identifiziert, ein Konzert, von dem Dulon selbst berichtet, er habe es in Tübingen im Sommer 1789 abgeschlossen (Öhm-Kühnle/Öhm 2009, 154). Somit könnte die Kadenz durchaus Gegenstand des Unterrichts gewesen sein. Von dem 16-jährigen H. wissen wir, dass er sich nach der Lektüre von Schillers Die Räuber die Noten zu den Liedern aus diesem Stück besorgen wollte, um sie auf dem Klavier »zu Schillers Ehre« zu spielen (StA 6, 6). Die Vertonungen stammen von Rudolf Zumsteeg (1760–1802), der als Lied- und Balladenkomponist für die Schwäbische Schule wichtig war und auch auf Schubart wirkte, dessen Überlegungen zur Tonkunst H. womöglich kannte. In den Jahren 1784/85 zu Papier gebracht, wurden sie erst posthum veröffentlicht (Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, 1806). Ludwig Neuffers Gedicht Rundgesang für Freunde. Am Tage der Einweihung geschrieben, 1790 – Einweihung meint die Gründungsversammlung zum Aldermannsbund zwischen Magenau, Neuffer und H. – erschien noch im selben Jahr in der Vertonung von Johann Christian Gottlob Eidenbenz (1761–1799) in einem Heft für die Hohe Carlsschule, in welchem auch Zumsteegs Schiller-Vertonung gedruckt war. Eine
neuere Forschung belegt, dass dieses Lied zum Repertoire des Freundeskreises um H. gehörte. Die von Zumsteeg komponierte Strophe des Wechselgesangs ist bis 1795 die von H. am häufigsten benutzte Reim-Strophe. H. hat mit den Freunden Schillers Ode An die Freude gesungen und wohl auch den Rundgesang Neuffers. H.s frühe Dichtung bis zum Ende der Tübinger Stiftszeit 1793 lässt sich, mit Ausnahme von einigen antikischen Gedichten, nach den Vertonungen von Schillers Dichtungen singen. Wie entscheidend und folgenreich die Musik auf H.s Poetik wirkt, zeigt seine Reflexion über den Tönewechsel (Löst sich nicht ..., MA 2, 108–110) und seine Beschäftigung mit den musikästhetischen Überlegungen Herders wie der Musiktheorie Heinses.
57.2 Die Musiker und Hölderlin H. gehört im 19. Jh. nicht zu den Autoren – wie Goethe, Schiller, Klopstock, Hölty, Novalis, Eichendorff, Heine –, die von zeitgenössischen Komponisten vertont wurden. Wiederentdeckt zu Beginn des 20. Jh.s, hat H. gerade in der Musik wie kaum ein anderer Autor eine weltweit bemerkenswerte Rezeption erfahren. Die Fülle dieser Nachwirkung(en) kristallisiert sich vor allem an den wichtigsten Eckpunkten der Editionen des H.schen Werkes. Das Erscheinen neuer Ausgaben löst jeweils ein Ansteigen der Produktionen aus. Diese Auslöser-Funktion ist vor allem bei den Übersetzungen zu beobachten. Die Bibliographie der Musikalien und Tonträger zu Hölderlin (1806–1999) bietet im Materialteil eine komplette Erfassung der musikalischen Quellen, im Erschließungsteil nebst Besetzungsverzeichnis und systematischer Übersicht über die gesamte IHB, Schlagwort-, Personen- und Titelregister, eine Auflistung der Komponisten und ein chronologisches Register der Noten. Die Bibliographie wurde online weitergeführt und versammelt an die 1500 Kompositionen von über 600 Komponisten und rund 500 Einspielungen. Allein seit der Jahrtausendwende sind über 300 Kompositionen verzeichnet, und nicht registrierte Kompositionen kommen hinzu. Es versteht sich, dass aus dieser Fülle im Folgenden ausgewählt werden muss. Die Vertonungen reichen vom Sologesang bis zu chorischen Werken, von a cappella-Vertonungen über Begleitungen von verschiedensten Einzelinstrumenten bis zum Orchester und der Orgel, schließlich bis zu Kompositionen, die ohne Text auskommen. Insgesamt erscheint am häufigsten die Liedform: Hälfte
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04878-3_57
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des Lebens erfährt die meisten Vertonungen und zwar für Sopran oder Bariton mit Klavierbegleitung, gefolgt von Abbitte und Hyperions Schiksaalslied. In der ersten Hälfte des 20. Jh.s sind Lieder und Gesänge vorherrschend, in denen vor allem H.s Oden vertont werden. Dies ist (vgl. die Studien von Kelletat, Komma und Schuhmacher) ein wichtiger Bestandteil in der Entwicklungsgeschichte der Vokalmusik, die in den 1920er Jahren ein Aufleben der Chormusik (Männerchöre) verzeichnet. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, vor allem ab den 1970er Jahren liegt der Schwerpunkt deutlich auf dem Spätwerk H.s: den Gedichten aus der Turm-Zeit der Jahre von 1807 bis 1843 und dem fragmentarisch überlieferten Werk. Zu beobachten ist, dass Komponisten häufig ihre Vertonungen als H.-Fragmente betiteln. Dabei gilt es zu unterscheiden, ob H.s fragmentarisch Überliefertes zugrunde gelegt wird oder aber, ob der Komponist vollendete Werke H.s selbst fragmentiert, d. h. eigene Fragmente herstellt, indem er Auszüge aus H.s abgeschlossenen Texten verwendet (einzelne Strophen, Verse, Wörter).Viele ausländische Komponisten haben sich von H.s Werk anregen lassen, so dass seine Nachwirkung in der Musik weder auf den deutschsprachigen Raum noch auf Liedvertonungen beschränkt bleibt. Summierend lässt sich sagen, dass es bei der musikalischen Auseinandersetzung mit H.s Werk einerseits um das Aushalten der Spannung von Text und Musik geht, andererseits um Vereinigung, um kongeniale Entsprechung, schließlich um ein Über-Setzen ins andere Medium, in einen Ausdruck neuer Eigenständigkeit, der zeitgemäß immer wieder neue Mittel erproben muss.
57.3 Das 19. Jahrhundert und das Fin de Siècle Die Musikgeschichte der H.-Vertonungen beginnt mit den beiden extremen Formen: der üblichen Liedvertonung und derjenigen, die nur an den Text ›denkt‹, ohne ihn zu verwenden. Die erste bekannte Vertonung der Musikgeschichte stammt von Friedrich Theodor Fröhlich (1803–1836), der als der bedeutendste schweizerische Komponist der Romantik gilt. An Wilhelm Wackernagel (1806–1869) hatte er Ende September 1829 die Frage gerichtet: »Kennst Du auch die Gedichte von Just. Kerner, Hölderlin«? Einen Monat später rühmt er »Arnims wunderbare Dichtungen«, die ihm »außerordentlich wohl« tun, »aber sehr
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viel größer, tiefsinniger, wenn auch unklarer und spätern Wahnsinn verrathend ist F. Hölderlin, besonders herrlich in seinem seltsamen Roman Hyperion, den mir Schott schenkte.« (StA 7.3, 47) Schon am 1. Februar 1830 schreibt er an Wackernagel: »Von Hölderlin hab ich zwei große Oden componirt: Rükkehr in die Heimat, und Hyperions Schikksalslied – beides ungeheuer prächtige Dichtungen.« (ebd.) Beide Kompositionen sind für Singstimme und Klavier. Obwohl ihnen Fröhlichs Biograph Entwurfscharakter zuschreibt, sind es die ersten gültigen H.-Vertonungen. ›Dilettantische‹ Entwürfe bescheinigt die Musikwissenschaft der Dichterin Bettina von Arnim (1785– 1859). Die 20-Jährige hat sich 1805 an einer Komposition versucht, der zwei Texte H.s zugrunde liegen: Hälfte des Lebens und Die Thränen für Singstimme und Klavier. Die Handschrift, als Fragment erhalten, ist sehr schwer lesbar und bislang noch nicht entziffert. Robert Schumann (1810–1856) komponierte zwischen dem 15. und 18. Oktober 1853 – drei Monate vor seinem Suizidversuch im Rhein – die Gesänge der Frühe. Fünf charakteristische Stücke für das Pianoforte (op. 133). Es seien Musikstücke, die »die Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens schildern, aber mehr aus Gefühlsausdruck als Malerei.« Die hymnischen Anrufungen, eine knappe Viertelstunde dauernde, kurze, streng komponierte Klaviersätze sind ohne virtuosen Glanz: der erste und der fünfte klingen wie ein polyphoner Chorsatz. »Der Klaviersatz ist auf die Essenz reduziert, sein Klang wird zum Träger des Gesanges transzendiert.« (Holliger Booklet, 15) Eine neuere Studie will Schumanns Komposition auf der Grundlage von H.s Ode Des Morgens verstehen (Reiner Nägele), eine weitere als Realisierung von H.s Hyperion, indem ausgewählte Textpassagen in Bezug zur Komposition in Motivik und musikalischen Strukturen gesetzt werden (Jean-Christoph Schwerteck). Der ursprüngliche Titel lautete An Diotima/Gesänge der Frühe. Sicherlich hat Schumann an Hyperions Diotima gedacht, wohl auch an die Diotima-Gedichte. Den ursprünglichen Titel tilgte er, als er feststellte, dass nicht einmal Brahms und Joachim mit der Gestalt der Diotima etwas zu verbinden wussten und offenkundig von H. nie etwas gehört oder gar gelesen hatten. Schumann widmete die Komposition Bettina von Arnim, die damals gerade bei ihm zu Besuch war. Wohl ausgelöst durch Schumann, entstand die großartige, bedeutendste und bekannteste H.-Vertonung des 19. Jh.s: In der Chorkantate Schicksalslied, op. 54 (1871) von Johannes Brahms (1833–1897) ist Hyperions Schiksaalslied ausgearbeitet. Mit H.s
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Schluss mochte er sich nicht abfinden; er musste die Erinnerung an die Götterwelt »Ihr wandelt droben im Licht« versöhnend aufrufen. Der mit Brahms befreundete Violinvirtuose und Komponist Joseph Joachim (1831–1907) plante eine Hyperion-Symphonie, die aber nicht zur Ausführung kam. Peter Cornelius (1824–1874), Komponist und Dichter, schuf Kammermusik und sakrale Musik. Nach dem Eklat bei der Weimarer Uraufführung seiner Oper Der Barbier von Bagdad (1858) unter der Leitung von Franz Liszt (1811–1886), ging er nach Wien, später nach München, wo er Richard Wagner (1813– 1883) kennenlernte. Beide Komponisten schätzte er zeitlebens. In einer Tagebuchnotiz erfahren wir, dass er nicht nur H.s Lebensgeschichte gelesen hat, sondern auch sein Empedokles-Drama und einen Band Briefwechsel. 1862 vertonte er Sonnenuntergang. Sein Hauptwerk ist die Lied-Komposition. Mit wenigen H.-Kompositionen klingt das 19. Jh. aus: Ehemals und Jetzt für Gesang und Klavier (1855) von Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), der in seiner Hausmusik. Fünfzig Lieder deutscher Dichter (Stuttgart 1855) vertonte; Wilhelm Baumgartner (1820– 1867), der in seiner Sammlung von Volksgesängen – die meisten sind um 1860 entstanden – Lebensgenuß für Männerchor in Musik setzte, genauer das dreistrophige Gedicht, das H. in seinem Brief an Neuffer (aus Waltershausen, Anfang April 1794) dem Freund schickte: An Neuffer. Im Merz. 1794; Emil Kauffmann (1836– 1909), An eine Rose, einmal für Männerchor a capella (1881), später für Singstimme und Klavier (1885), dazwischen liegt op. 16, schließlich Der Tod (1900) – Stammbuchblatt für einen Unbekannten von H.s Hand »Es erschrekt uns«, Klopstocks Gedicht Die Zukunft. Hindemith wird denselben Text 1932 seiner Komposition zugrunde legen. Die nächsten bedeutenden H.-Vertonungen stammen von Max Reger (1873–1916): Die Eichbäume (1903) und die Solokantate An die Hoffnung (1912) für Singstimme (Alt) und Orchester oder Klavierbegleitung, op. 124; ferner die 18 Lieder, op. 75 (1904), Ihr, ihr Herrlichen!, op. 75,6, für hohe Stimme und Klavier. Reger greift häufig in einer syllabischen Deklamation zu Wortwiederholungen und verfährt mit dem Text sehr frei. Mit der bachschen Kompositionslehre aufs genaueste vertraut wie mit der Beethovens und Brahms, schuf er über 300 Lieder, deren religiöse Verwurzelung sein eigenes Schaffen charakterisiert und die mit extremen Intervallfolgen neue Ausdrucksmöglichkeiten, etwa eines Schönberg, vorwegnehmen.
Richard Strauss (1864–1949) hat für sein umfassendes Liedschaffen Texte von verschiedensten Dichtern verwendet: Uhland, Byron, Goethe, Rückert, Heine, Calderon, Brentano. Sein einziges Werk, das H.s Texte zugrunde legt, schloss er 1921 als op. 71 ab: Die Hymne an die Liebe, Rückkehr in die Heimat und Die Liebe sind die drei Gedichte H.s, die er mit Orchesterbegleitung vertonte. Hans Pfitzner (1869–1949) befasste sich nur mit einer einzigen Dichtung H.s, dem Gedicht Abbitte (1921). Zusammen mit Herbsthauch von Rückert, Willkommen und Abschied von Goethe und Die stille Stadt von Dehmel veröffentlichte er es 1922 als op. 29 für Singstimme und Klavier. Margarete Schweikert (1887–1957), Violinistin, Pianistin, Komponistin und Musikkritikerin, studierte bei ihrem ersten Klavierlehrer Theodor Munz (1868–1947) an dessen Konservatorium. Als Komponistin legte sie rund 160 Lieder zwischen 1905 bis 1920 vor, etwa 20 erschienen im Druck. Von H. vertonte sie ein Gedicht, das er, nach der Überlieferung von Christoph Theodor Schwab, wohl im Herbst 1800 im Hause Landauers in Stuttgart verfasste: Die Entschlafenen. Schweikert vertonte es 1923 für Sopran und Klavier. Die Ersteinspielung ist von 2018.
57.4 Die Zwölftonmusik zu Beginn des 20. Jahrhunderts Das einschneidendste Ereignis in der Musik des 20. Jh.s ist die Entwicklung der Zwölftonmusik. Josef Matthias Hauer (1883–1959) gilt mit Arnold Schönberg (1874–1951) als ihr Entdecker. Die Zwölftonreihe hat 479.001.600 mögliche Anordnungen, die sich mithilfe der Strukturanalyse auf 44 charakteristische Intervalltypen (Tropen) reduzieren lassen, wobei diese die Intervallverhältnisse bestimmen. In dieser Auffassung liegt der entscheidende Unterschied zu Hauers Zeitgenossen Schönberg und dessen Schülern, für die die Töne nicht in ihrem räumlichen Zueinander, sondern in ihrem zeitlichen Nacheinander, in der Intervallfolge, von Bedeutung sind. Drei Schaffensperioden lassen sich unterscheiden: In einer ersten Periode finden Zwölftonintervalle Verwendung (1912–1919); in einer zweiten kommt es zur bewussten Anwendung und theoretischen Untermauerung der Reihentechniken, der Kanon-Formen und der Tropengesetze (1919–1939). In seinen Schriften Über die Klangfarbe (1918) und Vom Wesen des Musikalischen (1920) formuliert Hauer die neugewon-
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nenen Erkenntnisse. Opus 19, Nomos (1919), basierend auf dem vorher entstandenen Sonnenmelos, baut er zum ersten Mal konsequent als Zwölftonreihe auf. In der Folgezeit entstehen Kompositionen, in denen die neue Bausteintechnik umgesetzt wird. Opus 25 (1923), Klavierstücke mit Überschriften nach Worten von Friedrich Hölderlin ist ein Ausdruck der neuen Kompositionsweise. Der Weg führte von einer atonalen, freien Verwendung des Tonmaterials zur bewussten Anwendung der neu entdeckten Kompositionsprinzipien. Tonartgebundene Vorzeichen braucht diese Musik nicht, die Notenlinien orientieren sich an den schwarzen Klaviaturtasten, jeder Zwölfton erhält seinen spezifischen Platz auf einem 8linigen Notationssystem. Beide charakterisierten Perioden zeitigten 33 H.-Lieder für Singstimme und Klavier. Hauer vertonte fast ausschließlich Texte von H., der für ihn der Musiker unter den Dichtern ist und dessen Sprache ihm seinem atonalen Melos verwandt schien. Mit der Entdeckung der Harmonisierungstechnik für die Zwölftonreihen – Hauer wird vom NS-Regime als »entarteter Künstler« verboten – kommen wir in die dritte Phase seines kompositorischen Werkes (1940–1959), die ausschließlich das Zwölftonspiel, als Ursprache des Universums verstanden, betrifft. Gesang und Wort sind verlassen. Als einzige Ausnahme entsteht ein Lied: die H.rezitation Meine geliebten Tale lächeln mich an, April 1949. Kaum ein anderer Komponist hat sein Leben in solch intensiver Weise dem Dichter H. verschrieben. Sein Melos schien ihm demjenigen H.s am nächsten, wenn nicht ›deckungsgleich‹. Kein weiterer Zwölftonmusiker, weder Arnold Schönberg – er belässt es bei zwei Entwürfen zu Sonnenuntergang und Die Kürze – noch seine Schüler Alban Berg (1885–1935) und Anton Webern (1883–1945) haben sich um H. bemüht. Und auch Gustav Mahler (1860–1911) hat sich offenbar nicht mit H. beschäftigt. Gerade das Argument, das Hauer als idealiter für die Beschäftigung mit H. anführt, wird von der Forschung als Gegenargument gewertet: »Wahrscheinlich ist das hochexpressive Melos und die Ausdrucksballung nicht geeignet, Hölderlin zu erfassen.« (Schuhmacher 1967, 381) Für Hauer ist die menschliche Stimme das geeignete Instrument – einstimmiger Gesang ist ihm das Größte und Höchste –, Text und Musik in eine Entsprechung zu setzen. Eine antizipierte Idee, die Ingeborg Bachmann (1926– 1973) im Rückgriff auf H. in ihrer Reflexion über Musik und Dichtung (1959) auf den Punkt bringen sollte: »Es gibt ein Wort von Hölderlin, das heißt, daß der Geist sich nur rhythmisch ausdrücken könne. Musik und Dichtung haben nämlich eine Gangart des Geis-
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tes. Sie haben Rhythmus, in dem ersten, dem gestaltgebenden Sinn. Darum vermögen sie einander zu erkennen. Darum ist da eine Spur.« (Bachmann 1978, 60) Die menschliche Stimme ist »nicht mehr als Mittel zu begreifen, sondern als Platzhalter für den Zeitpunkt, an dem Dichtung und Musik den Augenblick der Wahrheit miteinander haben.« (ebd., 62)
57.5 Die 1930er bis 1950er Jahre Paul Hindemith (1895–1963), in verschiedenen Städten Europas im Exil, schließlich auch in den USA, ist in seiner Position dem NS-Regime gegenüber umstritten. Naiv glaubte er, seine eigenen Ziele, wiewohl »im Dienste« der Nazis, durchsetzen zu können. Die Gattung Lied nimmt in seinem Schaffen einen bedeutenden Anteil ein (Vertonungen von Morgenstern, Lasker-Schüler, Whitman, Trakl und Rilke). Schon 1927 vertonte er die erste Strophe der vierstrophigen Ode Geh unter, schöne Sonne, 1932 folgt der vierstimmige Männerchor-Satz a capella Der Tod, dem das Stammbuchblatt H.s »Es erschrekt uns« nach dem Text Die Zukunft von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724– 1803) zugrunde liegt. Seine Sechs Lieder nach Gedichten von F. H., für Tenor und Klavier, stammen aus den Jahren 1933 (die ersten vier) und 1935. Diese Lieder wurden posthum veröffentlicht: An die Parzen; Sonnenuntergang; Ehmals und jetzt; Des Morgens; Fragment [»Das Angenehme dieser Welt«]; Abendphantasie. In diesen Gedichten herrscht die alkäische Odenstrophe vor. Hindemith überträgt die metrische Struktur auf die musikalische, wobei er, ausgehend von der Stimmungslage des jeweiligen Gedichts, sehr unterschiedlich in den Taktarten und Formen (Ritornell, Idylle etc.) verfährt und diese nachzeichnet. Anders als Hauer, der Kongruenz sucht, scheint Hindemith eher an einer dramatischen Ausgestaltung und Nachzeichnung interessiert zu sein. Immer versucht er – das zeigen die verschiedenen Fassungen von Sonnenuntergang von 1933 und 1935 – den H.schen Text einzufangen. Hier wird der Kontrast in der Gegenüberstellung zu der Vertonung desselben Textes von H. durch Peter Cornelius (1824–1874) besonders deutlich. Hindemith komponierte 1936 die 1. Sonate für Klavier, zu der er von H.s Gedicht Der Main angeregt wurde. Josef Bohuslav Foerster (1859–1951), Prager Komponist, gedachte 1933 des 90. Jahrestags von H.s Tod mit zwei Gesängen Abbitte in der tschechischen Übersetzung von Stanislav Skuravy und Hälfte des Lebens in der Übersetzung (1931) von Miloš Hlávka.
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Gideon Klein (1919–1945) war eine der größten Hoffnungen der tschechischen Komponisten. Im Konzentrationslager Theresienstadt war er einer der aktivsten Künstler. Er zählt zum Expressionismus der Zweiten Wiener Schule. Seine Nähe zu Leoš Janáček (1854–1928) liegt vor allem in der Verwendung von Folkloreelementen. Seine beiden H.-Kompositionen sind Hälfte des Lebens (1940) und Madrigal II (1943), dem der Text »Das Angenehme dieser Welt« zugrunde liegt (beide Texte in tschechischer Übersetzung). Viktor Ullmann (1898–1944) komponierte in Theresienstadt, wenige Monate vor der Vergasung in Auschwitz, Abendphantasie, Frühling und Sonnenuntergang (1943), für Singstimme (Sopran) und Klavier. Als Schüler Schönbergs stand er unter dem Einfluss der Zwölftonmusik und der Atonalität von Alban Berg. Er wirkte in Prag, Zürich, Wien und Stuttgart. In Theresienstadt komponierte er auch das 3. Streichquartett, das ganz der Zwölftonmusik verpflichtet ist, und die Oper Der Kaiser von Atlantis auf ein Libretto von Peter Kien. Sein Werk blieb erhalten, da er es auf den Transport nach Auschwitz nicht mitnahm; viele seiner Komponistenkollegen nahmen ihre Werke mit, und sie wurden mit ihnen vernichtet. Ullmann hatte seine Komposition mit genauen Instruktionen, wie sie im Falle seines Todes zu behandeln sei, in Theresienstadt zurückgelassen. Hanns Eisler (1898–1962), in Leipzig geboren und in Wien aufgewachsen (Umzug der Familie 1901), gehört als Schüler Schönbergs zur Wiener Schule. Nach seinem Verhältnis zu ihm befragt, bekennt er, dass er dessen Musik verstehe, jedoch ohne sie zu mögen. Auch in den Texten, die er seinen Kompositionen zugrunde legt, setzt er sich deutlich von seinem Lehrer ab, den er in seiner Textauswahl heftig kritisiert. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin 1925 beginnt 1929 die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Politisch engagiert (seit 1928 in der Marxistischen Arbeiterschule), geht er 1937 nach Spanien, um die Volksfront zu unterstützen. Nach 14 Jahren Exil in den USA kehrt er nach Berlin zurück. Im kalifornischen Exil komponierte er sein Hollywooder Liederbuch (30. Mai 1942 bis 28. Dezember 1943), das – in der großen Tradition der Liederzyklen von Schubert, Schumann, Brahms und Hugo Wolf stehend – wohl berühmteste des 20. Jh.s, das die sechs 1943 entstandenen Hölderlin-Fragmente enthält: An die Hoffnung (20.5., die beiden ersten Strophen; bei H. fünf), Andenken (3.6., die ersten beiden Strophen, Strophe zwei gekürzt; bei H. fünf), Elegie 1943 (10.6., Strophen 1, 2, 7, 8, und 9; bei H. Der Frieden, 14 Strophen),
Die Heimat (21.6., zweite Zeile der zweiten Strophe verkürzt; 1. Fassung der zwei Strophen von H., MA 1, 191), An eine Stadt (22.6., Strophen 1, 2, 3, 5 verkürzt, 8 verkürzt; bei H. Heidelberg, 8 Strophen) und Erinnerung (2.8., Strophen 1, 2, 4, 6; bei H. Gesang des Deutschen, 15 Strophen). Durch die Fortlassungen – die äußerst genaue Textlektüre Eislers ist belegt, seine Textbearbeitung kommt der eines Librettisten gleich – fragmentiert Eisler H.s vollendete Texte und schafft somit sein eigenes H.-Fragment. Seine Vertonungen zielen auf Lakonik, Knappheit und Prägnanz. Er komponiert seine Lieder, geschrieben für Bariton und Klavier – Strukturprinzipien der Zwölftontechnik finden Anwendung – im klassischen Liedtyp Schuberts, in welchem die Melodie (meist syllabisch deklamiert) dominiert. Freilich werden Elemente des gehobenen Genres mit Passagen von U-Musik sowie Arbeiter- und Kampfliedern und deren akkordischer Begleitung verbunden. Getragen sind die Lieder vom Gedanken der Veränderung der Welt; dies ist noch im geringsten kompositorischen Detail erkennbar. In der zyklischen Anlage schließlich liegt die Möglichkeit zur verstärkten Artikulation der Einzelaussage und zum Sichtbarmachen von Polysemien. Hoffnung ist das Grundthema des Zyklus, das ihn zusammenbindet und den Tonsatz bestimmt; das Thema Heimat ist ihm eingeschrieben. 1959 komponiert Eisler einen weiteren H.-Text Um meine Weisheit unbekümmert – der Titel ist ein Zitat aus Stimme des Volks, 1. Strophe, 3. Vers; 1961/62 folgt in der Orchesterfassung Ernste Gesänge ein Rückgriff auf die Hölderlin-Fragmente. Hinter dem Titel Asyl verbergen sich H.s Gedichte Mein Eigentum und Das Gasthaus (Der Gang aufs Land) mit den zentralen Aussagen: »Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!« (MA 1, 238) und »Komm! ins Offene, Freund!« (MA 1, 308) Innere und äußere Emigration verbindet ihn mit dem Dichterschicksal H.s. Insgesamt 11 Texte vertonte Eisler von H. Als ›Jakobiner‹ und – wie auch für Georg Lukács – Dichter ohne Heimat wurde H. schon zu Beginn der 1930er Jahre für die neue sozialistische Kultur entdeckt. In der Tat hatte bereits Karl Marx zu den ersten H.-Lesern in Frankreich gehört: Vermittelt durch Arnold Ruge (Brief vom März 1843 aus Berlin) bekam er die sogenannte Scheltrede aus dem Hyperion geschickt (StA 7.3, 315). Eisler hat mit der Formulierung seiner theoretisch-ästhetischen und kulturpolitischen Positionen intensiv an der marxistisch-leninistischen Ästhetik-Diskussion teilgenommen. Entscheidend für seine H.-Kompositionen ist nicht das Suchen eines identifikatorischen Gleichklangs von Text und Musik, sondern das Widerstehen dem Text
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gegenüber (Betz 1972, 167). Die politische Aussage des Textes verbindet Eisler mit der Hoffnung auf eine positive Zukunftsperspektive. Wolf Biermann (*1936) wurde als junger Liedermacher maßgeblich von Eisler geprägt. Mit seinem wechselvollen Schicksal in Ost- wie in Westdeutschland findet er bis heute im vereinigten Deutschland enorme Resonanz. An markanten Stationen ist H. mit dem Hölderlin-Lied auf aah-ja (Platteneinspielung 1974) und mit Hälfte des Lebens auf der gleichnamigen Platte (1979) präsent.
57.6 Die 1950er bis 1970er Jahre: Serialismus und Tradition Carl Orff (1895–1982) entwickelte das nach ihm benannte Instrumentarium, das er musikpädagogisch im Schulwerk (1930–1935) begründete und in der Musik für Kinder (1950–1954) und Jugendmusik fortsetzte. Dieses Orff-Schulwerk machte ihn weltbekannt. Unter den frühen Liedkompositionen findet sich von H. Sonnenuntergang, op. 2,9 für Singstimme und Klavier (1911). Doch zog Orff alle vor 1935 entstandenen Kompositionen zurück. Das Bühnenwerk Carmina Burana (1937) erklärte er als das erste gültige. Die Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie (in H.s Übersetzungen) brachte ihm den Ruf als Erneuerer des Musiktheaters ein: Antigonae, ein Trauerspiel des Sophokles von H. für Vokalsolisten, Chor und Instrumente (1949), Oedipus der Tyrann, ein Trauerspiel des Sophokles von H. für Vokalsolisten, Chor und Instrumente (1959). Bearbeitung, Inszenierung, eigene Interpretation schaffen durch ein Ausdrucksorchester mit einem differenzierten Schlaggrundwerk einen Klangraum für das Wort: rhythmisiertes Sprechen, rhythmische Motorik, psalmodierende Rezitation unter Verwendung archaischer musikalischer Elemente (Tonfolgen). Im Verhältnis von Sprache und Musik wird hier in der bisherigen Liedtradition der extremste Fall erreicht: Die Musik steht vollkommen im Dienst des gestischen Wortes. 1969 entstehen drei weitere H.-Vertonungen: Brod und Wein für Frauenstimmen, Männerstimmen und Tenor solo (V. 1–18); Die Jahreszeiten für Sprechchor, Der Frühling (»Der Mensch vergißt die Sorgen«), Der Sommer (»Wenn dann vorbei des Frühlings Blüthe schwindet«), Der Herbst (»Die Sagen, die der Erde sich entfernen«), Der Winter (»Wenn ungesehn ...«) und Pindars erste Olympische Hymne für Sprechchor. Benjamin Britten (1913–1976) gilt als der größte
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britische Komponist seit Henry Purcell. In seinen Werken spielt die Dichtung eine wichtige Rolle; viele vertraute er der Stimme von Peter Pears an, so die Sechs Hölderlin-Fragmente, op. 61 von 1958. Sie enthalten in der englischen Übersetzung von Elizabeth Mayer Menschenbeifall, Die Heimat, Sokrates und Alcibiades, Die Jugend (»Da ich ein Knabe war«), Hälfte des Lebens, Die Linien des Lebens sind verschieden. Fest in der Tonalität verwurzelt, ist Britten auch in der Wahl der Bewegung und der Dynamik noch ganz der Romantik verpflichtet. Choral und Fuge prägen den Formgedanken der Komposition, in der akkordische, überbindende, teils über vier Takte hinweg gehaltene Begleitung und lineares Spiel eingesetzt werden. Das Prinzip der aufsteigenden Tonfolge in doppelter Oktavbegleitung bestimmt von Anfang an die gesamte Komposition. Britten scheut nicht extreme Diastemik; er verbindet die tradierten Formen mit modernen Tendenzen in einer ganz eigenständigen Synthese von ungewöhnlich differenziertem Klangreichtum. Hans Werner Henze (1926–2012), Komponist und Maler, schuf abseits von Moden und fern des Serialismus seiner Epoche die Kammermusik 1958 über die Hymne »In lieblicher Bläue« von Hölderlin – ein Text, den Wilhelm Waiblinger (1804–1830) in seinen Phaëton-Roman aufgenommen hatte – für Tenor, Gitarre und acht Soloinstrumente, Benjamin Bitten gewidmet; 1963 kommt ein Epilog hinzu, eine Hommage an den Schönberg-Schüler Josef Rufer (1893–1985) zum 70. Geburtstag. Das dreiteilige Prosa-Fragment H.s unterteilt Henze in sechs gleichlange Teile seiner insgesamt zwölfteiligen Komposition, in der er in Form und Gestalt dem H.schen Text folgt: Beginnend mit einer instrumentalen Prefazione, wechseln Tentos und H.-Text sich regelmäßig ab; im instrumentalen Mittelpunkt (als 7. Stück) vereinigt »eine Sonate über den Adlerflug [...] alles, Gewesenes aufgreifend, Kommendes vorbereitend.« (Henze 1986, Plattencover) Der Tenorpart wird melismatisch geführt, ist gelegentlich deklamatorisch nahe beim Sprechgesang, gelegentlich dem Arioso näher. Mit den drei Tentos (für Gitarre) als Zwischenspiele greift Henze auf die spanische Renaissance-Tradition zurück. Drei der Gesänge, die an mittelalterliche Vorbilder erinnern, werden von der Gitarre begleitet. Drei reine Instrumentalsätze (Prefazione, Sonata und Cadenza) umschließen eine solche Abfolge von fünf Teilen, drei der Gesänge werden instrumental begleitet. Bruno Maderna (1920–1973), Venezianer, gilt mit Olivier Messiaen (1908–1992) als der Komponist, der die serielle Technik auf andere Parameter als die Ton-
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höhe anwandte. Als erster wagte er auf dem Gebiet der elektronischen Musik eine Verbindung mit Klängen natürlicher Instrumente. Mit Monteverdi und Schubert hat er sich intensiv auseinandergesetzt. Dichtungen der Griechen (Sophokles und Hesiod), H.s, Nietzsches, Rilkes, Kafkas, d’Annunzios und Lorcas waren Gegenstand seiner Kompositionen. Die Aria von 1964, für Sopran, Flöte und Orchester, enthält Auszüge aus dem Hyperion; Aria I und Aria II sind weitere, 1968 revidierte, Varianten. Hyperion, für Sopran, Flöte, Tonband, Schauspieler und Orchester, ist die Komposition, welche die Jahre 1964 bis 1970 durchzieht. Dazu gehören: Dimensioni III (1963–1965; für Flöte und Orchester), Entropia I, Entropia II und Entropia III, Gesti, Le rire und Stele per Diotima (1965; für Orchester), Klage, Message und Schicksalslied.
