Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven 9783110226263, 9783110226256

Narratology has experienced a boom in the past two decades. Narratologists have developed a differentiated set of instru

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German Pages 450 Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka
Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse
Vom Kipp-Phänomen überrollt
Finalitätsbewältigung?
evidentia
Ich-Erzähler ohne Stimme
Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie
Vorausdeutungen
‚Historische Narratologie‘?
Fiktionalität in französischen Artustexten
„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“ (1 Kor 13:12)
Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen?
Fremde Kohärenz
Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung
Erzählen vom Tod im Parzival
„Schreib nie einen Roman aus der Perspektive einer Türklinke!“
Streitgespräch
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Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven
 9783110226263, 9783110226256

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Historische Narratologie ⫺ Mediävistische Perspektiven

Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 19

De Gruyter

Historische Narratologie Mediävistische Perspektiven Herausgegeben von Harald Haferland · Matthias Meyer unter Mitarbeit von Carmen Stange · Markus Greulich

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022625-6 e-ISBN 978-3-11-022626-3 ISSN 1612-443X Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die Beiträge dieses Bandes sind auf einer Tagung an der Universität Osnabrück vom 22. bis zum 25. November 2007 vorgetragen und für den Druck überarbeitet worden. Ausgangspunkt der Tagung war für die Herausgeber ein Gefühl des Unbehagens über den Umgang mit narratologischen Begriffen in Bezug auf die Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Eckpunkte unserer eigenen Differenzen haben wir in einem freien Streitgespräch (abgedruckt am Schluss des Bandes) vorab zu klären und festzulegen versucht, das den Tagungsteilnehmern zur Verfügung stand. Es sollte unsere unterschiedlichen Intuitionen im Zugang zu dem Problem herausstellen. Die Vorträge vermochten dann vieles zu präzisieren und entfalteten ein großes Spektrum an Positionen und Perspektiven. Wir möchten zuallererst den Beiträgern für Ihre Bereitschaft danken, sich auf die Fragestellungen einzulassen. Für die Finanzierung der Tagung danken wir der Fritz Thyssen-Stiftung, für die Aufnahme in die ‚Trends in Medieval Philology‘ den Herausgebern der Reihe. Carmen Stange und Markus Greulich haben uns bei der Herstellung des Buchs entscheidend geholfen. Harald Haferland und Matthias Meyer Osnabrück und Wien im Januar 2010

Inhalt HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER Einleitung ............................................................................................................. 3 VOLKER MERTENS Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka ...... 17 NINE MIEDEMA Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse ................... 35 MARIA E. MÜLLER Vom Kipp-Phänomen überrollt. Komik als narratologische Leerstelle am Beispiel zyklischen Erzählens ................................................. 69 STEFAN FUCHS-JOLIE Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens ..................................................................... 99 GERT HÜBNER evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen .............................................. 119 SONJA GLAUCH Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte ......................... 149 MARKUS STOCK Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie ......................... 187 MARTIN BAISCH Vorausdeutungen. Neugier und Spannung im höfischen Roman .......... 205 HARTMUT BLEUMER ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg ................................................................... 231

Inhalt

BRIGITTE BURRICHTER Fiktionalität in französischen Artustexten .................................................. 263 MONIKA FLUDERNIK „Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“ (1 Kor 13:12). Die Entstehung des Bewusstseins in der englischen Literatur, 1050-1500 .......... 281 FLORIAN KRAGL Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen? Oder: Warum bei höfischen Romanen Langeweile das letzte Wort hat und wieso Seifrit das bei seinem Alexander nicht wusste ......................................................... 307 ARMIN SCHULZ Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik ................................................................................... 339 UTA STÖRMER-CAYSA Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung. Über die zyklische Raumzeitstruktur vormoderner Erzählungen mit biographischem Schema .... 361 UDO FRIEDRICH Erzählen vom Tod im Parzival. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter ................................................. 385 URSULA KOCHER „Schreib nie einen Roman aus der Perspektive einer Türklinke!“ Möglichkeiten und Grenzen einer historischen Narratologie .................. 415 HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER Streitgespräch ................................................................................................... 429

HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER

Einleitung I. Erzählen erscheint als anthropologische Konstante. Es sieht so aus, als hätte man immer schon erzählt, Tiererzählungen etwa dürften ein besonders hohes Alter haben.1 Vertretern von bekannten, in der Natur leicht zu beobachtenden Tierarten werden in diesen Erzählungen menschliche Eigenschaften zugeschrieben. Das Erzählverfahren geht dahin sich auszumalen, wie die Tiere agieren, wenn sie sich menschengleich verhalten. Gern übervorteilen oder überlisten sie einander. Die indianischen KojoteErzählungen unterscheiden sich z. B. hierin kaum von den europäischen Wolf- oder Fuchs-Erzählungen.2 Interessant ist nun, wie dies erzählt wird, denn charakteristische Grundeigenschaften des Erzählens werden sich immer gleich geblieben sein, darunter etwa die Verwendung der direkten Rede: der Wortwechsel der Tiere wird in direkter Rede erzählt worden sein.3 Immer schon wird man eine Vergangenheitsform verwendet und zumeist dürfte man für ein Erzählen um der Unterhaltung willen auch einen in sich abgeschlossenen Plot gebildet haben. Das wiederum bedeutet, dass man aus einer Art auktorialer Allwissenheit heraus erzählen musste, aus der heraus eine Erzählhandlung überhaupt nur abgerundet erzählbar wird. Denn man muss z. B. angeben (können), was eine Figur vorhat und was sie will, wenn man sie auf den Weg schickt. _____________ 1

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Vgl. den Artikel ‚Animal Tale‘ in: Funk and Wagnalls Standard Dictionary of Folklore, Mythology and Legend. Hrsg. von MARIA LEACH. Bd. 1, New York 1949, S. 61f., mit der Einschätzung: „one of the oldest forms, perhaps the oldest, of the folktale, and found everywhere on the globe at all levels of culture“ (S. 61). Vgl. auch DIETZ-RÜDIGER MOSER: Artikel ‚Alterbestimmung des Märchens‘. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 1, Berlin, New York 1977, Sp. 407-419, mit der Literatur zum Problem. Vgl. die Beispiele in der Sammlung von FRANK HAMILTON CUSHING: Zuñi Folk Tales, New York 1931. Die intensive Verwendung der direkten Rede fällt in CUSHINGs Sammlung (Anm. 2) auf.

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Harald Haferland und Matthias Meyer

In einigen europäischen Märchen und ihren Motiven sind schamanistische Vorstellungen erhalten geblieben,4 so dass man Erzählen schon in eine Zeit früher Jäger- und Sammlerkulturen zurückdatieren kann. Aus ihnen stammt wohl der älteste Motivbestand heute noch anzutreffender Erzählfolklore in aller Welt. WALTER BURKERT hat für den elementaren Plot der Suche und des zur Suche und Bewährung ausziehenden Helden sogar ein letztlich biologisches Programm ausfindig machen wollen: die Futtersuche. Danach läge einer entsprechenden narrativen Handlungsfolge ursprünglich der Nahrungsinstinkt zugrunde, der eine solche Handlungsfolge anthropologisch entschlüsselbar werden ließe.5 Man wird diesen Instinkthintergrund schwerlich noch wahrnehmen, aber gewiss bilden Instinkte die entfernte Voraussetzung komplexer geordneter Handlungsfolgen, ohne die wiederum ungeachtet erheblicher evolutionärer Distanz Erzählungen nicht möglich wären. Bedeutet das nun, dass Erzählungen sich letztlich immer gleich geblieben sind? Ja und nein. Ja, weil sie in der Tat elementare Grundeigenschaften teilen. Nein, weil sie mit den Gesellschaften eine Evolution und eine Geschichte durchlaufen haben, die sie nicht unberührt lassen konnte. So hat insbesondere die Entwicklung der Medien einen gravierenden Einfluss auf das Erzählen: Nachdem man über Schrift verfügte, konnte man Erzählungen aufzeichnen. Das löste sie von der Angewiesenheit auf das Gedächtnis und musste ihre Formen diversifizieren. Am Einsatz der direkten Rede lässt sich das beobachten: Gilt für die aus dem Gedächtnis geholte mündliche Erzählung im Allgemeinen das ‚Gesetz der szenischen Zweiheit‘,6 nach dem möglichst nicht mehr als zwei Personen auf einem Schauplatz versammelt werden und miteinander sprechen, so lässt der Roman ohne weiteres mehr Personen zu. Die mediale Exteriorisierung erlaubt hier ein höheres Maß an Komplexität. Liegt eine Erzählung in schriftlicher Aufzeichnung vor, dann kann diese irgendwann einem Lesevortrag zugrunde liegen, und irgendwann lesen Leser nur noch für sich selbst. Dichter gehen dazu über, Erzählungen für den Akt des Lesens einzurichten. Das bedeutet, sich auf die besondere Aufmerksamkeit und den Vorstellungsraum des einsamen Lesers – die/der durchaus anders beschaffen ist als bei einem Hörer – einzustellen und die Formen des Erzählens so ein- und auszurichten, dass dieser Raum vollständig ausgefüllt wird. Möglicherweise gibt es in diesem Sinne _____________ 4 5 6

Vgl. JÖRG BÄCKER: Artikel ‚Schamanismus‘. In: Enzyklopädie des Märchens (Anm. 1), Bd. 11, Berlin, New York 2004, Sp. 1200-1230, hier Sp. 1213f. WALTER BURKERT: Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998, Kap. III. Vgl. BENGT HOLBEK: Artikel ‚Epische Gesetze‘. In: Enzyklopädie des Märchens (Anm. 1), Bd. 4, Berlin, New York 1984, Sp. 58-69, hier Sp. 63.

Einleitung

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einen Zusammenhang zwischen dem stillen Lesen und dem Erschließen der Imaginationskraft des Lesers durch Dichter. Die mediale Umstellung des Erzählens auf ein bestimmtes Lesen hin liegt zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit, und es ist, wenn man etwa an den Film, an Internetentwicklungen wie das ‚Second life‘, aber auch an rezente Erscheinungen im Bereich des Literaturmarkts denkt, durchaus nicht die letzte mediale Umstellung. Erzählungen haben sich also verändert und verändern sich noch. Wie aber geht man kategorial mit ihrem Veränderungspotential um? Mit welchen Begriffen beschreibt man sie über ihre Veränderungen hinweg, wenn man sie interpretiert? Die Problematik beginnt schon bei den Gattungsbegriffen: Ist ein Epos ein Roman und ein Roman ein Epos? Ist die Ilias fiktional, weil – so nicht wenige Einführungen in die Literaturwissenschaft – Literatur und allemal Erzählliteratur immer schon fiktional ist? Folgendermaßen ließe sich argumentieren: Ein allwissend erzählter, abgeschlossener Plot muss ‚automatisch‘ immer schon mit Fiktionalität einhergehen. Dann war aber auch eine Tiererzählung aus einer Zeit von vor ca. 30.000 Jahren schon fiktional. Sie musste es etwa auch deshalb sein, weil es ja sprechende Tiere gar nicht gibt. Angesichts einer solchen radikalen Rückdatierung narrativer Umstände könnte man nun an die Ilias auch mit dem sehr viel weitergehenden deskriptiven Apparat herangehen, wie er am Roman der Neuzeit entwickelt wurde. Dann gäbe es etwa eine narrative Instanz in der Ilias, einen Erzähler; und es gäbe eine variable Erzählperspektive, die nicht nur die auktoriale Sicht, sondern auch die Sicht der Figuren vermittelt. Wenn es auf der elementaren Ebene der Grammatik und Textgrammatik liegende Grundeigenschaften des Erzählens gibt, die es immer schon gab, so stellt sich aber doch die Frage, ob etwa die Begriffe der Fiktionalität, der Erzählinstanz und der Erzählperspektive nicht unscharf werden und nichts Charakteristisches mehr beschreiben, wenn sie in ihrer Anwendung über die gesamte Geschichte des Erzählens gestreckt werden. Es wäre dagegen zu erwägen, ob man nicht Schnitte setzt und Fiktionalität an notwendigen und hinreichenden Bedingungen festmacht, die erfüllt sein müssen. Zwar sind Plot und Figuren von Tiergeschichten erfunden, aber diese Art Erfindung muss nicht hinreichend sein für Fiktionalität. Schon gar nicht wäre die Ilias fiktional, wenn sie doch von einem historischen Ereignis zu erzählen beansprucht. Es gehört ein besonderer Entwicklungsstand des Erzählens dazu – eine stillschweigende Abgestimmtheit von Dichtern und Lesern etwa über den Status des Erzählten –, damit Fiktionalität vorliegt. Unter diesen Umständen wird Fiktionalität nicht immer schon, sondern irgendwann zum ersten Mal vorliegen. Fragen wie die, die wir hier streifen, stellen sich in dringlicher Weise für die Erzähldichtung des Mittelalters, für das Nibelungenlied und den Parzival

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etwa, zwei Dichtungen von ganz unterschiedlicher Machart und Provenienz. Denn mittelalterliche Literatur liegt auf einer medialen Schwelle, die den Übergang zur Neuzeit kennzeichnet. In den Klöstern wird zwar einsam gelesen, aber hier liest man eher antike und wenn zeitgenössische, dann lateinische und keine volkssprachige Literatur. Doch bereits im 13. Jahrhundert lassen sich grundlegenden Änderungen auch in der höfischen Literatur finden, die auf die private Lektüre als zumindest einen wichtigen Rezeptionsmodus hinweisen. Produktion und Rezeption von volkssprachiger Literatur unterliegen Bedingungen, die sich auf dem Weg in die Moderne mehrfach einschneidend ändern werden. Damit könnte aber auch infrage stehen, ob und wie narratologische Terminologie und Analyse auf sie anzuwenden sind. II. Die Narratologie ist zu einer etablierten Teildisziplin der Literaturwissenschaft geworden, und es gibt mittlerweile eine ganze Reihe grundlegender Darstellungen und Nachschlagewerke sowie Einführungen.7 Dabei hat sich ein recht klar umrissenes Instrumentarium analytischer Begriffe herausgeschält, zu dessen Zustandekommen die scharfsichtigen Analysen GÉRARD GENETTEs besonders beigetragen haben. Dazu gehören etwa die Differenzierung von Geschehens- und Erzählfolge, von Handlungsund Erzählebene,8 die narrative Instanz und/oder Stimme, die Perspektive und/oder Fokalisierung und die Unterscheidung verschiedener elementarer Mittel zur Darstellung des Figurenbewusstseins – wie Soliloquium, Gedankenbericht (Psychonarration) und innerer Monolog – sowie der _____________ 7

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Zu nennen wären etwa: GÉRARD GENETTE: Die Erzählung. Aus dem Frz. von Andreas Knop, mit einem Nachw. hrsg. von JOCHEN VOGT, München 1994; SHLOMITH RIMMONKENAN: Narrative Fiction, London, New York 1983; MIEKE BAL: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto, Buffalo, London 21997; MONIKA FLUDERNIK: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London, New York 1996; HORACE PORTER ABBOTT: The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge 2002; LUC HERMAN/BART VERVAECK: Handbook of Narrative Analysis, Lincoln, London 2005; A Companion to Narrative Theory. Hrsg. von JAMES PHELAN/PETER J. RABINOWITZ, Oxford u. a. 2005; Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Hrsg. von DAVID HERMAN/MANFRED JAHN/MARIE-LAURE RYAN, London, New York 2008. In Deutschland hat sich folgende Einführung große Verdienste erworben: MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999 (mittlerweile in der 6. Auflage erschienen). Vgl. außerdem MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006. Eine Übersicht zu den unterschiedlichen Terminologien vgl. bei MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 7), S. 26.

Einleitung

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Formen der Figurenrede, d. h. der direkten, indirekten und erlebten (bzw. der freien indirekten) Rede. Dieses Instrumentarium ist an der modernen Literatur, am Roman seit dem 18. Jahrhundert, entwickelt worden, auch wenn in Einzelfällen zumindest vom Anspruch her Universalität angestrebt wird.9 Mittlerweile wird es zusammen mit dem analytischen Ansatz zunehmend auch in der Mediävistik rezipiert.10 In den letzten Jahren schießen Arbeiten aus dem Boden, die auf die eine oder andere Weise an narratologische Analysen und ihre Begriffsbildung anknüpfen. Eine Diskussion, die die verschiedenen Zugriffe zusammenführt oder auch nur gegeneinander differenziert, ist in der Mediävistik noch nicht geführt worden. Dabei ist eine historische Dimensionierung der Narratologie dringlich und notwendig, das Interesse daran gerechtfertigt, die Form aber noch offen. Denn es ist ungeklärt, ob es sich dabei um eine Anwendung auf einen um die mittelalterliche Literatur unproblematisch zu erweiternden Gegenstandsbereich handelt oder um eine – mit Abwandlung und Anpassung der Begriffe, ja mit Kontrast- und Gegenbegriffen bewerkstelligte – Übertragung auf einen neuen, andersartigen Gegenstandsbereich. Als Veranstalter der Osnabrücker Tagung haben wir ein Streitgespräch miteinander geführt, das die Reichweite der Problematik erkennen lassen, die Spannweite der berührten Probleme ermessen und die Grundsätzlichkeit der Fragestellung ausloten sollte. Das Streitgespräch ist als letzter Text mit abgedruckt. Den Tagungsteilnehmern war freigestellt, sich innerhalb des hier umrissenen Diskussionsrahmens zu situieren, sei es konfrontativ oder vermittelnd. Am Begriff einer historischen Narratologie, wie immer sie konzipiert wird, wollen wir als Herausgeber trotz aller Kontroversen festhalten; sei es, um ihr kategoriales Gerüst historisch gewendet zu sehen, oder sei es in der Erwartung, dass sich die kategorial fixierten Phänomene selbst als historisch entstanden erweisen lassen. In diesem Sinne hat etwa MONIKA FLUDERNIK das Projekt einer historischen Narratologie skizziert.11 Sie sucht u. a. nach ersten Belegen. In der Tat lässt sich vielfach aufzeigen, wo Erzählformen und -verfahren zum ersten Mal, sei es vereinzelt oder in relativer Dichte, vorkommen. So müsste sich zum Beispiel rekonstruieren lassen, wo zum ersten Mal Zeitadverbien mit dem Präteritum kombiniert werden und wo dies in erlebte Rede umschlägt (vgl. das vielfach zitierte Beispiel: „Morgen war Weih_____________ 9 10 11

JAMES PHELAN: Reading People, Reading Plots. Character, Progression, and the Interpretation of Narrative, Chicago, London 1989. Für die deutsche Literatur des Mittelalters auf breiter Front zuerst durch das Buch von GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003. FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 7), Kap. 10.

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nachten“12). Es müsste sich zeigen lassen, wo die erlebte Rede unzweifelhaft verwendet wird,13 wobei sich freilich fragen lässt, ob nicht erst ihre intensive Häufung der Bewusstseinsdarstellung dient. Mit steigender Komplexität der Phänomene und des definitorischen Zugriffs entstehen Probleme nicht nur angesichts der Frage des Erstbelegs, sondern auch der Abgrenzung zwischen einem möglicherweise allgemein anerkannten Erstbeleg und seiner nicht immer durchsichtigen Vorgeschichte. Man denke an Phänomene wie den inneren Monolog, den unzuverlässigen Erzähler oder die Entfaltung der Sicht einer Figur. Noch schwerer entscheidbar, vielleicht gar außerhalb definitorischer Setzungen unlösbar, werden vermutlich Fragen bleiben wie die nach dem ersten Auftreten des Romans, eines Erzählers und der Fiktionalität. Hierbei wird sich nicht nur die Suche nach Erstbelegen als relevant erweisen, sondern auch die übergreifende Fragestellung. Wichtig ist auch zu beobachten, in welchen Zusammenhängen narrative Verfahren gehäuft auftreten, auf welche thematischen, mimetischen oder gattungstechnischen Probleme bestimmte Verfahren eine offenkundig probate Antwort liefern – und warum sie nur in bestimmten literaturgeschichtlichen Situationen erscheinen. Offen ist, ob sie wirklich einer ‚Teleologie‘ von Komplexität unterliegen, wie unser Streitgespräch dies problematisiert. Man wird also trennen müssen, wo insbesondere Erzählverfahren mit einem ‚zum ersten Mal‘ indiziert werden können und wo sich eine entsprechende Indizierung nicht vornehmen lässt. Allemal kann niemand mehr sagen, wo zum ersten Mal die direkte Rede verwendet wurde. Aber allein eine entsprechend vorgenommene ‚Historisierungsprobe‘ schärft in vielen Fällen das Bewusstsein für die Historizität narratologisch zu erfassender Phänomene. Was die Probe nicht erfasst, erweist sich vorerst als Konstante oder als – im Bereich kultureller Erzeugnisse durchaus häufig zu erwartende – Singularität. Insbesondere Mediävisten sind aber gefordert, sich auf die Probe einzulassen und sie zu verfeinern. III. Wir wollen nun kurz die Beiträge vorstellen: VOLKER MERTENS (‚Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka‘) zeigt anhand seiner drei Beispieltexte, dass narratologische Reflexion bereits in _____________ 12

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Dazu KÄTE HAMBURGER: Die Logik der Dichtung, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 31980, S. 70ff. Tatsächlich begegnet Vergleichbares schon in der höfischen Literatur, ohne dass man hier erlebte Rede veranschlagen kann: Vgl. etwa den Iwein Hartmanns von Aue, V. 2076f. und 4720f., sowie den Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven, V. 3930f. und 7169f. Vgl. die klassische Monographie: ANN BANFIELD: Unspeakable Sentences. Narration and Representation in the Language of Fiction, Boston u. a. 1982, bes. Kap. 6.

Einleitung

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Texten der höfischen Literatur anzutreffen ist. Chrétien de Troyes thematisiert in seinem Erec-Prolog die Ablösung der wohlstrukturierten Schriftdichtung von den kunstlosen oralen Erzählungen der matière de Bretagne, und Hartmann von Aue übernimmt in seinem Erec von Chrétien die Betonung der Prozesshaftigkeit des Dichtens und seines Vortrags. Während dies noch eine Konzession an die Bedingungen oraler Dichtung darstellt, ist Strukturiertheit dagegen das zentrale Merkmal der Schriftdichtung, wie es sich am Eneasroman Heinrichs von Veldeke aufzeigen lässt. Doch entsteht diese Struktur noch – so wird dann an Hartmanns Beschreibung des Sattels Enites im Erec deutlich – in einem Prozess der Interaktion zwischen dem Erzähler/Autor mit den Hörern, wie ihn auch die orale Dichtung kennt. Während der Sinn der Erzählung bei Hartmann dann aber aus der Struktur abgeleitet wird, ist das ganz anders im Tristan Gottfrieds. Gottfried spricht dem Text und seiner Handlung Sinn in den Erzählerkommentaren allererst zu, aber auch er will die kontingente Begegnung der Hörer/Leser mit dem Text nicht ausschalten: Sinn entsteht in dieser Begegnung aus der Vieldeutigkeit des Textes. Es ist – so das Resümee von MERTENS – der Medienwandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, der als narrativierte Narratologie bei Chrétien, Heinrich, Hartmann und Gottfried reflektiert wird. NINE MIEDEMA (‚Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse‘) möchte eine zumindest vortheoretische narratologische Reflexion in der bewussten Gestaltung des Gegensatzes von Erzähler- und Figurenrede in mittelalterlicher Literatur aufzeigen. Ein zunehmendes Interesse an der narrativen Erschließung des Innenraums der Figuren spiegelt sich im verstärkt verwendeten Gedankenbericht, der Gedankenrede und in Ansätzen zur erlebten Rede (diese schon bei Otfrid?). Am Beispiel des Dialogs zwischen Trevrizent und Parzival in Wolframs Parzival indes lässt sich eine implizite dialogisierte Narratologie erweisen, die höchst bewusst mit der Gestaltung des Figurendialogs umgeht. Wolfram scheint hier auch zeitgenössisches Dialogwissen (Bußpraxis) zu verarbeiten und weist dem Dialog eine neue Stelle im Erzählen zu. MARIA E. MÜLLER (‚Vom Kipp-Phänomen überrollt. Komik als narratologische Leerstelle am Beispiel zyklischen Erzählens‘) hebt auf narrative Techniken der Generierung von Komik ab, die von der disziplinären Narratologie eher stiefmütterlich behandelt worden sind. Sie geht dazu auf die zumeist zyklisch angelegten Sammlungen komischer Texte (Novellen, Schwänke, Mæren usw.) und im Besonderen auf den Pfaffen Amis des Strickers ein. Hier ist schon im Prolog eine Leitambiguität versteckt, die daraufhin den gesamten Text doppelbödig werden lässt und eine Kettenreaktion des ständigen Umkippens in den seriell angereihten Episoden in Gang bringt. Auch in den anderen herangezogenen Erzählzyklen – pro-

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minent im Decameron – lässt sich das Komische immer wieder als kalkulierte A-Systematik und als Kipp-Phänomen erweisen. STEPHAN FUCHS-JOLIE (‚Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens‘) sieht im Tabu, wie die Erzählungen im Stoffschema der ‚gestörten Mahrtenehe‘ es als Erzählkern setzen, eine finale Motivierung, die das Erzählen geradezu generiert, da das Tabu gebrochen wird. Am Beispiel der Stoffvariante des Peter von Staufenberg zeigt sich entsprechend eine vollständige Unbekümmertheit um kausale Motivierungen oder um ein Verständlichmachen des Handlungs- und Erzählverlaufs, während es zeitgleich durchaus Versuche zu einer ‚Entfinalisierung‘ oder ‚Finalitätsbewältigung‘ des Stoffs gibt, die den finalen Nexus von Tabubruch und Tod aufbrechen und problematisieren. FUCHS-JOLIE zieht aus dieser Ungleichzeitigkeit synchroner Tendenzen den Schluss, mit der Verlegung von Epochenschwellen vorsichtig und stattdessen interpretatorisch differenziert mit der anzutreffenden Vielfalt von Literatur umzugehen. Die narratologischen Kategorien werden dabei allerdings konstant gehalten. GERT HÜBNER (‚evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen‘) führt den modern erscheinenden Charakter bestimmter mittelalterlicher Erzählformen (erzählte Wahrnehmung, Affekt- und Reflexionsdarstellung) auf ihre Verankerung in der antik-mittelalterlichen Rhetorik zurück, hier in der Lehre von der evidentia. Will ein Redner für die Glaubwürdigkeit seiner Rede sorgen, so tut er das am besten, wenn er etwas ad oculos der Zuhörer demonstriert: so als würde es sich vor ihren Augen abspielen. Erzeugung von Augenschein ist in ihren verschiedenen Formen üblicher Gegenstand rhetorischer Schulübungen, taucht dann aber als narratives Verfahren einer Vergegenwärtigung durch die Ohren in der Dichtung auf, besonders der des Mittelalters. Hier lässt sich am Brief Alexanders aus Indien aus dem Straßburger Alexander zeigen, dass gegen die spätantike Vorlage evidentia-Formen (‚wir haben erlebt, dass [...]‘) in auffälliger Weise Einzug ins Erzählen halten. Erzähltes Geschehen wird in erzählte Figurenwahrnehmung verwandelt, wozu ein ganzer Apparat von Techniken dient. Dies steht trotz erheblicher Ähnlichkeit der Techniken nach HÜBNER nicht im Dienst einer Perspektivierung oder Fokalisierung, sondern im Dienst einer Verstärkung von Glaubwürdigkeit, erklärt sich also auf einem historisch ganz anders ausgerichteten Hintergrund. Anders in Hartmanns Iwein, wo in Kalogrenants Erzählung der Brunnen-âventiure der Standpunkt einer Figur privilegiert wird. Auch dies reicht noch nicht heran an den modernen Fokalisierungsbegriff. Stattdessen lässt sich argumentieren, dass sich das, was uns am mittelalterlichen Erzählen modern erscheinen könnte, einer aus der Antike rührenden Anthropologie und Lehrtradition verdankt.

Einleitung

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SONJA GLAUCH (‚Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte‘) hat an einer als Nachtrag der Chronik der Grafen von Zimmern folgenden Reimpaarerzählung die Überlagerung zweier inkompatibler Erzählhaltungen beobachtet: Einerseits erscheint der Graf Johann Werner von Zimmern als homodiegetischer Erzähler eigener Erlebnisse, zugleich aber erzählt er Dinge, die nur ein ‚auktorialer‘ heterodiegetischer Erzähler ‚wissen‘ kann, denn er kennt das Innenleben der Personen, von denen er erzählt. GLAUCH hält dies nicht für eine narrative Ungeschicklichkeit, sondern für einen prinzipiellen Zug mittelalterlichen Ich-Erzählens, wie sich besonders an nicht-gerahmten Ich-Erzählungen zeigen lässt. Es kommen hier zumal die Minnereden in Betracht: Eigentlich handelt es sich um ‚PseudoErzählungen‘, denn alles liegt am diskursiven Appell und der Botschaft, während das Erzählte schematisch, die Figuren unkonkret und selbst der Ich-Erzähler ohne irgend individuelles Profil bleiben. Die auctoritas des Redenden zählt dagegen. Das aber ist der jeweilige Dichter, der sich gleichwohl nicht aufs autobiographisch Besondere einlässt, sondern im Allegorisieren verbleibt. So darf man in solchen Fällen nicht nach zugrunde liegenden Erlebnissen fragen, vielmehr wird Erfahrung exemplifiziert: anhand von stilisierten und zur Not auch erfundenen Erlebnissen. Hierfür bieten sich Träume, Visionen oder Allegorien geradezu an. GLAUCH folgert: Fingiert werde zuerst ein erlebendes Ich, während es in der Geschichte des Erzählens erst sehr viel später gelang, auch ein erzählendes Ich zu fingieren. MARKUS STOCK (‚Figur. Zu einem Kernproblem historischer Narratologie‘) versucht, sich angesichts einer in den letzten Jahren immer stärker geforderten Historisierung der Narratologie – nach einem Durchgang durch die vorliegenden Versuche zu einer historischen Narratologie der Figur – der Figurendarstellung im höfischen Roman zuzuwenden. Am Ausritt Erecs mit Enite aus Hartmanns von Aue Erec zeigt er einen Wechsel des Erzählfilters von einer Innensichtrestriktion bei Erec zu einer dezidierten Innensicht bei Enite auf. Hieraus sei auf eine neue Kultur der Innerlichkeit zu schließen. An Enite werde ein charakteristisches Figurenkonzept sichtbar, das sie mit einem verbal veräußerbaren Innenraum zeige, der in Konflikt zur Außenwelt stehe. Insofern könnten die Figuren nicht als statische Handlungsträger gelten, sondern erschienen auf bis dahin nicht gekannte Weise dynamisiert. MARTIN BAISCH (‚Vorausdeutungen. Neugier und Spannung im höfischen Roman‘) hat den Zusammenhang von Neugier und Narration in den Vordergrund seiner Überlegungen gestellt. Danach ist es zunächst Neugier, die das Erzählen stimuliert, Neugier allerdings nach Gelegenheiten zur âventiure – so zumindest stellt es sich für die Hörer der Erzählung

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Kalogrenants aus Hartmanns Iwein dar. Im Herzog Ernst rückt Neugier indes ins Zentrum des Orientteils, erst in einer kritischen, dann aber in einer positiven Bewertung. Indem Ernst seine durch Neugier erworbene Erfahrung – veranlasst durch Kaiser Otto, – erzählen kann, wird sie Wissen. Neugier erscheint auf das Erzählen verwiesen. Darüber hinaus hängt Neugier dann aber auch mit einer Spannung zusammen, wie sie Erzählungen erwecken, die dem Rezipienten Informationen vorenthalten. BAISCH sucht dies am Parzival Wolframs zu demonstrieren. Nach HARTMUT BLEUMER (‚Historische Narratologie? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg‘) ist eine historische Narratologie, die nicht mit starren Zeichenrelationen, sondern mit dynamischen Symbolbeziehungen operiert, adäquater als historische Narrativistik zu bezeichnen. Zur Demonstration einer entsprechend umbenannten Erzählanalyse wählt er sich die Legende und im Besonderen Konrads von Würzburg Silvester. Heiligkeit bestimmt sich nach BLEUMER als paradigmatische Relation, die eine eigene Axiologie enthält und in der Fassung A der Legende syntagmatisch nur unzureichend entfaltet wird. In Konrads Fassung B indes zeigt sich eine syntagmatische Umwertung, die nicht erklärt, wie es zur Konstantinischen Schenkung (so in A), sondern wie es zur Erlösung kommt. Teil der narrativen Struktur ist ein Wunder, das mit der Kausalität der Handlungsabläufe zusammenspielt, das Kausale aber letztlich übersteigt. BLEUMER sieht im Silvester einen beispielhaften Fall metalegendarischen Erzählens, das alle mit der Legende verbundenen Fragen narrativ prozessiert und eine Form des symbolischen Denkens belegt, die sich einer streng aufgefassten Narratologie nicht fügt. BRIGITTE BURRICHTER (‚Fiktionalität in französischen Artustexten‘) geht den Anfängen der Fiktionalität in den frühen arthurischen Texten und bei Chrétien nach. Während sich die volkssprachliche Dichtung noch als Geschichtstradierung versteht, entsteht in Frankreich in der Mitte des 12. Jahrhunderts eine neue Art von Literatur, in der die Referenz auf Faktisches nachgeordnet erscheint. Die von Wace erzählten contes oder aventures spielen sich in einer historiographisch leeren Zeit ab. Sie haben, obwohl nicht erfunden, sondern mündlich tradiert, einen unsicheren Status, sind „nicht ganz Lüge und nicht ganz Wahrheit“, wie Wace bemerkt. Anders als Wace sieht Marie de France die mündlichen contes als ‚wahre‘ Geschichten. Erst Chrétien lässt dann ein deutlich gewandeltes Verständnis erkennen: Ihm erscheinen die Geschichten als ein Fundus, über den frei verfügt werden kann. Chrétien setzt die von Berufserzählern zerstörten Geschichten in neuer Zusammenfügung (conjointure) zusammen und verzichtet zugleich auf einen Wahrheitsanspruch; der Erec-Prolog versetzt die folgende Erzählung dazu erklärtermaßen in den Status der narrativen Autonomie. Die kunstvolle Komposition unterstreicht dies. Im Yvain wird auch ein

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neuer Gattungsbegriff gefunden: der des roman, der die schriftliche Erzählung einerseits von den mündlichen contes und andererseits von den faktisch wahren estoires absetzt. MONIKA FLUDERNIK (‚„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“ [1 Kor 13:12]. Die Entstehung des Bewusstseins in der englischen Literatur, 1050-1500‘) erinnert zunächst an den Begriff des Gedankenberichts und bietet eine Analyse des im Gegensatz zur direkten Rede, zum inneren Monolog, zur erlebten Rede und zur indirekten Rede vernachlässigten Phänomens am Beispiel mittelenglischer Verserzählungen. Sie bildet den übergeordneten Begriff der Bewusstseinsdarstellung, der die genannten Formen einschließt, und kann einen breiten Gebrauch von Formen der Bewusstseinsdarstellung aufzeigen. Dazu gehören der erzählte Affektausdruck, dann die in direkter Rede (Selbstgespräch mit inquit-Formel) verbalisierten Gedanken, der Gedankenbericht, die von einem engaging narrator kommentarmäßig oder mit Anteil nehmenden Ausrufen vorgebrachte Einfühlung in den Protagonisten, die erlebte Rede sowie zwei Sonderformen, die FLUDERNIK ‚kollektives Bewusstsein‘ (so im Anschluss an ALAN PALMER) und virtuelle direkte Rede nennt. Als Ergebnis zeigt sich, dass die in der Narratologie recht strikt vorgenommene Trennung zwischen Rede und Gedanken nicht immer durchgehalten werden kann. Stattdessen lassen sich nicht-verbalisierte Bewusstseinszustände und verbalisierte innere Rede auf Seiten der Rededarstellung und unausgeformte Gefühle, Emotionen und Empfindungen auf Seiten der Bewusstseinsdarstellung unterbringen. Es bleibt ein Forschungsdesiderat: die Darstellung von Subjektivität und Bewusstsein in der Frühen Neuzeit muss als weitgehend unerforscht gelten. FLORIAN KRAGL (‚Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen? Oder: Warum bei höfischen Romanen Langeweile das letzte Wort hat und wieso Seifrit das bei seinem Alexander nicht wusste‘) wendet sich der Rolle von Erzählschemata zu, die bekanntlich in der Höhenkammliteratur des Mittelalters eine größere Rolle spielen, als der moderne Roman sie ihnen noch einräumen würde. Hier nimmt KRAGL sich Happy Endings im höfischen Roman vor, die dem modernen Leser erhebliche Langeweile verursachen, da alle Handlungsfäden höchst iterativ und redundant ins Lot gebracht werden, ohne dass doch die Handlung noch voranschreiten könnte. Wofür im Erec 500 Verse gebraucht werden, dafür braucht der Lanzelet 1700 Verse. In Seifrits Alexander wird diese Schlussmarkierung aber offensichtlich ironisch rezipiert. So schließt KRAGL, dass das Schema in seiner – auch historisch markierten – Varianz besteht und Bestand hat. ARMIN SCHULZ (‚Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik‘) zeigt am Nibelungenlied, dass hier eine narrative Kohärenzbildung vorliegt, die dem modernen Leser fremd-

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Harald Haferland und Matthias Meyer

artig erscheinen muss, denn es ist eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, nacheinander realisierter Handlungsmuster zu konstatieren. Besonders eindrücklich lässt sich das an der Darstellung Siegfrieds in den ersten Aventiuren demonstrieren: Siegfried wechselt gewissermaßen mehrfach seinen ‚Charakter‘. Dies verstößt in auffälliger Weise gegen jede kausale Handlungslogik mit syntagmatischer Kohärenz, vielmehr werden thematische Basiskonfigurationen mit einer Art von paradigmatischer Kohärenz durchgespielt. So wird die Werbung Siegfrieds um Kriemhild gleichzeitig als harmlos-höfische wie als gefährlich-heroische inszeniert. Ganze Episoden dienen der Charakterisierung des Helden, ohne die Handlung voranzubringen; z. T. folgen sie unmotiviert aufeinander. Es gibt eine kontiguitäre Logik, keine kausale. Dies lässt sich aber als ein kardinaler Unterschied zu modernem Erzählen herausarbeiten. Der Frage der Kausalität wendet sich auch UTA STÖRMER-CAYSA (‚Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung. Über die zyklische Raumzeitstruktur vormoderner Erzählungen mit biographischem Schema‘) zu. Sie beobachtet an der Aventiurezeit (BACHTIN) des Artusromans die grundsätzliche Wiederholbarkeit von Aventiuren, die dabei an das Sinnpotential einer Habitualisierung ritterlicher Tugend gebunden sind. Diese Aventiurezeit ist, so STÖRMER-CAYSA, zugleich zyklisch (weil wiederholbar) und linear: unter der Wiederholung liegt eine schwach akzentuierte Progression, die durch kausale Klammern betont wird, die durch die Fehler der Artusritter hergestellt werden. In dem von Chrétien geschaffenen Muster verbindet sich also Kreis und Kausalität. In späteren Artusromanen ohne Krise wird Kausalität durch Herausforderungen, Hilfsbitten und Kämpfe hergestellt. Während die Welt der Aventiure unveränderlich bleibt, durchläuft der Held eine pseudo-biographisch progressive Zeit. STÖRMERCAYSA stellt diesem Befund eine Analyse des Eichendorffschen Aus dem Leben eines Taugenichts gegenüber, wo keine unveränderliche, zyklische Zeitform besteht, sondern eine fortschreitende Weltzeit mitläuft, d. h. auch wenn der Held nichts tut, vergeht diese Zeit. Dagegen gibt es keine kausale Klammer, die den Helden seine ‚Schuld‘ wiedergutmachen lässt, sondern der Held hat schlicht Glück. So zeigt sich im Versuch, mit Versatzstücken vormodernen Erzählens zu spielen, doch deren epochale Umbesetzung. UDO FRIEDRICH (‚Erzählen vom Tod im Parzival. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter‘) betont die Alterität und Historizität von Erzählformen, ohne den formalen Kategorien der Narratologie ein besonderes Gewicht einzuräumen. Er fragt nach Modellierungen von Anfang und Ende, von Leben und Tod im Parzival und verbindet dies mit der übergreifenden Frage nach der Gestaltung von Epos und Roman. Während das Epos Anfang und Ende auch axiologisch absolut setzt, hat das Subjekt im Roman keinen Haltepunkt mehr in der

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Zeit. Das Epos bindet das Subjekt dagegen an die Kontinuität des Geschlechts, das noch einen mythischen Ursprung hat. In diesen Rahmen rückt FRIEDRICH im Anschluss an WALTER BENJAMIN die besondere Verbindung von Erzählen und Tod, die in der mittelalterlichen Heldendichtung und im Artusroman in verschiedener Weise verhandelt wird. Am Tod hängt das Erinnern als Form der Bewältigung. So wie aber der Parzival dieses Erinnern inszeniert, wird deutlich, dass episches und romanhaftes Erinnern noch nicht auseinander getreten sind, moderne Zeitlichkeit und ihre von GEORG LUKACS so genannte transzendentale Obdachlosigkeit finden sich noch nicht. URSULA KOCHER greift im Titel ihres Beitrags eine Empfehlung der Buchlinge – seltsamen Buchwesen aus einem Roman von Walter Moers – auf, die zu denken gibt: „Schreib nie einen Roman aus der Perspektive einer Türklinke!“ Ist Perspektive nicht nur ein Raumbegriff, sondern umfasst sie Bewusstsein, so kann es die Perspektive einer Türklinke nicht geben. Dagegen: Wird die Türklinke als Lebewesen gedacht (dem Bewusstsein unterstellt wird und damit die Fähigkeit, ‚ich‘ zu sagen), so kann es sie sehr wohl geben. Ausgehend von unserem Unbehagen, erzählende Türklinken zu akzeptieren, wendet KOCHER sich dem Problem des Erzählers in historischer Hinsicht zu. Sie zeigt zunächst, dass in die Anwendung von Kategorien im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Analyse Interpretation der zugrunde liegenden Texte immer schon eingeht. Es interpretiert aber immer ein Rezipient – und der ist historisch verortet. KOCHER plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der Rezepientenperspektive in der Narratologie und für eine Präzisierung der GENETTEschen Analysekriterien, die sie dennoch für eine geeignete Ausgangsbasis einer revidierten, weniger erzählerorientierten historischen Narratologie hält.

VOLKER MERTENS

Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka Im Jahre 1749 soll die Geburtsstunde des modernen Romans geschlagen haben: The History of Tom Jones. A Foundling von Henry Fielding sei dieses Objekt. Der Autor stellt sich selbst als „Founder of a new Province of Writing“1 vor, insofern er ein neues Thema, nämlich „Human Nature“ (S. 32) ohne „Ghosts“ (S. 399), „Elves and Fairies“ (S. 400) behandelt und „the Course of our History“ (S. 395), der Ordnung der Welt mit ihren „Rules of Credibility“ (S. 406) folge. Das eigentlich Neue aber ist die theoretische Erörterung, die Fielding in den ‚Prefaces‘ zu seinen 18 Büchern unternimmt. Man hat den Tom Jones daher als „novel about novels“ bezeichnet;2 kein anderer Roman hat bis zu dieser Zeit ein solches Maß an Reflexion über den Autor und seine Kunst ausgestellt, Reflexion, die auf ingeniöse Weise mit dem Fortgang der Erzählung parallelisiert und verbunden ist. Fielding kombiniert und intendiert auf diese Weise zwei Formen der narratologischen Reflexion: die traditionell im prologus praeter rem angesiedelte theoretische und die in die Erzählung eingebundene narrativierte, die den Hauptgegenstand meiner Untersuchung bilden wird. Fielding hat zwar die Bindung der Reflexion an den Ablauf der Erzählung beibehalten, aber auf die Narrativierung zugunsten der theoretischen Darlegung verzichtet. Zweifellos bietet Fielding Neues im Rahmen der zeitgenössischen Literatur, und er braucht dafür das Wohlwollen des gentle reader. Die ‚Prefaces‘ gehen jedoch über eine simple captatio benevolentiae weit hinaus, wenn sie eine textbezogene Poetik entwickeln. Ihr Ziel ist es, den Roman nicht mehr – wie den Samuel Richardsons – über die Exemplarität zu legitimie_____________ 1

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Zit. nach der Wesleyan Edition: Henry Fielding: The History of Tom Jones. A Foundling. With an introduction and commentary by MARTIN C. BALTSKIN. The text edited by FREDSON BOWERS, Oxford 1975; hier S. 77. Alle folgenden Zitate sind ebenfalls dieser Ausgabe entnommen. FRED KAPLAN: Fielding’s Novel about Novels. The Prefaces and the Plot of Tom Jones. In: Studies in English Literature 13 (1973), S. 535-549.

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ren, sondern über den Kunstanspruch, denn der Erzählgegenstand des Tom Jones eignet sich nicht als Beispiel, er gehört eher zum niederen Genre, greift auf pikareske und komödienhafte Figuren und Motive zurück. Ich baue meinen Beitrag folgendermaßen auf: Ich beschäftige mich zuerst beispielgebend mit Chrétiens Erec et Enide und den dort thematisierten narratologischen Positionen. Im Anschluss daran formuliere ich fünf Thesen und versuche sie an meinen drei Beispieltexten, Veldekes Eneas, Hartmanns Erec und Gottfrieds Tristan, zu belegen. Ich schließe mit einem Blick auf die mediale Situation. Um 1170 hat Chrétien de Troyes in seinem Erec-Prolog etwas dem Fieldingschen Vorgehen Vergleichbares gemacht: er legitimiert einen bisher unterliterarischen Gegenstand durch einen gesteigerten Kunstanspruch. Er situiert sich im Rahmen der bisher etablierten volkssprachlichen Erzählung, die vom antiken Dreigestirn bestimmt ist, und greift daher auf die Prologe des Theben- und Trojaromans zurück.3 Der Erzähler legitimiert den Roman nicht nur durch die Materie, sondern auch aus dem verantwortungsbewussten Umgang damit, wie Benoit mit seiner Homerkritik demonstriert. Chrétien hingegen kann seinen Anspruch nicht mit dem Gegenstand begründen, er ist, anders als der Erzähler antiker Stoffe, kein Zwerg auf den Schultern der Riesen, sondern beruft sich auf Kunstanspruch und -wollen. Daher das vieldeutige Wort conjointure in V. 14, das, wie immer man es versteht, eine strukturierende Tätigkeit wahrscheinlich auf verschiedenen Ebenen bezeichnet.4 MARC CHINCA und CHRISTOPHER _____________ 3

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Die ersten Verse mit dem Sprichwort des Bauern als Ausgangspunkt paraphrasieren den Beginn des Trojaromans: Salemon nos enseigne et dit […]. Que nus ne deit son sen celer, / Ainz le sait hon si demonstrer (Benôit de Sainte-Maure: Le Roman de Troie. Éd., Présentés et traduits par EMMANUELLE BAUMGARTNER/FRANÇOISE VEILLIARD, Paris 1988, V. 1-4; „Salomon lehrt uns und sagt [...] dass niemand sein Wissen verhehlen, sondern man es bekannt machen soll“). Chrétien variiert in Erec et Enide bewusst: Li vilains dit en son respit (Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Edition critique d’après le manuscrit B.N. fr. 1376, trad., présentation et notes de JEAN-MARIE FRITZ, Paris 1992, V. 1; „Der Bauer sagt in seinem Sprichwort“) Es ist hier nicht Salomon, sondern der Bauer – das ist ein Signal für die volkssprachliche materia. Der Thebenroman verwendet den gleichen Topos: statt des vilains oder Salemon ist es der Weise: Qui sages est nel deit celer / Mais pur ces deit son sen monstrer (Le Roman de Thèbes. Edition du manuscrit S (Londres, Brit. Libr., Add. 34114), trad., présentation et notes par FRANCINE MORA-LEBRUN, Paris 1995, V. 1f.; „Wer weise ist, soll es nicht verbergen, sondern soll sein Wissen zeigen.“). Zu den Antikenromanen vgl. FRANCINE MORA-LEBRUN: Mettre en romanz. Les romans d’antiquité du XIIe siècle et leur postérité XIIIe-XIVe siècle, Paris 2008. Chrétiens Werke werden zitiert nach folgenden Ausgaben: Erec et Enide. Edition critique d’après le manuscrit B.N. fr. 1376, trad., présentation et notes de JEAN-MARIE FRITZ, Paris 1992. Cligès. Edition critique du manuscrit B.N. fr. 12560, trad. et notes par CHARLES MELA/OLIVIER COLLET, Paris 1994. Le chevalier de la charrette ou le roman de Lancelot. Edition critique d’après tous les manuscrits existants, trad., presentation et notes de CHARLES MELA, Paris 1992. Le chevalier au lion ou le roman d’Yvain. Edition critique d’après le manuscrit B.N. fr. 1433, trad., présentation et notes de DAVID F. HULT, Paris 1994. Le conte du Graal. Edi-

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YOUNG sprechen vorsichtig von „joined together“,5 DOUGLAS KELLY ähnlich von „a satisfactory array of parts“.6 Damit meint er eine Strukturiertheit, die die simplen kausalen Verknüpfungen der oralen Texte durch ein Gefüge ersetzt, dessen Bedeutung von übergeordneten Prinzipien und Werten bestimmt wird. Daher ist die conjointure auch bele. Diese aber, so Chrétien im Wortsinn ‚abenteuerliche‘ Behauptung, wohne der Oralität ursprünglich inne und wird nur durch die unqualifizierten Berufssänger zerstückelt und verdorben (V. 21). Chrétien leistet also gemäß seiner Selbstinszenierung eine restitutio ad integrum, ganz wie der Autor des Trojaromans die ursprüngliche Wahrheit wiederherstellt. Chrétien thematisiert im Prolog sowohl die histoire als die wichtigste seiner Erzeugungstechniken, das Erzählen nach einem Masterplan. Dieses verleiht dem Erzähler die auctoritas, die ihm die dubiose Materie nicht geben kann, die in der Anschauung des Publikums als verachtenswert gilt. Chrétien hat noch zwei weitere Aussagen zur conjointure, die hier herangezogen werden müssen. Im V. 1840 sagt der Erzähler: Ci fine li premerains vers („Hier endet die erste Episode“).7 Vermutlich bezieht sich das auf die im Prolog genannte „Erzählung von Erec, dem Sohn des Königs Lac“ (V. 19), die von den berufsmäßigen Erzählern verhackstückt (depecier, V. 21) wird. Sie handelte wohl von dem Gewinn einer Fee in einer Costume, dem Sperberkampf. Der Beginn der volkssprachlichen Literatur mit volkssprachlicher materia ist also durch Affirmation einer bedeutungsvollen „sehr schönen“ Struktur gekennzeichnet. Das dürfte darauf verweisen, dass eben diese den oralen Texten fehlte. Wenn wir den Lernpsychologen folgen, so orientiert sich mündliches Erzählen an der Verknüpfung mit Orten einerseits und mit Affektzuständen andererseits. Strukturen hingegen werden schlecht erinnert und sind ein Kennzeichen schriftliterarischen Erzählens.8 Ohne _____________ 5

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7 8

tion du manuscrit 354 de Berne, trad. Critique, présentation et notes de CHARLES MELA, Paris 1990. MARC CHINCA/CHRISTOPHER YOUNG: Literary theory and the German romance in the literary field c. 1200. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 23), S. 612-644, hier S. 617. DOUGLAS KELLY: The Art of Medieval French Romance, Madison 1992, S. 31; vgl. auch DERS.: Chrétien de Troyes. The Narrator and His Art. In: The Romances of Chrétien de Troyes. A Symposium, Hrsg. von DOUGLAS KELLY, Lexington 1985 (The Edward C. Armstrong monographs on medieval literature 3), S. 13-47. BRIGITTE BURRICHTER: Ici feunist li premiers vers (Erec et Enide) – noch einmal zur Zweiteilung des Chrétienschen Artusromans. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, Tübingen 1999, S. 87-98. Vgl. WOLF SINGER: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. In: Science + Fiction: Between Nano Worlds and Global Culture. Hrsg. von STEPHAN IGLHAUT/THOMAS SPRING, Berlin 2003,

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gleich anzunehmen, die mündlichen Geschichten von Erec, dem Sohn des Königs Lac, seien dem Modell der paläolithischen Futtersuchberichte gefolgt, besteht Grund zu der Vermutung, dass sie nicht strukturdominiert waren. Es ist vermutlich von einer einfachen Abfolge von Orten (Hof, Heide, Kampfplatz) und einer Misserfolgs-Erfolgsstruktur auszugehen, einer Kränkung mit den Affekten Scham, Zorn, Hass und einer Wiedergutmachung durch einen besonderen Erfolg mit Befriedigung und Stolz – im Fall Erecs wäre dies die Zwergenschande und der Sperbersieg mit dem Gewinn Enites. Diese mag eine der „Fairies“9 gewesen sein, von denen Henry Fielding nicht erzählen wollte und Erec könnte ihr, wie Lanval bei Marie de France, in eine Sphäre realitätsenthobenen Liebesglücks gefolgt sein. Erst Chrétien hat die Sperbercostume mit der Hirschjagdcostume verschachtelt, die an dieser Stelle ihr Ende findet. Der Erzähler spricht ausdrücklich von der „ersten“ Episode, um klarzumachen, dass seine Fassung der Geschichte hier nicht zu Ende ist, sondern eine zweite und vielleicht noch eine dritte Episode folgen werden. Er wehrt die Erwartung der Hörer ab, hier schon wäre die Erzählung zum Ziel gekommen. Die Bemerkung zielt also auf den Aufbau ebenso wie auf den Prozess des Erzählens wie schon das commencer des Prologs. Die zweite poetologische Aussage betrifft die Episode ‚Joie de la cort‘, die Erecs und Enides Qualifikationsweg abschließt. Als Erec das Horn geblasen hat, dichten die Damen einen Lai de Joie, doch dieser ist, kommentiert der Erzähler, kaum bekannt: Das ist vermutlich ironisch gemeint, denn die Funktion des Mabonagrain-Kampfes, die Wiederherstellung der Hofesfreude, ist Chrétiens Erfindung im Geiste der Feenerzählungen – einen derartigen Lai kann es also gar nicht geben. Mit dieser Episode löst der Erzähler sein im Prolog gegebenes Versprechen programmatisch ein, die Erzählung von Erec wieder zusammenzusetzen. Erst durch den Lai de Joie sei sie vollständig, sei der Geist der Feengeschichten restituiert. Das ist eine kühne Behauptung, denn die bretonischen Lais erzählen in aller Regel von der sozialen Desintegration, der erste Artusroman hat als Ziel die Reintegration des Helden. Mit der translatio der keltischen materia ist die ihr inhärente Aussage in ihr Gegenteil gewendet, sie ist damit eine gesellschaftlich schöne conjointure geworden, aber der vorgegebene Sinn ist als (nicht immer ganz gebändigter) unterschwellig präsent. Das neue volkssprachliche Erzählen ist zwar durch eine tragende Konstruktion gekennzeichnet, teilt aber mit der Oralität die Prozesshaftigkeit. Der Autor schafft kein Buch, das er vorlegt, sondern steigt in den _____________

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S. 169-189; MATÍAS MARTÍNEZ: Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie. In: Formaler Mythos. Hrsg. von DEMS., Paderborn 1996, S. 7-24; WALTER J. ONG: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 138-154. Tom Jones (Anm. 1), Kap. VIII, 1.

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Erzählprozess ein. Commencer ist Chrétiens Signalwort nicht nur im ErecProlog, sondern auch im Cligès, im Lancelot und Perceval.10 Damit behauptet er eine Zwischenstellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, er nimmt den Zuhörer in den Vortragsprozess hinein. Wir werden sehen, dass Hartmann in seinem Erec gerade das narrativ ausfüllen wird. Im Cligès-Prolog baut Chrétien auf der Position des Erec auf. Er beginnt mit einer ‚Autorbibliographie‘, die seine Kompetenz in der Motivwandlung sowohl volkssprachlicher wie lateinischer Stoffe beweist: er habe Erec et Enide ‚gemacht‘ und ein Gedicht von König Marke und der blonden Isolde sowie Adaptionen der Ars amatoria und Remedia amoris Ovids, sowie einzelner Episoden aus dessen Metamorphosen. Die Kombination beider Kompetenzen ist nötig, weil Chrétien hier eine tatsächlich neue materia präsentieren will: die Verbindung des Romans mit antiker Materie mit dem Arthurischen. Im Unterschied zum Erec-Prolog mit dem Verweis auf mündliche Traditionen verwendet er hier den ‚FlaschenpostTopos‘: die Quelle, das sehr alte Buch, sei in St. Peter in Beauvais gefunden worden (V. 20-23). Das narratologische Vorgehen ist in stärkerem Maße narrativiert: die conjointure von matière de Rome und matière de Bretagne wird nicht wie im Erec auf neue Weise terminologisch benannt, sondern mit dem Topos der translatio militiae von Griechenland über Rom nach Frankreich plausibel gemacht. Eine verwandte Form der narrativierten Narratologie finden wir in Erec et Enide: Erecs Krönungsmantel ist als solche zu verstehen. Erstes Aufmerksamkeitssignal ist die Behauptung des Autors, er habe die Beschreibung in seiner Vorlage gelesen, die er zunächst mit dem relativ offenen Terminus estoire, dann aber mit dem autoritativen livre bezeichnet (V. 6728/6734). Nach den Angaben des Prologs, der Autor greife auf eine orale Materie (und, anders als die Antikenromane, nicht auf eine schriftliche Quelle) zurück, muss das plötzliche Auftauchen eines Buches irritieren. Macrobius, sagt der Erzähler, habe in der Beschreibung seine Intention dargelegt:11 Si en trai a garant Macrobe / Qui ou descrire mist s'antante (V. 6730f.; „Ich nehme als Zeugen Macrobius, der seine Absicht in die Beschreibung legte“). Auf den Mantel (V. 6736) haben Feen das Quadrivium gewoben: Figuren der keltischen Volksdichtung haben ein gelehrtes Programm verwirklicht. Das ist die Umsetzung von Chrétiens literarhistorischer Position in einem Bild: in seinem nach gelehrtem Masterplan _____________ 10

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Erec et Enide, V. 23: Des or commencerai l’ estoire („Nun werde ich die Geschichte beginnen“); Cligès, V. 8: Un novel conte rancomance („Eine neue Erzählung beginnt“); Lancelot, V. 24: Comance Crestiens son livre („Chrétien beginnt sein Buch“); Perceval, V. 7f.: Crestiens seme et fet semance / D’un romans que il ancomance („Chrétien sät einen Roman, den er beginnt“). Zu Macrobius als Autorität vgl. FRANCINE MORA-LEBRUN: L’Enéide médiévale et la naissance du roman, Paris 1994, S. 127-146.

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gebauten Roman treten Figuren der mündlichen Erzähltradition als Bedeutungsgeber auf. Nur eine Anmerkung: die Entsprechung von Krönungsmantel und Erzählung ist nicht allegorisch auslegbar, sondern eher allgemeiner Art. Dazu gehört auch die materielle Substanz des Mantels: ein Goldgewebe, also höfisches Kunsthandwerk, kombiniert mit Pelzwerk der fabelhaften Barbioleten (V. 6793), die für Außerhöfisches stehen. Die Anregung für die narratologische Perspektive kommt aus der lateinischen Literatur. Chrétien könnte das 6. Buch von Ovids Metamorphosen gekannt haben, das mit dem Wettstreit zwischen Athene und Arachne beginnt, die beide unübertreffliche Bildteppiche weben; Arachne verliert den Wettbewerb. Diese Textstelle wurde schon in der Antike auf den literarischen Schaffensprozess ausgelegt, Chrétien knüpft hier an. Auf seine Kenntnisse des 6. Metamorphosenbuchs verweist Chrétien gezielt im Cligès-Prolog mit der Anführung seiner Dichtungen von Tantalus und den Verwandlungen von Wiedehopf, Schwalbe und Nachtigall, die sämtlich dort vorkommen. Implizit stellt er sich an dieser Stelle des Cligès-Prologs in eine Konkurrenzsituation mit den anderen ‚Geschichtenwebern‘ von Ovid bis zu den Tristandichtern des 12. Jahrhunderts und thematisiert gleichzeitig seine eigene translatio in der Einbindung der griechischen Cligès-Materie in die arthurische. Chrétien knüpft also an eine antike Tradition an, wenn er narrative Passagen narratologisch auflädt. Und damit bin ich bei meinen Thesen. Ich suche Folgendes nachzuweisen: 1. In der volkssprachlichen Romanliteratur werden narratologische Positionen sowohl explizit (wie in Chrétiens Erec-Prolog oder dem von Hartmanns Iwein) thematisiert wie implizit, d. h. narrativ. Beispiele dafür werden mir nach Chrétiens Erec et Enide, Veldekes Eneas, Hartmanns Erec und Gottfrieds Tristan liefern. 2. Thematisiert werden sowohl der Erzählgegenstand (also die materia) mit den entsprechenden Implikationen wie Erzählverfahren, wie im Erec-Prolog zu sehen war. 3. Während die explizite Thematisierung vornehmlich legitimierend im Sinn einer captatio benevolentiae eingesetzt wird, ist die implizite eine Hör- und Leseanweisung induktiver Art. 4. Die Veranlassung, ja die Notwendigkeit der Thematisierung resultiert aus der literarischen Situation: der stofflichen Innovation (wie der translatio keltischer materia bei Chrétien) wie der narratologischen, letztere ist durch eine veränderte Medialität bestimmt. 5. Für diese ist die Dichotomie Oralität – Literalität zugunsten eines differenzierten Rasters aufzulösen, wie exemplarisch wiederum Chrétiens Erec-Prolog mit der Betonung der Prozesshaftigkeit einerseits und der Dauerhaftigkeit andererseits zeigt.