57.7 Die 1970er Jahre bis in die Gegenwart: Von der Tonmusik zur Klangmusik Nicolaus Anton Huber (*1939 in Passau) studierte bei Xaver Lehner und Günter Bialas. Die Kurse bei Karlheinz Stockhausen (1928–2007) und vor allem bei Luigi Nono in Venedig prägten ihn. Rund 30 Jahre lehrte er an der Folkwang-Hochschule in Essen. Schon früh vertonte er Hälfte des Lebens (1961) und Hyperions Schiksaalslied, doch erst ab den 1970er Jahren entstehen seine größeren Werke zu H.: Versuch über Sprache (1969) für 16 Solostimmen, Hammond-Orgel, Kontrabass, 2 obligate Lautsprecherkanäle; Turmgewächse (1983) für Harfe und Sprechstimme; Offenes Fragment (1991) für Sopran, Flöte, Gitarre und Schlagzeug vertont das Turmgedicht Der Winter (»Das Feld ist kahl«); An H.s Umnachtung (1992) basiert auf der Briefstelle »Ich bin jezt voll Abschieds.« (MA 2, 914) Es ist der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in welchem H. seinen Entschluss, nach Frankreich zu gehen, mitteilt. Wolfgang Rihm (*1952 in Karlsruhe) gehört, nach dem Studium bei Wolfgang Fortner (1907–1987), Humphrey Searle (1915–1982), später bei Karlheinz Stockhausen und Klaus Huber (1924–2017), heute zu den bedeutendsten Tonschöpfern. Als Kenner der Literatur – Paul Celan, Friedrich Nietzsche, Antonin Artaud, Heiner Müller, James Joyce – und der bildenden Kunst, sucht er die Verbindung der Künste. Früh (mit der Vertonung von Hälfte des Lebens, 1969, für Singstimme und Klavier) beginnt seine Beschäftigung mit H. und reicht bis in die Gegenwart des 21. Jh.s. Hälfte des Lebens, 1969, ist einer der Gesänge, op. 1
(1968–1970), für Singstimme und Klavier, der 2004 neu vertont wird (von über doppelter Länge) in Drei Hölderlin-Gedichte und sich fortsetzt mit Mnemosyne für Sopran und Ensemble (2006/09). Das 3. Streichquartett in sechs Sätzen Im Innersten, 1976, will die extremen Gemütszustände H.s wiedergeben. Zu den früheren Werken gehören die Hölderlin-Fragmente, 1976/77, die ausschließlich fragmentarisch Überliefertes von H. enthalten. Die neun ausgewählten Fragmente beziehen sich auf die 92 Pläne und Bruchstücke (nach ihrer Nummerierung in der StA 2, 315–341: 57, 92, 19, 14, 27, 17, 38, 22, 4): kurze einzelne Verse, Bilder, aphoristische Sentenzen, einzelne Worte. Rihm interessiert am Fragment das Offene, das nicht Definierte, nicht letztlich Ausbuchstabierte eines vollendeten Textes. Leerstellen, Brüche sind Freiräume, die die Musik für neue Verbindungen und Beziehungsmöglichkeiten nutzt. (Abeln 2017, 170–178, bringt H. in die Nähe des Fragments, dessen romantische Idee sich in der Fragment-Sammlung Blütenstaub von Novalis (in der ersten Nummer der Zeitschrift Athenäum im Mai 1798 erschienen) begründet findet, und davon ausgehend die musikalischen Bezugnahmen Wilhelm Killmayer, Heinz Holliger, Luigi Nono und eben auch Wolfgang Rihm diskutiert.) Durchgängig in Rihms umfangreichem Werk ist die Beschäftigung mit antiken Stoffen: Oedipus, 1986/87, für Solostimmen und Orchester, Tonband, Textzusammenstellung vom Komponisten nach H.s Sophokles-Übersetzung Oedipus der Tyrann und Nietzsches Oedipus unter Benutzung des OedipusKommentars von Heiner Müller; Was aber, 1985/86, Kompositionen nach Fragmenten aus den PindarÜbersetzungen von H., für zwei gleiche Stimmen und Orchester. Am Stuttgarter Projekt Passion 2000 war Rihm mit Deus Passus (2000) beteiligt. Die Passion lässt er – wie Kurtág seine H.-Gesänge – mit einer Vertonung eines Gedichts von Paul Celan – Tenebrae aus dem Band Sprachgitter – enden. Heinz Holliger (*1939 in Langenthal/Kanton Bern, Schweiz), Komponist, Oboist und Dirigent, von Boulez und Stockhausen geprägt, schuf nach den Turmgedichten von H. den Scardanelli-Zyklus (1975– 1991) für Solo-Flöte, kleines Orchester und gemischten Chor. Dieser große Zyklus besteht aus 22 Teilen (Aufführungsdauer 140 Minuten): Die Jahreszeiten, dreimal vier Liedergruppen (12 Gedichte H.s aus der Turmzeit der Jahre 1806 bis 1843) für Chor a capella (1975/77/78), neun Übungen zu Scardanelli für kleines Orchester (1975–1985) – Kommentare, Spiegel, Entgegnungen, Marginalien zu den Jahreszeiten –, Teilen
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aus der Turm-Musik für Flöte solo, kleines Orchester und Tonband (1984), dem Ostinato funebre für kleines Orchester (1991), Ad Marginem und Flötenstück (t)air(e) für Flöte solo (1978–1983). In der 22teiligen Komposition folgen die erste (Stücke 1–7) und die dritte Gruppe (Stücke 15–22) dem gewöhnlichen saisonalen Jahreszyklus Frühling – Sommer – Herbst – Winter, wobei die erste Gruppe in regelmäßigem Wechsel zu den Scardanelli-Übungen – Sommerkanon IV, Bruchstücke und Glocken-Alphabet – steht. Die zweite Gruppe (Stücke 8–14) beginnt mit einer Übung (Schaufelrad), die Gedichte Sommer und Herbst folgen, dem Stück Eisblumen – es bildet als Stück 11 über den Bach-Choral Komm, o Tod, du Schlafes Bruder die genaue Mitte der gesamten Komposition – folgt Winter, die Übung Engführung und Frühling beschließt die Gruppe. Die dritte Gruppe beginnt mit dem Ostinato funebre, Frühling und Sommer folgen; drei Übungen hintereinander – Der ferne Klang, (t)air(e) und Ad Marginem – bilden die Mitte dieser Gruppe, die Herbst und Winter beschließen: Kompositionen, die in die sogenannte Phase statischen Komponierens gehören. »Töne werden ausgelöscht oder eingefroren. Das Schweigen wird auskomponiert.« (Meyer 1999, 46) Das prägt auch den Scardanelli-Zyklus. Die musikalischen Mittel und Techniken sind radikal reduziert (einfacher Kanon, homophoner Choral, Spiegelsymmetrien, spannungslose Harmonik); die Modifikationen und Verschiebungen zwischen den Abschnitten so behutsam gesetzt, dass man zunächst meint, dasselbe zu hören. Dies wird erreicht durch eine Textur und einen Bau in nur wenigen sich wiederholenden Akkorden und Tonfolgen. »Introvertiertheit« bis zum »Autismus« zeigt sich im Detail auch eines einzelnen Akkords (z. B. eines Durdreiklangs), dem die tonale Energie folgerichtig entzogen wird. Bei Der ferne Klang (Nr. 18) sind wie im Winter III (Nr. 7) reine Durdreiklänge gefordert (die reine Quint wird in eine reine große und eine reine kleine Terz zerlegt), die statisch-ruhig wirken. Holliger verstärkt diesen Klangeindruck, indem er die Quint um eine Oktave zur Duodezime verschiebt und die große Terz des Dreiklangs um mehrere Oktaven hinaufversetzt (Brotbeck 1993, 30 f.). Holligers Kommentare zu den einzelnen Stücken bezeugen ein höchst aufschlussreich ›intertextuelles‹ Beziehungsgeflecht: eine Celansche »Engführung« (Nr. 3) wird musikalisch durchgeführt; im Sommer III (Nr. 9) ›dirigiert‹ nur noch der Pulsschlag; Herbst II (Nr. 10) spielt wie das Schaufelrad in um sich selbst drehende zwölftönige Akkorde in den »H.schen« Tempi 37 und 73; in Frühling I (Nr. 14)
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verschlägt es einem beim Wort »Menschheit« die Sprache/Stimme: nur noch das »M« ist hörbar, die übrigen Silben versucht der geschlossene Mund zu formen; Sommer I (Nr. 17) schließt mit stummen Lippenbewegungen; (t)air(e) (Nr. 19) assoziiert die BeckettOper Come and Go, Schweigen, Verschweigen mit der evidenten Konnotation air als Luft und Atem, Arie (Lied), te (als dich) weist auf die Flöte, H.s Instrument – H.s »(sei) du Gesang«; Ad Marginem nimmt den Titel eines Bildes von Paul Klee und probt die Töne an den Rändern, an den Grenzen des Hörbaren; die beiden letzten Stücke zeigen, dass nach dem Verlust der Kommunikation und erhoffter Botschaften auch das Zeitempfinden verlorengegangen ist, dass ein vierstimmiger Kanon all’unisono im Strohbass in äußerste Diminution, ins Eis führt. Die Glasharfen enden, nachdem sie es Minuten lang umspielen, auf c. Das reine Weiß des C-Dur-Klanges: die leicht gefrorene, kristalline Eisschicht auf dem Neckar, sichtbar vom Turmzimmer aus. Die Beschäftigung mit H. ging intensiv weiter. In Erinnerung an Schumann entstehen die Gesänge der Frühe, für Chor, Orchester und Tonband, nach Schumann und H. (1987); Der Frühling. Die Sonne kehrt; Bruchstück 18; An Diotima. Schönes Leben!; Geh unter, schöne Sonne. Jacques Wildberger (1922–2006) gilt als einer der wichtigsten Schweizer Komponisten des 20. Jh.s. Die Dodekaphonie hat er um Praktiken der seriellen Musik erweitert. Vor allem in seinen Text-Kompositionen versucht er eine serielle Strukturierung von Artikulationstypen. Er schreibt An die Hoffnung, für Sopran, Sprecher und Orchester (1979/80); ... die Stimme, die alte, schwächer werdende Stimme ..., ein Triptychon für Sopransolo, Solovioloncello, Orchester und Tonband (1973/74), das auch Texte von Camus, Celan und Heidegger enthält; ferner die Elegie, für Sopran und Kammerensemble (1994/95), auf den Text Sonnenuntergang von H. Roland Moser (*1943 in Bern/Schweiz), zu Unrecht wenig bekannt, gehört in die Gruppe der Schweizer Komponisten um Wildberger und Holliger. Er studierte bei Sándor Veress (1907–1992) und Wolfgang Fortner (1907–1987), der selbst durch bemerkenswerte H.-Vertonungen hervorgetreten ist. Zu H. hat Moser zwei Kompositionen vorgelegt: Lebenslauf. Fünf Sätze über H. (1980/85; für Bariton, 4 Bratschen, 4 Kontrabässe und 4 Schlagzeuger), enthaltend Lebenslauf (4 Strophen), An Eduard (2. Fassung), Lebensalter, Der Mensch (»Wenn aus sich lebt der Mensch«) und ... daß also alles mehr Gesang und reine Stimme ist ...
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1988 folgt eine Musik für eine Unterton-Flöte über ein Pindar-Fragment, mit einem Kommentar von H. und einem freien Nachspiel: Vom Delphin, wobei die Worte der Flötenstimme unterlegt sind. Luigi Nono (1924–1990), Venezianer, ist einer der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. Das einzige Stück, das er für Streichquartett komponierte, Fragmente – Stille, An Diotima (1979/ Anfang Januar 1980), ist ein Auftragswerk der Stadt Bonn für das 30. Beethovenfest 1980. Der Begriff »absolute Musik«, die »aus dem lauten Lärm des Lebens hinein in das stille Schattenreich des Idealen« führe (Köstlin, zit. nach Dahlhaus 1978, 21), kann hier angewandt werden. Den Fermaten kommt in diesem Streichquartett eine besondere Qualität zu. Nono unterscheidet in seiner eigens für das Streichquartett konzipierten Fermaten-Skala zwölf und sagt im Vorwort zur Partitur, sie seien »verschiedenartig zu empfinden und mit offener Phantasie für träumende Räume, für plötzliche Ekstasen, für unaussprechliche Gedanken, für ruhige Atemzüge und für die Stille zeitlosen Singens.« In der Partitur stehen 49 einzelne Vers- und Textstellen (aus 17 Texten) von H., die erste »Die Götter wandelten einst«, 15 davon sind aus dem Gedicht Diotima (Ältere Fassung, MA 1, 161 ff.); sie sollen als Verstehenshilfe dienen, die »geheimere Welt« – diese Worte stehen über dem ersten Pentagramm – soll evoziert und mitgedacht werden, der Spieler soll in den Dialog eintreten und des »Zweifels Frage« aufkommen lassen. Fünfmal wiederholt Nono »weist aber du nicht,« (aus dem Gedicht Wenn aus der Ferne ..., MA 1, 911 ff.; V. 51), gibt jedes Mal die Spielanweisung »mit inniger Empfindung« und lässt den Satz alternieren mit Versen aus Die Eichbäume. Es sind vertonte Botschaften, die mit dem H.-Text die Stille beredt werden lassen, als deren Entsprechung Sprache sowohl wie Musik zu begreifen sind. Man könnte hier – in Anlehnung an Adornos »Fragment über Musik und Sprache« – von der »intentionslosen Sprache« der Musik sprechen (Adorno 1978, 252). Beeindruckend ist der Schluss: Die Instrumente verstummen nacheinander im fünffachen Pianissimo, das Cello als letztes; alle Bögen bleiben auf den Saiten liegen und halten den Ton an. Und jetzt: in die Stille hören, »al niente«, ins Nichts. In seiner letzten Komposition Prometeo (1985) beschäftigt sich Nono noch einmal in Mitologia mit H. und zwar mit den Versen 16–24 aus Hyperions Schiksaalslied. Auf die Frage: »Wer oder was hätten Sie sein mögen?«, antwortete der 62-jährige Nono: »Der Tübinger Turm, um Hölderlin zuzuhören.« (FAZ Magazin, 3.10.1986)
György Ligeti (1923–2006) floh nach dem Volksaufstand in Ungarn 1956 nach Österreich, wirkte in verschiedenen Ländern und wurde zu einem der führenden Komponisten der europäischen Avantgarde. Die Doppelbegabung als Maler und Musiker reiht ihn in die Tradition malender Komponisten ein. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der seriellen Musik geht er den Weg von der Tonmusik zur Klangmusik. Das Orchesterstück Atmosphères (1961) steht für diesen neuen Weg, in welchem dem Cluster ganz neue Bedeutung zukommt. Weitgefächerte, mikrotonale Differenzierungen entstehen. Die herkömmliche Notation mit ihren beiden Grunddimensionen der Tonhöhe und der Zeit reicht für diese Musik nicht aus. Die akustische Spektralanalyse der Klänge mit den Dimensionen der Frequenz, Amplitude und Zeit lässt die Musik zu einer mehrdimensionalen Textur werden, in der sich zugleich ihre Affinität zur Sprache erweist. Dank seiner Doppelbegabung bringt Ligeti, ganz wörtlich verstanden, Farbe in die Musik. Mit H. beschäftigte er sich seit den 80er Jahren. Zwei Kompositionen sind entstanden: Drei Phantasien nach F. H. für 16stimmigen Chor a cappella, 1982, bestehend aus einzelnen Versen und Strophen aus Hälfte des Lebens (V. 1–5 und 8–14), Wenn aus der Ferne ... (V. 1 f. und 5–7, 13–15, 21–24, 29–32, 46–48), Abendphantasie (V. 13–19 und 21–24) und Der Sommer, 1989, für Gesang und Klavier, nach dem Text Der Sommer (»Noch ist die Zeit«). György Kurtág (*1926), dem ungarischen Komponisten rumänischer Herkunft, wurde für seine H.Vertonungen der Friedrich-H.-Preis 2001 der Universitätsstadt und der Universität Tübingen zuerkannt. Spät entdeckt, zählt er heute zu den wichtigsten zeitgenössischen Komponisten. Wie sein Lehrer und Freund György Ligeti wollte er bei Bela Bartók studieren, der aber im amerikanischen Exil gestorben war. So begann das Studium bei dem Bartók-Schüler Sándor Veress, der später in Bern viele Kompositionsschüler unterrichtete, unter ihnen auch Heinz Holliger und Ferenc Farkas. Ligeti wurde zu seinem steten geistigen Begleiter. Das Studium in Paris 1957/59 brachte ihn zu Olivier Messiaen; Freundschaft verband ihn ab 1979 mit Luigi Nono. Charakteristisch ist seine knappe Musiksprache, kurze expressive Spiele, Miniaturstücke, Mikroludien (die Játékok, »Spiele« für Klavier, entstehen seit 1973). Die Studie zu »Hölderlin« (op. 12), 1979, gehört zu den großen vierhändigen Stücken des zweiten Programmteils der Vier Lieder nach Gedichten von János Pilinszky (op. 11). Grundlage ist H.s Gedicht »Das Angenehme dieser Welt hab’ ich genossen«, vermittelt
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über den ungarischen Dichter Pilinszky (1921–1981), der sich in seinem Text an H.s Gedicht anlehnte. Die Hölderlin-Gesänge, op. 35a, seit 1993 ein work in progress, umfassen bislang 16 Vertonungen; mit Ausnahme von Gestalt und Geist – in diesem Stück sind die Begleitinstrumente Tuba und Posaune – sind es Solo-Gesänge für Bassbariton. Die Partitur von sechs Gesängen ist inzwischen im Druck erschienen (2013). Für Kurtág ist Sprache Musik: Was er komponiert, soll »mit möglichst wenigen Tönen so viel sagen, und es so dicht als möglich sagen. Und in vokaler Musik wollte ich etwas finden, wo Text und Musik beinahe identisch sind, etwa so, wie ich es bei Monteverdi, Schütz, Mussorgsky oder Gesualdo erlebt hatte.« (NZZ, 1998, Nr. 134, 65) Er setzt denn auch ganz auf die menschliche Stimme und die Einstimmigkeit: Gesänge von beeindruckender Intensität sind entstanden. Den Abschluss des Zyklus bildet – das ist schon gewiss – Paul Celans Gedicht Tübingen, Jänner, das nach drei Strophen unterschiedlicher Länge (8 V. – 3 V. – 11 V.) ein zweimaliges in Anführungszeichen und Klammern gesetztes »Pallaksch« wie eine Signatur trägt. Dieser Ausdruck H.s, mit dem Celan quasi die Autorschaft seines Gedichts H. zuschreibt, ist überliefert durch Christoph Theodor Schwab, der ihn als Beispiel für H.s Bilden neuer, sonderbarer Wörter, die keinen entschiedenen Sinn haben, interpretiert: Es könne einmal ja, das andere mal nein bedeuten (FHA 9, 453). Kurtág bleibt nicht bei den beiden Möglichkeiten der Deutung: Das Einzelwort, die Strahlkraft eines Wortes, soll in seiner Vieldeutigkeit aufscheinen. In ein dichterisches Wort will er sich selbst hineinsetzen, sagte Kurtág mir gegenüber einmal im Gespräch, um es von innen her auszuleuchten. In fünf Wiederholungen probt er denn auch Celans zweimaliges »Pallaksch« in seinen verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten und setzt es fünfmal in Musik: vom grellen, durch Mark und Bein gehenden Aufschrei bis zum leise verhauchten, hinausfragenden, die Silben auskostenden Wortklang. Hans Zender (1936–2019), ausgebildeter Pianist, Dirigent und Komponist, orientiert sein kompositorisches Werk an großen Texten der Weltliteratur (Heraklit, Joyce, Cervantes). Seine H.-Kompositionen begannen 1979 mit dem Anspruch, H.s Werke nicht nur lesend, sondern hörend zu erfahren. Es sind Versuche einer Annäherung an das Problem der ›Verzeitlichung‹ der H.-Texte, einer Darstellung der Texte als performance. Kammermusikwerke mit Sprechstimme sind entstanden. Hölderlin lesen I (1979) legt den von H. 1801 geschriebenen Text An die Madonna zugrunde,
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der 164 unvollständige Verse zählt und einen Gesamtaufbau von 18 Strophen erkennen lässt. In der 42teiligen Komposition lösen sich jeweils ein instrumentaler Teil ab, in dem eines der 21 Fragmente simultan mit einer neuen Variation der Streicher erklingt. Kaleidoskopartig nimmt der Hörer die Variationen wahr. H.s Text hat, ohne Musik, das letzte Wort. Hölderlin lesen II (1987) liegt das in den Jahren 1803 bis 1805 entstandene Fragment H.s »Sonst nämlich, Vater Zeus« aus dem Homburger Folioheft zugrunde. Als Sprachsuche könnte man diese Komposition für Bratsche, Sprechstimme und Live-Elektronik bezeichnen. In enger Beziehung von Text und musikalischer Struktur nimmt – durch das Prinzip von variierter, dann genauer Wiederholung – der Hörer an einem Prozess der Sprachfindung teil. Am Ende steht eine Klangsynthese, in welcher die Unterschiede von Wort und Musik aufgehoben sind. In »denn wiederkommen«. Hölderlin lesen III (1991), eine Lesung von H.s Gedicht Patmos, kehrt Zender zum Streichquartett mit Sprechstimme zurück, doch nicht in der in Hölderlin Lesen I gewählten Form. Der Ausgangstext Patmos wird integral verwendet, jedoch in eine neue, eigene Reihenfolge gebracht. Jedem der neun Teile verleiht der Komponist einen eigenen Grundton, den er jeweils einer Stimme des Streichquartetts zuordnet. Bestimmte musikalische Elemente werden in einem Teil wiederholt. Das gleiche Prinzip wird auf die zugehörigen Versgruppen angewendet. Patmos erscheint in einer neuen Fragment-Gestalt. Durch die Deklamation bleibt der Akzent auf der Sprache. Dies gilt auch für die folgende Komposition Hölderlin lesen IV (Uraufführung 2001), welcher Mnemosyne zugrunde liegt. Textprojektionen kommen hinzu, sowie simultan ablaufende gegenläufige Elektronik. Hölderlin lesen V von 2012 trägt den Titel Ein Wandersmann ... zornig ..., eine Verszeile, die Mnemosyne (3. Fassung) entnommen ist, wiewohl die beiden Fragmente H.s Zu Sokrates Zeiten und Die Sprache – das Textkorpus bilden. Wilhelm Killmayer (1927–2017) arbeitete seit 1982 an den Vertonungen von H.-Gedichten. Drei Zyklen Hölderlin-Lieder (nach Gedichten aus der Spätzeit für Tenor und Orchester) liegen vor: I. Zyklus (1982– 1985), II. Zyklus (1983–1987), III. Zyklus (1983–1992). Die Turmgedichte bilden die Grundlage der Vertonungen. Killmayers erster Zyklus umfasst 18 Gedichte, beginnend und endend mit einem Frühlingsgedicht. Die Mitte beherrscht ein Sommergedicht, die Abfolge Winter – Frühling – Sommer – Herbst – Winter bestimmt das Zentrum der Komposition, die nicht die Reihenfolge der Entstehung der Gedichte beibehält.
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VII Nachwirkungen
Der zweite Zyklus umfasst ebenfalls 18 Gedichte, doch stehen alle Gedichte einer jeweiligen Jahreszeit in einem Block vornan: 3 × Frühling, 2 × Sommer – der Herbst wird ausgespart – 1 × Winter; der Zyklus endet mit Griechenland, die Schlusszeile »So sinkt das Jahr mit einer Stille nieder.« macht es zu einem Jahresendund gleichzeitig Wintergedicht. Der dritte Zyklus umfasst 7 Gedichte, beginnend mit Wenn aus dem Himmel, den Mittelblock bilden Der Winter. Wenn ungesehn ..., Der Frühling. Wie seelig ists ... und Der Zeitgeist, endend mit Der Winter. Wenn sich das Jahr geändert. In seiner detaillierten Studie Zur Lautstruktur bei Hölderlin (HJb 28, 218–263) zeigt Killmayer eindrücklich an ausgewählten Gedicht-Beispielen, wie sich Rhythmus mit Vokalstrukturen und Silbengruppen verbinden und als Rahmenkonstruktionen analysiert werden können. Killmayer – und man könnte meinen, es herrsche unter den Musikern in diesem Punkt Unanimität – spricht bei H. von Wortmusik. Das Potential der Lautfolgen, die suggestive akustische Kraft, die überraschenden Kombinationen in Buchstabenfolgen, all das macht Killmayer in seinen Liedvertonungen kompositorisch fruchtbar. Ein komplexes Beziehungsnetz verbindet die vertonten Lieder miteinander. Wiederholung, Verwandlung, Werden im Vergehen, ewige Wiederkehr, diese Themen werden in der Konstruktion und Gestalt der Gedichte entwickelt und gleichermaßen in den Kompositionen, wobei die diatonische Skala sowie Dreiklangsbrechungen eingesetzt werden. Viera Janárčeková (*1951 in Svit/Tschechoslowakei, heute Slowakei) begann ihr Studium in Bratislava und setzte es in Prag fort. Seit 1971 in Deutschland, schrieb sie Werke für Kammermusik, Orchester, auch unter Verwendung von Elektronik. Von H.s Gedichten vertonte sie drei der am häufigsten verwendeten: Abbitte, Hälfte des Lebens und Hyperions Schiksaalslied (1983) für Tenor mit Klavierbegleitung. Hans Florey (1931–2013), österreichischer Komponist und Maler, beschäftigte sich seit 1958 mit dem Werk Josef Matthias Hauers. Die Tropenlehre des Zwölftonikers Hauer visualisierend, entstehen zyklische Formen, die in Zahlenordnungen darstellbar sind und denen Farb- bzw. Klangreihen zugeordnet werden. Im H.turm in Tübingen wurde sein D. E. Sattler gewidmeter Scardanelli-Zyklus (1985; für Singstimme und Klavier) uraufgeführt. Der Zyklus enthält Der Sommer. Im Thale rinnt der Bach; Der Herbst. Das Glänzen der Natur; Der Winter. Wenn Ungesehn; Der Frühling. Der Sommer kehrt. Vertont hat Florey 1986 für Singstimme und Klavier auch Die Aussicht, Da ich ein Knabe war und Hälfte des Lebens.