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* Damit komme ich zu meinem zweiten mittelalterlichen Beispiel. Heinrich von Veldeke thematisiert im Unterschied zu seiner Vorlage, dem prologlosen Roman d’Eneas, zu Beginn die Erzählsituation:12 der Stoff der Vorgeschichte, so behauptet er, sei dem Publikum vertraut: Ir h‹ab›it wol vernomen daz, wie der kunich Menelaus besaz Troien die richen. (V. 1-3)13 Ihr habt genau gehört, / wie der König Menelaus / das mächtige Troja beherrschte.

Damit stellt er sich als Erzähler in eine bereits etablierte Tradition. Nach einer summarischen Darstellung des trojanischen Krieges beginnt er mit seiner Erzählung und präsentiert sich als sachlich kompetent. da wonite ein r‹i›che man, den ich genenen wol chan. daz was der herre Eneas. (V. 35-37) Dort wohnte ein Mächtiger, / den ich Euch gut nennen kann, / das war der Herr Eneas.

Er verfügt über den ‚magischen‘ Namen des Helden Eneas. Mehr noch, er besitzt auch die Fähigkeit, ihn „gut“ zu nennen und verfügt damit über narrative Fähigkeiten. Das wol kunnen als Bezeichnung für den kompetenten Sprecher begegnet im 2. Merseburger Spruch: thu biguol en Wuodan, so he wola conda („Dann besprach ihn [den Fuß des Pferdes] Wodan, wie er es gut verstand“).14 Analog zum Krönungsmantel Erecs lese ich eine descriptio im Eneasroman als narrativierte Narratologie: das Grabmal der Camille (V. 9385-9574).15 Sie ist insofern auffällig, als sie keine Funktion auf der _____________ 12

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14 15

Noch nicht erschienen: JOACHIM HAMM: Ane missewende. Erzählpoetik und Vorlagenbearbeitung im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, Habil. masch. Kiel 2007. – Vgl. die Arbeiten von KLAUS RIDDER: Fiktionalität und Autorität. In: DVjs 75 (2001), S. 539-560, und DERS., Fiktionalität und Medialität. Der höfische Roman zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Poetica 34 (2002), S. 136-156. Ich benutze die Ausgabe Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von HANS FROMM, mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von DOROTHEA und PETER DIEMER, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 77; Bibliothek des Mittelalters 4). Benoît de Sainte-Maure: Le roman de Troie. Extraits du manuscrits Milan, Bibliothèque ambrosienne, D 55, édités, presents et traduits par EMMANUELLE BAUMGARTNER/FRANÇOISE VIELLIARD, Paris 1998. Merseburger Zauberspruch 2. In: Frühe deutsche und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150. Hrsg. von WALTER HAUG/BENEDIKT KONRAD VOLLMANN, Frankfurt 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 152. Übersetzung V. M. Ich danke CORNELIA HERBERICHS für diese Anregung.

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Inhaltsebene hat. Anders als das Pallas-Grab, steht das Camilles nicht im Zusammenhang mit der translatio zu den Staufern; während dort das Licht bei der Öffnung durch Kaiser Friedrich erlischt, brennt es in Camilles Grab weiter, denn der Erzähler hat ein monumentum aere perennius errichtet. Dieses Horaz-Zitat (Od. 3, 30,1) verweist auf die Tradition, in der Heinrich steht: es zeigt, dass Bauwerke schon in der Antike auf das dichterische Produkt ausgelegt wurden. In eben diese Tradition stellt sich Veldeke und gibt deutliche Hinweise für ein solches Verständnis: Der Erzähler redet an dieser Stelle das Publikum an und betont die Neuartigkeit seines Unternehmens, er fordert verständiges Aufmerken auf jedes seiner Worte. Zuerst spricht der Erzähler von den kostbaren Materialien, dann von der Konstruktion: auf vier Grundsteinen werden zwei Schwibbögen errichtet, die sich in einem porphyrnen Schlussstein kreuzen. Darauf steht ein Pfeiler, der ein Gewölbe trägt, das vier Fensteröffnungen mit transparenten Edelsteinfüllungen besitzt. Der Fußboden besteht aus Edelsteinen und die Gewölbedecke ist mit Goldmosaik verziert. Der Sarg aus Calcedon und Sardonix trägt eine Inschrift, die ewige Lampe mit einem raffinierten Mechanismus ist von einem Griechen erdacht und von Geometras ausgeführt. Das Monument ist also durch kostbare Materialien und eine sinnreiche Konstruktion ausgezeichnet, in der man eine narrativierte conjointure erblicken kann, (allerdings kommt kein entsprechendes Wort vor). Die Narration erscheint – im Unterschied zur mündlichen – als unvergängliche. Chrétien behauptet am Schluss seines Erec-Prologs (V. 24f.) affirmativ: die Geschichte werde so lange erinnert werden, wie die Christenheit dauert, Veldeke hat das ins Bild umgesetzt. Das elaborierte Gebäude, das mehr an den Himmelstempel in Peking erinnert als an abendländische Mausoleen, ist im Roman d’Eneas16 und bei Veldeke sehr ähnlich beschrieben, die Vorzeichen sind jedoch grundlegend andere. Der französische Autor hat als Stichwort merveille (V. 7595/7695; „Wunder“). Das Bauwerk ist den Sieben Weltwundern ebenbürtig, es erhält mehrfach dieses Etikett. Veldeke führt einen personalen Baumeister ein, ersetzt ein unspezifisches il y avoit (V. 7603) der Vorlage durch den meister, der den Namen Geometras trägt. So stellt er eine Analogie zum meister der Erzählung her und ermöglicht es, ja, legt es nahe, diese Passage als narrativierte Narratologie zu lesen. Wie meister Geometras dem meister Heinrîch entspricht, so der Vorgang des Entwerfens im Architekturalen dem im Literarischen. Der Akzent ist daher im Vergleich zur Vorlage verschoben: steht im Französischen das Ergebnis, das komplexe Bauwerk, im Fokus, so im Deutschen der Vorgang des Konstruierens. _____________ 16

Le roman d’Eneas. Édition critique d’après le manuscrit B.N. Fr. 60, trad., présentation et notes d’AIME PETIT, Paris 1997, V. 7593-7703.

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Aus den Sieben Weltwundern sind die Sieben freien Künste geworden, d. h. eine der selben und ihr Meister, Geometras. Damit greift Veldeke zurück auf den Prolog von Benoîts Trojaroman mit der Berufung auf die septem artes einerseits sowie einen Vorgänger im Französischen, auf eine uns bereits bekannte Narrativierung: den Krönungsmantel von Chrétiens Erec. Hier ist die Geometrie (V. 6684) als erste der sieben Künste dargestellt: sie misst die ganze Welt aus, Himmel, Erde und Meer. Hartmann wird das an anderer Stelle aufnehmen. Veldeke macht aus der Allegorie der Geometrie den Magister operis, er ist ein Alias der Erzählerfigur. Veldeke ist tatsächlich ein „Architekt der Erzählung“ und darin dem Autor des Roman d’Eneas überlegen. Er hat offensichtlich vor Beginn den ganzen Roman d’Eneas vor sich gehabt und die mögliche Konstruktion seines Romans reflektiert, um dann Entsprechungen herzustellen und bestimmte Strukturen zu verstärken: er hat Parallelismen ausgearbeitet, so von Camille und Pallas, Camille und Dido sowie Camille und Sibylle. In den descriptiones und der Präsenz des Erzählers in eben diesen sind, wie MARIE-SOPHIE MASSE gezeigt hat,17 tragende Pfeiler der Kernstruktur zu sehen. Auf ein analoges Vorgehen verweist die Arbeit des Meisterarchitekten Geometras, wir können also von einer narrativierten Poetologie sprechen. Hartmanns Erec liefert mein drittes Beispiel. Er setzt Veldekes Eneasroman voraus. Der Prolog ist verloren. Es ist kaum anzunehmen, dass er Chrétiens prologus praeter rem mehr oder weniger wörtlich umgesetzt hat, denn weder gab es im deutschen Sprachraum berufsmäßige Geschichtenerzähler von Artus, noch hätten die Zuhörer/Leser einen lateinischen poetologischen Begriff wie conjointure verstanden. Vielleicht war ja wirklich von der aventiure meine zu lesen, wie WALTER HAUG im Rückgriff auf Gottfrieds Literaturexkurs vermutete.18 Das poetologische Verfahren der Implantation einer Struktur wäre damit allerdings nicht beschrieben, sondern allenfalls behauptet: dass der Erzähler (auf welche Weise auch immer) die meine der aventiure mit seiner rede figieret habe, ohne dass gesagt würde, mit welchen Mitteln dies geschehe. Hartmann hat – so meine These – die poetologische Darlegung nicht explizit, sondern implizit präsentiert und zwar in der Darstellung von Enites Pferd sowie dem Sattel und seiner Verfertigung. Dafür greift er – wie HAIKO WANDHOFF gezeigt hat19 – zurück auf den Krönungsmantel Erecs. Zusätzlich kombiniert er _____________ 17 18 19

MARIE-SOPHIE MASSE: La description dans les récits d’Antiquité allemands fin du XIIe – début du XIIIe siècle, Paris 2004 (Nouvelle bibliothèque du moyen âge 68). WALTER HAUG: Der aventiure meine. In: DERS.: Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen 1989, S. 447-463. HAIKO WANDHOFF: Âventiure als Nachricht für Auge und Ohren. Zu Hartmanns von Aue Erec und Iwein. In: ZfdPh 113 (1994), S. 1-22. Ähnlich wie ich lesen die Passage: CORINNA LAUDE: Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenbe-

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diese Anregung mit der durch das Grabmal der Camille. Bei Chrétien ist die Passage kurz, mit nur 17 Zeilen. Die Sattelbögen zeigen die Geschichte des Eneas, und das scheint für Hartmann den Hinweis gegeben zu haben, analog zum meister Geometras seinen meister Umbrîz einzuführen. Bei Chrétien ist es ein namenloser bretonischer Schnitzer, der auf den Feencharakter Enites verweist. Hartmanns Meister trägt einen sprechenden Namen: Umbrîz ist von unberîzen „entwerfen“ abgeleitet. Er erhält den gelehrten Meistertitel wie Veldekes Geometras. Die Parallele mit dem Erzähler wird gleich zu Beginn des 304 Zeilen langen Abschnitts gesetzt: als uns der meister seite ... (V. 7462; „wie uns der Meister erklärte…“) meisterlîcher arbeit .... (V. 7465; „von meisterhafter Arbeit…“) ein meister, hiez Umbrîz. (V. 7470; „Ein Meister namens Umbrîz“)

Der erste Meister ist der Autor der Quelle, die meisterliche Arbeit ist das kunstgewerbliche und/oder literarische Artefakt. Ersteres wird dann von Umbrîz hergestellt, der nun nicht weltwîse wie der Pferdemacher, sondern wercwîse ist. Dass diese descriptio das „literaturtheoretische Zentrum“ von Hartmanns Werk ist, wurde erst in jüngerer Zeit erarbeitet, so von BARBARA HAUPT, CORINNA LAUDE und SUSANNE BÜRKLE.20 Auf das Pferd gehe ich hier nicht weiter ein; dessen Beschreibung ist als Metatext zu lesen, der sowohl die Materie (das Pferd kommt aus der mythischen Welt) wie den künstlerischen Schaffensprozess diskutiert; ein welterfahrener Mann ersinnt ein schönes vollkommenes Pferd, das er dann auch darstellt. Beides, die andersweltliche Herkunft und die creatio durch den Autor, stehen in Konkurrenz und ergänzen sich zugleich: das erdachte Pferd ist ein mythisches Pferd und das mythische Pferd ein erdachtes. Ergiebiger noch ist die Sattelbeschreibung als Exempel eines künstlerischen Artefakts. Inhaltlich sind drei Aspekte der Sattelzeug-descriptio zu unterscheiden: die Einordnung in die literarische Tradition, der Anspruch auf ein weltumfassendes Erzählen und die Überbietung der Antike. Nur ersterer ist bei Chrétien an dieser Stelle angelegt, der zweite kommt aus der Beschreibung von Erecs Krönungsmantel, den dritten hat Hartmann hinzugebracht. Er _____________

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rufungen im Eneasroman und im Erec. In: Quelle. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Hrsg. v. THOMAS RATHMANN/NIKOLAUS WEGMANN, Berlin 2004 (Beiheft zur ZfdPh 12), S. 209-240 und SUSANNE BÜRKLE: Kunst-Reflexion aus dem Geiste der descriptio. Enites Pferd und der Diskurs artistischer Meisterschaft. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von MANUEL BRAUN/CHRISTOPHER YOUNG, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 143-170. Zur Passage insgesamt die magistrale Studie von FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30. Vgl. BARBARA HAUPT: Literaturgeschichtsschreibung im höfischen Roman. Die Beschreibung von Enites Pferd und Sattelzeug im Erec Hartmanns von Aue. In: Fs. Herbert Kolb. Hrsg. von KLAUS MATZEL u. a., Bern u. a. 1989, S. 202-219; LAUDE (Anm. 19); BÜRKLE (Anm. 19).

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hat die in seiner Vorlage angelegte Reflexion generell verstärkt und radikalisiert, so hier die Selbstreferentialität des Erzählens.21 Die Sattelbögen stellen die Geschichte des trojanischen Krieges und der Irrfahrten des Eneas sowie dessen Gründung des römischen Reiches dar. Damit ruft Hartmann die beiden verfügbaren Antikenromane, den Roman de Troie und den Roman d’Eneas ab. Hartmann kannte zudem auch Vergils Aeneis.22 Sein Roman von Erec und Enite integriert also diese Stoffe symbolisch und überbietet sie zugleich: denn Enites Schönheit erweist sich, anders als die Helenas, als letztlich positiv, und sie teilt nicht das Schicksal der verlassenen Dido, sondern der herrschaftstauglichen Lavinia.23 Hartmanns zweiter Punkt, der Anspruch auf ein weltumfassendes Erzählen, leitet sich von Chrétiens Darstellung der Geometrie auf Erecs Krönungsmantel her, die die ganze Welt ausmisst. Die Erzählwelt des arthurischen Romans, die hier aufgerufen wird, bietet eine Analogie zum Kosmos. Die conjointure erweist sich damit implizit als kosmische Ordnung und der Erzähler als weltgot. Die Satteldecke mit den Darstellungen der vier Elemente überbietet deshalb das Brautlaken von Jupiter und Juno: Enite sitzt quasi auf den Schultern der Antike. Die Beschreibung von Sattel und Decke führt außerdem verschiedene narrative Verfahren vor. Den Rahmen bildet die fingierte Rede, die sermocinatio von Erzählfigur und Hörer. Der Erzähler ist nun, anders als Veldekes magistraler Geometras, nicht als statische Figur entworfen, sondern in wechselnden Rollen: es gibt zwar die feste Größe des Meisters der Vorlage und die symbolische Erzählerrepräsentanz im kunstreichen Umbrîz, aber auch den zwischen Unzuverlässigkeit und Autorität changierenden Erzähler mit Namen Hartmann. Er ist einerseits ungebildet, tump, also kein Meister, unzuverlässig, da kein Augenzeuge, andererseits demonstriert er seine Kompetenz gegenüber dem anmaßenden fingierten Hörer und ironisiert sowohl den Gewährsmann- wie den Augenzeugentopos im Fall der Meerwunder: welt ir si gerne erkennen und kunnen genennen, dar zuo suochet iu einen man der iu si wol genennen kan: vindet ir des danne niht, daz ouch vil lîhte geschiht,

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Zum Vorgehen der Adaption generell: FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999, S. 128-142. Die Boten Didos werden nur bei Vergil, nicht im Roman d’Eneas erwähnt. Vgl. MANFRED KERN: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik, Amsterdam u. a. 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), S. 315.

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sô volget mînem râte und machet iuch ûf drâte, vart selber zuo dem mer: dâ vindet ir inne des ein her. gât an den stat stân unde bitet si gân ûz ze iu an den sant: dâ werdent si iu erkant. hilfet danne daz niht, daz aber lîhte geschiht, sô suochet selbe den grunt: dâ werdent si iu danne kunt mit grôzem schaden, mit lützelm vrumen. (V. 7616-7634)24 Wenn Ihr sie kennenlernen / und benennen wollt, / dann sucht jemanden, / der die Namen gut kennt, / findet Ihr so einen jedoch nicht, / das ist sehr wahrscheinlich / so folgt meinem Rat / und macht Euch gleich auf, / reist selber zum Meer, / darin entdeckt Ihr eine Menge dieser Wesen. / Geht an das Ufer / und bittet sie, / zu Euch an das Gestade zu kommen: / dort lernt Ihr sie kennen. / Wenn das nicht eintritt – / was auch sehr wahrscheinlich ist –, / so taucht auf den Grund hinab. / Dort lernt Ihr sie dann kennen / mit großem Schaden und kleinem Nutzen.

Hartmann führt die Möglichkeiten und Grenzen des mündlichen Erzählers vor: die Möglichkeiten der Publikumsinteraktion und der assoziativen Imagination, die Grenzen indem er aus der fiktiven Mündlichkeit in die Rede nach dem Code des meisters zurückkehrt. Die Dekonstruktion der Erzählerkompetenz erweist sich als Volte, tatsächlich behauptet er eine auctoritas, die sich auf eine gelebte Quellenkenntnis stützt, die zum Abschluss der Darstellung noch einmal bemüht wird: Thisbe und Pyramus, ihres Verstandes durch die Liebe beraubt, nahmen – anders als Enite und Erec – ein schlechtes Ende (V. 7707-7713), stellen den Antitypus dar. Obendrein ist das Zaumzeug mit den zwölf Edelsteinen besetzt, die sich am Gewand des Hohenpriesters befinden (Ex 24,17ff.; 39,10ff.; Apok 21,19ff.). Die antike und die christliche Bildung in meister Hartman vereint, bieten die Grundlage der Erzählautorität, die am Schluss noch einmal ironisiert ist: von sus getânen dingen was der satel vollebrâht und baz dan ichs hân gedâht. (V. 7755-7757) Aus all diesen Kostbarkeiten / war der Sattel gemacht / und besser, als ich es ausdenken könnte.

Das Gegenteil, dass der Erzähler/meister Umbrîz den Sattel gemacht hat, wurde ja zur Genüge vorgeführt. _____________ 24

Ich zitiere den Erec nach meiner Ausgabe: Hartmann von Aue: Erec. Hrsg., übers. u. kommentiert von VOLKER MERTENS, Stuttgart 2008 (RUB 18530).

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In der narrativierten Narratologie der Sattelbeschreibung sind also erzähltheoretische Positionen umgesetzt, die anscheinend nicht diskursiv dargestellt werden konnten oder sollten. Sie beziehen sich auf die Möglichkeiten der Erzählerrolle im Verhältnis zum Publikum und zum Stoff. Bei letzterem wird nicht auf die Bedeutung der Stofforganisation Bezug genommen wie im Erec-Prolog, sondern auf die Souveränität des Erzählers der materia gegenüber, die ein scheinbar assoziatives Verfahren erlaubt, das sich erst im Nachhinein als conjointure erweist. Hartmann führt das Werden des Romans vor, den Prozess des Dichtens in Interaktion mit dem Hörer. Das, was Chrétien mit commencer aufgerufen mit der Ansage des ersten Episodenschlusses fortgeführt hat, ist in Hartmanns Sattelbeschreibung narrative Gestalt geworden. Gottfried von Straßburg, mein letztes mittelhochdeutsches Beispiel, hat in seinem Tristan im Wesentlichen drei narratologische Partien inseriert: den Prolog, die Literaturschau und die Minnegrotte. Ich begnüge mich mit Andeutungen. Im Prolog wird in Weiterentwicklung von Positionen Hartmanns im Iwein die Wirkung der Erzählung als aedificatio mit deutlich religiösen Assoziationen entwickelt.25 In der Literaturschau (V. 4555-4974 bzw. V. 4619-4748) wird am Beispiel Hartmanns die Konstruktion von Sinn durch das Erzählen diskutiert. Hartmann wird die Präzision der gleichzeitig schönen wie treffenden Rede zugesprochen, während der ungenannte Gegenspieler auf diese zugunsten von Polyvalenz des Ausdrucks verzichtet.26 Die Minnegrotte bietet eine narrativierte Narratologie nach dem Vorbild Heinrichs von Veldeke.27 Es geht einmal um _____________ 25

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Zum Prolog vergleiche u. a. WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, Darmstadt 21992, S. 119-133; DIETMAR PESCHEL-RENTSCH: Gott, Autor, Ich. Skizzen zur Genese von Autorbewusstsein und Erzählfigur, Erlangen 1991, S. 191-221; PATRIZIA MAZZADI: Autorreflexionen zur Rezeption. Prolog und Exkurse in Gottfrieds Tristan, Triest 2000. Ausgaben: Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Berlin 1959 bzw. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von KARL MAROLD. Mit einem durch F. RANKEs Kollationen erw. u. verb. Apparat und mit einem Nachwort versehen von WERNER SCHRÖDER, Berlin 1969. CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE: Autorität dank Autoritäten. Literaturexkurse und Dichterkataloge als Mittel der Selbststilisierung. In: Autorität der/in der Sprache, Literatur, neuen Medien. Hrsg. von JÜRGEN FORHMANN u. a., Bielefeld 1999, S. 442-464; BERND SCHIROK: Hartman der Ouwaere, des hasen geselle und Gottfried von Straßburg. In: Festschrift Konrad Kunze zum 65. Hrsg. von VÁCLAV BOK u. a., Hamburg 2004, S. 20-44. Vgl. VOLKER MERTENS: Bildersaal, Minnegrotte, Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im Tristanroman. In: PBB 117 (1995), S. 40-64; DERS.: Klosterkirche und Minnegrotte. In: Mittelalterliche Literatur im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Hrsg. von NIGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1999, S. 1-16; WALTER RÖLL: Zu Gottfrieds Minnegrotte. In: Festschrift Horst Brunner. Hrsg. von DOROTHEA KLEIN u. a., Wiesbaden 2000, S. 199-209; BURGHART WACHINGER: Geistliche Motive und geistliche Denkformen in Gottfrieds Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/VICTOR MILLET, Tübingen 2002, S. 243-255.

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ein Bild für die Stofforganisation, die ästhetischen Gesetzen gehorcht, aber durch einen Innenraum symbolisiert ist, der auf den psychischen Innenraum als Gegenstand des Werkes verweist. Dann werden die Bedingungen der Sinnkonstitution vorgeführt, die mit Hilfe allegorischer Sinnbildungsverfahren erfolgt. Die Konstruktion der Erzählung ist, anders als die des Artusromans, keine bele conjointure, produziert nicht Sinn aus dieser, sondern dieser muss ihn durch den Erzähler zugesprochen bekommen. Damit bezieht sich Gottfried auf die Rolle der Erzählerkommentare. Die episodische Struktur enthält keine Bedeutung in sich, sondern erhielt sie ausdrücklich vom Autor. Einen Grenzfall in diesem exegetischen Verhältnis bietet die ominöse Schloss-Schlüsselbeschreibung, deren Auslegung mit Verrätselungen operiert und damit einen Assoziationsraum eröffnet, der trotz aller gelebten Einwände ein sexuelles Verständnis zumindest möglich macht.28 Die Grenze des exegetischen Verfahrens ist damit in die Darstellung einbezogen, sie scheint noch einmal auf in der mythischen Perspektive von Markes Jäger, der in Tristan und Isolde ein andersweltliches Götterpaar zu sehen glaubt. Die Grotte wäre sicher nicht Gottfrieds letztes Wort zur Narratologie gewesen. Wiewohl er Elemente aus der Darstellung des Statuenraums in seiner Vorlage bereits für die Grotte verwendet hatte,29 bleibt ja die entscheidende Dimension noch ungenutzt: Tristan als Schöpfer der Figuren Isoldes und Brangänes, als Alias des Autors, der an dieser Stelle seine Möglichkeiten und Grenzen aufzeigt. Tristan ist ein zweiter Pygmalion, und damit ein Sinnbild für den Künstler. Doch die Statue ist nur Reflex der Stimmungen Tristans, sie reduziert die Beziehung zu Isolde auf eine Spiegelliebe. Erst die Weigerung seines Schwagers Kaherdin, die Statue für die wirkliche Isolde zu nehmen, treibt Tristan zur Cornwallfahrt. Im Statuensaal wird die Unverlässigkeit bewussten künstlerischen Gestaltens aufgedeckt und damit aufgezeigt, dass ein Sinn jenseits des denotierten evoziert werden muss. Sinn kann nicht konstruiert, kann nicht exegiert werden, er muss aus der Handlung, aus den Situationen und Figuren als kontingenter im Hörer/Leser entstehen.30 Auf die Grenzen des Ästhetischen verweist schließlich Isoldes Zerstörung der Schelle des Hündchens Petitcreiu, denn das Schöne kann angesichts der Kontingenz von Liebe und Leben keinen Trost geben. _____________ 28

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EBERHARD NELLMANN: Der Türverschluss der Minnegrotte (Tristan 16969-17061). In: Ze hove und an der strâzen. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr „Sitz im Leben“. Festschrift Volker Schupp zum 65. Hrsg. von ANNA KECK/THEODOR NOLTE, Stuttgart u. a. 1999, S. 305-310. Vgl. MERTENS, Bildersaal (Anm. 27), S. 46ff. VOLKER MERTENS: Wahrheit und Kontingenz in Gottfrieds Tristan. In: Kein Zufall: Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von CORNELIA HERBERICHS/SUSANNE REICHLIN, Göttingen 2009 (Historischen Semantik 13), S. 186205.

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Narrativierte Narratologie ist keine Verlegenheitslösung, wenn eine diskursive Terminologie nicht zur Verfügung steht, sondern ihrerseits eine poetologische Entscheidung. Als Friedrich Schiller von Goethe im Jahre 1796 die ersten Bücher von Wilhelm Meisters Lehrjahre zugeschickt erhielt, schrieb er an seinen Freund: Der Roman, so wie er da ist, nähert sich in mehreren Stücken an die Epopee; unter andern auch darin, daß er Maschinen hat, die in gewissem Sinne die Götter oder das regierende Schicksal darin vorstellen.31

Er meint das, was CLEMENS LUGOWSKI (1932) als das „mythische Analogon“32 oder MATÍAS MARTÍNEZ als „kompositorische Motivierung“33 beschrieben haben. Schiller schlägt dann Goethe vor, „auch den ästhetischen Aufschluss über den inneren Geist, über die poetische Notwendigkeit jener Veranstaltungen zu geben“. Goethe hat bekanntlich in der Gesellschaft vom Turm die ästhetische „Maschine“ dargestellt, die kompositorische Motivierung narrativiert. Der Begriff der Maschine, den Schiller und nach ihm Jean Paul verwenden, der in der „Vorschule der Ästhetik“ vom „hölzernen Räderwerk“ spricht, scheint allerdings zu vordergründig. Goethe hat bei der Umarbeitung der Theatralischen Sendung in die Lehrjahre der im 7. und 8. Buch ausgeführten Rolle der Turmgesellschaft Rechnung getragen, insofern er Emissäre auftreten lässt, die außerhalb der eigentlichen Narration stehen und Wilhelms Weg mit der Turmgesellschaft verbinden. Ich denke an den „Kunstfreund“, den Geistlichen auf der Wasserfahrt und den fremden Offizier. Ihre Rolle ist nicht die von Lebens- oder Seelenführern, denn das Prinzip der Erzählung ist ja, dass Wilhelm durch Irrtümer gehen muss, die er selbst verantwortet. Die Idee der Meisterschaft darf Wilhelm nicht leiten, da diese (so Schiller) „nur das Werk der gereiften und vollendeten Erfahrung ist“ und „sobald er das Ziel sich dächte, so hätte er es eo ipso auch erreicht; sie muß also als Führerin hinter ihm stehen.“34 Wilhelm als Romanheld darf nicht Romanmeister sein. Dieser ist nun die Turmgesellschaft, die damit die Poetologie des Entwick-

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Schiller an Goethe, den 8. Juli 1796, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hrsg. von HANS GERHARD GRÄF/ALBERT LEITZMANN, Bd. I, Leipzig 1955, S. 191f. CLEMENS LUGOWSKI: Die Form der Individualität im Roman, Berlin 1932. MATÍAS MARTÍNEZ: Doppelte Welten: Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996, S. 19; vgl. auch PHILIPP AJOURI: Erzählen und Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus. Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller, Berlin 2007, S. 24-32, und HERWIG GOTTWALD: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur, Würzburg 2007, S. 204-232 (zu Kafka: Der Proceß). MARTÍNEZ (Anm. 32), S. 20; vgl. auch MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 72007, S. 111-119. Schiller an Goethe, den 8. Juli 1796, in: Der Briefwechsel (Anm. 31), S. 192.

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lungsromans verkörpert als „narrativierte Narratologie“ oder, mit Friedrich Schlegel zu sprechen, „Poesie der Poesie“.35 Eine narrativierte Narratologie gibt es auch bei Franz Kafka. Im zentralen Domkapitel seines Proceß geht es ausdrücklich um das Problem der Interpretation: Josef K. schreibt Vokabeln aus einem Italienischwörterbuch heraus, um einen Geschäftsfreund führen zu können. Dieser aber bleibt aus. Stattdessen trägt ihm der Gefängniskaplan die Türhüterparabel vor und zwischen ihm und K. entspinnt sich eine Diskussion um eine eindeutige Auslegung. Das Fazit lautet: „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“36 Es muss verschiedene Meinungen geben, weil der Text durch die Art und Weise der jeweiligen Annäherung modelliert wird. Im Domkapitel wird die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Verstehens in verschiedenen Medien thematisiert: dem in fast undurchdringliches Dunkel gehüllten Kirchenraum, den auftauchenden Bildwerken und dem mündlichen Vortrag des Geistlichen, der seinerseits auf den unveränderlichen Schrifttext verweist – und dieser liegt dem Leser Kafkas vor. Damit ist der Kardinalpunkt einer historischen Narratologie benannt: die Medialität. Der arthurische Roman ist einer gemischten Medialität verpflichtet. Er grenzt sich einerseits von der als defizitär gekennzeichneten Mündlichkeit ab, betont andererseits jedoch – noch – die Prozesshaftigkeit des Erzählens. Chrétien spricht daher von commencer, vom Ende eines ersten Teils, entsprechend führt Hartmann in der fiktiven Wechselrede von Erzähler und Hörer eine Performanzsituation vor. Im Yvain/Iwein wird mit Kalogreants Abenteuer erzähltes Erzählen modellhaft gezeigt.37 Die diesen Texten inhärente Vokalisierung betrifft nicht die Stofforganisation, sondern die Präsentation. Der Wechsel von Erzählerrede und Figurenrede muss vokal deutlich gemacht werden wie in der Stichomythie Erzähler – Hörer im Fall von Enites Sattel bei Hartmann. Die auf Vokalisierung angelegte Schrift, das Parlando dieser Texte, ist weniger unveränderlich als der Text von Kafkas Türhüterparabel.38 In der gemischten Me_____________ 35 36 37

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HENRIK BIRUS: „Größte Tendenz des Zeitalters“ oder „ein Candide, gegen die Poesie gerichtet“? Friedrich Schlegels und Novalis‘ Kritik des Wilhelm Meister. In: Goethes Kritiker. Hrsg. von KARL EIBL/BERND SCHEFFER u. a., Paderborn 2001, S. 27-43. Franz Kafka: Der Prozeß. Hrsg. von MALCOLM PASLEY, Frankfurt a. M. 1990 (Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 298. FRANZISKA WENZEL: Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns von Aue Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von BEATE KELLNER u. a., Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 89-109. Eine gewisse Fluidität (mouvance) mittelalterlicher Dichtung resultiert aus der gemischten Medialität. Da das mittlerweile zum Gemeinplatz geworden ist, verzichte ich auf entsprechende Literaturhinweise.

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dialität gibt es Textmomente, die nicht eindeutig fixiert sind. Ihr Kennzeichen ist eine determinierte Undeterminiertheit. Der zur Vokalisierung bestimmte Text entwirft u. a. einen Leerraum für die Stimme, die ihn nicht zuletzt in emotiver Hinsicht ausfüllt. Die Stimme schafft Publikumsnähe. Demgegenüber ist die Einzellektüre wissenschaftlich-analytischer, der Erzähler muss die Anteilnahme des Lesers durch vertextete Strategien sichern, kann sie nicht dem Vortragenden überlassen. Mit der zunehmenden Dominanz der Schrift werden die nichtliterarisierten Affektdimensionen reduziert. Die einzelne Aufführung war immer, mit Kafka zu sprechen, eine „Meinung“ über die Schrift, die vom Vortragenden dem Publikum präsentiert wurde. Mit dem Verschwinden des Vorlesers wird dem einsamen Leser die Last der Auslegung aufgebürdet. Gottfried reflektiert bereits die Möglichkeiten und Grenzen einer auktorialen Festlegung des Textes. Mir scheinen also Erzählformen und -strukturen als vorgängig vom Medium bedingt, das seinerseits durch gesellschaftliche Prozesse seine Rolle und seine spezifische Gestalt erhält. In unserem Fall wäre es die Emanzipation des laikalen Adels, die zum volkssprachlichen Zugriff auf die Schriftlichkeit führt. Das neue Medium der vernakulären Literatur verändert deren Strukturen und Inhalte, v. a. letztere in Wechselwirkung mit sozialen Vorgängen. Die langsame Ablösung des ‚sozialen Sinns‘ Gehör durch den zugreifenden und isolierenden Sinn ‚Gesicht‘ hat weitreichende gesellschaftliche Folgen, von denen hier nicht die Rede sein kann. Die Alternative, ob narratologische Verfahren als anthropologische Konstanten oder historische Entwicklungen im Sinn einer quasi ‚darwinistischen‘ Komplexitätssteigerung zu betrachten sind, scheint mir falsch gestellt. Die neuronale Ausstattung des homo sapiens dürfte sich in zweitausend, ja auch in zwanzig- oder sogar einhunderttausend Jahren nicht verändert haben. Die Unterschiede zwischen dem Conte Erec und dem Roman von Erec und Enide lassen sich mit dem Medienwandel trefflich erklären. Entsprechendes gilt für die Position Gottfrieds, die bereits knapp siebzig Jahre nach Chrétien von einer stärkeren Orientierung an der Schriftrezeption und entsprechend konditionierten Reaktionen bestimmt ist. Auch meine neuzeitlichen Beispiele lassen sich so einordnen: der Tom Jones in eine frisch etablierte Lesetradition, Goethes Wilhelm Meister – in dem Tom Jones zitiert wird39 – ist der erste ‚verwilderte Roman‘, insofern als die Motivierung der Handlung im Helden (wie bei Fielding) nicht mehr alles trägt. Und Kafkas Proceß in einer Situation, in der sich der Erzähler an der Normativität der Schrift abarbeitet, denn inzwischen sind neue Me_____________ 39

Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 2. Theil, Weimar 1899 (Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 25 = Weimarer Ausgabe Abt. 1 Bd. 22) S. 178.

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dien auf den Plan getreten. Kafkas Tränen beim Kinobesuch mögen nicht nur einer rührenden Materie geschuldet gewesen sein,40 sondern auch der neue Medialität gegolten haben – vielleicht der Trauer über den Verlust der Bedeutung der Schrift.

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Franz Kafka: Tagebücher. Hrsg. von HANS GERD KOCH u. a., Frankfurt a. M. 1990 (Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 595 (November 1913). Vgl. PETER ANDRÉ ALT: Kino und Stereoskop. Zu den medialen Bedingungen von Bewegungsästhetik und Wahrnehmungspsychologie im narrativen Verfahren Franz Kafkas. In: Literatur intermedial. Hrsg. von WOLF-GERHARD SCHMIDT u. a., erscheint 2009.

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Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse I. Einleitung Die Narratologie hat in den letzten Jahrzehnten ein differenziertes, wenn auch keinesfalls einheitliches Beschreibungsinstrumentarium für das ‚Wie‘ des literarischen Erzählens erarbeitet.1 Als Ausgangspunkt dienten insbesondere Texte des 19. und 20. Jahrhunderts, und die Frage, ob die Erzählprinzipien der Moderne auf diejenigen im Mittelalter übertragbar sind, die Mediävistik sich somit um eine historische Narratologie zu bemühen habe, wie nicht zuletzt von MONIKA FLUDERNIK eingefordert,2 erscheint durchaus berechtigt. Zwar wird in der Mediävistik intensiv über den Begriff der Fiktionalität3 sowie über das Verhältnis von Autor und Erzähler disku_____________ 1

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Im Folgenden sei stellvertretend für detailliertere Untersuchungen zur Narratologie auf die folgenden Einführungen verwiesen, die jeweils weiterführende Literatur nennen: MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, 72007; MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006. MONIKA FLUDERNIK: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11.3 (2003), S. 331-348; FLUDERNIK (Anm. 1), S. 124-133. Vgl.: Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.-15. Februar 1992. Hrsg. von VOLKER MERTENS/ FRIEDRICH WOLFZETTEL, Tübingen 1993; GERTRUD GRÜNKORN: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994 (Philologische Studien und Quellen 129); MATTHIAS MEYER: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 12); Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Hrsg. von FRITZ PETER KNAPP/MANUELA NIESNER, Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19); FRITZ PETER KNAPP: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort. Heidelberg 1997; WALTER HAUG: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003; FRITZ PETER KNAPP: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. 2: Zehn neue Studien und ein Vorwort, Heidelberg 2005 (Schriften der Philologisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 25).

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tiert;4 Versuche einer konsequenten Anwendung eines narratologischen Begriffes wie der Fokalisierung, wie sie von GERT HÜBNER vorgelegt wurden,5 sind jedoch in der germanistischen Mediävistik bisher selten. Sie schärfen den Blick für die Differenzen zwischen modernem und mittelalterlichem Erzählen; bevor solche Studien nicht zahlreicher werden, erscheint die Annahme einer grundsätzlichen Alterität mittelalterlicher Erzählformen (und damit verbunden die Verwerfung der Übertragbarkeit der narratologischen Terminologie) verfrüht.6 Um die Frage, ob es angemessen sei, das terminologische System der Narratologie für einen Anwendungsbereich zu verwenden, für den es nicht entwickelt worden ist, positiv beantworten zu können, müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens sollten die Texte, auf die die Terminologie angewandt werden soll, die untersuchten (Teil-)Phänomene aufweisen; zweitens sollte auf der Seite der mittelalterlichen Produzenten in Ansätzen ein Bewusstsein für diese (Teil-)Phänomene nachweisbar sein oder zumindest ein vortheoretisches Interesse für sie festgestellt werden können. Trifft beides zu, so können im Idealfall die neue Theorie und Terminologie zu einer präziseren Beschreibung der Differenzen zwischen historischer und moderner Erzählweise beitragen.7 Anzustreben ist damit eine diachrone Dynamisierung der narratologischen Theorie. _____________ 4

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Vgl. etwa: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS/ECKART CONRAD LUTZ/KLAUS RIDDER, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), insbesondere den Beitrag von MONIKA UNZEITIG: Von der Schwierigkeit zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann, S. 59-81. GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca germanica 44). Bei der Annahme, ‚die‘ Moderne kenne eine grundsätzlich von derjenigen ‚des‘ Mittelalters abweichende Erzähltechnik, stört die implizit teleologische Ausrichtung des Denkmodells: Der moderne Roman wiese, so das nicht selten vertretene Vorurteil, avanciertere Erzähltechniken auf als der mittelalterliche Erzähltext. Der Versuch der Übertragung narratologischer Modelle sollte darauf ausgerichtet sein, die Alterität mittelalterlicher Erzählkunst nicht als defizitär abzuqualifizieren, sondern sie ohne eine Wertung terminologisch genauer zu erfassen. In Bezug auf die Übertragung moderner Methoden für die Analyse historischer Texte ist vergleichbar, dass sich im Bereich der Untersuchung von Dialogen erst in den letzten Jahren eine historische Dialoganalyse hat etablieren können, die mithilfe des Beschreibungsinstrumentariums der modernen Linguistik auch mittelalterliche Texte untersucht; siehe JÖRG KILIAN: Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41). Obwohl den mittelalterlichen Autoren die differenzierte Terminologie der modernen Sprechakttheorie und Dialoggrammatik nicht zur Verfügung stand, so zeigt sich dennoch, dass bereits das Hochmittelalter ein genaues Gespür für die Wichtigkeit etwa der Illokutionslogik entwickelte, d. h. der Intentionen, mit denen ein Sprecher (die möglichen Reaktionen seines Gegenübers antizipierend) seine sprachlichen Äußerungen tätigt. Siehe dazu NINE MIEDEMA: Gesprächsnormen. Höfische Kommunikation in didaktischen und erzählenden Texten des Hochmittelalters. In: Text und Normativität. XX. Anglo-

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Die Untersuchungen auf die Dialoge, d. h. auf die Wiedergabe von Figurenrede einzuschränken bedeutet, sich einem narrativen Phänomen zu widmen, das zu den Grundkonstanten des Erzählens zu gehören scheint. Kulturübergreifend geben Erzählungen, die von Menschen handeln, auch deren verbales Agieren wieder bzw. fingieren dieses;8 die erste oben genannte Bedingung ist somit erfüllt. Zu untersuchen ist, inwiefern moderne narratologische Beschreibungsmuster auf die literarischen Dialoge des Mittelalters übertragbar sind, bzw. inwiefern sie gerade deren Andersartigkeit erkennbar machen (II-III).9 Besonders wichtig erscheint dabei die Frage, ob die zweite Bedingung erfüllt ist, d. h. ob in mittelalterlichen Texten ein Bewusstsein von der Dialogwiedergabe als narrativem Prinzip nachweisbar ist (IV). Dabei braucht kaum betont zu werden, dass Vollständigkeit im Rahmen eines Artikels nicht erreichbar ist; es sollen Forschungsdefizite benannt sowie Denkanstöße formuliert, nicht jedoch definitive Antworten auf Grundsatzfragen geboten werden. II. Erzähler- vs. Figurenrede Die Differenzierung zwischen Erzähler- und Figurenstimme(n) erscheint für die Erzählungen verschiedenster Kulturkreise und Epochen sinnvoll, auch wenn sich in der Art der Gestaltung dieser Stimmen durchaus Unterschiede beobachten lassen. In mittelalterlichen Erzähltexten tritt überwiegend ein Erzähler in Erscheinung, der als extradiegetisch-heterodiegetisch beschrieben werden kann;10 nicht selten geriert sich dieser gerade in den Pro- und Epilogen als Autor-Ich.11 Auch wenn, wie z. B. im Fall des Helm_____________

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German Colloquium. Hrsg. von ELKE BRÜGGEN (im Druck). Die Anwendung der modernen Sprechakttheorie und Dialoggrammatik erweist sich nicht als anachronistisch, sondern trägt zu einer genaueren Beschreibung der Charakteristiken mittelalterlicher Sprachtheorie und zur Konturierung einer Poetik des mittelalterlichen literarischen Dialoges bei. MONIKA FLUDERNIK: The Fictions of Language and the Languages of Fiction, London, New York 1993; MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 1), S. 51-67; FLUDERNIK (Anm. 1), S. 78-102. Eine erste umfassende Geschichte des literarischen Dialogs im Mittelalter, die allerdings aufgrund des Textcorpus von 26 deutschsprachigen Großepen und wegen der Vernachlässigung jeglichen Rekurses auf die jeweiligen Quellentexte im Einzelnen nicht immer eine ausreichende Präzision erreicht, versucht ANJA BECKER: Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200. Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Mikrokosmos 79). BECKERs Entwurf berührt die hier gestellten narratologischen Fragen nur am Rande. Für die wichtigste sonstige Literatur siehe NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER: Einleitung. In: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik. Hrsg. von DENS., Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 1-17. Zu den Begriffen zusammenfassend MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 1), S. 80-84; FLUDERNIK (Anm. 1), S. 117. Vgl. hierzu die oben in Anm. 4 genannte Literatur.

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brecht Wernhers des Gärtners, Augenzeugenschaft im Prolog betont wird,12 dient dies in erster Linie dem Zweck einer Autorisierung der Erzählerfigur und einer Authentifizierung des Erzählten,13 nicht jedoch einer Biografisierung des Erzählers; der intradiegetisch-heterodiegetische Erzähler im Helmbrecht etwa tritt nicht weiter als handelnde oder beobachtende Figur in Erscheinung.14 Der Erzählinstanz wird die Kontrolle über das Sprechen und Schweigen der Figuren zugeschrieben: Die Verteilung von direkter Rede, indirekter Rede, Redebericht, erlebter Rede oder Gedankenrede wird durch entsprechende inquit-Formeln markiert.15 Die Figuren konstituieren sich als Teil der fiktionalen Welt nicht zuletzt durch ihre Rede, oder unpersönlich ausgedrückt, da sie lediglich als narrative Konstrukte zu interpretieren sind: Eines der wichtigsten, wenn auch weitaus nicht das einzige, Mittel zur Unterscheidung des Erzählers von den intradiegetischen Figuren ist die Redewiedergabe.16 Im Sinne der antiken und mittelalterlichen Rhetorik _____________ 12

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Wernher der Gartenære: Helmbrecht. Hrsg. von FRIEDRICH PANZER/KURT RUH, 10. Aufl. besorgt von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 1993 (Altdeutsche Textbibliothek 11), V. 7-10: hie wil ich sagen waz mir geschach, / daz ich mit mînen ougen sach. / Ich sach, deist sicherlîchen wâr, / eins gebûren sun [...]; „Jetzt will ich erzählen, was mir geschehen ist und was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Ich sah, das ist wirklich wahr, den Sohn eines Bauern ...“. Vgl. STEFANIE SCHMITT: Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman, Tübingen 2005 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 129), S. 35-38, 83-85, 179-193 (ohne Hinweis auf die hier zitierte Stelle). Ein durchgehend personales Erzählen (vgl. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 108) ist den mittelhochdeutschen Texten offensichtlich fremd. FLUDERNIK (Anm. 1), S. 79-81. Formen autonomer direkter Figurenrede (vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 51) sind im Mittelalter relativ selten, sie sind allerdings insbesondere in stichomythischen Passagen nachweisbar; siehe dazu NINE MIEDEMA: Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen höfischen Epik. In: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 263-281; MARIA E. MÜLLER: Vers gegen Vers. Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Epik. In: NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER (Anm. 9), S. 117-137. – Insgesamt scheint zu gelten, dass die Formen und Funktionen heutiger Dialogwiedergabe in literarischen Texten (s. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 80-83, MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 51-55) im Vergleich zu den mittelalterlichen kaum signifikante Unterschiede aufweisen; von größerer Bedeutung sind die Differenzen im Vergleich der Wiedergabe der inneren Vorgänge der Protagonisten (vgl. unten, Abschnitt III). – Vgl. zur inquit-Formel in mittelhochdeutschen Texten zuletzt ANDREAS URSCHELER: Kommunikation in Wolframs Parzival. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 38), S. 51-58; FRANZ HUNDSNURSCHER: Das literarischstilistische Potential der inquit-Formel. In: NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER (Anm. 9), S. 103-115. Vgl. zum Folgenden grundlegend FOTIS JANNIDIS: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004 (Narratologia 3); FLUDERNIK (Anm. 1), S. 55-57, S. 78. Etisches Erzählen über Figuren scheint den deutschsprachigen mittelalterlichen Erzähltexten fremd zu sein. – In der germanistischen Mediävistik sind Untersuchungen der Figurenkonstituierung nach erzähltheoretischen Modellen unter besonderer Be-

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und Poetik wird die sermocinatio insbesondere zum Zweck der evidentia eingesetzt und dient der Charakterisierung sowohl der dauernden als auch der punktuellen Gemütsverfassung einer Person bzw. Figur,17 sie kann jedoch in Erzähltexten offenkundig weitere Funktionen übernehmen (so z. B. die Strukturierung eines Erzähltextes oder die Wiedergabe intra- bzw. extradiegetischer Geschichte).18 Die Verwendung der sermocinatio in narrativen Texten verläuft in Deutschland keineswegs linear: Während die althochdeutschen Texte, so etwa Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch (zwischen 863 und 871 entstanden), eine große Vielfalt unterschiedlicher Formen der Redewiedergabe kennen (vgl. unten, Abschnitt III), wird in den frühmittelhochdeutschen Werken eher der Redebericht oder der Monolog verwendet als der Dialog,19 wonach die mittelhochdeutsche Klassik um 1200 ein erneutes Interesse an den Möglichkeiten der Gesprächswiedergabe entwickelt. Bei fingierten Dialogen wird annähernd Isochronie erreicht;20 durch die Darstellung von Redeszenen, in denen der Erzähler augenscheinlich _____________

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rücksichtigung der Figurenrede meines Wissens bisher nicht vorgelegt worden. ANETTE SOSNA: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Erec, Iwein, Parzival, Tristan, Stuttgart 2003, untersucht zwar, inwiefern bereits für die mittelalterlichen Texte von einer Figurenidentität gesprochen werden kann, sie nutzt jedoch die Möglichkeit der Analyse der Selbstcharakterisierung der Figuren durch ihre Redebeiträge nicht. Auch ANNETTE GEROKREITER: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 51), bezieht die Formen verbaler Auseinandersetzung nicht systematisch ein. MARTIN SCHUHMANN: Reden und Erzählen. Figurenrede in Wolframs Parzival und Titurel, Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 49), geht lediglich am Rande auf narratologische Theorien ein. Vgl. dort allerdings das Kapitel „Figurenrede in Perceval und Parzival als Metanarration“, S. 205-230, in dem eher auf poetologische als auf narratologische Aspekte eingegangen wird. HEINRICH LAUSBERG: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Aufl., mit einem Vorwort von ARNOLD ARENS, Stuttgart 1990, § 820f. MIEDEMA/HUNDSNURSCHER (Anm. 9), S. 1f. Vor allem SCHULTE (Anm. 9). Die sonst in der mittelalterlichen Literatur (insbesondere in der Heldendichtung) häufigen Formen der Prolepse, die der Erzählerfigur als einer Instanz, die das Ende der Geschichte bereits kennt und dies in „zukunftsgewissen Vorausdeutungen“ enthüllt (MARTÍNEZ/ SCHEFFEL [Anm. 1], S. 37, die Terminologie EBERHARD LÄMMERTs aufgreifend), eine besondere Autorität zuweisen, sind im Dialog nur noch als Ausdruck von Vorahnungen möglich, denen intradiegetisch nahezu topisch wenig Gewicht beigemessen wird, vgl. bereits UWE PÖRKSEN: Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs Willehalm und in den ‚Spielmannsepen‘, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 58), S. 18-39. So zeichnet sich etwa das Nibelungenlied dadurch aus, dass der Erzähler sehr häufig auf das negative Ende vorverweist (Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von KARL BARTSCH und HELMUT DE BOOR ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von SIEGFRIED GROSSE, Stuttgart 22002 [RUB 644], Str. 1, 2, 6, 19 u. ö.); Utes, Kriemhilds und sogar Hagens unheilvolle Vorahnungen werden jedoch intradiegetisch als unzutreffend und unglaubwürdig herabgewürdigt (s. z. B. Str. 14/15, 920-922/923, 1458-1459/1460).

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hinter die Figuren zurücktritt, kann eine größere Unmittelbarkeit der Wiedergabe der Geschehnisse fingiert werden als etwa durch den Redebericht.21 Gleichzeitig implizieren jedoch gerade die inquit-Formeln eine fortwährende Lenkung der Interpretation der Redeszenen durch den Erzähler. So lässt innerhalb eines Dialoges eine Gegenüberstellung von Redeeinleitungen wie ir zuchte siv vergaz, / vnsanfte siv nider saz, / daz sie deme kunige niht enneich. / do siv eine wile gisweich, / do sprach siv mit zorne einerseits und Do sprach gizogenliche / Latinus der riche / zG der kuneginne22 andererseits keinen Zweifel daran, dass die inquit-Formeln in mittelalterlichen wie modernen Texten ein wichtiges Mittel der Sympathie- und Interpretationslenkung sind.23 _____________ 21

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Der Anspruch auf Mimesis im Sinne einer objektiven, realitätsnahen Abbildung menschlicher Sprache scheint in den Dialogen der mittelalterlichen Texte eine noch geringere Rolle zu spielen als in jüngeren Erzählwerken (vgl. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 79): Bereits die Versform der vormodernen Texte hält ständig das Bewusstsein wach, dass hier keine unmittelbare Realitätsnähe gesucht wird. Literarische Dialoge des Mittelalters bemühen sich um eine poetische Form, auch wenn Stilmittel wie etwa die Stichomythie durch die kurzen Sätze und Ellipsen eine besondere Nähe zur Alltagssprache suggerieren; inhaltlich sind gerade stichomythische Dialoge jedoch nicht selten redundant (vgl. MÜLLER [Anm. 15]). Zeitdeckendes Erzählen führt somit nicht notwendigerweise zu einem erhöhten Erzähltempo. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von HANS FROMM, mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von DOROTHEA und PETER DIEMER, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 77; Bibliothek des Mittelalters 4), V. 121,1-5, V. 123,25-27; „Sie verlor ihre Haltung, setzte sich brüsk nieder, ohne sich vor dem König zu verneigen. Nach einer Weile des Schweigens begann sie voller Zorn zu reden“; „Beherrscht antwortete der mächtige Latinus der Königin“. Wie FRANZ HUNDSNURSCHER nachgewiesen hat (FRANZ HUNDSNURSCHER: Sprechen und sagen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zum Wechsel der inquit-Formel er sprach / er sagte. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von NINE MIEDEMA/RUDOLF SUNTRUP, Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 31-52), ist der neutrale Ausdruck sprechen in mittelhochdeutschen Erzähltexten das bei weitem häufigste inquit-Verb; eine detaillierte Untersuchung des gesamten Wortfeldes des Sprechens in mittelalterlichen Erzähltexten liegt jedoch bisher nicht vor. Vgl. FLUDERNIK (Anm. 1), S. 57. Alle im Kapitel zum „Benennen der Figur“ bei JANNIDIS (Anm. 16), S. 109-149, genannten Verfahren der Angebote zur Identifizierung von Figuren (Referenz mit Bezeichnungen, die das semantische Merkmal ‚Mensch‘ enthalten; Bezeichnung mit Namen, die für Menschen vorgesehen sind; Beschreibung von Handlungen, die üblicherweise nur von Menschen ausgeführt werden, oder von menschlichen Eigenschaften; vgl. JANNIDIS, ebd., S. 111f.) können in den inquit-Formeln realisiert werden. Insofern die Fähigkeit zur Urheberschaft sprachlicher Äußerungen als eine ausschließlich menschliche Eigenschaft anerkannt ist, reicht für den nicht-markierten Fall (im Gegensatz z. B. zum Auftreten sprechender Tiere oder Gegenstände als markiertem Fall, in dem die Aktanten anthropomorphisiert werden, ebd., S. 114) die Verwendung der verba dicendi als Handlungsbezeichnungen, um eine menschliche Figur als solche erkennbar zu machen (ebd., S. 113; vgl. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 78). – Zur Bedeutung der Verwendung speziell des Namens der Figuren und seiner Komponenten (Eigenname, Name des Geschlechtes und der Herrschaft), die erst in der dialogischen Weitergabe zur vollen Geltung gelangt (Fremd- und

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In besonderen Fällen wie bei der Erzählung des Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems, in der die Hauptfigur selbst ihre Geschichte erzählt und somit als intradiegetisch-homodiegetischer bzw. intradiegetisch-autodiegetischer Erzähler auftritt, lässt sich anhand der Erzählereinschübe ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Besonderheit dieser narrativen Konstellation nachweisen, das einer vortheoretischen narratologischen Reflexion nahekommt. Prologtypisch tritt hier zu Anfang des Textes ein extradiegetischheterodiegetischer Erzähler auf: nâch der lêre ich kêre / mit mîner kranken lêre / gegen wîser und an tumber diet.24 Dieses Erzähler-Ich fingiert, die Erzählerrolle explizit an Gêrhart zu übergeben: Sît ez ist komen ûf daz zil / daz er ez selbe sagen wil, / sô lânt der rede mich gedagen. / lâzen wir in selben sagen / der rehten wârheit urhab hie, / wâ von er den namen vie / daz er der guote wart genant (V. 1119-1125).25 Nachdem die intradiegetisch-autodiegetische Erzählerfigur Gêrhart ihre Lebensgeschichte zu Ende erzählt hat,26 übernimmt erst in V. 6631 der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler die Erzählführung wieder und bezeichnet sich in V. 6827 als Ruodolf,27 wodurch in der Rahmenerzählung Erzähler- und Autorrolle ineinander übergehen. _____________ 24

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Selbstnennung; Anagnorisis), siehe JAN-DIRK MÜLLER: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 170-224. Der guote Gêrhart von Rudolf von Ems. Hrsg. von JOHN A. ASHER, Tübingen 31989 (Altdeutsche Textbibliothek 56), V. 39-41; „Dieser Lehre entsprechend wende ich mich mit meiner unbeholfenen Lehre an einfache und nicht an weise Menschen“. Vgl. zu solchen Binnenerzählungen in mittelalterlichen Erzähltexten den Sammelband Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19); speziell zum Guoten Gêrhart: ARMIN SCHULZ: Erzählungen in der Erzählung. Zur Poetologie im Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems. In: Helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang Walliczek. Hrsg. von HORST BRUNNER u. a., Göppingen 1999 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 668), S. 29-59; CHRISTIANE KRUSENBAUM/ CHRISTIAN SEEBALD: ze guote jehen. Pragmatisches und literarisches Sprechen im Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems. In: NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER (Anm. 9), S. 297-314. „Da es nun soweit gekommen ist, dass er es selbst erzählen möchte, lasst mich nun schweigen. Lasst uns ihn selbst über den Ursprung der wahrhaftigen Wahrheit berichten, wie es dazu kam, dass er den Namen ,der Gute‘ erwarb“. Die inquit-Formel alsus begund er sagen dô in V. 1129 markiert den Beginn der Figurenrede. Für den hiesigen Zusammenhang kann unberücksichtigt bleiben, dass auch innerhalb der Binnenerzählung fingiert wird, wie einzelne Figuren ihre eigene Geschichte erzählen; vgl. SCHULZ (Anm. 24), S. 35 (Ebene BE2); KRUSENBAUM/SEEBALD (Anm. 24), S. 308f. Das Ende von Gêrharts Erzählung ist durch den Wechsel von der Ich- zur Er-Rede erkennbar: „[...] ist ditz guot, daz tet i c h . / [...] doch wær i c h gern stæte / daz i c h getæte etewaz / dâ mit i c h gote diente baz, / daz er die sünde tilget abe / in den i c h m i c h verrüemet habe“ (V. 6621-6630; „;wenn dieses gut war – ich habe es so getan. Ich wäre aber gerne beständig darin, dass ich etwas täte, womit ich Gott noch besser dienen würde, so dass er die Sünden tilgt, derer ich mich durch mein Selbstlob schuldig gemacht habe“). Nachdem die Reaktion des Kaisers beschrieben worden ist, die bereits die Ich-Perspektive verlässt (Ê daz des mæres wârheit / dem keiser wurde geseit, / sîn weinlich jâmer was sô groz [...], V. 6631-6633; „be-

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Als Differenz zu modernen Erzählprinzipien ließe sich im Bezug auf ein solches bewusstes Umspielen der verschiedenen Möglichkeiten einer Rollenverteilung des Erzählens bzw. der Erzähler allenfalls anführen, dass sich die äußerlich als different markierten Erzählerstimmen im Text des Guoten Gêrhart trotz des fingierten Erzählerwechsels stilistisch und in Bezug auf ihre Einstellung zur Welt kaum unterscheiden.28 Dass jedoch auch bereits im Mittelalter die direkte Rede der individualisierenden Selbstcharakterisierung von Figuren dienen kann,29 auch Erzählerstimmen durchaus different gestaltet werden können und diese Möglichkeit bewusst reflektiert wird, zeigt etwa die im Erec fingierte Unterbrechung der Erzählung durch einen Zuhörer, der glaubt, die Geschichte weitererzählen zu können, dabei jedoch scheitert: Der Disqualifizierung des interpellierenden Zuhörers dienen hier sowohl die Form der Redebeiträge des Zuhörers (Stichomythie)30 als auch deren Inhalt (mangelndes Verständnis für die _____________

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vor die Wahrheit der Geschichte dem Kaiser mitgeteilt wurde, war sein tränenreicher Kummer so groß ...“), wird in V. 6643 in aller Deutlichkeit auf den koufman (Gêrhart) als Erzähler der vorangegangenen Geschichte verwiesen. KRUSENBAUM/SEEBALD (Anm. 24), S. 311-314, hier S. 313, sprechen von einer „Einheitlichkeit der Stimme im gesamten Text“. Nach JANNIDIS (Anm. 16), S. 93, S. 209, wäre die Figurenrede als Möglichkeit sowohl der „direkten“ als auch der „indirekten“ (Selbst-)Charakterisierung von Figuren zu bezeichnen. Vgl. z. B. zu inhaltlichen Aspekten der Selbstcharakterisierung der Figuren in Wolframs Parzival CHRISTA ORTMANN: Die Selbstaussagen im Parzival. Zur Frage nach der Personengestaltung bei Wolfram von Eschenbach, Stuttgart u. a. 1972 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 23). Stilistisch zeigen auch mittelalterliche Texte in Ansätzen den Versuch, in direkter Rede die Individualstile der Figuren (vgl. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 86) hörbar zu machen. Wertvolle Ansätze zur Differenzierung der Form der Figurenrede als „Trägerin impliziter Charakterisierung“ bietet anhand des Beispiels von Wolframs Parzival neuerdings SCHUHMANN (Anm. 16), S. 52f., das Zitat S. 52. Ebd., S. 75-116, findet sich eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Redestilen Parzivals und Gawans, die Inhalt und Form ihrer Redebeiträge im situativen Kontext einbezieht (so weist etwa Gawans und Parzivals sprachliches Verhalten in Angelegenheiten, die die minne und die êre betreffen, deutliche Unterschiede auf) und gleichzeitig zu Recht vor einer Gleichsetzung von Gruppenidentität und personaler Identität warnt (meine Überlegungen zum höfischen und unhöfischen Sprechen bezogen sich insbesondere auf eine Trennung von Gruppenidentitäten; siehe NINE MIEDEMA: Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue. In: NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER [Anm. 9], S. 181-201). Zu den unterschiedlichen Erzählstimmen in dieser Passage siehe zuletzt MIEDEMA (Anm. 15), insbesondere S. 277f. Zu untersuchen wären diejenigen Stellen, an denen entweder der Erzähler und eine intradiegetische Figur oder aber verschiedene intradiegetische Figuren über die g l e i c h e n Ereignisse berichten (besonders auffällig sind die sich daraus ergebenden Differenzen im Reinke-Stoff, in dem Reinke die Darstellung bereits erzählter Ereignisse mehrfach bewusst verdreht; subtiler sind die Filtertechniken in Fällen wie der Erzählung Lunetes in Hartmanns Iwein, die gegenüber dem von ihr nicht erkannten Protagonisten ihre Sicht auf Iweins Versagen darstellt, siehe Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. von GEORG F. BENECKE/KARL LACHMANN, neu bearbeitet von LUDWIG WOLFF, 7. Ausgabe, Bd. 1: Text, Berlin 1968, V. 4045-4074). Eine Zusam-

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narrative Bedeutung und den Symbolgehalt einer descriptio als dilatatio materiae31 sowie für das fiktionale Erzählen generell), wodurch die souveräne Autorität der Erzählstimme gestärkt wird. Ein Bewusstsein von der besonderen Position des Erzählers, der dem Rezipienten vorenthalten kann, was er (so die Fiktion) in Bezug auf intradiegetische Redeszenen erzählen könnte, sich aber darzustellen weigert, d. h. ein Bewusstsein von den narratologischen Folgen des Einsatzes eines Erzähler-Ichs, lässt sich insbesondere bei Wolfram von Eschenbach nachweisen. So findet sich im Parzival der folgende Hinweis: ir [= Gramoflanz’ und Itonjês] rede von niemen wart vernomn: / si sâhn ein ander gerne. / swenne ich nu rede gelerne, / sô prüeve ich waz si spræchen dâ, / eintweder nein oder jâ.32 Seinen Ursprung mag eine solche ironische Bemerkung in den im Mittelalter gängigen Unsagbarkeits- und Unfähigkeitstopoi finden, jedoch erreichen die Gestaltung der Erzählerfigur und der Grad der narratologischen Reflexion über den Dialog als eines der wichtigsten Mittel der Nar_____________ 31

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menstellung solcher Passagen liegt bisher ebenso wenig vor wie eine Analyse der inhaltlichen und formalen Abweichungen in der Darstellung der Ereignisse. Vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30. – Da der Erzähler als Hartman angesprochen wird (Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente. Hrsg. von ALBERT LEITZMANN, fortgeführt von LUDWIG WOLFF, 7. Auflage besorgt von KURT GÄRTNER, Tübingen 2006 [Altdeutsche Textbibliothek 39], V. 7493), fallen auch hier Autor- und Erzählerrolle zusammen. Wolfram von Eschenbach: Parzival, nach der Ausgabe KARL LACHMANNs revidiert und kommentiert von EBERHARD NELLMANN, übertragen von DIETER KÜHN, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8), V. 725,12-16; „Doch alles dies – war nicht zu hören, von Liebe sprachen ihre Blicke ... Wenn ich ihre Sprache lerne, so find ich raus, was sie da sagten, ob es Nein ist oder Ja ...“. Vergleichbar ist Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von PETER und DOROTHEA DIEMER, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 69; Bibliothek des Mittelalters 9), V. 153,4-6, wo über eine Schimpfrede berichtet wird, deren genaue Form der Erzähler durch zuht verschweigt. Kurz zur hier zitierten Parzival-Passage, jedoch ohne Verweis auf ihr narratologisches Potential: MIREILLE SCHNYDER: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3), S. 210f.; ich verstehe dies nicht als eine „Art Geheimsprache, die die Liebenden aus der Öffentlichkeit ausschneidet“ (ebd.), sondern vielmehr als eine Reflexion über die Macht des Erzählers. SCHNYDERs ebenfalls unter der Überschrift „Über Liebe spricht man nicht“ (S. 210) subsummierter Hinweis auf Parzival, V. 643,8, wo die „Konvention“, nicht über die Liebe sprechen zu dürfen, „poetologisch“ genutzt werde, bezieht sich auf die Darstellung des Liebes a k t e s seitens des Erzählers, die von der Darstellung des Liebes g e s p r ä c h e s getrennt werden sollte. Zum Zwiegespräch zwischen den Liebenden im Tristan, das als einziges „[a]uthentische Rede“ ermögliche, siehe MÜLLER (Anm. 23), S. 308-311. MÜLLERs Hinweise auf die dissimulatio als grundsätzliches Charakteristikum höfischer Rede (S. 305, ähnlich S. 311) bedürfte einer Präzisierung aufgrund einer breiteren Textbasis: Die dissimulatio erhält im Kontext der von MÜLLER untersuchten Erzählungen über eine illegitime Liebesverbindung notwendigerweise besonderes Gewicht.

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ration durch die explizit verweigerte Auskunft über den Inhalt und die Form einzelner Dialoge in Wolframs Werken eine besondere Qualität.33 III. Das Innenleben der Figuren Die Ausführlichkeit der Beschreibung des Innenlebens der Figuren gehört zu den wichtigsten Dimensionen der Figurentypologie in der modernen Narratologie;34 umstritten ist, ob die Darstellung innerer Beweggründe und Emotionen der Figuren, der Zugang zum Bewusstsein der Figuren, in mittelalterlichen Texten grundsätzlich von derjenigen im modernen Roman abweicht. Auch wenn eine Technik wie die Darstellung des stream of consciousness dem Mittelalter zweifellos fremd ist, haben die Untersuchungen von GERT HÜBNER und JAN-DIRK MÜLLER im Rahmen höfischer Epen ein zunehmendes Interesse für die „narrative Erschließung des Innenraums“ der Figuren sichtbar werden lassen,35 das sich in der um 1200 häufiger werdenden Verwendung von Möglichkeiten zur Fokalisierung wie dem Gedanken- bzw. Bewusstseinsbericht,36 der Gedankenrede (als Vorstufe des inneren Monologes)37 und in Ansätzen der erlebten Rede zeigt. Die erlebte Rede, als Möglichkeit, eine Figur im Text als Reflektorfigur fungieren zu lassen, deren eingeschränkte Wahrnehmung zumindest zeitweise die Darstellung der Geschehnisse bestimmt, ist nach MONIKA _____________ 33

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Es ist zwar insgesamt keine Seltenheit, dass mittelalterliche Erzähler für den Handlungsverlauf ausschlaggebende Redeszenen nicht wiedergeben – im Nibelungenlied etwa wird eine Darstellung des genauen Wortlauts der Auskünfte, die Siegfried Kriemhild über Brünhilds Ring und Gürtel erteilt, ausgespart, so dass unklar bleibt, wie Kriemhild zu ihrer Annahme kommt, Siegfried habe Brünhild entjungfert (vgl. Das Nibelungenlied [Anm. 20], Str. 655f., 679-681, 684 im Vergleich zu Str. 840). Es fehlt dort jedoch ein expliziter Verweis seitens des Erzählers auf das bewusste Verschweigen der betreffenden Informationen. Eine Zusammenstellung vergleichbarer ‚Leerstellen‘ in Bezug auf intradiegetische Dialoge fehlt bisher. JANNIDIS (Anm. 16), S. 91f.; FLUDERNIK (Anm. 1), S. 93-102. Vgl. HÜBNER (Anm. 5); MÜLLER (Anm. 23), das Zitat S. 339. HÜBNERs starke Betonung der Funktion der Fokalisierung im Sinne der Vermittlung moralischer Urteile, die sie von moderner Erzählkunst unterscheide (HÜBNER, ebd., S. 407), wäre auf breiterer Textbasis zu überprüfen. – Das Problem der Glaubwürdigkeit der Darstellung von Bewusstsein als v e r b a l e m Ausdruck ist eher psychologisch als narratologisch relevant und kann hier somit ausgeklammert werden (vgl. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 95, 98, 100-102; MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 55). Um der Gefahr einer anachronistischen Psychologisierung zu entgehen, ist für mittelalterliche Texte der Begriff des Gedanken- oder Bewusstseinsberichts demjenigen der Psychonarration (MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 55) vorzuziehen. HÜBNER (Anm. 5), S. 49-53. Zur Verwendung der Gedankenrede in mittelalterlichen Texten siehe NINE MIEDEMA: Gedankenrede und Rationalität in der mittelhochdeutschen Epik. In: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006. Hrsg. von KLAUS RIDDER in Verbindung mit WOLFGANG HAUBRICHS und ECKART CONRAD LUTZ, Berlin 2008 (Wolfram-Studien 20), S. 119-160.

Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse

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FLUDERNIK nicht erst im Roman der Moderne, sondern bereits in englischsprachigen Romanzen und Heiligenlegenden des 13. Jahrhunderts nachweisbar;38 sie scheint im deutschsprachigen Bereich bereits im Althochdeutschen vereinzelt vorzukommen.39 Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch etwa erzählt bei der Darstellung der Heilung der Blutflüssigen Frau, wie Christus von einer Menge von Gläubigen bedrängt wird. In diesem Zusammenhang fokussiert die Darstellung auf die gefilterte, einseitige Wahrnehmung der Szene durch die Frau und auf die Wiedergabe ihrer Gedanken, wie die Verbal- und Nominalkomplexe drahton (V. 17), in ira muate ahton (ebd.) und bi thia meina (V. 19) mit einigem Nachdruck ankündigen, und verwendet dabei Gedankenbericht und Gedankenrede:40 Bigonda genu drahton, in ira muate ouh ahton, si sih zi thiu gifiarti, thaz siu inan biruarti (Thoh bi thia meina thia dradun ekord eina); […] si iz zi thiu gesitoti, thaz mera wiht ni geroti – (V. 17-20)

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FLUDERNIK (Anm. 1), S. 82, S. 127; ausführlicher DIES. (Anm. 8), S. 93-99. Es handelt sich bei den betreffenden Passagen in den mittelalterlichen Werken jeweils um „kleinere Textsegmente“ (HÜBNER [Anm. 5], S. 398; vgl. auch die Beispiele bei SCHUHMANN [Anm. 16], S. 36-38), eine durchgehende Darstellung der Geschehnisse aus der Sicht einer Reflektorfigur und damit eine konsequente Fokalisierung ist im Mittelalter wohl nicht nachweisbar. Die Unterschiede zwischen der Perspektivierung und der Perspektivenstruktur (FLUDERNIK [Anm. 1], S. 50), die MANFRED PFISTER für das Drama entwickelt hat und die von SCHUHMANN, ebd., S. 167-170, auf den Parzival angewandt wird, könnten für die Beschreibung mittelalterlicher Texte hilfreich sein. Trotz der Gefahr, bei komparatistischer und diachroner Betrachtung des Themas in die ‚Suche nach ersten Belegen‘ zu verfallen (vgl. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 127f., und die Kritik im Streitgespräch von HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER in diesem Band, S. 433-444), ohne Berücksichtigung der Häufigkeit, der Kontexte und der Funktion der Verwendung entsprechender Stil- bzw. Erzählmittel, ist zu betonen, dass viele der bisherigen Untersuchungen die historische Perspektive nicht ausreichend berücksichtigen. Ein Vergleich zu lateinischen Werken der Antike und des Mittelalters lehrt, dass auch hier ein differenziertes Arsenal stilistischer Möglichkeiten zur Darstellung des Innenlebens der Figuren vorhanden ist; es ist damit weniger die Frage nach dem ‚ersten Beleg‘ zu stellen als vielmehr diejenige nach der Frequenz und Qualität der Verwendung bestimmter narrativer Mittel. Die modernen Möglichkeiten der Darstellung innerer Erlebnisse sind avanciertere Techniken der Figurenperspektive. Das Bewusstsein, dass diese Figurenperspektiven hervorgehoben werden können, ist jedoch im Mittelalter ebenso wie in der Antike und der Moderne vorhanden. Otfrids Evangelienbuch. Hrsg. von OSKAR ERDMANN, 6. Aufl. besorgt von LUDWIG WOLFF, Tübingen 1973 (Altdeutsche Textbibliothek 49), Kapitel III.14, (die metrischen Akzente der Ausgabe wurden nicht übernommen). Auch bei: Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Althochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von GISELA VOLLMANN-PROFE, Stuttgart 1987 (RUB 8384), S. 100-102. Die Übersetzungen im Folgenden sind von meiner Hand und bleiben dem Originaltext etwas näher als diejenigen VOLLMANN-PROFEs.

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Da begann die Frau zu überlegen, in ihren Gedanken zu erwägen, wie sie sich in die Lage bringen könnte, dass sie ihn berühren könnte (oder auch meinend: wenigstens den Saum allein), wie sie das bewerkstelligen könnte, während sie nichts Weiteres verlangte.

Der Inhalt der Wünsche der Blutflüssigen Frau wird in einer Form geäußert, die (folgt man der Interpunktion OSKAR ERDMANNS und GISELA VOLLMANN-PROFES, die den Versuch der Wiedergabe der nicht sicher rekonstruierbaren Intonation darstellt) als erlebte Rede interpretiert werden kann:41 Thaz sar io mit giwurti so wola ganz wurti, joh ob iz zi thiu wurti, thaz bluat iru firstulti! (V. 21f.) Dass sie mit Freuden doch bald ganz gesund würde, dass es auch dahin käme, dass ihr Blut zu fließen aufhörte!

V. 21f. können syntaktisch auch als nachträgliche Explikation des thiu in V. 19 interpretiert werden, jedoch scheint durch Partikeln wie io (V. 21) eine besondere Expressivität zum Ausdruck gebracht zu werden, wie sie für erlebte Rede charakteristisch ist.42 Es erscheint hier freilich weniger die syntaktische Interpretation bedeutsam als vielmehr das offensichtliche Bemühen um stilistische Variation in der Wiedergabe der Sichtweise der Frau, das insbesondere beim Vergleich mit der lateinischen Vorlage auffällt, die in der von Otfrid verwendeten Fassung die direkte Gedankenrede einsetzt: dicebat enim intra se: si tetigero fimbriam vestimenti ejus, salva ero.43 – Im Erzählerbericht folgt die Darstellung der Heilung der Frau, nachdem sie den Saum des Gewandes Christi berührt hat (V. 23-28). In indirekter Form wird daraufhin Christi Reaktion wiedergegeben (V. 29f.), während _____________ 41

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Otfrids Evangelienbuch (Anm. 40). Eine systematische Suche nach weiteren solchen als erlebte Rede interpretierbaren Formen in althochdeutschen Texten wäre lohnenswert, kann jedoch an dieser Stelle nicht geleistet werden. Anders als von FLUDERNIK (Anm. 1), S. 82, S. 127, für die altenglischen Texte festgestellt, bezieht sich die erlebte Rede im Althochdeutschen wohl nicht nur auf Rede, sondern auch auf Gedanken. Sicher ist, dass sich für die älteren Texte allenfalls ein wechselnder Fokalisierungstyp ermitteln lässt (variable Fokalisierung, MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 67), der zudem im Vergleich zu nichtfokalisierten Erzählpassagen nicht dominant ist. – Der Konjunktiv ist für erlebte Rede dann üblich, wenn Nachzeitigkeit gekennzeichnet werden soll (FLUDERNIK [Anm. 1], S. 81 mit entsprechendem Beispiel). Vgl. zu den fließenden Übergängen zwischen den verschiedenen Formen der Wiedergabe innerer Vorgänge FLUDERNIK (Anm. 1), S. 81-83, S. 97-100; MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 1), S. 53-55, S. 59; eingehend: MANFRED VON RONCADOR: Zwischen direkter und indirekter Rede. Nichtwörtliche direkte Rede, erlebte Rede, logophorische Konstruktionen und Verwandtes, Tübingen 1988 (Linguistische Arbeiten 192). Zitiert nach Otfrids Evangelienbuch (Anm. 40), S. 124; „Sie sagte bei sich: Wenn ich den Saum seines Gewandes berühre, werde ich geheilt sein“. Es fällt auf, dass diese lateinische Fassung Zuversicht ausdrückt, während die althochdeutsche von Zweifeln und Wünschen geprägt ist. Gesteigert wird dadurch die Erzählspannung, da in der deutschen Fassung keinesfalls sicher zu sein scheint, ob die Heilung der Frau möglich ist.

Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse

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der Figur des Petrus, dem die innere Bewegung der Frau u n d ihre Heilung verborgen geblieben sind, in lebhaftem Sprachduktus, d. h. hier auch: in unfreiwillig negativer Selbstcharakterisierung durch direkte Rede, mangelndes Verständnis für die Frage Christi zugeschrieben wird, die er dabei in indirekter Form wiederholt:44 Sih druhtin kerta widorort, ther thia heili thar gibot, joh frageta bi noti, wer nan thar tho ruarti. „Ziu ist, druhtin!“ quad tho Petrus, „thaz thu es eiscos nu sus, joh thu therero dato frages nu so thrato? Thih thringit man bi manne in thesemo selben gange, alle these liuti: thu frages wer thih ruarti?“ (V. 29-34) Der Herr wandte sich um, der die Heilung verursacht hatte, und fragte mit Nachdruck, wer ihn da berührt hätte. „Wozu dient es, Herr“, sprach Petrus da, „dass du nun so dringlich fragst, und warum fragst du nun so nachdrücklich danach? Dich bedrängen alle diese Menschen auf diesem Weg, Mann neben Mann; und du fragst, wer dich berührt hätte?“

Dass die Antwort des Heilands (V. 35f.) für Petrus weniger Bedeutung hat als für die geheilte Frau, zeigt sich darin, dass erneut und ausführlich die Reaktionen der Frau auf das Geschehen dargestellt werden:45 „Ih“, quad er, „infualta thaz etheswer mih ruarta; ih irkanta, ih sagen thir, thia kraft hiar faran fona mir.“ So siu tho thaz gihorta thaz er iz antota, joh thiu selba dat sin ni mohta tho firholan sin; Joh er tho sprah ubar al bi fruma thia si thar firstal, tho mithont in theru fristi, thaz wanta si er ni westi: Quam siu forahtalu sar joh zalta mo thiu werk thar, jah tho thar gimuato sines selbes dato; Thero druhtines werko joh ouh iro githanko, bi hiu si irbaldota so fram, joh zi thiu si thara quam; Joh ziu si fareta thaz si thia tradun ruarta. (V. 37-45) „Ich“, sprach er, „spürte, dass jemand mich berührt hat; ich habe erkannt, dies sage ich dir, dass die Kraft hier von mir ausging.“ Als sie dieses hörte, dass er

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Zitiert nach Otfrids Evangelienbuch (Anm. 40), S. 124; „Und sofort sagte Jesus, der sich zur Menge umgedreht hatte: ‚Wer ist es, wer hat mich berührt?‘ Petrus sagte: ‚Herr, die Menschenmengen bedrängeln und bedrücken dich, und du sagst: Wer hat mich berührt?‘“ Erneut wird in die Bibelfassung eingegriffen, die als Vorlage diente, da diese hier zweimal die direkte Rede verwendet: et statim Jesus conversus ad turbam ajebat: quis est, qui me tetigit? dixit Petrus: praeceptor, turbae te comprimunt et affligunt, et dicis: quis me tetigit? Zitiert nach Otfrids Evangelienbuch (Anm. 40), S. 124; „Und Jesus sprach: ‚Jemand hat mich berührt, denn ich spürte, dass die Kraft von mir ausging. Als dies die Frau sah, kam sie zitternd herbei, weil sie sich nicht verstecken konnte, und erklärte inmitten des Volkes, aus welchem Grund sie ihn berührt hatte, und wie sie sofort geheilt worden sei.‘“ Im Lateinischen: et dixit Jesus: tetigit me aliquis; nam ego novi virtutem de me exiisse. videns autem illa mulier, quia non latuit, tremens venit … et, ob quam causam tetigerit eum, indicavit coram omni populo, et quemadmodum confestim sanata sit.

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genau nachfragte, und dass diese seine Tat nicht verborgen bleiben konnte, und da er öffentlich über das Heil sprach, das sie sich erschlichen hatte, im gleichen Moment, als sie glaubte, er wüsste dies nicht: Da kam sie furchtsam näher und erzählte ihm da seine Taten, sagte ihm dort freudig sein eigenes Werk, das Wirken des Herrn und auch ihre [eigenen] Gedanken, wie sie sich so weit erkühnt hatte und weswegen sie gekommen war, und warum sie sich angestrengt hatte, seinen Saum zu berühren.

Das wanta in V. 40 kennzeichnet erneut die inneren Vorgänge der Frau, die den anderen intradiegetischen Figuren nicht zugänglich sind. Ab V. 43 werden Rede- und Gedankenbericht verschachtelt, indem der Erzähler in indirekter Rede die Gedanken der Frau wiedergibt (sie zalta [V. 41] iro githanko [V. 43]), die sie zum Berühren des Gewandes Christi geführt haben. Es ist dies ein frühes Beispiel für eine gegenüber der Quelle sehr eigenständige Verwendung aller dem Mittelalter zur Verfügung stehenden Formen von Rede- und Gedankenwiedergabe, die eine Betonung des Erlebens einer einzelnen Figur bezweckt (möglicherweise mit dem übergeordneten Ziel eines Identifikationsangebotes). In Ansätzen wird hier eine Dissoziierung von Außen- und Innenwelt inszeniert, die sich einzelner Mittel der Fokalisierung bedient. Es wäre lohnenswert, die althochdeutschen Texte nach ähnlichen Erzählmustern zu durchsuchen, bevor eine kategorische Differenz mittelalterlicher und moderner bzw. alt- und mittelhochdeutscher Erzählprinzipien behauptet wird. Zu berücksichtigen ist dabei, wie bereits angedeutet, dass zwar von Kontinuitäten basaler narratologischer Konzepte wie der reflektierten Verwendung von Figurenrede und Ansätzen zur Perspektivierung die Rede sein kann, dass der Einsatz der einzelnen narrativen Mittel jedoch keinesfalls eine kontinuierlich steigende Komplexitätslinie aufweist: Anders als in den althochdeutschen und hochhöfischen Texten ist in vielen frühmittelhochdeutschen Werken die Hervorhebung der direkten Rede und die Komplexität der indirekten Rede- und der Gedankenwiedergabe deutlich zurückgenommen. Das Annolied (vermutlich zwischen 1077 und 1081 entstanden) z. B. enthält kaum Dialoge in direkter Rede;46 Vergleichbares gilt für Heinrichs von Veldeke Servas (um 1170) und andere frühe Legenden, die als Vorstufen für das höfische Erzählen zu betrachten sind. Zudem zeigt sich hier, dass in denjenigen Dialogen, die in indirekter Rede oder Redebericht wiedergegeben und somit durch den Filter der Erzähler präsentiert werden, die Illokutionen auffällig häufig mithilfe sprechaktbe_____________ 46

Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. Bd. 1: Deutsche Kaiserchronik, Trierer Silvester, Annolied, Hannover 1895 (Monumenta Germaniae Historica 1,2). Direkte Rede kennt das Annolied lediglich in V. 219f. und V. 740-748. Anno wird einleitend u. a. wie folgt charakterisiert: offen was her sînir worte (V. 599), der Text verzichtet allerdings auf eine (fingierte) Wiedergabe seiner Sprache.

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zeichnender Verben eindeutig benannt werden.47 Die Autoren solcher Texte verließen sich offensichtlich nicht auf die Fähigkeit der Rezipienten, die Dialoge selbstständig zu interpretieren, sondern versuchten eine deutliche Steuerung.48

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Vgl. im Annolied (Anm. 46) V. 661 (anerietin), V. 663 (virmanitin), V. 703 (kundin), V. 706 (gebeddis plag), V. 730 (lobit), V. 800 (virbôt), V. 807 (drôn, geheizan), V. 814 (virlouchinan), V. 815 (lasterin, ebenso in V. 818), V. 823 (schelti), V. 829 (sceltin), V. 839 (hîz), V. 844 (anedingin), V. 845 (bat), V. 868 (sprechin laster). Vgl. auch den Halbdialog Arnolds von Worms, der einleitend explizit rezeptionslenkend als mit suozir redin gesprochen (V. 739) bezeichnet wird, wogegen Volprehts in indirekter Rede wiedergegebener Redebeitrag mit misselîchin redin gesprochen wird (V. 813). – Sprachwissenschaftlich betrachtet gilt generell, dass der Rede- bzw. Gedankenbericht insbesondere die Illokution des Gesagten (de re) ausdrückt, weniger dessen Proposition oder gar Wortlaut (de dicto); vgl. FLUDERNIK (Anm. 1), S. 80. Die Häufung sprechaktbezeichnender Verben in den Rede- und Gedankenberichten der mittelalterlichen Erzähltexte bildet ein hochinteressantes, bisher allerdings noch nicht untersuchtes Feld zur Analyse des Bewusstseins der verschiedenen Formen der Illokutionslogik im Mittelalter. Bisher wurde nicht umfassend erforscht, ob in der Verwendung direkter Rede g a t t u n g sspezifische Unterschiede nachweisbar sind. Es fällt auf, dass auch andere frühe Legenden die direkte Rede lediglich sparsam einsetzen (vgl. NINE MIEDEMA: Wie spricht ein Heiliger? Veldekes Sente Servas im Kontext der niederrheinischen ‚Legendenlandschaft‘. In: Mittelalterliche Literatur im Rhein-Maas-Gebiet. Hrsg. von RÜDIGER BRANDT/KURT OTTO SEIDEL [in Druckvorbereitung]); möglicherweise manifestiert sich hier eine gewisse Scheu vor der Darstellung göttlich legitimierter Rede. Dies würde allerdings nicht erklären, warum auch der Vorauer Alexander die (weltlichen) Protagonisten lediglich an relativ wenigen Stellen in direkter Rede zu Wort kommen lässt (Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen. Hrsg. und erklärt von KARL KINZEL, Halle an der Saale 1884 [Germanistische Handbibliothek 6], V. 273f., 287-296, 341-356, 373-380, 397-410, 422, 489-495, 544, 553-555, 569-592, 961-964, 1076-1128, 1153-1156, 1175-1194, 1298-1302, 1346-1364, 1521-1523; es handelt sich in den meisten Fällen um Halbdialoge oder um „das Gegeneinander zweier sich ausschließender Willensentscheidungen“, vgl. SCHULTE [Anm. 9], S. 162-166, das Zitat S. 164). – Zur Möglichkeit, dass die Form der Dialoge im Mittelalter möglicherweise als gattungskonstituierendes bzw. -differenzierendes Merkmal eingesetzt wurde, siehe OTFRID EHRISMANN: Heroische und höfische Kommunikation. Szenen aus der mittelhochdeutschen Epik. In: Kommunikationsformen im Wandel der Zeit. Vom mittelalterlichen Heldenepos zum elektronischen Hypertext. Hrsg. von GERD FRITZ/ANDREAS H. JUCKER, Tübingen 2000 (Beiträge zur Dialogforschung 21), S. 259-281; ALMUT SUERBAUM: Structures of Dialogue in Willehalm. In: Wolfram’s Willehalm. 15 Essays. Hrsg. von MARTIN H. JONES/TIMOTHY MCFARLAND, Rochester 2002, S. 231-247; MARYVONNE HAGBY: Die Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden. Inhaltliche, funktionale und gattungsgeschichtliche Überlegungen. In: NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER (Anm. 9), S. 73-87; KATHARINA PHILIPOWSKI: Strophisches und stichisches Sprechen. Medientheoretische Überlegungen zur Figurenrede in höfischer Epik und Heldenepik. In: NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER (Anm. 9), S. 43-71.

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IV. Intradiegetische Figurendialoge als Spiegel narratologischer Prinzipien? An früherer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass Wolfram von Eschenbach durch seine Weigerung, einzelne Redeszenen auszugestalten, ein besonders reflektierter Umgang mit Figurenrede nachgewiesen werden kann. Für die Frage, ob auch die Gestaltung der Figurenrede in mittelalterlichen Erzähltexten dazu verwendet wird, die auf der Erzählerebene dargelegten poetologischen bzw. narratologischen Reflexionen widerzuspiegeln, ist erneut auf Wolframs Parzival zurückzukommen. Im Prolog der deutschen Fassung des Parzival stellt der Erzähler (auch hier in der Rolle des Autors) bekanntlich dar, dass seine Sympathie den ‚elsternfarbenen Menschen‘ gelte (V. 1,6), die Schwarzes und Weißes in sich vereinten. Das Elsterngleichnis kommentiert er wie folgt:49 diz vliegende bîspel ist tumben liuten gar ze snel, sine mugens niht erdenken: wand ez kan vor in wenken rehte alsam ein schellec hase. (V. 1,15-19) Der geflügelte Vergleich hier ist zu schnell für Ignoranten – ihr Denken kommt hier nicht mehr mit, denn er schlägt vor ihnen Haken wie ein Hase auf der Flucht.

Dieser vom Erzähler zur Erläuterung eingefügte Vergleich versetzt den Rezipienten des Textes in die Rolle des Jägers, der einem wenkenden Hasen nachstellt, wobei der Hase einerseits das sich verselbstständigende Gleichnis symbolisiert, andererseits (metanarrativ) die mit dem Gleichnis verfolgte Erzählstrategie: Ein Hase schlägt Haken, um sicher zum Ziel zu kommen, seine Bewegung erweckt somit zwar auf den ersten Blick möglicherweise den Eindruck, ziellos zu sein,50 sie ist jedoch in Wirklichkeit eine gezielte _____________ 49

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Vgl. hierzu die folgenden Kommentare, die sich auch auf Gottfrieds von Straßburg Reaktion auf das hier verwendete Bild vom Hasen beziehen: HELMUT BRALL: Diz vliegende bîspel. Zu Programmatik und kommunikativer Funktion des Parzivalprologes. In: Euphorion 77 (1983), S. 1-39; ALEXANDRA STEIN: wort unde werc. Studien zum narrativen Diskurs im Parzival Wolframs von Eschenbach, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 31), S. 170-178; Wolfram von Eschenbach: Parzival (Anm. 32), S. 447f.; JOACHIM BUMKE: Wolfram von Eschenbach, Stuttgart, Weimar 82004, S. 42f., S. 204. Zum Elsterngleichnis siehe auch HEINRICH HÜNING: Würfelwörter und Rätselbilder im Parzivalprolog Wolframs von Eschenbach, Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, 1767). BUMKE (Anm. 49), S. 43, spricht von einer „Unberechenbarkeit der Erzählung, die bald diese, bald jene Richtung einschlägt“. „Die Erzählung bewegt sich nicht gradlinig, sondern in Winkeln und Bögen, bald in die eine, bald in die andere Richtung. Das hakenschlagende Erzählen arbeitet mit unerwarteten Wendungen, Widersprüchen, Disproportionen. Die unruhige Bewegung erschwert das Verständnis. Die vom Zuhörer erwartete Beisteuer besteht offenbar in der Bereitschaft (und Fähigkeit), die Sprünge der Erzählung als Gedanken-

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und erfolgversprechende Taktik. Der Erzähler verschachtelt auf der narrativen Makroebene die Geschichten Gahmurets, Parzivals und Gawans und bezeichnet das Hakenschlagen zwischen den Erzählsträngen, das für die tumben liute nur schwer nachvollziehbar sei,51 als seine Erzählstrategie.52 Wie bei der Analyse von Otfrids Evangelienbuch angedeutet, lässt auch hier der komparatistische Ansatz die Eigenheiten des zu untersuchenden Tex_____________

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sprünge mitzuvollziehen“ (ebd., S. 204). Ob der Vergleich mit der Konsequenz zu Ende zu denken ist, dass sich der Sinn des Vergleichs (und damit der Sinn der Erzählung) letztlich jeder Anstrengung des ‚Jägers‘, des Textinterpreten, entziehe, da das Ziel eines fliehenden Hasen erst dann erreicht ist, wenn er dem Jäger entkommen ist, sei dahingestellt (vgl. STEIN [Anm. 49], S. 178: „das Aufhören der Bewegung ist der Tod des gejagten Hasen und der Tod des Erzählens einer Erzählung“). Vielleicht soll mit dem Gleichnis die von CORNELIA SCHU beschriebene „Unabschließbarkeit der Sinn-Produktion“ zum Ausdruck gebracht werden (CORNELIA SCHU: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. u. a. [Kultur, Wissenschaft, Literatur 2], S. 399, S. 428 [ohne Bezug zur hier zitierten Stelle]). Die Angabe Trevrizents, Gott könne an niemen wenken (V. 462,28), die den Begriff des wenkens in negativem Sinne wiederaufgreift (auch so in V. 466,4: es wenket sîner minne nieht), wäre in diese Überlegungen einzubeziehen: Wird hier das Erzählprinzip des wenkens ironisch kommentiert? Vgl. Collected Indexes to the Works of Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von R.-M. S. HEFFNER, Madison 1961: Das Wort wenken wird im Parzival nur selten verwendet und ist (außer im Kampfzusammenhang, V. 386,9) zumeist negativ besetzt (vgl. insbesondere die Zusammenstellung zwîvels wanke, V. 119,28; siehe auch die positive Verwendung von âne wenken in Bezug auf minne, V. 283,14f., V. 223,4, triwe, V. 462,18, V. 751,13 und stæte, V. 715,15). Mit der behenden Bewegung des hasen vergleichbar ist die Verwendung des Wortes wenken in V. 87,6, 406,22, 567,8 und 651,13. – Die Frage nach dem Einsatz unzuverlässiger Erzähler, der erst im 19. Jahrhundert nachzuweisen sei, könnte anhand dieser Überlegungen zu mittelalterlichen Texten erneut aufgegriffen werden (vgl. FLUDERNIK [Anm. 1], S. 127f.; MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 100-107, mit Verweis auf antike Texte). Dass Wolframs Erzähler „höchst unzuverlässig“ sei, wurde jüngst von RAINER WARNING betont, siehe RAINER WARNING: Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich/Parzival). In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von UDO FRIEDRICH/BRUNO QUAST, Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 19-33, hier S. 30f., das Zitat S. 30. Damit bleibt unbestritten, dass im Parzival ebenso ein bogenschlagendes Erzählen nachweisbar ist, das Textkohärenz stiftet; vgl. bereits MICHAEL SCHROEDEL: Bogenschlagendes Erzählen in Wolframs Parzival, Diss. Leipzig 1973, insbesondere S. 5-15. Zu den Widersprüchen bezüglich der bevorzugten Art des Erzählens, die sich durch das Hinzuziehen des Bogengleichnisses ergeben (V. 241,8-30; V. 805,14f.), siehe zuletzt SCHU (Anm. 50), S. 170191; PETER KERN: ich sage die senewen âne bogen. Zur Reflexion über die Erzählweise im Parzival. In: Wolfram von Eschenbach – Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Kolloquium 2000. Hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS u. a., Berlin 2002 (Wolfram-Studien XVII), S. 46-62; BUMKE (Anm. 49), S. 205f. SCHU (Anm. 50), S. 51-54, weist darauf hin, dass der Text darüber hinaus „literarisch bekannte Positionen aufruft, um sie dann zu hinterfragen“ (S. 51); diese intertextuellen Bezüge, die von ULRIKE DRAESNER: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 36), behandelt werden, können hier außer Betracht gelassen werden.

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tes umso deutlicher hervortreten; es sei deswegen zunächst Chrétiens Umgang mit dem Wechsel zwischen den Erzählsträngen dargestellt. In V. 6212 wechselt der Erzähler von der Darstellung von Gavains Geschichte erneut53 zur Darstellung der Geschicke Perchevals. Inszeniert wird eine gewisse Launenhaftigkeit des Erzählers, der die Freude an der Erzählung über Gavain verloren habe und sich nun wieder der estoire über Percheval zuwende:54 Ne d’aus ne del doel que il [= Gavain und die Knappen] font Rien plus a dire ne me plaist. De monseignor Gavain se taist Ichi li contes a estal, Si comenche de Percheval. Perchevax, ce nos dist l’estoire, Ot si perdue la miemoire Que de Dieu ne li sovient mais [...]. (V. 6212-6219) Über sie und ihren Abschiedsschmerz möchte ich kein weiteres Wort verlieren. Genau hier hört die Erzählung auf, von Ritter Gauvain zu sprechen, um sich Parzival zuzuwenden. Wie unsere Vorlage berichtet, hatte dieser sein Gedächtnis so vollständig verloren, daß ihm nicht einmal mehr Gott in den Sinn kommt.

In der deutschen Fassung markiert dieser Wechsel den Anfang des Buches IX. Der Übergang von der Gawan- zur Parzival-Handlung wird hier sehr viel deutlicher betont als bei Chrétien, indem ein Dialog zwischen dem extradiegetischen Erzähler und der personifizierten Erzählung, frou Aventiure, eingeführt wird. Diese Auseinandersetzung zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Hakenschlagen zwischen den Erzählsträngen thematisiert, _____________ 53

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Vgl. den ersten Wechsel: Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von FELICITAS OLEF-KRAFFT, Stuttgart 1991 (RUB 8649), V. 4814f.: Des aventures qu’il [= Gavain] trova / M’orrés conter molt longuement ; „Von seinen Erlebnissen werdet Ihr mich geraume Weile berichten hören“. Im deutschen Text ist dieser Übergang um narratologische Reflexionen erweitert, die auf die âventiure als Urheberin des Nebeneinanders der Erzählstränge verweisen, der sich der Erzähler nicht entziehen könne (V. 337,23-338,30, insbesondere V. 338,5-7: diu [= âventiure] prüevet manegen âne haz / derneben oder für in baz / dan des mæres hêrren Parzivâl); „Unbefangen stellt [sie] andre neben Parzival, den Herr[n] des Romans, ja noch vor ihn“. Ähnlich schnörkellos wechselt der Erzähler nach Perchevals Aufenthalt beim Einsiedler wieder zur Gavain-Geschichte: De Percheval plus longuement / Ne parole li contes chi, / Ainz avrez molt ançois oï / De monseignor Gavain parler / Que rien m’oiez de lui conter (V. 6514-6518; „Für den Augenblick verweilt die Erzählung nicht länger bei Parzival, und bevor ich auf ihn zurückkomme, werdet ihr zunächst viel über Herrn Gauvain vernehmen“); der deutsche Text lässt hier jeden Hinweis auf den Wechsel der Erzählstränge aus (der Hinweis in V. 503,1, Ez næht nu wilden mæren, lässt keinen Rückschluss darauf zu, welcher Protagonist diese wilden mære erleben wird).

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sowohl explizit als auch implizit; Letzteres dadurch, dass auch die Sätze des Erzählers syntaktische Sprünge aufweisen: „Tuot ûf.“ wem? wer sît ir? „ich wil inz herze dîn zuo dir.“ sô gert ir zengem rûme. „waz denne, belîbe ich kûme? mîn dringen soltu selten klagn: ich wil dir nu von wunder sagn.“ jâ sît irz, frou Aventiure? wie vert der gehiure? ich meine den werden Parzivâl [...]. (V. 433,1-9) „Macht auf!“ Wem? Wer seid Ihr denn? „Ich will zu dir ins Herz hinein.“ Dort wird es viel zu eng für Euch ... „Na und? Schaff ich es nur mit Mühe – du mußt nicht klagen, weil ich drängle – ich erzähl dir Wundersames!“ Ach, Ihr seid’s, Herrin der histoire? Wie geht’s dem lieben Jungen? Ich mein, dem edlen Parzival ...

Ausschlaggebend sind insbesondere die Verse 433,7-9: Nach der Anagnorisis (in Form einer Frage mit nachgestellter Anrede: jâ sît irz, frou Aventiure?, V. 433,7) stellt die Erzählerfigur der personifizierten Erzählung eine aufgrund der mehrdeutigen Deixis unverständliche Frage, die er erst nachträglich spezifiziert: wie vert der gehiure? / i c h m e i n e den werden Parzivâl (V. 433,8f.). Die Störung der Deixis inszeniert die Verwirrung der Erzählerfigur, die hiermit die Verantwortung für das Hakenschlagen an die Aventiure delegiert: Sie unterbricht ja, so die fingierte Situation, mit einigem Nachdruck die Erzählung über Gawan, die bereits zwei vollständige Bücher in Anspruch genommen und offensichtlich noch keinen Abschluss gefunden hat.55 Betrachtet man den weiteren Verlauf der Einleitung des Buches IX, so zeigt sich, dass der Erzähler mehrfach in syntaktischer und erzähllogischer Sicht Haken schlägt56 – die Verwirrung des Erzählers in_____________ 55

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Ähnliches war auch bereits beim Übergang von Buch VI zu Buch VII ausgesagt worden, siehe oben, Anm. 53. Im vorliegenden Zusammenhang erhält dort die folgende Frage besonderes Gewicht, da auch sie auf die Fähigkeit ausgerichtet ist, den Text angemessen zu interpretieren: wer sol sinnes wort behalten, / es enwelln die wîsen walten? (V. 338,15f.); „Wer nimmt die Dichterworte auf, wenn es die Kenner nicht mehr tun?“. Dies wird dargestellt von HENRIKE LÄHNEMANN: Haken schlagende Reden. Der Beginn des neunten Buchs des Parzival. In: NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER (Anm. 9), S. 261-280, insbes. S. 267-271. Als Beispiele seien die Anakoluth-Konstruktionen in V. 433,9-15 und V. 433,24-27 angeführt. SCHUHMANN (Anm. 16), S. 237, unterschätzt das Potential der Stelle, wenn er angibt, „[a]lles in allem ist das Sprechen mit der Personifikation im Parzival keine sonderlich spektakuläre Sache und Wolfram an der Ausgestaltung des Dialogs offensichtlich nicht besonders interessiert“. – Es braucht kaum betont zu werden, dass diese syntaktischen Formen nicht mit dem Hakenstil im Sinne ANDREAS HEUSLERs zu verwechseln sind; siehe dazu zusammenfassend DIETER KARTSCHOKE: Zeilenstil. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 880f.; zum Hakenstil bei Wolfram siehe zuletzt SCHUHMANN, ebd., S. 67-71.

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szeniert ihn hier, so die fingierte Erzählsituation, als der Aventiure unterlegen, die die Erzählerfigur dazu zwingt, den notwendigen Haken zurück zu den wunder[n] (V. 433,6) über die eigentliche Hauptfigur zu schlagen, des mæres hêrren Parzivâl (V. 338,7, vgl. V. 140,13), den rehten stam (V. 678,30), dem diz mære wart erkorn (V. 112,12). Wie sehr das Prinzip des Hakenschlagens konstitutiv ist für die Erzählweise des Romans, wie sehr dieses als bewusstes narratologisches Prinzip auf Makro- u n d Mikroebene verstanden werden kann, zeigt sich dann, wenn man das Gespräch zwischen Erzähler und frou Aventiure im Vergleich zu den nachfolgenden Dialogen auf der Figurenebene in Buch IX untersucht. So schlägt Trevrizent, ein heilec man,57 der als ein ausgesprochen zuverlässiger Gesprächspartner eingeführt wird und dessen elsternähnliche „Geschecktheit“ vom Rezipienten erst zu ermitteln ist,58 in seinem für das Verständnis des gesamten Werkes zentralen Gespräch mit Parzival ebenfalls mehrfach Haken.59 Auch hier zunächst einige Beobachtungen zum französischen Text, in dem der Dialog durch eine starke Zielgerichtetheit gekennzeichnet ist.60 Der hier namenlose Eremit wird ebenfalls als un s a i n t hermite bezeichnet.61 Percheval ist bereits vor seiner Begegnung mit ihm durch die Worte des pilgernden Ritters von Reue über seine mesfais überwältigt, dont molt se repentoit (V. 6335f.; Übersetzung N. M.: „Fehler, die er sehr bereute“), so dass er weinend beim Einsiedler eintrifft und keiner Aufforderung bedarf, um seine dem Feiertag unangemessene Rüstung abzulegen. Der Einsiedler, der gerade die Messliturgie feiert und [q]ui molt le vit simple et plorant (V. 6351; „da er ihn voll edler Einfalt weinen sah“), ruft ihn zu sich, wie in _____________ 57

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Es ist dies keine Erzählercharakterisierung, sondern die Bezeichnung, die der Graue Ritter Kahenîs für Trevrizent wählt (V. 448,23). Vgl. jedoch die Bestätigung seitens des Erzählers in V. 452,15 und V. 452,23 (der kiusche Trevrizent führt ein heileclîchez leben; der Begriff kiusche findet sich außerdem in V. 452,20 und V. 452,28. Er tritt hier somit in besonderer Dichte auf). Vgl. SCHU (Anm. 50), S. 307-321, das Zitat S. 309. Dass Trevrizents Aussagen nicht zur „logisch privilegierte[n] Figurenrede“ gehören (MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 97), dass ihm nicht die „Deutungshoheit“ über die textinternen Geschehnisse zusteht (SCHUHMANN [Anm. 16], S. 116), ist nicht von Anfang an erkennbar. BERND SCHIROK: Trevrizent und Parzival. Beobachtungen zur Dialogführung und zur Frage der figurativen Komposition. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 10 (1976), S. 43-71, hier S. 48, S. 50, umschreibt Ähnliches, wenn er davon spricht, dass im Dialog mehrfach das „Rad der Handlung [...] zurückgedreht“ werde bzw. das Gespräch „auf Parzivals Sünde zurückkommen“ „könnte und müßte“, ohne dies jedoch mit dem Prolog in Verbindung zu bringen. Vgl. dazu zuletzt zusammenfassend BUMKE (Anm. 49), S. 91f. V. 6303, ebenso V. 6330, beide Male im Rahmen von Figurenrede, V. 6500 auch in Erzählerrede. Seitens des Erzählers finden sich außerdem die Kennzeichnungen als li buens hom (V. 6350, ähnlich V. 6360; „der gute Mann“) und li preudom (V. 6368, 6387, 6390; Übersetzung N. M.: „der untadlige Mann“).

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indirekter Rede erzählt wird. Weiterhin in indirekter Rede wird wiedergegeben, wie Percheval li prie que il li doinst / Conseil, que grant mesteier en a (V. 6359f.; „Er bittet ihn, ihm Hilfe zu gewähren, denn er brauche sie nötig“). Ohne Umschweife fordert der Eremit ihn auf, [a] dire sa confession (V. 6361; „die Beichte abzulegen“), und ohne Verzögerung verbalisiert Percheval seine contritio darüber, dass er seit fünf Jahren den Glauben an Gott verloren habe (V. 6364-6367). Der Einsiedler fragt Percheval nach dem Grund für den Verlust seines Glaubens und fordert ihn dazu auf, Gott um Verzeihung zu bitten (V. 6368-6371); Percheval verweist direkt auf seine Missgeschicke auf der Gralsburg und den daraus resultierenden Schmerz, der ihn vom rechten Glauben abgebracht habe (V. 6372-6386). Der Einsiedler fordert Percheval auf, seinen Namen zu nennen (V. 6387f.), dieser antwortet unmittelbar (V. 6389). Der Eremit, [q]ui le non a reconneü (V. 6391; „der den Namen erkennt“), erläutert in einem längeren Monolog (V. 6392-6433) sowohl den Grund für Perchevals Versagen, den er darin sieht, dass Percheval für den Tod seiner Mutter verantwortlich sei,62 als auch Perchevals Verwandtschaftsverhältnisse sowie die wichtigsten Eigenschaften des Grals. Von Percheval dazu aufgefordert, die verwandtschaftliche Anredeform neveu zu verwenden (V. 6434-6438), akzeptiert der Einsiedler zwar die Anredeform, verharrt jedoch weiter in der Rolle des Beichtvaters, der genaue Bußauflagen formuliert (V. 6439-6474), deren Bestätigung er explizit einfordert (und von Percheval erhält: Oïl, sire, molt volentiers, V. 6475; „Ja, Herr, mit Freuden [wörtlich: sehr gerne]“). Percheval bleibt aufgrund dieser Auflagen mehrere Tage in der Einsiedelei und empfängt zu Ostern die Kommunion.63 Die deutsche Fassung zeigt eine so stark von diesem Aufbau abweichende und so dezidiert weniger lineare Dialogführung,64 dass bewusste _____________ 62 63

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In Chrétiens Fassung weiß Percheval, anders als Wolframs Parzival, bereits durch ein früheres Gespräch mit seiner Kusine, dass seine Mutter gestorben ist (V. 3606). Die Anspielungen auf eine Auferstehung Perchevals in Analogie zur Auferstehung Christi sind damit in der französischen Fassung erheblich deutlicher als in der deutschen. – Die französische Fassung erwähnt außerdem, dass der Einsiedler Percheval ein Gebet lehrt, das nahezu magische Wirkung zeige und nur in größter Gefahr verwendet werden dürfe (V. 6481-6492), ein Motiv, das bei Wolfram fehlt. Obwohl mittelalterliches Erzählen als final motiviertes Erzählen verstanden werden darf (vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL [Anm. 1], S. 111f.), wird diese Art des Erzählens in der französischen Fassung signifikant anders gestaltet als in der deutschen. Siehe zum betreffenden Dialog die folgenden Forschungsbeiträge, die allerdings keinen genaueren Vergleich zur französischen Fassung ziehen: PETRUS W. TAX: Trevrizent. Die Verhüllungstechnik des Erzählers. In: Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. Festschrift für Hugo Moser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von WERNER BESCH u. a., Berlin 1974, S. 119-134; SCHIROK: Trevrizent und Parzival (Anm. 59); DERS.: Ich louc durch ableitens list. Zu Trevrizents Widerruf und den neutralen Engeln. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1987), S. 46-72; DAGMAR NEUENDORFF: Das Gespräch zwischen Parzival und Trevrizent im IX. Buch von Wolframs Parzival. Eine diskursanalytische Untersuchung. In: Neophilologi-

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Eingriffe angenommen werden dürfen, die es zu interpretieren gilt. Chrétiens Text gibt lediglich e i n e n in sich geschlossenen Dialog vor; bei Wolfram sind dagegen mehrere Phasen des Dialogs mit unterschiedlichen Themen und wechselnder Form zu unterscheiden.65 Parzivals beichtähnliche Eingeständnisse und Trevrizents Belehrungen bzw. Informationen werden von längeren Erzählphasen unterbrochen, die nicht dialogisch gestaltet sind:66 Phase I (V. 456,4-458,24): Begrüßung, erste Klärung der Sprecherkonstellation. Unterbrechung: Versorgen des Pferdes, Ablegen der Rüstung.67 Phase II (V. 460,1-467,18):68 Parzivals Eingeständnis seiner Gottesferne; Belehrung über Gott. Phase III (V. 467,19-474,24): Parzivals Hinweis auf den Gral; Belehrung über den Gral. Phase IV (V. 474,25-484,30): Parzivals Eingeständnis der Tötung Ithêrs; Belehrung über Verwandtschaft, Gralssippe und Fragemotiv. Unterbrechung: Essen und Unterhaltung darüber. Phase V (V. 488,1-501,6): Parzivals Eingeständnis seiner Identität; Belehrung über Sünde und Erlösung. Unterbrechung: Nacht, zwei Wochen Aufenthalt bei Trevrizent.69 _____________

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ca Fennica. Hrsg. von LEENA KAHLAS-TARKKA, Helsinki 1987 (Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki 45), S. 267-294; URSCHELER (Anm. 15), S. 217-222; SCHUHMANN (Anm. 16), S. 176-191. Wichtig erscheint, dass der Dialog nicht insgesamt als ein Belehrungsgespräch aufgefasst werden sollte; dies im Gegensatz zu URSCHELER (Anm. 15), S. 217-222, der allerdings differenziert, dass „initiative Fragehandlungen sowie reaktive Antworten nicht auf die Figur des Schülers, respektive Lehrers festgelegt“ sind und „auch nicht immer mit dem anfangs vereinbarten [?] Dialogziel ‚Beratung‘ respektive ‚Belehrung‘ überein[stimmen]“ (S. 218), und GEROK-REITER (Anm. 16), S. 143. – Die numerischen Reihenbildungen, die SCHIROK: Trevrizent und Parzival (Anm. 59), S. 68-71, beschreibt, erscheinen mir wenig aussagekräftig. Ausschlaggebend ist folgende Beobachtung NEUENDORFFs (Anm. 64), S. 292: „Literalisiert ist der Diskurs in Bezug auf seine Bedeutungsdichte, seine Komplexität und Konstruiertheit. So greifen Aussagen in einer Dichtigkeit ineinander und werden in neuen Bedeutungskontexten neu realisiert, wie dies in mundanen Diskursen nicht denkbar ist. [...] Der oft diffusen Ungelenktheit mundanen Gesprächsverhaltens steht Konstruiertheit sowie Strukturierung in dem literarischen Dialog gegenüber“. NEUENDORFF (Anm. 64), S. 275, fasst die Phase I und die erste Unterbrechung zur „Gesprächseröffnung“ des Dialogs zusammen (entsprechend auch URSCHELER [Anm. 15], S. 219); detaillierter zu den einzelnen Gesprächshandlungen der Eröffnung NEUENDORFF, S. 276f. NEUENDORFF (Anm. 64), S. 281, fasst die Phasen II-IV zu Teil 1 des Dialoges zusammen; Teil 2 besteht in ihrer Analyse aus Phase V.

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Phase VI (V. 501,19-502,30):70 Letzte Belehrung über den Gral; Abschied. ‚Unterbrechung‘: Parzivals zweiter Aufstieg. Phase VII (V. 797,16-799,13):71 Trevrizents ‚Beichte‘: Widerruf; Belehrung über Gott und den Gral. Wolframs Parzival wird bei seiner Ankunft bei Trevrizent nicht als von Reue überwältigt dargestellt.72 Obwohl er bereits weiß, dass Karfreitag ist, legt er seine Rüstung nicht sofort ab73 und muss sogar trotz seiner zuht (V. 456,25) zweimal explizit dazu aufgefordert werden abzusitzen:74 „[...] nu ruocht erbeizen, hêrre [...]. ruocht erbeizen, ob ichs biten muoz.“ Parzivâl der wîgant erbeizte nider al zehant, mit grôzer zuht er vor im stuont. er tet im von den liuten kuont, die in dar wîsten, wie die sîn râten prîsten. (V. 456,13-28)

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NEUENDORFF (Anm. 64), S. 279f., bezeichnet die Phasen II-V mitsamt der Unterbrechungen als „Gesprächsmitte“ und zeichnet innerhalb dieser Gesprächsmitte die Verklammerung der Themen genauer nach, als dies hier geleistet werden kann. NEUENDORFF (Anm. 64), S. 289f., beschreibt diese Phase des Dialogs als die „Gesprächsbeendigung“. Auffällig ist, dass weder NEUENDORFF (Anm. 64) noch URSCHELER (Anm. 15) auf diese letzte Dialogphase eingehen. Die thematische Fortführung berechtigt (trotz der erheblichen Lücke in der erzählten Zeit zwischen den Büchern) dazu, die Dialogsequenz in Buch XVI als eine Fortführung des gleichen Dialogs unter veränderten Vorzeichen zu interpretieren, oder zumindest als dessen Wiederaufnahme. Zwar heißt es in V. 451,8-12: sich huop sîns herzen riuwe. / alrêrste er dô gedâhte, / wer al die werlt volbrâhte, / an sînen schepfære, / wie gewaltec der wære („Und so wuchs das Leid [wörtlich: die Reue] in ihm. Jetzt erst dachte er an Ihn, Der diese Welt erschaffen hat, an seinen Schöpfer: welche Macht Ihm damit zu Gebote stand“), jedoch zeigen weder Parzivals Gedankenreden (V. 451,13-22 und V. 452,1-9) noch sein nonverbales Verhalten (er reitet weiterhin in voller Rüstung) irgendeine Form der contritio cordis. GEROK-REITER (Anm. 16), S. 143, betont zu Recht, dass auf Parzivals Seite „Trotz und Auflehnung [...] leitmotivisch die ganze Szene“ durchziehen und er, anders als bei Chrétien, zu keinem überzeugenden Reuebekenntnis gelangt. Es liegt damit nur bedingt ein Gespräch „mit dem Charakter der ‚inneren‘ Auseinandersetzung“ vor (ebd., S. 144); es eröffnet sich kaum ein subjektiver Erfahrungsraum (S. 144) und ein Weg des Selbstbewusstseins ist lediglich rudimentär artikuliert (S. 145). Dennoch führt Trevrizent Parzival zu einem Geständnis seiner Sünden und ermöglicht ihm einen Weg, die Gralsgesellschaft aus ihrer aussichtslosen Situation zu erlösen. Das Gespräch ist somit auf der Handlungsebene, dem finalen Erzählen entsprechend, erfolgreich. GEROK-REITER (Anm. 16), S. 143, weist auf einen weiteren Unterschied zwischen Parzival und Percheval hin: „Nicht wegen des Karfreitagsgeschehens, sondern wegen der Kälte legt er sie [die Rüstung] ab“. NEUENDORFF (Anm. 64), S. 277, bezeichnet Trevrizents wiederholte Aufforderung als „Einladung“.

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„Mein Herr, geruht nun abzusitzen. Sitzt ab, wenn ich drum bitten darf.“ Parzival, der Recke, sprang sogleich vom Roß, blieb ehrerbietig vor ihm stehn, berichtete ihm von den Leuten, die ihn hierher geschickt, ihm seinen Rat empfohlen hatten.

Nach diesem Redebericht, aus dem hervorgeht, dass Parzival in keiner Weise auf die von Trevrizent zuvor angebotenen möglichen Erklärungen für sein inakzeptables Verhalten eingeht,75 erfolgen Parzivals Bitte um Rat (hier in direkter Rede, die den Imperativ verwendet und damit eher einer Aufforderung, einem Befehl ähnlich ist) und sein Eingeständnis von sünde (V. 456,29f.): dô sprach er „her, nu gebt mir rât: / ich bin ein man der sünde hât.“ Anders als bei Chrétien entspricht Trevrizent dieser Bitte allerdings nicht unmittelbar:76 Dô disiu rede was getân, dô sprach aber der guote man „ich bin râtes iwer wer. nu sagt mir wer iuch wîste her.“ (V. 457,1-4) Als er das ausgesprochen hatte, da sprach erneut der fromme Mann: „Ich geb Euch gerne meinen Rat. Jedoch zuerst [wörtlich: Nun sagt mir]: wer schickte Euch?“

Trevrizent geht somit auf die explizite Aufforderung Parzivals (gebt mir rât, V. 456,29) nur insofern ein, als er ihm Rat verspricht, schlägt dann jedoch den Bogen zurück zu demjenigen, was Parzival vorher über die Pilger gesagt hat, die ihn an Trevrizent verwiesen haben – Worte, die hier dadurch, dass sie im Redebericht wiedergegeben werden, als weniger wichtig markiert werden.77 Diese Teilsequenz des Dialogs behandelt somit: ‚die Pilger – die Bitte um Rat – die Bitte um Rat – die Pilger‘, ohne dass die zentrale Bitte erfüllt wird. Im Sinne der Dialoganalyse wäre Trevrizent (oberflächlich betrachtet) ein Mangel an Kooperationsbereitschaft zu unterstellen. Gleichzeitig unterwandert Parzival selbst den von ihm eingeforderten Dialogtyp.78 Nach Trevrizents Auskunft über Kahenîs (V. 457,11-20) kommt Parzival nicht etwa auf den Rat zurück, den er vom Einsiedler _____________ 75 76

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strît, hôchferte oder âventiure durch minnen solt: V. 456,8, 456,12, 456,16f.; vgl. NEUENDORFF (Anm. 64), S. 277; URSCHELER (Anm. 15), S. 218. SCHIROK: Trevrizent und Parzival (Anm. 59), S. 47; NEUENDORFF (Anm. 64), S. 277; URSCHELER (Anm. 15), S. 218f. – Es ist kaum zufällig, dass der Erzähler nach dem Gespräch mit frou Aventiure auf exakt die gleiche Art und Weise einen Haken schlägt: Nach seiner Aussage, an dem [= Trevrizent] ervert n u Parzivâl / diu verholnen mære umben grâl (V. 452,29f.; „Das Geheimnis um den Gral erfährt durch ihn jetzt Parzival“), erfolgt zunächst der Kyot/Flegetanis-Exkurs, bevor der Dialog zwischen Parzival und Trevrizent tatsächlich beginnt. Vgl. SCHUHMANN (Anm. 16), S. 32f. (mit Verweis auf ältere Literatur). NEUENDORFF (Anm. 64), S. 278.