Georg Friedrich Haas (*1953 in Graz/Österreich) studierte bei Friedrich Cerha (*1926 in Wien), der selbst seit 1995 H.-Vertonungen vorlegte, in Wien. Haas schrieb Nacht-Schatten (1991) für 16 Instrumente, mit ... nach Konzepten von F. H. für gemischten Chor aus demselben Jahr; Zitate aus Thränen und verschiedene Bruchstücke H.s enthaltend, sind es die Vorarbeiten für die Kammeroper in 24 Bildern Nacht (1995/96) für Sopran, Mezzosopran, Tenor, Bass und Sprecher nach Texten von F. H., Texte aus Oedipus der Tyrann, Hyperion, Empedokles, Briefe an und von Diotima und Das Werden im Vergehen. 2006 komponierte er das Konzert Hyperion für Lichtstimmen und Orchester. Karl Ottomar Treibmann (1936–2017) lehrte an der Leipziger Universität. Hölderlin. Briefe und Dichtungen, für Bariton, Flöte und Klavier komponierte er 1992 anlässlich der 22. Jahresversammlung der H.Gesellschaft, die in Jena stattfand, und uraufgeführt wurde. Die Textauswahl hatte Günter Mieth besorgt. Eine 10teilige Textfolge ist entstanden: Fünf Briefe H.s aus der Turm-Zeit an die Mutter stehen im Wechsel mit fünf Dichtungen aus verschiedenen Schaffensperioden H.s. Danach beschäftigte sich Treibmann weiter mit H.s spätester Dichtung: Turmgesänge, 1997, Liedzyklus für Gesang und Klavier. Zur Antigone (Sophokles/ H.) schrieb er die Schauspielmusik. Hieronymus Schädler (*1956 in Triesenberg/ Liechtenstein) studierte Flöte in Zürich und Paris. Die Bilder der Vergangenheit sind nicht verlassen, für Stimme, Flöte und Tonband nach Turmgedichten von H., 1994, ist eine Komposition, die H.s Vers aus einem der Herbstgedichte zum Titel hat. Die menschliche Stimme und Flötentöne bestimmen die Aufführung. Aus den wiederkehrenden – für H. während fast 37 Jahre Turm-Zeit am Neckar erlebten – Saisonen wird bei Schädler ein einziger konzentrierter Jahreszeitenzyklus, die Lebensperiode im Turm vom ersten Gedicht Die Linien des Lebens 1812 bis zum letzten ausmessend. Die Akzentsetzungen auf Mensch, Kunst, Natur und Geist sind deutlich. Weitere Kompositionen sind entstanden: Wohl geh ich täglich ... , für Stimme und Flöte (1995); Singen wollt ich leichten Gesang, doch nimmer gelingt mirs, für Sprechstimme und Flöten (1996) und Ehmals und Jetzt, für Sprechstimme, Flöte und computergeneriertes Tonband (1997) . Shirui Zhu (*1954 in der Provinz Sichuan/China) spielte viele Jahre als Cellist an der Peking-Oper. Sein Cello- und Kompositionsstudium schloss er in Peking ab (1983) und war am dortigen Konservatorium bis 1991 als Dozent tätig. Seit 1991 lebt er in Deutschland. 1995 war er eingeladen, am Projekt Chinesische Lyrik,
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Musik und Malerei im H.turm teilzunehmen. Seine H.-Komposition – er vertonte als erster Chinese H. – Skizzen für Stimme und Streichquartett (1994/95) wurde uraufgeführt. Zhu transponiert eine Dichtung von Li-T’ai-po (701–762), des berühmtesten chinesischen Lyrikers, der zur Tang-Zeit gehört, und eine von H. (Heimath ...) ins musikalische Idiom, indem die Dichtungen in ihren syntaktischen Satzrhythmusbögen in Tonhöhen umgesetzt, parallel geführt und in einer darüber liegenden Stimme zusammengeführt werden. Kaija Saariaho (*1952 in Helsinki/Finnland) studierte Komposition an der Sibelius-Akademie, später bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber in Freiburg. Sie experimentiert, wie viele ihrer Generation, mit elektronischer Musik. 1982 begann sie das Studium in Paris an Pierre Boulez’ IRCAM am Computer. Ihre H.-Vertonung Die Aussicht, für Sopran, Flöte, Violine, Violoncello und Gitarre (1996) – aus H.s Turmgedichten – ist Ausdruck des Versuchs, die elektronische Musik zur Erweiterung der klanglichen Gestaltungsmöglichkeiten zu verwenden. Weitere H.-Kompositionen sind zu nennen: Überzeugung. Als wie der Tag (2001) für drei Frauenstimmen, Crotales, Violine und Cello; Tag des Jahrs (2002) für gemischten Chor und Elektronik vertont die vier Turmgedichte: Der Frühling (»Wenn neu das Licht«), Der Sommer (»Die Tage gehen vorbei«), Der Herbst (»Das Glänzen der Natur«) und Der Winter (»Wenn sich der Tag des Jahrs«). Im Zusammenspiel von Mensch und Maschine als den agierenden Interpreten des Prozesses musikalischer Metamorphose »mit und für die Ohren« (Saariaho 1987, 62) kommt es ihr auf das Erhören von Klangmöglichkeiten an. Detlev Müller-Siemens (*1957 in Hamburg), Komponist und Dirigent, studierte Komposition bei György Ligeti und Olivier Messiaen (1908–1992), Dirigat bei Christoph von Dohnány (*1929). Er schrieb vor allem Opern, Orchester- und Kammermusik. Die Zwei Lieder nach Gedichten von H. (1999/2000) für Sopran und Klavier vertonen Aussicht und Die Aussicht aus den Turmgedichten; letzteres – das letzte der Turmgedichte H.s – instrumentierte er zudem 2003/04 für Chor und Ensemble (acht Stimmen und 13 Instrumente). In seinen Vertonungen fragmentiert MüllerSiemens den Text und setzt ihn – daran zeigt sich die syntaktische Offenheit von H.s Versen – aus einzelnen Verselementen ausschließlich des Gedichts selbst zu neuen, sinnstiftenden Isometrien zusammen. In Die Aussicht werden immer wieder die Worte »erglänzt«, »ergänzt«, »glänzet« aufgegriffen, und der Komponist lässt H.s gereimtes Gedicht (2 Stophen von jeweils vier Zeilen) offen enden, indem er aus der ersten Zeile der
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zweiten Strophe »ergänzt das Bild der ...« herausnimmt, was wie ein dem »Gedicht-Nachsinnen« wirkt. Der stets durch Einschübe unterbrochene Haupttext ist jedoch fließend »durch den Klaviersatz, der mit seinem [...] Verlauf eine eigene, zusammenhängende und ausdrucksstarke Schicht bildet.« (Booklet zu Musik in Deutschland. Solo & Klavier 1970–2000, 12) Gabriel Iranyi (*1946 in Cluj/Rumänien) studierte in den Kompositionsklassen von Helmut Lachenmann; die beiden Komponisten Ligeti und Kurtág prägten ihn stark. Iranyis Werke sind inspiriert von Benjamin, Bachmann, Chagall und Celan, von dem er zwei Lieder vertonte. Seiner H.-Komposition Musik mit H. (2001) für Mezzosopran und Schlagzeug in drei Teilen, Palingenesie, Singen möchte ich von dir und Eine beständige Vision, legt er verschiedene Bruchstücke zugrunde. In den Klangspuren I (2011/2015) vertont er Hälfte des Lebens für Mezzosopran solo. In Momente mit H. (2017) für Frauenstimme greift er Teile aus den Bruchstücken und Hälfte des Lebens auf und instrumentiert sie in einer ungewöhnlichen Besetzung mit Klarinette/Bassklarinette und Akkordeon. Peter Ruzicka (*1948 in Düsseldorf), Komponist, Dirigent, Intendant, studierte u. a. Komposition bei Hans Werner Henze. Er widmete 1998/99 Celan ein Musiktheater in sieben Entwürfen, uraufgeführt in Dresden 2001. H. ist seit vielen Jahren sein ständiger Begleiter. Ins Offene (2005) komponiert für 22 Streicher – der Titel zitiert H.s Der Gang aufs Land –, gilt als Vorstudie zu Ruzickas H.-Oper: H. Eine Expedition, Musiktheater in 4 Akten (2007). ... und möchtet ihr an mich die Hände legen ... 5 Fragmente nach Hölderlin für Bariton und Klavier, die Eingang in die H.-Oper fanden, wurden 2007 im H.turm Tübingen in Kooperation mit der Hugo-Wolf-Gesellschaft Stuttgart (künstlerischer Leiter: Hartmut Höll) uraufgeführt; sie enthalten Auszüge nach der FHA aus An die Madonna, dem Empedokles und aus Hyperion. Nach der H.-Oper entstanden weitere H.-Kompositionen: Erinnerung und Vergessen für Streichquartett und Sopran (2008) enthält Auszüge aus Mnemosyne (3. Fassung); ferner eine Hölderlin-Symphonie für Bariton, Kammerchor und Orchester (2008/09) in zehn Teilen, wovon vier Szenen für Bariton als Monologe des Empedokles konzipiert sind. In der jüngsten Komposition Mnemosyne: Erinnerung und Vergessen für Sopran, 18 Streicher und Schlagzeug (2016) gibt wieder Mnemosyne die Basis, diesmal aus allen drei Fassungen. Jens Joneleit (*1968 in Offenbach/Main), Jazzmusiker und Schlagzeuger mit breitem Hintergrund (von Mahler, Bruckner, Wagner bis zu Boulez und
560
VII Nachwirkungen
Stockhausen wie zum Free Jazz, vor allem von Miles Davis (1926–1991), komponierte Beim Wort (2006) nach Textfragmenten von F. H., das 2007 im H.-turm zur Uraufführung gelangte. Zuzana Ferjenčíková (*1978 in der Tschechoslowakei), slowakische Pianistin, Organistin und Komponistin, studierte in Bratislava, Wien und Paris. Das Studium bei Jean Guillou (1930–2019), 52 Jahre Hauptorganist an der Kathedrale Saint-Eustache in Paris, und die spätere Zusammenarbeit mit ihm, machte sie als Meisterin der Improvisation bekannt. Ihr kompositorisches Werk gilt vor allem der sakralen Musik. Die Orgel-Komposition Diotima, op. 5 (2006), basiert auf Texten von H. Das Werk widmete sie ihrem Lehrer Guillou, der eine H.-Komposition für Orgel in 4 Sätzen – Hyperion ou la rhétorique du feu, op. 45 (1988) – vorgelegt hatte, die Hyperion thematisiert. So sind die beiden Protagonisten aus H.s Hyperion-Roman musikalisch dargestellt. Geoffrey Álvarez (*1961 in London), britisch-nicaraguanischer Herkunft, Komponist, Dirigent und Autor, vertonte 15 H.-Gedichte in seinem Zyklus Hölderlinfenster. Eine Flussreise für Gesang und Klavier (2014). Die Premiere der zweiten, überarbeiteten Auflage 2018 ist in Tübingen für 2020 geplant. Álvarez’ erste Begegnung mit H. ist der Genius loci: Sein Weg führte ihn entlang des Neckars zum H.turm. Die Vorstellung, H. blicke aus dem Turmfenster und sehe die ganze Welt aus seiner Enge, verbindet sich mit H.s Sicht, »daß alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort und das philosophische Licht um mein Fenster ist jezt meine Freude« (MA 2, 922). Aussicht und Einsicht ins Hölderlinfenster (zur Deutung der Turmgedichte als »Fenstergedichte« vgl. Oelmann 1996) beginnt mit einem Prolog, der das Zitat aus dem an Böhlendorff nach der Rückkehr aus Bordeaux im November 1802 geschriebenen Brief aufnimmt. In aufeinanderfolgenden verschiedenen Harmonien in der rechten Hand des Klavierparts spielt die linke Hand in H-Dur. Was folgt ist eine Flussreise. Bewegt beginnt sie mit Der Nekar und führt durch dramatische Landschaften: Wie Meeresküsten ..., Ihr sicher gebaueten Alpen ..., Der Spaziergang; mit Die Asyle tritt ein Moment der Stille ein, in der die mythologische Figur der Themis aufscheint. Die Reise geht weiter zu In lieblicher Bläue ... und zum Donaufluss Der Ister, der in den beiden Schlussversen Zweifel über jedweden gradlinigen Verlauf aufkommen lässt: »Was aber jener thuet der Strom,/ Weis niemand.« (MA 1, 477) Das achte Gedicht Lebenslauf (1 Strophe) bildet den Mittel- und Wendepunkt des Zyklus, der sich in seinem zweiten Teil zunehmend auf die Stille hin be-
wegt. Ihm folgen An Zimmern (Die Linien des Lebens), Die Wanderung, An die Parzen, Vom Delphin, Das fröhliche Leben, Die Heimath (6 Strophen) und Burg Tübingen. In lieblicher Bläue ... (6) ist in der anfänglichen Fenstertonart H-Dur geschrieben. Es ist auch die Tonart, die den Zyklus beendet, »wenn H.s Fenster dunkler wird« (Álvarez 2019, Interview). Burg Tübingen, dessen letzte Strophe H. auf dem anfangs dieses Artikels erwähnten Doppelblatt neben einer dreizeiligen Partitur notiert hat, wird zum sprechenden Ort: »ist jetzt steinig und eingefroren. Zeit für Ruhe nach einer langen Reise voller bewegter Geister.« (ebd.) Literatur Allgemein
Adorno, Theodor W.: Fragment über Musik und Sprache, in: Musikalische Schriften, 1–3, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1978. Bachmann, Ingeborg: Musik und Dichtung, in: Werke, hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Bd. 4., München 1978, 59–62. Döhl, Friedhelm: H. und die Musik, in: Musik im Unterricht, Nr. 54, 1963, 76–82. Georgiades, Thrasybulos: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958. Georgiades, Thrasybulos: Nennen und Erklingen, Göttingen 1985. F. H. Symposium der Internationalen Hugo-Wolf-Gesellschaft Stuttgart und der Akademie für Gesang, Dichtung, Liedkunst e. V., Stuttgart 1990. Kelletat, Alfred: Bibliographie der Vertonungen von Dichtungen H.s, in: HJb 1953, 119–135. Komma, Karl Michael (Hg.): Lieder und Gesänge. Nach Dichtungen von F. H. Mit Einleitung und Erläuterungen, Tübingen 1967. Kreutzer, Hans Joachim: Obertöne: Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste, Würzburg 1994. Luby, Carolynn Bush: H.s musicality in biography, poetic work, and reception, Evanston IL 1985. Öhm-Kühnle, Christoph/Margrit Öhm: Anmerkungen zu zwei Notendokumenten aus F. H.s Leben, in: Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 2009, Bd. 16, 153–162. Schuhmacher, Gerhard: Geschichte und Möglichkeiten der Vertonung von Dichtungen F. H.s, Regensburg 1967.
zu den einzelnen Komponisten zu Schweikert
Schmid, Brigitte: Margarete Schweikert (1887–1957). Komponistin und Kammermusik, in: Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 2013, Bd. 20, 101–120.
zu Schumann
Nägele, Reiner: Vom Deuten und Missdeuten: H. und seine Komponisten, in: H. – Entdeckungen. Studien zur Rezeption. Katalog zur Ausstellung H. – Entdeckungen. Texte,
57 Nachwirkungen in der Musik Klänge, Bilder der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart vom 3. Juli bis 20. September 2008, hg. v. Ute Oelmann, Stuttgart 2008, 75–95.
zu Hauer
Hauer, Josef Matthias: Deutung des Melos. Eine Frage an die Künstler und Denker unserer Zeit, Leipzig 1923. Henck, Herbert: Musik: Offenbarung der Weltordnung. Josef Matthias Hauers Harmonie der Sphären, in: Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 161, Nr. 5, 2000, 20–23.
zu Hindemith
Heimer, Ann-Katrin: Paul Hindemiths Klavierlieder aus den dreißiger Jahren. Quellen, Entstehungsgeschichte, Analysen, Schliengen 1998.
zu Eisler
Albert, Claudia: Das schwierige Handwerk des Hoffens. Hanns Eislers »Hollywooder Liederbuch« (1942/43), Stuttgart 1991. Betz, Albrecht: Hanns Eisler. Musik einer Zeit, die sich bildet, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 1976. Bunge, Hans: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. Nachwort von Stephan Hermlin, München 1970. Eisler, Hanns: Musik und Politik, Schriften 1924–1948, hg. v. Günter Mayer, Leipzig 1973. Eisler, Hanns: Musik und Politik, Schriften 1948–1962, hg. v. Günter Mayer, Leipzig 1982. Heister, Hanns-Werner: Hollywood und seine Heimat. Hanns Eislers H.-Fragmente für Singstimme und Klavier, in: Melos, Vierteljahresschrift für zeitgenössische Musik, Jg. 50, Nr. 3, 1988, 2–32. Hennenberg, Fritz: Hanns Eisler. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1987. Scherbera, Jürgen: Hanns Eisler im USA-Exil. Zu den politischen, ästhetischen und kompositorischen Positionen des Komponisten 1938 bis 1948, Berlin 1978.
zu Orff
Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bde. 1–8, Tutzing 1975–1983. Keller, Werner: Carl Orffs ›Antigonae‹, Mainz 1950.
zu Britten
Abraham, Gerald: Art. Britten, in: MGG II, 323 ff. Wood, Hugh: Brittens H. Songs, in: Musical Times, Jg. 104, 1963, 781–783.
zu Henze
Weryha-Wysoczanski, Rafael de: Zwei Aquarelle von Hans Werner Henze, in: Floros, Constantin/Friedrich Geiger/ Thomas Schäfer (Hg.): Komposition als Kommunikation. Zur Musik des 20. Jahrhunderts (Hamburger Jahrbuch der Musikwissenschaft; 17), Frankfurt a. M. 2000, 414–421.
zu Maderna
Maderna, Bruno: Musikmanuskripte, Winterthur/Basel 1990.
561
zu Huber
Häusler, Josef (Hg.): Nicolaus A. Huber. Durchleuchtungen. Texte zu Musik 1964–1999, Wiesbaden 2000.
zu Rihm
Abeln, Carolin: Sprache und Neue Musik. H.-Rezeption bei Wilhelm Killmayer, Heinz Holliger, Wolfgang Rihm und Luigi Nono, Freiburg 2017.
zu Holliger
Brotbeck, Roman: Komponierte Erkaltung, in: Heinz Holliger. Scardanelli-Zyklus für Solo-Flöte, kleines Orchester und gemischten Chor. Nach Gedichten von F. H., Booklet, ECM Records 1993, 28–33. Meyer, Thomas: Zersplitterte Biographien. Zum 60. Geburtstag des Schweizer Komponisten, Oboisten und Dirigenten Heinz Holliger, in: Neue Zeitschrift für Musik, 160. Jg., 1999, III, 45–47.
zu Wildberger
Haefeli, Anton (Hg.): Jacques Wildberger oder die Lehre vom Andern. Analysen und Aufsätze von und über Jacques Wildberger, Zürich 1995. Kunkel, Michael (Hg.): Jacques Wildberger. Beiträge, Meinungen und Analysen zur neuen Musik, Jacques Wildberger zum 80. Geburtstag, in: Fragmen, Nr. 38, Saarbrücken 2002.
zu Nono
Linden, Werner: Luigi Nonos Weg zum Streichquartett. Vergleichende Analysen, Kassel 1989. Stenzl, Jürgen (Hg.): Luigi Nono. Texte und Studien zu seiner Musik, Zürich 1975. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 31994.
zu Ligeti
Für György Ligeti. Die Referate des Ligeti-Kongresses (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft; 11), Hamburg 1988/Laaber 1991. Ligeti, György: Rhapsodische, unausgewogene Gedanken über Musik, besonders über meine eigenen Kompositionen, in: Neue Zeitschrift für Musik, Jg. 154, Nr. 1, 1993, 20–29. Motte, Helga de la: Musik und Bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur, Laaber 1990. Schneider, Albrecht: Musik sehen – Musik hören. Über Konkurrenz und Komplementarität von Auge und Ohr, in: Theorie der Musik. Analyse und Deutung (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft; 13), Laaber 1995, 123– 150.
zu Kurtág
Kurtág, György: H.-Gesänge für Bariton, Posaune und Tuba, op. 35a, 1993–97, Facsimile, Budapest 2013. Lepenies, Wolf: Ein Held unserer Zeit – Herr K. über György Kurtág, in: NZZ, Nr. 198, 2000, 35. Spangemacher, Friedrich: Mit möglichst wenig Tönen möglichst viel sagen. Ein Gespräch mit dem Komponisten György Kurtág, in: NZZ, Nr. 134, 1998, 65.
562
VII Nachwirkungen
Stenzl, Jürg: György Kurtágs Mikrokosmos, in: Booklet, CD György Kurtág. Musik für Streichinstrumente, 1996.
zu Zender
Enge, Håvard: Music reading poetry. Hans Zender’s musical reception of H. (Diss.), Univ. Oslo 2011. Waibel, Violetta L. (Hg.): »Ein Zeichen sind wir, deutungslos«. H. Lesen, Ikkyû Sôjun Hören, Musik Denken, für Hans Zender, 1936–2019, Göttingen 2020.
zu Killmayer
Adorno, Theodor W.: Parataxis. Zur späten Lyrik H.s, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1974, 447– 491. Dadelsen, Hans-Christian von: Entgrenzung und Besinnung statt Bekränzung und Bestimmung. Gedanken zu Wilhelm Killmayer und den H.-Liedern (2. Zyklus), hinter dem Rücken von Prometheus formuliert, in: Mauser, Siegfried (Hg.): Der Komponist Wilhelm Killmayer, Mainz 1992, 158–170. Killmayer, Wilhelm: Sprache als Musik, in: Mauser, Siegfried (Hg.): Der Komponist Wilhelm Killmayer, Mainz 1992, 241–253. Killmayer, Wilhelm: Zur Lautstruktur bei H., in: HJb 28 (1992/93), 218–263. Rexroth, Dieter: Die Perspektive einer »Großen Zeit«. Wilhelm Killmayers Weg zu den H.-Liedern (1. Zyklus), in: Mauser, Siegfried (Hg.), Der Komponist Wilhelm Killmayer, Mainz 1992, 150–157.
zu Florey
Florey, Hans: Magisch-harmonikale Farbordnungen 1973– 1976. Rationale Farbmetrik, synthetische und analytische Farb-Überlagerungen, Verhältnis zur Musik, Graz 1976. Florey, Hans: Farbtotalität in 35 Grundbildern, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, 9.7.–27.8.1981, Graz 1981. Florey, Hans: Zahl – Farbe – Klang in zyklischen Kanonformen, Neue Galerie Graz, 22.3.–16.4.1990; Kärntner Landesgalerie Klagenfurt, 3.–25.10.1990; Fészek-Galéria Budapest, Dezember1990, Graz 1990.
zu Saariaho
Zollner, Barbara Maria: »Ich arbeite für die Ohren«. Die finnische Komponistin Kaija Saariaho, in: Neue Zeitschrift für Musik, Nr. 5, 2000, 60–62.
zu Müller-Siemens
Booklet zu Musik in Deutschland. Solo & Klavier 1970– 2000, BGM 2001.
zu Álvarez
Álvarez, Geoffrey, Interview mit Valérie Lawitschka (11.4.2019, Zusammenfassung). Oelmann, Ute: Fenstergedichte, in: Kurz, Gerhard (Hg.): Interpretationen. Gedichte von F. H., Stuttgart 1996, 200– 212.
Valérie Lawitschka
Anhang
Zeittafel 1770 Lauffen 20. März H. in Lauffen am Neckar als erstes Kind
von Heinrich Friedrich Hölderlin, geb. 25.1.1736, und Johanna Christiana Heyn, geb. 8.7.1748, geboren. 21. März Taufe auf den Namen Johann Christian Friedrich.
1771 7. April Geburt der Schwester Johanna Christiana
Friederike.
3. November Tod der Urgroßmutter Sutor. 1772 5. Juli Plötzlicher Tod des Vaters nach einem
Schlaganfall. 7. Juli Begräbnis des Vaters. – Die ältere, ebenfalls verwitwete Schwester des Vaters, Elisabeth von Lohenschiold (geb. 1732), zieht zu ihrer Schwägerin. 15. August Geburt der Schwester Maria Eleonora Heinrike (»Rike«). 25. September Tod des Großvaters Heyn.
1774 10. Mai Aufgrund der von der Mutter wegen ihrer
Absicht, sich mit Johann Christoph Go[c]k zu vermählen, in Lauffen beantragten Inventur und »Eventualteilung« (des Vermögens zwischen der Mutter und den Kindern) werden dem Sohn 2230 Gulden zugesprochen. Dieses Vermögen wird fortan von der Mutter für den Sohn, der niemals eine eigene Verfügung darüber fordern wird, verwaltet. 30. Juni Gok erwirbt in Nürtingen den Schweizerhof, ein stattliches Anwesen mit landwirtschaftlichen Gebäuden und Kellern, für 4500 Gulden. 10. Oktober Heirat der Mutter mit Gok in Nürtingen. Gok beginnt einen Weinhandel, betreibt Landwirtschaft, versieht städtische Ämter und wird 1776 dritter Bürgermeister. 1775 Nürtingen 18. August Geburt der Schwester Anastasia Carolina Dorothea. 16. November Tod der am 7.4.1771 geborenen Schwester Johanna Christiana Friederike.
19. Dezember Tod der Stiefschwester Anastasia
Carolina Dorothea.
1776
Beginn des Besuchs der Lateinschule in Nürtingen, ergänzt durch Privatunterricht zur Vorbereitung auf das Landexamen, das der Aufnahme in eine der niederen evangelischen Klosterschulen von Württemberg diente. 29. Oktober Geburt des Halbbruders Karl Christoph Friedrich Gok.
1777 11. Mai Tod der Tante Elisabeth von Lohenschiold.
Von ihrem Vermögen erbt H. ein Viertel, 1393 Gulden. Zusammen mit dem Erbe vom Vater und dem der 1775 verstorbenen Schwester beläuft sich H.s Vermögen auf 4400 Gulden. Aus den Zinsen dieses von der Mutter verwalteten und in Pfandbriefen und Darlehen angelegten Vermögens finanziert sie die Unterhaltszuschüsse H.s. 16./18. November Geburt, Tod und Begräbnis eines Halbbruders (anonym).
1778 12. November Geburt der Stiefschwester Friederi-
ke Rosina Christiana. November Starkes Hochwasser, Gok zieht sich in »der eifrigen Erfüllung seiner Berufspflichten« eine »Brustkrankheit« zu.
1779 13. März Tod des Stiefvaters Gok nach einer
Lungenentzündung. Die Großmutter Heyn zieht zu ihrer Tochter.
1780
Beginn des (privaten) Klavierunterrichts, bald ergänzt durch Flötenunterricht, Mitte September: Erste Absolvierung des Landexamens in Stuttgart zur Aufnahme in eine der ev. Klosterschulen.
1782
Täglich eine Stunde Privatunterricht bei Diakonus (›Helfer‹) Nathanael Köstlin (1744–1826) und Präzeptor Kraz.
566
Anhang
1783
Bekanntschaft mit dem fünf Jahre jüngeren Schelling, der bei seinem Onkel Köstlin wohnt und ebenfalls die Lateinschule besucht. 9./11. September Viertes (letztes) Landexamen in Stuttgart. 20. Dezember Tod der Stiefschwester Friederike Rosina Christiana (Scharlach).
1784 18. April Konfirmation H.s. 20. Oktober H. tritt in die niedere Klosterschule in
Denkendorf ein. Er unterzeichnet eine Urkunde, mit der er sich verpflichtet, sich »auf keine andere Profession, dann die Theologiam« zu legen. Bald danach legt die Mutter eine Liste an der »Ausgaben vor den L. Fritz, welche aber, wan Er im Gehorsam bleibt, nicht sollen abgezogen werden« (von seinem Erbe). Sie trägt die Ausgaben seit 1776 ein und führt die Liste bis fast zu ihrem Tod am 17. Februar 1828 fort.
1785 21. März Lokation aufgrund der Zeugnisse des
›feierlichen Examens‹ (»Examen solenne«). Unter den 29 Alumnen seines Schuljahrgangs rangiert H. auf Platz Sechs. November Erster erhaltener Brief H.s, zugleich beginnt H. eine handschriftliche Sammlung von Gedichten anzulegen.
1786 18./19. Oktober Einzug der Promotion (des Schul-
jahrgangs) H.s in die höhere Klosterschule Maulbronn. Bald danach erste Bekanntschaft mit der jüngsten Tochter des Klosterverwalters, Louise Nast (geb. 9.5.1768), mit der sich H. verlobt. 7./8. November Empfang für den durchreisenden Herzog Karl Eugen von Württemberg, H. trägt sein Huldigungsgedicht an dessen Gattin Franziska vor. 18. Dezember Erster erhaltener Stammbucheintrag (in dasjenige des Kompromotionalen Johann Christian Rümelin).
1787 Januar Besuch von Louises Vetter Immanuel Nast
(geb. 1769) in Maulbronn, eine herzliche Freundschaft zwischen H. und ihm beginnt, um dieselbe Zeit auch Freundschaft mit Franz Karl Hiemer (1768–1822). März Begeisterte Ossian-Lektüre; des Weiteren von Klopstock, Schiller, Schubart, Young und Wieland. Sommer H. ist mehrmals krank, wirft Blut aus. Wiederkehrende Überlegungen, aus dem Kloster
auszuscheiden. Schmerzlicher Abschied von Immanuel Nast, der ihn besucht. September Im Zeugnis des Herbstexamens Griechisch, Poesie und Rhetorik »recht gut«, Mathematik »mittelmäßig«, H.s »Gaben« insgesamt als »gut« beurteilt. 1788 Tübingen 11. Februar H. hat bei der festlichen Feier des 60. Geburtstages des Herzogs »die Ehre, [...] als Dichter aufzutreten«. März Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands erscheint in Wielands Teutschem Merkur (s. Kap. 28). 18. März H. reist mit der Mutter zu seiner todkranken Tante Volmar nach Markgröningen, die Tante stirbt am 18. April. April Erneute Lektüre Ossians, erste von Schillers Don Carlos. 2.–6. Juni Reise in die Pfalz. Sommer/Herbst Anlage des Marbacher Quart heftes. 21. Oktober Einzug von H.s Promotion ins Tübinger Stift, gleichzeitig von vier Schülern des Stuttgarter Gymnasiums, darunter Hegel. Die ersten zwei Studienjahre gelten der Philosophie, die folgenden drei der Theologie. Professoren: Christian Friedrich Schnurrer (Ephorus), Ludwig Joseph Uhland, Gottlob Christian Storr (Superattendenten). Unter den Repententen ab 1789 Christoph Gottfried Bardili (1761–1808, Vetter Schellings) und Karl Philipp Conz (1762–1827). 10. November Erste Quartalszeugnisse mit Lokation (H. der sechste). 3. Dezember H. erhält den Grad des Baccalaureus. Winter Beginn der Freundschaft mit Christian Ludwig Neuffer (1769–1839) und Rudolf Magenau (1767–1846), die bereits seit 1786 im Stift sind.
1789 24. Februar Anlässlich der Hochzeit von Heinrike
Nast erster Druck eines (verlorenen) Gedichts H.s. März/April Lösung des Verlöbnisses mit Louise Nast, die Freundschaft mit Immanuel Nast erlischt ebenfalls. 20./21. April Besuch bei Neuffer in Stuttgart, Besuch auch bei Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791), vielleicht auch schon Bekanntschaft mit Gotthold Friedrich Stäudlin (1758–1796). 14. Juli Sturm auf die Bastille in Paris, Beginn der Französischen Revolution,
Zeittafel 26. August Erklärung der Menschen- und Bürger-
rechte.
Sommer H. erhält Flötenunterricht bei Friedrich
Ludwig Dulon.
Anfang Oktober Mit Neuffer in Stuttgart, Besuch
bei Stäudlin, Bekanntschaft mit den drei Schwestern Stäudlins. 5. November Herzog Karl Eugen besucht das Stift, Disput mit dem Ephorus und den Repetenten über deren Amt, Karl Eugen mahnt bei den teilweise republikanisch gesinnten Stiftlern »strenge Ordnung und Gesetzlichkeit« an. 16. November H. werden sechs Stunden Karzer »wegen Ungebühr auf offener Straße« diktiert (er hatte einem Schullehrer, der ihm den Gruß schuldig blieb, den Hut vom Kopf geschlagen). Mitte/Ende November H. will »wegen des Druks« aus dem Stift heraus und Jura studieren; eine Fußverletzung erlaubt am 24./25. Nov. die Abreise zu einem vierwöchigen Kur-Urlaub nach Nürtingen, am 29. Dez. kehrt H. ins Stift zurück.
1790 Jahresanfang Friedrich Philipp Immanuel Niet-
hammer (1766–1848) hospitiert nach dem Konsistorialexamen im Stift, unter seinem Einfluss erste Beschäftigung mit Kant; 1790–1792 war der »Kantische enragé« Carl Immanuel Diez (1766–1796) Repetent im Stift, Johann Friedrich Flatt (1759– 1821) vertrat dort einen gemäßigten Kantianismus. 9. März Nach dem Vorbild der Gelehrtenrepublik Klopstocks Erster »Aldermannstag« der Freunde H., Neuffer und Magenau, bei dem Gedichte vorgetragen und ästhetische Fragen diskutiert wurden. Sommer Bekanntschaft mit Elise Lebret (geb. 1774), der Tochter des Universitätskanzlers, Vorbereitung auf das Magisterium: H. arbeitet als Specimina Geschichte der schönen Künste unter den Griechen und Versuch einer Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen aus. 17.–22. September Magisterexamen und Abschluss der ersten beiden (der Philosophie und Philologie gewidmeten) Studienjahre. Beginn des Unterrichts in den theologischen Fächern, neben der Lektüre Kants nun auch intensive Beschäftigung mit Leibniz, Herder, Heinse und Jacobi. Oktober In Stuttgart bei Neuffer, Gespräch mit Stäudlin über die Teilnahme an dessen künftigem Musenalmanach fürs Jahr 1792. 20. Oktober Schon mit 15 Jahren tritt Schelling ins Tübinger Stift ein.
567
Ab Ende Oktober Wiederbegegnung mit Elise Le-
bret und Beginn der (schwierigen) Liaison.
1791 März In einem Brief an die Schwester dokumentiert
H. als seinen derzeitig »höchsten Wunsch«: »in Ruhe und Eingezogenheit einmal zu leben – und Bücher schreiben zu können, ohne zu hungern«. April Mit Christian Friedrich Hiller und Friedrich August Memminger Reise in die Schweiz. Am 19. April Besuch bei Johann Kaspar Lavater in Zürich, H. trägt sich in dessen Fremdenbuch ein, Lavater notiert daneben »NB.«. Wanderungen nach Kloster Einsiedeln, zum Vierwaldstätter See, auf dem Rück- wie auch auf dem Hinweg durchquert H. das Gebiet der oberen Donau. Anfang September Stäudlins Musenalmanach fürs Jahr 1792 erscheint und in ihm vier Gedichte H.s. Ende September Nach Magenaus vorzeitigem Ausscheiden im Juli verlässt auch Neuffer das Stift und wird Vikar am Waisenhaus in Stuttgart. 10. Oktober Tod von Christian Daniel Friedrich Schubart. Mitte November Auf den erneuten Wunsch, das Stift zu verlassen, verzichtet H. der Mutter zuliebe; Lektüre Rousseaus, Beschäftigung mit Astronomie, Bezug der Plutarch-Ausgabe von Hutten (deren Band 1 1791 bei Cotta erscheint).
1792 Ende Februar Sorge H.s über zunehmende Repres-
sion am Stift durch die Neuen Statuten.
Februar Österreich und Preußen schließen eine
Koalition gegen Frankreich.
März/April In Stuttgart im Kreis von Neuffers
»Freunden und Freundinnen« Neigung zu einer Unbekannten (»holden Gestalt«). Nicht lange danach entsteht der erste Entwurf zum Hyperion. 20. April Frankreich erklärt Österreich den Krieg. Durch den Kriegseintritt Preußens kommt es im Juli zum ersten (bis 1797 dauernden) Koalitionskrieg gegen Frankreich. H. sieht die Franzosen als »Verfechter der menschlichen Rechte« an. 25. Juli Die Pariser Massen erstürmen die Tuilerien. Sommer Bekanntschaft mit dem Jura-Studenten Franz Karl Leopold (Leo) von Seckendorf (1775– 1809) vermutlich in einem revolutionärpatriotischen Studentenkreis. Hegel gilt zu dieser Zeit als »derber Jakobiner« (auch H. sei »dieser Richtung zugetan«, neigt aber wohl den Girondisten zu). Anfang September Auf Anstiftung Marats Septembermorde in Paris.
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20. September Kanonade von Valmy, 21. Sept.:
Abschaffung des Königtums, die Girondisten treten aus dem Jakobinerklub aus. 22. September Jahr I der Republik – Beginn des (bis 1806 gültigen) republikanischen Kalenders. 9. Oktober H. nimmt an der Hochzeit der Schwester mit Christoph Matthäus Theodor Breunlin (geb. 1752) in Nürtingen teil und überreicht der Schwester das Pastellbild von Hiemer. 21. Oktober Besetzung von Mainz durch die französischen Revolutionstruppen, Gefährdung Süddeutschlands. 19. November Dekret des Konvents, in dem Frankreich allen Völkern, die frei sein wollen, Brüderschaft und Hilfe anbietet.
1793 21. Januar Ludwig XVI. in Paris öffentlich hinge-
richtet.
6. April Bildung des Comité du salut public (Wohl-
fahrtsausschuss, Vorsitzender zunächst Georges Danton). 13. Mai Verkündung der Neuen Statuten im Stift in Gegenwart des Herzogs und der Herzogin. Kurz zuvor war der »democrata« Wetzel aus dem Stift geflohen. 23. Mai Charlotte von Kalb (1761–1843) bittet Schiller um Hilfe bei der Suche nach einem neuen Hofmeister für ihren neunjährigen Sohn Fritz. 2. Juni Verhaftung von 29 führenden Girondisten in Paris, an deren Schicksal H. Anteil nimmt. Maximilien de Robespierre löst Danton als Vorsitzender des Wohlfahrtsausschusses ab. Juni Abschlussexamen von H.s Promotion. 27. Juni H. trägt Friedrich Matthisson, der zusammen mit Neuffer und Stäudlin das Stift besucht, die Hymne Dem Genius der Kühnheit vor. Juli Enthusiastische Platon-Lektüre (Symposion, Timaios, Phaidros). 13. Juli Charlotte Corday ermordet Marat. 14. Juli Angeblich Errichtung eines Freiheitsbaums auf einer Wiese vor Tübingen durch die Stiftler, darunter H., Hegel und Schelling. Ende Juli H. bezeichnet Marat wie die anderen demagogischen Jakobiner als »schändliche Tyrann[en]«. 5. September Der Pariser Konvent stimmt systematischen Terrormaßnahmen zu. September Bekanntschaft mit dem Jura-Studenten Isaac von Sinclair. 19. September Vorzeitiges Konsistorialexamen
Hegels, der eine Hofmeisterstelle in Bern antritt. Abschied von H. mit der »Loosung – Reich Gottes!«. 20. September Stäudlin empfiehlt Schiller H. für die Hofmeisterstelle bei der Familie von Kalb. Kurzer Besuch H.s. bei Schiller am 1. Oktober, dieser leitet die Empfehlung weiter. Frau von Kalb stimmt dann bis Ende Oktober zu. 31. Oktober Hinrichtung der Führer der Gironde. Ende November Abschied von Magenau. 6. Dezember Konsistorialexamen in Stuttgart als Abschluss der theologischen Studien und Voraussetzung für die geistliche Laufbahn. Probepredigt über Röm. 5.10. Mitte Dezember H. verlässt Tübingen, Abschied vermutlich auch von Elise Lebret, Reise über Stuttgart, Nürnberg, Erlangen, Bamberg und Coburg nach Waltershausen (Unterfranken). 28. Dezember Ankunft im Hause von Kalb in Waltershausen. 1794 Waltershausen Januar H. tritt die Hofmeisterstelle im Hause von Kalb an und unterrichtet Fritz von Kalb von 9 bis 11 und von 15 bis 17 Uhr. Bekanntschaft mit dem Pfarrer Johann Friedrich Nenninger (1760–1828) und Freundschaft mit Wilhelmine Marianne Kirms (1772–1840), der Gesellschafterin von Charlotte von Kalb. 20. März H. berichtet Schiller über seine pädagogischen Grundsätze; das Verhältnis zu seinem Zögling wird bald schwieriger. 5. April Hinrichtung Dantons, organisierter Terror unter der Diktatur Robespierres. Frühsommer/Sommer Intensive Lektüre der »Griechen« und Kants, insbesondere der Kritik der Urteilskraft. 8./9. Juni Reise mit der Familie von Kalb nach Völkershausen in der Rhön. H. wandert anschließend allein durch die Rhön bis Fulda. Sommer Arbeit am Fragment von Hyperion. 28. Juli Hinrichtung Robespierres, Gewaltmaßnahmen gegen die militanten Jakobiner (»weißer Terror«). August Lektüre Fichtes (Charlotte von Kalb erhält dessen wöchentlich erscheinende Vorlesungen zur Wissenschaftslehre zugesandt). November Reise H.s mit Fritz von Kalb nach Jena (das Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling verschlechtert sich in Jena zusehends). Besuche bei Schiller, erste Begegnung mit Goethe. Bekanntschaft mit Sophie Mereau (geb. 1770), häufiger
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Umgang mit Niethammer. H. besucht täglich Fichtes Vorlesungen. Ende Dezember H. siedelt mit Charlotte und Fritz von Kalb nach Weimar über. Besuch bei Herder, trifft mit Goethe bei Charlotte von Kalb zusammen. 1795 Jena Januar Trennung vom Hause von Kalb in beiderseitigem Einvernehmen. H. kehrt nach Jena zurück und wohnt dort neben Fichtes Haus, der erste Band von Wilhelm Meisters Lehrjahren beeindruckt H., Besuche bei Schiller (wo H. auch »meist Göthen« trifft, vielleicht auch Begegnung mit Wilhelm von Humboldt). 9. März Schiller empfiehlt Cotta den Verlag des Hyperion, Cotta sagt am 20.3. zu, seit Anfang des Jahres Arbeit an Hyperions Jugend. März Die intensive Freundschaft mit Isaac von Sinclair beginnt, H. zieht im April in dessen Gartenhaus um, Bekanntschaft auch mit Böhlendorff. 27. März Die Mutter verkauft das Haus in Nürtingen, bewohnt dort aber noch bis Frühjahr 1798 einige Zimmer. Ende März/Anfang April Siebentägige Fußreise nach Halle (Franckesche Stiftungen, Zentrum des Pietismus), Dessau – »herrlicher Tag [in den] Gärten von Luisium und Wörlitz« bei Dessau – Leipzig (Besuch des Philosophen Heydenreich und des Verlegers Göschen) und Lützen. 25. April Tod von Rosine Stäudlin (Neuffers Braut), der H. das Gedicht Freundeswunsch ge widmet hatte. 15. Mai Eintrag in die Matrikel der Universität Jena. Frühsommer Im Haus von Niethammer, seit 1793 Professor für Philosophie in Jena, Zusammen treffen mit Fichte und Friedrich von Hardenberg (Novalis). 27. Mai Studententumult in Jena. Anfang Juni Plötzlicher Aufbruch H.s aus Jena. Auf der Rückreise trifft H. in Heidelberg den Arzt und Naturforscher Johann Gottfried Ebel (1764– 1830), der der Frankfurter Kaufmanns- und Bankiersfamilie Gontard nahesteht. Nürtingen Ende Juli Besuch in Tübingen. H. spricht sich mit Elise Lebret aus, bedeutsames Gespräch mit Schelling, Arbeit an der vorletzten Fassung des Hyperion. August Durch Ebel Angebot der Hofmeisterstelle bei den Gontards. 2. September H. antwortet mit dem Entwurf eines Erziehungsprogramms, da »in unserer jezigen Welt die Privaterziehung noch beinahe das einzige
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Asyl wäre, wohin man flüchten könnte mit seinen Wünschen und Bemühungen für die Bildung des Menschen.« September Wiedersehen mit Neuffer in Stuttgart, Bekanntschaft und Freundschaft mit dem Kaufmann Christian Landauer (1769–1845). Anfang Dezember Durch Ebel (die von H. zunehmend ungeduldiger erwartete) Bestätigung der Hofmeisterstelle im Hause Gontard, H. sagt am 7.12. zu. Mitte Dezember Besuch Schellings in Nürtingen, Fortsetzung der philosophischen Diskussionen, die »nicht immer accordirend« waren; Aufbruch von Nürtingen. 28. Dezember H. trifft in Frankfurt ein, am 30.12. besucht ihn sein zukünftiger Zögling Henry Gontard, wohl noch am 31. Dezember erster Besuch H.s bei der Familie Gontard im »Weißen Hirsch«. 1796 Frankfurt Januar Antritt der Hofmeisterstelle im Hause Gontard: Jakob (Cobus) Friedrich Gontard (1764– 1843); Susette Gontard, geb. Borkenstein (1769– 1802), Mutter von Henry (1787–1816), Henriette, Helene und Amalie Gontard. Die drei Schwestern werden von der aus Bern stammenden Freundin und Gesellschafterin Susette Gontards, Marie Rätzer (1772–1849), erzogen. H. unterrichtet nur vormittags und erhält (bei freier Kost und Logis) 400 Gulden Jahresgehalt. Das Verhältnis zu Henry zeichnet schnell gegenseitige Sympathie aus. Erster Besuch bei Sinclair in Homburg, dort Bekanntschaft mit dem Homburger Hofrat (und Mentor Sinclairs) Franz Wilhelm Jung (1757–1833). April Schelling auf der Durchreise in Frankfurt. Mai Die Familie Gontard zieht in ein gemietetes Haus auf der Pfingstweide (im Osten der Stadt) um. Hier wohl Beginn der Liebe zwischen H. und Susette Gontard (vgl. die Reimhymne Diotima). Anfang Juli Vordringen der französischen Armeen, die Sambre-Maas-Armee stößt gegen Frankfurt vor, die Rhein-Mosel-Armee bricht in Württemberg ein. 10. Juli Flucht der Familie Gontard (ohne den Hausherrn) mit H. und Marie Rätzer über Hanau und Fulda nach Kassel. Am 25.7. trifft H. dort mit dem mit der Familie Gontard befreundeten Wilhelm Heinse (1746–1803) zusammen: Besuch der Gemäldegalerie und des Fridericianums. 9. August Weiterreise nach Driburg. Die Flucht, die ursprünglich nach Hamburg, zur Familie von
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Susette Gontard, führen sollte, wird hier bis Mitte September unterbrochen. Hegel widmet H. Eleusis. 8. September Sieg des Erzherzogs Karl Eugen von Württemberg über die französischen Truppen, Räumung Frankfurts, im September geht Ebel als überzeugter Republikaner nach Paris. 13. September Rückreise nach Kassel, Aufenthalt dort bis Ende September. 11.–14. September bei Kehl Selbstmord Stäudlins im Rhein. 20. September Tod der Mitte Juli 1795 geborenen Tochter von Wilhelmine Marianne Kirms in Meiningen. Ende September Rückkehr nach Frankfurt, Gontard ist in Nürnberg. Herbst Endgültige Fassung von Hyperion, Bd. I. Oktober Desillusionierter Brief Ebels aus dem Paris des Direktoriums; der Weinhändler (Bilderund Büchersammler) Johann Noë Gogel (1758– 1825) bietet Hegel eine Hofmeisterstelle an, H. übermittelt am 24. Okt. das Angebot, Hegel nimmt es im November an. 20. November Anlässlich der Ablehnung einer Präzeptoratsstelle in Nürtingen der Mutter gegenüber erstes offenes Bekenntnis, dass ihm das poetische Geschäft »durch Natur und Gewohnheit [...] unentbehrliches Bedürfniß geworden« sei. 21. November Bitte an den Bruder, die »zwei schwäbischen Almanache« mit den Tübinger Hymnen zum »(D)urchfeilen« zu übersenden.
1797 Januar Hegel tritt in Frankfurt seine Hofmeister-
stelle bei der Familie Gogel an.
30. Januar H. lehnt erneut eine von der Mutter an-
geratene Pfarrei ab.
April Der erste Band des Hyperion erscheint. Carl
Gok besucht H. in Frankfurt, rasche Abreise wegen der Bedrohung Frankfurts durch die Sambre-Maas Armee. 22. April Durch die Ankunft eines Kuriers von Bonaparte wird ein Handstreich der franz. Kavallerie auf das Bockenheimer Tor nur mit Mühe aufgehalten. Mai Die Familie Gontard zieht für den Sommer auf den Adlerflychtschen Hof im Norden der Stadt. 20. Juni H. sendet Schiller den ersten Band des Hyperion zusammen mit An den Aether und Der Wanderer. 27. Juni Beginn eines Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe: H. wird wie Jean Paul (und
Siegfried Schmid, s. u.) als »subjektivistisch« und »überspannt« abgekanzelt. August Erster Plan zum Empedokles. 22. August Letztes Zusammentreffen mit Goethe, der H. rät, »kleine Gedichte zu machen«. 11.–16. September Neuffer und Landauer in Frankfurt, Neuffer bewundert die »hohe Schönheit« Susette Gontards. Oktober Bekanntschaft mit Siegfried Schmid (1774–1859) aus Friedberg. 17. Oktober Friede von Campo Formio, nachdem Bonaparte große Teile von Ober- und Mittelitalien erobert hatte, Ende des ersten Koalitionskrieges: Österreich stimmt der Abtretung Belgiens, der Lombardei und des linken Rheinufers zu. Die Entschädigung der betroffenen Fürsten soll auf dem Rastatter Kongress (bis 1799) geregelt werden, der aber ergebnislos verläuft. 22. Dezember In Blaubeuren Geburt des zweiten Kindes der Schwester (nach der 1793 geb. Heinrike Sybilla Christiana), Karl Heinrich Friedrich (»Fritz«): H. wird in absentia Pate. 29. Dezember Franz Wilhelm Jung bietet Cotta seine Ossian-Übersetzung an und nennt dabei H. als »kompetenten Richter«.
1798 Februar/März Revolutionäre Bewegungen in der
Schweiz, in Italien und auch in Süddeutschland mit dem Ziel einer Alemannischen Republik. März Einsetzende Kritik an dem Milieu (»lauter ungeheure Kartikaturen«) in Frankfurt. Sommer Wieder Umzug auf den Adlerflychtschen Hof, die Situation im Hause Gontard beginnt für H. objektiv krisenhaft zu werden. Von Juni bis August schickt er 18 epigrammatische Oden an Neuffer. Ende September Trennung vom Hause Gontard. Sinclair besorgt ihm eine Unterkunft in Homburg (bei Glaser Wagner in der Haingasse). Homburg 4./5. Oktober Erstes Wiedersehen mit Susette Gontard, weitere folgen. Oktober H. wird am Homburger Hof vorgestellt, die Prinzessin Auguste (von Hessen-Homburg, 1776–1871) fasst eine schwärmerische Neigung zum »Dichter«. November Vermutlich Abschluss der Arbeit am zweiten Band des Hyperion. Auf Einladung Sinclairs kommt H. zum Rastatter Kongress, Bekanntschaft mit Friedrich Muhrbeck (1775–1827), Fritz Horn (1772–1844), Johann Arnold Joachim von
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Pommer-Esche (1774–1814) und Johann Heinrich Schenk (1748–1813). 6. Dezember Treffen mit Susette Gontard. 30. Dezember H. verfasst ein (von der Mutter erbetenes) Gedicht zum 73. Geburtstag der Großmutter Heyn.
1799 Januar Arbeit am Empedokles (Erster Entwurf). Februar Sinclair kehrt mit Muhrbeck nach Hom-
burg zurück. Rege, vermutlich politische Diskussionen der drei; Ausbruch des zweiten Koalitionskrieges. 2. März A. W. Schlegel lobt in einer Rezension (von Neuffers Taschenbuch auf 1799) H.s Gedichte. 11. März/5. April Treffen mit Susette Gontard. April (bis Ende Juli) Böhlendorff in Homburg, er schreibt über H., dieser sei »Republikaner im Geist und in der Wahrheit«. 9. Mai Treffen mit Susette Gontard. Mai/Juni Arbeit am Empedokles (Zweiter Entwurf). 4. Juni An Neuffer Mitteilung des Plans einer »poëtischen Monatschrift« (Iduna), die der Verleger Steinkopf (1771–1852) in Stuttgart übernehmen soll. Steinkopf bittet H., einige »Männer mit Namen« zur Mitarbeit einzuwerben – das gelingt nicht, im Herbst ist das Projekt gescheitert. 3. Juli H. schickt (zusammen mit Gedichten Böhlendorffs) die Idylle Emilie vor ihrem Brauttag an Neuffer; einige Gedichte (u. a. Diotima (Jüngere Fassung), Der Tod fürs Vaterland, Der Zeitgeist) schickt er in der zweiten Julihälfte nach, 1. August Treffen mit Susette Gontard. August H.s Frankfurter Ersparnisse sind verbraucht, er bedarf wieder der finanziellen Unterstützung durch die Mutter. 5. September Treffen mit Susette Gontard. September/Oktober Wegen des Scheiterns des Journalplans ist H. »in sehr gedrückter Lage« und erwägt, nach Jena (wegen eines »kleinen Postens« in der Nähe Schillers) oder Stuttgart zu gehen (»um einer kleinen Anzahl junger Leute Privatvorlesungen zu halten«). Ende Oktober Der zweite Band des Hyperion erscheint, 31.10. flüchtiges Wiedersehen mit Susette Gontard. 7. November Treffen mit Susette Gontard, H. übergibt ihr den zweiten Band des Hyperion mit der Widmung »Wem sonst als Dir.« 9. November Staatsstreich vom 18. Brumaire in Paris: Das Direktorium wird aufgelöst, Bonaparte Erster Konsul (»eine Art von Dictator«, so H.).
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November Antwort an Ebel zu dessen Bericht aus
Paris: »Ihr Urtheil über Paris ist mir sehr nahe gegangen«. Das Fazit des Briefs »Glüklich sind wir dann, wenn uns noch eine andere Hofnung bleibt! Wie finden Sie denn die neue Generation, in der Welt, die Sie umgiebt?« formuliert das Zusammentreffen politischer wie biographischer Enttäuschungen: »Manche Erfahrungen [...] haben mein Zutrauen zu allem, was mir sonst vorzüglich Freude und Hofnung gab, [...] so ziemlich erschüttert«. Entscheidende Peripetie in H.s Werk. 28. November H. widmet der Prinzessin Auguste von Homburg zu deren 23. Geburtstag ein Gedicht. 15. Dezember Bonaparte erklärt die Revolution für »beendet«. Jahreswechsel 1799/1800 H. gibt die Arbeit am Empedokles auf. Den Umbruch und den Neuansatz in H.s Werk, der damit einhergeht, reflektieren insbesondere die theoretischen Fragmente Das untergehende Vaterland ... (Das Werden im Vergehen) und Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... (Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes).
1800 Januar Landauer (aus geschäftlichen Gründen in
Frankfurt) besucht H. in Homburg.
6. Februar Treffen mit Susette Gontard. 2. März Tod des Schwagers Breunlin in Blaubeu-
ren. Die Schwester zieht bald darauf mit den Kindern zur Mutter nach Nürtingen. Ostern H. zu Besuch in Nürtingen. 25. April General Moreau beginnt am Oberrhein einen Feldzug und dringt nach Schwaben vor. 8. Mai Am Adlerflychtschen Hof letztes Wiedersehen mit Susette Gontard. 15. Juni Der Friede von Marengo festigt Napoleons Machtstellung (in Frankreich Einführung des zentralistischen Präfektensystems) und lässt H. die baldige Befreiung »von kriegerischen Unruhen« in Württemberg erhoffen. 20. Juni H. zieht – nach einem zehntägigen Aufenthalt in Nürtingen – in Landauers Haus nach Stuttgart. Stuttgart Juli Privatlektionen für die Registratoren Gutscher und Fritsch. Bekanntschaft mit Landauers Bekannten Haug und Huber. H. arbeitet an zahlreichen Oden, hexametrischen Entwürfen und den Elegien. Dezember Emanuel von Gonzenbach (geb. 1778)
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aus Hauptwil bietet H. im Auftrag seiner Eltern eine Hofmeisterstelle für seine jüngeren Schwestern an. H. nimmt an, da das Honorar für die Privatlektionen zum Unterhalt nicht ausreicht. 11. Dezember 31. Geburtstag Landauers. 18. Dezember Der Fabrikant und Kaufherr Anton von Gonzenbach (1748–1819) sagt H. die Hofmeisterstelle in Hauptwil zu. Vor Weihnachten Abschiedsbesuch in Nürtingen. 25. Dezember Nach der Niederlage der Österreicher bei Hohenlinden am 3.12. Waffenstillstand von Steyr, Aussicht auf baldigen Frieden.
1801 Januar Von Nürtingen nach Stuttgart. 11. Januar Aufbruch nach Hauptwil (über Tübin-
gen zu Fuß über Ebingen nach Sigmaringen, von dort »mit einem Gefährt« an den Bodensee nach Überlingen, Überfahrt nach Konstanz, von dort am 15.1. zu Fuß weiter über Sulgen und Bischofszell nach Hauptwil). H. soll im Hause Gonzenbach die beiden jüngsten Töchter, Barbara Julia (geb. 1786) und Augusta Dorothea (geb. 1787) unterrichten. 9. Februar Frieden von Lunéville (Bestätigung der Vereinbarungen von Campo Formio) – vgl. Friedensfeier. 11./13. April Kündigung der Hofmeisterstelle, Trennung vom Hause Gonzenbach. H. reist nach Nürtingen ab. Nürtingen 2. Juni (Letzter) Brief H.s an Schiller und Brief an Niethammer: H. möchte in Jena Vorlesungen über griechische Literatur halten. Die Briefe bleiben ohne Antwort, der Plan wird aufgegeben. Es entstehen die ersten Gesänge. 6. August Huber teilt H. mit, dass Cotta bereit ist, seine Gedichte zu Ostern 1802 zu verlegen. H. legt Reinschriften (von Oden, Elegien und Gesängen) an, die Buchausgabe kommt jedoch nicht zustande. Herbst Friedrich Jakob Ströhlin (1743–1802) vermittelt H. eine Hofmeisterstelle in Bordeaux bei dem aus Hamburg stammenden Konsul Daniel Christoph Meyer (1751–1818). Mitte Dezember Nach dem 11. Dez. (Landauers 32. Geburtstag in Stuttgart) von Nürtingen aus Aufbruch nach Bordeaux. Zu Fuß über Tübingen, Horb, Freudenstadt nach Kehl und Straßburg, wo H. am 15. Dez. eintrifft und bis zum 30. Dez. mit der Weiterreise nach Lyon warten muss.
1802 9. Januar H. in Lyon, der Aufenthalt ist behördli-
cherseits auf vier Tage beschränkt. Von Lyon aus
Weiterreise nach Bordeaux (ca. 600 km), meist zu Fuß auf den Poststraßen über die »gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne«. 28. Januar Ankunft im Hause des Konsuls Meyer in Bordeaux. H. ist mit seiner Stelle zufrieden: »Der Anfang [...] könnte nicht besser seyn.« Möglicherweise beginnt er hier mit der Übersetzung der Trauerspiele des Sophokles. Januar Ebel kehrt von Paris nach Frankfurt zurück. 14. Februar Tod der Großmutter Heyn in Nürtingen. 10. Mai H. lässt sich einen Pass von Bordeaux nach Straßburg ausstellen und trennt sich vom Hause Meyer im beiderseitigen Einvernehmen. Rückweg nach Deutschland über Paris, wo er wahrscheinlich die »Antiquen« im Louvre (von 1803 bis 1814 in Musée Napoléon umbenannt) besichtigt. 7. Juni H. erhält in Straßburg das Ausreise-Visum. Stuttgart/Nürtingen Mitte Juni Rückkehr zunächst nach Stuttgart, dann nach Nürtingen. Kurz danach wieder in Stuttgart. 22. Juni Tod von Susette Gontard. 30. Juni Sinclair glaubt H. in Bordeaux und berichtet in einem über Landauer an ihn geschickten Brief vom Tod Susette Gontards. Sommer H. in Behandlung bei dem Oberamtsphysikus Dr. Planck. 29. September H. reist auf Einladung von Sinclair zum Reichstag in Regensburg. Begegnung mit dem Landgrafen von Homburg und Wiedersehen mit Fritz Horn, dem Bevollmächtigten Bremens. Mitte/Ende Oktober Rückkehr nach Nürtingen. In der Folge intensive Arbeit, insbesondere an der Übersetzung der Trauerspiele des Sophokles. Wahrscheinlich legt H. um diese Zeit das Homburger Folioheft an. 20. Dezember Der erste (erhaltene) Brief der Mutter an Sinclair.
1803 13. Januar Brief an Sinclair mit der Widmungs-
handschrift von Patmos. Dem Landgrafen von Homburg. Sinclair überreicht dem Landgrafen das Gedicht zu dessen 55. Geburtstag am 30. Januar. 25. Februar Reichsdeputationshauptschluß (faktische Auflösung der Machtstrukturen des alten Reichs: Säkularisation der geistlichen Herrschaften und Mediatisierung der kleineren Territorien): Baden, Hessen-Kassel und Württemberg werden Kurfürstentümer.
Zeittafel 14. März Tod Klopstocks. 3. Juni Friedrich Wilmans (1764–1830) über-
nimmt den Verlag der Übersetzung der Trauer spiele des Sophokles. H.s Antwort erfolgt erst am 28. September. Juni Treffen mit Schelling in Murrhardt, der dort mit seiner Frau Caroline seine Eltern besucht. 22. Juni Tod von Heinse in Aschaffenburg. 28. September Später Dank an Wilmans, der Die Trauerspiele des Sophokles verlegt. Ende des Jahres Arbeit an »einzelnen lyrischen größeren Gedichten 3 oder 4 Bogen« und »Durchsicht einiger Nachtgesänge« (diese erscheinen in Wilmans Taschenbuch für das Jahr 1805).
1804 14. April H. erhält von Wilmans zwölf Freiexem-
plare von Die Trauerspiele des Sophokles.
11. Juni Sinclair reist über Würzburg, wo er Schel-
ling trifft, nach Stuttgart, wo er mit dem homburgischen Hofkommissar Blankenstein sowie Baz, Weishaar und Seckendorf politische Gespräche führt. 19. Juni Sinclair fährt mit H. von Nürtingen über Tübingen nach Stuttgart. Teilnahme an einem Abendessen, bei dem Sinclair von einer gewaltsamen Lösung für die Auseinandersetzung der Landstände mit dem Kurfürsten gesprochen haben soll – so Blankensteins spätere Denunziation (vgl. 29.1.1805). 22. Juni Sinclair reist mit H. und Blankenstein nach Homburg ab. Bei der Durchreise in Würzburg letztes Treffen mit Schelling. 26. Juni Ankunft in Homburg. H. erhält in der Dorotheenstraße, nicht weit von Sinclairs Haus, Unterkunft bei dem aus Neuchâtel stammenden Uhrmacher Calame. Homburg 7. Juli Sinclair bittet den Landgrafen, die seit 1.10.1802 erhaltene Besoldungszulage (von 200 Gulden) für die Stelle eines Hofbibliothekars verwenden zu dürfen und an H. auszahlen zu lassen. Die Bitte wird sofort genehmigt. H. dürfte in der 16.000 Bände umfassenden Bibliothek keine dienstliche Tätigkeit ausgeübt haben. 2. November Sinclair reist als Abgesandter Homburgs zu Verhandlungen und zur Teilnahme an Napoleons Kaiserkrönung (am 2. Dezember) nach Paris. H.s nimmt sich Sinclairs Mutter, Frau von Proeck, an. Vermutlich 1804 H. erhält von der Prinzessin Auguste ein Klavier.
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1805 Januar Sinclair kehrt aus Paris zurück, er überwirft
sich mit Blankenstein wegen dessen fragwürdiger Lotteriegeschäfte. Daraufhin bezichtigt ihn dieser am 29. Jan. in einem Schreiben an den Kurfürsten von Württemberg der Verschwörung. 26. Februar Sinclair wird von einem württembergischen Beamten in militärischer Begleitung unter der Anschuldigung eines geplanten Anschlags auf den Kurfürsten verhaftet und abtransportiert. 27. Februar In Ludwigsburg beginnt der Hochverratsprozess gegen Sinclair, Baz, Weishaar und Seckendorf. Da H. als Mitwisser »der ganzen Sache« von Blankeinstein denunziert worden war, werden von der Untersuchungskommission auch über ihn »nähere Nachrichten« und Auskünfte in Nürtingen, beim Konsistorium und in Homburg eingeholt. Das Gutachten des Dr. Müller attestiert, daß H.s »Wahnsinn in Raserey übergegangen ist«. Das bringt die Erkundigungen gegen ihn zum Stillstand. Frühsommer H. muß bei Calame aus- und zum Sattlermeister Lattner (in die Haingasse) umziehen. 9. Mai Tod von Schiller. 10. Juli Sinclair kehrt nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft nach Homburg zurück. 13. September Sinclair reist nach Berlin, wo er bei Charlotte von Kalb wohnt. Diese berichtet am 18.1.1806 Jean Paul über H. 29. Oktober Der einzig erhaltene Brief der Mutter an H. 24. November Besuch des nach seiner Haft des Landes Württemberg verwiesenen Leo von Seckendorf.
1806 1. Januar Kurfürst Friedrich von Württemberg
wird König.
14. Januar Die Mutter beantragt beim Konsistori-
um ein Gratial für H., das der König nach mehreren Gesuchen schließlich am 9. Oktober in einer Höhe von 150 Gulden bewilligt. 12. Juli Die Landgrafschaft Hessen-Homburg geht gemäß der Rheinbundakte im neuen Großherzogtum Hessen-Darmstadt auf. Nach diesen »Veränderungen« sieht Sinclair keine Möglichkeit mehr, daß H. länger »eine Besoldung beziehe und hier in Homburg bleibe«. 6. August Franz II. legt auf ein Ultimatum Napoleons hin die Kaiserwürde nieder: faktisches Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Anfang September Friedrich Schlegel in Homburg, ohne mit H. zusammenzutreffen.
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11. September H., der sich von Leibwächtern ent-
führt glaubt, wird nach Tübingen in das von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth geleitete Universitätsklinikum verbracht, in dem er am 15. Sept. aufgenommen wird. Tübingen Oktober Im Autenriethschen Klinikum führt Justinus Kerner H.s Krankenbuch bis zum 21. Oktober. November: In Seckendorfs Musenalmanach für 1807 erscheinen ohne H.s Wissen Die Herbstfeier (Stutgard), Die Wanderung, Die Nacht (1. Strophe von Brod und Wein) – als H. davon 1807 erfährt, ist er »sehr ungehalten«.
1807 3. Mai H. wird als unheilbar aus dem Klinikum
entlassen (der Arzt gibt ihm »höchstens noch drei Jahre«) und dem Schreinermeister Ernst Friedrich Zimmer (1772–1838) und seiner Frau Marie Elisabetha (1774–1849) zur Pflege anvertraut. H. bewohnt in Zimmers Haus in der Bursagasse bis zu seinem Tod das ›Turmzimmer‹. Dort hat er zu Anfang anscheinend sehr viel geschrieben, wovon nur wenig überliefert ist – später schreibt er allein auf Bitten der Besucher. Herbst In Seckendorfs Musenalmanach für 1808 erscheinen Patmos (Erste Fassung), Der Rhein und Andenken.
1808
Ins Zimmersche Haus kommt ein Klavier; auch das Spiel mit der Flöte nimmt H. wieder auf.
1811 Januar H. schreibe für einen geplanten Almanach
»täglich eine Menge Papiers voll«.
1813 22. November Geburt von Charlotte Zimmer, die
nach dem Tod von Ernst Zimmer H.s Betreuung fortsetzt.
1815 29. April Tod Sinclairs in Wien. 1820 August/September Entscheidende Initiative zu
einer Sammlung von H.s Gedichten durch den preußischen Infanterie-Leutnant Heinrich von Diest (1791–1824). Cotta erklärt sich am 7. September dazu grundsätzlich bereit.
1821 März Diest bittet Kerner wegen der geplanten Ge-
dicht-Sammlung um Hilfe. Carl Gok, an den Kerner die Bitte weiterleitet, ist zur Hilfe bereit. Die Herausgeberschaft übernehmen Ludwig Uhland (1787–1862) und Gustav Schwab (1792–1850); an
der Sammlung von Handschriften, Drucken usw. beteiligen sich u. a. Achim von Arnim, Conz, Varnhagen von Ense, Fouqué, Haug, Hegel, Kerner und (der Tübinger Stiftler) Carl Ziller; unterstützt wird die Arbeit von der Prinzessin Marianne von Preußen.
1822
Vertrag zwischen Carl Gok und Cotta über die zweite Auflage des Hyperion und eine erste Ausgabe »sämtlicher Gedichte«. 3. Juli Erster Besuch von Wilhelm Waiblinger (1804–1830) bei H. Oktober Waiblinger sowie Eduard Mörike und Johannes Mährlein (1803–1871) treten ins Stift ein. Ab 24. Okt. besucht Waiblinger H. häufig(er).
1823 9. Juni H. begleitet – wie dann wöchentlich den
ganzen Sommer über – Waiblinger in das von diesem auf dem Österberg gemietete Gartenhaus. 27. Juli Mörike besucht mit Rudolf Lohbauer (1802–1873) und Johann Georg Schreiner (1801– 1859) H., Lohbauer und Schreiner fertigen eine Zeichnung von H. an. 1825 Schreiner fertigt, nach der Angabe von Mörike, bei einem weiteren Besuch eine kleine Kohlezeichnung von H. an. 1826 Juni Die »Gedichte« erscheinen (ohne Nennung
der Herausgeber Uhland und Schwab).
1827 Frühjahr Gustav Schwab veröffentlicht in den
›Blättern für literarische Unterhaltung‹ einen Aufsatz über H. und seine Gedichte.
1828 17. Februar Tod der Mutter in Nürtingen. Nach
der Eröffnung und Mitteilung ihres Testaments entsteht ein langwieriger Erbstreit zwischen der Schwester Heinrike Breunlin und dem Halbbruder Carl Gok. Dessen Kern ist die Frage der Aufteilung des Gesamtvermögens unter die drei Kinder (Gok vertritt die Auffassung, dass H. gar nichts mehr zu fordern habe). Der Schlichtungsvorschlag vom 29.9.1829 sieht u. a. vor, dass a) Heinrike Breunlin und Carl Gok je 5230 Gulden erhalten (H. hingegen 9074 Gulden), und b) dass H.s Nachlass zu sieben Achteln Frau Breunlin oder ihren Nachkommen, zu einem Achtel Gok oder seinen Nachkommen zufallen soll. Der Vergleich wird am 9.12.1829 angenommen; tiefgreifende Verstimmung zwischen Gok und Heinrike Breunlin.
Zeittafel 1829 2. Juni Aufgrund des Attests des Oberamtsarztes
Dr. Uhland, daß H. »auch jetzt noch geisteskrank« sei, wird das von der Mutter 1806 beantragte Gratial von 150 Gulden weiter ausbezahlt. September Neuffer gibt in der Zeitung für die elegante Welt fünfzehn (in der Ausgabe von 1826 fehlende) Gedichte heraus.
1830 17. Januar Waiblinger stirbt in Rom. 1831
Waiblingers Aufsatz Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn erscheint posthum. 14. November Hegel stirbt in Berlin.