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brauche, sondern lenkt ab, indem er Trevrizent fragt, ob er ihn erschreckt habe, was dieser verneint (V. 457,21-458,12).79 Trevrizent schlägt nun seinerseits einen Haken, indem er die Aufmerksamkeit auf Parzivals (Grals-)Pferd lenkt. Um dessen Versorgung kreist die nächste Gesprächssequenz, die somit den Verlauf des übergeordneten Dialogs unterbricht.80 Im Erzählerbericht wird skizziert (V. 458,26-459,30), dass sich Trevrizent danach um die Rüstung bzw. Kleidung seines Gastes kümmert, bis das von Parzival wiedererkannte Reliquiar diesen zur zweiten Dialogphase veranlasst: Er fragt nach der Zeit, die zwischen seinem ersten und seinem aktuellen Besuch verstrichen sei (V. 460,1-30). Seine erschrockene Reaktion auf Trevrizents Angabe, es seien fünfthalp jâr unt drî tage vergangen (V. 460,22), geht in eine Art Beichte über, womit zurück zum Thema des Dialoganfangs gesprungen wird: Parzival gesteht dem Einsiedler, er sei in diesem Zeitraum dem Gottesdienst ferngeblieben, und erläutert seinen Gotteshass (V. 461,1-26).81 Dieser veranlasst Trevrizent zwar zur Aufforderung, sagt mir mit kiuschen witzen, / wie der zorn sich an gevienc, / dâ von got iwern haz enpfienc (V. 462,4-6; „erzählt mir, doch mit kühlem Kopf, wie Euer Zorn entstanden ist, aus dem der Haß auf Gott erwuchs“), der Einsiedler unterwandert diese Aufforderung jedoch selbst, indem er zunächst in einem sehr ausführlichen, autoritativ gestalteten Monolog auf Gottes Güte und Hilfsbereitschaft eingeht (V. 462,7-467,10).82 _____________ 79

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TAX’ Interpretation, Trevrizent habe bereits bei Parzivals Ankunft befürchtet, Lähelîn vor sich zu haben, wurde von SCHIROK widersprochen, der ausführte, Trevrizent könne zu diesem Zeitpunkt nicht entscheiden, ob er mit Parzival oder Lähelîn konfrontiert sei (TAX [Anm. 64], S. 121, 129; SCHIROK: Trevrizent und Parzival [Anm. 59], S. 48-50). Auch die Annahme, dass die Kombination von roter Rüstung und Gralspferd ausschließlich auf Parzival oder Lähelîn hinweisen könne, erscheint jedoch keineswegs zwingend (vgl. NEUENDORFF [Anm. 64], S. 284). Auffällig ist, dass mehrere Figuren fälschlich mit Lähelîn identifiziert werden: Parzival glaubt, statt Ithêr Lähelîn zu begegnen (V. 154,25), Cunnewâre weiß zunächst nicht, ob Orilus oder Lähelîn vor ihr stehe (V. 275,24). V. 458,13-25. URSCHELER (Anm. 15), S. 219, spricht von einer „Zäsur“ im Dialog. Parzivals Worte in V. 451,13-22 und V. 452,5-8 aufgreifend, ist auch in V. 461,22-26 eine Häufung des Wortes helfe zu finden. Drücken diese Passagen durch die figura etymologica den Zweifel an Gottes Hilfe aus (SCHUHMANN [Anm. 16], S. 104f.), so ist Gawans stilistisch ähnliche Rede (V. 568,1-11), die von SCHUHMANN auffälligerweise nicht thematisiert wird (vgl. ebd., S. 106, Anm. 173), gerade von Zuversicht geprägt; da hier die helfe nicht „auf die Dialoge mit Parzival begrenzt ist“ (ebd., S. 105), wäre die genannte Passage ein Gegenbeispiel zu SCHUHMANNs Hypothese der „Potenz der Reden P a r z i v a l s , Kernkonzepte der Ritterschaft zu thematisieren“ (ebd., S. 104; Hervorhebung N. M.). Es fehlt bei Gawan allerdings, im bewussten Kontrast, eine Problematisierung der helfe (vgl. ebd., S. 106). URSCHELER (Anm. 15), S. 220, vermerkt, dass Trevrizent „ausführlich über Gottes triwe [doziert], ohne seinem Dialogpartner Gelegenheit zur Beantwortung der anfangs gestellten Frage zu geben“. – Die autoritativen, belehrend-auffordernden Elemente in diesem Passus lassen sich sprachwissenschaftlich genauer beschreiben; vgl. z. B. die unmittelbaren Imperative (V. 462,18, 462,29, 463,4, 464,25, 465,13f., 465,19, 466,10, 467,9) bzw. die imperativumschreibenden Konstruktionen (ir sult, V. 465,11, 462,27) sowie die Verwendung von

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Erst nach Parzivals kurzem Dank, dem er einen Hinweis auf seinen kumber folgen lässt (V. 467,18) und der somit zum Ausdruck bringt, dass Parzivals Einstellung zu Gott keinen grundsätzlichen Wandel erfahren hat, entspricht Trevrizent Parzivals ursprünglicher Bitte und eröffnet die dritte Dialogphase, indem er ihm aufträgt, gern ich vernim / waz ir k u m b e r s unde s ü n d e n hât;83 der Haken zurück zu Parzivals erstem Redebeitrag wird durch die Wiederaufnahme der Begriffe sünden (vgl. V. 456,30) und rât (vgl. V. 467,23 und V. 456,29) deutlich markiert. Parzival wiederum, im Sinne der Dialoganalyse hier eindeutig die Kooperation verweigernd,84 vermeidet jetzt jeden Hinweis auf mögliche Sünden und benennt stattdessen als die wichtigsten Faktoren seiner nôt (V. 467,26) den grâl (V. 467,26) und sein wîp (V. 467,27). Trevrizent greift diese beiden Faktoren in umgekehrter Reihenfolge auf, lobt Parzival für seine Sorge um Condwîrâmûrs wohl deswegen, damit dieser auch dem nachfolgenden Tadel bezüglich seines Verlangens nach dem Gral Aufmerksamkeit schenkt,85 und dominiert erneut mit großer Autorität in der Gesprächsphase über den Gral, die Gralsburg, die neutralen Engel, deren Schicksal ihm unbekannt sei, und den Unbekannten, der die Erlösungsfrage nicht stellte (V. 468,10474,4).86 Im Zusammenhang dieser Dialogsequenz vermerkt der Erzähler auffälligerweise, dass der anfänglich nach eigener Aussage beichtwillige Parzival Trevrizent verschweigt, daz ouch er was komen dar, d. h. dass er Munsalvæsche kennt.87 Als Trevrizent Parzival explizit bittet, seinen Na_____________ 83

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sentenzhaften Aussagen (V. 465,15-18, 466,11f., 466,13f. [swer!]) und dem ‚Gemeinde-Wir‘ (V. 462,21). V. 467,20f.; „laßt mich hören, wo Eure Sorgen sind, die Sünden“. SCHIROK: Trevrizent und Parzival (Anm. 59), S. 54, verweist zu Recht darauf, dass Trevrizent den Hinweis auf die sünden gegenüber Parzivals Dialogbeitrag eigenständig ergänzt, um damit zum anfänglich gestellten Dialogziel zurückkehren zu können. Vgl. NEUENDORFF (Anm. 64), S. 283. SCHUHMANN (Anm. 16), S. 118, bezieht dieses Lob allgemein darauf, „dass Sprecher höfisch sprechen“, jedoch ist damit die Funktion von Trevrizents Lob nicht umfassend beschrieben: Dass Trevrizent sein Lob darauf einschränkt, dass Parzival ‚richtig‘ spräche, weil er seiner Sorge über Condwîrâmûrs Ausdruck verleihe, verweist darauf, dass Trevrizent hier den Inhalt und nicht die Form von Parzivals Aussagen lobt. Dieses Lob wird zudem eindeutig dadurch eingeschränkt, dass Trevrizent Parzival unmittelbar danach für seine mangelnde Einsicht tadelt, dass der Gral nicht erkämpft werden könne. Trevrizents Sprachduktus ist hier weniger belehrend-auffordernd (vgl. Anm. 82) als belehrend-informierend: Als Imperativ findet sich lediglich hœrt (V. 470,22). Dass sich Trevrizent als der überlegene Gesprächspartner geriert, wird insbesondere bei seiner Beschimpfung Parzivals als ir tumber man deutlich (V. 468,11); vgl. auch die Asymmetrie, die sich in ich wil iu künden ausdrückt (V. 469,2). Darüber hinaus bezichtigt Trevrizent Parzival erneut, sich der Sünde der hôchvart schuldig zu machen, auf die er ausführlich eingeht (V. 472,12-473,11). V. 468,19f.; Parzival weiß jetzt, dass Trevrizent Parzivals „Sünde der Sache nach vermutlich kennt, daß er nur noch nicht weiß, daß sein Gegenüber sie begangen hat“ (SCHIROK: Trevrizent und Parzival [Anm. 59], S. 55). Vgl. zu Parzivals Schweigen NEUENDORFF

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men zu nennen (V. 474,1; V. 474,24),88 markiert die Angabe ieweder vaste ann andern sach den Anfang der vierten Dialogphase (V. 474,25; Übersetzung N. M.: „Jeder sah den anderen fest an“). Nach diesem kurzen Schweigen, das das sich verändernde Verhältnis zwischen den beiden Dialogpartnern zum Ausdruck bringt, folgt Parzival in scharfem Kontrast zum französischen Text Trevrizents Aufforderung lediglich indirekt, indem er seinen Vater nennt und verneint, dass er Lähelîn sei; er schließt unmittelbar das Eingeständnis der sünde (V. 475,8) des rêroup (V. 475,5) an, bei dem er enthüllt, Ithêr getötet zu haben. Anders als bei Chrétien gibt Trevrizents nachfolgender Dialogbeitrag (V. 475,13476,13) zwei für Parzival entscheidende Informationen weiter, die sich sowohl auf Parzivals Verwandtschaftsverhältnisse (Ithêr) als auch auf seine Sünden (Tod der Herzeloyde) beziehen. Trevrizent spricht hier, anders als in seinen bisherigen Dialogbeiträgen, zunächst mit stark emotionaler Färbung,89 wechselt jedoch relativ bald (V. 476,24) wieder in die Rolle des Wissen vermittelnden Ratgebers, indem er in einem erneut sehr ausführlichen Monolog weitere Informationen über die Gralsfamilie und über Anfortas’ Leiden preisgibt (V. 476,24-484,30).90 Fingiert wird, dass Trevrizent aufgrund der fortgeschrittenen Zeit gezwungen ist, das Gespräch zu unterbrechen: Die Notwendigkeit, Pferd und Mensch mit Nahrung zu versehen, verzögert die Fortsetzung des Dialoges für mehrere Dreißiger (V. 485,1-487,30).91 Erst nach dieser Unterbrechung gesteht Parzival, erneut râtes triuwe einfordernd (V. 488,14), in der fünften Dialogphase, dass er mit dem tumben gleichzusetzen ist, der auf Munsalvæsche die Erlösungsfrage nicht gestellt hat. Trevrizents Reaktion (neve, waz sagestu nuo?, V. 488,21) spiegelt Parzivals früheres Entsetzen _____________ 88

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(Anm. 64), S. 283: „Durch Erzählerbericht [...] wird das bisher analytisch aus dem Diskurs ermittelte Ergebnis mangelnder Kooperationsbereitschaft [auf Parzivals Seite] bestätigt“. Trevrizent äußert sich in dieser Phase des Dialogs bezeichnenderweise nicht länger in Imperativen oder verwandten Konstruktionen, sondern in Frageform (V. 474,1): Die Asymmetrie der Sprecher hat sich dahingehend gewandelt, dass (anders als zu Anfang) jetzt Parzival derjenige ist, der kurzfristig über mehr Informationen verfügt als Trevrizent. Vgl. ôwê, V. 475,13; in V. 475,20 gibt Trevrizent zum ersten (und einzigen) Mal an, sich nicht sicher zu sein, ob er sein Ziel, Parzival Rat zu geben, erfüllen kann. Ich sehe darin weniger eine Drohung, „den in der Gesprächseröffnung eingegangenen Konsensus aufzukündigen“ (NEUENDORFF [Anm. 64], S. 285), als vielmehr einen Ausdruck von Schrecken. Auch hier findet sich ein autoritatives Sprachregister, das (aus der Sicht Trevrizents) die Asymmetrie des Dialogs markiert; ähnlich wie in der dritten Phase ist Trevrizents Ton eher belehrend-informierend als belehrend-auffordernd (auch hier fehlen Imperative; vgl. auch als ich dir, neve, künden wil, V. 477,28). Das in dieser Passage gehäuft verwendete wir ist hier nicht als ‚Gemeinde-Wir‘ zu verstehen, sondern als Ausdruck von Trevrizents Zugehörigkeit zur Gralsgemeinschaft. Der Erzähler markiert zum Abschluss dieser Unterbrechung insbesondere die Ähnlichkeiten zwischen Trevrizent und Parzival: Beide dolten herzen riuwe / niht wan durch rehte triuwe, V. 487,17f.; „Weil Liebe, Treue sie verband, litten sie aus tiefsten Herzen“.

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wider,92 wodurch der sprungartige Wechsel der Redepositionen und Emotionen der beiden Dialogpartner betont wird. Erneut findet Trevrizent jedoch rasch in seine Rolle als Ratgeber zurück, wie die Formulierung du solt (V. 489,2, V. 489,3) zum Ausdruck bringt und der Hinweis ich bin von gote dîns râtes wer bekräftigt.93 Auch in der restlichen fünften Phase dominiert Trevrizent den Dialog (V. 488,21-501,6), jedoch wird Parzival jetzt nicht mehr ausschließlich als unwissend belehrt; dies zeigt sich darin, dass sich Parzival einige Male am Informationsaustausch, zu dem das Gespräch zwischenzeitlich wird, beteiligt.94 Den Schluss markiert hier allerdings auf Trevrizents Seite ein ähnlich autoritativ auffordernder Sprachduktus wie in der ersten Dialogphase.95 Anders als in Chrétiens Fassung verbringt Parzival zwei Wochen bei Trevrizent; es ist nicht die Rede davon, dass der Einsiedler ihm eine Buße auferlegt, vermerkt wird lediglich, dass in der wirt von sünden schiet (V. 501,17; Übersetzung N. M.: „Der Gastherr befreite ihn von seinen Sünden“). So nähert sich ir zweier scheidens tac (V. 502,23), an dem Trevrizent in der sechsten Dialogphase durch seine Angabe gip mir dîn sünde her (V. 502,25) explizit darauf verweist, dass die (hier nicht detailliert ausformulierten) Bußauflagen für Parzivals sünden, anders als bei Chrétien, nicht von Parzival selbst erfüllt zu werden brauchen. Während Parzivals Dialogverhalten als aus „Trotz und Auflehnung“ entstanden bezeichnet werden kann (s. oben, Anm. 72) und darüber hinaus so inszeniert ist, dass er aus Scham (V. 488,5) seine eigenen Lebensda_____________ 92

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Vgl. seine Reaktion auf die Nachrichten, dass Ithêr sein Verwandter war und er außerdem seine Mutter verloren habe: neinâ, hêrre guoter, / waz sagt ir nu? (V. 476,14). Unklar bleibt, warum Parzivals Ausruf Verzweiflung ausdrücke, während Trevrizents gleichlautender Satz als „milde“ (SCHIROK: Trevrizent und Parzival [Anm. 59], S. 62) bzw. als „ausgeglichene[.] und maßvolle[.] Reaktion“ zu verstehen sei (TAX [Anm. 64], S. 126); diese Angabe kann sich nur darauf beziehen, dass Trevrizents n a c hfolgendes Urteil über Parzivals dritte Sünde (ab V. 489,1) relativ mild ausfällt. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Trevrizent davon ausgehen dürfte, dass Parzival keine zweite Chance erhalten werde, zum Gralskönig erwählt zu werden (SCHU [Anm. 50], S. 319). V. 489,21; „mit Gottes Hilfe helf ich dir“. Erneut wird damit eine frühere Aussage wörtlich wiederholt: V. 457,3: ich bin râtes iwer wer. V. 491,20-30, 492,11-22, 493,16-18. Bereits NEUENDORFF (Anm. 64), S. 288, beschrieb die stärker aktive „Eigeninitiative“ Parzivals in dieser Phase des Gesprächs. Parzival bleibt zwar auf Trevrizents Erklärungen über die Geschehnisse um den Gral angewiesen, die starke Asymmetrie des Dialoges wird jedoch teilweise dadurch aufgehoben, dass Trevrizent ihn nunmehr sowohl als Familienmitglied als auch als mit der Gralsburg Vertrauten akzeptiert. Insofern gibt es, anders als von GEROK-REITER (Anm. 16), S. 143, Anm. 144, angegeben, zwischenzeitlich durchaus einen wechselseitigen Dialog. Das veränderte Vertrauensverhältnis zwischen den beiden am Dialog Beteiligten drückt sich auch darin aus, dass nicht nur Parzival von seinen Fehlern erzählt, sondern auch Trevrizent sein eigenes früheres Fehlverhalten eingesteht (V. 495,13-498,6). Vgl. z. B. die Imperative: V. 499,26 (volge mîner ræte), 499,27, 499,28 (zuvor lediglich hœre, V. 497,21); vgl. auch du solt (V. 499,22).

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ten nur stockend preiszugeben scheint, erhält Trevrizents augenscheinlich unkooperatives Verhalten erst dann seine volle Bedeutung, wenn man die These überprüft, er befürchte, dass Parzival der desperatio verfallen sei bzw. verfallen könne, wie er in V. 489,16 explizit angibt.96 In der Forschung wurde bisher nicht beachtet, dass Trevrizents Verhalten etwa mit den Regeln zum Umgang mit Beichtkindern korrespondiert, die von Papst Gregor dem Großen formuliert wurden: Der cura pastoralis zufolge ist mit den tristes, auch wenn sie sich oberflächlich beichtwillig und bußfertig zeigen, mit großer Behutsamkeit umzugehen, da sie leicht dem Zorn verfallen können.97 So heißt es dort, tristibus vero inferenda sunt læta quæ promittuntur ex regno: Habent enim læti ex propinquo luxuriam, tristes iram).98 Entsprechend _____________ 96

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Vgl. V. 489,13-19: möht ich dirz wol begrüenen / und dîn herze alsô erküenen / daz du den prîs bejagtes / unt an got niht verzagtes, / so gestüende noch dîn linge / an sô werdeclîchem dinge, / daz wol ergetzet hieze; „Könnte ich dich so umgrünen und dein Herz so sehr erkühnen, daß du Ehre, Ruhm erringst und vor Gott nicht mehr verzagst, dann wäre der Erfolg bei dir von einem derart hohen Rang, daß sich von Ausgleich reden ließe“. Vgl. zu dieser Deutung anhand von SCHIROK: Ich louc (Anm. 64) SCHU (Anm. 50), S. 319-321; weniger überzeugend scheint mir, dass sich Trevrizent lediglich „möglichst rasch [...] Klarheit darüber [...] verschaffen [wolle], wen von den beiden möglichen Personen, Lähelin oder Parzival, er vor sich“ habe (SCHIROK: Trevrizent und Parzival [Anm. 59], S. 54, vgl. oben, Anm. 79). – Auffällig ist, dass Parzival noch in V. 733,8 angibt, got wil mîner freude niht; auch hier wird deutlich, dass Parzivals Gottesverständnis durch Trevrizents Belehrung keine grundlegende Entwicklung erfahren hat. Siehe auch Parzivals Worte in V. 733,16 (ich pin trûrens unerlôst), V. 733,19f. (got gebe freude al disen scharn: / ich wil ûz disen freuden varn) und den Erzählerkommentar, Parzival sei freudenflühtec (V. 733,25; „Ich bin vom Trauern nicht befreit“, „Gott schenke ihnen allen Freude – ich reit von diesen Freuden weg“, „freudenflüchtig“): Parzival wird von Trevrizent nicht dauerhaft von seiner tristitia erlöst. – Es braucht hier kaum betont zu werden, dass das bereits im ersten Satz des ersten Buches genannte Motiv des zwîvels den gesamten Text durchzieht; es kann sowohl allgemein ‚Ambivalenz‘ oder ‚Zwiespalt‘ als auch speziell den ‚Zweifel an Gottes Hilfe‘ bedeuten, wie zuerst bei Gahmurets Mutter erkennbar wird (V. 10,28-30) (wobei Letzteres allerdings nicht notwendigerweise mit der desperatio gleichzusetzen ist), vgl. HELMUT BRACKERT: Zwîvel. Zur Übersetzung und Interpretation der Eingangsverse von Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von MARK CHINCA u. a., Tübingen 2000, S. 335-347 (mit Verweis auf ältere Literatur). Gregor der Große: Liber regulae pastoralis. In: Sancti Gregorii papae I cognomento magni opera omnia. Hrsg. von JACQUES-PAUL MIGNE, Bd. 3, Paris 1896 (Patrologia Latina 77), Sp. 1-127, hier Kapitel III (Sp. 49-126), etwa III.16 (Sp. 77): necesse est ut hi qui furentes conantur reprimere, nequaquam se in furore erigant, sed quidquid est tranquillitatis ostendant; quædam vero subtiliter profesant, in quibus ex obliquo furentis animum pungant („Es ist notwendig, dass diejenigen, die es unternehmen, die Wütenden zu tadeln, dagegen jede Art von Ruhe zeigen, auf dass jene sich nicht in Raserei erheben; sie sollen die Dinge auf behutsame Weise darstellen, wodurch sie den Geist des Tobenden indirekt berühren“). Trevrizent wird eine gewisse Belesenheit zugeschrieben (er habe der wâren buoche mære gelesen, V. 462,12); entscheidend ist freilich nicht, ob damit unmittelbar die Lektüre von Werken Gregors des Großen gemeint sein kann, sondern lediglich, dass an dieser Stelle des Parzival auch bei Gregor vertretenes Gedankengut aufscheint. Gregor der Große: Liber regulae pastoralis (Anm. 97), Sp. 53, Kapitel III.3 („Den Traurigen sind die fröhlichen Nachrichten vorzubringen, die vom Himmelreich versprochen wer-

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verweist Trevrizent, die Begrifflichkeit der Todsünden aufnehmend, auf Parzivals zorn (V. 462,5) als Ursache für Parzivals haz (V. 462,6; vgl. V. 461,9). In auffälliger Weise korrespondieren auch weitere Aussagen der cura pastoralis mit Verhaltensweisen, die Parzival zugeschrieben werden können. So heißt es dort etwa: Nunnunquam vero, quod est gravius, iræ suæ stimulum justitiæ zelum putant99 – wie oben bereits ausgeführt, verharrt Parzival tatsächlich in seiner uneinsichtigen Haltung, die er selbst für gerechtfertigt hält.100 [A]dmonendi sunt iracundi, ut æmulationi quam se habere existimant, mansuetudinem subjungant; Perturbati quippe quid audiunt ignorant, sed a se reducti tanto liberius exhortationis verba recipiunt, quanto se tranquillius toleratos erubescunt.101 Für den Parzival sind somit Dialogregeln einzubeziehen, die nicht der höfischen Gesprächskultur entstammen102 und die auf eine um 1200 vorhandene wachsende Aufmerksamkeit für die Möglichkeiten des Einsatzes von Techniken der aktiven, bewussten Dialogführung verweisen. Trevrizent wird ein übergeordnetes Dialogziel zugeschrieben, die Rückführung Parzivals zu Gott, wohingegen Parzival ein solches übergeordnetes Ziel fehlt: Die Gestaltung des Gesprächs zeigt letzteren als einen Menschen, der sich über den Inhalt des râtes, um den er unmittelbar zu Anfang des Dialoges selbst bittet, kaum im Klaren ist. Die Dialogführung übernimmt Trevrizent,103 der sie nur für einen kurzen Moment in der vierten und _____________

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den“), Sp. 54, III.3 („Die Fröhlichen neigen von Natur aus zur Üppigkeit, die Traurigen zu Wut“). Als læta sind die Hinweise auf Gottes Hilfsbereitschaft zu bezeichnen (vgl. die in V. 465,2 genannte riwe u n d wünne und insbesondere V. 466,1f.: von dem wâren minnære / sagent disiu s ü e z e n mære; „Die Frohe Botschaft kündet uns von Dem, Der nichts als Liebe ist“); siehe auch den Hinweis auf Gottes minne, die dieser, trotz der auffälligen Häufung der Exempla negativen menschlichen Verhaltens (vgl. nît: V. 463,7, 463,14, 464,21; haz: 463,2; gîteclîche[r] ruom: V. 463,25), durch den descensus in die Hölle gezeigt habe, V. 465,28f. Siehe auch unten, Anm. 109. Gregor der Große: Liber regulae pastoralis (Anm. 97), Sp. 76, Kapitel III.16 („Zuweilen aber, was schlimmer ist, halten sie den Stachel ihrer Wut für den Eifer der Gerechtigkeit“). Auch einige der Hinweise zu den impatientes (Kapitel III.9, Sp. 59-61) sind mit Trevrizents Belehrungen für Parzival vergleichbar. GEROK-REITER (Anm. 16), S. 143; SCHUHMANN (Anm. 16), S. 115f. Gregor der Große: Liber regulae pastoralis (Anm. 97), Sp. 76, Kapitel III.16; Sp. 77, Kapitel III.16. „Die zur Wut Neigenden sind zu warnen, dass sie ihre Sanftmut verbinden mit dem Eifer, den sie zu haben glauben“; „Die Verstörten allerdings ignorieren das, was sie hören, aber sie empfangen zu sich zurückgeführt umso lieber die Worte der Ermahnung, je ruhiger sie sich schämen über sich und was sie erlebt haben“. Vgl. zum Themenkomplex der Normen höfischer Gesprächskultur MIEDEMA (Anm. 7), mit Verweis auf ältere Literatur. Eine Bestätigung findet diese These in Trevrizents Aufforderung, gebt mir den zoum in mîne hant (V. 458,13; „Reicht mir bitte Euren Zügel“), die nicht nur im Wortsinne zu verstehen ist – wie auch Parzivals anfängliche Reaktion: Parzivâl sich wolde wern, / daz ers zoums enpfienge niht (V. 458,20; „Parzival, er sträubte sich, daß Trevrizent den Zügel nahm“).

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fünften Phase verliert, als ihm bewusst wird, wen er wirklich vor sich hat, und welcher Sünden sich dieser schuldig gemacht hat. So lässt sich plausibel machen, dass der Figur Trevrizent die Fähigkeit zugewiesen wird, sich auf seinen Dialogpartner einzulassen und sich in seinem Dialogverhalten dem (vermuteten) Gemütszustand Parzivals anzupassen: Weil dies Parzival angemessen ist, ist Trevrizent souverän in der Lage, das Gespräch durch Sprünge zum erwünschten Ziel zu bringen; Sprünge, die ihm die Gelegenheit geben, seinen Gast zur richtigen Disposition für eine Beichte zu führen.104 Trevrizent kommt Parzivals direkter Aufforderung gebt mir rât nicht sofort nach, weil er erkennt, dass Parzival die contritio cordis fehlt, die als eine Bedingung für das Ablegen der Beichte zu sehen ist. Eine „Retardierung auf beiden Seiten“105 ist im Gespräch nur bedingt zu erkennen, insofern die Gründe für die Verzögerungen sehr unterschiedlicher Natur sind: Parzival schlägt Haken, weil er sich fürchtet, die ganze Wahrheit zu erzählen – er ist der Hase im Wortsinne, im Sinne des von Natur aus zur Flucht neigenden Tieres. Trevrizent dagegen schlägt Haken, um damit sein übergeordnetes Gesprächsziel umso besser erreichen zu können106 – er ist der Hase im übertragenen Sinne, im Sinne einer Figur, die durch ihre bewussten Dialogsprünge einen Vorteil gegenüber dem Dialogpartner erreichen kann.107

_____________ 104 Ob Trevrizent auch durch die Nachricht über Herzeloydes Tod „offenbar ganz bewußt eine tiefe Erschütterung“ hat auslösen wollen, wie SCHIROK: Trevrizent und Parzival (Anm. 59), S. 60, angibt, erscheint zweifelhaft. 105 URSCHELER (Anm. 15), S. 223; Ziel der Belehrungen Trevrizents sei es lediglich, Parzival „das Ausmaß seiner Sündhaftigkeit“ erkennen zu lassen. Auch SCHIROK: Trevrizent und Parzival (Anm. 59), S. 48, 51, spricht von „Retardierung als Gestaltungsprinzip“, ohne auf die unterschiedlichen Gründe für die Retardierung einzugehen. 106 Auch bei Gurnemanz fordert Parzival Rat (V. 162,29) und verspricht Gurnemanz diesen (vgl. die Häufung des Wortes in V. 163,3-6), ohne seine Ratschläge unmittelbar folgen zu lassen; diese Verzögerung ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass Parzival zunächst der zeremonielle Empfang bei Hofe zuteil werden soll, ein Motiv, das in Trevrizents Einsiedelei fehlt. Auch die Sprecherkonstellation weist deutliche Differenzen auf: Von einem Einsiedler ist sowohl der Form als auch dem Inhalt nach eine andere Art des râtens zu erwarten als von einem Mitglied der Hofgesellschaft, insbesondere vor dem Hintergrund der zu Wolframs Zeit diskutierten Laien- und Ohrenbeichte. 107 Trevrizent ist Parzival im Bezug auf die Dialogführung überlegen; dass er Parzival als dem später erneut berufenen Gralskönig dennoch unterlegen ist, gehört zu den Momenten dramatischer Ironie, die im Parzival nicht gerade selten zu finden sind. Vgl. L. PETER JOHNSON: Dramatische Ironie in Wolframs Parzival. In: Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969. Hrsg. von PETER F. GANZ/WERNER SCHRÖDER, Berlin 1972 (Publications of the Institute of Germanic Studies 13), S. 133-152 (ohne Bezug auf die genannten Konstellation, da Johnson insbesondere auf Momente der dramatischen Ironie in Figurenrede eingeht).

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Bestätigt wird diese Hypothese durch Trevrizents Widerruf in Buch XVI:108 An dieser Stelle schlägt die Figur Trevrizent erneut einen Haken, indem er seine Angaben über die Erlösung der neutralen Engel nachträglich korrigiert.109 Das sprunghafte Sprechen Trevrizents wird somit, in Analogie zum hakenschlagenden Erzählen im gesamten Parzival, als eine Redestrategie ausgelegt. Als Grund für dieses Verhalten führt Trevrizent an: mich müet et iwer arbeit (V. 798,23), ich het iuch gern dâ von genomn (V. 798,27; „Mir tat halt Eure Mühsal leid“, „ich hätt Euch gerne abgeraten“); eine Übersetzung von arbeit als ‚Not‘110 macht deutlich, dass hier weniger die Mühsal des Kampfes gemeint ist als vielmehr die geistigen Qualen, die sowohl Parzivals Gottesferne als auch sein strît um den Gral mit sich führen.111 Trevrizents Angaben über die neutralen Engel sollten Parzival dieser Lesart des Textes zufolge weniger „vom strîten nach dem Gral abhalten“112 als vielmehr von seiner Verzweiflung. Es zeigt sich damit, dass im Parzival auf verschiedenen Ebenen das oberflächlich betrachtet unsystematische, sprunghafte Sprechen bzw. Erzählen thematisiert und in Ansätzen theoretisiert wird, sowohl (wie erwartbar) auf der Ebene der Erzählerrede, gespiegelt aber auch auf der Ebene der Figurendialoge – man könnte von ‚dialogisierter Narratologie‘ _____________ 108 V. 798,6: ich louc durch ableitens list / vome grâl, wiez umb in stüende; „Um Euch vom Grale abzulenken, beschrieb ich Euch Sein Wesen falsch“. Vgl. SCHU (Anm. 50), S. 315. 109 Dass sich Trevrizent hier darauf bezieht, dass die neutralen Engel (anders als zuvor angegeben) verdammt seien, wurde überzeugend von SCHIROK: ich louc (Anm. 64), S. 56-59, herausgearbeitet. Siehe auch SCHU (Anm. 50), S. 316-319. Trevrizent ist somit in seinem Bemühen um die Wiedergabe von læta (vgl. oben, Anm. 98) sogar bereit, sich der Lügen über das Schicksal der neutralen Engel schuldig zu machen. – Zur Relativierung der Autorität anderer Figuren, die die Glaubwürdigkeit des Erzählens (und damit auch des Erzählers) in Frage stellt, vgl. außerdem SCHU, ebd., S. 415f. (zu Cundrîe). – Parzivals gegenüber Trevrizent geäußerte Aufforderung, sagt mir sunder wankes vâr, / sint disiu mære beidiu wâr? (V. 476,21f.; „sagt mir ganz geradheraus: Sind die Berichte wirklich wahr?!“), bezieht sich zwar im Kontext auf die Tatsachen, dass Ithêr mit Parzival verwandt war und Herzeloyde aus Trauer über Parzivals Auszug in die Welt gestorben ist, sie liest sich jedoch im Rückblick, bezogen auf den weiteren Kontext, als einen nahezu ironischen Kommentar zur Glaubwürdigkeit Trevrizents. Vgl. auch bereits Trevrizents Aussage: von dem zwîvel ich iuch nim. / sag ich niht wâr die wârheit, / sô lât iu sîn mîn triegen leit (V. 464,8-10; „Ich will für Euch das Rätsel lösen [wörtlich: Ich befreie Euch vom Zweifel]. Sag ich nicht die volle Wahrheit, so wehrt Euch gegen meine Lügen“), die im unmittelbaren Kontext auf Kain bezogen ist, der seine eigene Großmutter entehrt habe, jedoch über diesen Kontext hinausverweisen könnte. Ähnlich liest sich auch Trevrizents ich enbinz niht der dâ triegen kan (V. 476,24; „Ich bin zur Lüge gar nicht fähig“; siehe SCHU, ebd., S. 313f.). 110 MATTHIAS LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde., Leipzig 1872-1878, Nachdruck Stuttgart 1992, Bd. 1, Sp. 88. 111 Anders SCHUHMANN (Anm. 16), S. 181, der den Widerruf als „dysfunktional“ betrachtet. Ich sehe keine Notwendigkeit für die Interpretation, Wolfram „suspendier[e] [...] die kohärente Charakterisierung der Figur Trevrizent“. 112 SCHUHMANN (Anm. 16), S. 182.

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sprechen.113 Für Wolframs Parzival ist ein ausgeprägtes Bewusstsein von narratologischen Grundprinzipien und vom Spiel mit den verschiedenen Ebenen des Erzählens anzusetzen, für dessen Verständnis nicht nur die Erzähler-, sondern auch die Figurenrede zu analysieren ist. So erscheint der Versuch einer Ausformulierung der Theorie einer historischen Narratologie zumindest im Bereich der Gestaltung mittelalterlicher literarischer Dialoge sinnvoll. Die konsequente Hinwendung zur historischen Dialoganalyse würde die diachronen und kulturabhängigen Veränderungen in der Verwendung dieses narrativen Mittels besser beschreibbar machen. Anbinden ließen sich außerdem Überlegungen zum Grad der narratologischen Reflexion über das ‚erzählte Sprechen‘, der sich in den verschiedenen Epochen oder bei einzelnen Autoren nachweisen lässt. Wie wichtig den mittelalterlichen Autoren selbst die sorgfältige Gestaltung ihrer Figurendialoge offensichtlich war und welch hohes narratives wie narratologisches Potenzial sie den Redeszenen zusprachen, wird in der Forschung noch zu wenig zur Kenntnis genommen.

_____________ 113 STEIN (Anm. 49), S. 195, verweist auf eine weitere wichtige dialogische Dimension von Wolframs Parzival, die, da sie nicht die Figurenrede betrifft, hier nicht näher ausgeführt werden kann: „[A]uch das Publikum selbst wird vom ‚Parzival‘-Erzähler in den Dialog [über das Erzählen] einbezogen“.

MARIA E. MÜLLER

Vom Kipp-Phänomen überrollt Komik als narratologische Leerstelle am Beispiel zyklischen Erzählens∗

I. Gibt es Komik generierende narrative Techniken? Für die Untersuchung komischer Phänomene bieten Erzähltheorien wenig Anhaltspunkte. Da die klassische Narratologie strukturalistischer Provenienz ihr Erkenntnisinteresse auf die systematische Beschreibung von Textmerkmalen und Textstrukturen und die Entwicklung universeller Analysekategorien und -modelle richtet, ist dies alles andere als erstaunlich. Das Verhältnis von Text und Kontext gehört nicht zu ihrem Objektbereich. Das Komische aber ist ein historisch wandelbares, in vielfältigen Ausdrucksformen erscheinendes Phänomen, das von soziokulturellen Kontexten determiniert wird und sich allen taxonomischen Systematisierungen entzieht.1 Erscheinungsformen des Komischen, unfreiwillige Komik eingeschlossen, begegnen nicht nur in sämtlichen literarischen und nicht literarischen Gattungen, sondern lassen sich auch nur bedingt von lebensweltlichen Manifestationen des Komischen abgrenzen. Überdies ist die Entfaltung komischer Effekte auf spezifische Dispositionen der Rezipienten angewiesen. Konstitutiv für das Komische ist, wie Jean Paul sagt, dass es „nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte“.2 _____________ ∗ 1

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Für intensive Diskussionen danke ich ANDREA SIEBER. Vgl. exemplarisch WOLFGANG PREISENDANZ: ‚Komische (das), Lachen (das)‘. In: HWbPh 4 (1976), Sp. 889-893. Umfangreiche Bibliographien bieten u. a. ELISABETH AREND: Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron, Frankfurt a. M. 2004 (Analecta Romanica 68); BÉATRICE JAKOBS: Rhetorik des Lachens und Diätetik in Boccaccios Decameron, Berlin 2006 (Schriften zur Literaturwissenschaft 28); ANSGAR THIELE: Individualität im komischen Roman der Frühen Neuzeit (Sorel, Scarron, Furetière), Berlin, New York 2007 (spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature 9). Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von NORBERT MILLER, Abt. I, Bd. 5, Lizenzausgabe des Hanser Verlages bei Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 1996, S. 7-456, hier S. 110.

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Ansatzpunkte für eine Theoretisierung komischer Phänomene versprechen neuere Entwicklungstendenzen in der Erzähltheorie, für die der Re-Import von Kategorien charakteristisch ist, die von der klassischen Narratologie ausgeschlossen wurden. In ihrem ‚Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen‘ in der Erzählforschung bieten ANSGAR und VERA NÜNNING eine schematische Auflistung neuer Narratologien, wobei sie acht Richtungen mit ihrerseits teils stark untergliederten Ansätzen von unterschiedlicher Relevanz differenzieren. Durchmustert man die durch weitere Tabellen angereicherten Kataloge, so ist evident, dass eine Reihe von Ansätzen Vorgaben implizieren, die sich eignen könnten für die Analyse narrativer Strukturen, die zum Lachen herausfordern.3 Fündig wird man auf dem Gebiet gattungs-, kontext- und themenbezogener Ansätze, die Erzähltextkategorien auf Einzeltextinterpretationen anwenden.4 Den theoretischen Anspruch narratologischer Modellbildung können solche Untersuchungen nicht einlösen, und sie wollen es auch nicht. Erfolgversprechender sind hierfür Ansätze, die unter den Etiketten „Pragmatische und Rhetorische Narratologie“ und „Kognitive und rezeptionsorientierte Narratologien“ firmieren. Erzähltheoretisch relevante Studien zur Komik sind mir in diesen Forschungsrichtungen nicht begegnet, was natürlich auch an der Unübersichtlichkeit der international und interdisziplinär ausufernden Forschungslandschaft liegen kann.5 Die Pilotstudie von KARLHEINZ STIERLE6 hat offenbar keine narratologische Nachfolge erfahren. ELISABETH AREND konstatiert 2004 einen Hiatus zwischen _____________ 3

4 5

6

Vgl. ANSGAR NÜNNING/VERA NÜNNING: Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie. Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von ANSGAR NÜNNING/VERA NÜNNING, Trier 2002, S. 1- 33; tabellarische Überblicke S. 10-13, 19, 24; vgl. zur Geschichte der Erzähltheorie(n) die unter dem Titel ‚Prologue‘ versammelten Beiträge, bes. MONIKA FLUDERNIK: Histories of Narrative Theory (II). From Structuralism to the Present. In: A Companion to Narrative Theory. Hrsg. von JAMES PHELAN/PETER J. RABINOWITZ, Malden, MA 2005 (Blackwell companions to literature and culture 33), S. 36-59. Vgl. exemplarisch AREND (Anm. 1); THIELE (Anm. 1). Immerhin bietet das von dem Narratologen ANSGAR NÜNNING herausgegebene Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie in seiner ersten Auflage 1998 kurioser Weise keinen Artikel zu ‚Komik‘ oder ‚Lachen‘. Relevante Aspekte werden auch nicht erwähnt in: Theorizing Narrativity. Hrsg. von JOHN PIER/JOSÉ GARCÍA LANDA, Berlin, New York 2008 (Narratologia 12). Der Artikel von SALVATORE ATTARDO: Humour studies and narrative. In: Routledge Encyclopedia of narrative theory. Hrsg. von DAVID HERMAN u. a., London, New York 2008, S. 225f. und die dort verzeichnete Forschungsliteratur sind m. E. über komiktheoretische und narratologische Grundannahmen hinaus nicht tragfähig. Die von den Veranstaltern aufgeworfene Frage nach einer Anwendung narratologischer Ansätze auf mittelalterliche Literatur stellt sich für den Bereich Komik, soweit ich sehe, mangels vorliegender Modellstudien nicht. KARLHEINZ STIERLE: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. In: Das Komische. Hrsg. von WOLFGANG PREISENDANZ/RAINER WARNING, München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S. 237-268.

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Analysen „der makrostrukturellen Ebene, d. h. mit Blick auf komische Themen, Figuren oder Handlungskonstellationen bzw. -konzepte“ und „mikrostrukturellen Verfahren auf der Ebene von Wort, Satz und den nächst größeren Einheiten eines literarischen Textes“.7 Das Phänomen Komik scheint sich nicht als Beschreibungsmodell textueller Strukturierung in mittlerer Reichweite theoretisieren zu lassen. Wenn das Komische keinen genuinen Gegenstandsbereich von Erzähltheorien darstellen kann, so wäre dennoch zu fragen, ob Komisierung als Prozess einer spezifisch erzählerischen Erzeugung von Komik nicht doch ein legitimer, womöglich notwendiger Gegenstand narratologischer Theoriebildung sein sollte. Sind nicht narrative Techniken beschreibbar, die komische Wirkungen begünstigen? Zu überprüfen wäre, ob sich Komik in die Narratologie als fakultative Ebene einbeziehen lässt, die nicht generell, sondern unter bestimmten Voraussetzungen erzähltheoretisch relevant sein kann.8 Ich verstehe meine folgenden Ausführungen als Versuch, diese Frage zur Diskussion zu stellen. Als Textcorpus wähle ich Rahmenerzählungen, für die ich eine besondere Affinität zum Komischen vermute. Hypothetisch ließe sich vielleicht sogar ein inzestuöses Verhältnis zwischen zyklischem Erzählen und Komisierung unterstellen, das sich auch in Werken behauptet, die alles andere als komisch sind. Ich beschränke mich jedoch auf Beispiele, in denen dieses Verhältnis offen zu Tage liegt. II. Zyklisches Erzählen Unter zyklischem Erzählen verstehe ich die Einbettung relativ selbständiger Binnenerzählungen in einen größeren Erzählzusammenhang.9 Rahmungen können einleitend oder umschließend erfolgen und werden meist _____________ 7 8 9

AREND (Anm. 1), S. 84f. MONIKA FLUDERNIK regt solche Überlegungen für die Aspekte gender und Bildlichkeit an; vgl. MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, S. 83f., 88ff. Die engere Definition zyklischen Erzählens von VOLKER KLOTZ unterstellt als Pendant zum geschlossenen Kreis von Erzählungen einen geschlossenen Kreis von Binnenerzählern; vgl. VOLKER KLOTZ: Erzählen als Ertöten. Vorläufige Notizen zu zyklischem, instrumentalem und praktischem Erzählen. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hrsg. von EBERHARD LÄMMERT, Stuttgart 1982 (Germanistische Symposien, Berichtsbände IV), S. 319-334, hier S. 319f. Ästhetisch normativ definiert wird zyklisches Erzählen von ANDREAS BECK: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E. T. A. Hoffmann, Heidelberg 2008, hier bes. S. 28ff.; vgl. generell zu ‚narrativen Ebenen‘ GÉRARD GENETTE: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Vorwort hrsg. von JÜRGEN VOGT, München 1994 (UTB für Wissenschaft), S. 162ff., 249ff.

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durch zwischengeschaltete, intermittente Rahmenelemente ergänzt.10 Seit Boccaccios Decameron avanciert die Etablierung einer Erzählgemeinschaft und die Herstellung eines Konversationsrahmens in den europäischen Literaturen zum privilegierten Modell.11 Literaturgeschichtlich bedeutsam sind insbesondere Märchen-, Schwank- und Novellenzyklen geworden. Nicht unter den Begriff ‚zyklisches Erzählen‘ fallen die seit Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein in der deutschen Literatur erfolgreichen Sammlungen, denen ein erzählerischer Rahmen fehlt. Für ‚Rahmungen‘ in Gestalt von Widmungen, Vorworten usw. steht der Terminus Paratext zur Verfügung.12 Insbesondere Peritexte können jedoch zur Fundierung der Rahmenerzählung beitragen, wie dies etwa in Boccaccios Decameron der Fall ist. Strukturell bedeutsam sind das Ineinandergreifen und zugleich der Widergriff von linear zielgerichtetem und kreisförmig additivem Erzählen, von Kohärenz und Inkohärenz. Autoren zyklischen Erzählens haben dieses Spannungsverhältnis immer wieder, vorzugsweise in den Rahmenerzählungen, thematisiert. Dies gilt beispielsweise für das Convivium fabulosum des Erasmus, in dem eine Reihung unterhaltsamer Kurzerzählungen gefordert ist, die aus dem Stegreif zu erfinden sind: Atque in legitimis fabulis etiam ex tempore conficta habentor.13 Prämiert werden sollen die witzigste und die langweiligste Geschichte, denn unfreiwillige Komik bereite nicht weniger Vergnügen als gelungene. Die Inszenierung des kolloquialen Erzählwettbewerbs animiert zur Abfolge einander ähnlicher Geschichten.14 Nam ut ansa ansam, ita fabula trahit fabulam („denn so wie ein Kettenglied am _____________ 10

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14

Vgl. zu Typologien von Rahmenerzählungen die Hinweise bei FLUDERNIK (Anm. 8), S. 39f. Beispiele, bei denen die Rahmenerzählung abschließend erfolgt oder einer Ellipse zum Opfer fällt, liegen außerhalb meines Objektbereichs. Vgl. generell zu Erzählungen von Figuren die Einleitung und entsprechende Beiträge in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren Literatur 19). Vgl. zuletzt FRANCESCO MUGHEDDU: Die civile conversatione des Decameron und ihre Nachfolger. In: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch. Hrsg. von RÜDIGER SCHNELL, Köln u. a. 2008, S. 259-312. Vgl. GÉRARD GENETTE: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von HARALD WEINRICH. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M., New York 1992. Erasmus von Rotterdam: Colloquia Familiaria. Vertraute Gespräche. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von WERNER WELZIG. Darmstadt 1967 (DERS.: Ausgewählte Schriften. Ausg. in 8 Bdn. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. von WERNER WELZIG, 6. Bd.), S. 276-313, hier S. 276f.: „Als dem Gesetz entsprechende Geschichten sollen nur die angesehen werden, die aus dem Stegreif erfunden werden.“ Vgl. Erasmus (Anm. 13), explizit: Simile quiddam („Etwas Ähnliches“, S. 286f.); narrabo fabulam tuae non admodum dissimilem („ich will eine Geschichte erzählen, die von deiner gar nicht sehr verschieden ist“, S. 288f.).

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anderen hängt, so zieht eine Geschichte die andere nach sich.“),15 die eine lachhafte Betrugsgeschichte die andere, die eine Anekdote von König Ludwig XII. die andere. Die Erzähldynamik wird von scheinbar zufälligen Assoziationen gesteuert. Erzählen zeugt sich in virtuell unabschließbaren Erzählketten fort und stellt sich als additiv-heterogen dar. Dem korrespondiert indes eine hierarchisch gestufte Weltordnung, für die der im Convivium fabulosum als Schiedsrichter ernannte Gelasinus anlässlich der Geschichte eines moralisch bedenklich agierenden Meisterdiebs die klassische Bildformel kosmischer Kohärenz zitiert, die catena aurea Homeri.16 Das historisch variable Widerspiel von einem in der Rahmenerzählung verankerten oder negierten Sinnzusammenhang und einer heterogen strukturierten Reihung von Geschichten ist für zyklisches Erzählen konstitutiv. In Literatur und Literaturwissenschaft hat das kompositorische Prinzip zyklischen Erzählens positive wie negative Wertungen erfahren.17 Goethe präsentiert in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten beide Tendenzen und zeigt sich als Autor und Briefschreiber wenig geneigt, das Geschmacksurteil seiner Figur zu beherzigen: [Baronesse:] „Jene Erzählungen machen mir keine Freude, bey welchen, nach Weise der Tausend und Einen Nacht, Eine Begebenheit in die andere eingeschachtelt, Ein Interesse durch das andere verdrängt wird. Wo sich der Erzähler genöthigt sieht, […] die Aufmerksamkeit […] durch seltsame und keineswegs lobenswürdige Kunstgriffe aufzuspannen. Ich tadle das Bestreben, aus Geschichten, die sich der Einheit des Gedichts nähern sollen, rhapsodische Rätsel zu machen und den Geschmack immer tiefer zu verderben.“18

Diese und vergleichbare werkinterne poetologischen Reflexionen in Rahmenzyklen19 verweisen auf grundlegende narrative Strukturen, wie sie RAINER WARNING mit Rückgriff auf JURIJ M. LOTMANN wiederholt als Dichotomie von syntagmatischem und paradigmatischem Erzählen systematisiert hat. Seine Ausgangsstudie widmet sich einem monumentalen Erzählzyklus, Balzacs Comédie humaine. In ihr werde das Spannungsfeld zwischen Chaos und Kosmos erzählerisch prozessiert in der Rivalität von _____________ 15 16 17 18

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Erasmus (Anm. 13), hier S. 296f. Erasmus (Anm. 13), hier S. 292f.; vgl. FRIEDRICH OHLY: Zur Goldenen Kette Homers. In: Das Subjekt der Dichtung. FS Gerhard Kaiser. Hrsg. von GERHARD BUHR u. a., Würzburg 1990, S. 411-486. Vgl. dazu ausführlich BECK (Anm. 9), S. 17ff., der die Geringschätzung rahmenzyklischer Form in der älteren Forschung hervorhebt. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von WILHELM VOßKAMP/HERBERT JAUMANN. Unter Mitwirkung von ALMUTH VOßKAMP. In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 9, Frankfurt/M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 82), S. 1037; vgl. KATHARINA MOMMSEN: Goethe und 1001 Nacht, Frankfurt a. M. 1981. Vgl. BECK (Anm. 9), S. 26ff.

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Paradigmatik und Syntagmatik.20 Eine spätere, literaturgeschichtlich weiter ausgreifende Studie fokussiert die dort entfaltete Zweiertypologie. Zu unterscheiden sei erstens „ein dominant sujethaft-syntagmatisches“ Erzählen; das Erzählen „also einer Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende. Erzählen also als Schließung einer anfänglichen Offenheit, als Teleologie, als Kontingenzbewältigung.“21 Das Frageinteresse der traditionellen Erzähltheorie gelte wesentlich einer Theorie syntagmatischer Organisation in diesem Sinne unter der Prämisse einer Lösung und betrachte den zweiten Typus nur als unter- bzw. zugeordnet: „ein dominant sujetlos-paradigmatisches Erzählen“, das als kontingenzexponierend charakterisiert wird und das nicht auf dem Strukturprinzip syntagmatischen Progresses, sondern dem der Wiederholung basiere.22 Kein Zufall dürfte es sein, dass WARNING seine Thesen auf der Materialbasis eines Erzählzyklus entwickelt hat, der seinem Befund zufolge in der wechselseitigen Beziehung von Einzelroman und der gesamten Comédie humaine Offenheit und Geschlossenheit zugleich modelliere.23 Wenngleich hochkomplexe Romanzyklen außerhalb des hier anvisierten Objektbereichs liegen,24 entwickelt WARNING mit der Dichotomie von Paradigmatik und Syntagmatik Kategorien, deren Erprobung für die Analyse rahmenzyklischer Einzeltexte lohnend ist.25 Wenn in ihnen nicht notwendig, aber sehr häufig das Komische in Binnenerzählungen dominiert, so hat dies ein fundamentum in re. Auch das von KARLHEINZ STIERLE in Abgrenzung zur geschlossenen Struktur der klassischen Tragödie für die Komödie typisierte Bewegungsprinzip lässt sich mutatis mutandis auf dominant komische Erzählzyklen übertragen: _____________ 20 21

22 23 24 25

Vgl. RAINER WARNING: Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comédie humaine. In: Honoré de Balzac. Hrsg. von HANS-ULRICH GUMBRECHT u. a., München 1980 (UTB 977), S. 9-55, bes. S. 23ff. RAINER WARNING: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176-209, hier S. 176; mit Blick auf die Rezeption S. 197. Für die Comédie humaine fasst WARNING zusammen: „Balzacs Kontingenzexposition mündet letztlich immer wieder ein in eine auktorial gewollte und fortschrittsoptimistisch artikulierte Kontingenzbewältigung“ (S. 190). Die Bindung an historische Semantiken lasse ich vorerst außer Acht. WARNING (Anm. 21), S. 179, vgl. S. 177. WARNING (Anm. 20), S. 35, 37. Die von Balzac projektierte Serie sollte sogar rund 135 Romane und Erzählungen umfassen. Wenig glücklich war WARNINGs Einfall, sein Modell auf mittelalterliche Tristanversionen anzuwenden, zumal er sich nur auf Fragmente stützt und mit Eilhart die einzige mittelalterliche Version, die die Tristangeschichte ‚mit Anfang, Mitte und Ende‘ erzählt, ausklammert. „Daß das philologisch eigentlich nicht möglich ist“, räumt er selbst ein. Vgl. RAINER WARNING: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von GERHARD NEUMANN/RAINER WARNING, Freiburg im Breisgau 2003 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 98), S. 175212.

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Dieses Bewegungsprinzip ist bestimmt von zwei Erfordernissen. Es muß die Verknüpfung einer Folge von komischen Momenten, ihre Vervielfältigung, Variation und Kombination ermöglichen und so von komischem Moment zu komischem Moment führen, wobei die eigentlich komische Wirkung der Komödie sich summativ ergibt aus der Zahl der in ihr freigesetzten, in sich geschlossenen ‚enthobenen‘ komischen Momente, und es muß diese so verknüpfen, daß dieselbe Bewegung, die die Entfaltung der komischen Momente bedingt, zugleich zum Punkt ihrer umfassenden Enthebung durch die Wiedergewinnung der vernünftigen Welt führt.26

Ein ideales Diskussionsobjekt für die Kombination syntagmatischer und paradigmatischer Erzählformen unter komischen Vorzeichen hat PETER STROHSCHNEIDER mit Strickers Pfaffe Amis gefunden.27 Ich möchte seine Lektüre im Folgenden einer Relektüre unterziehen, die zugleich STIERLEs Einsichten zur Fundierung des Komischen in der Handlungswelt berücksichtigen. III. Strickers Pfaffe Amis: ein unwahrscheinlicher Text Eine flesh-and-blood person mit dem Eigennamen Stricker ist nicht bezeugt. Es könnte sich auch um einen sprechenden Übernamen handeln.28 Im Prolog des Pfaffen Amis nennt sich der Autor der Stricker (V. 39), während seine Autorschaft für die Kleinepik weithin auf Zuschreibungen basiert. „Der Stricker bildet sich als Autorfigur, unter deren Namen sich kleinere Reimpaargedichte sammeln, in der Überlieferung langsam heraus“.29 Alle Aussagen zu Leben und Persönlichkeit des Autors sind aus dem Werk erschlossen. Wer vom Stricker spricht, spricht immer schon von einem ‚implied‘ (WAYNE C. BOOTH) bzw. ‚inferred author‘ (SEYMOUR CHATMAN),30 und zwar in der Regel ganz in dem Sinn, wie BOOTH es sich _____________ 26 27

28 29 30

STIERLE (Anm. 6), S. 261; vgl. die Einschätzung WARNINGs, das Episodische sei dem Komischen gemäß (Anm. 21, S. 208). PETER STROHSCHNEIDER: Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomische Kulturmuster in Strickers Amis. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER unter Mitarbeit von ELISABETH MÜLLER-LUCKNER, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 64), S. 163-190, hier S. 164-166. Vgl. zu möglichen Konnotationen zum Ver-, Ineinander- und Auseinanderstricken, dem Verstricktsein und der Entstrickung durch Erzählen die phänomenologische Studie von WILHELM SCHAPP: In Geschichten verstrickt, Hamburg 1953. KLAUS GRUBMÜLLER: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 80f. Vgl. zum wiederaufgelegten Schlagabtausch zum impliziten Autor WAYNE C. BOOTH: Resurrection of the Implied Author. Why Bother? In: A Companian to Narrative Theory (Anm. 3), S. 75-88; ANSGAR F. NÜNNING: Reconceptualizing Unreliable Narration. Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches. In: Ebd., S. 89-107, bes. S. 91f.

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wünscht: Der Stricker gilt als moraldidaktischer Autor, der seinem Publikum Werthaltungen vermitteln will. Für die Rekonstruktion eines pragmatischen Rahmens ‚seiner‘ Dichtungen gibt es keine verlässlichen Anhaltspunkte. Der Autor wird als Fahrender eingeschätzt, der zwischen 1220 und 1250/1260 gedichtet hat. Gönner und Publikum dürften in landesfürstlichen, adligen, klerikalen und städtischen Kreisen in Österreich zu suchen sein. Die relative Werkchronologie ist ungesichert, und entsprechend hypothetisch die Annahme, das Publikum des Amis kenne den Daniel und Karl, des Strickers Artusroman und seine Modernisierung des Rolandslieds. Bekannt gewesen sein dürften Maeren schwankhaften Typs, die sich mit dem Autornamen des Strickers verbinden und zu den frühesten deutschsprachigen Beispielen der Gattung zählen.31 Überdies kann mit einer verbreiteten, nicht verschriftlichten oder auch nicht überlieferten Erzähltradition gerechnet werden. Der Schwankroman aber ist eine Innovation des Strickers, so dass historische Erstrezipienten mit unvertrauten literarischen Registern konfrontiert wurden. Es handelt sich um einen durch Prolog und Epilog sowie intermittent gerahmten Zyklus von 11 (Vulgatafassung) bzw. 12 (Hs. R) Einzelschwänken.32 Als HANNS FISCHER in seiner Bahn brechenden Studie von 1957/58 den Stricker als Erfinder des deutschen Schwankromans ‚entdeckte‘, galt sein Interesse dem Nachweis, dass der Autor durch die künstlerisch planvolle Kombination heterogener Traditionselemente eine einheitliche Dichtung geschaffen habe. Als wichtigstes ‚romanhaftes‘ Adhäsionsprinzip wertet er die Einheit des Titelhelden, die Zentrierung um einen einzigen Figurentypus: den durch seine Klugheit über die bornierten Gegenspieler triumphierenden Kleriker. Darüber hinaus nennt er die Homogenität des Erzählmaterials (Schwanktyp ‚listig-betrügerischer Besitzerwerb‘) und die Einheit des ideellen Programms (‚Lebensklugheit siegt über Einfalt‘) als Verklammerungsprinzip der Einzelgeschichten.33 Die Kritik an dieser Kohärenz-Konstruktion übersieht, was FISCHER als entscheidendes Bauprinzip hervorhebt, das – über das StofflichRevolutionäre im Vergleich zum Ritterroman alter Prägung hinaus – den Schwankroman als neuen Formtyp begründet: die „Offenheit der Episo_____________ 31

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Vgl. zum Stricker als Märenautor den mit einer umfangreichen Bibliographie ausgestatteten Band: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme. Hrsg. von EMILIO GONZÁLES/VICTOR MILLET (Philologische Studien und Quellen 199), Berlin 2006; vgl. generell die Artikel in: VL, Bd. 9, 21995, Sp. 417-449. Zit. wird, wenn nicht anders angegeben, die Vulgatafassung nach: Der Stricker: Der Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341 hrsg., übersetzt und kommentiert von MICHAEL SCHILLING, Stuttgart 1994 (RUB 658); die Riedegger Handschrift nach: Des Strickers Pfaffe Amis. Hrsg. von K[IN’ICHI] KAMIHARA, 2., revidierte Aufl. Göppingen 1999 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 233). Vgl. HANNS FISCHER: Zur Gattungsform des Pfaffen Amis. In: ZfdA 88 (1957/58), S. 291-299.

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denreihung.“34 Ob die Kumulation von Einzelgeschichten planvoll organisiert oder, wie STROHSCHNEIDER einwendet, lediglich richtungslos additiv erfolgt,35 wird zu prüfen sein. Festzuhalten ist, dass FISCHER die Verbindung syntagmatischen und paradigmatischen Erzählens als Formkriterium des Schwankromans akzentuiert36 und mit der Analyse der umschließenden und zwischengeschalteten Rahmenelemente den für zyklisches Erzählen typischen Ebenenunterschied herausstellt, wie GENETTE ihn beschreibt: „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt der Erzählung angesiedelt ist.“37 Unbestritten blieb die homogenisierende Funktion des biographischen Erzählrahmens. Es ist unvermeidlich, den vieldiskutierten Prolog punktuell in Erinnerung zu rufen. Eingespannt in die zeitliche Opposition von Hie vor (V. 1) und Nu (V. 7, 12, 21) wird ein Katalog von Tugenden präsentiert, die sich inzwischen in ihr Gegenteil verkehrt hätten: vreude in sorge, milde in kerge, trewe in untrewe (V. 22ff.) usw. Die Deiktika dienen der Valorisierung des Autor-Erzählers. Die beschworenen Antithesen sind nicht religiös konnotiert, sondern haben ihren Bezugspunkt in der ebenfalls veränderten Wertschätzung höfischer Künste, besonders der Kunst des Erzählens.38 Die Zeitklage lässt jedenfalls nicht erwarten, dass es etwas zu lachen gibt. Wie kommt es zu dieser Misere? Nu saget uns der Stricker, wer der erste man wer, der liegen triegen aneviench (V. 39-41). Nun erzählt uns der Stricker, / wer der erste Mensch war, / der Lug und Trug in die Welt brachte […].

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FISCHER, hier S. 299. Vgl. zur Kritik an FISCHER STROHSCHNEIDER (Anm. 27), S. 172 und passim; ausführlicher PETER STROHSCHNEIDER: Schwank und Schwankzyklus, Weltordnung und Erzählordnung im Pfaffen vom Kalenberg und im Neithart Fuchs. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER u. a., Paderborn u. a. 1988, S. 151-171, hier S. 151ff. Vgl. ausführlich zur Forschungsgeschichte und zum Spannungsverhältnis zwischen offener Episodenstruktur und erzählerischer Kohärenz auf breiter Materialbasis WERNER RÖCKE: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter, München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6); JOHANNES MELTERS: „ein frölich gemüt zu machen in schweren zeiten…“ Der Schwankroman in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2004 (Philologische Studien und Quellen 185). GENETTE (Anm. 9), S. 163 (Das Zitat ist im Original insgesamt hervorgehoben). Vgl. STEPHEN L. WAILES, der zeigt, dass in die dualistische Prolog-Konstruktion entsprechende gegensätzliche Kunstauffassungen und Publikumserwartungen einbezogen sind, die zu einer Steigerung der Komplexität beitragen: STEPHEN L. WAILES: The Ambivalence of Der Stricker’s Der Pfaffe Amis. In: Monatshefte 90 (1998), S. 148-160.

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Urheber von Lug und Trug zu sein ist die erste Charakterisierung des Helden, nicht aber die prävalente. Nach Ort, Standes- und Namensnennung folgt: der buch ein wise man (V. 47; „er war belesen und gelehrt“), der um seines Ansehens und um Gottes willen der milde gebot (V. 50; „das Gebot der Freigebigkeit“) vorbildlich einhalte. Im weiteren Verlauf des Textes wird er fast ausschließlich mit luge, wisheit und milte assoziiert. Die Figur besetzt also beide Seiten des binären Moralschemas, und auf der Zeitachse sowohl die idealisierte Vergangenheit wie deren Korruption in der Gegenwart. Nimmt man für den Prolog eine Orientierungsfunktion an, so wird man diese mit einem Begriff JAN SÖFFNERs als ‚Leitambivalenz‘ fassen dürfen.39 Es steht alles und nichts zu erwarten. Dies ändert sich mit dem Erzähleinsatz des zweiteiligen Initialschwanks, der gewissermaßen einen ‚Halsrahmen‘ darstellt, insofern es um die nackte Existenz des Titelhelden geht, der seinen Hals aus der Schlinge herausredet.40 Das agonale Schema realisiert sich im Kontext der vom Bischof geforderten Lehrproben nicht durch Erzählungen sui generis, sondern durch die pervertierte Diskursivierung anerkannter Wissensordnungen. Der Bischof, dem Amis unterstellt ist, will nicht mehr länger hinnehmen, dass ein Pfaffe ihn durch seine freigiebige Haushaltung übertrumpft und beschließt, ihm die dafür nötigen Ressourcen zu entziehen oder aber seines Amtes zu entheben. Damit wird die im Prolog als unproblematisch und vorbildlich beschworene milte in konfliktträchtige Handlung umgesetzt, die, wie vielfach erörtert, sowohl realhistorische wie literarische Problemhorizonte aufruft. Weder agiert der Bischof böswillig und aus purem Neid, wenn er der Statusüberbietung des Pfaffen Einhalt gebieten will, noch der Pfaffe überheblich,41 wenn er die der milte inhärente grenzenlose Verausgabung von Reichtümern zugunsten höfischer Akkumulation von Ehre betreibt.42 Der Konflikt zwischen Statushierarchie _____________ 39

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Vgl. JAN SÖFFNER: Die Pluralität der Rahmen in Boccaccios Decameron. Überlegungen zur Todesallegorie des Pisaner Camposanto und zu den Novellen VIII, 9 und VI, 9. In: Renaissance – Episteme und Agon. Für Klaus W. Hempfer anlässlich seines 60. Geb. Hrsg. von ANDREAS KABLITZ/GERHARD REGN, Heidelberg 2006 (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 33), S. 381-403, hier S. 403; vgl. JAN SÖFFNER: Das Decameron und seine Rahmen des Unlesbaren, Heidelberg 2005, S. 13: ‚Leitambiguität‘. Der von ANDRÉ JOLLES für die Charakterisierung der orientalischen Rahmenerzählung geprägte Begriff ‚Halsrahmen‘ bezeichnet nach KLOTZ (Anm. 9) das für zyklisches Erzählen konstitutive ‚instrumentale Erzählen‘. Eine schwerwiegende Zwangslage soll mittels Erzählen bewältigt werden; vgl. seinen Titel ‚Erzählen als Enttöten‘ und bes. S. 323, 330ff. Sinn entsprechend tilgt die durch 8 Hss. und einen Druck belegte Vulgatafassung die Figurenzuschreibung hôhvart (V. 492) der älteren Riedegger Hs., die im Sinne von superbia verstanden werden könnte, um pejorative Assoziationen zu meiden. hôhvart meint eben auch: „art hôhe zu varn, vornehm zu leben, hochsinn“, was zeitgenössische Wendungen wie „tugentlîchiu hôhvart“ oder „in aller êren hôchvart“ belegen. Großer Lexer I, Sp. 1317f. Über die Unhintergehbarkeit von MARCEL MAUSS’ Untersuchungen zur Gabe (1923/24)

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und Standes übergreifendem Freigebigkeitsideal ist unentscheidbar und wird im Text auch nicht entschieden.43 Vielmehr wird er verlagert auf die schwanktypische Konstellation von Weisheitsprätention und lebenskluger Gewitztheit. Denn wenngleich der Bischof Inhaber der Amtsgewalt ist, lässt er sich im Vollgefühl seiner theologischen Superiorität auf den Vorschlag des Pfaffen ein, dessen Pfründenansprüche von einer Examinierung seiner Buchgelehrsamkeit abhängig zu machen. Damit ist es dem Pfaffen gelungen, seinen Kontrahenten auf ein Feld zu manövrieren, das diesen zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Der Bischof tappt in die Falle der Fremdbestimmtheit, die KARLHEINZ STIERLE mit Berufung auf Jean Paul als objektive Voraussetzung für Komik hervorhebt,44 und das erhabene Subjekt ist daher am meisten der Komik der Fremdbestimmtheit ausgesetzt.45 Unterstützt wird diese Disposition durch die Sympathielenkung des Erzählers, der das wachsende Ausgeliefertsein des Bischofs süffisant markiert. Es handelt sich um die im Ulenspiegel weitertradierte Fünfersequenz von unlösbaren Prüfungsfragen und unwiderlegbaren Antworten nach dem Muster scherzhafter Rätselproben, die den Bischof zur Kapitulation zwingen und auf den Ausweg verfallen lassen, Amis müsse einem Esel das Lesen beibringen. Mit dieser Aufgabe sei, so MICHAEL SCHILLING, „die Grenze zu Böswilligkeit und Arglist deutlich überschritten.“46 Dies mag aus einer Perspektive, die den Pfaffen als Opfer identifiziert, so sein. Rezipienten, die das doppeldeutige Spiel mit der Wortbedeutung lesen als ‚einen Text lesen‘ und ‚etwas auflesen‘ (in diesem Fall das Auflesen der in das Buch eingestreuten Körner) genießen, mögen das anders sehen.47 Um den durchweg überlegenen Helden muss keiner bangen, und auch der Himmel spielt mit. Gottes Gnade beendet durch den Tod des Bischofs die bis zum A, in der späteren Rezeption bis zum IA vorangeschrittenen Lektionen. Die Pointenbildung erfolgt sujetunabhängig. Der handlungsauslösende Konflikt, die Freigebigkeit des Pfaffen, die der Bischof als ordnungsstörende Transgression interpretiert, steht nicht mehr zur Debatte. Auch die Verknüpfung mit der folgenden Schwankreihe ist arbiträr. Nicht die Überlegenheit des Pfaffen, sondern die durch den Tod des Bischofs abgebrochene Eselsunterrichtung begründet seinen Ruhm. Die Überzeugung, Amis hätte dem Langohr ansonsten vollends das Lesen beigebracht, _____________

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und MARC BLOCHs entschiedene Mediävilisierung (La société féodale, 1940/41), die GEORGES BATAILLE in seinen Studien zu Gilles de Rais (1959) pointiert hat, sind sich RÖCKE (Anm. 36), S. 52ff. und STROHSCHNEIDER (Anm. 27), S. 182ff. einig. Zu den Aporien der milte im Pfaffen Amis instruktiv STROHSCHNEIDER (Anm. 27), S. 182ff. Vgl. Jean Paul (Anm. 2), S. 105: „Kurz der Erbfeind des Erhabenen ist das Lächerliche.“ Vgl. STIERLE (Anm. 6), S. 238, 240f. Vgl. SCHILLING, Nachwort der Ausgabe (Anm. 32), S. 191. Vgl. MARIO KLARER: Spiegelbilder und Ekphrasen. Spekulative Fiktionspoetik im Pfaffen Amis des Strickers. In: Das Mittelalter 13 (2008), S. 80-106, hier S. 82, S. 99f.

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motiviert die Leute, ihn aufzusuchen. Des merten sich sein geste (V. 319; „Daher wuchs die Zahl seiner Gäste“), und seine Ressourcen schrumpfen bis zur vollständigen Kreditunfähigkeit. Die Eselsepisode verselbständigt sich und generiert die Keimzelle der Folgeschwänke: Ich wil nach gut werben. Min haus sol niht verderben. (V. 333f.) Ich will mich um Einkünfte bemühen. / Mein Haus soll nicht zugrunde gehen.

Über die komische Eselsbrücke wird das agens des Textes, die milte, wieder in Gang gesetzt, nunmehr Text strukturierend. Auf dass in seinem Haus das ‚endlose Fest‘48 weiterlaufen kann, macht Amis sich auf, um die dafür nötigen Ressourcen zu beschaffen, die er auch von Zwischenstationen unterwegs nach Hause schickt. Damit ist eine Schwankreihe eröffnet, die auf der Kumulation eines einzigen, durch ‚listig-betrügerischen Besitzerwerb‘ gekennzeichneten Schwanktyps beruht und schwerlich, wie HANNS FISCHER spekuliert, auf Anekdoten über eine historische Klerikergestalt zurückgehen dürfte. Wohl aber orientiert sich die Auswahl des Erzählmaterials, wie schon für den Initialschwank, an der Komisierung von Klerikertypen, den ‚bêtes noires‘ (P. NYKROG) mittelalterlicher Lachkultur,49 besonders an der schwankstereotypen Habgier von Pfaffen, die in ihrer Skrupellosigkeit auch vor der Instrumentalisierung ihres Amts-Charismas nicht zurückschrecken. Während diese jedoch in der Regel am Ende als übertölpelte Verlierer dastehen und der Lächerlichkeit preisgegeben werden,50 sind die Beutezüge des Pfaffen Amis allesamt erfolgreich. Weder gibt es handlungsinterne Korrekturen noch kritische Erzählerkommentare. Am Schluss wird Amis eine Metanoia zugeschrieben. Der Pfaffe zieht sich in ein Zisterzienserkloster zurück, steigt zum Abt auf und erwirbt schließlich die ewige Seligkeit. Auf Basis von WARNINGs Überlegungen zum syntagmatischen und paradigmatischen Erzählen fasst PETER STROHSCHNEIDER Amis’ Karrierre als Basis-Sujet auf, das die kontingenzbewältigende Syntagmatik trägt. Am Textbeginn steht demzufolge der vergebliche Versuch des Bischofs, _____________ 48 49

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Vgl. RÖCKE (Anm. 36), S. 51. PER NYKROG: Les fabliaux. Etude d’histoire littéraire et de stylistique médiévale, Kopenhagen 1957, S. 133, zit. n. KARIN BECKER: Der Priester als Garant des Gelächters. Narrative Strategien des Komischen in den altfranzösischen Fabliaux. In: Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von ANJA GREBE/NIKOLAUS STAUBACH, Frankfurt a. M. 2005, S. 64-75, hier S. 64. Der Initialschwank greift offenbar zurück auf Erzählungen, in denen sich Priester erfolgreich gegen bischöfliche Vorgesetzte zur Wehr setzen (vgl. S. 72); vgl. Jean Paul (Anm. 2), S. 118, Anm.: „So war im christlichen Mittelalter in allen Ländern gerade die dunkelfarbige Geistlichkeit das ausersehene Schwarz der satirischen Zielscheiben.“ Vgl. BECKER (Anm. 49), hier S. 64ff.

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Standesgrenzen gegen Übertritte abzusichern, am Ende, indem Amis als Abt in eine bischofsgleiche Position einrückt, die Restitution eben jener klerikalen Ständehierarchie, die Amis zuvor durchkreuzt hat; anfangs Kontingenzexposition in der Konfrontation mit dem Bischof, teleologische Geschlossenheit und Kontingenzbewältigung am Ende.51 „Eine Mitte indes, in welcher von jenem Anfang zu diesem Ende geführt und der Nexus narrativ gefüllt würde, besitzt der Text nicht.“52 Zwischen KarriereSyntagma und Schwank-Paradigma werden klare Zäsuren gesetzt. Die auf den Zweck des guot-Erwerbs ausgerichtete Schwankfolge sei entgegen Fischers Steigerungsformel ‚Wortbetrug, Tatbetrug, Gewaltbetrug‘ „eine richtungslose Suite immer neuer Übertölpelungen unterlegener Opfer […]. Die narrative Kette der einzelnen Geschehnisse entbehrt jeder irgend sukzessiven oder zielgerichteten Ordnung.“53 Einleuchtend ist diese Einschätzung mit Blick auf die Welt der Erzählung als einer Kippfigur, deren beide Seiten sozusagen synchron existieren: „die Bühne von Freigebigkeit und Statuskonsum einerseits, die Hinterbühne des betrügerischen Besitzerwerbs in der Schwankreihe anderseits [sic]“.54 Die überzeugenden Analysen zu Aporien der milte sind hier nicht zu wiederholen. Mein Einspruch gründet sich auf die Ausgrenzung von Komisierungsmomenten, deren Untersuchung STROHSCHNEIDER – anders als sein Titel erwarten lässt55 – abschließend als wünschenswertes Superadditum nahe legt.56 Dagegen möchte ich zeigen, dass das Komische im Pfaffen Amis von erzählstrukturell fundamentaler Bedeutung ist. Nimmt man die Betrugsschwänke in den Blick, so ist Serialität unbestreitbar Programm. Der Autor stellt sich damit einer großen Herausforderung. Wenn auch der Einzelschwank in Erzähl-, Überlieferungs- und Sammelgemeinschaften meist nur als plurale tantum auftreten mag,57 so ist für den Schwankroman der Textverbund konstitutiv. Der variatio kommt ein besonderes Gewicht zu. Eine Reihe von Geschichten mit einer immer

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Vgl. STROHSCHNEIDER (Anm. 27), S. 174, passim. STROHSCHNEIDER (Anm. 27), hier S. 174. STROHSCHNEIDER (Anm. 27), hier S. 180f.; vgl. Fischer (Anm. 33), S. 293. STROHSCHNEIDER (Anm. 27), hier S. 185. Vgl. den für ihn Titel anregenden Beitrag von WOLFGANG ISER: Das Komische. Ein Kipp-Phänomen. In: Das Komische (Anm. 6), S. 398-402. STROHSCHNEIDER (Anm. 27), S. 190. Vgl. HANS JOACHIM ZIEGELER: ‚Schwank2‘. In: RL, Bd. 3 22003, S. 407-410, hier S. 409; zur Serialität UDO FRIEDRICH: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Mittelalterliche Novellistik im kulturwissenschaftlichen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von MARK CHINCA, Berlin 2006 (Beihefte zur ZfdPh 13), S. 48-75.

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gleich überlegen agierenden Figur, deren Listen58 dem immer gleichen Zweck dienen, sind nicht nach dem gleichen Muster zu ‚stricken‘, ohne das Publikum zu langweilen. Abwandlungen erfahren die ständischen und geschlechtsspezifischen Sphären des Opferpersonals, die Medien und Funktionsmuster des Betrugs. Unter dem Aspekt manipulierter Rituale hat RUTH SASSENHAUSEN die Amis-Figur als Moderator von Ritualen gewürdigt, der als Kleriker gerade im Bereich religiöser Rituale für diese Rolle besonders qualifiziert ist und alle Variationsmöglichkeiten auszuschöpfen weiss.59 Der im profanen Bereich verortete Schwank Die unsichtbaren Bilder, der genealogische Konstruktionen im Hochadel als imaginären Schwindel aufs Korn nimmt, hat als Einzelerzählung aktuell intensive Beachtung gefunden.60 Wenn es bei diesen Mustern bliebe, würde sich die Folge der Einzelschwänke GRUBMÜLLERs Konstrukt des ‚Stricker-Märe‘ fügen, demzufolge die Störung von Ordnung und ihre Wiederherstellung typisch ist.61 In der Tat ist für die Amis-Schwänke wiederholt das Erzwingen von Einsicht durch listige Arrangements als Restitutionsverfahren postuliert worden. Zwar erkennen die Opfer des Pfaffen nicht immer den an ihnen verübten Betrug, aber das Publikum werde über die Bedingungen intakter Wertrealisierung belehrt.62 Einwände, der Pfaffe Amis ziele nicht durchweg auf eine Wiederherstellung der bestehenden Ordnung, ja wirke sogar verunsichernd, wie sie von INES HEISER am Beispiel von Wunderfälschungen und von RUTH SASSENHAUSEN an der variantenreich gestalteten Manipulierbarkeit von Ritualen äußern, werden überführt in die Überzeugung, der Autor wirke mit dem Appell, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, fast schon aufklärerisch.63 Dass Rezipienten angeleitet werden, Schwachstellen kultureller Systeme zu analysieren, dürfte nicht zweifelhaft sein. Auch CHRISTIANE ACKERMANN teilt in ihrer Untersuchung der Rationalität von Täuschungsmanövern auf Handlungs- und Erzählebene diese Auffassung. Jedoch gehe es in der Dichtung „wohl eher um das Vergnü_____________ 58 59 60 61 62 63

Zur Vieldeutigkeit von mhd. list als kunst, Klugheit, Hinterlist im Pfaffen Amis vgl. zuletzt KLARER (Anm. 47), S. 82. RUTH SASSENHAUSEN: Das Ritual als Täuschung. Zu manipulierten Ritualen im Pfaffen Amis. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 144 (2006), S. 55-79. Vgl. CHRISTIANE ACKERMANN: How come, he sees it and you do not? Die Rationalität der Täuschung im Pfaffen Amis und im Eulenspiegel. In: Wolframstudien XX (2008), S. 387-413; KLARER (Anm. 47); SASSENHAUSEN (Anm. 59), S. 68ff. Vgl. GRUBMÜLLER (Anm. 29), S. 81ff. HEDDA RAGOTZKY: Gattungserneuerung und Laienunterweisung, Tübingen 1981 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1), S. 167. Vgl. INES HEISER: Wunder und wie man sie erklärt. Rationale Tendenzen im Werk des Strickers. In: Wolframstudien XX (2008), S. 161-175, hier S. 173; SASSENHAUSEN (Anm. 59), S. 78f.

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gen, mit der Manipulierbarkeit von Wahrheit zu spielen und dabei ihre Mechanismen zu erkunden.“64 Die Destabilisierung gesellschaftlicher Ordnungssysteme, die in der Schwankfolge paradigmatisiert wird, verfolgt, so möchte ich pointieren, primär das Ziel, die Physis der Rezipienten durch Lachen zu destabilisieren. Hieraus ergibt sich eine Eigendynamik der Komik, die den didaktischen Gestus übersteigt und das Narrationsverfahren steuert. Komik ist der Motor des Erzählprozesses, der an Stelle der Eindeutigkeit Vieldeutigkeit hervorbringt, die Hauptfigur doppelpolig konturiert, Wert setzende Normen in Konkurrenz treten und sich gegenseitig relativieren lässt.65 Die im Prolog exponierte Leitambiguität korrespondiert, so meine These, mit der auf Komisierung basierenden Erzähllogik der Schwänke und löst im Textverlauf zunehmend eine Kettenreaktion ständigen Umkippens aus, die auch den Schluss des Textes in Mitleidenschaft zieht.66 Ich möchte dies exemplarisch für die signifikante Umschlagstelle zeigen, an der Serialität im Text selbst problematisiert wird. Schwank 9, Die Wunderheilung der Blinden und Lahmen, wird mit 30 Versen abgefertigt. Das Sujet ‚religiös motivierter Wunderglaube‘ wurde zuvor bereits fünf Mal traktiert, am ausführlichsten bei der Kirchweihpredigt mit 160 Versen, mit der die Schwankreihe eröffnet wird. Nun aber geht dem Autor offensichtlich die Luft zur variatio aus. Sol ich die trugeheit alle sagen, […] der rede wurde aller zu vil (V. 1315, 1319; „Wollte ich jeden Betrug erzählen […], würde es erheblich zuviel.“). Dies ist eine topische brevitas-Formel, die jedoch nicht folgenlos bleibt. In der Vulgata-Fassung wird sie offenbar als Handlungsanleitung aufgefasst, denn in ihr ist an dieser Stelle der Messeschwank, in dem Amis einen gottbegnadeten Bauern markiert, tatsächlich gestrichen.67 Nach einem Rückgriff auf den Prolog lässt der Autor die bisherigen Betrugsmanöver Revue passieren und man erwartet den Abspann. Nicht ohne Grund nahm FISCHER hier den Abschluss des ‚Ur-Amis‘ an, der erst später erweitert worden sei,68 denn der Autor holt mit den beiden Orientabenteuern zu Schwänken vollkommen neuen Typs aus. Der Pfaffe beschließt, sich ein für allemal zu sanieren und gelangt, wie immer wohl equipiert, nach Konstantinopel. Der Reichtum eines Seiden_____________ 64 65

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ACKERMANN (Anm. 60), S. 404. Die Untersuchung von Rationalitätsstrukturen scheint das Hauptanliegen der aktuellen Stricker-Forschung zu sein. Ich nehme wörtlich Bezug auf HANS-JÖRG NEUSCHÄFERs Schwellenkriterien für die Modernität der Novelle. Vgl. HANS-JÖRG NEUSCHÄFER: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 8), zusammenfassend S. 122. Vgl. ISER (Anm. 55). Vgl. zur Überlieferung SCHILLING, Nachwort der Ausg. (Anm. 32), S. 180ff. Vgl. FISCHER (Anm. 33), S. 298.

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händlers weckt seine Begehrlichkeit, jedoch bleibt das Publikum für diesmal im Ungewissen über die erwartbaren Listen des Helden. Amis muss sich situativ etwas einfallen lassen (V. 1402f.). Mit dem Rätselschema (curiosity) inauguriert der Stricker einen neuen Spannungstyp.69 Amis entwickelt seinen über 100 Verse intransparent bleibenden Betrugsplan erst bei der Begegnung mit einem kahlköpfigen, der Landessprache nicht mächtigen Maurer. Diesem stellt er sich als Kaplan seines soeben verstorbenen Bischofs vor und kann ihm einreden, als Nachfolger prädestiniert zu sein. Er stattet ihn entsprechend aus und schärft ihm ein, um seiner Amtswürde willen keine anderen Worte zu äußern als „daz ist war“ (V. 1453). Immer wieder bestätigt durch diese autoritative Wahrheitsformel kann Amis bei einem zähen Tauschhandel die Repräsentationspflichten seines neuen Lehnsherrn glaubhaft machen und die kostbaren Stoffe abtransportieren, während er den falschen Bischof nach dem Typus ‚Bettler als Pfand‘ als Zahlungssicherheit zurücklässt. Als der Seidenhändler endlich den Betrug erkennt, traktiert er seine Geisel aufs Übelste. Die Schwankmaschinerie läuft nun erstmals über 200 Verse lang ohne den Pfaffen als Handlungsträger weiter,70 wirft indes ein grelles Schlaglicht auf die Amoralität und Skrupellosigkeit seiner Gewinnmethoden. Die komische Technik der stupiden Formelwiederholung, die sich der Rezeption lateinischer Komödien im mittelalterlichen Schulbetrieb verdanken dürfte, wird im orientalischen Anschlussschwank variiert, die Niedertracht des Amis gesteigert. In beiden Kaufmannsschwänken gelingt der Betrug durch den normgerechten Vollzug des ‚professionellen‘ Rituals von Kaufen und Verkaufen.71 Der Pfaffe insinuiert durch die pragmalinguistisch geschickte Steuerung der Verkaufsgespräche eine Interpretationsgemeinschaft, in der das friedliche Aushandeln der wechselseitigen Interessen unterstellt wird.72 Der Pfaffe legt die Zahlungsmodalitäten so präzise fest, dass Raub und körperliche Gewalt jenseits des Vorstellungsvermögens der Opfer bleiben. Während der Maurer als Bischof aber nolens volens der Willkür des Gläubigers ausgeliefert werden muss, ist die perfide Folterung des Edelsteinhändlers, der daran zugrunde geht, ein blindes Motiv. Amis lockt _____________ 69 70 71 72

Vgl. PETER WENZEL: Spannung in der Literatur. Grundformen, Ebenen, Phasen. In: Spannung. Studien zur englischsprachigen Literatur. Für Ulrich Suerbaum zum 75. Geb. Hrsg. von RAIMUND BORGMEIER/PETER WENZEL, Trier 2001, S. 22-35, hier S. 28ff. Bei seiner exemplarischen Interpretation dieses Schwanks ignoriert STROHSCHNEIDER (Anm. 27, S. 177f.) diese Partie aus guten Gründen, würde sie doch seiner These funktionaler Handlungslogik im Schwank-Paradigma entgegenstehen. Vgl. die treffliche Analyse von RÖCKE (Anm. 36), S. 76ff.; zum Begriff des ‚professionellen‘ Rituals SASSENHAUSEN (Anm. 59), S. 77. Amis hält sich peinlich genau an die Konversationsmaximen, die das GRICEsche Kooperationsprinzip vorsehen; vgl. zu GRICEs Ansatz SVEN STRASEN: Wie Erzählungen bedeuten. Pragmatische Narratologie. In: Neue Ansätze (Anm. 3), S. 185-218, hier S. 190 f., S. 211.

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ihn mitsamt seinen Preziosen in sein Quartier, wo er gefesselt und mundtot gemacht wird. Die Ausplünderung ist geglückt, die Geschichte könnte zu Ende sein. Ohne handlungslogische Begründung verselbständigt sich jedoch der komische Diskurs, der auf der Antizipation kaufmännischer Redeweise durch den Pfaffen basiert. Und wie der koufman genas und welche not er muste doln, daz wer schedelich verholn. (V. 1974-1976) Es wäre aber schade zu übergehen, / welche Qualen der Kaufmann ausstehen mußte / und wie er gerettet wurde.

Bevor der Pfaffe das Weite sucht, insinuiert er einem Arzt, sein Vater leide an tobesucht (V. 2002) und wiederhole immer nur „Herre, geldet mir min gut.“ (V. 2007; „Herr, vergütet mir mein Eigentum.“). Als er ihm den Edelsteinhändler als Patienten vorführt, bestätigt sich die Diagnose, und der Medicus therapiert, in Erwartung reichen Lohns, den vermeintlich Wahnsinnigen nach allen Regeln ärztlicher Kunst.73 Dass der Pfaffe gerade einem Edelsteinhändler so übel mitspielt, könnte mit der Skepsis des Strickers gegenüber der wunderbaren Wirkung zusammenhängen, die vielen Edelsteinen zugesprochen wurde und zur Übervorteilung von Kunden führe.74 Am Ende wird das geschundene Opfer zusätzlich dem Unmut der Gattin ausgesetzt, die sich mehr über das verlorene Gut grämt als über die rabiate Misshandlung des Ehemanns. Die turbulente und höchst verwickelt erzählte Geschichte demonstriert noch radikaler als die vorherige die kriminelle Energie des Pfaffen und führt zugleich seine überschüssige, grundlose Bosheit vor. „Gleichwohl dient auch noch dieses beklemmende Schauspiel von Drohung und Angst, Leid und Schmerz der Sicherung von Amis’ Freigebigkeit. milte […] als anscheinend uneigennütziger Dienst am Nächsten, wird hier durch den rücksichtslosesten Egoismus erreicht“.75 Die vorübergehend geforderte ‚Anästhesie des Herzens‘76 als Voraussetzung aggressiver Komik übersteigt offenbar die Toleranz moderner Rezipienten. „Faktische Fremdbestimmtheit durch Gewalt“, so auch KARL_____________ 73

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Vgl. DIRK MATEJOVSKI: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung, Frankfurt a. M. 1996, Kap. V, 3; zu den Behandlungsmethoden S. 260ff. Ein stoffverwandtes Beispiel aus Samuel Footes Komödie Vorgesehn! Oder die Industrieritter diskutiert Jean Paul (Anm. 2), S. 110f. Vgl. zu Strickers Reimrede Von Edelsteinen HEISER (Anm. 63), S. 162ff.; MANFRED GÜNTER SCHOLZ: Wer den Stricker totschlägt oder Die Lüge von den Edelsteinen. In: Impulse und Resonanzen. Tübinger Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Hrsg. von GISELA VOLLMANN-PROFE u. a., Tübingen 2007, S. 229-244. RÖCKE (Anm. 36), S. 79. HENRI BERGSON: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Aus dem Französischen von Roswitha Plancherel-Walter. Nachwort von KARSTEN WITTE, Frankfurt a. M. 1988, S. 15.

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HEINZ STIERLE, „ist prinzipiell nicht komisch. […]. Komisch ist das Subjekt nur, wenn seine Fremdbestimmtheit ihm nicht selbst zu Bewusstsein kommt oder sich der Kontrolle seines Bewusstseins entzieht.“77 Dies verweist auf die historische Variabilität der ‚komischen Enthebbarkeit‘.78 Für diese Annahme gibt es plausible Gründe. So bezeugen rekonstruierbare pragmatische Bedingungen die Zugehörigkeit von Texten zur Lachliteratur, deren Lektüre uns schlechterdings unerträglich ist. Exemplarisch verweise ich auf zahlreiche Schwänke, in denen mit behinderten, häufig blinden Personen ein böses Spiel getrieben wird (etwa die vom Stricker übernommene Historie 13; auch die auf früheren Quellen basierende Historie 71 im Ulenspiegel), oder auf antijüdische Sujets. Plausible Gründe gibt es aber auch für die Annahme von Grundkonstellationen im Bereich der Komik, zumindest für die abendländische Kultur.79 Eine solche Konstante formuliert das triadische Modell komischer Kommunikation, das HARALD WEINRICH für die Bestimmung von Ironie angeregt, WOLF-DIETER STEMPEL mit Rückgriff auf FREUDs Studien zum tendenziösen Witz expliziert und KARLHEINZ STIERLE abgewandelt hat.80 In meinem Kontext relevant ist, dass die erste Person, der Autor bzw. seine Figur über eine Fülle von Besetzungsmöglichkeiten und technischen Mitteln verfügt, das Objekt der Komik, die zweite Person, der Lächerlichkeit preiszugeben. Für die Schwankfolge gilt: „Die zum Schein vollzogene Identifizierung mit der zweiten Person (die Ausrichtung auf sie, das bemühte Aufgehen in ihrem Erwartungsbereich usw.) steht im Dienste eines darauf kalkulierten Dementis.“81 Dies trifft auf den Initialschwank im Pfaffen Amis und die Folgeschwänke zu. Die dritte Person, der Zuhörer, wird durch die mühelose Befriedigung seiner eigenen Lachlust bestochen. „Die ‚Achse‘ 1./3. Person gründet nicht wesentlich auf der Grundlage bestimmter gemeinsamer Anschauungen, Verhaltensweisen usw.“, vielmehr ist evident, „daß die unbestritten soziale Funktion des Lachens von Haus aus zunächst nur in der okkasionellen Solidarisierung von erster und dritter Person besteht und weder systemstabilisierend noch -destruierend

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STIERLE (Anm. 6), S. 243 f. Sekundäre Motive ‚ausgleichender Gerechtigkeit‘, die als Ausnahme erwogen werden, treffen auf die Orientschwänke des Amis nicht zu. STIERLE, hier S. 251; zahlreiche Aufschlüsse für geschlechtsspezifische Aspekte bieten die unter anderer Fragestellung versammelten Beiträge in: Konversationskultur (Anm. 11). Belege würden hier ins Endlose ausufern, weshalb ich nur darauf verweise, dass Strickers Pfaffe Amis, wenngleich das Sujet fremd ist, Studenten auch heute noch zum Lachen reizt. Vgl. HARALD WEINRICH: Linguistik der Lüge. Durch ein Nachwort erw. Aufl. München 2000 (Beck’sche Reihe 1372), S. 66.; WOLF-DIETER STEMPEL: Ironie als Sprechhandlung. In: Das Komische (Anm. 6), S. 205-235, hier S. 212ff.; STIERLE (Anm. 6); S. 245f.; SIGMUND FREUD: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: DERS.: Gesammelte Werke, 6. Bd., Frankfurt a. M. 51973, bes. S. 108ff.; 161ff. STEMPEL (Anm. 80), S. 217.

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ist.“82 Weder dem Autor noch dem Publikum des Pfaffen Amis ist zu unterstellen, dass sie das zu Tode Quälen von Mitmenschen lustig finden. Die Rezipienten lachen über Geschichten, von denen sie wissen, dass sie zu ihrem Vergnügen erfunden worden sind. Durch die komische Enthebung werden die erzählten Fakten irrealisiert, die für die betroffenen Figuren ja alles andere als folgenlos bleiben.83 Folgenlos müssen sie dennoch nicht für die Rezipienten sein, die sich nachträglich darüber Gedanken machen können. Spontanes Lachen aber ist von Bedenklichkeiten ‚enthoben‘. Innerliterarische Lachreferenzen, so differenziert sie im Einzelnen zu gewichten sind, setzen hier Signale. Im bereits angesprochenen Schwank Der Maurer als Bischof signalisiert das Lachen des Märenpersonals, dass es für einen einfältigen Tropf, der des Pfaffen Bischofswahl zunächst selbst als spot (V. 1432; 1445) einschätzt, kein Mitleid geben kann: Swer ez vernam, der lachte, wan dem wirte, dem krachte daz herze mit dem mute. (V. 1799-1801) Alle, die das gehört hatten, lachten, / mit Ausnahme des Händlers, der am Rande / des Herzinfarkts und des Wahnsinns stand.

Eingeübt in den neuen Formtyp, wird das Publikum unterrichtet über die Dummheit des vermeintlich superschlauen Kaufmanns im Folgeschwank, den Amis mit seinen eigenen Waffen schlägt, indem er ihm einen Zusatzgewinn in Aussicht stellt: Sust schuf er, daz ein affe / uz einem manne wart (V. 1952f. ; „So hatte er erreicht, daß ein Mann sich zu einem Affen machte“). Zwar heißt es über die Reaktion seiner Freunde: Der wart von in vil sere gekleit (V. 2228; „[Als man ihnen sein Leid berichtet hatte,] brachen sie in lautes Wehklagen aus“), jedoch ist das Publikum von jedem Solidarisierungsgebot mit einem affen enthoben. Die Geschichte wird überdies mit einer Schlusspointe versehen. Weil es sich um des kuneges arzat (V. 2240; „den königlichen Leibarzt“) handelt, muss der Händler auch noch für seine Torturen zahlen. In Umkehrung des Schwankes Die Heilung der Kranken besteht der Witz darin, einen Gesunden zum Kranken zu machen (V. 2246f.). Nachdem die Betrugsmanöver des Pfaffen ausgereizt sind, werden also aggressiv komische, vom Titelhelden losgelöste Verfahren in Gang gesetzt werden, um neue Lachquellen zu erschließen. Eine weit über das Ziel hinausschießende Darstellung von Gemeinheiten ist im 13. Jahrhundert sonst nur für Fabliaux, nicht aber für deutschsprachige Kurzerzäh_____________ 82 83

STEMPEL (Anm. 80), hier S. 218, 219f. Vgl. STIERLE (Anm. 6), S. 252; die Folgenlosigkeit des komischen Faktums definiert STIERLE als wesentliche Bedingung von Enthebbarkeit, vgl. S. 243f.

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lungen beobachtet worden.84 Handlungslogisch überschüssige Grausamkeit, die die Funktionalität von Erzählmomenten auflöst, tritt erst wieder mit Kaufringer um 1400 auf und ist mit dem Etikett modernitätshaltiger Groteske ausgezeichnet worden.85 Für die partielle Vorwegnahme dieser narrativen Techniken in Strickers Amis ist, so meine These, die Komposition des Werks verantwortlich. Die strenge Funktionalität der Einzelelemente, die nach dem Befund Grubmüllers die Mären des Strickers auszeichnen,86 kann im Schwankzyklus nicht durchgehalten werden. Das Komische als Serie verlangt nach der Gestaltung immer neuer Unerwartbarkeiten.87 Implizit ist ein Steigerungsprinzip angelegt, das sich in den Schlussschwänken nicht zufällig als Verselbständigung einzelner Erzählmomente realisiert, was darauf hindeuten könnte, dass das an den Helden zu bindende Erzählmaterial erschöpft ist. Von einer völlig richtungslosen Suite der Schwänke, wie sie STROHSCHNEIDER unterstellt, kann daher ebenso wenig gesprochen werden wie von dem Pendant dieser Hypothese, von der durchweg funktionalen Handlungslogik im Schwank-Paradigma. Der Textbefund belegt, dass dies schon auf den vorletzten Schwank nicht zutrifft, dessen zweiter, sich verselbständigender Teil aber immerhin noch handlungslogisch motiviert wird. Im letzten Schwank dagegen ist der Zweck des guot-Erwerbs mit den Versen 1824-1973 erfüllt. Der über dreimal so lange zweite Teil (V. 1974-2444) ist handlungslogisch vollkommen abgekoppelt. Für den Rahmentext bleibt dies nicht folgenlos. Oder sollte im Karriere-Syntagma Sinnvertrauen verankert sein? Am Prolog war zu sehen, dass das binäre Muster für den Helden nicht gewahrt wird. Er partizipiert am Katalog der Tugenden ebenso wie am Katalog der Tugendverkehrungen. Dieser Widerspruch wird auch im Epilog nicht aufgelöst. Nachdem der Pfaffe dreißig Jahre lang seinem feudal-verschwenderischen Lebensstil gefrönt hatte, heißt es abweichend in der Überlieferung, in der älteren Riedegger Handschrift: dô begunde in got bekêren, daz er die lüge verswuor und in ein grâwes klôster vuor mit allem sînem guote. (Hs. R, V. 2490-2493)

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GRUBMÜLLER (Anm. 29), S. 72ff. Klaus GRUBMÜLLER: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 37-54, hier S. 48. GRUBMÜLLER, ebd. STIERLE (Anm. 6), S. 250.

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bekehrte ihn Gott, / so daß er dem Lügen abschwor / und mit seinem ganzen Besitz in ein Zisterzienserkloster eintrat.

In der Vulgatafassung, die mit 8 Handschriften und einem Druck die Hauptüberlieferung repräsentiert, dagegen: da begonde er ane got keren, daz er die leute verswur und in ein grawes kloster fur mit allem sinen gute. (V. 2262-2265) wandte er sich Gott zu, / so daß er sich der Gesellschaft entzog / und mit seinem ganzen Besitz / in ein Zisterzienserkloster eintrat.

Ich verstehe, anders als die opinio communis, die Version der Riedegger Handschrift nicht als Erzählerkritik, sondern als Aufwertung der Figur.88 In Anpassung an das Legendenschema vom guten Sünder wird die Gnade Gottes über den Pfaffen ausgegossen: dô begunde in got bekêren. Der Kanonisation des Helden kann sich auch die Vulgataversion nicht entziehen, wenn sie Amis das ewige Heil zuspricht, jedoch bevorzugt sie eine unmotivierte, stärker die Ironisierung akzentuierende Metanoia. Wieder in der Überlieferung übereinstimmend verdankt Amis seine Klosterkarriere seinen versierten Finanzoperationen, die den Ausschlag für die Abtwahl geben: Daz wer ubel verborn (V. 2276, „das war ganz unvermeidlich“). Das lässt das postulierte Karrierre-Syntagma in einem anderen Licht erscheinen: Nicht Schließung einer anfänglichen Offenheit, sondern eine sich von der klösterlichen Operationsbasis aus bis in den Himmel und ins Jenseits fortsetzende Transgressivität. Das Schwank-Paradigma des guotErwerbs kommt zu einem zielgerichteten Abschluss: dem Erwerb himmlischer Güter. Mit Blasphemie hat dies nichts zu tun. In Analogie zum ‚höfischen Gott‘ Hartmanns von Aue tritt die innerliterarische Gottesfiguration im Amis als Komplize des genialen Verbrechers in die triadische Konstellation komischer Kommunikation ein und solidarisiert sich mit dem Publikum.89

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Zur Riedegger Handschrift vgl. Anm. 32; zu ihrer Bewertung SCHILLING im Nachwort zur Ausg. (Anm. 32), S. 190, Anm. 33. Parallelen in Boccaccios Decameron hat BRIGITTE BURRICHTER in der Vortragsdiskussion pointiert; vgl. das Decameron zit. nach: Giovanni Boccaccio: Decameron. 2 Bde. Hrsg. von VITTORE BRANCA, Torino 1980. Als prototypisch darf I, 1 (von Ser Cepparello zu san Ciappelletto) gelten; vgl. zu dieser viel interpretierten Novelle exemplarisch CORINNA LAUDE: „Daz swindelt in den Sinnen…“. Die Poetik der Perspektive bei Heinrich Wittenwiler und Giovanni Boccaccio, Berlin 2002 (Philologische Studien und Quellen 173), S. 272ff.

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IV. Der Wagen kippt um Zyklisches Erzählen in der späteren deutschen Literatur knüpft in prominenter Weise an das Reiseschema an. Der Ulenspiegel, dessen Vorrede im Druck von 1515 den Pfaffen Amis als Quelle ausweist,90 steht allerdings unter gänzlich veränderten ko- und kontextuellen Bedingungen. Auf ihn trifft die Definition ‚Schwankroman‘ von WERNER RÖCKE zu: „Biographisch geordnete Schwanksammlung.“91 Für die Abfolge der zwischen den biographischen Rahmen, Geburt und Tod, eingespannten Historien lassen sich zwar gewisse Gruppierungskriterien geltend machen, jedoch sucht man unter dem Aspekt des Komischen vergebens nach einer erzähllogischen Struktur. Im Amis und Ulenspiegel sind es noch die Helden, die immerzu unterwegs sind, in Wickrams Rollwagenbüchlein von 1555 wird dagegen reisender Rezipienten gedacht, die in schiffen vnd auff den rollwegen […], in scherheüseren vnnd badstuben92 sich die Zeit liminaler Zustände durch Erzählen verkürzen. Herb vermisst wird in der deutschen Literatur die kolloquiale Rahmenhandlung als Innovation von Boccaccios Decameron, das zweifelsfrei zu Recht „als ein kanonischer Text im Bereich der Lachkultur“ gilt.93 Der literaturwissenschaftliche Gewinn von Abwertungen, die das Decameron als normative Messlatte beschwören, ist indes zweifelhaft, wie RÜDIGER SCHNELL unlängst unter dem vergleichenden Aspekt der Konversationskultur in Italien und Deutschland dargelegt hat.94 „Der deutsche Sonderweg“ als „Reduktion des novellistischen Erzählens“?95 Und Goethe wäre der Poet der deutschen Wiedervereinigung? Noch bevor Erzählzyklen nach dem Vorbild Boccaccios, Chaucers, Poggios und französischer Beispiele in der deutschen Literatur etabliert sind,96 diagnostiziert das 1781 erschienene Prosawerk Empfindsamster aller _____________ 90 91 92 93

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Vgl. Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten. Hrsg. von WOLFGANG LINDOW, Stuttgart 1975 (RUB 1687), Vorrede, S. 8; es handelt sich um die Historien 27, 28, 29 und 31. WERNER RÖCKE: ‚Schwankroman‘. In: RL, Bd. 3 22003, S. 410-412, hier S. 410. Vgl. die Reproduktion der Autor-Annonce in Georg Wickram: Das Rollwagenbüchlin. Text nach der Ausg. von JOHANNES BOLTE. Nachw. von ELISABETH ENDRES, Stuttgart 1979 (RUB 1346), S. 3. SEBASTIAN NEUMEISTER: Die Praxis des Lachens im Decameron. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Hrsg. von LOTHAR FIETZ. Tübingen 1996, S. 65-81, hier S. 65. MATTHIAS MEYER verweist darauf, dass ein Rudiment der kolloquialen Rahmenhandlung im Einstieg zur Erzählung ‚Das Nonnenturnier‘ vorhanden ist. Vgl. RÜDIGER SCHNELL: Konversationskultur in Italien und Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Methodologische Überlegungen. In: Konversationskultur (Anm. 11), S. 313385, hier S. 333ff. GRUBMÜLLER (Anm. 29), Kapitelüberschrift und Text S. 313. Vgl. zu Rahmenzyklen in der deutschen Literatur, deren Tradition nicht erst mit Goethes

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Romane von Jakob Michael Reinhold Lenz das Scheitern des Genres in Deutschland. Ganz ‚richtig‘ hat Lenz Gattungsexemplare der defizitären Fortbewegungsart als Helden im Visier. „Zwei Schildkröten machten eine weite Reise. Wer lang hat, läßt lang hängen, ist ein altdeutsches Sprichwort. Schildkröten können nicht lang hängen lassen“.97 Fünfzig Jahre dauert es, bis die Schildkröten von Danzig aus an ihrem Reiseziel Paris ankommen. Erzählen sie unterwegs in einem Wirtshaus Geschichten, sind diese bereits ebenso veraltet wie die Damen, denen sie die Cour machen wollen. Und als einer der gepanzerten Helden im Pariser Verkehrschaos auch noch von vier Kutschen überfahren wird, treten sie alsbald im erstbesten Postwagen98 ihre Rückreise an. Ein mitreisender Buchhändler zieht „aus ihrem Stillschweigen, Kopfnicken und seltsamen Verbindung von Personen und Sachen, die nicht mehr zusammengehörten, den unfehlbaren Schluß […], es müßten ein Paar Genies erster Größe sein.“99 Eine junge Pariser Braut, die ihrem Geliebten ins ferne Astrachan in die Arme reisen will, glaubt gar: „Ganz gewiß hat einer von ihnen die Leiden des jungen Werther geschrieben.“100 Die Reisegesellschaft wird von den Märchen einer vornehmen Maus unterhalten, die, so der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler, „ihr Geschlecht unmittelbar von denen ableitet, die den Bischof Hatto gefressen hatten.“101 Eine weitere Erzählebene wird durch die wörtliche Wiedergabe der Rede eines mäusischen Spitzenahns eröffnet: „Helden, Halbgötter und Weltweise!“102 hebt die Anrede des kannibalischen Vorfahren an seine mäusischen Mitbrüder an; zweifellos eine Anspielung auf Goethes Farce Götter, Helden und Wieland, deren durch Lenz 1774 in Straßburg besorgte Drucklegung später zu allerhand Querelen Anlass gab. Schon _____________ Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) einsetzt, jedoch seither zu einer der wichtigsten Erzählformen des 19. Jahrhunderts avanciert, BECK (Anm. 9), Einleitung. 97 Jakob M. R. Lenz: Empfindsamster aller Romane oder Lehrreiche und angenehme Lektüre fürs Frauenzimmer. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von FRANZ BLEI, Bd.5, München, Leipzig 1913, S. 313-341, hier S. 315. Entstanden ist der Text wahrscheinlich in Petersburg 1780 oder kurz davor; vgl. HANS-GERD WINTER: „Denken heißt nicht vertauben.“ Lenz als Kritiker der Aufklärung. In: Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk. Hrsg. von DAVID HILL, Opladen 1994, S. 81-96, hier S. 90; vgl. zum auf ursprünglich auf die teuflische Potenz bezogenen Sprichwort: „wer lang hat läszt lang hange, hat der teufel gsagt, wie ihm der schwanz unte raus guckt hat.“ GrimmWB 10, Sp. 452. 98 Postwagen als autobiographische Markierung von Lenzens Schicksalsweg dokumentiert HENNING BOETIUS: Der verlorene Lenz. Auf der Suche nach dem inneren Kontinent, Frankfurt a. M. 1985, S. 139, 144 f., 168. 99 Lenz (Anm. 97), hier S. 317. 100 Lenz (Anm. 97), hier S. 318. 101 Lenz (Anm. 97), hier S. 319; aufgrund der strittigen Besetzung, die das Präfix ‚meta‘ erfahren hat, verwende ich eine neutrale Bezeichnung des Ebenenwechsels; vgl. GENETTE (Anm. 9), S. 253f. 102 Lenz (Anm. 97), S. 320.

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schickt sich die Urmaus zum Verzehr des in seinem Fette liegenden Bischofs an, der für diesmal noch von seiner sich mit ihm im Bett vergnügenden Köchin gerettet wird: „Aber ach! Fuhr der [rotblütig geadelte Binnenerzähler] fort und seufzte tiefer als der galante Aeneas, da er die Geschichte von Priam erzählte; dies war nur der Anfang unsers Unglücks“, der den seitherigen Niedergang der republikanischen Freiheit im Mäusestaat besiegelt habe.103 Nach dem Initialmärchen (Kap. 2) erzählt die Maus weitere sieben durch Figuren und Handlung verknüpfte Märchen, deren Zusammenhang sich erst sukzessive erschließt und aufgrund sich jagender grotesker Einfälle und Anspielungen schwerlich wiedergeben lässt.104 Kap. 3 führt Aglaura als sechzigjährige reiche Erbin ein, die in Scheidungsphantasien schwelgt und den Gemahl verdächtigt, ihren Mops aus Eifersucht vergiftet zu haben. Der Beichtvater wiegelt ab und protegiert als Ersatzobjekt eine Schildkröte, die als Opfer eines neuerlichen eheherrlichen Eifersuchtsmords vorgesehen wird usw. In Kap. 5 stellt der Rahmenerzähler dem Publikum in Aussicht: „nun lernt Aglauren kennen“105: sie ist eine Fee, die über einen magischen Pantoffel verfügt, mit dem sie ihren vermeintlichen Günstling, den Mops, selbst erschlagen hat. In Kap. 8 bringt ihre Figurenrede Aufklärung darüber, dass sie einst aus verschmähter Liebe den Sohn ihres Angebeteten, den Prinzen Torus, in eine Maus mit Namen Thomson verwandelt habe. Dieser ist unsterblich in Truella verliebt, die er nach allerhand Verwicklungen beinahe doch noch hätte erobern können, wenn ihn der Fußtritt einer Kammerjungfer nicht schmählich ins Jenseits befördert hätte. Mehrfache Metamorphosen von Schildkröten in Mäuse und umgekehrt steigern in Anknüpfung an die Tradition der Feenmärchen, für deren Parodierung in der deutschen Literatur der Name Wieland einsteht, das Verwirrspiel. In die anachronisch angelegten, mit Figurenreden durchsetzten Binnenerzählungen der Maus mischt sich immer wieder auch der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler. Rahmen- und Binnenerzählungen sind komplex ineinander geschachtelt, wobei die einleitende Rahmung durch eingeschaltete Rahmenelemente ergänzt wird. Anlass für intermittente Partien bietet etwa das erzählte Schicksal einer BinnenSchildkröte, das wiederholt zu handgreiflichen Nadelstechereien gegen eine Rahmen-Schildkröte im Reisewagen animiert.106 Das ohnehin alberne _____________ 103 Lenz (Anm. 97), S. 320. 104 Die kurze Inhaltswiedergabe von WINTER folgt daher mit guten Gründen dem ordo naturalis (Anm. 97), S. 91f. 105 Lenz (Anm. 97), S. 329. 106 Das von Boccaccio etablierte und trotz unterschwelliger Sticheleien durchgehaltene Harmoniekonzept der Erzählgemeinschaft (vgl. MUGHEDDU, Anm. 11) wird schon von Chau-

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Stecknadelstechen gegen eine unempfindliche Artnatur wird überdies für eine Florettfechterei gegen Wieland genutzt (3. Kap.)107 Auch die in der Tradition vorgegebene Diskussion einer erzählten Geschichte unter den Reisenden begegnet (6. Kap.). Eine abschließende Rahmung im eigentlichen Sinn fehlt. Der Postwagen kippt um und setzt damit dem geselligen Erzählen ein jähes Ende. Der als konfus geltende Prosatext wurde mitunter Lenzens Wahnsinn zugeschrieben, indes hat die Tollheit des Autors Methode. Verwirrung stiftet der Text schon aufgrund aller möglichen und bislang auch unmöglichen Formen transtextueller Beziehungen, die teils explizit, teils nur implizit signalisiert werden, und nicht nur die Kompetenz heutiger, sondern auch diejenige vieler zeitgenössischer Rezipienten erheblich überfordert haben dürfte. Ich möchte dies nur exemplarisch belegen und ziehe hierfür punktuell die Systematisierung transtextueller Beziehungen durch GÉRARD GENETTE heran, speziell die spielerischen und satirischen Register, die in seiner Rosette humoristisch, spielerisch, ironisch, satirisch und polemisch kreisen.108 Für die Erzählkonstruktion von Lenz ergibt sich der Witz erst, wenn der abrupte Schluss, das Umkippen des Wagens, als Endrahmung zweiter Stufe erkannt wird, die das narratologische Programm als performativen Akt präsentiert. Der für die Makrostruktur wichtigste Hypotext ist der 1714 anonym erschienene Roman La voiture embourbée von Marivaux,109 von der Kutsche also, die im Schlamm stecken bleibt und den ebenfalls von Paris abfahrenden Reisenden eine Nacht des Erzählens zur Überbrückung der für die Kutschenreparatur nötigen Zeitspanne be_____________ cer zugespitzt, dort allerdings auch noch im übertragenen Sinn der Spitzen, die die Reisegesellschaft austauscht. 107 In Goethes Farce Götter, Helden und Wieland rekurrierte der Autor mit der Figur Mercurius auf Wielands Zeitschrift Teutscher Merkur, dessen erste Nummer die Vignette des geflügelten Götterboten zeigte. Die Lenzsche Schildkröte tröstet sich über die ehrenrührige Attacke der Person von zweifelhaftem französischem Chic mit dem Gedanken hinweg, dass Merkur eine Schildkröte im Wappen führe. 108 Vgl. zur schematischen Darstellung GÉRARD GENETTE: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993, bes. S. 44ff. Für die ‚ernsten‘ Register verweise ich auf vorliegende Studien: Vgl. zum ‚dunklen‘ Aufklärer Lenz INGE STEPHAN: Das Scheitern einer heroischen Konzeption. Der Freundschafts- und Liebesdiskurs im Waldbruder. In: „Unaufhörlich Lenz gelesen…“. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Hrsg. von INGE STEPHAN/HANSGERD WINTER, Stuttgart 1994, S. 273-294; zu seinem Menschenbild WINTER (Anm. 97), S. 83, 90ff.; BOETIUS (Anm. 98), S. 168f. 109 Marivaux: La Voiture embourbée. In: Oeuvres de jeunesse. Hrsg. von FREDERIC DELOFFRE/CLAUDE RIGAULT, Paris 1972 (Bibliothèque de la Pléiade 233), S. 309-388; Marivaux: Die Kutsche im Schlamm. Eine abenteuerliche Erzählung. Hrsg. und aus dem Französischen übersetzt von Gerda Scheffel. Mit Zeichnungen von Tatjana Hauptmann, Zürich 1985.

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schert.110 Marivaux verleiht der von Boccaccio institutionalisierten Konvention des Reihumerzählen eines fiktiven Erzählerensembles insofern eine spezifische Note, als alle an der Reise Beteiligten und der vor Ort kooptierte Neffe des Pfarrers ein und denselben, vom Erzähler-Ich initiierten Stegreifroman jeweils weiter erzählen. Jede Figur nimmt den Erzählfaden auf, gibt der Handlung jedoch, den Figurenporträts entsprechend, durch die Wahl von Genre, Stil und Redeweise, eine andere Wendung.111 Im Geist von Don Quijote, von Tausendundeine Nacht, von antikisierenden Liebes- und Abenteuerromanen, von Kleriker- und Bauernpossen wird wild drauflos fabuliert, jedoch kontrolliert der Ich-Erzähler bei aller Gattungshybridisierung den Rahmen der Reisehandlung.112 Der roman impromptu beginnt mit den Abenteuern des berühmten Amandor und der schönen Ariobarsane und endet mit der etwas überstürzt abgeschlossenen Erzählsession, um die wieder funktionstüchtige Kutsche zu besteigen. Lenz spitzt das witzige Erzählkonzept von Marivaux zu und lässt alle intertextuellen Diskursebenen ‚faunisch‘ abstürzen.113 Dies demonstriert bereits der Peritext. Der erstmals 1781 in Heft 2 der Mitauer Zeitschrift Für Leser und Leserinnen veröffentlichte Roman, der Lenz inzwischen zweifelsfrei zugeschrieben werden kann,114 ist anonym mit „Von L..“ signiert. Der Autor gibt Rätsel auf über seine Identität;115 zumal im Zusammenspiel mit dem Motto und der „Zueignung an meine Frau“, da die gescheiterten Heiratspläne Lenzens allseits bekannt waren.116 Formal wäre der _____________ 110 Im Heptaméron der Marguerite de Navarre (entstanden 1540-1549) muss die sich abenteuerlich zusammenfindende Erzählgemeinschaft auf die Fertigstellung einer Brücke warten. 111 Vgl. JEAN-PAUL SERMAIN: Le singe de Don Quichotte. Marivaux, Cervantes et le roman postcritique, Oxford 1999 (Studies on Voltaire and the eighteenth century, 368), S. 136f. 112 Vgl. zur Gattungsvielfalt den Kommentar des Herausgebers, S. 1143ff.; vgl. die ironische Selbstrezension in der Préface: „Je ne sais si ce roman plaira; la tournure m’en paraît plaisante, le comique divertissant, le merveilleux assez nouveau, les transitions assez naturelles; et le mélange bizarre de tous ces différents goûts lui donne totalement un air extraordinaire“ (Marivaux in der deutschen Übersetzung S. 9f.: „Ich weiß nicht, ob dieser Roman Gefallen finden wird, seine Form scheint mir unterhaltsam, die Komik lustig, das Phantastische ziemlich neu, die Übergänge recht natürlich, und die eigenartige Mischung all dieser verschiedenen Dinge gibt ihm etwas ganz Außergewöhliches“). Die Komplexitätssteigerung durch das in der Préface angelegte Spiel zwischen Briefschreiber, Autor und Erzähler kann hier nicht berücksichtigt werden; vgl. den Kommentar S. 1156 zu S. 335; vgl. dazu SERMAIN (Anm. 111), bes. S. 148ff., der darauf verweist, dass insbesondere Wielands Don Sylvio in der Tradition der französischen Quijotterien steht; S. 45, 241f. 113 Vgl. den im letzten Satz bei einem Übergriff auf eine Nymphe vorgestellten Faun, Lenz (Anm. 97), S. 341. 114 Vgl. WINTER (Anm. 97), S. 90. 115 GENETTE (Anm. 12.), S. 45ff. 116 Vgl. zum Scheitern des Heiratsplans mit Julie von Albedyll etwa zum Abfassungszeitpunkt des Textes und der von Literaten aller Coleur systematisch betriebenen Exklusion Lenzens

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Titel Empfindsamster aller Romane als rhematischer, als Gattungstitel zu bestimmen,117 signalisiert jedoch durch die superlativische Formulierung ironisch, dass die Gattungsangabe nicht ernst zu nehmen ist. Titel anregend war vermutlich Goethes Lenz-Persiflage im Triumph der Empfindsamkeit, die in ihren boshaften literatursatirischen Allusionen ‚Herz‘-Zitate aus Lenzens Waldbruder und verwandten Lenz-Manuskripten, die Goethe zur Verfügung standen, ausbeutet.118 Der Untertitel oder / Lehrreiche und angenehme Lektüre fürs Frauenzimmer adressiert als privilegiertes Publikum Leserinnen, deren Erwartungshorizont vorsätzlich enttäuscht wird. Lenz torpediert zyklisches Erzählen absichtsvoll. Der Grenzfall Lenz eignet sich daher, die narratologischen Bedingungen, unter denen eine Komisierung zyklischer Erzählkonzepte entschieden überfordert wird, zu verdeutlichen. Lenz betreibt die Entropie des Erzählens durch die sprunghafte Staffelung immer neuer frames mit immer neuen Referenztexten, die sich gegenseitig zum Kippen bringen, so dass sich kein gemeinsamer ‚Meta-Rahmen‘ mehr herstellt. Er verweigert die rezeptionssichernde Solidarisierung mit seinem Publikum, dessen Deutungskompetenzen er fortgesetzt provoziert und zugleich diskreditiert. Alle Redeweisen, nicht nur Ironie und Selbstironie, werden instabil119 und ziehen die Manifestationen von Sinn mit in den Abgrund. Ein kurzer Vergleich mit Boccaccios Decameron soll abschließend punktuell zur Klärung beitragen, warum zyklisches Erzählen durch die polyadditiven Verfahren der Komisierung bei Lenz kollabiert. Das Spannungsverhältnis zwischen syntagmatischem und paradigmatischem Erzählen in Boccaccios Decameron ist aufgrund der komplexen Verschachtelung paratextueller und textueller Rahmungen, die durch Erzählungen in den Binnenerzählungen nochmals gestaffelt werden, nicht einfach zu bestimmen. Kommt es zu einer syntagmatischen Schließung des Werkes? Nicht zweifelhaft ist die erklärte Absicht des Autors im Proemio, seinen Lesern, insbesondere den in Liebesleidenschaften verstrickten Damen Trost spenden zu wollen. Ihnen stellt er Vergnügen (diletto) und _____________ aus den literarisch-intellektuellen Kommunikationskreisen bei fortwährendem Klatschinteresse der Beteiligten RÜDIGER SCHOLZ: Zur Biographie des späten Lenz. In: Lenz Jahrbuch 1 (1991), S. 106-134; J. M. R. Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Kommentarband. Hrsg. und kommentiert von HERIBERT TOMMEK, Berlin 2007, S. 7ff. 117 GENETTE (Anm. 115), bes. S. 86ff. 118 Uraufführung zum Geburtstage der Herzogin im Weimarer Liebhabertheater am 30. Januar 1778, Erstdruck mit dem Untertitel Dramatische Grille 1787. Vgl. die Hinweise in Johann Wolfgang Goethe: Dramen 1776-1790. Unter Mitarbeit von Peter Huber hrsg. von DIETER BORCHMEYER. In: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt. Bd. 5, Frankfurt a. M. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker 32), S. 693ff. Auch wenn Lenz auf Goethes Veranlassung vom Herzog am 29. 11. 1776 aus Weimar ausgewiesen wurde und der Aufführung nicht beiwohnen konnte, wird er informiert gewesen sein. 119 Vgl. zur ‚instabilen Ironie‘ WAYNE C. BOOTH: A Rhetoric of Irony, Chicago 1974, S. 233f.