1838 Juni Mörike erhält einen (nicht erhaltenen) »Rum-
mel Hölderlinscher Papiere«.
18. November Tod Ernst Zimmers. 1841 16. Januar Nach dem Besuch am 14.1. zweiter Be-
such von Christoph Theodor Schwab (1821–1883), der »einige Gedichte« von H. abholen will. H. nennt sich zum ersten Mal »Scardanelli« und schreibt diesen Namen unter ein Gedicht. 16. Februar Vertrag zwischen Gok, dem Nürtinger Oberamtspfleger Burk und Cotta über eine zweite Auflage der Gedichte als »elegante Taschenaus gabe«.
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1842 Frühjahr Louise Keller (1809–1850) fertigt bei ei-
nem Besuch die Bleistiftzeichnung an, die dem Titelbild der zweiten Ausgabe der Gedichte zugrunde liegt. November Die zweite Auflage der Gedichte erscheint (auf 1843 datiert).
1843 24. Januar Uhland, Adalbert Keller (1812–1883,
Freund und Nachfolger Uhlands auf dessen Tübinger Lehrstuhl) und Christoph T. Schwab besuchen H.; Schwab wird nach H.s Tod die erste Ausgabe »sämmtliche[r] Werke« herausgeben. Anfang Juni Die letzten Gedichte Der Frühling. Die Sonne kehrt ... und Die Aussicht. Wenn in die Ferne geht ... entstehen. 7. Juni H. stirbt um 11 Uhr nachts, am 10. Juni wird er auf dem Tübinger Friedhof beerdigt.
Bibliographie Die bibliographischen Angaben dieses Handbuchs verstehen sich als Auswahlbibliographie. Eine Gesamtbibliographie – fortlaufend aktualisiert und im Internet zugänglich – bietet die »Internationale H.-Bibliographie«: vgl. den folgenden Hinweis. 1 Internationale Hölderlin-Bibliographie (IHB) 1922 erste H.-Bibliogr. von Friedrich Seebaß. Nach Gründung des H.-Archivs der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart 1941, Homepage: http://www.wlbstuttgart.de/archive/hoeld2.htm; bibliogr. Erschließung durch Maria Kohler; Verzeichnung der selbständig und unselbständig erschienenen Dokumente auf der Grundlage der Erwerbungen des Archivs. (Daneben verdienen der Forschungsbericht von A. Pellegrini, Berlin 1965, sowie einige Spezialverzeichnisse zu Vertonungen, Inszenierungen der Sophokles-Übersetzungen und zur Rezeption in Spanien, Griechenland und Japan Beachtung; s. HJb 27.1990/91, 276). Seebaß, Friedrich: H.-Bibliographie, München 1922. Verzeichnet Primär- und Sekundärlit. sowie Rezeption in Dichtung und Kunst. Rezensionen in Auswahl. Kohler, Maria/Alfred Kelletat: H.-Bibliographie 1938–1950, Stuttgart 1953. Weist nur Primär- und Sekundärlit. nach. Fortführung durch Maria Kohler in: HJb, Bde. 9–20, Tübingen 1955– 1977. Internationale H.-Bibliographie (IHB), hg. v. H.-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, bearb. v. Maria Kohler, 1. Ausg. 1804–1983, Stuttgart 1985. Schlagwortbibliogr. auf der Grundlage des Bestands des H.-Archivs. Berücksichtigt Sekundärlit. und lit. Rezeption. Im Anhang H.-Ausgaben und Übersetzungen, sofern neue Lesarten, Kommentare, Einführungen u. dgl. enthalten. Internationale H.-Bibliographie (IHB), auf der Grundlage der Neuerwerbungen des H.-Archivs der Württembergischen Landesbibliothek ..., Quellen und Sekundärliteratur, Rezeption und Rezensionen, hg. v. H.-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, bearb. v. Werner Paul Sohnle/Marianne Schütz, Stuttgart, Berichtsjahre 1984/88 (1991), 1995/96 (1998) (Je 2 Teilbände); Sonderbd.: Musikalien und Tonträger zu H. 1806–1999, Stuttgart 2000. Verzeichnet neben Ausgaben und Übersetzungen auch Graue Lit., Medien und, soweit bekannt, die internat. Rezeption im gesamten Kunstbereich. Nachträge lfd. eingearbeitet. Grundlage der Erschließung ist eine thesaurus-
basierte Datenbank. Syst. und alph. Schlagwortreg., Personen- und Titelreg. Im Sonderbd. zusätzlich chronolog. Reg., Besetzungs- und Komponistenverz. Internationale H.-Bibliographie Online (1984 ff.) https:// www.statistik-bw.de/Hoelderlin Seit 1.3.2001 im Internet kostenlos zugänglich. Zunächst orientierte sich die Bibliographie an der gedruckten Ausgabe, seit 2017 ist sie mit neuem Layout und moderner Suchoberfläche im Netz verfügbar. Erlaubt einfache und kombinierte Recherchen; lfd. aktualisiert. Eingabemaske ist in drei Blöcke (Thesaurus, Titelrecherche, Weitere Suchoptionen) gegliedert mit hinterlegten Hilfetexten: 1) Einstieg in den Alphabetischen Thesaurus zur thematischen Recherche mit Schlagwörtern. Formale Suchkriterien können über die Titelrecherche abgefragt und kombiniert werden. Wahlweise Beschränkung der Suche auf Teilbereiche über die weiteren Suchoptionen. Hier auch Abfrage von Neuerwerbungen des Archivs durch zeitliche Einschränkung nach dem Zugangsdatum. 2) Ergebnis-Anzeige zunächst als Trefferliste in Kurzform mit Sortier- und Druckmöglichkeit. Trefferauswahl zur Vollanzeige mit Schlagwörtern, Bänden, Rezensionen, Aufsätzen, Materialien. 3) Menüleiste (linke Bildschirmseite): Systematikübersicht als Ersteinstieg in den Systematischen Thesaurus sowie Links zum H.-Archiv, zu den Handschriften digital, der digitalisierten Stuttgarter Ausgabe und weiteren Informationen. 2 Ausgaben 2.1 Gesamtausgaben Sämtliche Werke (»Große Stuttgarter Ausgabe«, StA), hg. v. Friedrich Beißner/Adolf Beck/Ute Oelmann, Stuttgart 1943–1985. Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Günter Mieth, Berlin/ Weimar 1970, 21995. Sämtliche Werke. (»Frankfurter Ausgabe«, FHA). Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Dietrich E. Sattler, 20 Bde. u. drei Suppl.bde., Frankfurt a. M. 1975, ab 1985– 2008 Basel/Frankfurt a. M. Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe (KTA), hg. v. Dietrich E. Sattler, mithg. v. Wolfram Groddeck, Darmstadt/ Neuwied 1979–2004. Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Knaupp (MA), München 1992–1993. Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jochen Schmidt (KA), Frankfurt a. M. 1992–1994.
Bibliographie Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge. Bremer Ausgabe (BA), hg. und komm. v. Dietrich E. Sattler, Bd. 1–12, München (und Darmstadt) 2004. 2.2 Teilausgaben Werke, Briefe, Dokumente, ausgewählt u. Nachwort v. Pierre Bertaux, mit Anmerkungen und Lit.hinweisen von Christoph Prignitz, München 41990. F. H. Der Dichter und sein Werk, hg. v. Friedrich Beißner, München 1973. Neuaufl.: Dichter über ihre Dichtungen, hg. v. Bernhard Böschenstein, München 1996. Sämtliche Gedichte. Studienausgabe, hg. v. Detlev Lüders, Bad Homburg 1970, Wiesbaden 21989. F. H., ausgewählt v. Peter Härtling, Köln 1984/München 1988. »Bevestigter Gesang«: die neu zu entdeckende Spätdichtung bis 1806, hg. v. Dietrich Uffhausen, Stuttgart 1989. J. Chr. Fr. H. Theoretische Schriften, mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Johann Kreuzer, Hamburg 1998. Zweite, überarb. u. erg. Aufl. 2020. F. H. Sämtliche Gedichte und Hyperion, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1999. F. H. Gedichte, hg. v. Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Braungart. Nachwort v. Bernhard Böschenstein, Stuttgart 2000. F. H. hesperische gesänge, hg. v. Dietrich E. Sattler, Bremen 2001. F. H. Gesammelte Werke, hg. v. Hans Jürgen Balmes, München 1990 (Repr. Frankfurt a. M. 2008, 22014). F. H. Tutte le liriche, ed. trad. e commentata e revisione del testo critico tedesco a cura di Luigi Reitani, con uno scritto di Andrea Zanzotti, (Ed. bilingue), Milano 2001. Selected poems and fragments, transl. by Michael Hamburger, ed. by Jeremy Adler, with a new preface and an introd. (and a bibliographical note) by Michael Hamburger, London (u. a.) 2007. Selected poems, ed. and transl. with a pref., introd., and notes by Emery E. George, (bilingual ed.), Princeton 2012. Selected poetry. F. H., transl. by David Constantine, Hexham, Northumberland 2018. F. H. Prose, Teatro e Lettere, a cura e con un saggio introduttivo di Luigi Reitani, Milano 2019. 2.3 Faksimiles Die umfangreichsten Faksimiles bietet die FHA, in den Supplementbänden in Vierfarbdruck: Supplement I: Frankfurter und Homburger Entwurfsfaszikel, hg. v. Dietrich E. Sattler/Hans Gerhard Steimer, Frankfurt a. M. 1999. Supplement II: Stuttgarter Foliobuch, hg. v. Dietrich E. Sattler/Hans Gerhard Steimer, Frankfurt a. M. 1989. Supplement III: Homburger Folioheft, hg. v. Dietrich E. Sattler/Emery E. George, Frankfurt a. M. 1986. Einzelfaksimiles: H. Patmos. Dem Landgrafen von Homburg überreichte Handschrift, mit einem Nachwort v. Ludwig Kirchner, Tübingen 1949. H. Friedensfeier. Lichtdrucke der Reinschrift und ihrer Vor-
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stufen, hg. v. Wolfgang Binder/Alfred Kelletat, Tübingen 1959. H. Stutgard. Originalgetreue Wiedergabe der Londoner Handschrift, Erläuterungen v. Cyrus Hamlin, Stuttgart 1970. H. Die Maulbronner Gedichte 1786–1788. Faksimile des »Marbacher Quartheftes«, hg. v. Werner Volke, Marbach a. N. 1977. 3 Dokumentarisches – Hilfsmittel/Periodika/Lexika 3.1 Dokumentarisches (Das umfangreichste Material enthalten die Bde. 7.1–7.4 der StA) Beck, Adolf (Hg.): H.s Diotima Susette Gontard. Gedichte, Briefe, Zeugnisse. Mit Bildnissen, Frankfurt a. M. 1980. F. H. und die Musik: musikalische Dokumente aus H.s Leben. Margit Öhm und Christoph Öhm-Kühnle, Klavier; Carmen Weber, Querflöte; Michael Schmohl, Gesang; Peter Bethge, Sprecher. (Tonträger) Stuttgart 2009. F. H. Présences du poète. Ausstellung Württ. Landesbibliothek-Bibliotheque nationale et universitaire de Strasbourg, (Katalog) hg. v. Ute Oelmann u. Aude Therstappen, Paris 2010. Härtling, Peter: H. Ein Roman, Darmstadt/Neuwied 1976. H. Eine Chronik in Text und Bild, hg. v. Adolf Beck/Paul Raabe, Frankfurt a. M. 1970. H. Texturen, hg. v. Ulrich Gaier/Valérie Lawitschka/Michael Franz/Stefan Metzger/Wolfgang Rapp/Violetta Waibel, Bde. 1–4, Tübingen/Marbach 1995–2017. H.-Entdeckungen: Studien zur Rezeption. Katalog zur Ausstellung »H.-Entdeckungen; Texte, Klänge, Bilder« der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart vom 3. Juli bis 20. September 2008, hg. v. Ute Oelmann, Geleitwort von Hannsjörg Kowark, Stuttgart 2008. Kirchner, Werner: Der Hochverratsprozeß gegen Sinclair. Ein Beitrag zum Leben H.s, Marburg 1949. Materialien zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund von H., Hegel und Schelling, 3 Bde.: »... so hat mir/ Das Kloster etwas genüzet«. H.s und Schellings Schulbildung in der Nürtinger Lateinschule und den württembergischen Klosterschulen, hg. v. Michael Franz/ Wilhelm G. Jacobs [red. Mitarb.: Ute Allmendinger/Valérie Lawitschka], Tübingen/Eggingen 2004 (Schriften der H.-Gesellschaft, 23.1). »... im Reiche des Wissens cavalieremente«? H.s, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen, hg. v. Michael Franz, Tübingen/Eggingen 2005 (Schriften der H.-Gesellschaft, 23.2). »... an der Galeere der Theologie«? H.s, Hegels und Schellings Theologiestudium an der Universität Tübingen, hg. v. Michael Franz, Tübingen/Eggingen 2007 (Schriften der H.-Gesellschaft, 23.3). Michel, Wilhelm: Das Leben F. H.s, Bremen 1940 (Repr. Frankfurt a. M. 1967). Ott, Karl-Heinz: H.s Geister, München 2019. Safranski, Rüdiger: H. Komm! Ins Offene, Freund!, München 2019. Wittkop, Gregor (Hg.): H. Der Pflegsohn. Texte und Doku-
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Anhang
mente (1806–1843) mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten, Stuttgart 1993. Wolf, Gerhard: Der arme H., Berlin 1972, Stuttgart 21977. 3.2 Hilfsmittel Autenrieth, Johanne/Kelletat, Alfred: Katalog der H.-Handschriften, Stuttgart 1961. Barthélémy, Jean Jacques: Reise des jüngeren Anacharsis durch Griechenland. Neuere wohlfeile Ausgabe, Berlin 1793. Böschenstein, Bernhard: Konkordanz zu H.s Gedichten nach 1800. Auf Grund des zweiten Bandes der Großen Stuttgarter Ausgabe, Göttingen 1964. Chandler, Richard: Travels in Greece, Oxford 1776. Dtsch.: Reisen in Kleinasien, Leipzig 1776. Repr. mit einem Vorwort von Ludwig v. Pigenot, Hildesheim 1976. Cornelissen, Maria: Orthographische Tabellen zu Handschriften H.s, Stuttgart 1959. [de Volnay, Constantin-François:] Les ruines ou méditation sur les révolutions des empires: par M. Volney, Député à l’Assemblée Nationale de 1789, Sec. éd. Paris 1792. Dtsch.: Die Ruinen [oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche], aus dem Franz. Des Herrn von Volney übers. v. Georg Forster, bei Friedr. Vieweg dem Älteren, Berlin 1792. H. und Homburg, hg. v. Verein für Geschichte und Landeskunde Bad Homburg v. d. H., Bad Homburg v. d. H. 2019. Internationale H.-Bibliographie (IHB) (s. o.). Kohler, Maria: H.s Antiquen, Tübingen 2003. Scheel, H.: Süddeutsche Jakobiner – Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden, Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1962, 21971. Gustav Schlesier. H.-Aufzeichnungen, hg. v. Hans Gerhard Steimer, Weimar 2002. Tanase, Akihiko: Konkordanz zu F. H.s Aufsätzen. Substantive: auf der Textgrundlage des vierten Bandes der Großen Stuttgarter Ausgabe, Fukuoka 2004. Tanase, Akihiko: Konkordanz zu F. H.s Briefen. Substantive: auf der Textgrundlage des sechsten Bandes der Großen Stuttgarter Ausgabe, Fukuoka 2002. Tanase, Akihiko: Konkordanz zu F. H.s Übersetzungen. Substantive: auf der Textgrundlage des fünften Bandes der Großen Stuttgarter Ausgabe, Fukuoka 2005. Wörterbuch zu F. H.: I. Teil: Die Gedichte auf der Grundlage der Großen Stuttgarter Ausgabe, bearb. v. Heinz-Martin Dannhauser/Hans Otto Horch/Klaus Schuffels/Manfred Kammer/Eugen Rütter, Tübingen 1983; II. Teil: Hyperion. Auf der Textgrundlage der Großen Stuttgarter Ausgabe, bearb. v. Hans Otto Horch/Klaus Schuffels/Manfred Kammer/Doris Vogel/Hans Zimmermann, Tübingen 1992. »Wohl geh ich täglich andere Pfade«: F. H. und seine Orte, hg. v. Ingrid Dolde/Eva Ehrenfeld, Stuttgart 2016. 3.3 Periodika H.iana, a cura di Marco Castellari ed Elena Polledri, Milano 2014 ff. Im Volltext online unter: http://riviste.unimi.it/ index.php/StudiaTheodisca/announcement/view/472 (17.2.2020). Bad Homburger H.-Vorträge, hg. v. der Stadt Bad Hamburg v. d. H. in Zus.arbeit mit der H.-Gesellschaft, Bad Homburg 1986 ff.
H.-Jahrbuch (HJb), begründet v. Friedrich Beißner u. Paul Kluckhohn, Tübingen/Stuttgart/Eggingen/Paderborn 1944 ff. (Bd. 1: »Iduna«). Das HJb ist im Volltext online verfügbar unter: https://www.hoelderlin-gesellschaft.de/ website/de/publikationen/jahresbuecher-digital/ jahrbuecher-digital (17.2.2020). Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe 1–9, Frankfurt a. M. 1976, ab 1985 Frankfurt a. M./Basel – 2003. Turm-Vorträge, hg. v. Uvo Hölscher/Valérie Lawitschka, Bd. 1–7, Tübingen 1986–2011. 3.4 Lexika Adelung, Johann Christoph: Geschichte der Philosophie für Liebhaber, 3 Bde., Leipzig 1786–1787. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen (1793–1801), Wien 1807/08 (Repr. Hildesheim 1970). Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel, Stuttgart (u. a.) 2010. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 ff. (Repr. München 1984). Volltext mit Suchfunktionen online unter: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/ WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB (17.2.2020). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. Bächthold Stäubli, Berlin 1927–1942 (Repr. Berlin/New York 1987). Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexicon, Leipzig 1724, vermehrt und verbessert v. Johann Joachim Schwaben 21770 (Repr. Darmstadt 1986). Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel u. a., 13 Bde. plus CD-Rom, Basel/Darmstadt 1971–2007. Seit 2017 auch als online-Lexikon: https://hwph.ch Iselin, Jacob Christoff: Historisches und Geographisches Allgemeines Lexicon, Neue Auflage, Zürich 1747. Oetinger, Friedrich Christoph: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, 1776 (Repr. Hildesheim 1969). Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, München 1975 (Repr. Stuttgart 2013). Die Religion in Geschichte und Gegenwart (4. Aufl.), hg. v. Hans Dieter Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel, 8 Bde. u. ein Reg.bd., Tübingen 1998–2007. Tennemann, Wilhelm Gottlieb: Geschichte der Philosophie, Leipzig 1798–1819. Vollbeding, Johann Christoph: Lehrbuch der theoretischen Philosophie, Berlin 1792. Zedler, Johann Heinrich: Großes Vollständiges Universallexicon, Halle/Leipzig 1732–1750 (Repr. Graz 1961– 1964). 4 Einführungen Bothe, Henning: H. zur Einführung, Hamburg 1994. Bozzetti, Mauro: Introduzione a H., Roma/Bari 2004. Burdorf, Dieter: F. H., München 2011. Constantine, David: H., Oxford 1988. Gaier, Ulrich: H. Eine Einführung, Tübingen (u. a.) 1993.
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»Wie wenn am Feiertage ...«, in: Ders.: Der Punkt. Ästhetische Meditationen, Freiburg/München 1986, 151–198. Homburger Folioheft Das Homburger Folioheft war Gegenstand der 35. Jahrestagung der H.-Gesellschaft, die 2016 in Bad Homburg v. d. H. stattfand. Die Ergebnisse dieser Tagung sind im 40. Band des HJb (2016/17) erschienen, vgl. dort insbesondere die »Hauptvorträge« (9–88) und die »Berichte aus den Arbeitsgruppen und Foren« (88–166). In diesem Jahrbuch findet sich auch der gegenwärtige Stand der Forschung wie der Literatur dokumentiert. Darauf sei hier ausdrücklich verwiesen. Entwürfe Bennholdt-Thomsen, Anke: Die Bedeutung der Titanen in H.s Spätwerk, in: HJb 25 (1986/87), 226–254. Bennholdt-Thomsen, Anke: Dissonanzen in der späten Naturauffassung H.s, in: HJb 30 (1996/97), 15–41. Böschenstein, Bernhard: Réminiscences françaises dans les fragments hymniques de H., in: Gilbert Merlio/Nicole Pelletier (Hg.): Bordeaux au temps de H., Bern (u. a.) 1997, 287–307. Burdorf, Dieter: Der Text als Landschaft. Eine topographische Lektüre der Seiten 73–76 des Homburger Folioheftes, in: Uwe Beyer (Hg.): Neue Wege zu H., Würzburg 1994, 113–141. Franz, Michael: Drei Miszellen, in HJb 31 (1986/87), 255–262. Gabriel, Norbert: Griechenland. Zu H.s hymnischem Entwurf, in: Textkritik und Interpretation, FS f. Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag, hg. v. Heimo Reinitzer, Bern (u. a.) 1987, 353–383. Häny, Arthur: H.s Titanenmythos, Zürich 1948. Heidegger, Martin: H.s Erde und Himmel, in: Ders.: Erläuterungen zu H.s Dichtung, Frankfurt a. M. 51981, 152–181. Honold, Alexander: Kolomb, H., in: Exzentrische Räume. FS f. Carlos Rincón, hg. v. Nana Badenberg/Florian Nelle/ Ellen Spielmann/Hans J. König/Stefan Rinke, Stuttgart 2000, 359–378. Lefebvre, Jean-Pierre: Die Werft am Neckar oder Der letzte Schiffbruch des Columbus, in: Peter Härtling/Gerhard Kurz (Hg.): H. und Nürtingen, Stuttgart/Weimar 1994, 16–30. Metzger, Stefan: Der Zorn des Systems – H.s späte Hymnik im Kontext der Systematologie des 18. Jahrhunderts, in: Christoph Jamme/Anja Lemke (Hg.): »Es bleibet aber eine Spur/ Doch eines Wortes«, München 2004, 223–245. Nägele, Rainer: Text, Geschichte und Subjektivität in H.s Dichtung: »Uneßbarer Schrift gleich«, Stuttgart 1985. Rehm, Walter: Tiefe und Abgrund in H.s Dichtung, in: Paul Kluckhohn (Hg.): H. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag, Tübingen 1944, 70–133. Schmid, Holger: Wörtlichkeit H.s, in: Uwe Beyer (Hg.): Neue Wege zu H., Würzburg 1994, 243–267. Schmidt, Jochen: H.s später Widerruf in den Oden Chiron, Blödigkeit und Ganymed, Tübingen 1978, Kap. I. Wellmann-Bretzigheimer, Gerlinde: Zum Traditionsbezug einiger Verse des hymnischen Entwurfs »Wenn aber die Himmlischen haben/ Gebaut«, in: HJb 18 (1973/74), 119– 132.
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Anhang
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8.4 Germanistik nach 1945 Allemann, Beda: H. und Heidegger, Zürich/Freiburg 1954. Beckermann, Thomas/Canaris, Volker (Hg.): Der andere H. Materialien zum »H.«-Stück v. Peter Weiss, Frankfurt a. M. 1972. Bertaux, Pierre: H.-Variationen, Frankfurt a. M. 1984.
Internationale Rezeption – Nachwirkungen Bei den Beiträgen zur internationalen H.-Rezeption wie zu den Nachwirkungen sind die bibliographischen Hinweise integraler Bestandteil der jeweiligen Beiträge und deshalb in der Gesamtbibliographie nicht noch einmal gesondert aufgeführt.