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nützlichen Rat (utile consiglio) in Aussicht,120 und er empfiehlt ihnen die Lektüre seiner Geschichten als antimelancholische Therapie. Diese wirkungspoetischen Funktionen sucht auch die Erzählergemeinschaft, die sich zur Zeit der Pest in Florenz konstituiert. Über seine hundert Erzählungen, deren gattungstypologische Bezeichnung der Autor den Lesern freistellt, sagt er: Nelle quali novelle piacevoli e aspri casi d’amore e altri fortunati avvenimenti si vederanno cosi ne’ moderni tempi avvenuti come negli antichi;121 es handle sich also um heitere (zum Lachen oder Lächeln anregende) wie traurige Liebesfälle und andere überraschende Begebenheiten. Jedoch überwiegen die komischen Novellen. Lachen ist die häufigste Reaktion der Brigata auf die erzählten Geschichten.122 Wenn auf Lachreferenzen bei den beffe- und motti-Geschichten123 häufig verzichtet wird, so gewiss, weil sich ihre komische Faktur von selbst versteht. Als unbestritten komisch können 53 Novellen gelten,124 wobei sich deren Anzahl erheblich erhöht, wenn auch Novellen in Betracht gezogen werden, von denen sich die Brigata distanziert, und die auch von modernen Rezipienten, vergleichbar Strickers Orientschwänken, als sadistisch gewertet werden. Exemplarisch erwähnt sei die vieldiskutierte beffa-Novelle VIII, 7: Die Witwe und der Scholar, in der sich ein grausam verspotteter Gelehrter unnachsichtig rächt.125 Die Einzelnovellen sind im Prinzip syntagmatisch organisiert, weisen in einer Reihe von komischen Novellen jedoch über die Binnenerzählung hinaus (vgl. etwa I, 1). Das Programm einer letztlich geordneten Erzählwelt, wie es im Tugend- und Lasterkatalog des Prologs im Pfaffen Amis erscheint, und „die sichtliche Konterkarierung der Sinnhaftigkeit dieses Schemas“126 in der Schwankfolge und im Epilog ist für Boccaccios Decameron zum Konstruktionsprinzip erklärt worden. Diese Inkohärenz hat JOACHIM KÜPPER als fundamentale und kalkulierte A-Systematik klassifiziert.127 Dass die von Boccaccio umfassend verfolgte Komisierung ein _____________ 120 Boccaccio (Anm. 89), S. 9, Abschnitt 14. 121 Boccaccio, (Anm. 89), S. 9, Abschnitt 14; vgl. die Übersetzung in: Giovanni Boccaccio: Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron. Italienisch – Deutsch. Neu übersetzt und erklärt von KURT FLASCH, Mainz 1992 (Excerpta classica, Bd. 10, S. 205f.: „Die Novellen handeln von lustvollen und von traurigen Liebesgeschichten und von anderen zufälligen Begebenheiten, die teils im Altertum, teils in neueren Zeiten spielen.“ 122 Vgl. AREND (Anm. 1), S. 189. 123 Diese Geschichten handeln von Streichen (beffe) und schlagfertigen Reden (motti). 124 Vgl. AREND (Anm. 1), hier S. 246. 125 Vgl. AREND (Anm. 1), hier S. 249ff.; NEUMEISTER (Anm. 93), S. 73. 126 JOACHIM KÜPPER: Affichierte ‚Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios Decameron und die Episteme der Renaissance. In: Renaissance. Diskursstrukturen und epistomologische Voraussetzungen. Literatur, Philosophie, bildende Kunst. Hrsg. von KLAUS W. HEMPFER. Stuttgart 1993 (Text und Kontext 10), S. 47-93, hier S. 77. 127 Vgl. KÜPPER (Anm. 126), hier S. 73, passim.

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entscheidender Generator dieser A-Systematik darstellt, verweist, wie hier nicht mehr ausgeführt werden kann, auf das Komische als KippPhänomen in Erzählzyklen, von dessen Eigendynamik der Autor Jakob Michael Reinhold Lenz überrollt wurde.

STEFAN FUCHS-JOLIE

Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens

Im Zentrum und am Beginn meiner Überlegungen steht ein Text, den ich nicht verstehe und der mich verstört. Bei einem ersten und spontanen Versuch, diese Verstörung zu erklären, kann man recht schnell zwei allgemeine Hypothesen aufstellen – indes: diese beiden Hypothesen laufen auf konträre Erklärungen hinaus, sie scheinen sich auszuschließen. Entweder, so kann ich mir sagen, ist es ein radikal vormoderner Text, mit unserem erzähllogischen Instrumentarium nur grob und unplausibel zu erfassen, da er einer fremd gewordenen literarischen Epoche entstammt – also ein besonders archaisches Exemplar einer mittelalterlichen Erzählung. Oder ich komme zu dem Schluss, es sei ein besonders moderner Text, der die impliziten und fundamentalen Aporien seiner Erzähl- und Gattungslogik unerwartet offensiv ausstellt. Aufgrund dieser dichotomischen Deutungsangebote scheint mir der Text geeignet, Reichweite und Geltung einiger zentraler narratologischer Kategorien zu erproben, genauer: geeignet zu untersuchen, inwiefern diese Kategorien Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu erfassen vermögen. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität wird auch dadurch virulent und besonders anschaulich, dass der Text bzw. der Erzählstoff beständig Bearbeitungen erfahren hat, bis weit in die Neuzeit. Ein Blick auf exemplarische Stationen dieser Rezeption verspricht daher Aufschluss über die verschiedenen narrativen Strategien, den widerständigen Stoff kohärent und plausibel zu erzählen und also mit Sinn zu füllen. Doch zunächst sei der Ausgangstext genauer vorgestellt. Die Geschichte des Ritters von Staufenberg, wohl um 1310 in knapp 1200 Reimpaarversen aufgeschrieben, erzählt uns dies:1 _____________ 1

Der Ritter von Staufenberg. Hrsg. von ECKHARD GRUNEWALD, Tübingen 1979 (ATB 88). Zur Datierung und Überlieferung siehe dort S. VII-XIII; Peter von Staufenberg. Abbildungen

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Peter Temringer von Staufenberg in der Ortenau ist ein weitgereister Turnierund Damenritter, berühmter Heidenkämpfer, freigebiger Herr, höfisch gebildet und vor allem überaus fromm. Als er sich an Pfingsten gerade zur Kirche begeben will, trifft er am Fuß der Burg eine engelhaft-paradiesisch schöne Frau, die auf einem Stein am Weg sitzt. Sein vorausreitender Knappe hatte sie auch schon gesehen und nicht anzuhalten gewagt – Peter aber, vom Liebespfeil getroffen, sitzt ab, fragt sie nach dem Woher. Sie verkündet ihm, sie warte hier auf ihn; unsichtbar sei sie immer schon bei ihm gewesen, habe ihn von Kindesbeinen an beschützt, ihm alles verliehen; nun sei sie da und könne ab jetzt bei ihm sein als Geliebte, wann immer er es wünsche – Gott habe ihr diese Gabe verliehen. Sie schenke ihm Reichtum und Erfolg nach Wunsch, behüte ihn vor jeder Krankheit. Nur Eines: Er dürfe niemals heiraten! Er könne auch andere Frauen haben, wenn er aber eine zur Ehe nehme, sei er drei Tage später tot. Peter willigt ein, sie gibt ihm Ring und Kuss – aber als er gleich mehr will, schickt sie ihn erst einmal zur Pfingstmesse, auf dass er beichte. Das tut er, und abends wünscht er sie sich herbei. Sie kommt, sie lieben sich, und ab da bleibt es so: Er reist durch alle Länder, gewinnt Ehre und Reichtum, bleibt vorbildlich freigebig – sie verleiht Gesundheit und alle materiellen Gaben, und nachts ist sie immer in seinem Bett. Nach einiger Zeit beginnt die Familie, ihn zu bedrängen: Er, der nun so ruhmreich sei, müsse jetzt eine Frau nehmen, Erben zeugen. Peter wehrt ab: Die Ehe zerstöre viele Freuden; er wolle sein freies Leben behalten, ja, eher ließe er seinen Leib zu Riemen schneiden, als zu heiraten! Bei der nächsten nächtlichen Zusammenkunft rät die Geliebte dem verängstigten Peter, er solle ruhig allen erzählen, dass er ein ê wîp habe und wie er mit ihr lebe. Beide erflehen Gottes Schutz. Es kommt aber ärger: Auf dem Hoftag trägt der König selbst dem Aufsteiger Peter die Hand seiner Nichte an und mit ihr ein großes Erbland. Als Peter ablehnt und von seiner Geliebten erzählt, erregen sich die Pfaffen am Königshof: Er liebe den Teufel in Weibsgestalt, seine Seele sei für immer verloren. Ganz lakonisch heißt es dann nur: Die Pfaffen überredeten ihn, er willigte in die Ehe mit der Königsnichte ein. Abends im Bett weiß seine Geliebte wieder längst Bescheid. Es tue ihr leid, aber drei Tage nach der Hochzeit sei er tot. Als Wahrzeichen wolle sie bei der Hochzeit ihren Fuß sehen lassen – und wenn er den sehe, solle er beichten und sich die Sakramente geben lassen, damit er gottgefällig sterbe. Peter aber glaubt den Pfaffen und beraumt die Hochzeit an. Da stößt beim Hochzeitsmahl ein Fuß von oben durch die Deckenbohlen, ein nacktes Bein bis an das Knie, elfenbeinweiß, wie man noch nie ein schöneres gesehen hat. Peter springt auf, schreit, rauft sich die Haare, lässt sich Priester rufen, die Beichte abnehmen, die Sakramente geben und ein Sterbelager richten. Die Festgesellschaft läuft ein Stockwerk höher, findet aber nicht einmal mehr ein Loch im Boden. Peter ruft die Familie an sein Sterbebett, verabschiedet sich. Seine Braut betrauert ihn, begreift sich ganz als seine Witwe, überlässt ihren Brautschatz seinen Brüdern und geht in ein Kloster, um immer für seine Seele zu beten. Er bedankt sich bei allen, empfiehlt seine Seele der Gottesmutter und stirbt. Kurzer Epilog: Überall betrauerte man ihn als den besten Ritter, den es je gegeben hatte – sein Leben lang habe er sich vor Schande bewahrt.

_____________ zur Text- und Illustrationsgeschichte. Hrsg. von ECKHARD GRUNEWALD, Göppingen 1978 (Litterae 53), S. 4-12.

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Der lakonische Erzählduktus lässt diese Geschichte zunächst als relativ harmlose Variante einer ‚gestörten Mahrtenehe‘2 erscheinen, im Stil der mündlichen alpenländischen ‚Saligenehen‘-Erzählungen3 – Geschichten von einer fatalen Affäre mit Frau Sælde, deren andersweltliche Gesetze der Mensch nicht halten kann. Es irritieren, verglichen mit dieser recht archaisch anmutenden ‚einfachen Form‘ allerdings einige Momente: (1.) der unvermeidlich exekutierte Tod des Protagonisten – nicht etwa nur Trennung des Liebesbündnisses; (2.) die alles durchdringenden christlichen Motive – die Mahrte garantiert und leitet das gottgefällige Leben und Sterben eines jederzeit vorbildlich Frommen; (3.) schließlich die Bedeutung der Ehe in ihrer Funktion für die adlige Familie – ohne Eifersucht oder ein Treueversprechen, das sich auf Liebe bezöge. Auch jenseits der Frage, ob und inwiefern der Text Sonder- oder Grenzfall einer wie auch immer zu konstituierenden Erzähltradition von der ‚gestörten Mahrtenehe‘ ist,4 muss man sagen, dass er auch isoliert betrachtet allen Versuchen _____________ 2

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LUTZ RÖHRICH: ‚Mahrtenehe: Die gestörte M.‘. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 9, Berlin, New York 1999, Sp. 44-53; FRIEDRICH WOLFZETTEL: ‚Fee, Feenland‘. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, Berlin, New York 1984, Sp. 945-964; VOLKER MERTENS: Melusinen, Undinen. Variationen des Mythos vom 12. bis zum 20. Jahrhundert. In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von JOHANNES JANOTA u. a., Bd. 1, Tübingen 1992, S. 201-231; CHRISTOPH HUBER: Mythisches erzählen. Narration und Rationalisierung im Schema der ‚gestörten Mahrtenehe‘ (besonders im Ritter von Staufenberg und bei Walter Map). In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von UDO FRIEDRICH/BRUNO QUAST, Berlin 2003, S. 247-275; ARMIN SCHULZ: Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ‚gestörten Mahrtenehe‘. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS u. a., Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 233-262. RÖHRICH, Mahrtenehe (Anm. 2), Sp. 47. Die Versuche, den Text in Beziehung zum Erzählschema der ‚gestörten Mahrtenehe‘ zu setzen, sind ebenso zahlreich wie vielfältig. Besonders die ältere Forschung, die eine rigidere Auffassung von der Existenz eines solchen Erzählschemas hatte, liest die Erzählung ganz als Sonder- und Abweichungsform, so etwa KARL-HEINZ SCHIRMER: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969, S. 148-157; MONIKA LONDNER: Eheauffassung und Darstellung der Frau in der spätmittelalterlichen Märendichtung. Eine Untersuchung auf der Grundlage rechtlich-sozialer und theologischer Voraussetzungen, Berlin 1973, S. 141-150; ECKHARD GRUNEWALD: Der túfel in der helle ist úwer schlaf geselle. Heidnischer Elbenglaube und christliches Weltverständnis im Ritter von Staufenberg. In: Volksreligion im hohen und im späten Mittelalter. Hrsg. von PETER DINZELBACHER/DIETER R. BAUER, Paderborn 1985, S. 129-143. LUTZ RÖHRICH spricht von einer fast einmaligen „motivlichen Sonderform“ (Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. Sagen, Märchen, Exempel und Schwänke. Mit einem Kommentar hrsg. von LUTZ RÖHRICH, Bd. 1, Bern, München 1962, S. 244), füllt aber das Kapitel „II. Die gestörte Mahrtenehe“ in seinem Sammelwerk allein mit Staufenberger-Geschichten (Texte S. 27-61, Kommentare S. 243-253). Avancierte Reflexionen im Hinblick auf Erzählschema und Gattungstraditionen insbesondere bei MERTENS, HUBER und SCHULZ (alle Anm. 2).

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einer kohärenten Sinngebung und Vereindeutigung großen Widerstand entgegensetzt. Es ist unklar, für was das Heiratsverbot, das Tabu eigentlich steht. Unklar ist auch, ob Peter etwas falsch macht, ob er bestraft wird, von wem und für was; genauso im übrigen, ob die Familie falsch handelt oder die Pfaffen recht haben. Und schließlich ist vollends unklar, wer oder was die nicht-menschliche Geliebte ist, wo sie herkommt, was sie will. Geleitet an diesen drei Elementen – Tabu, Peter, die nichtmenschliche Geliebte – seien die Probleme der Sinngebung und damit der narrativen Motivierung skizziert.

I. Zunächst zum Tabu. Für die Mahrtenehen-Geschichten kann man sagen, dass durch ein Seh- oder Redetabu die Anderwelt geschützt, der dämonische Bezirk bewahrt wird. Oder aber das Tabu markiert das EntwederOder-Verhältnis von Menschenwelt und Anderwelt, und für nur eine Welt hat man sich in Treue zu entscheiden.5 Narratologisch zugespitzt mag man ein Tabu als einen Generator des Erzählens betrachten: Es ist zum einen eine Setzung, die schlicht gilt. Und es ist zweitens immer dazu da, verletzt zu werden – und damit fragt sich, wann, unter welchen Bedingungen und was daraus genau folgen wird.6 Abstrakter gesagt – und das scheint mir nun wichtig: Ein Tabu repräsentiert das nackte ‚Dass‘ einer Erzählung, die finale Motivierung. Zugleich generiert es Motivationen von vorne, ein handlungslogisches Syntagma, da nun erzählt werden kann, wie es dazu kommt, dass das Tabu angetastet wird.7 Man wird nach diesem Prinzip wohl die meisten literarischen Tabu-Erzählungen ziemlich plausibel explizieren können. Aber im Peter von Staufenberg unternimmt der Erzähler keine Anstrengungen, kausale und finale Logiken ineinander zu überführen, ganz anders etwa, als wir es von den Melusine-Romanen her kennen.8 Das Gesetz ‚Tod bei Eheschließung‘ gilt ganz unerbittlich, ohne zweite Chance oder Modifikation. Was wird durch dieses Tabu oder Ge_____________ 5 6 7 8

Dazu MERTENS (Anm. 2), bes. S. 202, der auf Basis dieser Unterscheidung die prägnante Dichotomie vom „melusinischen“ und „undinischen Typus“ der Mahrtenehen-Erzählungen einführt. Ich knüpfe hier an Überlegungen von CHRISTIAN KIENING zur Melusine an: Zeitenraum und mise en abyme. Zum ‚Kern‘ der Melusinengeschichte. In: DVjs 79 (2005), S. 3-28, hier S. 12. Zur Terminologie siehe CLEMENS LUGOWSKI: Die Form der Individualität im Roman, Frankfurt 1976 (zuerst Berlin 1932); MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 72007. Am deutlichsten hat dies KIENING (Anm. 6), S. 13-15, herausgearbeitet.

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setz eigentlich geschützt? Da es bis auf das Tabu selbst keine eindeutigen Anderwelt-Markierungen im Text gibt – darüber wird noch zu reden sein – bleibt nicht viel übrig, als zu sagen: Die Liebesbeziehung wird geschützt, die triuwe dabei als oberster Wert.9 Dann wäre es eine tristanische Geschichte über die tödliche Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe bzw. passionierter Liebe und Gesellschaft, wie man sie vielfach in novellistischen Verserzählungen der Zeit findet, etwa in Konrads von Würzburg Herzmære, in der Frauentreue, in Pyramus und Thisbe, im Schüler von Paris und vielen anderen.10 Doch: All solche tristanischen Geschichten werden konstituiert durch eine trianguläre Personenkonstellation – und auch dies wird uns im Peter von Staufenberg verweigert. Die beiden Frauen – die Feengestalt und die menschliche Braut – treten nicht in Konkurrenz zueinander, nicht im erzählten Geschehen: Peter spricht mit beiden Frauen stets zärtlich und höfisch;11 keine der beiden Frauen erwähnt auch nur jemals die andere, nie fällt ein Wort des Vorwurfs, der Anklage, der Schuld, von keiner Seite – nur Bedauern und Abschied und Prophezeiung. Ist dies die Geschichte eines Treuebruchs? Gar die eines Ehebruchs? Als die Überirdische das Heiratstabu formuliert, sagt sie: ‚nim wel du wilt, nur nit zer ê.‘ (V. 389; „‚Nimm dir jede, die du haben willst – nur nimm sie nicht zur Ehe.‘“)12 Darf er andere Frauen haben, wie er will? Nur Sex oder auch _____________ 9

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Einige Interpreten erklären – freilich mit guten Gründen – die Thematik der triuwe bzw. den Treuebruch Peters als entscheidende Verfehlung zum Kern der Erzählung, so etwa MERTENS (Anm. 2), S. 219-220, oder HANS-JOACHIM ZIEGELER: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen, München 1985, S. 447f. Dass die Feenfrau aber nicht eigentlich Treue, sondern vielmehr „Verweigerung gegenüber einer als negativ empfundenen Institution“, der politisch-dynastisch motivierten Adelsehe, fordert, betont auch LONDNER (Anm. 4), S. 144. Zum Vergleich mit Gottfrieds Tristan und dem Dreiecksverhältnis siehe ZIEGELER (Anm. 9), S. 156-157 u. S. 178-180; zur Einordnung in eine Märentypologie siehe insbes. LONDNER (Anm. 4), S. 141f.; INGRID STRASSER: Vornovellistisches Erzählen. Mittelhochdeutsche Mären bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und altfranzösische Fabliaux, Wien 1989, S. 172f. Dies betonen auch etwa LONDNER (Anm. 4), S. 144f., und ALMUT SUERBAUM: St. Melusine? Minne, Mahrtenehe und Mirakel im Ritter von Staufenberg. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von ELISABETH ANDERSEN u. a., Berlin 2006, S. 331-346, hier S. 343. In den einzigen Textzeugen, die über die diesem Textabdruck zugrundeliegende Straßburger Handschrift (s; elsässisch, 1430/40) hinaus die Stelle überliefern, also in den späteren Druckausgaben (d1 bis d4; Straßburg, 1483 bis 1500), lautet der Vers – mit unbedeutenden Abweichungen – ebenso. Der dritte und älteste Textzeuge, das Bristoler Fragment (b; elsässisch, um 1380; 655 z. T. fragmentarische Verse) fällt hier aufgrund von Blattbeschneidung aus. Es verwundert, dass außer SCHULZ (Anm. 2), S. 253, soweit ich sehe, keiner der Interpreten an dieser in höfischen Liebeserzählungen doch wohl ziemlich singulären Freizügigkeit und Großmut der Geliebten Anstoß genommen hat. Oder sollte hier wirklich, wie ANDRÉ SCHNYDER meint, die „laikal-adlige Eheauffassung“ wiedergegeben sein, nach der der Mann diese Lizenzen faktisch hatte (ANDRÉ SCHNYDER: Peter von Staufenberg auf dem Artusweg. Zur Struktur eines Märes. In: Wirkendes Wort 44 [1994], S. 25-33, hier

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Liebe oder Minnedienste? Auf alle Fälle: Eifersüchtig ist sie nicht. Geht es dann überhaupt um Liebe? Was steht in Opposition zur Ehe? II. Von Peter her gesehen ist die Opposition ‚individuelle Freiheit‘ versus ‚sozialer Zwang‘ konstitutiv. Explizit verbindet er seine Jugend, Ehe- und Nachkommenlosigkeit mit Freiheit und körperlicher Ganzheit, die Ehe aber mit dem Tod. Eher lasse er sich zu Riemen schneiden, als zu heiraten: „ich will kein elich wip. solte man dar umb minen lip ze riemen gar zerschniden, die e, die will ich myden, daz sy úch allen vor geseit; ich sprich diz uff minen eyd.“ (V. 701-706) „Ich will keine Ehefrau. Und wenn man meinen Leib deswegen ganz und gar in Streifen zerschneiden würde – von einer Ehe werde ich mich fernhalten, das sei vor euch allen gesagt; das nehme ich auf meinen Eid.“

Irritierend ist nur, dass dieses Motiv nicht fortgeführt wird: Kaum sagen ihm die Geistlichen am Königshof, die Fee sei ein Succubus, will er die Menschenbraut heiraten. Ob er den Pfaffen tatsächlich glaubt oder nicht, ist unklar; was ihn zu dem ja für die Geschichte entscheidenden Sinneswandel, oder genauer: Verhaltenswandel veranlasst hat, wird nicht erzählt.13 Überhaupt unterwirft er sich, sieht man von den ersten Verweige_____________ 13

S 31f., Anm. 21)? Belege für eine solch großmütige Liebespartnerin, ob Fee oder nicht, wären erst zu suchen. In diesem Sinne auch HUBER (Anm. 2), S. 268. Die Erzählung ist gerade an dieser Stelle ausgesprochen lakonisch. Nachdem Peter vor dem Hof öffentlich gesagt hat, seine Geliebte lasse sich nur von ihm sehen (V. 958-959), hält ein alter cappelan eine kleine Rede über den Teufel in Weibsgestalt (V. 964-978), und dann heißt es schlicht: mit im wart gesprochen vil; / die red ich hie bekúrzen will. / Die pfaffheit hat in úber rett, / daz der ritter an der stett / sprach: ‚was der kúnge heisset mich, / daz tuon ich gewilleclich.‘ / zer stund im da gelobet wart / die maget rich. (V. 979-986; „Viel wurde mit ihm gesprochen; die Erzählung will ich hier abkürzen. Die Geistlichkeit überredete ihn [oder: überzeugte ihn / bewegte ihn dazu], so dass der Ritter an diesem Ort sagte: ‚Was der König von mir verlangt, dass tue ich bereitwillig.‘ Zur selben Stunde noch wurde ihm die Jungfrau anverlobt.“ Was genau mit überreden hier gemeint ist, scheint mir signifikant unscharf und undeutlich, wie so vieles an diesem Text, just an den für die Motivierung entscheidenden Stellen, unklar und mehrdeutig ist. SCHNYDER (Anm. 12) beschreibt in einer Fußnote (S. 32 f., Anm. 35) die Mehrdeutigkeit des über rett genau in diesem Sinne und sieht darin „bewusst gesetzte Widerstände, momentane Rückschritte auf dem Weg des Helden zu seinem Ziel“; denn aufs Ganze gesehen hält SCHNYDER daran fest, dass „Peter die moralische Definition dessen, was er mit der Fee getan hat, von der

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rungen der Eheschließung ab, ständig und allerorten: den Pfaffen, dem König, den Brüdern, der Geliebten sowieso – er ist von geradezu legendenhafter Passivität. So ist der für jeden Ritterroman konstitutive Konflikt von individueller Freiheit und sozialem Zwang zwar thematisch,14 doch auch er stiftet keinen kohärenten Sinn, denn es gibt ebenso bedeutende gegenläufige Momente.15 In der Gestalt der Geliebten ist ein Phantasma realisiert, das die widerstrebenden Momente von Bindung und Begehren, Gesetz und Freiheit vereinigt. Selten ist die ödipale Komponente einer Feenfigur so unverblümt ausgestellt wie hier: eine Mutter, die immer schon da war, die beschützt, beschenkt, schon immer alles weiß, immer da ist und immer genau sagt, was man tun soll; zugleich Geliebte, die sich nach Wunsch hingibt, die Sex jederzeit und ohne Risiko ungewollter Nachkommen garantiert und dabei auch noch andere Abenteuer zulässt.16 Ist der Tod die narrative Metonymie der Selbstbestrafung für diese inzestuöse Wunschphantasie? Oder ist dies die Angstphantasie eines in regressiver Sexualität gefangenen Jungmannes, für den der unvermeidliche Abschied von der Mutter und die bedrohliche Weiblichkeit einer anderen Frau nur als Tod zu phantasieren sind? Eine Art ödipaler Liebestod?17 Gleichviel, ob man so freudianisch sprechen sollte oder nicht – allemal wird hier etwas Entscheidendes deutlich: Es zeigt sich in dieser PsychoLogik genau jene Unschärfe im Verhältnis von Kausalität und Finalität, die auch die Erzähllogik bestimmt. Die Angst vor dem irgendwann unvermeidlichen Abschied von der Mutter-Geliebten und von jugendlicher Freiheit, die Angst vor dem Übergang zu verantwortlicher Sexualität und Sozialität, die Angst vor dem Erwachsen-Werden wird als tödliche Bedrohung phantasiert, und zwar so, als habe die Mutter-Geliebte das Tabu_____________ 14 15

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kirchlichen Autorität übernimmt“ (S. 30). Vom Text scheint mir Letzteres allerdings gerade nicht gedeckt. Dies dient als Grundlage der Textdeutung von SCHNYDER (Anm. 12). Dies übersieht m. E. BEA LUNDT: Melusine und Merlin im Mittelalter. Entwürfe und Modelle weiblicher Existenz im Beziehungs-Diskurs der Geschlechter, München 1991, S. 125-140, in ihrer bemerkenswerten und bedenkenswerten Interpretation, die ganz auf der konstitutiven Dichotomie ‚sexuelle Freiheit/passionierte Liebe des jeune‘ versus ‚christliche Moral/dynastische Räson von Klerus und Familie‘ aufbaut und in einer dialektischen Schlusspointe den Text letzten Endes als Warnung an den Adel liest, sich nicht von der Kirche Vorschriften machen zu lassen. Kritisch dazu auch SUERBAUM (Anm. 11), S. 339 und S. 344. Zur Staufenberger Fee als Männerphantasie siehe ausführlich LUNDT (Anm. 15), S. 138139. Für die breite Debatte um die tiefenpsychologischen Deutungspotentiale, die den mittelalterlichen Feengestalten eignet, sei hier nur verwiesen auf FRIEDRICH WOLFZETTEL: Der Körper der Fee. Melusine und der Trifunktionalismus. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von KLAUS RIDDER/OTTO LANGER, Berlin 2002, S. 353-383.

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Gesetz aufgestellt.18 Müssen wir also nicht auch die Regel, nach der diese Erzählung funktioniert, von falschen Suggestionen von Kausalität freihalten? Die Regel lautet vielleicht gar nicht: ‚Wenn du heiratest, dann musst Du sterben – also bitte heirate nicht und liebe mich für immer!‘ Sie hieße vielmehr ganz schlicht: ‚Jetzt kannst Du mich haben und lieben. Und irgendwann wirst du heiraten und dann sterben.‘ Das wäre dann kein Tabu, kein Verbot und keine Warnung – es wäre eine bloße Feststellung. III. Und damit zum vielleicht wichtigsten Problem: Wer ist eigentlich diese anderweltliche Frau mit diesem schönen Fuß? Wo kommt sie her? Welche Interessen verfolgt sie? Über all dies erfahren wir nichts. Es gibt keine Versuche, ihre Existenz und Absichten zu benennen und ihr Handeln zu motivieren. Sicher: Sie ist offenbar keine ‚melusinische‘ Fee, ein mütterlich-fruchtbarer Körper, der der Menschenwelt bedarf; sie ist, wie Lanvals Fee im Lai der Marie de France und wie die Saligen der Alpensagen, ein ‚morganischer‘ Typus, ein glückspendender Körper, eine schiere Metonymie des traumhaft verdienstlosen Reichtums und sozialen Aufstiegs.19 Dazu gehörte aber, dass sie versuchte, den Helden in die Anderwelt hinüberzuziehen, dass sie eine Gegenwelt zur Menschenwelt repräsentierte.20 Die Kultur und Gesellschaft der Menschenwelt ist hier aber gar nicht mangelhaft! Anders als Melusines Gatte Raimund und anders als Lanval hat Peter Reichtum, Anerkennung und Erfolg auch vor ihrem Auftreten. 21 Und die Staufenbergerin nimmt ihren Peter am Ende nicht mit nach Avalon, wie die Fee Lanvals es tut – im Gegenteil: sie besorgt ihm den tatsächlichen Tod. Es gibt im Text eben keine Anderwelt: Er trifft sie am Burgweg, sie kommt immer in sein Ritterbett; sie hat keine Geschichte, _____________ 18 19 20

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Ähnlich LUNDT (Anm. 15), S. 139: Auch sie begreift die Suggestion, die Fee für Peters Tod verantwortlich zu machen, als eine Art der Projektion – allerdings eine Projektion christlich-klerikaler Provenienz. Dazu LAURENCE HARF-LANCNER: Les fées au moyen âge. Morgane et Mélusine. La naissance des fées, Genf/Paris 1984; und WOLFZETTEL: Körper (Anm. 17), S. 385. Dies wäre ein zentrales Kriterium für den ‚morganischen‘ Feen-Typus nach HARFLANCNER (Anm. 19) und WOLFZETTEL: Körper (Anm. 17) und ebenso für den ‚undinischen‘ Typus in der etwas varianten Typologie (undinisch vs. melusinisch) von MERTENS (Anm. 2). Thüring von Ringoltingen: Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Frankfurt 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 9-176; Marie de France: Die Lais (Afrz./Nhd.). Übers. von DIETMAR RIEGER. München 1980 (KTRMa 19), S. 208-249. Einen detaillierten Vergleich von Lanval und Peter von Staufenberg bietet W. PRETTYMAN: Peter von Staufenberg and Marie de France. In: Modern Language Notes 21 (1906), S. 205-208.

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keinen Ort, kein Avalon und keinen Teich. Wasserfee ist sie nicht – sie ist nicht mit Fruchtbarkeit und kaum mit ‚Natur‘ als Gegensatz zu ‚Kultur‘ konnotiert. Es gibt keine Schwellenorte und keine Schwellenhandlungen.22 Die Staufenbergerin bleibt zugleich radikal numinos und radikal in der Menschenwelt.23 Das Auffälligste an ihr ist ihr unüberbietbar hohes Maß an Frömmigkeit: Sie mahnt ständig zum Kirchgang, zur Beichte, sie führt unablässig Gott im Munde. An keiner Stelle des Textes wird nahegelegt, darin Verstellung eines teuflischen Dämons zu sehen, an keiner Stelle wird sie für Peters Tod verantwortlich gemacht, nicht von Pfaffen, nicht von Braut oder Familie, nicht vom Erzähler. Ihre sichtbare Erscheinung wird selten im Text visualisiert, und wenn, dann mit den üblichen höfischen Topoi für höfisch kultivierte Damenkörper, aber signifikant hyperbolisch: Sie ist engels-, ja mariengleich, strahlender als alle Gestirne, wie aus dem Paradies und dem Himmelreich,24 und Peters erster Gruß ist das pure Ave Maria.25 Es gibt nur eine Ausnahme davon: Dieser fulminante Präsenzeffekt des nackten Fußes. Die konnotativen Potentiale dieses Textelementes sind kaum auszuschöpfen. Ein Blick in die einschlägigen Handbücher lehrt, dass Füße beinahe universell als Symbole der Fruchtbarkeit, tellurischer Erdverbundenheit und Lebenskraft auftauchen26 – also doch eine morganische Naturfee? Freilich: Der entblößte, sexuell provozierende Feenkörper ist als Kontrapunkt zu der höfisch-kultivierten Hochzeitsgesellschaft _____________ 22

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Dazu auch RICHARD ERNEST WALKER: Peter von Staufenberg. Its origin, developement, and later adaption. Untersuchung, Göppingen 1980, insbes. S. 60-62. Inwieweit der Stein, auf dem die Fee bei der ersten Begegnung mit Peter am Rande des Burgweges sitzt, als ein „als heilig ausgegrenzter Bezirk“ verstanden werden kann, wie HUBER (Anm. 2), S. 255, meint, ist zumindest fraglich. Genau aus diesem Grund ist SCHULZ (Anm. 2) zuzustimmen, wenn er schreibt, dass der Text „nicht den geringsten Versuch unternimmt, die Feenfigur zu depotenzieren“ (S. 252). Eine Beschreibung ihres Aussehens, vornehmlich ihrer Kleidung, gibt der Text nur bei ihrem ersten Auftreten, als Peters Knappe sie erblickt (V. 204-267) – im übrigen deutlich fokalisiert, hauptsächlich als Wahrnehmung des Knappen. Es heißt etwa, daz den knaben duhte, / sy wer von hymelriche komen / als uß dem paradys genomen / und fuere in der engel schar (V. 226-229; „dass es dem Knappen so vorkam, als sei sie aus dem Himmelreich gekommen oder aus dem Paradies hierhergesetzt und gehöre zur Schar der Engel“). ‚Got gruess úch, frow, durch alle zuht, / got gruess úch, hoh gelopti fruht, / ich grueß úch, aller schoenstes wip, / die ye gewan sel und lip, / die mir uff erden ie wart kunt: / ich gruess úch, frowe, tusent stunt.‘ (V. 91-296; „‚Gott grüß euch, Herrin, in aller Form, / Gott grüße euch, hochgelobter Spross, / ich grüße euch, allerschönste Frau, / die jemals Seele und Leben besaß, / die ich auf Erden je gesehen habe: / Ich grüß euch, Herrin, tausend Mal.‘“). Zu den marianischen Anspielungen auch SUERBAUM (Anm. 11), bes. S. 336. HANNS BÄCHTTOLD-STÄUBLI: ‚Fuß‘. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 2, Berlin, Leipzig 1930/31, Sp. 224-236; CHRISTOPH DAXELMÜLLER: ‚Fuß‘. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 5, Berlin, New York 1987, Sp. 600-610; DR. AIGREMONT [= SIEGMAR SCHULTZE-GALLERA]: Fuss- und Schuh-Symbolik und -Erotik. Folkloristische und sexualwissenschaftliche Untersuchungen, Leipzig 1909 (unveränd. Neudr. Darmstadt 1972).

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inszeniert. Diesen symbolischen Potenzen, die auf Dichotomisierung von Anderwelt und Menschenwelt, von Sexualität und Sozialität zielen, stehen aber andere, harmonisierende Sinndimensionen entgegen. Die Hochzeitsgesellschaft ist ja nicht entsetzt über eine obszöne Geste, sondern alle sagen, es sei der schönste Fuß, der je gesehen wurde.27 Der Körper der Fee partizipiert am kulturell definierten Schönheitsideal. Bezieht man die Fußgeste auf die erzählte Geschichte, so gibt es weitere evidente Sinnstiftungen. Er ist Negation eines Bocksfußes, Widerlegung der von den Pfaffen behaupteten teuflischen Natur, Gegenbild zur schreibenden Flammenhand beim Gastmahl des Frevlers Belsazar.28 Das Lexikon des Aberglaubens verzeichnet eine Fülle diverser Belege, in denen Füße als Todesprophetien fungieren, was mit dem Fuß als Symbol der Lebenskraft, des Lebenswegs zu tun hat. Und der Fuß spielt als Rechtsgeste eine bedeutende Rolle: Ein Fuß von oben ist verbürgtes Herrschaftssymbol und sagt: ‚Du stehst unter meiner Rechtsordnung!‘ Auch im Eherecht bzw. bei Hochzeitsritualen spielen Füße eine Rolle, etwa indem der Bräutigam der Braut auf den Fuß tritt – die Fee erhebt also rechtlichen Anspruch auf Peter. Man könnte sicher noch mehr finden, was der zeitgenössische Hörer oder implizite Leser mit dieser Fußerscheinung konnotieren möchte. Der Fuß in seiner sichtbaren, körperlichen Präsenz inszeniert performativ all jene Diskurse, die die Geschichte und die Frage nach ihrem Sinngehalt tangieren: Natur/Kultur, Freiheit/Bindung, Liebe/Ehe, Individualität/Sozialität, Teufel/Maria, Sexualität/Genealogie – und diese Inszenierung ist gerade nicht vereindeutigend, sondern irritierend vieldeutig. Liegt in solcher Vieldeutigkeit gerade das zentrale Moment? Der Fuß der Fee ist eine mise en abyme der Erzählung: Es gibt keine Möglichkeit, zu den Gesetzen zu gelangen, die dort oben sind, die die Geschichte regieren. Sie sind einfach da. Die Geliebte mit dem schönen Fuß ist am Ende weniger Natur-Fee oder ödipal getönte Jungmännerphantasie, als vielmehr ein walkürenartiger Schutzengel,29 der immer bei _____________ 27 28 29

uff erden so wart schoener nie / noch mynneclicher fuoß gesehen: / daz muosten alle menschen jehen. (V. 1058-1060; „Auf Erden war noch niemals ein schönerer und liebreizenderer Fuß gesehen worden, alle mussten das zugeben“). Daniel 5,5 u. 5,24f. Zur Ähnlichkeit mit Walküren siehe CLAUDE LECOUTEUX: Das Motiv von der gestörten Mahrtenehe als Wiederspiegelung der menschlichen Psyche. In: Vom Menschenbild im Märchen. Hrsg. von JÜRGEN JANNING, Kassel 1981, S. 59-71, hier S. 69; GÖTZ BUBENHOFER: Melusina travestita: Die Geschichte des Ritters Peter Diemringer von Staufenberg in Sage und Dichtung unter bes. Berücksichtigung des Kapitels XXVI von Grimmelshausens Roman Der seltsame Springinsfeld. In: Die Ortenau 73 (1993), S. 543-567, hier S. 547. Schon JACOB GRIMM hatte in seiner Deutschen Mythologie (4. Aufl. Bd. 1. Berlin 1875, S. 351f.) die Staufenbergerin den Walküren zugeordnet. Eher als Schutzengel und ausdrücklich weniger als WalkürenMythologem deutet sie ECKHARD GRUNEWALD: Undine kommt. Zur Genese eines romantischen Märchens. In: Aurora 63 (2003), S. 85-97, hier S. 87 u. S. 91.

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ihm ist und ihn die richtigen Wege führt: Peter ist nicht schuld, die Pfaffen sind nicht schuld, die Geliebte ist nicht schuld, auch Gott ist nicht schuld. Es ist ja alles gut! Er ist im Himmel! Eine kausale Handlungslogik, die uns erklärte, warum es so hatte kommen müssen und ob man es hätte ändern können, ist nur verschwommen erkennbar. Diese Fee, dieser Fuß ist eine Metonymie für Peters Lebensbestimmung.30 Oder, narratologisch gesprochen: Sie ist eine Metonymie der finalen Setzung der Erzählung.31 Und darin ist sie vielleicht sogar eine Metonymie des mythischen Substrats der Textsorte ‚Feenmärchen‘ – denn ‚Fee‘ ist ja auch etymologisch mit fatum in Verbindung zu bringen.32 IV. Bevor ich zu der Ausgangsfrage komme, wie man dies nun literarhistorisch einordnen könnte, sei zunächst skizziert, was aus dem Stoff geworden ist, wie die produktiven Rezipienten mit dieser radikalen Finalität umgegangen sind. Um 1540 verfasst Paracelsus seine Abhandlung über die Elementargeister, das Liber de Nymphis.33 Sein zentrales Vorhaben ist es, die konventionellen geistlichen Deutungen zu widerlegen, die anderweltliche Frauenfiguren als teuflisch begreifen. Die Elementargeister, so Paracelsus, offenbarten und entzögen sich, wie Engel das täten, mit göttlicher Lizenz und nach Schöpfungsplan. In der Ratio dieser dämonologisch-kosmologischen Systematisierung versucht er, die Verführungsabsichten der Wassernymphen zu plausibilisieren: Sie haben keine Seele, streben aber danach und damit nach Ewigkeit. Und diese können sie für sich und ihre Kinder erwerben durch Vermählung mit einem Menschenmann. Als Beleg dafür erzählt nun Paracelsus die Geschichte Peter von Staufenberg. Er spricht von der Nymphen in Stauffenberg,34 geht also davon _____________ 30 31

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Ähnlich schon WALKER (Anm. 22), S. 70-71 u. S. 93. Zu den legendarischen Mustern ausführlich SUERBAUM (Anm. 11). Ich erlaube mir, auf die ausführlichere Darstellung und Interpretation dieses Fußmotivs hinzuweisen, die unter dem Titel: „Von der Fee nur der Fuß. Körper als Allegorien des Erzählens im Peter von Staufenberg“ demnächst in einem Sonderheft der DVjs erscheinen wird, zusammen mit weiteren Beiträgen der Sektion ‚Körper und Kultur‘ des Marburger Germanistentags 2007, hrsg. von BEATE KELLNER und CHRISTIAN KIENING. WOLFZETTEL, Fee, Feenland (Anm. 2), Sp. 946. Theophrasti Hohenheimensis [Paracelsus] Liber de Nymphis, Sylphis Pygmeis et Salamandris, et de caeteris spiritibus. Faks. der Ausg. Basel 1590. Hrsg. von GUNHILD PÖRKSEN, Marburg 1966. Der erste Druck erfolgte posthum 1566, die Entstehung wird allgemein in seinem letzten Lebensabschnitt (gest. 1541) vermutet. Ich zitiere nach: Theophrastus von Hohenheim genannt Paracelsus: Liber de nymphis, sylphis, pygmeis et salamandris et de caeteris spiritibus. Hrsg. von ROBERT BLASER, Bern 1960 (Altdt. Übungstexte 16), hier S. 30.

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aus, dass sie eine Wasserfrau sei. Nun hat er dies nicht selbst so gedeutet. Paracelsus muss die Geschichte aus den Drucken gekannt haben, und dort wird die Staufenbergerin – wenn auch nur auf dem Titelblatt – merfeye genannt.35 Diese Titulierung aber lässt sich leicht erklären: Johann Prüss in Straßburg, der 1483 als erster die Erzählung druckte, hatte wenige Jahre zuvor mit seinen Druckausgaben der Melusine Thürings von Ringoltingen einen immensen Erfolg.36 Wohl aus verlegerischem Kalkül gibt er der nachgeschobenen Erzählung Peter von Staufenberg melusinischen Anstrich – und Paracelsus erst begründet das im Rahmen seiner Systematik. Denn in seiner Nacherzählung ändert Paracelsus – anders als der Druck – Einiges, und stets im Sinne einer kausalen Motivierung der Geschichte. Er nennt Peters Verhalten dezidiert Ehbruch und geht davon aus, dass die Wassernymphe selbst durch ihren Fuß Peter strafte und tötete. Sie habe das mit göttlicher Erlaubnis getan und musste selbst zur Richterin werden, da kein irdischer Richter ihr beisprang.37 Man mag sagen, dass dies eine plausible Deutung der Geschichte ist, keine Verfälschung. Entscheidend scheint mir dabei nur, dass Paracelsus die Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen abzuschaffen trachtet. Er gibt eine rationale Erklärung für die Absichten der Mahrte, ordnet die Welt zu einem harmonischen Kosmos, in dem Treuegesetze universell gelten und sanktioniert werden. Er schließt damit, dass er rhetorisch fragt: So sie ein Teuffel gesein were / wo werend dann die Teuffelischen Zeichen bliben / die allmal mitlauffen?38 Dies aber ist freilich seine Interpretation, denn welcher Natur die Zeichen sind, namentlich der nackte Fuß, das hält der alte Text in der Schwebe. Paracelsus hat die Staufenberger-Geschichte ‚melusiniert‘, und die Melusinen-Geschichte folgt in seinem Liber de Nymphis denn auch als zweites Beleg-Beispiel für Wasserfrauen-Systematik. Nun ist Melusine nicht nur von vornherein ein anderer Feen-Typus, sondern auch als Geschichte in den erfolgreichen französischen und deutschen Fassungen des späten 14. und 15. Jahrhunderts bedeutend mehr kausal motiviert. Man denke nur an das Tabu, das zunächst ein Sichttabu ist, aber nach dem Tabubruch _____________ 35 36

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Die gantz warlich legend von dem túren vnd strengen auentúrlichen Ritter genant Herr Peter Diemringer geborn von Stoufenberg uß der ortenowe / […] / auch besunder wie er vnd ein merfeye sich in grosser lieb vnd trúw zuo ein vspflicht haben. (Zitiert nach GRUNEWALD: Abbildungen [Anm. 1], S. 9) Dazu auch GRUNEWALD: Undine kommt (Anm. 29), S. 92. Zur Druckgeschichte siehe ausführlich die Einleitungen zu den Ausgaben von GRUNEWALD (Anm. 1) und DAVID BLAMIRES: Peter von Staufenberg early editions. In: Vir ingenio mirandus. Studies presented to John L. Flood. Hrsg. von WILLIAM J. JONES, Göppingen 2003, S. 629-642. Do es aber nit beschehen ist noch war / do strafft sie den Ehbruch auß Goettlicher Verhencknuß selbst / (dann kein Richter vrtheylet auff ir begeren / dieweil sie nicht von Adam war.) Auff solchs ward jhr von GOTT die Straff / so einem Ehbruch gebuert / zugelassen / vnd selbst do Richter zusein / dieweil vnd die Welt sie verwarff als einen Geist / oder Teuffelin. (Paracelsus [Anm. 34], S. 31) Ebd.

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durch Raimund in ein Redetabu umgewandelt wird. Dies ist nicht nur eine zweite Chance, sondern auch eine plausible Motivierung des Tabus: Mit dem Bekanntwerden der jenseitigen Herkunft der Fee steht hier das soziale Prestige des Lusignan-Geschlechts auf dem Spiel, also das, was die Fee begründet hatte und worum es wesentlich geht. Und ebenso wird in der Ausweitung auf die Elternvorgeschichte sowie auf die Schwestern der Fee das Bemühen um kausale Motivierung des Handelns und der Absichten der Fee deutlich.39 Andere Varianten solcher Rationalisierungen von Mahrten finden wir in früheren romanesken Fassungen des Texttypus, im Partanopeu de Blois (um 1180/90) bzw. Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur (1277?) oder im Friedrich von Schwaben (Anfang des 14. Jahrhunderts?).40 Diese kurzen Bemerkungen sollen nur eines zeigen: Die Bestrebungen, kausale und finale Motivierung in eine Balance zu bringen und also die schiere Finalität des Mythologems einer Tabuerzählung narrativ zu bewältigen, ist nicht etwas, was von der Textsorte abhängt, nicht bloß ein Bestreben des spekulativen Paracelsus. Das, was man ‚Entfinalisierung‘ nennen könnte, ist auch ein synchrones, kein nur diachrones oder gattungsspezifisches Phänomen. Abschließend noch einige Bemerkungen zur Rezeption des Stoffes nun manifest jenseits der Epochenschwelle. Friedrich de la Motte Fouqué gibt selbst für seine 1811 erschienene, bis auf den heutigen Tag ungemein erfolgreiche Erzählung Undine Paracelsus als alleinige Quelle an.41 Er wird aber auch den späteren Druck des Peter von Staufenberg von 1588 benutzt haben, eine Bearbeitung Bernhard Schmids unter der Regie Johann Fischarts und dessen Schwagers Bernhardt Jobin, in dessen Vorreden mit den Erklärungen zur Seelensuche der Nymphen und ihrem nicht-teuflischen Charakter überdeutlich Paracelsus einfließt.42 Fouqués Erzählung – und ich muss mich auf einige summarische Bemerkungen beschränken – macht den Gedanken Paracelsus’ einer einheitlichen kosmologischen Ordnung nach äquivalenten Gesetzen, also tendenziell die Abschaffung _____________ 39 40

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Ich verweise hierzu nur auf die kluge rezente Untersuchung von KIENING (Anm. 6). Partonopeu de Blois. 2 Bde. Hrsg. von JOSEPH GILDEA, Villanova 1967/1968; Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von FRANZ PFEIFFER hrsg. von KARL BARTSCH, Wien 1871 [Nachdr. Berlin 1970]; Friedrich von Schwaben. Hrsg. von MAX H. JELLINEK, Berlin 1904 (DTM 1). Ich verweise zum Vergleich der Texte auf MERTENS (Anm. 2) und SCHULZ (Anm. 2). Friedrich de la Motte Fouqué: Undine. In: Friedrich de la Motte Fouqué: Romantische Erzählungen. Nach den Erstdrucken mit Anmerkungen, Zeittafel, Bibliographie und einem Nachwort hrsg. von GERHARD SCHULZ. München 1977, S. 39-116. Die Quellennotiz Fouqués findet sich in: Die Musen. Eine norddeutsche Zeitschrift. Hrsg. von Friedrich Baron de la Motte Fouqué u. Wilhelm Neumann, Berlin 1812 (4. Quartal), S. 198-199. Dazu ausführlich NIELS KRANEMANN: Ritter, Fee und Teufelsheer. Die Verserzählung vom Ritter von Staufenberg im Umbruch der spätmittelalterlichen Geistesgeschichte. In: Die Ortenau 68 (1988), S. 430-454.

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des numinosen Charakters der Fee und ihrer Anderwelt zum erzählerischen Grundprinzip. Seine Erzählung von Treue und Untreue, von schwacher, dekadenter Kulturwelt und ungezügelter, das Individuum in seiner Sozialisation herausfordernden Naturwelt ist plausiblen und kohärenten Regeln verpflichtet.43 Die paracelsische Sehnsucht der Nymphe nach einer ewigen Seele wird psychologisch verständlich als Suche nach der Empfindung Liebe, deren Preis die notwendige Leidensfähigkeit und der Verzicht auf die ursprüngliche irdische Unsterblichkeit der Elementargeister ist, und deren Garantieprinzip Treue ist. Es gibt kein Tabu, das die Grenze der beiden Welten, ihre Unvermittelbarkeit, unverbrüchlich garantiert, nichts, was die Kontingenz des Geschehens und der Weltgesetze markierte wie Peters unerbittlicher Tod. Die schon bei Paracelsus formulierte Taburegel, die Nymphe auf dem Wasser nicht zu schelten, ist eine völlig plausible, rationale Handlungsanweisung im Rahmen der Märchenlogik der fiktiven Welt, die uns sagt, dass wir die Elementargeister hinzunehmen haben, wie sie sind: Dort, auf dem Wasser, haben die Elementargeister Macht. Das Gesetz der Treue ist ebenso keines, das die Grenze zu einer entzogennuminosen Welt markierte: Es ist ein universelles, pantheistisches Naturgesetz für Menschen- und Wasserwelt. Die Gesetze, die in der Anderwelt herrschen, werden in der Erzählung bekannt gegeben, plausibel und einsehbar gemacht. Es sind Gesetze, die auch in der Menschenwelt Fouqués gelten, und die allgemein-menschliche Schwäche, Eifersucht der Frauen, virtuelle Polygamie und Treulosigkeit der Männer, führen in die Katastrophe. Liebe und Ehe sind keine inkohärenten, sondern in der bürgerlichen Welt Fouqués kohärente Funktionen. Gerade weil nun dieser Text im ‚Wie‘ des Erzählens so kohärent motiviert und die verschiedenen Figuren, Welten, Räume und Funktionen aufeinander beziehbar macht, so dass die finale Motivierung kein Eigenrecht mehr beansprucht, gerade darum eröffnet sie im ‚Was‘ des Erzählens vielfältige Deutungsmöglichkeiten. Die Erzählung als ganze kann auf mannigfache Weise symbolisch oder allegorisch aufgefasst werden. Es geht um Vieles zugleich: Um das Verhältnis von Natur und Kultur, um eine pantheistische Spekulation, um hierarchische Gesellschaft und Dekadenzkritik, um die prekäre, stets unvollständige Sozialisation der Frau von Naturwesen zum Kulturwesen, um die kul_____________ 43

Ich verweise auf GERHARD NEUMANN: Kindheit und Erinnerung. Anfangsphantasien in drei romantischen Novellen: Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert. Friedrich de la Motte Fouqué: Undine. E.T.A. Hoffmann: Der Magnetiseur. In: Jugend - ein romantisches Konzept? Hrsg. von GÜNTER OESTERLE, Würzburg 1997, S. 81-103; MONIKA SCHMITZ-EMANS: Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde, Würzburg 2003.

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turell und unter sozialen Musterzwängen verschüttete Sehnsucht der männlichen Psyche nach Spontaneität, und so fort.44 V. Vergleichen wir. Fouqués Erzählung bildet ein Syntagma, das sich kohärent auf mehrere Paradigmata beziehen lässt. Man könnte das, angesichts des zugrundeliegenden Mythologems von der verführerischen Jenseitsfrau, einmal probeweise als radikale ‚Entfinalisierung‘ oder auch als ‚Finalitätsbewältigung‘ bezeichnen. Im Peter von Staufenberg aber gibt es nur ein Paradigma, auf das sich das Syntagma kohärent als Ganzes beziehen lässt: Auf der Ebene der Erzählung lautet es: ‚Sei ein frommer Mensch, was immer dir passiert.‘ Auf der Ebene des Erzählens lautet es: ‚Peter muss sterben, die außermenschliche Frau muss weg, das Tabu als Markierung der unüberwindbaren Grenze ist nur dazu da, verletzt zu werden.‘ Und hier kommen die beiden konträren Deutungsmöglichkeiten ins Spiel, von denen einleitend die Rede war. Man kann einerseits solche radikale Finalität, die Absenz kohärenter Handlungs- und Figurenlogik, für ein prototypisches vormodernes Erzählen halten. Das legendarische Modell bietet sich an. Peter ist eine Figur, die rein final zu denken ist, wie der LegendenHeilige: Er ist nach allen Richtungen in Versuchung, aber er steht es durch und hadert nicht. Das ergibt einen plausiblen didaktischen Sinn: ‚Sei ein guter Ritter und leidenschaftlich Liebender, denke an deine Familie und höre auf die Kirche – und wenn es so weit ist, und wenn alles nicht mehr zugleich geht, dann stirb gut, wegen deines Seelenheiles.‘45 Das, was wir über den ‚Sitz im Leben‘ dieser Erzählung wissen können, deutet durchaus auf solchen Vorbildcharakter als Intention. Die gesamte Überlieferung des Textes ist auf das engste mit dem Raum der Burg Staufenberg verbunden sowie mit jenen Familien, die Rechte an Namen, Wappen und Burg haben46 – es ist Hausüberlieferung, und unschwer in jener genealogischen _____________ 44

45 46

Zur Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten siehe RENATE BÖSCHENSTEIN: Undine oder das fließende Ich. In: Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Hrsg. von IRMGARD ROEBLING, Pfaffenweiler 1991, S. 101-130. Zum Rezeptionszusammenhang von Paracelsus bis Fouqué siehe auch MERTENS (Anm. 2), S. 219-221, und insbes. GRUNEWALD: Undine kommt (Anm. 29). Diese Lesart als moralisch-didaktische Erzählung über das rechte Sterben und den rechten Umgang mit weltlichen Gütern macht besonders SUERBAUM (Anm. 11) stark. Ähnlich auch GRUNEWALD: Der túfel (Anm. 4), bes. S. 140-142. Dazu das Vorwort im Abbildungsband von GRUNEWALD (Anm. 1). Zu den historischen Fakten der Überlieferung und der Familie und Burg Staufenberg siehe ANDRÉ SCHNYDER: Johann Fischart als Bearbeiter eines mittelalterlichen Märes. Veränderungen ästhetischer Darstellungsverfahren und kultureller Deutungsmuster im Peter von Staufenberg. In: Wirkendes Wort 39 (1989), S. 15-43; BUBENHOFER (Anm. 29); KRANEMANN: Ritter (Anm. 42);

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Funktion vorzustellen, die auch zahlreiche andere MahrtenehenGeschichten – die Melusinen-Sage, die Schwanenrittersage – explizit haben.47 Denken wir uns einen Erzähler, der sich vorgenommen hat, eine Erzählung zu schreiben, die der Burg und dem Geschlecht der Staufenberger eine Aura verleiht und ihre gegenwärtige Existenz erklärt, und dies im denkbar besten Lichte. Die gegenwärtige Existenz um 1300 heißt: Eine Ganerbenschaft – also ohne gemeinsamen Spitzenahn, genealogisch heikel, nicht von allzu hohem Adel, nicht von großem Reichtum. Die Lösung, die der Erzähler findet, ist nicht ungeschickt: Einen gemeinsamen Vorfahren gab es, aber der ist nicht im biologischen Sinne der Spitzenahn; aus gutem Grund: Er war sozusagen allzu sexy und erfolgreich. Es ist aber nicht zwielichtig-dämonisch zugegangen, sondern hat seinen Grund in einer überirdischen Urmutter, die in engstem Kontakt mit göttlichen Geboten stand und besonders fromm war. Allemal stand also Potenz in Liebesdingen, Ritterdingen und materiellen Dingen am Anfang der Geschichte der Staufenberger-Familie. Die Potenz war so groß, dass das Geschlecht bis auf kaiserliche Höhe geadelt wurde bzw. werden sollte. Dass es nicht dazu kam, endete nicht im Streit mit der Kaiserfamilie, sondern in größter Harmonie, trotz widrigen Schicksals. Ideell kann so die Kaisernichte in die Vorfahrenschaft des Geschlechts einrücken. Besser als in dieser Mischung kann man die faktische Impotenz und Bedeutungslosigkeit einer mediokren Kleinadel-Ganerbenschaft kaum camouflieren und schönreden.48 Es wäre also im Kern eine ganz archaische Mythe im Stile von mündlichen Sagen; eine ‚einfache Form‘,49 die sich um kausale Motivierungen wenig scheren muss; behängt, aber nicht verknüpft mit höfischem, christlichem und genealogischem Dekor. Man mag es aber auch anders verstehen. Es stört an dieser einfachen Lösung, dass der Text sich ja nicht beschränkt auf schlichte Aneinander_____________ 47

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NIELS KRANEMANN: Der gottesfürchtige Haudegen. Ritterliche Tugenden und Erzählabsicht in Peter von Staufenberg. In: Die Ortenau 67 (1987), S. 97-123. URSULA PETERS: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1999; BEATE KELLNER: Aspekte der Genealogie in mittelalterlichen und neuzeitlichen Versionen der Melusinengeschichte. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von KILIAN HECK/BERNHARD JAHN, Tübingen 2000, S. 13-38. Ähnlich SCHULZ (Anm. 2), S. 253, der feststellt, dass Feenerzählung und Familiengeschichte „narrativ getrennt“ und der Nexus zwischen mythischer Funktion der MahrtenehenErzählung (Erklärung des Aufstiegs des Geschlechts) und mythischem Inhalt (die Fee als Verleiherin des Zugewinns) gespalten werde. PETERS (Anm. 47), S. 221-223, bestreitet die Möglichkeit einer Familienidentifikation und Geschlechtermythologie – das scheint mir nur plausibel, wenn man es so konkret wie im Falle von Melusine und Schwanenritter denkt, also an mächtige Dynastien mit einer weitgehend linearen Genealogie. ANDRÉ JOLLES: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Halle 1929 u. ö.

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reihung von Ereignissen, sondern eine Vielzahl von Fährten legt, wie diese möglicherweise zu deuten seien. Der Text erzählt nicht im Sagenstil über die fehlenden Kohärenzen hinweg, sondern er suggeriert permanent Sinnpotenzen und Paradigmen; und er scheint dies mit dem zentralen Element des Fußes, diesem wahrhaften ‚Falken‘ dieser Novelle, offensiv zu inszenieren als Konflikt zwischen Liebe und Ehe, zwischen Freiheit und Bindung, zwischen persönlichem Glück und Sozialität. Gerade in der Tatsache, dass all diese Themen keiner kohärenten Lösung zugeführt werden und die Durchsetzung des Telos der Geschichte sich um all dies nicht schert, gerade in den Widersprüchen und offen zutage liegenden Motivationslücken mag man ebenso gut den Reflex einer Erfahrung von Kontingenz und Sinnverlust erblicken. Dürfen wir diese Bewegung im Text von Pluralisierung von Bedeutungspotenzen und radikaler finaler Kappung dieser Pluralität nicht auch als Versuch einer Kontingenzbewältigung lesen, der wir beim Scheitern zusehen dürfen? Oder ist dies nur eine Wahrnehmung des modernen Lesers, des analytischen Blicks? Wäre solche Komplexität unter der Textoberfläche anachronistisches Missverständnis, nur unseren neuzeitlichen Leseansprüchen an Sinnstiftung geschuldet, für die wir die radikale Finalität des Erzählens und die funktionsgebundene Intentionalität des Erzählten nicht akzeptieren? Wie immer man das nun begreifen will: Es ist eine Entscheidung über die Textsorte, eine Entscheidung darüber, in welche Kontinuität wir den Text stellen wollen: Ist der Ritter von Staufenberg eine Art Proto-Roman mit einer nur gewaltsam und unvollständig zu bewältigenden Erfahrung von Komplexität? Oder ist es eine gänzlich in einem archaisch-geschlossenen Weltbild verbleibende Sage von einer ‚Saligenehe‘, strategisch erweitert durch Elemente von Legende und Hausüberlieferung? Gleichviel: Es ist wohl wenig fruchtbar, die Unterschiede hinsichtlich kausaler und finaler Motivierung und ihrer kohärenten oder fehlenden Verknüpfung allein an die Komplexität oder Nicht-Komplexität der Gesellschaft zu knüpfen, in der wir Produktion, primäre Rezeption und Intention positivistisch verorten. Dass Erzählen – im engeren Sinne moderne, avantgardistische Phänomene seien ausgenommen – stets mit Komplexitätsreduktion und Kontingenzbewältigung zu tun hat und beinahe immer oder zumindest in Teilen in diesem Reduktionsprozess die Komplexität steigert, ist kein Epochenkriterium, nichts Historisierbares. Mir scheint es eher ein mediales Problem, eben eines der Textsorte und der Erzähltradition, in die sich der Text jeweils einreiht: Ein Text, der schriftlich und für die Lektüre konzipiert ist oder als Exempelerzählung für eine systematische Abhandlung – wie etwa die Version des Paracelsus – stellt von vornherein andere Ansprüche an handlungslogische und figurenlogische Kohärenz. Plausibilität und Sinnstiftung durch kohärente Strukturen werden dort auf einer

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anderen Ebene bedeutsam als in einem Text, der einer stärker oral geprägten Situation zugehört. Und mit oraler Situierung des Erzählens ziele ich nicht unbedingt oder nicht nur auf eine andere Beschreibung einer Epochenschwelle ‚oral – vokal – literal‘. Oralität respektive Vokalität hat nicht einfach nur mit faktischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu tun, mit faktischer Performanz, sondern etwas mit einer impliziten Rezeptionshaltung und mit gesteuerten Rezeptionserwartungen. Achim von Arnim hat 1805 in Des Knaben Wunderhorn eine Ballade in fünfundvierzig sechszeiligen Strophen, aufgeteilt in sieben ‚Romanzen‘ publiziert, die den Text des 13. Jahrhunderts ziemlich genau nachbildet, mit allen Brüchen und Inkohärenzen in der Motivierung.50 Und auch in Grimms zweitem Band der Deutschen Sagen von 1818 ist der alte Text ziemlich genau wiedergegeben.51 Nur das große Skandalon, den großen Bruch – „Nimm jede, die Du willst – nur nicht zur Ehe“ – das haben sie alle brav weggelassen. Texte wie diese haben auch in der Neuzeit, nicht nur in der retrospektiven-archaisierenden Romantik, bestimmte Lizenzen; sie implizieren bestimmte Modi von Oralität und damit bestimmte narrative Regeln, haben erwartenslenkende Prämissen, die in den Traditionen der Textsorten und Gattungen liegen. VI. Es sei mir eine subjektiv gefärbte Schlussreflektion erlaubt.52 Ich habe im Durcheilen von fünf Jahrhunderten Literaturgeschichte sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten beschrieben. Mein Vortragstitel und mein Fokus bei der Textlektüre zielten darauf, die Mutationen der Staufenberger-Geschichte als ‚Entfinalisierung‘ zu beschreiben; oder sagen wir besser: als zunehmende Bewältigung der schieren Finalität eines gegebenen Stoffes durch Kohärenzbildung mit kausaler Motivierung, als ‚Finalitätsbewältigung‘. Das suggeriert eine Parallelität mit ‚Kontingenzbewältigung‘, _____________ 50 51

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Ritter Peter von Staufenberg und die Meerfeie. In: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Kritische Ausgabe. Hrsg. u. komm. von HEINZ RÖLLEKE, Bd. 1, Stuttgart 1987, S. 363-372. 528. Herr Peter Dimringer von Staufenberg. In: Deutsche Sagen. Hrsg. von den Brüdern Grimm, Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 191-194. Dazu und zu weiteren Texten, die den Stoff rezipierten, siehe die Textsammlung und die Kommentare von RÖHRICH: Erzählungen (Anm. 4) sowie den Band Undinenzauber. Geschichten und Gedichte von Nixen, Nymphen und anderen Wasserfrauen. Hrsg. von FRANK RAINER MAX, Stuttgart 1991. Die Lizenz für diese Subjektivität nehme ich mir angeregt von dem angenehm subjektiven und offenen schriftlich versendeten Gespräch zwischen HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER, das diese Tagung und meine Überlegungen angestoßen und vielfältig befruchtet hat.

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mit dem systemtheoretischen Terminus, der das Verhalten des modernen Menschen angesichts zunehmender sozialer Komplexität und unsicherer Erwartungen benennt.53 Sind die narratologischen Grundbegriffe, mit denen ich hantiert habe, nun tauglich, Wandlungen vom vormodernen zum neuzeitlichen Erzählen als Äquivalent dazu zu beschreiben? Im Großen und Ganzen könnte man dem vielleicht zustimmen. Was sich mir aber als viel wichtigere Lehre aus diesem Versuch zu ergeben scheint, ist die Beobachtung, dass die Einordnung von literarischen Dokumenten in textexterne Zusammenhänge zu interpretierenden Entscheidungen nötigt, die jenseits narratologischer Analyse liegen. Das mag banal und selbstverständlich sein, aber es scheint mir wichtig für den Stellenwert von Narratologie innerhalb der Literaturwissenschaft. Ich glaube, gerade die beschränkte interpretative Reichweite narratologischer Begriffe rechtfertigt ihren Gebrauch. Historische Differenzierung liegt außerhalb ihres Anspruchsbereichs und sollte dort bleiben. Wir sollten uns vielleicht weniger um die Beschränktheit der historischen Reichweite narratologischer Terminologien Sorgen machen, sondern vielmehr darum, ob wir uns auch die Beschränktheit ihrer interpretatorischen Reichweite stets sorgfältig vor Augen halten. Viel wichtiger scheint es mir zu sein – und dies ist eine zweite Lehre, die ich ziehe – durch Fixierung auf Epochenschwellen die Differenzierungen von Textsorten, Erzähltraditionen und pragmatischen Kontexten nicht zu übersehen. Die vielfältige Ungleichzeitigkeit historisch synchroner Erscheinungen, die komplexen Netze aus Kontinuitäten und Diskontinuitäten scheinen mir bedeutender als die schieren Paradigmenwechsel. Eine Textanalyse, die diese Ungleichzeitigkeiten in Texten zu finden und zu reformulieren vermag und nicht Kontinuität oder Diskontinuität schlicht voraussetzt, will mir nur gelingen, indem ich jene narratologischen Werkzeuge gebrauche, die mir meine schrift- und leseorientierte Wissenschaft anbietet. Wie diese Begrifflichkeiten selbst nun zu historisieren wären, kann ich nicht sehen, denn dann verlören sie ihren zumindest idealtypisch universellen Charakter. Und nur, wenn ich diesen voraussetze, kann ich differentielle Phänomene vergleichend in den Blick nehmen – und also die Diskontinuität und Kontinuität überhaupt als solche beschreiben. Letzteres wäre mein Beitrag zu einer Theorie historischer Narratologie. Indes: Es ist wohl nur eine hermeneutische Binsenweisheit.

_____________ 53

NIKLAS LUHMANN: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt Kontingenz. Hrsg. von GERHARD GRAEVENITZ/ODO MARQUARDT, München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17). 61996;

GERT HÜBNER

evidentia Erzählformen und ihre Funktionen

Gegenstand meiner Überlegungen ist die Relation zwischen älteren narrativen Praktiken, älteren Reflexionen über das Erzählen und jenem Teilbereich moderner Narratologie, der sich mit dem von GENETTE so genannten discours,1 den Verfahrensweisen der erzählerischen Vermittlung einer Geschichte, beschäftigt. Der erste Abschnitt ist darauf ausgerichtet, das spezifische Interesse an Erzählformen und ihren Funktionen in der älteren – im Wesentlichen rhetorischen – Reflexionstradition zu erläutern. Im zweiten Abschnitt geht es anhand eines Beispiels aus dem späten 12. Jahrhundert um das Verhältnis zwischen älteren Reflexionen und älteren Praktiken. Der dritte Abschnitt verfolgt das Ziel, die Differenz zwischen den Formund Funktionskonzepten der discours-Narratologie und der rhetorischen Reflexionstradition zu konturieren und auf dieser Grundlage das Verhältnis zwischen moderner Narratologie und älteren narrativen Praktiken zu bestimmen. Der abschließende vierte Abschnitt enthält ein Plädoyer dafür, die Bedeutung der Rhetorik für höfische Romane im 12. und 13. Jahrhundert nicht nur als eine technische zu verstehen, sondern darüber hinaus auch die ihr impliziten Elemente einer anthropologischen Wissensordnung zu berücksichtigen. Die von der rhetorischen Reflexionstradition beeinflussten discours-Verfahren wären auf dieser Grundlage als eine eigenständige Ebene der Sinncodierung aufzufassen.

_____________ 1

GÉRARD GENETTE: Discours du récit, Paris 1972 (dt. Die Erzählung, München 1994 [UTB]). Neuere Einführungen bieten MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 72007 (Beck Studium); Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Hrsg. von PETER WENZEL, Trier 2004 (WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 6); MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006 (Einführung Literaturwissenschaft).

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Gert Hübner

I. Erzählformen und ihre Funktionen in der älteren Reflexionstradition Reflexionen über das Erzählen gibt es in unserer kulturellen Tradition seit langer Zeit; in der Antike hatten sie mit Poetik und Rhetorik zwei benachbarte diskursgeschichtliche Orte. Neben den durch sie begründeten Möglichkeiten des Nachdenkens über Erzählungen ist aus Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit keine andere Reflexionstradition erhalten; das kann man bedauern, aber nicht mehr ändern. Den einschlägigen konzeptionellen Horizont der westeuropäischen Gelehrten im 12. und 13. Jahrhundert, um den es mir in erster Linie geht, bestimmte vor allem die Überlieferung und Fortentwicklung von Lehrbeständen römischer Rhetorik- und Grammatiktraktate. Ich will aber trotzdem kurz auf die griechischen Anfänge der Poetik blicken, weil hier eine Denkfigur greifbar wird, die jenseits der Überlieferungsgeschichte einzelner Texte auch das rhetorische Denken prägte und deshalb große Wirkungsmacht entfaltete. Die Figur verläuft so, dass die unterstellte kulturelle Funktion von Erzählungen zur Identifikation einzelner Erzählformen führt und Aussagen über deren spezifischere kommunikative Funktionen motiviert. Der Modellfall dafür sind die narratologischen Reflexionen in Platons Politeia. Sie sind die ältesten, die erhalten sind, und sie gelten einer der bis heute grundlegendsten Identifikationen von Erzählformen, der Differenzierung zwischen Erzählerrede und Figurenrede. Das erste Phänomen nennt Platon diegesis – „wenn der Dichter selbst redet“ –, das zweite mimesis – „als ob ein anderer als er selbst der Redende wäre“.2 Das Interesse Platons an der Unterscheidung ist zielgerichtet: Die kulturelle Funktion von Dichtung beruht seiner Erläuterung nach, und das meint er deskriptiv, auf Lernen am Modell; Dichtung soll deshalb – nun erst wird es normativ – möglichst nur Gutes darstellen, damit die Rezipienten die Nachahmung des Guten lernen. Da Figurenreden selbst schon Nachahmung sind, evozieren sie Platons Analogieschluss zufolge auch mehr Nachahmung als Erzählerrede; deshalb soll im Epos Schlechtes, wenn es denn schon nicht vermeidbar ist, äußerstenfalls in Erzählerrede dargestellt werden (am besten aber gar nicht).3 Aus einer axiomatischen Funktionsunterstellung, die als empirisch eingeschätzt ist (Dichtung funktioniert kulturell so und so), werden Regeln abgeleitet (wer dieses erreichen will, soll jenes tun); dadurch entsteht ein Interesse an Formbegriffen, an die spezifische kommunikative Funktionszuweisungen gekoppelt werden (Erzählerrede hat diese Wirkung auf Rezipienten, Figurenrede jene). Dieselbe Denkfigur begegnet in der aristoteli_____________ 2 3

Politeia 392c-934c; Plato: Werke in 8 Bänden. Hrsg. von GUNTHER EIGLER. Band 4: Politeia. Bearb. von DIETRICH KURZ, Darmstadt 21990, S. 198-204. Politeia 396c-397b (Anm. 2), S. 210-212.

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schen Poetik, auch wenn Aristoteles bekanntlich das Ziel verfolgt, Platons Dichtungslehre zu entsorgen. Er kommt nur deshalb zu einem anderen Ergebnis, weil er ein anderes kulturelles Funktionsaxiom voraussetzt: Tragödien und Epen erregen bestimmte Affekte; Handlungs- und Figurenkonstruktion sowie Gedankenführung und sprachliche Form sollen dem dienen. Weil Affekte mit Figurenreden besser zu erregen sind als mit Erzählerrede, soll der Epiker Figurenrede bevorzugen.4 Übrigens bemerkt Aristoteles einmal, dass die Poetik mehr für Handlungs- und Figurenkonstruktion von Dramen und Epen zuständig sei, während Gedankenführung (dianoia) und sprachliche Form (lexis) eher in den Gegenstandsbereich der Rhetorik fallen würden.5 Das ist der früheste Beleg für eine Unterscheidung zwischen der Tiefen- und der Oberflächenstruktur handlungsdarstellender Texte. Dahinter steht nichts anderes als das rhetorische Prinzip, die Gestaltung des Inhalts und die Gestaltung des Ausdrucks als Textproduktionsstadien zu unterscheiden. Die moderne narratologische Differenzierung zwischen histoire und discours ist ein spätes Kind dieses Gedankens, der zu den Binsenweisheiten antiker, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Rhetorik gehört. Die Narratologie hat dabei vom alten rhetorischen Denken auch das Problem geerbt, dass ein vom Ausdruck unabhängiger Inhalt nicht definiert werden kann, obwohl sich ein bestimmter Inhalt dem Anschein nach auf verschiedene Weisen ausdrücken lässt. Würde man einen Kurzschluss zwischen Aristoteles und GENETTE verursachen, müsste er wohl zu der Einschätzung führen, dass der narrative discours eine Angelegenheit der rhetorischen dispositio und elucutio ist. Mir gefiele eine solche Einschätzung nicht schlecht, weil das Ergebnis ganz gut zu den historischen Verhältnissen im höfischen Roman passen könnte: Auch wenn Chrétien de Troyes oder Gottfried von Straßburg nicht zwischen histoire und discours zu unterscheiden vermochten, hätten sie wahrscheinlich etliche erzählerische Praktiken, die die moderne Narratologie auf der discours-Ebene ansiedelt, mit der von rhetorischen Verfahrensweisen beherrschten tractatio materiae in Verbindung gebracht, die dem Selbstverständnis der Dichter nach einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeit ausgemacht haben dürfte.6 Die Verfahrensweisen der erzählerischen Ver_____________ 4 5 6

Poetik 1460a; Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. von MANFRED FUHRMANN, Stuttgart 1982 (RUB 7828), S. 82. Poetik 1456a (Anm. 4), S. 60. Zu den tractatio-Verfahren vgl. ALEXANDRU N. CIZEK: Imitatio et tractatio. Die literarischrhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994 (Rhetorik-Forschungen 7); zu ihrer Bedeutung für die historische Poetologie des volkssprachlichen höfischen Romans FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: FMSt 19 (1985), S. 1-30; DERS.: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg.

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mittlung und die der Stoffbearbeitung sind weder extensional noch konzeptionell dasselbe; dass es eine Schnittmenge gibt, ist jedoch kein bloßer Zufall. Während sich die antike Poetik dafür interessierte, wie und zu welchem Zweck Dichter erzählen, interessierte sich die antike Rhetorik ursprünglich vor allem für das Erzählen eines Tathergangs vor Gericht.7 Die charakteristische Konstellation von axiomatischer Funktionsunterstellung, daraus abgeleiteter Lehre über die zu erzielenden Wirkungen und daraus resultierendem Interesse an der Identifikation des Formenrepertoires, das diese Wirkungen herbeiführt, prägt indes auch die rhetorische narratioLehre. Die Erzählung des Redners vor Gericht hat die Funktion, den Fall sowohl im Parteiinteresse als auch glaubhaft darzustellen. Eine glaubhafte Erzählung muss nicht unbedingt wahr, aber jedenfalls wahrscheinlich (probabilis, verisimilis) sein. In einem der beiden für den mittelalterlichen Rhetorikunterricht grundlegenden antiken Lehrbücher, Ciceros Traktat De inventione, war beispielsweise zu lesen, dass die Glaubwürdigkeit der Erzählung durch Klarheit gefördert werde, diese wiederum durch die narrative Präsentation der Ereignisse in ihrer natürlichen Reihenfolge.8 Diese Korrelation aus Funktionsbestimmung und Erzählform wurde zu einer geradezu ehernen Konvention und zusammen mit der ganzen narratio-Lehre über den ursprünglichen pragmatischen Ort in der Gerichtsrede hinaus auf jede Art von Erzählung generalisiert: ordo naturalis als Form trägt die Funktion der Wahrheitsbeglaubigung.9 Erzählformen fest und kontextunabhängig Funktionen zuzuordnen, war ein (irriges, aber gleichwohl wirkungsmächtiges) Prinzip der alten Rhetorik und damit auch ihrer Phänomenologie des Erzählens. _____________

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von WALTHER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142; SILVIA SCHMITZ: Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im Eneas Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007 (Hermaea 113). SCHMITZ behandelt denjenigen Teil der – von CIZEK in breiterem Umfang dokumentierten – Lehrtradition, der von den Kategoriensystemen der mittellateinischen Poetiken erfasst wurde; dazu gehören die im Folgenden thematisierten narratioVerfahren nicht. Zum Horizont der jüngeren Forschungsdiskussion vgl. auch die Beiträge in: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von BRITTA BUSSMANN u. a., Berlin 2005 (Trends in Medieval Philology 5). Kurze Einführungen in die Tradition der rhetorischen Narrationslehre bietet JOACHIM KNAPE: ‚Historia‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1406-1410; DERS.: ‚Narratio‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 98-106 (jeweils mit weiterer Literatur). De inv. 1,29; M. Tullius Cicero: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optime genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern. Hrsg. u. übers. von THEODOR NÜSSLEIN, Düsseldorf, Zürich 1998 (Sammlung Tusculum), S. 62. Vgl. FRANZ QUADLBAUER: Zur Theorie des Erzählaufbaus in der Rhetorik und Poetik um 1000 p. Chr. In: Lateinische Kultur im X. Jahrhundert. Hrsg. von WALTER BERSCHIN, Stuttgart 1991 (Mittellateinisches Jahrbuch 24/25), S. 393-411.

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Dabei waren solche Form-Funktions-Korrelationen nicht eigentlich präskriptiv gedacht; man glaubte zu wissen, dass sie kommunikativen Erfolg haben. Sie konstituierten einen Regelapparat, der die narrativen Praktiken der Historiographen und Dichter erheblich beeinflusste. Vermutlich könnten wir die Regeln heute nicht in jedem Fall aus den Praktiken induzieren, wenn sie nicht in der historischen Reflexionstradition formuliert wären: Der Praxis ist nicht einfach abzulesen, dass Erzählen in der natürlichen Reihenfolge dem Wahrheitsanspruch dient. Die Reflexionstradition ist deshalb für ein historisches Verständnis der narrativen Praktiken unverzichtbar. Wie jede Phänomenologie verfuhr indes auch die rhetorische interessengeleitet selektiv: Auf einen Begriff gebracht wurden nur Erzählformen, an deren Identifikation aufgrund der Funktionsaxiome der Rhetorik ein spezifisches Interesse bestand.10 Ein Beispiel dafür ist die evidentia-Lehre. Außer durch Klarheit kann der Redner die Wahrscheinlichkeit seiner Erzählung befördern, indem er für den Anschein von Evidenz insbesondere dort sorgt, wo ein Mangel an Evidenz herrscht.11 Für die Simulation von Augenschein als Erzählfunktion hatte die römische Rhetorik, im Anschluss an die griechischen Termini enargeia und hypotyposis, eine ganze Reihe von Begriffen – außer evidentia auch demonstratio, sub oculos subiectio und illustratio. Im zweiten der beiden für den mittelalterlichen Rhetorikunterricht grundlegenden Lehrbücher, der für ein Werk Ciceros gehaltenen Rhetorica ad Herennium, konnte man als Definition von demonstratio lesen, dass „die Sache so mit Worten ausgedrückt wird, dass der Vorgang sich abzuspielen und die Sache vor Augen zu stehen scheint.“12 Auf welche Weise das zu bewerkstelligen ist, führt die HerenniusRhetorik mit einem Beispiel vor. Es illustriert, dass der Redner eine bildliche _____________ 10 11

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Die Relevanz dieser Konzepte für den französischen höfischen Roman dokumentiert DOUGLAS KELLY: The Art of Medieval French Romance, Madison (Wisc.) 1992. Eine Einführung in die Tradition der evidentia-Lehre bietet ANSGAR KEMMANN: ‚Evidentia, Evidenz‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 33-47. Die Relevanz des Konzepts in der frühen Neuzeit zeigt ANDREAS SOLBACH: Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen, München 1994 (Figuren 2); vgl. außerdem GOTTFRIED WILLEMS: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989 (Studien zur deutschen Literatur 103). Applikationen der rhetorischen evidentia-Lehre auf deutsche höfische Romane unternehmen WILFRIED CHRIST: Rhetorik und Roman. Untersuchungen zu Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde, Meisenheim a. Gl. 1977 (Deutsche Studien Bd. 31); MARK CHINCA: History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the Poetics of Gottfried’s Tristan, London 1993 (Texts and dissertations 35; Bithell series of dissertations 18). Rhet. ad. Her. IV,LIV,68: demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur; Rhetorica ad Herennium. Hrsg. u. übers. von THEODOR NÜSSLEIN, Zürich, München 1994 (Sammlung Tusculum), S. 314.

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Vorstellung vor allem durch deskriptive Detaillierung erzeugt. In Priscians Praeexercitamina, die lange als Lehrbuch für die Aufsatzübungen im mittelalterlichen Grammatikunterricht dienten, wird das Phänomen nicht von ungefähr unter dem Etikett descriptio behandelt. Bei der Beschreibung welchen Gegenstands auch immer – und Priscian weist eigens darauf hin, dass dergleichen oft in narrationes vorkäme – müsse „die Sache den Augen durch die Ohren vergegenwärtigt“ werden.13 Das demonstratio-Beispiel in der Herennius-Rhetorik benutzt als Formen zur Erzeugung von Augenschein außerdem das narrative Präsens als emphatische Figur affektischer Vergegenwärtigung und Figurenrede (sermocinatio). Figurenrede stellt in der eigentlich auf Kürze zielenden Gerichtsrede eine Besonderheit dar. Was sie mit evidentia zu tun hat, wird beim Blick auf die der Herennius-Rhetorik und De inventione gemeinsame Systematik der narratio-Lehre deutlich. Beide Traktate unterscheiden nämlich von einem Typus der narratio, der auf die Darstellung der Geschehnisse konzentriert ist, einen anderen, bei dem es mehr auf die Darstellung der Personen ankommt. Im zweiten Fall sollen, wie es in De inventione heißt, „zusammen mit den Ereignissen selbst die Gespräche und Gesinnungen der Personen durchschaut werden (perspici) können“;14 außerdem sollen die mit den Handlungen verbundenen Gemütsregungen berücksichtigt werden.15 Eben dies führt das demonstratio-Beispiel der Herennius-Rhetorik vor. Dazu tritt dann noch die Repräsentation von Handlungsmotiven (consiliorum rationes),16 die in der narratio-Lehre generell als Mittel zur Evokation von Wahrscheinlichkeit gilt. Zur evidentia gehört demnach neben der deskriptiven Detaillierung und der affektischen Emphatisierung auch der Blick ins Innere der handelnden Personen: Indem der Redner ihre Innenwelt ‚vor Augen führt‘ und ‚durchschaubar macht‘, stärkt er die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung von ihrem Handeln. Übrigens war die Formulierung von Figurenreden unter dem Etikett adlocutio (ethopoiia) ebenfalls eine Aufsatzübung im mittelalterlichen Grammatikunterricht. So mussten die Schüler offenbar Figurenreden zu bekannten Epen- oder Dramensituationen – nach dem Muster ,Was hat wohl x gesagt, als‘ – verfassen.17 Das entsprechende Kapitel in Priscians Praeexercitamina weist der adlucutio traditionsgemäß die Funktion zu, die _____________ 13

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Praeex. X,29-30: oportet enim elocutionem paene per aures oculis praesentiam facere ipsius rei; Prisciani Institutionum grammaticarum libri XIII-XVIII. Hrsg. von HEINRICH KEIL. Prisciani Opera minora. Hrsg. von MARTIN HERZ, Leipzig 1859 (Grammatici latini 3), S. 438f. Zu den Übungen des antiken und mittelalterlichen Grammatikunterrichts vgl. CIZEK (Anm. 6). De Inv. 1,19,27 (Anm. 8), S. 58: illa autem narratio, quae versatur in personis, eiusmodi est, ut in ea simul cum rebus ipsis personarum sermones et animi perspici possint. De Inv. 1,19,27 (Anm. 8), S. 60; vgl. Rhet. ad. Her. I,X,13 (Anm. 12), S. 23. Rhet. ad Her. I,IX,16 (Anm. 12), S. 24. CIZEK (Anm. 6), S. 276-285.

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Eigenschaften der jeweiligen Figur zum Ausdruck zu bringen, und unterscheidet dabei auch zwischen kommunikativer, an andere gerichteter Figurenrede (quando ad alios loquitur) und autokommunikativer, als Selbstgespräch eingerichteter Figurenrede (quando supponitur aliquis per se loquens).18 Die Produktion von Soliloquien (,innerer Monologe‘) mit der Funktion der Figurencharakterisierung war demnach eine ‚triviale‘ Schulübung. Man konnte den knappen Ausführungen der im mittelalterlichen Rhetorik- und Grammatikunterricht gängigsten Lehrbücher demnach eine recht konkrete Vorstellung von den Formen entnehmen, mit denen eine Augenschein erzeugende und damit ihren Wahrheitsanspruch beglaubigende Erzählung zu produzieren war.19 Die Bedeutung dieser FormFunktions-Korrelation für die mittelhochdeutsche Dichtung will ich mit einem Beispiel kurz illustrieren. II. Ältere narrative Praktiken und ältere Reflexionstradition Wer den Straßburger Alexander20 mit einem narratologischen Interesse liest, wird die typische historiographische, auf die Darstellung der res gestae kon_____________ 18 19

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Praeex. VIII,27-28 (Anm. 13), S. 437f. In ausführlicherer Systematik, aber doch ebenfalls in erster Linie anhand von Beispielen, hätte man die antike evidentia-Lehre in Quintilians Institutio oratoria (VIII,3,61ff.; IX,2,40ff.) vermittelt bekommen können. Der Text der Institutio war im deutschen Sprachraum, nämlich in Bamberg und St. Gallen, seit dem 11. Jahrhundert zwar auch komplett vorhanden, während im französischen nur Textteile in Mutili und Florilegien zugänglich waren. Die Überlieferung blieb in allen diesen Formen jedoch spärlich, und im Rhetorikunterricht spielte die Institutio offenbar, trotz einzelner Rezeptionsspuren vor allem im Umfeld von Chartres und bei Ulrich von Bamberg, so gut wie keine Rolle, bevor Poggio 1415 die St. Galler Handschrift fand. Vgl. PAUL LEHMANN: Die Institutio oratoria des Quintilianus im Mittelalter. In: Philologus 89 (1934), S. 349-383; JOHN R. E. BLIESE: Medieval Rhetoric. Its Study and Practice in Northern Europe from 1050 to 1250, Diss masch. University of Kansas 1969, S. 42-66. Jenseits der in der Überlieferung der Lehrbücher greifbaren Tradition des Theoriewissens muss prinzipiell die Tradition lateinischer narrativer Praxis in Historiographie und Dichtung in Rechnung gestellt werden, die antike Wissensbestände als Praxiswissen bewahren konnte. Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. u. kommentiert von ELISABETH LIENERT, Stuttgart 2007 (RUB 17664) (zit.); die Versangaben entsprechen den bei LIENERT jeweils an zweiter Stelle stehenden, in der bisherigen Forschung benutzten der Ausgabe von KINZEL: Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen hrsg. und erklärt von KARL KINZEL, Halle a. d. S. 1884 (Germanistische Handbibliothek 6). Eine Übersicht über die deutschen Alexanderromane bieten ELISABETH LIENERT: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 26-71; TRUDE EHLERT: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, Frankfurt a. M. 1989 (Europäische Hochschulschriften; Reihe 1; Deutsche Sprache und Literatur 1174).

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zentrierte Erzählweise bemerken. Es gibt jedoch eine Passage, die von diesem Duktus abweicht, nämlich den der Erzählung inserierten Brief Alexanders an seine Mutter und seinen Lehrer Aristoteles über die Wunder des Orients, eine lange homodiegetische ,Erzählung in der Erzählung‘ (V. 4918-6588). Einem modernen Rezipienten könnte sie geradezu den Eindruck vermitteln, dass die narrativen Gepflogenheiten des Berichts zugunsten derjenigen der Erlebniserzählung suspendiert sind. Plötzlich wird nicht mehr einfach erzählt, was geschah, sondern, was ich erlebte‘ oder ,was wir erlebten‘; es dominieren erzählte Wahrnehmung, Affektund Reflexionsdarstellung. Das liegt daran, dass das auf die Evokation von evidentia zielende Formenrepertoire massiv eingesetzt ist. Der Brief als solcher geht auf den griechischen Alexanderroman zurück; der Verfasser des Straßburger Alexander fand ihn in seiner lateinischen Quelle vor, der Alexander-Historia Leos von Neapel aus dem 10. Jahrhundert.21 Der deutsche Bearbeiter weist durch eine vorangestellte Quellenberufung auf die Übernahme hin: sô wil ih û rehte sagen, / daz an dem briebe gescriben was, / alsihz an einen bûche las (V. 4915-4917; „so will ich euch wahrheitsgemäß berichten, / was in dem Brief geschrieben war, / wie ich es in einem Buch las“). Am Anfang des Briefs lässt er den Absender Alexander mit dem Augenzeugentopos die wahrheitsbeglaubigende Funktion der Einlage im Gefüge der historiographischen Erzählung andeuten: vernemet, waz hie gescriben stâ, unde denket wol dar nâ,

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Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo. Hrsg. von FRIEDRICH PFISTER, Heidelberg 1913 (Sammlung mittellateinischer Texte 6), S. 107-113. Der Brief ist hier nur an Aristoteles adressiert; sein Ende ist nicht angezeigt: Die Erzählung wechselt abrupt in die dritte Person und kehrt danach unvermittelt noch mehrmals vorübergehend in die erste zurück, ehe ein zweiter, an die Mutter Olympia adressierter Brief mit einer weiteren homodiegetischen Erzählung folgt (Übersicht bei PFISTER, S. 113). Der Straßburger Bearbeiter lässt Alexander einen einzigen Brief an beide Adressaten richten und grenzt die dergestalt eingebettete Ich-Erzählung klar gegen die vorangehende und anschließende Er-Erzählung ab. Angesichts der inhaltlichen Übereinstimmung kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass Leo die Quelle war. Inhaltlich fern steht der deutsche Text dagegen den beiden Fassungen der Epistola ad Aristotelem, die als eigenständiger Text in vielen Handschriften überliefert ist. Edition: Der Brief Alexanders über die Wunder des Orients. Synoptische Edition. Hrsg. von MICHAEL FELDBUSCH, Meisenheim a. Gl. 1976 (Beiträge zur klassischen Philologie 78). Die unter dem Namen Historia de preliis bekannten interpolierten Redaktionen von Leos Alexander-Historia folgen bei den Wundern des Orients nicht Leo, sondern der Epistola, übernehmen jedoch nur den Inhalt, nicht die Briefform; die Ich-Erzählung ist deshalb in eine Er-Erzählung umgearbeitet, die den Handlungsverlauf nahtlos fortsetzt. Editionen: Historia Alexandri Magni (Historia de preliis). Rezension J1. Hrsg. von ALFONS HILKA/KARL STEFFENS, Meisenheim a. Gl. 1979 (Beiträge zur klassischen Philologie 107); Rezension J2 (Orosius-Rezension). Hrsg. von ALFONS HILKA. 2 Bde., Meisenheim a. Gl. 1976, 1977 (Beiträge zur klassischen Philologie 79, 89); Rezension J3. Hrsg. von KARL STEFFENS, Meisenheim a. Gl. 1977 (Beiträge zur klassischen Philologie 73).

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wandih cunde û di dinc, di mir zevorn comen sint. (V. 4924-4927) Hört, was hier geschrieben steht, / und behaltet es gut im Gedächtnis, / denn ich berichte euch von den Dingen, / die mir begegnet sind.

Es ist offensichtlich, dass sich der Verfasser angesichts der orientalischen Absonderlichkeiten zweifach absicherte: Seine lateinische Schriftquelle enthält einen schriftlichen Augenzeugenbericht von Alexander selbst. Bei Leo ist die in Gestalt des Briefs inserierte Ich-Erzählung jedoch nicht mit evidentia-Formen ausgestattet. Zur Wahrheitsbeglaubigung reicht hier das bloße Faktum des eingefügten Augenzeugenberichts; die homodiegetische Erzählweise im Brief unterscheidet sich nicht von der heterodiegetischen im übrigen Text. Der Verfasser des Straßburger Alexander hat das Angebot des Augenzeugenberichts dagegen dazu genutzt, mit der Erzählform Augenschein zu evozieren.22 Die Funktion des Verfahrens wird mehrmals und stets ohne Vorbild im lateinischen Text offengelegt, wenn der Augenzeugentopos unmittelbar als Wahrheitsbeglaubigung formuliert ist (vor wâr ih û daz sagen mach, / wandihz selbe ane sach, V. 4956 f.; „das kann ich euch als wahr berichten, weil ich es selbst gesehen habe“; _____________ 22

Falls der Bearbeiter die weit verbreitete Epistola (Anm. 21) gekannt haben sollte, könnte sie ihm womöglich erzähltechnische Anregungen geliefert haben, denn anders als bei Leo finden sich hier evidentia-Techniken. – Ich möchte betonen, dass es mir im Folgenden ausschließlich um die Funktion der evidentia-Verfahren im inserierten Brief geht, nicht um die Sinnkonstruktion der Orientepisoden und um ihre Funktion im Zusammenhang des Straßburger Alexander. MARKUS STOCK: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 105-119, deutet im Rahmen seiner Interpretation des Mirabilienteils die homodiegetische Erzählform als Perspektivierung; sie signalisiere Alexanders fehlende Einsicht in die zeichenhafte Bedeutung der orientalischen Wunder, die seiner Hybris Grenzen aufzeigen sollen. Ein solches Sinnangebot scheint mir freilich mit einer heterodiegetischen Erzählung ohne weitere Veränderungen ebenso gut, wo nicht zielsicherer präsentierbar und deshalb nicht von der Erzählform, sondern vom erzählten Geschehen getragen zu sein. Interpretationen der Orientepisoden bieten außerdem u. a. BARBARA HAUPT: Alexanders Orientfahrt (Straßburger Alexander). Das Fremde als Spielraum für ein neues Kulturmuster. In: Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Bd. 7, München 1991, S. 285-295; UDO FRIEDRICH: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung der Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von WOLFGANG HARMS/C. STEPHEN JAEGER, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 119-136; TOMAS TOMASEK: Die Welt der Blumenmädchen im Straßburger Alexander. Ein literarischer utopischer ‚Diskurs‘ aus dem Mittelalter. In: „Das Schöne soll sein“. Aisthesis in der deutschen Literatur. Festschrift Wolfgang F. Bender. Hrsg. von PETER HESSELMANN u. a. Bielefeld 2001, S. 43-55; FLORIAN KRAGL: Die Weisheit des Fremden. Studien zur mittelalterlichen Alexandertradition. Mit einem allgemeinen Teil zur Fremdheitswahrnehmung, Bern 2005 (Wiener Arbeiten zur Germanischen Altertumskunde und Philologie 39); RALF SCHLECHTWEG-JAHN: Macht und Gewalt im deutschsprachigen Alexanderroman, Trier 2006 (Literatur, Imagination, Realität 37), S. 81f.

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diz wunder ich alliz sah / selbe mit mînen ougen. / des mugent ir gelouben, V. 53285330; „diese erstaunliche Sache sah ich ganz und gar selbst mit meinen eigenen Augen, das könnt ihr glauben“). Eine kurze Textpassage soll genügen, um die Neigung des deutschen Dichters, erzähltes Geschehen in erzählte Figurenwahrnehmung umzuarbeiten, exemplarisch zu dokumentieren (V. 5099-5106): Dô slûge wir unse gezelt ûf an ein breit felt. grôz wunder ih dâ sah: des morgenes dô uns quam der tach, dô sah ih wassen boume, des nam ih rehte goume, di wôhssen harte scône ûzer erde unz an die nône, dar under blûmen unde gras.

iterum movimus inde et venimus in campum alium,

Dann schlugen wir unsere Zelte auf einem großen Feld auf. Sehr Erstaunliches sah ich dort: Am Morgen bei Tagesanbruch sah ich Bäume wachsen, ich beobachtete es genau, sie wuchsen sehr prächtig aus der Erde, bis zur neunten Stunde, darunter waren Blumen und Gras.

Dann zogen wir davon und kamen zu einem anderen Feld,

in quo ab hora diei prima exiebant arbores et crescebant usque ad horam sextam.

auf dem von der ersten Tagesstunde an Bäume entsprossen und emporwuchsen bis zur sechsten Stunde.

Besonders massiv tritt der evidentia-Apparat in der extrem mirakulösen Blumenmädchen-Episode in Erscheinung, die bei Leo (und in der gesamten erhaltenen lateinischen Alexander-Tradition) kein Vorbild hat.23 Der _____________ 23

Eine ähnliche Episode gibt es im altfranzösischen Roman d’Alexandre, und zwar bereits in den ältesten erhaltenen Fassungen A (Laissen 221-231) und B (Laissen 357-368) sowie bei Alexandre de Paris (Branche III, Laissen 189-206); vgl. The Medieval French Roman d’Alexandre. Vol. I. Text of the Arsenal and Venice Versions. Hrsg. von MILAN S. LA DU, Princeton (N.J.), Paris 1937 (Elliott monographs in the Romance languages and literatures 36); Vol. II. Version of Alexandre de Paris. Hrsg. von B. C. ARMSTRONG u. a., Princeton (N.J.), Paris 1937 (Elliott monographs in the Romance languages and literatures 37). Zu den Blumen- oder Waldschattenmädchen vgl. TRUDE EHLERT: Alexander und die Frauen in spätantiken und mittelalterlichen Alexander-Erzählungen. In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Hrsg. von WILLI ERZGRÄBER, Sigmaringen 1989 (Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes 2), S. 81-103; BARBARA HAUPT: Alexander, die Blumenmädchen und Eneas. In: ZfdPh 112 (1993), S. 1-26; JAN CÖLLN: Arbeit an Alexander. Lambrecht, seine Fortsetzungen und die handschriftliche Überlieferung. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hrsg. von JAN CÖLLN u. a., Göttingen 2000 (Veröffentlichung aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 ‚Internationalität nationaler Literaturen‘; Ser. A: Literatur und Kulturräume im Mittelalter 1), S. 162-207, hier S. 197; SUSANNE FRIEDE: Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Der Roman d’Alexandre im Kontext der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen

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Verfasser komponiert hier über viele Verse hinweg Beschreibungen in Gestalt erzählter Figurenwahrnehmung mit Affekt- und Reflexionsdarstellung; ausdrückliche Wahrheitsbeglaubigungen machen die evidentia-Funktion der Erzählformen erneut explizit. Ein kurzes Beispiel mag wieder genügen: dâr môste wir scowen manigen edelen brunnen, der ûz den walde quam gerunnen lûtir unde vil kalt. ih und mîne helede balt heten dâ wundiris gemach, daz uns ze liebe da gescah. daz ne wil ih sô niwit verdagen, ich ne wil iz û flîzlîche sagen. (V. 5184-5192) Dort durften wir / viele herrliche Quellbäche erblicken, / die aus dem Wald geflossen kamen, / klar und sehr kalt. / Ich und meine mutigen Helden / erlebten dort vollkommenes Glück, / das uns dort zu unserer Freude widerfuhr. / Das will ich keinesfalls verschweigen, / sondern will es euch sorgfältig erzählen.

Zu den Konsequenzen der evidentia-Verfahren gehört zudem die affektive Emphase, die der Diktion gerade in dieser Episode eignet; als anzustrebender Effekt begegnet sie auch im oben behandelten demonstratio-Beispiel der Rhetorica ad Herennium. Sie sticht vom historiographischen Duktus, den der Bearbeiter außerhalb der brieflichen Ich-Erzählung pflegt, markant ab: hei wî scône si sungen, daz beide cleine unde grôz durh den sûzlîchen dôz, den wir hôrten in den walt, ih und mîne helede balt vergâzen unse herzeleit und der grôzen arbeit und alliz daz ungemah und swaz uns leides ie gescach. uns allen dô bedûhte, alsiz wol mohte, daz wir genûc habeten, di wîle daz wir lebeten, frowede unde rîcheit. dâ vergaz ih angist unde leit unde mîn gesinde,

_____________ 2003 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 317), S. 20-81. Auch FRIEDE rührt nicht an der alten Mutmaßung, dass der Roman d’Alexandre und der Straßburger Alexander die Blumenmädchen unabhängig voneinander aus einer unbekannten Quelle bezogen haben. Im Roman d’Alexandre sind die Orient-Wunder im Übrigen wie in der Historia de preliis nicht als Ich-Erzählung in Form eines inserierten Briefs präsentiert, sondern in der fortlaufenden Er-Erzählung.

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unde swaz uns von kinde ie leides gescach biz an den selben tach. (V. 5217-5234) Hei, wie schön sie sangen, / so dass wir alle / von dem süßen Schall, / den wir im Wald hörten, / ich und meine mutigen Helden, / unser Herzensleid vergaßen / und die große Mühsal / und jede Anstrengung / und alles jemals erlebte Leid. / Uns allen kam es so vor, / und das war auch berechtigt, / dass wir genug / Freude und Reichtum / für unser ganzes restliches Leben hatten. / Dort vergaßen ich und meine Leute / Not und Leid / und was uns von Kindheit an / an Leid zugestoßen war / bis zu jenem Tag.

Innerhalb der homodiegetischen Erzählung sind die evidentia-Formen im Übrigen keineswegs gleichmäßig eingesetzt. So fehlen sie etwa in jenen Teilen der langen Candacis-Episode (V. 5489-6464), in denen konfliktträchtige Handlung im Mittelpunkt steht; hier ist in der Ich-Erzählung kaum anders verfahren als in ihrer heterodiegetischen Umgebung. Die Beschreibungen von Land, Burg, Festsaal und Hofstaat der Königin (V. 5787-6219), die bei Leo kein Vorbild haben, sind dagegen wegen des Mirabilien-Charakters nahezu durchweg als Wahrnehmungen Alexanders präsentiert, und hier nehmen auch seine affektiven Reaktionen wieder breiten Raum ein. Nicht nur aufgrund der höfischen Ausstattung der Burg und ihrer Bewohner, sondern auch aufgrund der narrativen Technik ähnelt der deskriptive Teil der Episode deshalb sehr den typischen Ankünften höfischer Romanritter auf fremden Burgen in der zeitgenössischen französischen und der späteren deutschen höfischen Epik. Freilich sind dieselben Verfahren sonst in heterodiegetischen Erzählungen eingesetzt. Möglicherweise zeigt der Straßburger Alexander also, dass sie einen gewissermaßen ursprünglicheren Ort in der Ich-Erzählung hatten. Auf einen ähnlichen Verdacht führt, dass Hartmann von Aue im Iwein die Figur Kalogrenant – nach Chrétiens Vorbild – eine mit evidentia-Formen ausgestattete homodiegetische Erzählung über die aventiure am Brunnen halten lässt und dann – anders als Chrétien – die evidentia-Formen auch in der anschließenden heterodiegetischen Erzählung von Iweins Ritt zum Brunnen einsetzt. Während die Distribution der evidentia-Formen innerhalb der homodiegetischen Erzählung im Straßburger Alexander einen sehr funktionalen Eindruck macht, ist es wohl eher quellenbedingt, dass die Orientfahrt als histoire-Element und die Ich-Erzählung als discours-Element nicht deckungsgleich sind. Auf die letzte Kriegsepisode, den Sieg über Porus, folgt als erste Orientepisode die Begegnung mit den armen und sorglosen Occidraten (V. 4762-4890),24 die heterodiegetisch und ohne evidentia-Verfahren _____________ 24

Vgl. dazu KARL STACKMANN: Die Gymnosophisten-Episode in deutschen AlexanderErzählungen des Mittelalters. In: PBB (Tüb.) 105 (1983), S. 331-354; EHLERT (Anm. 20), S. 66f.; STOCK (Anm. 22), S. 107-113; KRAGL (Anm. 22), S. 297-311.

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erzählt ist wie bei Leo. Dass es sich bei der letzten Orientepisode, der Fahrt zum Paradies, genauso verhält, rührt von der Vorgabe des Iter ad paradisum,25 dem der deutsche Dichter hier folgt. Obschon er den evidentiaApparat im Brief nicht von Leo übernahm, liegt es offenbar doch an den Vorlagen, dass er ihn nur in dem Teil der Orientfahrt einsetzte, die in Gestalt des Briefs homodiegetisch erzählt ist. Freilich könnte man ihr Fehlen in den anderen Orient-Episoden auch funktionalistisch begründen: Bei den Occidraten und an der Paradiesmauer geht es weniger um erlebte mirabilia als vielmehr um den Wert irdischer Güter angesichts der menschlichen Sterblichkeit; um davon zu erzählen, bedarf es keiner Erzeugung von Augenschein. Ingesamt scheint mir ziemlich offenkundig zu sein, dass der Bearbeiter des Straßburger Alexander als gelehrter Dichter einer volkssprachlichen Vershistorie in der homodiegetischen Briefeinlage auf durchaus differenzierte und zielgenaue Weise ein Repertoire narrativer Formen benutzte, dem die rhetorisch-grammatische Lehrtradition eine klare Funktion zuwies. Kontext und Distribution zeigen, dass der Zweck des evidentia-Apparats dieser Funktionsbestimmung im Prinzip entspricht: Er soll die Glaubhaftigkeit des Erzählten absichern; deshalb sind die Techniken umso massiver eingesetzt, je wundersamer sich das Erzählte ausnimmt. Ich will keineswegs ausschließen, dass die narrativen Verfahrensweisen in der Briefeinlage noch weitere Sinnangebote tragen; es geht mir allein darum, dass sich ihre Verwendung und ihre Funktion zunächst einmal durchaus plausibel mit der zeitgenössischen rhetorischen Lehre erklären lassen. Dass die Funktion der narrativen Verfahrensweise gelegentlich offenkundig über die rhetorische Lehre hinausreicht, sei aber wenigstens angedeutet. Am unmittelbarsten ist dies in der – im Straßburger Alexander nicht als solcher identifizierten – Episode vom Sonnenpalast (V. 5411-5472) zu greifen. Bei Leo ist auch sie als schlichter Faktenbericht gehalten;26 der Verfasser des Straßburger Alexander setzte die evidentia-Formen dagegen so ein, dass die Rätselhaftigkeit der Szenerie für den Protagonisten zum Ausdruck kommt. In (zeitgenössischen französischen und späteren deutschen) höfischen Romanen begegnet man dieser Konstellation immer wieder. Durchaus frappierend sind etwa die erzähltechnischen Gemeinsamkeiten zwischen Alexanders Bericht von seinem Besuch in einem Palas auf einem Berg, wo er einen schlafenden alten Mann in einem prächtigen Bett vorfindet, und Chrétiens wie Wolframs Bericht von Parzivals Besuch auf der Gralsburg. _____________ 25 26

Iter Alexandri Magni ad paradisum. In: FRIEDRICH PFISTER: Kleine Schriften zum Alexanderroman, Meisenheim a. Gl. 1976 (Beiträge zur klassischen Philologie 61), S. 359-365; zum Vorlagenwechsel vgl. EHLERT (Anm. 20), S. 73f. PFISTER (Hrsg.): Alexanderroman (Anm. 21), S. 111f.

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III. Moderne Narratologie, ältere Reflexionstradition und ältere narrative Praktiken Applizierte man auf die homodiegetische ,Erzählung in der Erzählung‘ im Straßburger Alexander Kategorien moderner Narratologie, käme man vermutlich zu dem Ergebnis, dass ihrer Faktur eine perspektivierende und damit dann auch eine subjektivierende Tendenz innewohnt.27 Allein schon die homodiegetische Form als solche, noch mehr aber die konsequente Fokalisierung der erzählten Welt mittels der erlebenden Figur, die sich in der Dominanz von erzählter Wahrnehmung und Psychonarration manifestiert, müssten auf diese Funktionszuweisung führen. Gewiss würde man anmerken, dass es sich zum Teil eher um eine Wir- als um eine IchErzählung handelt und dass das Subjekt der Subjektivierung deshalb streckenweise kollektiv ausfällt; die Konstellation selbst berührt das aber nicht. An der rhetorischen Funktionsbestimmung ginge diese Analyse weit vorbei. Discours-Narratologie in der Art GENETTEs oder STANZELs ist meiner Ansicht nach ebenfalls nichts anderes als eine Phänomenologie der Erzählformen und ihrer Funktionen. Sie stellt nicht allein Abstraktionsbegriffe zur Verfügung, mit denen man die Faktur von Erzählungen beschreiben kann; ihre Kategorien und insbesondere auch deren systematische Zusammenhänge zielen darüber hinaus wie die der alten Rhetorik auf FormFunktions-Korrelationen. Auch die Narratologie lenkt das Interesse selektiv auf bestimmte Erzählformen und identifiziert sie, weil sie ihnen zugleich Funktionen in der narrativen Praxis zuschreibt; im Prinzip unterscheidet sich das nicht von der eingangs skizzierten antiken Gedankenfigur. Wie jede Phänomenologie ist die narratologische historisch, weil sie das Wahrnehmbare nach kulturspezifischen Kriterien klassifiziert. Vergleichsweise leicht lässt sich deshalb vorführen, dass die Kategorien und ihre Systematik keine ,Universalien‘ darstellen. Sie verdanken ihren Ursprung dem Bezug auf narrative Praktiken, die die Geschichte des europäischen und amerikanischen poetischen Erzählens, vor allem im Roman, seit dem 18. Jahrhundert prägten. Die Differenz zwischen der älteren rhetorischen und der jüngeren narratologischen Phänomenologie des Erzählens beruht meines Erachtens _____________ 27

LIENERT (Anm. 20), S 42f., etwa hält Brief und Ich-Erzählung offenbar eher für eine Strategie des Autors, die Verantwortung für die Wahrheit des Erzählten durch die Präsentation von „Alexanders Perspektive“ (S. 43) von sich abzuweisen. Ich kann eine solche distanzierende Intention nicht in Abrede stellen, möchte aber doch darauf hinweisen, dass die massiven evidentia-Verfahren für einen zeitgenössischen Gelehrten keine erzählperspektivische Relativierung darstellten, sondern den Anspruch auf Glaubhaftigkeit unterstützten. Als Perspektivierung, indes mit einer anderen Zielsetzung, interpretiert die homodiegetische Form auch STOCK (Anm. 22).

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vor allem auf unterschiedlichen Funktionskonzepten. Die rhetorische Art der Reflexion über das Erzählen war in erster Linie von kommunikativen Wirkungskalkülen bestimmt. Die Rhetorik verfuhr dabei mit dem Erzählen nicht anders als mit dem Beschreiben und dem Argumentieren; deshalb kannte sie zwar Reflexionen über das Erzählen, aber keine eigenständige erzählphänomenologische Systematik: Beschreiben lässt sich in der Rhetorik auch als Bestandteil des Erzählens verstehen, und beides dient letzten Endes dem Argumentieren. Dem Erzählen eine eigene Wesenhaftigkeit zuzuschreiben und diese anthropologisch zu dimensionieren, wie es seit Lessings Laokoon zunehmend üblich wurde, war der Rhetorik fremd. Das Funktionskonzept der modernen Narratologie stammt dagegen aus der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, auch wenn die Narratologie selbst ein Kind der Romantheorie des späten 19. Jahrhunderts ist. Mit ,Ästhetik‘ meine ich nicht eine Theorie der Kunst, sondern die der (sogenannten niederen) Erkenntnisvermögen Wahrnehmung und Imagination. Die Funktion von Formen wird im ästhetischen Paradigma nicht als kommunikatives Wirkungskalkül bestimmt, sondern als Repräsentation von Wahrnehmung; Formen werden deshalb als Darstellungsmittel verstanden. In den frühen narratologischen Reflexionen, etwa bei FRIEDRICH SPIELHAGEN in Deutschland oder bei HENRY JAMES in Amerika,28 äußert sich dieses ästhetische Interesse an den Erzählformen in der Dominanz der Frage nach ihrer Objektivität oder Subjektivität. SPIELHAGEN korrelierte diese Unterscheidung mit der Formdifferenz von Er- und IchErzählung, JAMES mit derjenigen von wahrnehmbarer und nicht wahrnehmbarer Erzählinstanz und der darauf beruhenden Dichotomie von telling und showing. Aus der Kombination dieser Kategorisierungen ging STANZELs berühmte Typologie der Erzählsituationen (Ich, auktorial, personal) hervor. Die strukturalistische Narratologie war zwar bemüht, ihre Kategorien von der ästhetischen Genealogie abzulösen, doch blieb das Kategoriensystem, auch bei GENETTE, seinem Ursprung im Grundsatz verhaftet. Allein die ästhetische Herkunft der narratologischen Phänomenologie nämlich erklärt die das gesamte System dominierende Prominenz derjenigen Kategorien, die auf das Verhältnis zwischen Erzählinstanz und erzählter Welt bezogen sind: In der Gestalt von GENETTEs Unterscheidungen zwischen hetero- und homodiegetischem Erzählen und zwischen fokali_____________ 28

FRIEDRICH SPIELHAGEN: Beiträge zur Theorie des Romans, Leipzig 1883; DERS.: Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898; HENRY JAMES: The Art of the Novel: Critical Prefaces, New York 1934. Vgl. dazu GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca germanica 44), S. 12-25.

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siertem und nicht-fokalisiertem Erzählen äußert sich das ebenso wie in den Unterscheidungen, die STANZELs Erzählsituationen zugrunde liegen. Allein wegen der ästhetischen Denkweise avancierten die schillernden Begriffe point of view und Perspektive zu Basiskategorien der Narratologie: Sie sollen in Analogie zur Zentralperspektive der Malerei ein mimetisches Grundprinzip erfassen. Alle diese Kategorien identifizieren Erzählformen anhand der Funktion, den Rezipienten eine bestimmte Wahrnehmung oder Imagination der erzählten Welt zu vermitteln. Alle diese Kategorien gab es in der rhetorischen Reflexion über das Erzählen nicht, weil sie ein Funktionskonzept von Form voraussetzen, das erst die Ästhetik des 18. Jahrhunderts entwickelte.29 Augenscheinlichkeit evozierendes Erzählen im Sinn der evidentia und fokalisiertes Erzählen beispielsweise haben als narrative Praktiken durchaus erhebliche Ähnlichkeiten. In beiden Fällen wird das Geschehen in Gestalt von Wahrnehmungen, Gefühlsregungen, Motiven und Reflexionen einer Figur erzählt; die rhetorische evidentia-Lehre stand einer entsprechenden Explikation auch gar nicht so fern. Die Konzeptionalisierungen in den jeweiligen Reflexionstraditionen sind gleichwohl markant unterschiedlich gedacht, auch wenn sie teilweise ähnlich klingen mögen. Für die Rhetorik waren die evidentia-Formen als Träger eines kommunikativen Wirkungskalküls eine Methode, um den Rezipienten die Erzählung als glaubhaft erscheinen zu lassen; sie hatten eine – letzten Endes argumentative – Belegfunktion. In der ästhetischen Konzeption der Narratologie ist Fokalisierung als Mimesisprinzip eine Methode, um die unhintergehbare Subjektivität des menschlichen Weltverhältnisses darzustellen. Gleichwohl wird in beiden Fällen erzählt, wie Figuren die Welt erleben; die Gemeinsamkeiten der narrativen Praktiken dürfen deshalb ebenso wenig übersehen werden wie die konzeptionellen Unterschiede der historischen Phänomenologien. Einen in Kontinuitätsbegriffen denkbaren historischen Weg von der älteren zur jüngeren Phänomenologie des Erzählens gibt es meiner Überzeugung nach aber nicht, weil die moderne Narratologie von den älteren Reflexionen über das Erzählen durch einen epistemologischen Umbruch getrennt ist.30 Mit der Unterscheidung zwischen Mittelalter und _____________ 29 30

Vgl. zusammenfassend und mit Literaturhinweisen KLAUS STÄDTKE: Form. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 462-494. Anders SOLBACH (Anm. 11), insbes. S. 116-153, der an eine lediglich verdeckte Abhängigkeit moderner narratologischer Kategorien von der rhetorischen Tradition glaubt; die Kategorienpaare diegesis-mimesis, telling-showing und narration-description rückt er deshalb eng zusammen. Verräterisch scheinen mir indes Sätze wie „Allerdings entkleidet er [GENETTE] die Kategorie [description] ihrer persuasiven rhetorischen Funktion und reduziert sie damit auf die reine Objektbeschreibung“ (S. 118); genau dies zeigt eben den Unterschied zwischen Rhetorik und Ästhetik. Die massiven Differenzen zwischen den Kategoriensystemen und das Fehlen aller modernen narratologischen Leitkategorien in der alten rhetorischen

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Neuzeit hat er nur bedingt zu tun, weil er im 18. Jahrhundert – allerdings nach einer längeren Anlaufzeit im 16. und 17. – stattfand. Immerhin – diese Relativierung soll nicht verschwiegen werden – sind auch auf der Ebene der Reflexionstraditionen Abstraktionsniveaus denkbar, auf denen das im Konkreteren Unterscheidungswürdige konvergiert. Wenn man bei den antiken Rhetorikern liest, dass es ein auf das Geschehen und ein auf die Personen konzentriertes Erzählen gibt, und wenn die rhetorische narratio-Lehre auf dem Prinzip der Parteilichkeit geradezu aufbaut, dann kann man sich schon fragen, ob das Erzählen vom Standpunkt einer Figur aus nicht einem sehr alten Gedanken entspringt. Indes wäre dieser Gedanke trotz seines Alters weder eine Selbstverständlichkeit noch eine Universalie, sondern ein Produkt antiker Praktiken und Wissensordnungen. Umgekehrt gibt es unter den modernen Erzähltheoretikern mindestens einen, der wenigstens zum Teil an der Ästhetik vorbei Elemente der alten rhetorischen Denkweise aufgriff und das auch im Titel seines Buchs anzeigte: ‚The Rhetoric of Fiction‘ von WAYNE BOOTH blieb aus diesem Grund ein zwar weithin beachteter, aber doch nicht bruchlos integrierbarer Sonderling in der modernen Narratologie.31 Anders als bei der Geschichte der Erzählphänomenologien scheint mir bei der Geschichte der narrativen Praktiken der Versuch angemessen, ja sogar geboten, in Kategorien sich wandelnder Kontinuitäten zu denken. Einen historischen Weg, wenn auch einen verschlungenen, vom Apparat der evidentia-Formen zu demjenigen der Fokalisierungstechniken gibt es wahrscheinlich. Eine berühmte und historisch ziemlich gut identifizierbare Gelenkstelle sind beispielsweise die Schelmenromane des 16. und 17. Jahrhunderts, deren evidentia-Techniken einige Zeitgenossen nachweislich als solche erkannten.32 Der moderne Begriff Fokalisierung könnte ihre Funktion gleichwohl durchaus adäquat treffen, insofern sie der Inszenierung des erlebenden Ichs dienen und dessen Differenzierung gegenüber dem erzählenden Ich das sinnkonstitutive Erzählverfahren darstellt.33 Aparterweise war die erzähltechnische Differenzierung aber das Produkt einer _____________

31 32 33

Erzählphänomenologie kann man meines Erachtens nicht einfach ignorieren. – Den epistemologischen Paradigmenwechsel beschreibt RÜDIGER CAMPE: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990. WAYNE C. BOOTH: The Rhetoric of Fiction, Chicago, London 1961. SOLBACH (Anm. 11), insbes. S. 75-97. Die Konstellation ist ebenfalls ein Produkt der gelehrten europäischen Erzähltraditionen, denn sie hat ein Vorbild in den spätantiken Ich-Romanen (Petronius’ Satyricon und Apuleius’ Goldener Esel), deren narrative Faktur in der klassischen Philologie längst mit den Begriffen moderner Narratologie beschrieben wird; vgl. etwa BERND EFFE: Entstehung und Funktion ‚personaler‘ Erzählweisen in der Erzählliteratur der Antike. In: Poetica 7 (1975), S. 135-157; JOHN J. WINKLER: Auctor & Actor. A narratological reading of Apuleius’ Golden Ass, Berkeley 1985.