Autorinnen und Autoren Claudia Albert, Berlin (41. Nationalsozialismus und
Exilrezeption, 42. Germanistik nach 1945) Anke Bennholdt-Thomsen, Berlin (31. Nachtgesänge, 34. Entwürfe) Theresia Birkenhauer (†), Berlin (22. Empedokles) Bernhard Böschenstein (†), Genf (25. Sophokles- Anmerkungen, 27. Übersetzungen) Iris Buchheim, München (39. Heidegger) Marco Castellari, Mailand (49. Italien, 55. Nachwirkungen auf der Bühne) Sabine Doering, Oldenburg (23. Emilie vor ihrem Brauttag, 29. Oden) Michael Franz, Tübingen (10. Schule und Universität, 24. Theoretische Schriften, 26. Pindarfragmente) Bärbel Frischmann, Erfurt (14. Hölderlin und die Frühromantik) Ulrich Gaier, Konstanz (11. Rousseau, Schiller, Herder, Heinse, 20. Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge?, 54. Nachwirkungen in der Literatur) Emery E. George (†), Trenton/New Jersey (33. Homburger Folioheft) Uwe Gonther, Bremen (8. Hölderlin und die Psychiatrie, zus. mit J. E. Schlimme) Wolfram Groddeck, Zürich (30. Elegien) Gu Zhengxiang, Tübingen (53. China) Marlies Janz, Berlin (40. Benjamin – Adorno – Szondi, zus. mit J. Kreuzer) Manfred Koch, Basel (43. Frankreich, 44. England, zus. m. V. Lawitschka, 50. USA, zus. mit V. Lawitschka) Johann Kreuzer, Oldenburg (1. Editionen [akt.], 19. Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung, 40. Benjamin – Adorno – Szondi, zus. mit M. Janz)
Valérie Lawitschka, Tübingen (2. Epoche, 3. Kloster
– Stift – Beruf, 4. Liaisons – Imago und Realität, 5. Freundschaften, 44. England, zus. m. M. Koch, 45. Spanien, Katalonien, Portugal, 46. Niederlande und Skandinavien, 47. Osteuropa, 48. Südwesten, 50. USA, zus. m. M. Koch, 56. Nachwirkungen in der bildenden Kunst, 57. Nachwirkungen in der Musik) Jean-Pierre Lefebvre, Paris (6. Frankreich [Dezember 1801 – Juni 1802]) Max Maureira, Berlin (51. Lateinamerika) Stefan Metzger, Tuttlingen (1. Editionen , akt. von J. Kreuzer) Ute Oelmann, Stuttgart (35. Späteste Gedichte, 37. Norbert von Hellingrath) Bart Philipsen, Leuven (32. Gesänge [Stuttgart, Nürtingen, Homburg]) Elena Polledri, Udine (36. Briefe) Boris Previšić, Luzern (18. Rhythmus) Luigi Reitani, Udine (13. Goethe, 21. Hyperion) Volker Rühle (†), Berg/Kempfenhausen (16. Geschichtserfahrung und poetische Geschichtsschreibung, 17. Tragische Erfahrung und poetische Darstellung des Tragischen) Volker Schäfer, Kusterdingen (9. Zur Geschichte des Hölderlinschen Nachlasses) Jann E. Schlimme, Berlin/Hannover (8. Hölderlin und die Psychiatrie, zus. mit U. Gonther) Holger Schmid, Lille (15. Wechsel der Töne) Teruaki Takahashi, Tokyo (52. Japan) Martin Treml, Berlin (38. Jüdische Rezeption) Martin Vöhler, Thessaloniki (28. Frühe Hymnen) Violetta L. Waibel, Wien (12. Kant, Fichte, Schelling) Gregor Wittkop, Brandenburg a. d. Havel (7. Die Jahre 1806–1843)
Werkregister A Abbitte 41, 505, 549–551, 558 Abendphantasie 328–329, 331, 474, 498–499, 501, 551–552, 556 Aber in Hütten wohnet der Mensch ... 394 Achill 135, 284, 335, 470 Ajax siehe Sophokles: Aus dem Ajax [Am Abend] 471, 499, 551, 555 Am meisten aber lieb ich ... [Über Achill ] siehe [Briefe über Homer] Am Quell der Donau 29, 140, 184, 188, 190, 361, 363–364, 369, 499–500, 506 Am Tage der Freundschaftsfeier 307 An den Aether 3, 97, 117, 134, 333, 493, 498 An den Frühling 97 Andenken 4, 10, 54–55, 184, 361, 366, 383–385, 389, 392, 397–398, 445, 469, 481, 484, 491–492, 498–500, 502, 505, 540, 552 An die Deutschen 162, 368, 491–492, 498 An die Ehre 307, 498 An die Hoffnung 241, 322, 349, 356, 550, 552, 555 An die jungen Dichter. 325, 505 An die klugen Rathgeber 65, 89, 91, 117 [An die Madonna] siehe Madonna An die Nachtigall 31 An die Natur 499 An die Parzen 322, 470, 473–475, 477, 493, 498, 505, 523, 551, 560 An die Ruhe 83, 307 An die Stille 309 [An die Unerkannte] siehe Die Unerkannte An Diotima (Komm und siehe ...) 41, 321, 516 An Eduard 416, 555 An eine Fürstin von Dessau siehe Aus stillem Hauße ... [An eine Verlobte] siehe Des Wiedersehens Thräne ... An Herkules 91, 286, 499 An Hiller 416 An ihren Genius 41 An Landauer 498 An Lyda 478 Anmerkungen zum Oedipus siehe [SophoklesAnmerkungen] Anmerkungen zu Pindar-Fragmenten siehe [Pindarfragmente] Anmerkungen zur Antigonae siehe [SophoklesAnmerkungen] An Neuffer siehe Lebensgenuß An Sinklair 322
An Stella 31 An Thills Grab 324–325 Antigonae siehe Sophokles-Übersetzungen; siehe auch Die Trauerspiele des Sophokles An unsre großen Dichter 3 An Zimmern 322, 331, 410–411, 543, 560 [Aphorismen] siehe [Frankfurter Aphorismen] Auf den Tod eines Kindes 409 Auf die Geburt eines Kindes 409 Auf falbem Laube ... 388–389 Auf feuchter Wiese der Charente 393; siehe auch Das Nächste Beste [Aus einem Entwurf zum Journalplan] 255–256; siehe auch Iduna Aus Lucans Pharsalia siehe Lucan: Pharsalia Aussicht (Der offne Tag ist ...) 411, 413, 473, 537 Aussicht (Wenn in die Ferne geht der Menschen ...) 414 Aussicht (Wenn Menschen fröhlich sind ...) 543 Aus stillem Hauße ... 416 B Blödigkeit 330, 349, 351, 353–354, 356, 367, 450–452, 529 Briefe siehe am Ende des Werkregisters [Briefe über Homer] 257 – Am meisten aber ... [Über Achill 2] 257 – Ein Wort über die Iliade 257 – Mich freut es ...[Über Achill 1] 257 Brod und Wein 4, 11–12, 92, 96–97, 141, 161–162, 186–187, 286, 288, 295, 337–346, 350, 354, 363, 369, 373, 388–393, 396, 399, 401, 406, 464, 470, 475, 483–484, 498, 515, 518, 522, 525, 543, 553 – Späte Überarbeitung 13, 179, 279, 379, 445, 478 Buonaparte (Ode) 22, 53, 474 Burg Tübingen 548, 560 C Cäcilia 133, 389 Carrieres de greve ... 56 Chiron 331, 349, 351, 353–355, 357, 434 Chorlied aus der Antigonae siehe Sophokles-Übersetzungen; siehe auch Die Trauerspiele des Sophokles D Da ich ein Knabe war ... 470, 474–475, 483, 498–499, 505, 553, 558 Das Ahnenbild 183 Das Alter 276, 537; siehe auch [Pindarfragmente]
Werkregister Das Angenehme dieser Welt ... 409, 411, 474, 481, 543, 551– 552, 556 Das Belebende 271, 277, 357; siehe auch [Pindarfragmente] Das fröhliche Leben (Wenn ich auf die Wiese komme ...) 410–411, 560 Das Gasthaus [Der Gang aufs Land] 178, 187, 336–338, 340, 343, 516, 552, 559 Das Glänzen der Natur ... siehe Der Herbst Das Höchste 176, 187, 274, 276, 372, 445; siehe auch [Pindarfragmente] Das lyrische dem Schein nach ... 153, 173, 248, 259; siehe auch [Über den Unterschied der Dichtarten] Das Nächste Beste 56, 178, 184, 365, 395–396, 398, 401, 406 Das Schiksaal 4, 90, 197, 315, 514 Das Unendliche 276, 537; siehe auch [Pindarfragmente] Das untergehende Vaterland ... [Werden im Vergehen] 12, 146, 148–149, 169–172, 177–178, 185, 214, 234, 258, 268, 360, 367, 455, 541, 558 Das Unverzeihliche 41, 326 Das Zeichen/Mnemosyne siehe Mnemosyne Dejanira an Herkules siehe Ovid: Dejanira an Herkules Dem Allbekannten 22, 53 Dem Fürsten 281, 389, 391–393, 395, 398 Dem Genius der Kühnheit 92, 284, 311–312, 315, 317–318 Dem Sonnengott 327 Der Abschied 326, 475 Der Adler 365, 407, 493 Der Archipelagus 3, 11, 97, 182, 350, 464, 483, 498, 501, 541 – Spätere Überarbeitung 446 Der Ausdruck, das karakteristische ... 259 Der blinde Sänger 292, 331, 354–355 Der Einzige 184, 289, 344, 361, 365, 368, 373–375, 377, 380, 388–391, 393–394, 396–399, 401, 403, 498, 538 – 1. Fassung 374, 388 – Schluß einer 2. Fassung/[Warthäuser Fragment] 371, 397 – 3. Fassung 374–376, 395, 398 Der Eisgang 354 Der Frieden 50, 140, 322, 552 Der Frühling (Der Mensch vergißt ...) 553 Der Frühling (Der Sommer kehrt ...) 558 Der Frühling (Es kommt der neue Tag ...) 409–410, 413 Der Frühling (Wenn auf Gefilden ...) 410 Der Frühling (Wenn neu das Licht ...) 412–414, 559 Der Frühling (Wie selig ists ...) 413 [Der Gang aufs Land] siehe Das Gasthaus Der gefesselte Strom 162, 331, 354, 499 Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben 257 Der Gott der Jugend 3, 121, 535 Der gute Glaube 41, 498 Der Herbst (Das Glänzen der Natur ...) 412–414, 558–559 Der Herbst (Die Sagen, die der Erde sich ...) 413, 553 [Der Ister]/[Das Zeichen] 13, 140, 159, 184, 290, 351, 355, 361, 363–366, 384, 398, 407, 445, 464, 492, 544, 560 Der Kirchhof (Mann, Frau, Pfarrherr ...) 410 Der Lorbeer 89 Der Main 162, 505, 551 Der Mensch (Kaum sproßten ...) 138, 321 Der Mensch (Wenn aus sich lebt ...) 412–413, 555 Der Mensch (Wer Gutes ehrt ...) 409
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Der Mutter Erde 165, 180, 184, 187–188, 361, 363, 369, 374, 391 Der Nekar 162, 322, 329–330, 470, 499, 505–506, 543, 560 Der Nordost wehet siehe Andenken Der Rhein 4, 50, 87–88, 96–97, 140, 159, 162–164, 184, 273, 286, 289, 361, 364–366, 369–373, 375, 379, 381, 384, 386, 397–398, 441, 444, 495, 500, 506, 518, 535, 540–541 Der Ruhm 409 Der Sommer (Die Tage gehen vorbei ...) 559 Der Sommer (Im Thale rinnt der Bach ...) 413, 558 Der Sommer (Noch ist die Zeit ...) 556 Der Sommer (Wenn dann vorbei ...) 553 Der Spaziergang 66, 411, 560 Der Tod des Empedokles siehe Empedokles (Trauerspiel) Der Tod fürs Vaterland 18, 327–328, 457–458, 499, 505, 524 Der tragische Dichter thut wohl ... [Mischung der Dichtarten] siehe [Poetologische Aufzeichnungen (...)] der Vatikan 96, 354, 377, 381, 389, 391–393, 405 Der Wanderer 3, 92–93, 117, 121, 161, 187, 286, 333–335, 338–339, 390, 482, 505–506 Der Weingott 340, 483; siehe auch Brod und Wein Der Winkel von Hahrdt 30, 187, 349, 352–353, 396–398, 452 Der Winter (Das Feld ist kahl ...) 554 Der Winter (Wenn blaicher Schnee ...) 414 Der Winter (Wenn sich das Jahr ...) 414, 558 Der Winter (Wenn sich das Laub ...) 414 Der Winter (Wenn sich der Tag ...) 414, 559 Der Winter (Wenn ungesehen ...) 414, 553, 558 Der Zeitgeist (Die Menschen finden sich ...) 412 Der Zeitgeist (Zu lang schon waltest ...) 140 Des Morgens 329, 499, 549, 551 Des Wiedersehens Thränen ... 416 Deutscher Gesang 361, 363–364, 370 Dichterberuf 3, 338, 344, 397, 446 Dichtermuth 87–88, 330, 349, 351, 356–357, 450–451, 529 Die apriorität des individuellen ... 396, 401 Die Asyle 176, 271, 277, 280, 464, 560; siehe auch [Pindarfragmente] Die Aussicht 559 Die Bacchantinnen des Euripides siehe Euripides: Die Bacchantinnen Die Bedeutung der Tragödien 153 Die beschreibende Poësie 333 Die Eichbäume 3, 474, 504, 550, 556 Die Empfindung spricht im Gedichte ... (in StA, KA bei: [Über den Unterschied der Dichtarten]) 259 Die Entscheidung 398 Die Entschlafenen 333, 550 Die Götter 375 Die heilige Bahn 321, 323 Die Heimath 326, 399, 474, 506, 560 – 1. Fassung 552–553 – 2. Fassung 4 Die Herbstfeier 4, 343–346, 393, 518; siehe auch Stutgard Die Kürze 471, 493, 551 Die lezte Stunde 356 Die Liebe 311, 326, 543, 550 Die Liebenden 41, 326 [Die Linien des Lebens ...] 409, 473, 553, 558
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Anhang
Die Meinige 303 Die Muße 516 [Die Nacht] 4, 13, 345–346, 464, 474, 478, 518; siehe auch Brod und Wein. Späte Überarbeitung Die Nacht (Seyd gegrüßt ...) 304 Die Natur 34, 367, 393, 413 Die Nymphe siehe Mnemosyne Die Sagen, die der Erde sich siehe Der Herbst Die scheinheiligen Dichter 475 Die Schlacht 18, 322, 327–328 Die Schlange siehe Mnemosyne Die Stille 304 Die Tek 285 Die Titanen 178, 388–391, 394–395, 398, 506 Die Todeslust der Völker aufhält ... 389; siehe auch Der Einzige. Schluß einer 2. Fassung Die tragische Ode ... siehe Empedokles. Grund zum Empedokles Die Trauerspiele des Sophokles 3, 98, 258, 264, 281, 292, 44; siehe auch Sophokles-Übersetzungen Die Unerkannte 91 Die Unsterblichkeit der Seele 306 Die Völker schwiegen ... 22, 516 Die Vollendung 307 Die Wanderung 3–4, 163, 184, 190, 290, 338, 361, 364, 369, 371–373, 384, 389, 398, 454, 499, 505, 543, 560 Die Zufriedenheit (Wenn aus dem Leben ...) 409 Diotima (Komm und besänftige mir ...) 41, 493, 498 Diotima (Lange todt und tiefverschlossen ...) 41, 499, 505, 556 Diotima (Leuchtest du wie vormals nieder ...) 41, 134 Diotima [Ode] (Du schweigst und duldest, ...) 41 Diotima (Schönes Leben ...) 41, 498, 555 Drin in den Alpen ... siehe Heimkunft Du schweigst und duldest, ... siehe Diotima [Ode] E Ehmals und jetzt 551 Einst hab ich die Muse gefragt 389, 392, 398, 481, 491 Einst und jetzt 498, 501 Ein Wort über die Iliade siehe [Briefe über Homer] Ein Zeichen sind wir, deutungslos ... siehe Mnemosyne Elegie 335 Elegie siehe Menons Klagen um Diotima Emilie vor ihrem Brauttag 3, 12, 22, 120, 238–242, 416, 476, 516 Empedokles [Ode] 218, 220, 506 Empedokles (Trauerspiel) 4–5, 10, 12–13, 22, 50, 53, 92, 97, 119, 137, 140, 148, 151, 156, 163, 169, 208, 214, 238, 255, 258, 287–288, 383, 424–425, 427, 435, 443, 470, 474, 480– 483, 486–488, 492, 498, 513–515, 519, 523, 530–534, 541– 542, 550 – 1. Entwurf 152, 214, 221–227, 229–231, 234–236 – 2. Entwurf 50, 81, 153, 226–229, 231, 236, 267, 360 – 3. Entwurf 4, 153, 214, 228–236, 491 – Frankfurter Plan 4, 151, 214, 218–223, 225, 228–229, 234 – Grund zum Empedokles [Die tragische Ode/Über das Tragische] 4, 137, 152–153, 169, 214, 219, 226, 228–232, 279, 323, 428, 444, 500
Entwürfe zur endgültigen Fassung des Hyperion siehe Hyperion oder der Eremit in Griechenland Es giebt einen Naturzustand ... [Über das Gesetz der Freiheit] 100–102, 243–244 Euripides: Die Bacchantinnen 269, 288 Euripides: Hekuba 251, 287 F Feiertagshymne siehe Wie wenn am Feiertage ... [Fragment philosophischer Briefe] ([Über Religion]) 12, 29, 94, 128, 144, 146–147, 149, 168–169, 183–185, 187, 189, 251–256, 371, 406, 416, 425, 512, 527 [Frankfurter Aphorismen] 176, 255–256, 278 [Frankfurter Kurzoden] 117 Frankfurter Plan siehe Empedokles Freundschafft 5 Freundschaft, Liebe, Kirch ... 410 Friedensfeier 3, 8, 10, 50, 163–164, 180, 184, 186, 188–189, 271, 289–290, 292, 337, 342, 359, 361–362, 365–366, 370, 373, 375–378, 380–381, 383, 385, 389, 398, 452, 455, 469, 474, 506 G Ganymed 162, 331, 349, 353–357 Gedicht (an die Herzogin Franziska) 31, 321, 324 Germania 393–394; siehe auch Vom Abgrund nemlich ... Germanien 10, 163–164, 184, 361, 364–365, 369–370, 374, 381, 385, 388–389, 391, 393, 403, 405, 407, 444, 499, 543 Gesang der Musen 140 Gesang des Deutschen 457, 505, 526, 552 Geschichte der schönen Künste unter den Griechen 76–77, 272 Gestalt und Geist 557 Giebt es auf Erden ein Maaß 57, 541, 543 Götter wandelten einst ... 335–336 Griechenland 366, 392–393, 398 – 1. Entwurf 367 – 2. Entwurf 366 – 3. Entwurf 367, 376, 387, 406 Griechenland. An Gotthold Stäudlin. 34, 312, 316, 485, 505 Griechenland (Wie Menschen sind ...) 410 Grund zum Empedokles siehe Empedokles. Grund zum Empedokles H Hälfte des Lebens 119, 162, 164–165, 187, 292, 349, 352– 353, 356, 396–398, 441, 470, 472–475, 477–478, 481, 492– 493, 499, 505, 527, 543, 549, 551–554, 556, 558–559 Heidelberg 38, 322, 329, 498, 552 Heimath 398–399, 542, 559 Heimkunft 3, 11–12, 161, 181, 187, 334, 337–339, 341, 343– 346, 388–390, 392–393, 399, 403, 445, 470, 501, 541 Hekuba siehe Euripides-Übersetzungen Hermokrates an Cephalus 124, 243–244, 246, 249 Höhere Menschheit 412 Höheres Leben 412 Homers Iliade 284 Horaz: Ode II/6 287 Horaz: Ode III/21 287
Werkregister Horaz: Ode IV/3 287 Hymne an den Genius der Jugend 121, 311, 315, 317 Hymne an den Genius Griechenlands 284, 311–314, 317 Hymne an die Freiheit (Wie den Aar ...) 3, 311, 313–314, 317 Hymne an die Freiheit (Wonne säng’ ich ...) 311, 314, 317 Hymne an die Freundschaft 311, 314–315, 317 Hymne an die Göttin der Harmonie 3 Hymne an die Liebe 311, 315, 317, 498, 550 Hymne an die Menschheit 84, 311, 314, 316–317 Hymne an die Muse 3, 313, 317 Hymne an die Schönheit 89, 311, 314, 317 Hymne an die Wahrheit 312 Hymnus an die Göttin der Harmonie 307, 311–312, 315, 317 Hyperion oder der Eremit in Griechenland 3–5, 12–13, 34– 35, 39, 41–42, 44, 46, 59, 62, 84, 86, 88, 90–92, 95–97, 103– 104, 119, 126, 129, 134, 139, 151, 182, 185, 195–196, 202, 214–215, 218, 221, 238, 240, 244, 246, 248–251, 257, 284– 285, 292, 302, 316, 318, 325, 396, 411–412, 416, 438–439, 442, 462, 470, 472–475, 478–483, 485–486, 488, 491–492, 494–496, 498–500, 506, 513–521, 523, 529, 533–534, 538, 541–543, 546, 554, 558–559 – [Hyperions Schiksaalslied] (Ihr wandelt droben im Licht) 65, 120, 211, 470–471, 473–475, 477, 498–499, 504–505, 531, 549–550, 554, 556, 558 – [Scheltrede] (So kam ich unter die Deutschen.) 182, 212, 457, 477, 514, 519, 552 – Ich schlummerte mein Kallias ... [Kallias-Brief] 83, 85, 195 – Ich sollte das Vergangne ... [Waltershäuser Paralipomenon] 195 – Fragment von Hyperion 3–4, 85, 93, 109, 195, 197–202, 204–206, 284, 292 – Metrische Fassung 85, 110, 125, 182, 195, 199 – Hyperions Jugend 41, 85, 91, 97, 119, 195, 199–200, 204 – Vorletzte Fassung 102, 109, 114, 196, 200–201, 205, 246, 248–249, 260, 282 – Vorrede zur Vorletzten Fassung 200–203 – [Hyperion-Fragmente] 39, 110, 511, 515 – Entwürfe zur endgültigen Fassung 196, 209, 351 I Iduna 50, 91, 118, 136–137, 139, 257, 405 Ihre Genesung 41, 134, 138, 326 Ihr sichergebaueten Alpen! 398, 560 In lieblicher Bläue ... 57, 397–398, 410, 473, 481, 507, 543– 545, 553, 560 J Jetzt komme, Feuer! siehe [Der Ister]/[Das Zeichen] K [Kallias-Brief] siehe Hyperion 596 Kanton Schweiz 49, 83–84, 87–88, 285 Kehren die Kraniche wieder ... siehe Der Archipelagus Keppler 307, 321 Kolomb 56, 384, 393, 396, 398, 404–405, 491, 540 Komm! Ins Offene, Freund! ... siehe Das Gasthaus
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L Leander an Hero. Aus dem Ovid siehe Ovid: Leander an Hero Lebensalter 349, 352, 354–355, 396–398, 555 Lebensgenuß (An Neuffer) 498, 550 Lebenslauf 322, 326, 493, 536, 555, 560 Lichttrunken siehe Vom Abgrund nemlich ... Lied der Freundschaft (Wie der Held ...) 308 Lied der Liebe 308–309, 312, 315 Löst sich nicht ... [Wechsel der Töne] 258, 341–342, 548 Lucan: Pharsalia 284–285 Luther 394–395, 400 M Madonna (Viel hab ich dein ...) [An die Madonna] 178, 375, 389, 391, 394–395, 406, 506, 557, 559 Männerjubel 307, 505 Meine Genesung/an Lyda 3, 88 Mein Eigentum 287, 328, 544, 552 Meiner Verehrungswürdigen Großmutter zu Ihrem 72sten Geburtstag 335 Meinest Du, es solle gehen ... 393–395, 400 Mein Vorsaz 31, 273, 324 Menons Klagen um Diotima 41, 119, 335–336, 353, 475, 479, 498 Menschenbeifall 553 Mich freut es ... [Über Achill ] siehe [Briefe über Homer] [Mischung der Dichtarten] siehe [Poetologische Aufzeichnungen (...)] Mnemosyne 166, 185, 274, 291, 353, 366–367, 384–393, 395–400, 443, 475, 491, 540, 557, 559 – aber es haben/ Zu singen ... 385 – Die Nymphe/Mnemosyne 361, 366, 398–399, 403, 406 – Ein Zeichen sind wir, deutungslos ... 166, 366, 385–386 – Reif sind, in Feuer getaucht, ... 178, 385, 395, 398 Muth des Dichters 356 N Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter 153 Nicht ist es aber/ Die Zeit siehe Die Titanen 596 O Oedipus auf Kolonos siehe Sophokles-Übersetzungen Oedipus der Tyrann siehe Sophokles-Übersetzungen siehe auch Die Trauerspiele des Sophokles Offen die Fenster des Himmels siehe Das Nächste Beste O heilig Herz der Völker siehe Gesang des Deutschen O Insel des Lichts siehe Patmos O Schlacht fürs Vaterland siehe Die Schlacht Ovid: Dejanira an Herkules 286–287 Ovid: Phaëton 91, 284–286, 542 Ovids Rückkehr nach Rom 140 P Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen siehe Versuch einer Parallele zwischen (...) Patmos 4, 163, 180, 184, 344, 361, 365, 373–375, 377, 381– 383, 385, 388–395, 397–398, 400, 403, 434, 454–455, 470, 491–492, 495, 500, 506, 518–519, 525, 540, 557
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Anhang
– 1. Fassung 4, 177 – 2. Fassung 388, 454 – 3. Fassung [Bruchstücke einer späteren Fassung] 376 Phaëton siehe Ovid-Übersetzungen Pharsalia siehe Lucan-Übersetzungen [Pindarfragmente] 11, 13, 177, 271, 273, 278, 349, 473, 475, 483 [Pindar-Kommentare] siehe [Pindarfragmente] Pindar: Olympische Ode 137, 139–140, 288–291, 362, 553 Pindar: Phytische Ode 11, 176, 273, 275, 288–291, 362, 542 Platon 197 [Poetologische Aufzeichnungen/Schemata/Tabellen/Wechsel der Töne] 166 [Predigtentwurf/Predigt über 2. Joh. 7-9] 77, 81 R [Reflexionen] siehe [Frankfurter Aphorismen] Reliquie von Alzäus 285 Rousseau 86–87, 162, 491 Rükkehr in die Heimath 3, 498–499, 550 S Sapphos Schwanengesang 321, 354 Schwärmerei 498 [Seyn, Urtheil, ...] 168, 173, 246–251, 276, 280; siehe auch [Urtheil und Seyn] [Sieben Maximen] siehe [Frankfurter Aphorismen] Singen wollt ich leichten Gesang ... siehe Das Gasthaus Sokrates und Alcibiades 3, 326, 493, 501, 553 Sonnenuntergang 327, 550–553, 555 Sonst nemlich, Vater Zevs 393, 398, 406 Sophokles: Antigonae 163, 177, 236, 251, 265–269, 291– 301, 429, 530–534, 553; siehe auch Die Trauerspiele des Sophokles Sophokles: Aus dem Ajax 11, 139, 264, 267, 269, 291–292 Sophokles: Chorlied aus der Antigonae (Ungeheuer ist viel ...) 163, 293, 297, 445; siehe auch Die Trauerspiele des Sophokles Sophokles [Epigramm] 337 Sophokles: Oedipus auf Kolonos 163, 208, 235, 286–287, 291, 293, 426, 514 Sophokles: Oedipus der Tyrann 163, 177, 235, 265, 267, 269, 291–296, 300–301, 488, 530, 532, 534, 553–554, 558; siehe auch Die Trauerspiele des Sophokles [Sophokles-Anmerkungen] 4, 13, 78, 93, 157, 170, 172, 175, 177, 235, 258, 264, 293, 296, 349, 445, 513, 516, 519, 521 – Anmerkungen zur Antigonae 155, 172, 175, 177–178, 245, 260, 264, 267–268, 271, 292–293, 296–297, 299–300, 357, 375, 386, 406, 491 – Anmerkungen zum Oedipus 154–156, 165, 176–177, 264, 271, 279, 292–294, 366, 372, 426, 491 Statt offner Gemeine siehe Der Mutter Erde Stimme des Volks 3, 338 Stutgard 4, 11–12, 161, 186–187, 288, 334, 337–338, 341, 343–344, 346, 388–390, 392–393, 395, 400, 404, 506, 516 Stuttgarter Foliobuch 11, 68, 160, 163, 231, 255, 258, 260, 334, 349, 382, 388 Süß ists, zu irren ... siehe Tinian
T Thränen 321, 349, 352–356, 549 Tinian 398 U [Über Achill] siehe [Briefe über Homer] [Über das Gesetz der Freiheit] siehe Es giebt einen Naturzustand ... [Über das Tragische] siehe Empedokles. Grund zum Empedokles Über den Begriff der Straffe 100–102, 243–245, 277 [Über die Parthien des Gedichts] siehe Der Ausdruck das karakteristische ... [Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes] siehe Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... Über die verschiednen Arten, zu dichten 257, 259 [Über Religion] siehe [Fragment philosophischer Briefe] [Über Siegfried Schmids Schauspiel die Heroine] siehe [Rezension zu Siegfried Schmids Heroine] Und mitzufühlen das Leben ... 391–393, 405 Und niemand weiß ... siehe Heimath Und was du hast ... 407; siehe auch Der Adler Unter den Alpen gesungen 162, 321, 518 Untreue der Weisheit 271, 274–275, 279, 464; siehe auch [Pindarfragmente] Ursprung der Loyoté 391 [Urtheil und Seyn] 46, 107, 109, 113, 124, 491; siehe auch [Seyn, Urtheil, ...] V [Vatikan-Fragment] siehe der Vatikan Vergil: Nisus und Euryalus 286 Versöhnender, der du nimmer geglaubt ... 361, 365, 373, 375; siehe auch Friedensfeier Versuch einer Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen 34, 76–77, 90, 92, 275, 279, 512 Viele versuchten umsonst ... siehe Sophokles [Epigramm] Viel hab‘ ich dein ... siehe Madonna Viel sind Erinnerungen siehe Griechenland Viel thuet die gute Stunde 392 Vom Abgrund nemlich ... 56, 389, 392–394; siehe auch Germania Vom Delphin 177, 275, 277, 281, 537, 555–556, 560; siehe auch [Pindarfragmente] Von der Ruhe 275; siehe auch [Pindarfragmente] Von der Wahrheit 275; siehe auch [Pindarfragmente] Vulkan 349, 351–354, 356 W [Waltershäuser Paralipomenon] siehe Hyperion [Warthäuser Fragment] siehe Der Einzige. Schluß einer 2. Fassung Was ist der Menschen Leben ... 57, 398 Was ist Gott ... 57, 394, 398 [Wechsel der Töne] siehe Löst sich nicht ... Wenn aber die Himmlischen ... 393, 398, 406 Wenn aus dem Himmel ... 410, 517, 558 Wenn aus der Ferne ... 196, 331, 411, 556
Werkregister Wenn aus sich lebt der Mensch ... siehe Der Mensch (Wenn aus sich lebt ...) Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... [Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes] 136, 140, 155, 166, 172–175, 251, 254, 256–257, 259–260, 262, 360, 368, 455 Wenn einer in den Spiegel sieht ... 57 Wenn nemlich der Rebe Saft ... 398 [Werden im Vergehen] siehe Das untergehende Vaterland ... Wieder ein Glük ist erlebt siehe Stutgard Wie der Held ... siehe Lied der Freundschaft Wie Meeresküsten ... 393, 398, 403, 560 Wie Vögel langsam ziehn 398–399 Wie wenn am Feiertage ... 87, 147–148, 170, 273, 288, 290,
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349, 352, 360, 362, 367–370, 372, 377, 434, 444, 453–455, 466, 475, 490, 499, 516, 543 Wie wenn der Landmann ... 455 Wink für die Darstellung und Sprache siehe Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist ... Wir leben nur Augenblike ... siehe Hyperion [Waltershäuser Paralipomenon] Wißt! Apoll ist der Gott der Zeitungsschreiber siehe Die beschreibende Poësie Wohl geh’ ich täglich ... 498, 505, 558 Z Zu lang schon waltest ... siehe Der Zeitgeist [Zum Programm der Iduna] siehe Iduna
Register der Briefe B Böhlendorff, Casimir Ulrich von – 1801, 4. Dezember 50, 52, 65, 95, 120, 156–157, 186, 267, 292, 349, 357, 359–360, 429, 454, 483, 541, 554 – 1802, November 51, 55, 65, 351, 359, 453–454, 483 Breunlin, Maria Eleonora Heinrica (Rike) (geb. Hölderlin, Schwester H.s) – 1792, 19./20. Juni 77 – 1792, 20. August 18 – 1794, 16. Januar 100, 244 C Cotta von Cottendorf, Johann Friedrich, Freiherr von – 1796, 15. Mai 428 E Ebel, Johann Gottfried 426–427 – 1795, 2. September 83, 86 – 1797, Januar 19 – 1797, 10. Januar 129, 186 – 1799, 6. Juli 136 – 1799, November 169 Emerich, Friedrich – 1800, März 254 G Gock, Carl Christoph Friedrich (H.s Halbbruder) 421–422 – 1791, November 18 – 1793, September 128, 478 – 1794, 21. August 100, 102 – 1795, 13. April 100, 123, 125, 244 – 1796, 11. Februar 200 – 1796, 2. Juni 113, 115 – 1796, November 278 – 1797, Januar 278 – 1797, August 215 – 1797, 20. September 221 – 1797, 2. November 100, 334 – 1798, 28. November 221 – 1798, 31. Dezember 136 – 1799, 1. Januar 125, 212, 279 – 1799, 4. Juni 126–127 – 1801, März 167, 360 – 1801, 4. Dezember 52 Gock, Johanna Christiana (geb. Heyn, Mutter H.s) 417–420 – 1791, Februar 100 – 1795, 16. Januar 244 – 1798, 28. November 221
– 1799, Januar 221 – 1799, März/April 121 – 1801, Oktober/November 52 – 1802, 9. Januar 52 – 1802, 28. Januar 53 – 1826 65 Gontard, Susette (geb. Borkenstein) 428 Gonzenbach, Anton von 417 H Hegel, Georg Wilhelm Friedrich – 1794, 10. Juli 100, 123 – 1795, 26. Januar 90, 102, 105–107, 109, 118 – 1795, November 277 Hölderlin, Johanna Christiana siehe (Briefe an) Gock, Johanna Christiana Hölderlin, Maria Eleonora Heinrica siehe (Briefe an) Breunlin, Maria Eleonora Heinrica K Kalb, Charlotte Sophie Juliane von 428 L Landauer, Georg Christian – 1801, Februar 337–338 Lebret (Le Bret), Maria Elisabeth (Elise) 428 N Nast, Immanuel Gottlieb 423 Nast, Luise Philippine – 1789, 25. April 65 Neuffer, Christian Ludwig 423–424 – 1789, Dezember 244 – 1790, November 312 – 1790, 15. November 284 – 1791, November 84 – 1791, 28. November 83 – 1793, Juli 197 – 1793, 21./23. Juli 215 – 1793, Herbst 33 – 1794, März/April 224 – 1794, Anfang April 550 – 1794, April 245 – 1794, Juli 93, 170 – 1794, Oktober 151 – 1794, 10. Oktober 102, 123, 215, 243 – 1794, November 105, 117–118, 205, 244–245, 277, 478 – 1795, 19. Januar 38
Register der Briefe – 1795, 28. April 3, 285 – 1796, Juni/Juli 39 – 1797, 16. Februar 39–40 – 1798, August 65 – 1798, 12. November 122, 136, 143, 147, 151, 153, 357, 405 – 1799, 4. Juni 221, 226, 256, 405 – 1799, 3. Juli 238–239, 241 Niethammer, Friedrich Philipp Immanuel – 1795, 22. Dezember 44, 46, 100 – 1796, 24. Februar 44, 46, 112–113, 122, 142, 207, 247, 416 – 1801, 23. Juni 44 S Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph – 1799, Juli 136 Schiller, Johann Christoph Friedrich 427 – 1794 91 – 1794, April 479 – 1795, September 249
– 1796, August 117 – 1797, 20. Juli 333 – 1797, August 65 – 1798, 30. Juni 92 – 1799, September 137 Seckendorf, Franz Karl Leopold – 1804, 12. März 184 Sinclair, Isaak von – 1798, 24. Dezember 136, 222, 372, 514 – 1801, 11. Dezember 52 Steinkopf, Johann Friedrich – 1799, 18. Juni 122 W Wilmans, Friedrich 428–429 – 1803, 28. September 293, 351 – 1803, Dezember 180, 187, 349, 359 – 1803, 8. Dezember 184, 350, 361 – 1804, 2. April 265
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Personenregister A Abbado, Claudio 539 Abel, Jakob Friedrich 77 Abildgaard, Anders 475 Adelung, Johann Christoph 217 Adler, Jeremy 470 Adolf, Gustav 304, 307 Adonis (Ali Ahmad Said Esber) 484 Adorno, Theodor W. 9, 137, 159, 360, 375, 386, 438, 450–455, 462, 515, 556 Aischylos 256 Akimoto, Rofû (Kikuo) 498 Akiyama, Takuya 501 Alberdi, Pilar 495 Albert, Claudia 457–462 Alberti, Rafael 472 Albrecht, Christoph V. 196 Aleixandre, Vicente 472 Alexander der Große 21 Alexander I., Zar von Russland 22 Alkaios 258, 285 al-Khal, Yusuf 484 Allemann, Beda 395, 447, 462, 502 Álvarez, Geoffrey 560 Álvarez, José Vicente 495 Amoretti, Giovanni Vittorio 487 Amrod, Paul 493 Andersen, Jørn Erslev 475 Andraschke, Peter 460 Andreae, Johann Valentin 28 Andresen, Emmerich 535 Andrieu de Saint-André, Anne Marie Henriette 53 Angelus Silesius 494 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar 90 Anson, George 335, 404 Antonia, Prinzessin von Württemberg 28 Aoki, Motoyuki 502 Aragon, Louis 472 Archenholz, Johann Wilhelm von 54 Aristoteles 74, 138, 159, 243, 248 Arnaud, Marthe 537–538 Arnim, Achim von 4, 34, 122, 393, 477, 513, 518–520, 530 Arnim, Bettina von (geb. Bren
tano) 122, 159, 413, 519–521, 523, 528, 530, 549 Arnold, Frida 417 Arnold, Ida (geb. Gock) 68 Asai, Masao 500, 502 Ashbery, John 492–493 Assef, Marlova 494 Astrada, Carlos 496 Auden, W. H. 492 Augereau, Pierre François Charles 25 Auguste, Prinzessin von Hessen-Homburg 45, 281, 292 Augustinus 134, 174, 384, 541 Augustus (Julius Caesar Octavianus) 276 Aulard, François A. 55 Auster, Paul 492 Autenrieth, Johann Heinrich Ferdinand 58–59, 62, 66, 539 B Babich, Babette B. 491 Babler, Otto František 477 Bach, Johann Sebastian 397, 550 Bachmann, Ingeborg 481, 551, 559 Bachmeier, Helmut 153 Badey, Pierre 538 Balbiani, Laura 487–488 Balzola, Andrea 488 Bambach, Charles 492 Bandeira, Manuel 495 Barbarossa siehe Friedrich I. Bardili, Christoph Gottfried 74, 77– 78, 285 Bardili, Regina 27 Barras, Paul de 20 Barrios, Manuel 473 Bartel, Heike 349 Barthélemy, Jean-Jacques 196 Bartók, Bela 556 Bartscher, Werner 457, 459 Bassermann-Jordan, Gabriele von 278 Bataille, Georges 467 Baudelaire, Charles 290, 490 Baum, Manfred 276 Baumgartner, Wilhelm 550 Bay, Hansjörg 461 Baz, Christian Friedrich 24–25, 47
Beaufret, Jean 466, 468–469 Beauharnais, Joséphine de (Ehefrau Napoleons) 20 Becher, Johannes R. 308, 459, 461– 462, 524, 527 Beck, Adolf 7, 52, 54–55, 57, 63, 69, 118, 318, 404, 417–418, 457, 461, 463, 483 Beck, Franz 54 Beck, Julian 532 Beckett, Samuel Barclay 453, 537–538, 555 Beckmann, Max 546 Beethoven, Ludwig van 453–454, 550 Behre, Maria 354 Beißner, Friedrich 6–8, 12, 52, 57, 63, 69, 139–140, 163, 196, 199, 214, 222, 226, 236, 246, 273, 337, 340, 349, 361–362, 366, 375, 385, 388–390, 395–401, 403, 410–411, 447, 453– 454, 457–458, 461–463, 532, 541 Beljaeva, N.T. 482 Benedetti, Gaetano 63 Bengel, Barbara Sophia (geb. Schmidlin) 28 Bengel, Johann Albrecht 28 Benjamin, Ross 492 Benjamin, Walter 290, 436, 438–439, 450–455, 462, 490, 515, 530, 559 Benn, Gottfried 459, 470, 475, 524 Bennholdt-Thomsen, Anke 138, 404– 407, 464 Benoist, Alain de 469 Benrath, Frédéric 541 Bente, Dieter 60 Berg, Alban 551–552 Berger, Karl 246 Bergmann, Harald 415 Bergmann, Hugo 438 Bernád, Ágoston Zénó 478 Bernadotte, Jean-Baptiste 21 Bernard, George Louis 52 Bernasconi, Robert 491 Bernáth, István 479 Bernays, Michael 440 Bertaux, Pierre 9, 12, 52, 54, 60, 63, 66, 216, 316, 414, 454, 461, 463, 468– 469, 502, 528–529, 544
Personenregister Berthoud, Samuel-Henry 485 Bertocchini, Gianni 488 Bertram, Ernst 458 Berzsenyi, Dániel 479 Besson, Benno 300, 532 Besten, Ad den 474 Betz, Albrecht 553 Betzendörfer, Walter 74 Beucker, Ivo 536 Bevilacqua, Giuseppe 487–488 Bezruč, Petr 477 Bialas, Günter 554 Bianchi, Lorenzo 486–487 Bianquis, Geneviève 466, 538 Bidez, Jean 217 Biemel, Walter 447–448 Biermann, Wolf 529 Bigongiari, Piero 487 Bilfinger, Christian Ludwig 30–31 Bilfinger, Georg Bernhard 30 Binder, Wolfgang 8, 10, 41, 310, 321– 322, 336, 349–350, 354, 448, 464, 502 Birkenhauer, Theresia 148, 151 Bjørnvig, Thorkild 475 Blaga, Lucian 479 Blanchot, Maurice 462, 466–467, 491, 538 Blanckenburg, Christian Friedrich von 197 Blankenburg, Wolfgang 63 Blankenstein, Alexander von 47 Blechen, Karl 539 Blixen, Karen 475 Blomberg, Erik 475 Blöst, Eberhardine 492 Bobrowski, Johannes 411, 459, 462, 527 Böckmann, Paul 83, 309, 318, 457, 462 Bodei, Remo 487 Bodmer, Martin 69, 515 Bohlen, Stefanie 447–448 Böhlendorff, Casimir Ulrich von 24, 46, 48–50, 256, 269, 352, 389, 397, 403–405, 418, 425–426, 428, 445– 446, 527, 541 Böhm, Wilhelm 5, 69, 121, 216, 286, 391, 393, 417, 434, 450, 478 Böhme, Jakob 28 Boisecq, Simone 538 Bök, August Friedrich 79–80 Bollenbeck, Georg 457 Bollnow, Otto Friedrich 483 Bonalumi, Giovanni 486 Bonaparte, Joseph (Bruder Napoleons) 22 Bonaparte, Napoleon siehe Napoleon I. Bonaparte Bopp, Mariane de 495 Borchardt, Rudolf 69, 353, 433, 441 Borchert, Wolfgang 526
Borges, Jorge Luis 494 Bosch, Hieronymus 539 Böschenstein, Bernhard 50, 60, 83, 97, 340, 344–345, 364, 368, 372–373, 384, 386–387, 403, 406, 410–414, 447, 469–470, 525, 540 Böschenstein-Schäfer, Renate 239, 391, 403 Bosse, Jan 534 Bothe, Henning 438, 457, 463 Bouchet, André du 468, 538 Bougainville, Louis-Antoine de 404 Boulez, Pierre 559 Bouterwek, Friedrich 195 Bozzetti, Mauro 13, 487 Brahms, Johannes 549–550, 552 Brancusi, Constantin 538 Brandão, Fiama Hasse Pais 473 Brandes, Georg 499, 545 Brandes, Isaak 545 Brandes, Peter 475 Brandstetter, Gabriele 340 Brandt, Jørgen Gustava 475 Brandt, Per Aage 475 Brant, Sebastian 478 Braubach (Buchdrucker) 286, 293 Brauer, Ursula 463 Braun, Volker 462, 529, 533 Brecht, Bertolt 300–301, 355, 478, 481, 487, 531–534, 552 Brecht, Martin 81 Brechtel, Jakob 46 Brentano, Clemens 122, 340, 518–519, 525, 550 Brentano, Sophie 42 Brentano, Bettina siehe Arnim, Bettina von Breton, André 536 Breunlin, Christoph Matthäus Theodor 420 Breunlin, Karl Heinrich Friedrich (Fritz) 68, 70, 243, 391 Breunlin, Maria Eleonora Heinrica (Rike) (geb. Hölderlin, Schwester H.s) 27, 57, 68–70, 417, 420–421 Brissot de Warville, Jaques-Pierre 18– 19 Britten, Benjamin 553 Brodwolf, Jürgen 542 Brotbeck, Roman 555 Brousek, Antonín 477 Brucker, Johann Jakob 217 Brückner, Burkhart 62, 546 Bruno, Giordano 537 Brutus, Marcus Junius 224, 405 Buber, Martin 438, 440–442, 477 Bubola, Sara 486 Buchheim, Iris 447–448 Büchner, Georg 524 Buddeberg, Else 462
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Buddeus, Johann Franz 217 Buglioni, Chiara 488 Buhle, Johann Gottlieb 218 Buhr, Gerhard 232 Buonaparte, Carlo Maria (Vater Napoleons) 19 Buonarotti (Pseudonym H.s) 536 Burckhardt, Jacob 96 Burdorf, Dieter 119, 388–389, 391– 395, 401, 404, 406, 436, 463 Burgart, Jean-Pierre 469 Bürgel, Peter 416 Burger, Hermann 461 Burk, Gottfried Israel 57, 59, 64 Burke, Edmund 77 Busulenga, Zoé Dumitrescu 479 Butzer, André 543–544 Byron, George Noel Gordon, Lord 471, 483, 524, 550 C Caesar, Gaius Julius 224, 285, 536 Cage, John 493 Calame, Charles Frédéric 47 Calderón de la Barca, Pedro 550 Callot, Jacques 537 Caminer, Domenico 196 Camões, Luis de 473 Campos, Haroldo de 494 Camus, Albert 555 Cancik, Hubert 308 Carducci, Giosue 485 Carl August, Herzog von SachsenWeimar 48 Carl Eugen, Herzog von Württemberg 24, 30–31, 33, 80, 91, 324 Carnot, Lazare Nicolas Marguerite 20 Caroline, Landgräfin von HessenHomburg 48, 58 Carrier, Jean-Baptiste 18 Carriere, Moriz 513 Carson, Luke 492 Carstanjen, Eva 60 Cassas, Louis-François 353 Cassirer, Ernst 441, 499 Castellari, Marco 165, 418, 486–488 Castellucci, Romeo 488, 534 Celan, Paul 410, 440, 479, 481, 490, 492, 527, 545, 554–555, 557, 559 Cerf, Karl 458 Cerha, Friedrich 558 Cernuda, Luis 472–473 Cervantes, Miguel de 471, 557 Césaire, Aimé 538 Chagall, Marc 559 Chamfort, Nicolas 50 Chandler, Richard 196–197, 405 Chanmurzaev, K. 482 Chapman, Helen Christine 491 Chappe, Claude 22
606
Anhang
Char, René 468, 472 Chernoff, Maxime 492 Chétouane, Laurent 534 Chillida, Eduardo 538–539 Chirico, Giorgio de 536 Choiseul-Gouffier, Marie Gabriel Florent Auguste de 196, 209 Christ, Tobias 473 Christen, Felix 365, 464 Christensen, Inger 475 Christoph, Herzog von Württemberg 30–31, 81 Christus siehe Jesus von Nazareth Cicciari, Maria Giovanna 488 Cicero, Marcus Tullius 73–74, 76 Clairmont, Christoph W. 483 Clever, Edith 539 Closs, August 470 Colli, Giorgio 467 Collins, William 181 Cometa, Michele 487 Condillac, Étienne Bonnot 95 Constantine, David 470 Contini, Gianfranco 486 Conz, Carl Philipp 33, 35, 58–59, 69– 70, 74, 77, 92, 100, 102, 134, 197, 286–287, 428, 516 Cordibella, Giovanna 485–486, 488 Cornelissen, Maria 233, 243, 349 Cornelius, Peter 550–551 Corssen, Meta 138–139 Cortázar, Julio 494 Cortés Gabaudán, Helena 472 Costa, Daniel 473 Cotta, Johann Friedrich (Superattendent, Stift) 32 Cotta von Cottendorf, Johann Friedrich, Freiherr von (Verleger) 3–4, 196, 417, 483, 520, 539 Crescenzi, Luca 487–488 Creuzer, Georg Friedrich 512 Cristina, María (Regentin, Ehefrau Fernandos VII. von Spanien) 471 Cudworth, Ralph 200, 217 Culler, Jonathan 322 Cvetaeva, Marina 481–482 D Dahl, Sverre 475 Dahlhaus, Carl 556 Dai Hui 506 Dalčev, Atanas 480 d’Annunzio, Gabriele 554 Dante, Alighieri 477, 483, 537 Danton, Georges Jacques 18 Darío, Rubén 472 Darwisch, Mahmud 484 Daum, Markus 535 David (biblischer König) 305 de Man, Paul 83, 366, 368, 490–491
Degner, Uta 349, 464 Deguy, Michel 469 Dehmel, Richard 550 Dejč, Aleksandr Iosifovič 532 Del Caro, Adrian 491 Demetrius Poliorcetes 405 Deprez, Ludovicus 287 Derrida, Jacques 463, 468–469, 490– 491, 515 Deutsch, Aleksander 482 Deutsch, Michael siehe Dejč, Aleksandr Iosifovič Devrient, Emil 530 Di Cesare, Donatella 447 Diderot, Denis 134, 216 Diederichs, Eugen 523 Diest, Heinrich von 4, 68–69, 516, 520 Diez, Carl Immanuel 76, 100, 113 Dijkman, G. L. 474 Dikova, Elena 480 Diktaios, Ares 483 Dilthey, Wilhelm 164, 309, 434, 438, 472, 478, 495, 499, 515, 523–524, 530 Dinescu, Mircea 479 Diogenes Laertius 152, 216–218, 222, 425, 514 Dion 405 Dionysios von Halikarnassos 5, 289, 392 Disandro, Carlos 495 Dix, Otto 537 Döblin, Alfred 531 Doering, Sabine 117, 303, 325, 328, 407, 485 Dohnány, Christoph von 559 Doinaş, Ştefan Augustin 479 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 523, 538–539 Dove, Rita 492 Droem, Ernst 523 Droste-Hülshoff, Annette von 517– 518 Duarte, Bruno C. 473 Dublev, Dimitŭr 480 Duclos, Paul 18 Duda, Herbert Wilhelm 480 Duesberg, J. 471 Dulon, Ludwig 548 Dunn, Anne 492 Dürer, Albrecht 478 Duroc, Géraud Christophe Michel 21 Durot, Georges David 52 E Ebel, Johann Gottfried 19, 38, 46–47, 55, 426–428 Eberhard I. (im Bart), Herzog von Württemberg 516 Eberhard, Johann August 76 Ebisaka, Takashi 502
Edschmid, Kasimir 524 Efferenn (Familie) 492 Ehmann, Ralf 535 Ehrenfels, Imma von 435 Ehrenstein, Albert 442, 530 Eich, Günter 525 Eichendorff, Joseph von 475 Eichhorn, Johann Gottfried 75, 253– 254 Eidenbenz, Johann Christian Gottlob 548 Eidlitz, Walther 531 Eimer, Theodor 536 Einstein, Carl 442 Eisler, Hanns 460, 462, 552 Eliot, Thomas Stearns 492 Eloesser, Arthur 440 Eminescu, Mihai 479 Empedokles 86, 88, 95, 136, 152–153, 215–222, 233, 235, 279, 287, 291, 322–323, 481, 488, 496, 533, 541 Endres, Martin 159–160 Ensor, James 539 Enzensberger, Hans Magnus 475, 526 Erbe, Johann Jakob 30 Erhard, Johann Benjamin 244 Ernesti, Johann Christian Gottlieb 75 Ernst, Max 536 Ernst, Paul 523, 528 Errante, Vincenzo 486 Esber, Ali Ahmad Said siehe Adonis Eschenbach, Wolfram von 205 Espronceda, José de 471 Essig, Karl Friedrich 57 Ettinger, Karl Wilhelm 44 Etzold, Jörn 159 Euklid 80 Euripides 74, 287–288, 342, 384 F Fabricius, Johann Andreas 280 Fallot, George Frédéric 52 Fantoni, Francesca 306 Farkas, Ferenc 556 Fasani, Remo 486 Faustino, Mário 495 Fechner, Lydia 418 Fédier, François 469 Fellenberg, Philipp Emanuel von 24, 49–50 Feng Zhi 504 Ferneyhough, Brian 559 Ferrer, Anacleto 472–473, 494 Feuerbach, Ludwig 251, 513 Fichte, Hubert 529 Fichte, Johann Gottlieb 36, 44–48, 76, 81, 90, 102, 104–109, 111–113, 115, 121, 123–124, 136, 142, 167, 172, 195, 199, 201, 244–246, 249, 261,
Personenregister 263, 277–278, 280–281, 422, 424– 425, 511–512, 539 Fichtner, Gerhard 58–60 Ficino, Marsilio 93, 200 Figal, Günter 446 Fink, Christian 475 Fischer, G. W. 412 Fischer, Johann Rudolf 49 Fischer, Otokar 477 Flashar, Hellmut 531 Flatt, Johann Friedrich 74–77, 80, 100 Fleischer, Dirk 80 Flimm, Jürgen 534 Flores, Pavlos 483 Florey, Hans 558 Floyd, Denis Ragan 493 Foerster, Josef Bohuslav 551 Fontane, Theodor 523 Forrer, Thomas 159 Forster, Georg 335 Fortner, Wolfgang 554–555 Forys, Ryszard Fryderyk 239 Foucault, Michel 468, 515 Fouqué, Friedrich de la Motte 520 Frank, Manfred 124, 128, 463 Franz, Michael 12, 75–76, 78–81, 123, 198, 245, 247, 251, 273, 278, 281, 345, 392, 403–405, 483 Franz II., deutscher Kaiser 22, 24 Franziska von Hohenheim, Herzogin von Württemberg 30–31, 324 Fremantle, Anne 491 Frenkel, Ann 493 Freriks, Kester 474 Freud, Sigmund 536 Frey, Theophil 459 Fried, Erich 529 Friedrich, C. D. 533 Friedrich I. (Barbarossa) 344, 392, 404 Friedrich I., König von Württemberg siehe Friedrich der II. Herzog von Württemberg Friedrich II., Herzog von Württemberg 24, 187 Friedrich Eugen, Herzog von Württemberg 24 Fröhlich, Friedrich Theodor 549 Fry, Paul 181 Fühmann, Franz 479 Fujimori, Hideo 498 Fujito, Masani 499 Furtado, Maria Teresa Dias 473 G Gabitova, Rimma 482 Gabriel, Norbert 391 Gadamer, Hans-Georg 164, 473 Gaier, Ulrich 63, 83–84, 86–87, 90, 92, 94–97, 134, 151, 180, 200, 325, 340, 342, 403, 418, 516, 518
Gama, Vasco da 404 Ganter, Fridolin 464 Ganz, Bruno 533 Ganzer, Holle 349, 354 García Lorca, Federico 472, 481, 538, 554 Garrigue, François 469 Gärtner, Marcus 461 Gasset, José Ortega y 472 Gebser, Hans 472 Gehrmann, Michael 349 Geibel, Emanuel 520–521 Geiger, Ludwig 440 Geiselhart, CHC (Curt Hans Chrysostomus) 539 Gemerey, Laurentius 483 George, Emery E. 11, 140, 388, 391, 393–398, 492 George, Stefan 6, 290, 433–436, 451, 515 Georgii, Eberhard Friedrich 25, 33 Gernhardt, Robert 529 Gerning, Johann Isaak von 271–272 Gerzen, Aleksandr 481 Gesner, Johann Matthias 74 Gesualdo, Carlo 557 Gethmann-Siefert, Annemarie 447 Geyer, Dietrich 63 Gideon, Miriam 493 Gil Bera, Eduardo 473 Girshausen, Theo 235 Glass, Jesse 492 Gmelin, Ferdinand von 63 Gmelin, Hans 536 Gnög, Hiltrud 526–527 Gock, Carl Christoph Friedrich (H.s Halbbruder) 4, 27, 57, 63, 68–70, 196, 243, 334, 392, 417, 421–422, 434, 483 Gock, Johanna Christina siehe Hölderlin, Johanna Christina Gock, Johann Christoph (Stiefvater H.s) 27, 324 Goedeke, Karl 5, 8 Goethe, Johann Wolfgang von 42, 46, 87, 92, 94–95, 117–121, 161, 197, 199, 203–204, 210, 271, 276, 296, 321, 325, 333–334, 339, 350–351, 360, 424, 427, 434, 440, 468, 473, 477–479, 481–482, 484, 504, 513– 514, 518, 523, 528, 539, 546, 548, 550 Gogel, Johann Noë 45 Gogh, Vincent van 539 Gojowczyk, Hubertus 542–543 Gok siehe Gock Goldoni, Daniele 487–488 Golomka, Wanda 534 Golosovker, Jakov 482 Goltz, Bogumil 512 Góngora, Luis de 472
607
Gontard, Friederike Amalie 40 Gontard, Heinrich 40 Gontard, Henriette 40 Gontard, Henry 39–40, 49, 215, 218 Gontard, Jakob Friedrich 39, 539 Gontard, Johanna Helene 40 Gontard, Susette (geb. Borkenstein) 3, 34, 38–42, 54, 68–70, 96–97, 119, 134, 197, 286–287, 335, 340, 384, 411, 417, 420, 423, 427–428, 502, 524, 540, 542 Gontard (Familie) 96, 147, 196 Gonther, Uwe 62–63, 463 Gonzenbach, Anton von 417 Görres, Joseph 519 Göser, Herbert 541 Gotscheff, Dimiter 534 Gottsched, Johann Christoph 217, 304 Götz, Martin 464 Gouges, Olympe de 18 Gouvion Saint-Cyr, Laurent de 21 Goya, Francisco José de 537 Grabbe, Christian Dietrich 524 Grass, Günter 470, 479 Grätz, Katharina 12, 214–215, 225 Gregorovius, Ferdinand 513 Greiff, Otto de 495 Grimm, Brüder 504 Groddeck, Wolfram 9–10, 13, 160– 161, 165, 214, 339, 344–345, 353– 354, 396, 464 Groethuysen, Bernhard 466 Grosser, Florian 447 Großmann, Andreas 447 Grüber, Klaus Michael 533 Grunert, Mark 349–350, 352, 354 Gu Zhengxiang 505 Guadet, Marguerite Élie 18–19 Guardini, Romano 461 Gundolf, Friedrich 483, 499 Gustafsson, Lars 475 Gut-Bozzetti, Elsbeth 13 Gutiérrez, Rafael 495 Gutscher, Jakob Friedrich 24–25 Guzzoni, Alfredo 404–407, 464 H Hadank, Günther 531 Hahn, Michael 29 Hahn, Philipp Matthäus 28–29 Hähnel, Ernst Julius 535 Hajnal, Gábor 479 Haller, Albrecht von 49, 305, 426 Hamann, Johann Georg 169, 512 Hamberger, Georg Christoph 217 Hamburger, Michael 442, 468, 470, 492 Hamel, Johann Georg 68–69, 243, 391 Hameling, Robert 535 Hamlin, Cyrus 403, 462, 491
608
Anhang
Hamsun, Knut 538 Handke, Peter 474, 529 Hansen, Martin A. 475 Häny, Arthur 391–392, 404, 406 Harbison, John 493 Hardenberg, Friedrich von siehe Novalis Hardt, Ernst 530 Härtling, Peter 418, 481, 528, 542 Hartmann, Moritz 55 Hart Nibbrig, Christiaan L. 364, 374 Hasenclever, Walter 530 Hauer, Josef Matthias 550–551, 558 Hauff, Wilhelm 517 Haug, Friedrich 3, 69 Haug, Johann Balthasar 516 Hauge, Olav H. 475 Hausmann, Frank-Rutger 480 Haverkamp, Anselm 361, 366, 384, 387, 452 Hawkesbury, Robert Banks Jenkinson, Baron 21 Hayden-Roy, Priscilla A. 303, 491 Hebbel, Friedrich 504, 521, 524 Hébert, Jacques-René 18 Heckel, Erich 536 Hederich, Benjamin 217 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 24, 44–47, 49–50, 54, 64, 77, 80–81, 104, 106, 112, 114, 122, 127, 142–144, 174–175, 183, 200, 216, 218, 221, 249–250, 252, 256, 272, 278–280, 285, 349, 386, 417, 422–424, 426, 441, 452, 491, 495–496, 499, 501, 511–513, 539 Heidegger, Martin 83, 87, 133, 159, 338, 340, 360, 366, 368, 370, 384, 443–447, 451–454, 457–458, 462, 466–469, 472–473, 475, 479, 481, 483, 487, 490–492, 494–496, 500– 502, 515, 534, 538, 545, 555 Hein, Manfred Peter 478 Heine, Heinrich 471, 477–479, 481, 504, 517, 548, 550 Heininen, Paavo 475 Heinle, Friedrich 451 Heinrich, Gusztáv 478 Heinrich IV., deutscher Kaiser 17, 404 Heinse, Wilhelm 39–40, 87–88, 96–98, 134, 141–142, 169, 184, 186–187, 207, 216, 255, 286, 311, 313, 340, 373, 428, 471, 548 Heise, Wolfgang 226, 462 Hellingrath, Norbert von 5–6, 63, 69, 164, 180, 273, 285, 287–291, 331, 337, 339, 360, 388, 393–395, 400– 401, 403, 409, 414, 417, 433–436, 438, 442, 450–451, 457–458, 473, 490, 494, 498, 524, 530, 544 Hellquist, Elof 475
Helting, Holger 447–448 Hemsterhuis, Franz 92, 125, 198–200, 212, 422, 424 Henrich, Dieter 55, 100, 113, 124, 143, 246, 318, 330, 366, 384, 447, 464 Henze, Hans-Werner 60, 553, 559 Herakles 140, 184, 217, 233, 286, 289– 290, 315, 354–355, 368, 378, 396 Heraklit 134, 139, 157, 207–208, 212, 444, 496, 514, 557 Herbart, Johann Friedrich 48 Herder, Johann Gottfried 5, 36, 41, 45–46, 78, 85, 90–97, 112, 125, 165, 169, 195, 198–199, 212, 216, 315, 333, 404, 416, 422, 424–426, 511– 512, 515, 548 Hermann, Ludwig Georg Friedrich Carl 45 Hermlin, Stephan 415, 459, 462, 528, 533 Hermodsson, Elisabet 475 Herodian 74 Herodot 74 Herwegh, Georg 521 Hesiod 77–78, 90, 137, 258, 274, 308, 356, 386, 554 Hesler, Ernst Friedrich 74 Hesler, Jakob Nikolaus 74 Hesse, Hermann 459, 478, 522–523, 539 Heublein, Madeleine 535 Heuschele, Otto 461 Heusler, Andreas 159 Heym, Georg 524 Heyme, Hansgünther 236, 533 Heyn, Johann Andreas (Großvater H.s) 27 Heyn, Johanna Rosina (geb. Sutor, Großmutter H.s) 27 Heyne, Christian Gottlob 218, 253, 273, 288–290 Hidaka, Jirô 499 Hiemer, Franz Karl 31, 70 Hiemer, Philipp Jacob 31 Hiller, Johann Christian 31, 74 Hiller, Marion 464 Hiller, Philipp Friedrich 29, 74 Hillmar (Pseudonym H.s) 3 Hilmī, Hasan 484 Hilpert, Hans 236, 531 Hindemith, Paul 550–551 Hiob 305 Hipparch 285 Hirzel 73 Hitler, Adolf 6, 459 Hlávka, Milos 551 Hof, Walter 134, 139–140 Höfer, Rosa 545 Hoff, Nick 492 Hoffmann, E. T. A. 539
Hoffmann, Immanuel 32 Hoffmann, Peter Hans 506 Hoffmeister, Johannes 228, 457 Hofmannsthal, Hugo von 433–434, 436, 524–525, 534 Hogarth, William 539 Hölderlin, Elisabetha Juliana (geb. Haselmeyer, Großmutter H.s) 27 Hölderlin, Heinrich Friedrich (Vater H.s) 27 Hölderlin, Jakob Friedrich (Großvater H.s) 27 Hölderlin, Johanna Christiana Friederica (Schwester H.s) 27 Hölderlin, Johanna Christiana (geb. Heyn, Mutter H.s) 27, 33, 54, 57–60, 62–66, 68–69, 417–420, 539 Hölderlin, Maria Eleonora Henrica (Rike) siehe Breunlin, Maria Eleo nora Henrica Holliger, Heinz 60, 415, 544, 549, 554– 556 Hölscher, Uvo 502 Hölty, Ludwig Heinrich Christoph 321 Homer 74, 77, 95, 135, 137–138, 184, 190, 197, 256, 258, 267, 284–285, 314–315, 385, 425, 454, 545 Honold, Alexander 160, 204, 361, 404 Hoover, Paul 492 Hopfer (Drucker) 3 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 162, 217–218, 239, 257, 272– 273, 287, 304, 320, 327 Horch, Hans Otto 441 Horn, Friedrich 46, 50 Hornbacher, Annette 140, 404 Hötzer, Ulrich 517 Hrdlicka, Alfred 537, 541 Hu Yuzhi 504 Huang Shiqi 504 Huber, Klaus 559 Huber, Ludwig Ferdinand 3 Huber, Ludwig Friedrich 554 Hughes, Ted 492 Hühn, Helmut 145, 148 Huillet, Daniéle 236, 533, 541 Hull, Richard Francis Carrington 491 Humboldt, Alexander von 56 Humboldt, Wilhelm von 205, 428 Hume, David 75 I Ikuta, Shungetsu 498 Indestege, Luc 474 Indlekofer, Barbara 349 Iosif, Stefan Octavian 479 Iranyi, Gabriel 559 Ireland, Julia 491 Iselin, Johann Rudolf 217, 404 Itô, Shizuo 499, 502
Personenregister J Jaccottet, Philippe 468 Jacob, Joachim 305 Jacobi, Friedrich Heinrich 48, 75, 100– 101, 114, 143, 195, 197, 200–201, 206–207, 248, 255, 261 Jacobs, Wilhelm G. 74–75 Jæger, Frank 475 Jaffé, Verónica 495 Jähnig, Dieter 137 Jakobson, Roman 60, 140, 164, 412, 414, 462, 464 Jamme, Christoph 216, 221, 228, 391, 446, 448, 512 Janáček, Leoš 552 Janárčeková, Viera 558 Jandl, Ernst 546 Janz, Marlies 42, 210 Janzen-Allgaier, Helga 535 Jappe, Hajo 458 Jaspers, Karl 63, 66 Jastrun, Mieczysław 478, 481 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 95, 117, 175, 511, 528 Jeker, Valentin 533 Jelinek, Elfriede 529, 533–534 Jellema, Cornelis Onno 474 Jensens, Roland 474 Jesus von Nazareth (Christus) 29, 79, 86, 97, 140–141, 184, 189, 216, 305, 309, 340, 342, 365, 368, 374–375, 377–379, 381–382, 454–455, 495 Jiménez, Juan Ramón 472 Ji Xianlin 504 Joachim, Joseph 550 Joachimi-Dege, Marie 5, 200, 393, 434 Johannes (Jünger Jesu) 185, 381 Joneleit, Jens 559 Joppien, Ingeborg 60 Joubert, Barthélemy Catherine 21 Jourdan, Jean-Baptiste 21, 24–25 Jouve, Pierre Jean 466, 538 Joyce, James 537, 554, 557 Júdice, Nuno 473 Juliet, Charles 538, 542 Jung, Alexander 418, 512–513, 520– 521 Jung, Franz Wilhelm 47, 428 Junkmann, Wilhelm 517–518 K Kaempfer, Engelbert 498 Kafka, Franz 477, 493, 538, 554 Kahler, Erich von 439 Kaiser, Gerhard 316 Kalácz, Claudia 225 Kalász, Márton 479 Kalb, Charlotte Sophie Juliane von 36, 89–90, 93, 100, 105, 428 Kalb, Fritz von 86
Kálnoky, László 479 Kanellopoulos, Panagiotis 483 Kant, Immanuel 30, 36, 38, 45, 75–77, 80, 85, 89–90, 93, 100–105, 107, 109, 113–115, 121, 123, 155, 166, 198, 243–247, 250–251, 256, 259, 280, 315, 422–424, 426, 479, 490, 511, 515 Karel’skij, Al’bert 482 Kares, Johannes 535 Karl, Erzherzog von Österreich 20, 24 Karl Eugen siehe Carl Eugen Kasack, Hermann 393–394 Kasper, Monika 160 Kassner, Rudolph 433 Katayama, Toshihiko 501 Katô, Hiroyoshi 501 Kauffmann, Emil 550 Kavafis, Konstaninos 478 Keats, John 491 Kelchner, Ernst 69 Keller, Louise 545 Keller, Thomas 63 Kelletat, Alfred 8, 10, 549 Kempf, Roswitha 495 Kepler, Johannes 304, 322 Kerkhoff, Manfred 496 Kerner, Georg 541 Kerner, Justinus 4, 62, 69, 516, 541, 549 Ketelsen, Uwe-Karsten 459 Kettering, Emil 447–448 Kiefer, Anselm 535 Kilcher, Andreas 438, 441 Killmayer, Wilhelm 415, 544, 554, 557–558 Killy, Walter 6, 277 Kindermann, Heinz 236, 457, 531 Kinkel, Gottfried 518 Kinkel, Johanna (geb. Mockel) 518 Kirchner, Werner 140, 391, 404 Kirms, Luise Agnese 38 Kirms, Wilhelmine Marianne 38, 100, 528 Kirsch, Sarah 529 Kisker, Karl Peter 63 Kistensen, Tom 474 Kléber, Jean-Baptiste 20 Klee, Paul 555 Klein, Gideon 60, 477, 552 Kleist, Heinrich von 438, 459, 462, 477, 490–491, 524 Klemm, Jakob Friedrich 29, 73 Klett, Johannes 236 Kling, Wilfred L. 349, 351–353 Klopstock, Friedrich Gottlieb 31, 34– 35, 44, 96, 98, 147, 160, 162, 180, 273, 303–308, 310, 321, 333, 350, 359, 423, 464, 521, 548, 550–551 Klossowski, Pierre 466 Kluckhohn, Paul 458 Klüpfel, August Friedrich 76
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Knaupp, Michael 12, 196, 349, 362, 366, 396, 400–401, 404, 418, 469, 483 Koch, Manfred 327 Kochanowski, Jan 481 Kocziszky, Éva 353, 403–404, 479 Kohl, Katrin 322 Koiso, Masashi 502 Kolb, Annette 529 Kolbe, Uwe 529 Komaki, Takeo 499–501 Komma, Karl Michael 477–478, 549 Kommerell, Max 232, 443, 451, 462 Komrij, Gerrit 474 Konrad, Michael 136, 260 Konradin, Herzog von Schwaben 344, 404 Konrad (Sohn Heinrich IV.) 404 Konstantinov, Venceslav 480 Kopacki, Andrzej 481 Koplowitz, Ruth 418 Koskenniemi, Veikko Antero 475 Köstlin, Karl Reinhold von 5, 133, 393, 556 Köstlin, Nathanael 27, 29, 73 Köstlin (Familie) 492 Kouta, Aarni 475 Koutsouradis, Antonis 483 Koyama, Teiho 498 Kraft, Werner 442 Krasnobaeva, S. 482 Kraz (Nürtinger Präzeptor) 73 Kreidel, Jürgen 58 Krell, David Farrell 491–492 Krenek, Ernst 60 Kreuzer, Johann 160, 174, 234, 323, 331, 376, 416, 418, 427 Kristeva, Julia 463 Kudzus, Winfried 403, 414 Kuhn, Axel 18 Kühne, Gustav 520 Kukorelly, Endre 479 Kunert, Günter 470, 479 Künzel, Carl 68 Kuprijanov, Vačeslav 482 Kurtág, György 60, 415, 554, 556–557, 559 Kurz, Gerhard 60, 65, 145, 148, 151, 153–154, 198, 225, 231, 362, 369, 373, 385, 403–404, 406, 447, 461, 464, 529 Kurz, Hermann 68 Kurz, Isolde 522 Kušner, Aleksandr 482 Kuzniar, Alice 491 L la Cour, Paul 474 La Fayette, Marquis de (Marie-Joseph Motier) 17 Lacan, Jacques 463, 467
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Anhang
Lachenmann, Helmut 559 Lachmann, Karl 5 Lacoue-Labarthe, Philippe 447, 469, 483, 491, 532 Lafontaine, August Heinrich Julius 428 Laich, Angela 541 Lalič, Ivan V. 478 Lam, Andrzej 481 Lám, Frigyes 478 Lambercier, Jakob Friedrich 52 Lambert, Johann Heinrich 93 Landauer (Familie) 42 Landauer, Georg Christian 34, 54, 58, 68, 98, 417, 425, 539, 550 Landauer, Gustav 440, 442 Lange, Per 474–475 Lange, Wilhelm 5, 59–60, 63, 409, 414, 417, 434 Laplanche, Jean 463, 467–468 Lasker-Schüler, Else 551 Lattner (Stallmeister) 47 Lavagetto, Andreina 13 Lavater, Johann Kaspar 49 Lawitschka, Valérie 529 Lazanas, Vasilis 483 Le Fort, Gertrud von 523 Lebret (Le Bret), Johann Friedrich 32– 33, 80–81, 252 Lebret (Le Bret), Maria Elisabeth (Elise) 31–32, 38, 69, 80, 428 Lecourbe, Claude Jacques 21 Lefebvre, Jean-Pierre 52, 364, 404, 469 Legal, Ernst 531 Lehmann, Emil 238 Lehmann, Hans-Thies 534 Lehner, Xaver 554 Leibniz, Gottfried Wilhelm 312–313 Lem, Stanisław Herman 481 Lenau, Nikolaus 475, 479, 518, 539 Lenko, Július 478 Lenz, Jakob Michael 524, 539 Leonard, Karl 63 Leopardi, Giacomo 485, 524 Lernout, Geert 463, 469 Lessing, Gotthold Ephraim 5, 96, 101, 165, 182, 200, 216, 252, 279, 416 Leutwein, Philipp Jakob 47 Leyen, Friedrich von der 433, 435 Li Changzhi 504 Li Jinfa 504 Lichtenstern, Christa 538 Liebrucks, Bruno 464 Lievi, Cesare 13, 236, 487, 533 Lievi, Daniele 487 Ligeti, György 556, 559 Lin Ke 505 Linde, Otto zur 515, 523 Lindenbaur, Ena 535
Link, Jürgen 19, 29, 83–84, 86, 88, 134, 221, 360, 407, 464 Lisiecka, Sława 481 Liszt, Franz 550 Li-T’ai-po 559 Litzmann, Berthold 5, 393, 434, 441, 478, 523 Litzmann, Carl C. T. 5, 52, 55, 63, 68– 69, 393, 417, 478 Liu Haoming 505–506 Llosa, Mario Vargas 494 Lohbauer, Carl Philipp 516 Lohbauer, Rudolf 397, 517, 545 Longinus (Pseudo-) 34, 134, 285, 351 Longuet, Karl-Jean 538 Lorrain, Claude 39 Louth, Charlie 349, 406, 418, 427, 470 Lowth, Robert 34, 45 Loyola, Ignatius von 198–200, 202, 208 Lü Tianshi 504 Lübbe-Grothues, Grete 57, 60, 164 Lublinski, Samuel 440, 523 Lucan (Marcus Annaeus Lucanus) 74, 284–285 Lucchesi, Marco 495 Lucebert 474 Ludwig XIV., König von Frankreich 22 Ludwig XVI., König von Frankreich 17, 20, 33 Ludwig Eugen, Herzog von Württemberg 24 Ludwig II., König von Bayern 539 Ludwig, Christoph Andreas 32 Luhnen, Michael 464 Lukács, Georg 461–462, 499, 505, 552 Lunačarskij, Anatolij 481–482 Lupi, Sergio 486 Luther, Martin 81, 252, 440 Luzi, Mario 486 Lvovic, Jiři Karásek ze 477 Lyotard, Jean-François 447 M Machado, Antonio 472 Machiavelli, Niccolò 280, 422 Macor, Laura Anna 205, 488 Macpherson, James siehe Ossian Madaus, Hans-Joachim 540 Maderna, Bruno 487, 533, 553 Maestri, Maria Federica 488 Magenau (Familie) 492 Magenau, Henriette Friederike Wilhelmine (geb. Hagmaier) 35 Magenau, Rudolf Friedrich Heinrich 30, 32, 34–35, 100, 118, 195, 284, 308, 310, 416, 423, 516, 545, 548 Mahler, Gustav 551 Mahlmann, August 69 Maione, Italo 486–487 Malina, Judith 532
Malinowski, Bernadette 305 Mallarmé, Stéphane 454, 467 Malles, Hans Jürgen 12 Malmberg, Bertil 475 Malycha, Christian 543 Mandruzzato, Enzo 486 Mann, Thomas 499 Manolowa, Sawa 480 Mansen, Erich 544 Manskopf, Daniel Andreas 255 Marat, Jean Paul 19, 422, 541 Marbod von Rennes 205 Marianne, Prinzessin von HessenHomburg 45, 48 Marie-Antoinette, Königin von Frankreich 17 Marie-Louise von Österreich (Napoleons Ehefrau) 22 Maristany, Fernando 471 Markowska, Wanda 481 Martegiani, Gina 485 Martens, Gunter 403, 467, 515, 524 Marti, Kurt 529 Martin, Wolfgang 92 Martinho, Fernando 494 Marty, Philippe 469 Marx, Karl 212, 386, 528, 552 Másmela, Carlos 495–496 Massa, Pietro 488 Masséna, André, Duc de Rivoli 24 Mati, Susanna 488 Matsumoto, Seichô 502 Matsuyama, Juichi 501 Matthisson, Friedrich von 58, 303, 318, 428, 539 Mayer, August 57, 409 Mayer, Elizabeth 553 Mayer, Karl 57 Mayröcker, Friederike 481, 529 Mazzali, Bruno 487 McNeill, William 491 Mecacci, Andrea 487 Meckel, Christoph 470, 479 Meckseper, Friedrich 535 Meiners, Christoph 74, 76, 217 Mell, Max 524 Mendelssohn, Moses 77, 101, 200 Menicacci, Marco 486 Menke, Bettine 159 Menninghaus, Winfried 164, 349, 356, 464 Menzel, Wolfgang 517 Merwin, William Stanley 492 Messiaen, Olivier 553, 556, 559 Metzger, Stefan 93, 198, 403 Meyer, C. F. 539 Meyer, Daniel Christoph 52–54 Meyer, Henriette siehe Andrieu de Saint-André, Anne Marie Henriette
Personenregister Meyer, Johann Christian 53 Meyer, Johann Lorenz 53 Meyer, Richard Moritz 471 Meyern, Wilhelm Friedrich 519 Michaelis, Caroline 121 Michaelis, Rolf 235 Michel, Wilhelm 236, 418, 440, 531 Michelangelo Buonarotti 536 Michiewicz, Adam 481 Middleton, Christopher 470 Mieth, Günter 11, 52–53, 55, 400, 407, 462, 558 Milev, Ivo 480 Milska, Anna 481 Milton, John 305 Mishima, Yukio 500 Mittner, Ladislao 487 Miura, Tsuneo 500 Miyahara, Akira 501 Mögel, Ernst 148, 230 Mohagheghi, Yashar 159 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 477 Molina, Alicia 495 Møller, Kai Friis 474 Mommsen, Momme 92 Montale, Eugenio 486 Montesquieu, Charles-Louis Secondat 17, 95, 212 Monteverdi, Claudio 554, 557 Montinari, Mazzino 467 Montoliu, Manuel de 471–472 Morante, Elsa 486 Morariu, Victor 479 Moreau, Jean Victor 20–21, 24 Moréri, Louis 217 Moretti, Franco 487 Morgenstern, Christian 551 Mori, Gorô 499 Mörike, Eduard 68–69, 409–410, 475, 479, 498, 516–517, 522, 539 Moritz, Karl Philipp 160 Morus, Samuel Friedrich Nathanael 75 Moser, Roland 555 Moses 305 Mosheim, Johann Lorenz von 200 Mottel, Helmut 361 Mounier, Jacques 83 Mozart, Wolfgang Amadeus 40, 180 Muhrbeck, Friedrich Philipp Albert 46, 48, 50, 425 Muir, Edwin 470 Müller, Georg 285, 287, 291 Müller, Georg Friedrich Karl 47, 58, 62 Müller, Heiner 300–301, 529, 532– 534, 554 Müller, Herta 480 Müller-Rastatt, Carl 340 Müller-Siemens, Detlev 559
Munárriz, Jesús 472 Muncker, Franz 5 Mundt, Theodor 511, 513, 521 Munz, Theodor 550 Mussorgsky, Modest 557 Müthel, Lothar 531–532 Mycillus, Jakob 284 N Nadler, Josef 458 Nägele, Rainer 352, 364, 367, 372–373, 380, 463, 490–491 Nägele, Reiner 549 Nakajima, Eijirô 499 Nakamasa, Masaki 502 Nancy, Jean-Luc 469 Napoleon I. Bonaparte 17–25, 29, 46– 49, 53–55, 86, 187, 189, 196, 239– 240, 272, 351, 359, 378, 454, 519 Nast, Immanuel Gottlieb 31, 34, 118, 417, 423 Nast, Luise Philippine 31–32, 38, 69, 417, 423, 427 Naumann, Hans 458 Nawata, Yûji 502 Nĕkrasov, Vsevolod 478 Nel, Christof 533 Nelson, Horatio (Herzog von Bronte) 20 Nemoianu, Virgil 479 Nero, Claudius Caesar Augustus 285 Neruda, Pablo 472 Netti, Adele 13 Neubert, Wilhelm Paul 537, 545 Neuffer (Familie) 492 Neuffer, Christian Ludwig 3–4, 27, 34– 35, 38, 40–41, 47, 50, 68–69, 83, 100, 119, 121, 149, 151, 167, 195, 197, 238, 242–243, 279, 286–287, 308, 310, 318, 324–325, 327, 336, 416–417, 423–424, 516, 518, 545, 548 Neumann, Gerhard 353 Neumeister, Sebastian 485 Neussychin, A. 482 Nickel, Peter 92 Nickisch, Reinhard M. 416 Nicolin, Friedhelm 74 Niethammer, Friedrich Philipp Immanuel 33, 36, 44–45, 48, 74, 100, 106, 113, 121, 127, 144, 244, 246–247, 249, 416–417, 424–425 Nietzsche, Friedrich 95, 301, 375, 434, 438–439, 444, 455, 467–468, 477, 479, 485, 490–491, 494–495, 513– 515, 519, 522–524, 530, 539, 554 Nikoloudi, Stella 483 Nomura, Ichirô 501 Nono, Luigi 60, 487, 554, 556 Nooteboom, Cees 474 Nordhof, Anton Wilhelm 246
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Notker, Labeo 440 Novák, Bohumil 477 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 92, 95, 121–127, 129, 350, 478–479, 481–482, 484, 491, 494, 498, 511, 548, 554 Noventa, Giacomo 486 Nyhavn, Ejler 475 O Oberdorfer, Aldo 487 Obrascova, Vera 482 Oelmann, Ute 7, 57, 60, 418, 434 Oetinger, Friedrich Christoph 28–29, 73, 134, 511 Öhm, Margit 548 Öhm-Kühnle, Christoph 548 Ohmacht, Landolin 40 Onetto, Breno 495 Opitz, Theodor 161, 513–514 Orelli, Giorgio 486 Orff, Carl 300, 488, 532, 553 Orthmann, Johann Joachim 46 Ossian (James Macpherson) 31, 34, 118, 304, 353, 405, 423 Ottnad, Clemens 544 Otto I., deutscher Kaiser 22 Otto, Walter F. 502 Ovid (Publius Ovidius Naso) 91, 140, 204, 284–287, 304 P Packalén, Sture 462 Paefgen, Elisabeth 462 Paes, José Paulo 495 Pannwitz, Rudolf 515, 523, 530 Paoli, Pascal 19 Papatsonis, Takis 483 Papini, Gianni 485 Parronchi, Alessandro 486 Pastior, Oskar 479–480 Paul I., Zar von Russland 23 Paul, Hermann 433 Paulsen, Rudolf 515, 523 Pautrat, Bernard 469 Pavese, Cesare 486 Paz, Octavio 492, 494 Pears, Peter 553 Pellegrini, Alessandro 486–487 Penna, Sandro 486 Penzold, Michael 475 Perec, Georges 479 Perret, Claude Camille 46 Perse, Saint-John 538 Pessoa, Fernando 473, 538 Peter I. (der Große), Zar von Russland 404 Peters, Uwe Henrik 63, 66, 415, 463 Petersen, Julius 6, 459 Petrarca, Francesco 384
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Anhang
Petrone, Guiseppe Landolfi 488 Petzold, Emil 340, 391 Pfarr, Paul 539 Pfitzner, Hans 550 Pfizer, Theodor 536 Pfleiderer, Christoph Friedrich 80 Philippide, Alexandru 479 Philipsen, Bart 60, 415, 463, 474 Picasso, Pablo 538 Pieger, Bruno 433–434, 436 Pigenot, Ludwig von 6, 245, 284, 393, 398, 435, 524 Pii, Johann L. 475 Pilinszky, János 556 Pillat, Ion 479 Pindar 5, 12, 31, 133–134, 137–138, 160, 162–164, 176, 178, 181, 258, 271–276, 284, 287–290, 302, 304, 324, 339, 344, 352, 355, 359, 362, 367, 392, 403, 410, 433, 435–436, 442, 450, 452, 464, 537, 542 Piscator, Erwin 531 Pititto, Francesco 488 Pius VII. (Papst) 21 Platen, August von 475, 518, 521 Plath, Sylvia 492 Platner, Ernst 105, 108, 113, 249 Platon 9, 36, 41, 45, 65, 78, 80, 85, 90, 93, 100, 102, 110, 121, 123, 125, 134, 136, 140, 159, 162, 170–171, 176, 195, 199–201, 204, 215, 243, 246, 254, 279, 336, 342, 373, 443, 445 Plinius (Gaius Plinius Secundus) 205 Plitt, Gustav 75, 79 Plotin 174 Ploucquet, Wilhelm Gottfried 79 Plutarch 74, 78, 196, 208, 405 Poe, Edgar Allan 477, 539 Pöggeler, Otto 391, 447–448, 464 Polledri, Elena 307, 404–405, 418, 422, 428, 487–488 Pompeius, Magnus Gnaeus 285 Pongs, Hermann 457, 459, 461 Posnjakov, N. 482 Poulsen, Bjørn 475 Préaux, Alain 469, 544 Previšić, Boris 160, 164–165, 322 Prezzolini, Guiseppe 485 Prignitz, Christoph 216, 239, 316, 463 Proklus 80 Prokosch, Frederic 492 Protassova, Klavdija 482 Proust, Marcel 490, 537 Prudhomme, Louis-Marie 19 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 481 Pusterla, Fabio 486 Pyra, Immanuel Jacob 305 Pythagoras 218, 272
Q Qian Chunqi 505 Quaderer, Hansjörg 540 Quintela, Paulo 473 R Raabe, Paul 417–418, 420–422, 427 Radnóti, Miklós 479 Ranft, Thomas 545–546 Rapp, Hermann 535 Rapp, Wilhelm 68 Rathaus [Ratgauz], Grejnem 481–482 Rätzer, Marie 39–40, 42 Rau, Heribert 522 Raynal-Mony, Gérard 83 Reale, Giovanni 488 Recillas, José Manuel 495 Reger, Max 550 Reichard, Heinrich August Ottokar 209 Reichert, Ingeborg 55 Reichert, Josua 536–537 Reifferscheid, Heinrich 535–536 Reinecke, Andreas 62 Reinhard, Karl Friedrich 21 Reinhardt, Karl 293 Reinhold, Karl Leonhard 36, 44, 46, 75–76, 113, 245 Reitani, Luigi 13, 119, 197, 203, 405, 418, 427, 485–488 Renz, Carl Christoph 30–31, 80 Reuchlin, Johann 28 Reuß, Roland 159, 391 Revett, Nicholas 197 Rey, W. H. 447 Riba, Charles 472–473 Richier, Germaine 538 Richter, Johann Paul Friedrich siehe Jean Paul Riedesel, Friedrich Ludwig Wilhelm Carl (Freiherr zu Eisenach) 45 Riedl, Szende 478 Riehl, Wilhelm Heinrich 550 Rifqa, Fu’ād 483–484 Rihm, Wolfgang 301, 533, 554 Rilke, Rainer Maria 300, 433–434, 436, 446, 475, 477, 479, 481–482, 484, 490, 492, 504, 525, 538, 551, 554 Ring, Max 478 Ripellino, Angelo Maria 486 Robespierre, Maximilien 17–18, 20, 362 Roche, Charles de 391 Roche, Mark W. 491 Rodenberg, Hans 459 Rodrigues, Antonio Medina 495 Rojas, Gonzalo 494 Roland-Jensen, Fleming 390–391, 395 Römer, Max 60 Rondinelli, Marcelo 494
Rosenkranz, Karl 512–513, 520 Rosenzweig, Franz 440–441 Rößler (Rösler, Roesler), Christian Friedrich 74–75, 79 Röttger, Karl 523 Roud, Gustave 538 Rousseau, Jean-Jacques 17, 19, 22, 29, 49, 53, 83–88, 97, 104, 134, 140, 169, 171, 195, 197–198, 200, 203–204, 212, 216, 257, 272, 286, 322, 362, 366, 372–373, 386, 426, 464, 490 Różewicz, Tadeusz 481 Rückert, Friedrich 550 Rudna, Rodrigo 495 Rudolph, Niels-Peter 533 Rufer, Josef 553 Ruge, Arnold 552 Rühmkorf, Peter 526 Runge, Philipp Otto 518 Ruschi, Riccardo 487 Russell, India 470 Ruzicka, Peter 533, 559 Ry, Simon Louis du 39 Ryan, Lawrence 119, 136–140, 198, 211, 251, 418, 455 S Saariaho, Kaija 559 Sadovski, Eugenij 482 Saegers, Uwe 533 Saint–Just, Louis Antoine 17–18 Šalda, František 477 Salin, Edgar 436 Salomon (alttestamentarischer König) 77–78, 90 Sanders, Edward 492 Sandkaulen, Birgit 114 Santini, Barbara 418 Santner, Eric L. 491 Sappho 162, 256, 258, 405, 464 Sarduy, Severo 494 Sartorius, Christoph Friedrich 30, 32 Sartre, Jean-Paul 466 Sas, Andor 478 Satta, Giuseppe 541–542 Sattler, Dietrich Eberhard 9–11, 68– 69, 214, 226, 271, 273, 313, 337, 343– 344, 349–350, 357, 361, 388–389, 391, 395–401, 403–404, 462–463, 558 Saudek, Erik Adolf 477–478 Saunway, Theodore 493 Sauter, Joachim 541 Scardanelli (Pseudonym H.s) 59, 409– 412, 414–415, 423, 481, 485, 528, 533, 544, 554 Schädel, Bernhard 471 Schadewaldt, Wolfgang 198, 216, 221, 235–236, 293, 502, 532 Schädler, Hieronymus 558
Personenregister Schäfer, Volker 58, 73, 324 Scharfschwerdt, Jürgen 83–84 Scheffler, Hans-Jörgen 541 Scheffler, Johannes siehe Angelus Silesius Schelling, Caroline siehe Michaelis, Caroline Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 28, 44–47, 49, 54, 64, 73, 77, 79–80, 105, 112–115, 121–122, 127, 133, 136, 142–143, 167, 172, 195, 201, 245–246, 249–250, 255, 259, 349, 371, 416–417, 422–424, 428, 441, 494, 501, 511–513, 539 Schelling, Karl Eberhard 246 Schiller, Henrik 478 Schiller, Johann Christoph Friedrich 3, 5–6, 18, 31, 34, 36, 38, 41–42, 44, 46– 47, 50, 65, 68–69, 86, 88–93, 96, 98, 102, 104, 117–118, 121, 123, 125, 133–134, 136–137, 142, 145, 151, 154, 160–161, 169, 183, 195–199, 206, 208, 212, 238, 243, 246, 255, 284–286, 296, 302–303, 308–310, 312–313, 315, 318, 321, 325, 333– 335, 338, 352, 360, 389–390, 416– 418, 420, 423–425, 427, 434, 459, 478–479, 481, 494, 498, 504–505, 511, 516, 518, 522–523, 528, 539, 548 Schirach, Baldur von 459, 526 Schlegel, August Wilhelm von 121, 318, 335, 428, 518 Schlegel, Caroline siehe Michaelis, Caroline Schlegel, Dorothea siehe Veit, Dorothea Schlegel, Friedrich von 41, 49, 90, 95, 121–129, 200, 349, 511–512, 518 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 9, 92, 121, 123, 126, 181, 342, 512 Schlesier, Gustav 5, 68, 417, 422 Schlimme, Jann E. 62–63, 65, 463 Schlüter, Christian 534 Schmaus, Marion 239 Schmid, Siegfried 117, 184, 186, 188, 343, 425 Schmidlin, Guido 349 Schmidlin, Johann Laurentius 28 Schmidt, Jochen 8, 12, 52, 60, 120, 211, 225–226, 271, 277, 281, 286, 293, 331, 337, 339–340, 343, 349, 352– 353, 357, 386, 390–392, 395, 427, 462, 464 Schmitz, Angelika 336–337, 361 Schneider, Helmut 512 Schnurrer, Christian Friedrich 30, 33– 34, 75, 79–80, 92 Scholem, Gershom 439–440, 450
Scholz, Wilhelm von 235, 523, 530– 531 Schönberg, Arnold 550–553 Schopenhauer, Arthur 524 Schott (Familie) 518 Schott, Andreas Heinrich 549 Schreiner, Georg 397 Schreiner, Johann Georg 545 Schröder, Rudolf Alexander 523 Schröer, Julius 478 Schroeter, Werner 534 Schrumpf, Anita-Mathilde 159–160 Schubart, Christian Friedrich Daniel 31, 33–35, 285, 303, 310, 539, 548 Schubert, Franz 552, 554 Schuhmacher, Gerhard 460, 549 Schulze, Johannes 4 Schulz-Seitz, Ruth-Eva 447 Schumann, Gerhard 458 Schumann, Robert 539, 549, 555 Schütz, Heinrich 557 Schwab, Christoph Theodor 4, 34, 57– 60, 63–64, 68–69, 195, 392, 409, 413, 485, 548, 550, 557 Schwab, Gustav 4, 55, 68–69, 392, 413–414, 417–418, 434, 516–518 Schwarz, Herta 138, 140, 464 Schwarz, Linda 543 Schwarz, Robert 542 Schweikert, Margarete 550 Schwerteck, Jean-Christoph 549 Schwitters, Kurt 536 Schyler (Weinhändler) 53 Scimonello, Giovanni 487 Searle, Humphrey 554 Seckendorf, Franz Karl Leopold 4, 47, 122, 345, 383, 393, 396–397, 404– 405, 428, 451, 518 Seebaß, Friedrich 6, 285, 393, 434– 435, 473, 516, 524 Seeberg, Peter 474 Seferis, Giorgos 483 Segal, Charles 235 Segalen, Victor 538 Seghers, Anna 459, 462, 477 Seidel, Wilhelm 159 Seidler, Georg 236, 531 Seifert, Albrecht 138, 140, 273, 276– 277, 280, 290, 354 Selges, Edgar 534 Sellner, Rudolf 532 Sena, Jorge de 473 Seneca, Lucius Annaeus 285 Šenkyříková, Kristýna 477 Seret, Daniel 544–545 Sextus Empiricus 74 Shakespeare, William 94, 119, 223, 257, 405, 477, 483 Shelton, Roy C. 418 Shikaya, Takako 501
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Shirui Zhu 558 Shtereva, Kalina 310 Sieburth, Richard 491 Sieyès, Emmanuel-Joseph 18 Siljo, Juhani 475 Silvetti, Norberto 495 Silz, Walter 119 Simmel, Georg 433, 438–439 Simon, Jürgen 138–140 Sinclair, Alexander Adam von 46 Sinclair, Isaak von 3–4, 23, 38, 42, 46– 48, 50, 54–55, 58, 62–64, 68–69, 87– 88, 96–97, 122, 134, 152, 187, 249, 256–257, 271, 373, 384, 389, 417, 420, 425, 428, 463, 511–513, 515, 519, 523, 539 Sinner (Familie) 48 Šišmanov, Čilo 480 Skorgen, Torgeir 475 Skou-Hansen, Tage 474 Skoumal, Aloys 477 Skuravy, Stanislav 551 Słowacki, Juliusz 481 Smidt, Johann 48–49 Smolny, Paul 236, 531 Sokrates 41, 136, 140, 159, 214–217, 221, 244, 246, 326, 336, 342, 365, 373; siehe auch Platon Söllner, Werner 479 Sömmering (Familie) 96 Sophokles 134, 137, 177, 195, 234– 235, 257, 264, 268, 271–272, 284, 286, 288, 291, 293, 295–298, 300, 350, 352, 360, 362, 403, 429, 445, 532–533, 554 Söring, Jürgen 151, 215, 225, 227, 231 Sowiński, Adolf 478, 481 Spano, Robert 493 Spender, Stephen 470 Spener, Philipp Jakob 28 Spinoza, Baruch de 46, 75, 94, 96, 101, 106–107, 121–125, 149, 200–201, 207, 255–256, 422, 424 Stadler, Ernst 524 Staiger, Emil 219, 461–463 Stampulú, Symeōn 483 Stančev, Stefan Inanov 480 Stanitzek, Georg 331, 351, 353 Stark, Albrecht 57, 393 Stäudlin, Gotthold 195 Stäudlin, Gotthold Friedrich 3, 32, 34, 88, 285, 310, 316, 318, 516, 539, 541 Stäudlin, Rosine 34, 47 Steck, Johann Rudolf 49–50 Steckel, Frank-Patrick 236, 533–534 Steimer, Hans Gerhard 5, 11, 68–69, 353, 366, 417 Steiner, Franz Baermann 442 Steiner, Kilian von 69
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Anhang
Steinkopf, Johann Friedrich 3, 238, 428–429 Stephanus, Henricus (Henri Etienne) 273, 275 Sterne, Lawrence 519 Stevens, Wallace 492 Stewart, Susan 492 Stiening, Gideon 195 Stierlin, Helm 60, 63 Stifter, Adalbert 477, 539 Stockhausen, Karlheiz 554 Stoevski, Dimitŭr 480 Stolberg, Christian, Graf zu 321 Stolberg, Friedrich Leopold, Graf zu 96, 180, 303, 321 Storck, J.W. 447 Storr, Gottlob Christian 29, 33, 75, 77, 80–81 Strack, Friedrich 117, 119, 200–201, 246 Straub, Jean-Marie 236, 533, 541 Strauss, Richard 550 Strauß, Emil 522 Strauß, Ludwig 441–442 Strick van Linschoten, Paul 25 Ströhlin, Friedrich Jakob 38, 52 Strugalai, Wojciech Izaak 481 Stuart, Johann 197 Sturz, Friedrich Wilhelm 218 Suchier, Hermann 471 Suita, Junsuke 498–501 Sulzer, Johann Georg 77, 96, 272 Suphan, Bernhard 5 Susman, Margarete 440 Sutor, Johanna Rosina siehe Heyn, Johanna Rosina Suyama, Tsutomu 499 Szerb, Antal 479 Szewák, István 478 Szondi, Peter 138–139, 153, 156, 171, 215, 225, 235, 352, 359–360, 367– 369, 377–379, 418, 425, 438, 450– 451, 453–455, 462, 483, 491 T Tabori, George 534 Tadjanovič, Dragutin 478 Takabe, Rinshô 501 Takagi, Masafumi 501–502 Takahashi, Hidemasa 502 Takahashi, Teruaki 501 Takao, Kunio 499 Takeda, Tatsuya 502 Talleyrand-Périgord, CharlesMaurice de 20 Tani, Tomoyuki 500–501 Tano, Takeo 502 Teboul, Jacques 544 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 217– 218
Tezuka, Tomio 501 Theophrast 74 Théremin (frz. Diplomat) 25 Thill, Johann Jakob 324 Thukydides 74 Thurmair, Gregor 396 Thürmer, Wilfried 60, 414 Tieck, Ludwig 121–122, 134, 518 Tiedemann, Dietrich 217 Tolusso, Fulvio 487 Trakl, Georg 410, 470, 482, 484, 524, 528, 539, 551 Traverso, Leone 486 Trawny, Peter 334, 447 Treibmann, Karl Ottomar 558 Treilhard, Jean Baptiste 20 Trouvé (frz. Gesandter) 25 U Uecker, Günther 543 Uffhausen, Dietrich 11–12, 59, 88, 334, 349–350, 397–400, 403–404, 406, 542, 544 Uhland, Ludwig 4, 68–69, 392, 434, 479, 516–517, 539 Uhland, Ludwig Joseph 33, 80 Ulive, Ugo 495 Ullmann, Viktor 460, 552 Ullrich, Volker 19 Ulrich, Herzog von Württemberg 30, 81, 352, 516 Ulrich, Johann August Heinrich 76 Ungaretti, Guiseppe 486 Usui, Takejirô 499 Utz, Peter 165 V Valeri, Diego 486 Valverde, José María 472 Varnhagen, Rahel (geb. Levin) 518, 520 Varnhagen von Ense, Carl August 68, 520 Veit, Dorothea 121 Velde, Bram van 537–538, 541–542 Velestinlis, Rigas 196 Veress, Sándor 555–556 Vergil 285–286, 304, 405, 494 Vergniaud, Pierre 18–19 Vermehren, Bernhard 335 Vernant, Jean-Pierre 235 Verwey, Albert 433, 436, 474 Vestrheim, Gjert 475 Vico, Giambattista 537 Viëtor, Carl 42, 320, 417 Vigoda, Frank L. 493 Vigolo, Giorgio 486 Villon, François 477 Vilstrup, Harald 474 Vinyoli, Joan 473
Vischer, Friedrich Theodor 119 Vitiello, Gennaro 487 Vivarelli, Vivetta 486 Vöhler, Martin 406 Volkening, Ernesto 495 Volmar, Friederike Juliane 35 Volney, Constantin-François 353 Voß, Johann Heinrich 160, 494, 516 Voß, Johann Heinrich d. J. 296 Vossler, Karl 471–472 W Wackenroder, Wilhelm Heinrich 95, 121, 134 Wackernagel, Karl Eduard Philipp 4 Wackernagel, Wilhelm 549 Wagner, Christian 522 Wagner, Gisela 216 Wagner, Richard 550 Waibel, Violetta L. 90, 249, 425, 511 Waiblinger, Wilhelm 54, 57–59, 64, 68–70, 410–411, 471, 478, 513, 516– 517, 520, 522, 528, 535, 537, 539, 544, 553 Wais, Kurt 83 Walser, Jürg Peter 135 Walser, Martin 528, 534 Walser, Robert 470 Walz, Erich 540 Wandel, Uwe Jens 318 Wang Guowei 504 Wang Zuoliang 505 Warminski, Andrzej 370, 382, 491 Wat, Aleksander 481, 493 Watanabe, Kakuji 499–500 Watkins, Vernon 491 Watteville (Wattenwyl), von (Familie) 49 Weber, Alfred 433 Weber, Christian Friedrich 33 Webern, Anton 551 Weichert, Richard 530–531 Weilnböck, Harald 458, 463 Weinheber, Josef 458–459, 525 Weinholz, Gerhard 463 Weinland, Johann Christoph 31 Weishaar, Jakob Friedrich 47 Weiss, Peter 9, 438, 474, 528, 533 Wellmer, Arnold 478 Weltsch, Robert 438 Wendt, Ernst 533 Werner, Judith 447 Wertheimer, Jürgen 529 Wetzel, Christian Ludwig August 52 Whitman, Walt 491–492, 551 Wieland, Christoph Martin 47, 205, 217, 238 Wigand, Otto 513 Wildberger, Jacques 60, 555 Wilmans, Friedrich 3, 49, 58, 180, 187,
Personenregister 264, 292, 344, 350–351, 361, 389, 396, 417, 428–429, 451, 519 Winckelmann, Johann Joachim 77– 78, 196, 207, 308, 325, 425 Windfuhr, Manfred 7 Wirth, Robert 393 Wit, Jan 474 Wittgenstein, Ludwig 277 Wittkop, Gregor 62, 64, 417, 463 Wivel, Ole 474 Wizenmann, Thomas 75 Wocke, Helmut 457, 459, 461, 511, 515, 523–524 Wolf, Christa 529 Wolf, Gerhard 462 Wolf, Hugo 552 Wolfenstein, Alfred 439 Wolff, Christian 9, 78–79, 85, 493 Wolff, Helen 493 Wolff, Kurt 493 Wölfflin, Heinrich 433 Wolfskehl, Karl 433–436 Woltmann, Caroline von 513, 520 Wondratschek, Wolf 529 Wordsworth, William 491 Wright, Kathleen 447
Wühr, Paul 529 Wüstemann, Max 69 X Xenophon 74 Xian Gang 505 Y Yahaba, Takashi 502 Yamada, Shin’nosuke 499 Yamagishi, Mitsunobu 499 Yang Yezhi 504 Yasuda, Yojûrô 499 Young, Edward 95, 304, 350 Yu Xiangsen 504 Yu-Gundert, Irmgard 356 Z Zaccarias, Gino 487 Zagajewski, Adam 481 Zagari, Luciano 487 Zahradníček, Jan 477 Zanzotto, Andrea 486, 488 Zbikowski, Reinhard 391, 404 Zedler, Johann Heinrich 217, 404 Zeerleder, Ludwig 40, 197
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Zeller, Gustav Hermann 57 Zeller, Hans 8 Zeller, Ludwig 495 Zeller, Vera 495 Zeltner (helvetischer Gesandter) 49 Zender, Hans 557 Zhang Hongyan 506 Zheng Zhenduo 504 Ziegler, Susanne 447 Ziller, Karl 69, 243 Zimmer (Familie) 57–58, 70, 516 Zimmer, Charlotte (Lotte) 57, 59, 64, 70, 481, 536, 546 Zimmer, Ernst 59, 64, 69, 195, 409, 411–412, 420, 483 Zimmer, Marie Elisabetha 59, 70, 409 Zinkernagel, Franz 5–6, 63, 68–69, 245–246, 284–287, 393–395, 400, 417, 434 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, Graf 28 Zuberbühler, Rolf 322, 522–523 Zumsteeg, Johann Rudolf 89, 548 Zuntz, Günther 442 Zweig, Stefan 69, 413, 438, 459, 491 Zwiener, Susanne 12, 214 Zwilling, Jacob 47, 256