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völlig traditionellen Denkfigur, denn das erlebende Ich (und mit ihm die evidentia) sollte die delectatio, das erzählende die Belehrung besorgen. Hier gebiert das rhetorische Prinzip gewissermaßen ein ästhetisches, nämlich eine Art narrativer Perspektive. Für die weitere Geschichte der narrativen Praktiken im modernen Roman spielten die auf den alten evidentiaTechniken beruhenden Perspektivierungsverfahren des Schelmenromans dann bekanntlich keine geringe Vorbildrolle. Die Relation zwischen den möglichen Kontinuitäten der narrativen Praktiken und den Differenzen der Reflexionstraditionen führt zu der wichtigen Frage, mittels welcher der Phänomenologien wir Erzählformen und ihre Funktionen in älteren Texten identifizieren können (oder sollten). Meines Erachtens ist es vorteilhaft, dabei unterschiedliche Konstellationen zu beachten. In keinem Fall jedoch lässt sich die simple semiotische Einsicht hintergehen, dass Zusammenhänge zwischen Formen und Funktionen im Reich der Zeichen gewöhnlich historische Phänomene sind. Diese mögen mehr oder weniger leicht erkennbar und mehr oder weniger dauerhaft sein; sie sind aber keine Universalien, die Gegenstand einer ‚Theorie‘ des Erzählens sein könnten. Funktionen von Erzählformen sind nur durch historische Hermeneutik, und das heißt weder mit rhetorischen noch mit narratologischen Mitteln allein, erkennbar zu machen. Rhetorik und Narratologie bieten aber Heuristiken, auf die zu verzichten unklug wäre, weil ohne eine Phänomenologie kaum etwas geht. Am wenigsten problematisch ist eine erste von drei Form-FunktionsKonstellationen, zu deren Unterscheidung ich raten möchte. Es ist die anhand des Straßburger Alexander beschriebene. Hier lassen sich sowohl die Formen als auch die Funktionen zumindest teilweise anhand der historischen Reflexionstradition bestimmen. Dass die Formen ihre Funktion aber im konkreten Fall gemäß der zeitgenössischen Lehre erfüllen, kann nur durch Interpretation plausibel gemacht werden, und auch in diesem Fall wird die Interpretation darauf achten, ob die Praxis nicht doch über die zeitgenössische Lehre hinausgeht. Konstellationen wie die im Straßburger Alexander eröffnen im Übrigen die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der älteren und der modernen Kategorienbildung erkennbar zu machen. Dies scheint mir ausgesprochen wichtig zu sein, denn nur wo ältere Phänomenologien rekonstruierbar sind, lässt sich ein begründetes Urteil darüber fällen, wie es konkret – und nicht nur auf dem manchmal etwas wohlfeilen Niveau generalisierter Alteritätsbehauptungen – um das Verhältnis zwischen neueren Phänomenologien und älteren Praktiken steht. Bei der zweiten, problematischeren Konstellation lassen sich zwar die Formen, nicht aber die Funktionen anhand der historischen Reflexionstradition identifizieren. So verhält es sich etwa, wenn höfische Romane

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evidentia-Formen einsetzen, ohne dass ihre Funktion im konkreten Zusammenhang mit dem Rückgriff auf die Rhetorik plausibel zu erklären wäre. Chrétien de Troyes etwa legt seinem Ich-Erzähler Calogrenant im Yvain eingangs sogar den Augenzeugentopos in den Mund,34 ehe dieser eine Erzählung von sich gibt, die erkennbar aus dem Arsenal der evidentiaLehre schöpft. Die Glaubhaftigkeit von Calogrenants Geschichte spielt im Handlungsverlauf selbst aber gar keine Rolle, weil sie nie in Frage steht, und sie konnte gewiss auch keinen Faktizitätsanspruch des Gesamttextes belegen: Die Funktionalität von Alexanders Brieferzählung beruht darauf, dass Alexanders Existenz als sicher galt; wenn Calogrenants Existenz zweifelhaft war, ließ sie sich nicht durch eine ihm zugeschriebene IchErzählung beglaubigen. Wohl aber spielt für den Handlungsverlauf eine Rolle, wie Calogrenant in seiner Erzählung kategorisiert und beurteilt, was er erlebt hat; und wenn Hartmann von Aue diese Kategorisierungen und Urteile zu Beginn der anschließenden heterodiegetischen Erzählung über Iweins Handlungsweise am Brunnen in die Erzählerrede übernimmt, obwohl der heterodiegetische Erzähler im Gegensatz zu Calogrenant über das Brunnenreich Bescheid weiß, ist das für die Geschichte der narrativen Praktiken von erheblicher Bedeutung. Die Erzählform dient hier weder als Beglaubigungsstrategie noch als Mimesisprinzip; sie dient dazu, den Standpunkt einer Figur passagenweise zu privilegieren, um den Rezipienten ein bestimmtes Urteil über die Handlungsweise der Figur nahezulegen.35 Denn die Erzählung führt in dieser Episode ausdrücklich vor, wie ein und dieselbe Handlung auf unterschiedliche Weise beurteilt wird, nämlich von einem Standpunkt aus als ritterlicher Kampf um Ehre und von einem zweiten Standpunkt aus als Rechtsbruch, und das Erzählverfahren bringt diese Standpunkte so zur Geltung, dass beide von der jeweiligen Situation der Figuren abhängig bleiben und keiner den andern eindeutig hierarchisieren kann. Wer die narrativen Praktiken in dieser Passage als evidentia bezeichnet, löst den Formbegriff von seiner rhetorischen Funktionsbestimmung ab; dabei wird der Form-FunktionsZusammenhang getrennt, der den historischen Begriff eigentlich konstituiert. Wer sie als Fokalisierung bezeichnet, kann die mit dem Begriff verbundene ästhetische Funktionsbestimmung nicht einfach aufrecht erhalten; auch in diesem Fall wird der den Begriff konstituierende FormFunktions-Zusammenhang getrennt. Die Rede von Fokalisierungstechniken in höfischen Romanen hat meiner anhaltenden Überzeugung nach einen Erkenntniswert, weil sie narrative Praktiken identifiziert, deren – gewiss komplizierte – historische _____________ 34 35

Chrétien de Troyes: Yvain. Übers. u. eingeleitet von ILSE NOLTING-HAUFF, München 1983, V. 169-174. HÜBNER (Anm. 27), S. 122-201.

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Tradition von der Antike bis in die Gegenwart reicht und deren Funktionen nicht mit der evidentia-Lehre erklärbar sind. Wer jedoch von Fokalisierungstechniken im höfischen Roman redet, muss bereit sein, ihre Funktionen gerade auch dort, wo die evidentia-Lehre nicht greift, im Rahmen jener grundsätzlichen rhetorischen Denkweise zu bestimmen, die die gelehrten Dichter höfischer Romane in der Schule erlernten. Dass ihre Erzählungen den Rezipienten möglicherweise die Standpunktabhängigkeit von Bewertungen nahe bringen wollten und in diesem Zusammenhang Konzepte anvisierten, die wir heute begrifflich mit Relativismus und Subjektivierung in Verbindung bringen können, verträgt sich damit meines Erachtens durchaus. Diejenige Form-Funktions-Korrelation höfischer Romane, bei der evidentia-Formen jenseits ihrer traditionellen Funktion eingesetzt sind, erbrächte dann im Rahmen des rhetorischen Denkens eine Leistung, die in mancher, aber nicht in jeder Hinsicht derjenigen ähnelt, die die Form-Funktions-Korrelation Fokalisierung im Rahmen des ästhetischen Denkens erbringt. Die Traditionen der historischen Praktiken und die Differenzen der historischen Phänomenologien könnten also in Fällen wie diesen zu ihrem jeweiligen Recht kommen, wenn man Erzählformen in höfischen Romanen als Mittel der Rezeptionslenkung und nicht als Darstellungsmethoden versteht. Erzählen bei Chrétien oder Hartmann ist eben eher keine Mimesis, sondern eher Rhetorik in dem Sinn, dass der Textproduzent mit bestimmten Formen bestimmte Wirkungen auf das Urteil der Rezipienten zu erzielen versucht. Deshalb ist das Erzählen vom Standpunkt einer Figur aus im höfischen Roman auch stets etwas nur passagenweise Eingesetztes und keine Darstellungskonvention, die dem Gesamttext eine Art Zentralperspektive verleihen würde. Besonders problematisch ist eine dritte Konstellation, bei der uns die moderne Narratologie Erzählformen wahrnehmen lässt, die in der historischen Reflexionstradition nicht vorkommen. Solche Fälle werfen Grundsatzfragen auf, die schnell die Möglichkeiten und Grenzen jeder Art von historischer Erkenntnis betreffen. Ich möchte gleichwohl dazu raten, den Verführungen epistemologischer Metaphysik zu widerstehen und stattdessen lieber anhand konkreter Fälle auf historisches Material bezogene Argumentationen zu entwickeln. Die Erkennbarkeit älterer Forminventare mag Grenzen haben; dass sie nicht für alle Bereiche älterer narrativer Praxis prinzipiell in Abrede zu stellen ist, will ich mit einem – in interessierten Kreisen bekannten – Beispiel kurz illustrieren.36 _____________ 36

Vgl. dazu KARIN TRIMBORN: Syntaktisch-stilistische Untersuchungen zu Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein. Ein textlinguistischer Vergleich, Berlin 1985 (Philologische Studien und Quellen 103), S. 188f.

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Chrétien de Troyes erzählt gern im Präsens. Wenn er in solchen Passagen Reflexionen von Figuren anführt, benutzt er oft referierte Rede ohne lexikalische und grammatische Indizierung, also ohne voran- oder nachgestelltes Kognitionsverb und ohne Konjunktivformen innerhalb der referierten Rede.37 Heute heißt diese Ausdrucksweise, ob im Präteritum oder im Präsens, style indirect libre und beansprucht eine gewisse narratologische Prominenz. (Wenn sich auch im Deutschen die Bezeichnung ‚freie indirekte Rede‘ anstelle des mysteriösen Begriffs ‚erlebte Rede‘ durchgesetzt hätte, würden wir das Phänomen wahrscheinlich für weniger aufregend halten.) Können wir wissen, dass man diese Form, trotz der fehlenden Indizierung, zu Chrétiens Zeit tatsächlich als autokommunikative Figurenrede statt als Erzählerrede zu verstehen vermochte und dass diese Unterscheidung den Zeitgenossen nicht einfach egal war? Mit anderen Worten: Können wir ein historisches Formbewusstsein unterstellen, dessen Kategorien sicher nicht vollständig mit unseren übereinstimmen, dessen Differenzierungsmöglichkeiten aber ähnlich weit reichen? In diesem Fall können wir das aus zwei Gründen: Erstens gibt Hartmann von Aue, der nicht im Präsens erzählt, diese Passagen gewöhnlich als indirekte Rede im Konjunktiv und mit einleitendem Kognitionsverb wieder. Hartmann war als Rezipient und Bearbeiter Chrétiens genötigt, dessen Ausdrucksform in irgendeiner Weise zu verstehen, und seine Bearbeitung dokumentiert, dass er sie als Rede der Figur mit sich selbst verstand. Zweitens gibt es in der Überlieferung von Chrétiens Yvain den Fall, dass dieselbe Passage in einer Handschrift im style indirect libre und in einer anderen als Figurenmonolog präsentiert ist.38 Hier lässt sich ein Bewusstsein der funktionalen Äquivalenz unterschiedlicher Formen greifen, wobei die eine gegenüber der anderen offenbar den Vorteil größerer Deutlichkeit hat. Das angeführte Beispiel bestätigt zunächst einmal, dass das Inventar der im 12. und 13. Jahrhundert zur Verfügung stehenden Erzählformen von der rhetorischen Reflexionstradition alles andere als umfassend kategorisiert wurde. Auch gelehrte Dichter haben weit mehr als das praktiziert, was sie im Schulunterricht lernten. Ältere narrative Praktiken sind deshalb ebenso wenig allein mit den Kategorien der älteren Reflexionstradition zu erklären, wie der historische Erkenntniswert der älteren Reflexionstradition bloß nebensächlich ist. Die heuristischen Potentiale der modernen Erzählphänomenologien sind aus diesem Grund kaum verzichtbar. _____________ 37

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Zu diesem und benachbarten Phänomenen in der altfranzösischen Epik vgl. neben TRIMBORN (Anm. 36) vor allem JEAN RYCHNER: La narration des sentiments, des pensées et des discours dans quelques œuvres des XIIe et XIIIe siècles, Genf 1990 (Publications romanes et françaises 192). TRIMBORN (Anm. 36).

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Fälle von der Art des angeführten Beispiels rechtfertigen meines Erachtens indes zugleich die Annahme, dass man das Inventar der Erzählformen in französischen und deutschen höfischen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts auch in jenen Bereichen, die die Rhetorik nicht erfasst hat, zumindest teilweise identifizieren kann. Ermöglicht wird dies durch die produktionsseitige Schriftlichkeit, die Prinzipien der Vorlagenbearbeitung und die intertextuellen Bezüge innerhalb der historischen Textreihen. Konstanten und Veränderungen des Formeninventars sind erkennbar, wo Verfasser nicht einfach einen Stoff – im Sinn des modernen, abstrakten Stoffbegriffs – ,wiedererzählen‘, sondern konkrete Schrifttexte zur Vorlage nehmen und bearbeiten, denn das Verhältnis zwischen Vorlage und Bearbeitung zeigt uns historische Optionen auf der Ebene der narrativen Vermittlungsformen. In diesem Zusammenhang sollte, nebenbei bemerkt, die Unschärfe des zeitgenössischen, etwa in den mittellateinischen Poetiken benutzten materia-Begriffs nicht übersehen werden, der oft eine konkrete sprachliche Entität zu meinen scheint.39 Viele Techniken der tractatio materiae unterstellen jedenfalls die faktische Existenz einer konkreten Textvorlage: Bearbeitet wird der Stoff in der Gestalt eines Textes oder vielleicht auch mehrerer Texte, nicht in der Gestalt eines diffusen Gedächtnisinhalts. Die am historischen Material beobachtbaren Verfahrensweisen der Textbearbeitung sollten meiner Überzeugung nach überall dort, wo das möglich ist, die Basis für die Identifikation von Erzählformen sein. Nicht dagegen sollten wir die Phänomenologie narrativer Praktiken höfischer Romane auf Mutmaßungen über die Rezeptionskompetenzen laienadeliger Hörer oder Leser, ihre hypothetischen Weltbilder, Mentalitäten und Einstellungsmuster oder gar auf großräumige Epochenklischees geistes-, sozialoder kulturgeschichtlicher Provenienz gründen. Unter den Bedingungen produktionsseitiger Schriftlichkeit, wie sie im höfischen Roman herrscht, sind narrative Praktiken das, was Textproduzenten machen; zwar auf der Grundlage von Wirkungskalkülen, aber eben von Kalkülen der Produzenten. Das Interesse für Erzählverfahren impliziert eine produktionstechnische Analyseperspektive, die die Quellenlage im Fall des höfischen Romans auch halbwegs ermöglicht. Die Erkenntnisse, die man dabei gewinnt, lassen sich selbstverständlich nicht auf ,mittelalterliches Erzählen‘ im Allgemeinen generalisieren; so etwas hat es aber ohnehin nie gegeben. Ich will gern einräumen, dass mein Standpunkt die Überzeugung voraussetzt, dass ein – sicher komplizierter – Traditionszusammenhang existiert, der Platon, Cicero, den Verfasser des Straßburger Alexander, Chrétien de Troyes, Henry James und GÉRARD GENETTE (und mich) _____________ 39

Vgl. dazu SCHMITZ (Anm. 6), S. 249-253.

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historisch miteinander verbindet. Gewiss waren nicht alle Wissensbestände zu jeder Zeit in gleicher Weise verfügbar; gewiss wurden nicht alle Wissensbestände zu jeder Zeit in gleicher Weise verstanden. Die narrativen Praktiken jener ,mittelalterlichen‘ Verfasser, die Zugang zur lateinischen Bildungstradition hatten, können uns jedoch nicht völlig fremd sein. Ich bin nicht sicher, ob in deutscher Sprache tatsächlich etwas ganz jenseits dieser Tradition Stehendes überliefert ist; wenn dem so wäre, wäre meine gesamte Argumentation darauf wohl nicht anwendbar. IV. Discours-Verfahren und Wissensordnungen Es gibt nicht nur in der germanistischen Mediävistik eine schon etwas in die Jahre gekommene, aber anhaltend massive Neigung, die Bedeutung der Rhetorik ‚im Mittelalter‘ für eine vorrangig, wenn nicht sogar ausschließlich technologisch-formale zu halten.40 Als Begründung dafür dienen die – nicht sehr zahlreichen – Quellen zur Unterrichtspraxis, das inhaltliche Profil mittelalterlicher Predigt-, Brief- und Dichtungslehren sowie nicht zuletzt die selektive Rezeption und Kommentierung der antiken Quellen: Verbreitete Basis des Unterrichts waren die ‚technographischen‘ römischen Rhetoriklehrbücher – voran die Rhetorica ad Herennium und Ciceros De inventione –, die in den mittelalterlichen Schulen allem Anschein nach als Kompendien formaler Textproduktions- und Textbearbeitungsregeln verstanden wurden. Diejenigen antiken Rhetoriken, die auf der Grundlage explizit thematisierter anthropologischer Konzeptionen einen dezidierten Bildungsanspruch verfolgen – voran Ciceros Traktat De oratore und Quintilians Institutio oratoria –, blieben dagegen entweder ganz unbekannt oder gewannen auf die mittelalterliche Unterrichtstradition keinen hinreichend wirkungsvollen Einfluss; die Konsequenzen ihrer Wiederentdeckung konstituieren deshalb geradezu den Unterschied zwischen mittelalterlicher und humanistischer Rhetorik.41 _____________ 40

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Für eine grundsätzliche Revision dieser Einschätzung, die er zu diesem Zweck auch einschlägig belegt, plädiert PETER VON MOOS: Rhetorik, Dialektik und civilis scientia im Hochmittelalter. In: Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter. Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit, vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert. Hrsg. von JOHANNES FRIED, München 1997 (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 27), S. 133-155. Vgl. zusammenfassend JOACHIM KNAPE: ‚Mittelalter‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 1372-1384, hier insbes. Sp. 1371: die Rhetorik sei „im Unterricht meistens nur ein auf Figurenlehre konzentriertes Anhängsel der Grammatik oder eine argumentationstheoretische Dienerin der scholastischen Logik/Dialektik“ geblieben.

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Der ideengeschichtliche Geltungsanspruch dieser Einschätzung soll hier nicht prinzipiell in Zweifel gezogen werden. Meiner Ansicht nach verstellt sie jedoch den Blick für bestimmte diskursgeschichtliche Implikationen, die die Rezeption und Fortentwicklung antiken Rhetorikwissens vor allem seit dem 12. Jahrhundert hatten. Dass gerade die Geschichte der Erzählverfahren Anlass bieten könnte, ein differenzierteres Bild von der Bedeutung der rhetorischen Tradition zu entfalten, soll zum Schluss wenigstens angedeutet werden. Die rhetorische narratio-Lehre transportierte nämlich auch in der gewiss technologisch orientierten Gestalt jener antiken Traktate, die den mittelalterlichen Unterricht beherrschten und auf deren Informationspotentiale ich mich deshalb bei meinen obigen Überlegungen beschränkt habe, bestimmte Vorstellungen vom menschlichen Handeln – man könnte auch mit einem etwas umfassenderen Anspruch sagen: vom menschlichen Weltverhältnis –, die zumindest Bestandteile einer anthropologischen Konzeption implizieren. Die Rhetorik hatte deshalb als historische Wissensordnung nicht allein Textproduktionstechniken zum Inhalt, sondern darüber hinaus Fragmente einer Anthropologie. So bot die narratio-Lehre beispielsweise nicht einfach nur die technische Anleitung, dass Erzählungen durch bestimmte formale Kunstgriffe an Plausibilität und damit faktischem Geltungsanspruch gewinnen; sie implizierte stets zugleich, dass Plausibilität durch den Bezug auf bestimmte topische Vorstellungen vom menschlichen Handeln in der Welt hergestellt wird. Wenn die Rhetorik lehrte, dass Erzählungen durch die Angabe von Handlungsgründen und -zielen plausibel werden, unterstellte – und vermittelte – sie dabei immer auch, dass Handlungen in erster Linie Konsequenzen von Gründen und Zielen der handelnden Einzelperson sind. Dass die persönliche Zurechenbarkeit von Handlungen und ihren Folgen das gesamte Profil der rhetorischen narratio-Lehre bestimmte, liegt natürlich am ursprünglichen Bezug ihres Kategoriensystems auf die antike Gerichts- und Ratsversammlungspraxis; die Generalisierung der Rhetorik über ihre anfänglichen Lebenssitze hinaus hat indes dieses Kategoriensystem nicht wesentlich verändert. Die narratio-Lehre war keine rein formale Technik, weil ihr Funktionieren vom Bezug auf Topoi abhing, die Bestandteil einer den Ursprüngen der Rhetorik entstammenden anthropologischen Episteme waren. Dass die Textbearbeitungsverfahren, die die rhetorische Lehrtradition vermittelte, trotz ihres technologischen Charakters keine ‚neutrale‘ Relation zu historischen Ordnungen des Wissens vom menschlichen Weltverhältnis haben, wirkt sich ziemlich direkt auf bestimmte Profile des von diesen Bearbeitungsverfahren beeinflussten narrativen discours aus. Eine zu erzählende Geschichte mag zum Beispiel infolge einer entsprechenden

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Stofftradition noch so massiv durch Finalmotivierung konstituiert sein – einen gelehrten Dichter, der die rhetorischen narratio-Techniken erlernt hatte, wird gleichwohl die habituell mehr oder weniger stark verfestigte Neigung geleitet haben, das Handeln seiner Figuren durch Affekte und Kalküle, Gründe und Intentionen kausal zu motivieren. Wer dies tat, führte als Implikation seiner Bearbeitungstechniken womöglich Reflexe einer Anthropologie in das Strukturgefüge seiner Erzählung ein, die weder einfach aus der auf der histoire-Ebene codierten hervorging noch bruchlos mit ihr übereinstimmte. Bei höfischen Erzählungen, die auf – ihrerseits schon von produktionsseitiger Schriftlichkeit geprägten – antiken Vorlagen beruhen, werden sich Differenzen zwischen den Sinnangeboten von histoire und discours vielleicht in Grenzen halten, weil Geschichte und Vermittlungstechniken gemeinsame historische Wurzeln haben. Gerade beim Straßburger Alexander kann man beispielsweise beobachten, wie die anthropologischen Implikationen mancher narrativer Verfahrensweisen, die der gelehrte Bearbeiter einsetzt, mit den anthropologischen Implikationen der Figuren- und Handlungskonstruktion harmonieren, die erheblich von den antiken Quellen beeinflusst ist.42 Bei höfischen Erzählungen, die auf anderen – etwa keltischen, zudem von Mündlichkeit geprägten – Stofftraditionen gründen, könnte die schriftliche Bearbeitung mit narratio-Verfahren aus der rhetorischen Tradition dagegen durchaus Konfrontationen heterogener Wissensordnungen nach sich ziehen, so dass die im discours codierten Sinnangebote den in der histoire codierten nicht entsprechen. Das – unter den historischen Bedingungen für volkssprachliches höfisches Erzählen im 12. und 13. Jahrhundert alles andere als einfache – Verhältnis zwischen den Sinnpotentialen einer überlieferten Geschichte und den Sinnkonstruktionen, die die konkrete Bearbeitung in Gestalt des discours tatsächlich errichtet, hat im Übrigen ein Pendant im Verhältnis zwischen Erzählungen und den ihnen zugewiesenen kulturellen Funktionen. Dichter höfischer Romane zeichnete eine habituelle Neigung aus, ihren Texten nicht nur in Prologen und Epilogen, sondern generell in der Entfaltung einer kommentierenden Erzählerstimme eine exemplarische Funktion zuzusprechen. Besonders pointiert formulierte diese Position ausgerechnet der unbekannte Autor des altfranzösischen PartonopeuRomans, bei dem sich die histoire als Substrat einer exemplarischen Deutung nun wirklich nicht gerade aufdrängt, in seinem Prolog; ich zitiere nur einen kurzen Ausschnitt aus der längeren Passage:43 _____________ 42 43

GERT HÜBNER: Kognition und Handeln im Vorauer Alexander, im Straßburger Alexander und im König Rother. In: Archiv 242 (2005), S. 241-258. Le Roman de Partonopeu de Blois. Édition, traduction et introduction de la rédaction A (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, 2986) et de la Continuation du récit d’après les manuscrits de

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Car nus escris n’est tant frarins, Nis de fables as sarasins, Dont on ne puisse exemple traire Del mal laissier et del bien faire. En nul escrit n’a nule rien Ne senefit u mal u bien; Li maus i est que l’on eschiut, Li biens que on en bien l’aliut. Mal e bien i doit l’on trover Por connoistre et por deviser. Denn keine Schrift ist so minderwertig, / auch nicht die erfundenen Geschichten der Heiden, / dass man nicht ein Beispiel daraus ziehen könnte, / um das Schlechte zu unterlassen und das Gute zu tun. / In keiner Schrift gibt es irgendetwas, / das nicht auf das Schlechte oder das Gute verweist; / das Schlechte steht da, damit man es flieht, / das Gute, damit man ihm im Guten folgt. / Schlechtes und Gutes muss man dort finden, / um es erkennen und unterscheiden zu lernen.

Es wäre viel zu simpel, dies für leerlaufende Prologtopik zu halten, die keinen Geltungsanspruch für das Verständnis der erzählten Geschichte erheben kann, weil ein gelehrter Dichter das schwer zu Rechtfertigende, offensichtlich an dessen Eigenschaften vorbei, mit stereotypen Argumenten zu rechtfertigen versucht. Natürlich kann man zeigen, wo und weshalb sich gerade die Partonopeu-Geschichte der Funktion entzieht, Generalisierungen exemplarisch zu belegen; man kann aber ebenso zeigen, wo und wie der gelehrte Dichter mit seiner Bearbeitung dem Prinzip zur Geltung verhilft, auf das Befolgen von Normen den Erfolg des Handelnden und auf ihre Missachtung den Misserfolg folgen zu lassen. Mit der Durchsetzung dieses Prinzips werden Zusammenhänge hergestellt, die ihrerseits Regeln exemplifizieren, nach denen menschliches Handeln in der Welt einer bestimmten (aber womöglich keineswegs der einzigen) zeitgenössischen Vorstellung nach funktioniert. Zur Episteme, die dem exemplarischen Erzählen seine funktionale Sinnhaftigkeit verleiht, gehört insbesondere, dass bei diesen Regeln nicht zwischen empirischen und normativen unterschieden, sondern im Gegenteil eine grundsätzliche Kausalität zwischen Sollen und Sein vorausgesetzt wird (Swer an rehte güete / wendet sîn gemüete, / dem volget saelde und êre, V. 1-3: „Wenn einer sein Inneres auf das wirklich Gute richtet, kommt er zu Glück und Ansehen.“44). Exemplarisches Erzählen einfach für ‚moraldi_____________ 44

Berne (Burgerbibliothek, 113) et de Tours (Bibliothèque municipale, 939) par OLIVIER COLLET/PIERRE-MARIE JORIS, Paris 2005, V. 103-112. Hartmanns Iwein-Prolog zitiert nach: Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. und übers. v. VOLKER MERTENS, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek deutscher Klassiker 189. Bibliothek des Mittelalters 6), S. 318.

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daktisch‘ zu halten, ist ein trivialisierendes modernes Missverständnis; im Kontext seiner eigenen Episteme macht es die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten einer Welt erkennbar, in der das Sollen Teil des Seins ist. Deshalb exemplifizieren faktisch ‚wahre‘ Geschichten das Allgemeingültige sicherer als erfundene; deshalb hat eine fable – eine erfundene Geschichte – dann ihre Berechtigung, wenn ein gelehrter Bearbeiter und seine Rezipienten ihren exemplarischen Erkenntniswert für das Allgemeingültige ‚herausziehen‘, wie es der Partonopeu-Dichter in der zitierten Prologpassage nennt (exemple traire; auf die Ähnlichkeit mit Chrétiens aus dem conte ebenfalls ‚herausgezogener‘ conjointure sei nur am Rand hingewiesen). Die Wissensordnung, auf die sich exemplarisches Erzählen einerseits bezieht und die andererseits Dichtern die Neigung nahelegt, Erzählungen eine exemplarische Funktion zuzuweisen, blieb als unmittelbarer Bestandteil der rhetorischen Tradition erhalten. Ihr technologischer Aspekt besteht darin, dass Erzählungen für die Rhetorik – ein Erbe der ursprünglichen Lebenssitze in Gericht und Ratsversammlung – letzten Endes stets Argumente sind, die Behauptungen belegen. Davon nicht ablösbar ist jedoch eine anthropologische Implikation, denn Erzählungen können nur dann argumentativ funktionalisierte Belege für Behauptungen sein, wenn unterstellt wird, dass menschliches Handeln in erzählter wie realer Welt von regelhaften Kausalitäten (oder zumindest berechenbaren Wahrscheinlichkeiten) beherrscht wird. Erzählungen, die über den Einzelfall hinaus gültige Wahrheiten belegen sollen, müssen deshalb auf Kausalmotivierung setzen. Finalmotivierung ist dagegen für Exemplarik kaum zu gebrauchen, denn sie verleiht einem Geschehen Sinn durch seine vom Ergebnis her determinierte Zielgerichtetheit als Einzelvorgang, nicht durch seine Generalisierbarkeit. Ich will mit diesen Bemerkungen keineswegs die Einschätzung propagieren, dass sich die Sinnkonstruktionen höfischer Romane im schlichten exemplarischen Prinzip generalisierungsfähiger Tun-Ergehen-Zusammenhänge erschöpfen; aber auch in den keineswegs seltenen Fällen, in denen sich die Dichter an diesem Prinzip abarbeiten, es verkomplizieren oder gar unterlaufen, setzen sie es als Bezugshorizont voraus. Ebenso fern liegt mir die Behauptung, dass die teilweise final motivierten Plots höfischer Romane keine konstitutive Rolle für das historische Faszinationspotential der Texte und für ihre Sinnkonstruktionen spielen würden; es geht mir allein darum, dass eigenständige und möglicherweise einem Plot gegenläufige Bedeutungsangebote ins Spiel kamen, sobald rhetorische Bearbeitungsoperationen stattfanden. Diese freilich konstituierten das Selbstverständnis gelehrter Dichter in einem erheblichen Ausmaß. Rhetorischen Verfahrensweisen liegt eine von antiken Rationalitätsstandards geprägte Anthropologie zugrunde, die sich nicht einfach suspendieren

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lässt. Noch das technologische Verständnis der Rhetorik bewahrt Elemente dieser Anthropologie, weil es selbst zu ihren Folgen gehört. Deshalb implizieren die narrativen Verfahrensweisen, die der Rhetorikunterricht überlieferte, eigene Sinnpotentiale. So stellt auch die evidentia-Lehre keine rein formale, jedem Inhalt gegenüber indifferente Plausibilisierungstechnik zur Verfügung; sie umfasst zugleich eine inhaltliche Bestimmung des Plausiblen in Gestalt einer Topik. Sie leitet nicht dazu an, menschliches Handeln durch ‚Motivation von hinten‘, durch die göttliche Providenz oder durch Ritualkonformität zu plausibilisieren, sondern durch die Ableitung aus der mentalen Innenwelt des Einzelnen. Wer evidentia-Verfahren einsetzt, bekommt eine Tendenz nahegelegt, menschliches Handeln als Konsequenz von Wahrnehmungen, Affekten, Reflexionen und Intentionen darzustellen, und muss deshalb dann auch die Wahrnehmungen, Affekte, Reflexionen und Intentionen von Figuren erzählen. Dass der Einzelne dabei als Subjekt seines Handelns erscheint, ist eine Folge der anthropologischen Implikationen rhetorischen Wissens. Was wir aufgrund unserer modernen Kategorien, wegen der Kontinuitäten der narrativen Praktiken aber vielleicht trotzdem mit einem gewissen Recht, als Elemente ‚personaler‘ Erzählweisen in höfischen Romanen wahrnehmen, ist sicher nicht zur Gänze, aber auch nicht in geringem Ausmaß eine Aktualisierung der Potentiale rhetorischer Lehrtradition; was wir dabei, vielleicht ebenfalls mit einem gewissen Recht, als Modernität wahrnehmen, ist wenigstens zum Teil eine historische Konsequenz von Antikenrezeption. Dass solche narrativen Praktiken und die von ihnen getragenen Sinnangebote im 12. und 13. Jahrhundert virulent wurden, lag gewiss an Interessenlagen der – keineswegs rein ‚laikalen‘ – Hofkultur; eine Voraussetzung dafür war jedoch der zeitgenössische Unterricht in den klerikalen Schulen, ohne den höfische Dichter nicht jene Kompetenzen der Textbearbeitung hätten erwerben können, über die sie offensichtlich verfügten. Gerade für eine historisch adäquate Erzählphänomenologie des höfischen Romans hängt meiner Überzeugung nach viel davon ab, ob es gelingt, die Sinnimplikationen des discours im konkreten Fall jeweils nicht einfach aus denjenigen der histoire abzuleiten, sondern ihre historisch bedingte Eigenständigkeit zu beachten.45 Womöglich würde dann zuneh_____________ 45

Zusammenhänge zwischen histoire-Phänomenen höfischer Romane und historischem, insbesondere theologischem Wissen erwägt UTA STÖRMER-CAYSA: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007 (de Gruyter Studienbuch). Was die ‚personalen‘ Tendenzen einiger histoire-Phänomene anbelangt, meine ich eine zumindest partielle Kompatibilität mit meinen Überlegungen wahrzunehmen; das liegt gewiss nicht zuletzt daran, dass die Theologie ebenfalls antikes Wissen bewahrte und fortentwickelte.

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mend deutlich, dass sich manche zukunftsweisenden Aspekte höfischer Romane anthropologischen Konzeptionen verdanken, die Implikationen rhetorischer Verfahrensweisen waren. Damit einherzugehen hätte allerdings ein neuer Blick auf die auch der ‚mittelalterlichen‘ Rhetorik eingeschriebene Anthropologie.

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Ich-Erzähler ohne Stimme Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte I. In der 1566 beendeten Zimmerischen Familienchronik liest man als Nachtrag zum Haupttext eine Reimerzählung von etwas über 1000 Versen.1 Angekündigt wird sie als autobiographische Erzählung des Freiherrn Johann Werner von Zimmern, der um 1450 geboren und 1496 gestorben ist: Herr Johanns Wernher hat ain deutschen spruch gemacht von ainer abenteurlichen handlung, die im in seiner jugendt mit ainer schenen frawen ist begegnet.2 Es gibt keinen Grund, Johann Werner nicht für den Autor zu halten; er hat sich auch sonst als Übersetzer und Verfasser von Reimbriefen betätigt.3 _____________ 1

2

3

In der Reinschrift von 1566 (Stuttgart WLB, Cod. Donaueschingen 580) auf den Seiten 1437a-1449b. Editionen: Zimmerische Chronik. Hrsg. von KARL AUGUST BARACK, Bd. 1, Freiburg, Tübingen 21881, S. 586-608; Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von HANNS FISCHER. München 1966 (MTU 12), Nr. 35 (Der enttäuschte Liebhaber) (zit.). Eine der jüngsten eingehenden Analysen dieser Verserzählung ist erschienen als ein Kapitel von URSULA KOCHERs Studie über: Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer novelle im 15. und 16. Jahrhundert, Amsterdam, New York 2005 (Chloe 38), S. 289-329. – Allgemein zur Insertion von Erzählungen in der Zimmerischen Chronik GERHARD WOLF: Alhie mueß ich ain gueten schwank einmischen. Zur Funktion kleinerer Erzählungen in der Zimmerischen Chronik. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER/L. PETER JOHNSON/HANS-HUGO STEINHOFF, Paderborn 1988, S. 173-186. BARACK (Anm. 1), S. 586: Herr Johanns Wernher hat ain deutschen spruch gemacht von ainer abenteurlichen handlung, die im in seiner jugendt mit ainer schenen frawen ist begegnet, namlich wie dieselbig neben irem alten eeman mit ainem münch, aim relling, hat zugehalten und wie froh sie damit gewest; und beschaint sich wol, das solchs im Niderland sei fürgangen, wie er dann vermeldet, das es in ainer statt nit weit von Ach beschehen; auch sich vergleicht mit gegenwurtigen zeiten, wie leichtfertig zu oftermal sich die eeleut vor jaren in selbigen landen erwisen, als dann das hernach durch das ganz Niderland und durch Frankereich laider so gar in schwank kommen, das man sollichs nit mer geachtet. Disen spruch hat er herzog Eberharten von Würtenberg zugeschrieben, an dem er gar ain vil gnedigen herren gehapt, und facht der spruch an, wie hernach volgt. Vgl. FRIEDER SCHANZE: ‚Johann Werner von Zimmern‘. In: VL, Bd. 4, 21983, Sp. 813816. Da es für meine Untersuchung ohne Belang ist, ob wirklich Johann Werner von

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In seiner abenteurlichen handlung erzählt er nun, in Ich-Form, was er in einer Stadt nahe Aachen erlebt haben will: In ainer statt das geschach, die nit weit ligt von Ach. ains abents ich spacieren gieng. an ainer gaßen ich anfieng. ich gedacht: ‚es ist noch frue, stand ains still und lug zue, was schener junkfrauen hie sind, mägt, weib und auch kint, die alle nach wunsch sind geschaffen.‘ […] iedoch zuletst da nam ich war ains dürnlins, das was brun gefar. das selb mir ganz mein herz besaß. (V. 1-9, 15-17)

Er sieht beim Tanz ein junges Mädchen und verliebt sich auf der Stelle, spricht sie an und wird brüsk abgewiesen. Weil er das nicht hinnehmen will, geht er ihr nach und beobachtet, wie sie einen jungen Mönch küsst und mit ihm für eine Weile verschwindet, wie dann ein alter Mann auftaucht, sich als Ehemann entpuppt und sie zornig nach Hause scheucht. Wie passend, dass das Paar Wand an Wand mit dem Erzähler wohnt! In seine Herberge zurückgekehrt, kann er nun durch ein Loch in der Wand dem nächtlichen Ehestreit der beiden zuschauen. Wie auf einer Bühne wird ihm da kurzweilig der Schwank vorgeführt, wie die junge Frau ihren naiven, alten Mann nach Belieben an der Nase herumführt; unter anderem brilliert sie mit einer geschauspielerten Nahtod-Erfahrung. Bis hierhin besteht die Rolle des Ich-Erzählers darin, (mit Ausnahme der erfolglosen Annäherung an die Frau) das Gesehene wiederzugeben, vor allem bei der Peepshow durch die Zimmerwand ist er am Geschehen völlig unbeteiligt. Entsprechend unbeteiligt erzählt er auch. Wie es leicht passieren kann, ‚vergisst‘ der Erzähler dabei, dass er in die anderen Personen nicht hineinblicken kann. Als er berichtet, wie sich die junge Frau mit gespielter Hingabe ihrem Mann zuwendet, heißt es: noch was er im [dem Mädchen] zu aller stund / ain surer apfel in den munt. / des ließ es doch nit merken sich (V. 561-563). Ein Beobachter kann das eigentlich nicht wissen. Hier klingt der Ich-Erzähler nicht anders als ein heterodiegetischer Märenerzähler, der naturgemäß das Innere seiner Figuren kennen und schildern kann. Sein Ich, seine hinter dem Wandspalt kauernde Existenz sind vergessen. Damit steht im Einklang, dass das erzählende Ich sich auch sonst in der Erzählung über weite Strecken kaum manifestiert, etwa mit Reflexi_____________ Zimmern die Erzählung verfasst hat, gehe ich dieser Frage nicht weiter nach und meine im Folgenden mit ‚Johann Werner‘ ihren Autor.

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onen über die Handlung oder mit Erzählerbemerkungen. Das Ich ist als Erzähler äußerst unaufdringlich. Verräterisch hinsichtlich einer Überlagerung zweier Erzählhaltungen ist vielleicht auch die Bemerkung angesichts des Scheintodes der Frau: uf das sie ain zittern gewan, als ob si s’fieber wer kommen an, und verkert damit die augen. ich sag es ane laugen: si tet, als ob sie tod wer. lachens ich ganz verber. ob ich noch also ains sollt schauen ainen man (ich geschwig ainer frauen) so will ich sein lieber emberen und anderer kurzweil geren. (V. 411-420) Darauf ergriff sie ein Zittern, als ob ein Fieber über sie gekommen wäre, und sie verdrehte die Augen. Ich sage es unumwunden: sie tat, als ob sie gestorben wäre. Das Lachen verging mir völlig [oder: es würde mir nicht einfallen zu lachen?]. Wenn ich noch einmal einen Mann, geschweige denn eine Frau so sehen müsste, darauf würde ich lieber verzichten und einen angenehmeren Anblick vorziehen.

Ich sag es ane laugen ist eine der verstreut vorkommenden Erzählerfloskeln in diesem Text. Obwohl sie nicht gerade häufig sind, machen derartige Floskeln schätzungsweise 80% der Präsenz des erzählenden Ich aus, natürlich ohne es irgendwie zu konturieren. Denn das sind Flickverse, wie sie jeder Reimerzähler da und dort einschaltet. Die Bemerkung über das unterdrückte Lachen und die fehlende Kurzweil schert dem gegenüber aus. Sie ist schon seitens ihres Erzähltempus nicht ganz klar dem erlebenden oder dem erzählenden Ich zuzuordnen (ich verber als Konj. Prät.?). Für mich sieht es hier so aus, als ob dem Beobachter hinter dem Spalt in der Wand eine Emotion zugeschrieben würde, nämlich ein potentielles Lachen, die in Wirklichkeit nur jemandem zukäme, der sich außerhalb der Diegese befindet, eben einem heterodiegetischen Erzähler oder dem Zuschauer einer Bühnenhandlung, den es nach kurzweil verlangt. Die nächtliche Peepshow endet mit einer Erzählung in der Erzählung, nämlich einem Kasus aus Boccaccios Decamerone (VI, 7), den die Frau ihrem Mann erzählt und mit dem sie ihren intellektuellen Triumph über ihn besiegelt, weil sie ihn damit dazu bringt, ihr ihre sexuelle Selbstbestimmung zuzugestehen. Aber Johann Werners Erzählung ist noch nicht an ihrem Ziel, nun muss auch der Protagonist, das Ich, durch dieselbe Erniedrigung wie der Ehemann hindurch und somit zurück in die Handlung; er spricht am nächsten Tag die Frau noch einmal an und scheint diesmal Erfolg zu haben. Doch dann lässt sich die Frau vor dem vereinbarten Stelldichein entschuldigen, ihr Mann sei überraschend zurückgekommen und mache ihr das Leben schwer. In Wirklichkeit vergnügt sie sich in

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diesem Augenblick wieder mit dem Mönch, wie der düpierte Erzähler durch das Wandloch sehen kann. Das Geschehen des zweiten Tags ist irritierend ungeschickt und pointenfrei erzählt.4 Dieses Ausmünden in purer Belanglosigkeit möchte es beinahe glaubhaft erscheinen lassen, Johann Werner von Zimmern habe die Episode tatsächlich selbst erlebt. Auch wenn das Ich am Ende seinen Reisegesellen alles beichtet und sie zu Augenzeugen des Betrugs macht, koppelt dies das Erlebnis wenigstens scheinbar an die soziale Realität der Person Johann Werners zurück. Dem entgegen steht aber die starke literarische Stilisierung: die Frau als Binnenerzählerin einer italienischen Novelle, die Personen als strikt schematische Schwank-Typen: hilfloser alter Ehemann, der seine Frau nicht mehr befriedigen kann, durchtriebene und mannstolle junge Ehefrau. Zudem: Keine Figur der Erzählung trägt einen Namen. Die Bezüge zwischen der Rahmenhandlung und der Binnenerzählung (in der die gewitzte Ehebrecherin die Lacher, alle Sympathien und zuletzt sogar das Gesetz auf ihrer Seite hat) deuten darauf hin, dass letztlich der Reiz der Erzählung wohl darin lag, der italienischen Novelle den Spiegel eines derben und sarkastischen Weltbilds vorzuhalten und ihren erotischen Idealismus als weltfremd anzukreiden und zurechtzurücken. So gesehen dürfte es mindestens ebenso eine Lese- wie eine Lebens-Erfahrung gewesen sein, was hier zur Gestaltung drängte. In der Summe wird die autobiographische Prätention in ähnlicher Weise von literarischer Stilisierung, Schematisierung und Typisierung überlagert, wie man es auch aus prominenteren Ich-Erzählungen des Mittelalters kennt. Wäre die Zimmerische Erzählung ein moderner Text, müsste man diesen zumal aus einem Grund misslungen nennen: weil unbestimmbar bliebe, wer denn hier eigentlich erzählt. Dem Autor – mag er Johann Werner von Zimmern geheißen haben oder nicht – gelingt es weder, uns davon zu überzeugen, dass er selbst der Held der Geschichte und Erzähler seiner eigenen Geschichte ist, noch davon, dass dies die Rollenrede eines beliebigen enttäuschten Liebhabers ist. Das Ich ist bei weitem zu unindividuell und schematisch gestaltet, als dass wir das entscheiden könnten. Das erzählte Ich hat kein Alter, keinen Namen, keine Familie, keine Herkunft, keinen Beruf, keine Geschichte. Dazu kommt, dass das Verhältnis _____________ 4

Ohne erzählerische Pointe ist etwa eine kurze Szene, in der die Frau den Erzähler anspricht und er sich eingestehen muss, dass ihre – wiewohl höchst konventionelle – sexuelle Metaphorik (ich hab mangel an ainem knecht, / der hacken und reiten kund / in miner wisen, wann ich ims gund, V. 832-834: „Mir geht ein Knecht ab, der auf meiner Wiese hackt und rodet, wenn ich es ihm erlaube“) über seinen Begriff geht: ich verstund mich nit der sachen, / ob ir wer ernst oder schimpf. (V. 840f.; „Ich verstand nicht, ob sie das im Ernst oder zum Spaß meinte“). Das spielt im Folgenden jedoch keine Rolle mehr und scheint ein blindes Motiv zu sein – sieht man ab davon, dass hier demonstriert wird, wie ein junger Mann ein ebenso begriffsstutziger alter esel (V. 795) sein kann wie der Ehemann.

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zwischen erlebendem Ich und erzählendem Ich merkwürdig lose wirkt. Wo sich das erzählende Ich überhaupt vernehmlich macht, spricht es wie aus der Vortragssituation zum gedachten Publikum. Es benutzt dieselben Regiefloskeln wie jeder andere Reimerzähler,5 aber es setzt sich in keinerlei Verhältnis zu der Handlung, die es ja angeblich selbst dereinst erlebt hat. Wo sich einmal ein Durchblick vom erzählenden auf das erzählte Ich zu öffnen scheint, wie in der zitierten Passage, vermischen sich die beiden Realitäten auf wiederum unklare Weise. Das erzählende Ich steht dem erlebenden Ich also teils fremd gegenüber, teils lassen sich die beiden gar nicht recht trennen.6 Die wohl einzige, die sich bisher mit der Erzählergestalt in diesem Text auseinandergesetzt hat, ist URSULA KOCHER, und sie schlägt vor, dass hier zwei Ich-Erzähler am Werk seien, letztlich einer innerhalb der Diegese und ein zweiter außerhalb der Diegese. Wo das Ich seine beschränkte Perspektive einhält, gehöre es dem ersten Erzähler, wo es kluge Kommentare zum Geschehen abgibt und die Erzählung steuert, gehöre es dem zweiten.7 Das deckt sich mit meiner Diagnose von zwei sich überlagernden Erzählhaltungen, und trotzdem würde ich die Formulierung, dass es hier zwei Erzähler gibt, für ein Problem halten. Einen Bezug auf zwei verschiedene Personen kann ich nicht entdecken. Die Undeutlichkeit in der Erzählergestaltung halte ich jedoch für keine zufällige Ungeschicklichkeit, sondern für einen prinzipiellen Zug des mittelalterlichen IchErzählens. Mag diese Erzählung auch in mancherlei Hinsicht missglückt sein – sie ist es jedenfalls nicht wegen der Inkonsistenz der Ich-Rolle. Denn dieselbe Inkonsistenz ließe sich anderweitig finden. II. Das Textkorpus, das ich bei dieser Behauptung im Auge habe, füllt in der nachfolgenden Tabelle die rechte Spalte, ohne dass dabei im Entferntesten an Vollständigkeit gedacht wäre. Mir kommt es stärker auf eine exemplarische Abbildung des Typenspektrums des erzählenden Ich-Sagens im Mittelalter an. _____________ 5

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So beispielsweise: nun migt ir heren, was geschach (V. 487; „Nun könnt ihr erfahren, was passierte.“); das laß ich stan zu diser frist / und eben sein, wie das ist. / nit me will ich davon sagen (V. 799-801; „Das lasse ich für diesen Moment auf sich beruhen. Ich will davon nichts mehr berichten.“); nu wellen heren, was ich sag (V. 807; „Nun hört, was ich meine.“). Zur Korrelation von erzählendem Ich und erlebendem Ich (Ich als Figur) als Grundkategorie der erzähltheoretischen Beschreibung von Ich-Erzählungen vgl. FRANZ K. STANZEL: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979, v. a. S. 257-293. KOCHER (Anm. 1), S. 314-316.

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Ich-Erzählen meint hier und im Folgenden die autodiegetische Erzählung (nach GENETTE) bzw. die Ich-Erzählsitation (nach STANZEL). Diese beiden Begriffsbestimmungen sehen übereinstimmend darin das Entscheidende, dass der Erzählende zugleich (Haupt-)Figur der erzählten Handlung ist. Mit diesem Kriterium grenzt sich das Ich-Erzählen von der Manifestation ‚normaler‘ (auktorialer heterodiegetischer) Erzähler ab, die sich mit ihren Einlassungen ja ebenfalls in der 1. Person bemerkbar machen. Die Frage der Fiktionalität soll bei der Suche nach dem mittelalterlichen Ich-Erzählen zunächst ausgeblendet bleiben. Es ist generell eine Preisfrage der aktuellen narratologischen Diskussion, in welcher Form ‚Erzählen‘ und ‚Fiktion‘ voneinander ab- und miteinander zusammenhängen. Ein Abgrenzungsproblem besteht jedoch hinsichtlich des ‚Erzählens‘ an sich. Des Kürenbergers Ich stuont mir nehtint spâte, Walthers Ich saz ûf eime steine glaube ich mit Recht nicht in die Zusammenstellung aufgenommen zu haben, obwohl es sich um textfüllende und durchaus auch erzählende Ich-Äußerungen handelt. Aber sind das Ich-Erzählungen? Hier muss die strukturalistische Kategorienbildung vermutlich versagen bzw. auf a prioriSetzungen zurückfallen (etwa dergestalt, dass Lyrik generell nicht zum Skopus der Narratologie gehört), freilich mag sich zukünftig eine ‚natürliche‘ und historisch informierte Narratologie, wie deren Umrisse MONIKA FLUDERNIK vorgezeichnet hat,8 gerade an der Beurteilung solcher Grenzund Übergangsfälle bewähren. Denn besser als rein phänomen-orientierte und strukturalistische Theorien, die sich meist mit Absicht auf textimmanente Erscheinungen beschränken, kann eine kognitivistische Erzähltheorie das kulturell geprägte Vorverständnis des Rezipienten sowie die veränderlichen Konventionen des literarischen Erzählens berücksichtigen und damit Gattungszuordnungen mit ihrem Rückwirken auf das Verständnis von nur scheinbar objektiven narratologischen Größen einbeziehen. FLUDERNIK sieht allerdings, für mich unverständlich, die Lyrik von vornherein nicht als Gegenstand ihrer Erzähltheorie aufgrund von „poetry’s typical lack of experientiality (and hence narrativity)“.9 Da es mir um die Grenze(n) zwischen Dichter-Ich und Figuren-Ich geht, nehme ich eine grundsätzliche Sonderung zwischen gerahmten IchErzählungen und Erzählungen ohne einen Rahmen vor.

_____________ 8 9

Vgl. MONIKA FLUDERNIK: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London, New York 1996; DIES.: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11 (2003), S. 331-348. Ebd., S. 355.

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es erzählt jemand, der den Text nicht verfasst haben will (Figuren-Erzählung, intradiegetische Erzählung) Rahmentechnik!

es erzählt ein Autor-Erzähler

Brief Alexanders (Alexanderroman) Kalogrenant (Hartmann von Aue, Iwein) Rudolf von Ems, Der gute Gerhard

Gottfried von Straßburg, ‚autobiographische‘ Exkurse (Minnegrotte)

Chaucer, Canterbury Tales, The Wife of BathPrologue (Ende 14. Jh.) Hermann von Sachsenheim, Schleiertüchlein

Thomas Morus, Utopia (1516)

fehlender Rahmen!

Konrad von Würzburg, Klage der Kunst Die böse Frau Rosenroman Dante, Vita nova Dante, Commedia Ulrich von Lichtenstein, Frauendienst Johann von Konstanz, Minnelehre Hadamar von Laber, Jagd Minneburg Juan Ruiz, Libro de buen amor (1. H. 14. Jh.) Jean de Mandeville, Les voyages d’outre mer (2. H. 14. Jh.) Hermann von Sachsenheim, Mörin (1453) Joh. Werner von Zimmern?, Spruch von einer abenteurlichen Handlung etc. (2. H. 15. Jh.) Hans Folz, Der Quacksalber (um 1490) Hans Sachs, Gesprech die neun gab Muse … betreffend (1536) Finkenritter (um 1560, Lügenroman) John Bunyan, The Pilgrims Process (1678)

es erzählt ein fiktiver Autor (pseudo-autobiographischer Roman) Lazarillo de Tormes (1554, erster Picaro-Roman) Thomas Nashe, The Unfortunate Traveller (1594) [Grimmelshausen,] Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1668) [Daniel Defoe,] Robinson Crusoe (1719) [Jonathan Swift,] Gulliver (1726) (Herausgeberfiktion!) Abb. 1: Versuch einer chronologischen und typologischen Übersicht über das Ich-Erzählen in Mittelalter und Früher Neuzeit (Die obere gestrichelte Linie steht für eine zeitliche Grenze ca. 1250, die untere für die Grenze zwischen Handschrift und Buchdruck.)

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Wenden wir uns zunächst der rechten Spalte zu: Die älteste Tradition eines textfüllenden Ich-Erzählens sind allegorische Erzählungen und Traumerzählungen. Ich denke an Minneerzählungen wie den Rosenroman oder die Minneburg. In ihnen erzählt ein Ich, was es in einer imaginären Realität erlebt hat. Im deutschen Spätmittelalter sind auch zahlreiche weniger prominente erzählende Minnereden nach diesem Muster gebaut. Die Minnerede ist ja, wie man unterstrichen hat, in der deutschen Literatur des späten Mittelalters diejenige Gattung, in der am unablässigsten, am penetrantesten ‚Ich‘ gesagt wird.10 Mit HANS-JOACHIM ZIEGELER kann man die Ich-Form geradezu als „‚systemprägende Dominante‘“ der Gattung Minnerede begreifen.11 Ein typischer Textanfang, wie er in dutzendfachen Variationen begegnet, lässt sich beispielsweise so vernehmen: „Eines Sommermorgens ritt ich spazieren. Im Wald verlor ich den Weg und verirrte mich. Da kam ich auf eine wunderschöne Lichtung, eine Blumenwiese mit einer Quelle, und dort sah ich drei edle Frauen, die sich miteinander unterhielten.“ Dann beobachtet der Erzähler das Geschehen, belauscht z. B. einen Disput dieser Frauen über die Minne – den er referiert – und dann kehrt er wieder heim. Solche Minneredenerzählungen sind oft nicht länger als hundert oder wenige hundert Verse, und sie genügen formal den Kriterien einer Ich-Erzählung. Manche von ihnen dürfte man, erzähltheoretisch gesprochen, als autodiegetisch bezeichnen, das heißt: das erzählende Ich ist gleichzeitig der Protagonist der Handlung. Autodiegetisch ist beispielsweise die Jagdallegorie des Hadamar von Laber, die Minnejagd. Darin erzählt ein männliches Ich in Titurelstrophen, wie es eines Tages sein Herz an ein Brackenseil bindet und mit ihm als Leithund auf die Jagd nach einem edlen Hirschen – gemeint natürlich eine Minnedame – auszieht. Dieser Ich-Erzähler steht also selbst im Zentrum der Handlung; er ist der Jäger. Allerdings scheint das in der Gattung der Minnerede doch die Ausnahme zu sein. Häufiger nimmt das erzählende Ich an der Handlung gar nicht teil, sondern beobachtet sie nur oder ist nur marginal in sie einbezogen.12 Streckenweise klingen solche Ich-Erzähler also gar nicht _____________ 10 11

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INGEBORG GLIER: Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden, München 1971 (MTU 34), S. 394. HANS-JOACHIM ZIEGELER: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen, München 1985 (MTU 87), S. 74, mit Rekurs auf das JAUSSsche Gattungsmodell (HANS ROBERT JAUSS: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 1: Généralités. Hrsg. von HANS ROBERT JAUSS, Heidelberg 1972, S. 107-138). Dasselbe gilt auch für die meisten der nur 20 (von 250) von ZIEGELER besprochenen Mären, die in Ich-Form erzählt sind (ZIEGELER [Anm. 11], S. 77-82). Neben dem Ich als Beobachter einer Szene kommen im Bereich der Mären nur zwei weitere Konstellationen vor: das Ich als Betrogener und das Ich als Schelm. Dass die Ich-Erzählhaltung bei den Mären die Ausnahme bleibt, begründet ZIEGELER damit, dass „der auf verschiedene Weise vermittelte Informationsvorsprung des Lesers vor bestimmten Figuren des erzählten Ge-

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anders als ein unbeteiligter heterodiegetischer Erzähler. Das ist vielleicht symptomatisch. Die Frage nach homodiegetisch oder heterodiegetisch bedeutet ja: ist der Erzähler Teil der erzählten Welt, der Diegese, oder ist er es nicht? Nun erzählen Minnereden sehr häufig von Träumen oder von allegorischen Szenen, also von Vorgängen in einer irrealen Welt, einer Traumrealität. Der Dichter begegnet in dieser Welt keinen Menschen; genauer, was zuerst aussieht wie lebendige Menschen, das sind nur Wörter: in der Gärten der Allegorie spazieren personifizierte Tugendkataloge herum, und noch krasser: das eigene Innerste bekommt Füße. Der Dichter kann seinem eigenen Herzen gegenübertreten. Hadamars Minnejagd mit allegorischen Jagdhunden auf einen allegorischen Hirschen ist ein schönes Beispiel dafür, dass die in Ich-Form erzählte Welt eine irreale Welt ist; nicht anders wäre auch die Durchquerung der drei Jenseitsreiche in Dantes Commedia zu beurteilen. Es ist in solchen Fällen generell schwer zu sagen, ob das Erzähler-Ich als Teil dieser irrealen Welt gedacht ist oder als außerhalb ihrer stehend. Am ehesten wird man sagen: es muss beides zugleich sein. Entsprechend oszilliert die Identität des Minnereden-Ich zwischen einer selbst fast allegorischen Allgemeinheit oder der Irrealität eines Traum-Ich einerseits und der konkreteren Identität des Reimredners und Dichters andrerseits, der als Ansprechpartner des Publikums die Aufgabe hat, eine unterhaltsame und belehrende Erzählung über das Wesen der Liebe zu formulieren und vorzutragen. In den Fällen, in denen das Ich im Zentrum der Erzählung im Grunde verschwindet, weil es dort nur eine Beobachterposition einnimmt, macht es sich vorwiegend an den Rändern des Texts bemerkbar, die Ich-Rede wird zu einem Rahmen, der um das allegorische Tableau herumgelegt ist.13 Auch dafür ein Beispiel. Die älteste allegorische Ich-Erzählung der deutschen Literatur ist Konrads von Würzburg Klage der Kunst;14 sie ist zwar keine Minnerede, aber sie kann für das Erzählmodell vieler allegorischer Minnereden einstehen. Auch dieser Text setzt direkt mit der Ich-Rede ein: Frou Wildekeit für einen walt mich fuorte bî ir zoume: dâ sach ich bluomen manecvalt

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schehens ein zentrales Merkmal der Mären [ist], das im wesentlichen eine auktoriale Erzählhaltung voraussetzt und die Ich-Erzählhaltung nur unter bestimmten, genau festgelegten Bedingungen zulässt“ (S. 92). ZIEGELER (Anm. 11), S. 66, beschreibt im Kontext einer erzähltypologischen Abgrenzung innerhalb der Gattung Minnerede die Bildung eines Erzählrahmens als einen „im Sinne einer Erzähllogik konsequent[en]“ Schritt, die verschiedenen Funktionen des ‚Ich‘ (Sprecher des Textes, angesiedelt im Jetzt, der Gegenwart des Vortrags oder des Lesens, gegenüber dem Subjekt der ‚Rede‘, die als vergangene zu denken ist) auszudifferenzieren. WALTER BLANK: Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform, Stuttgart 1970 (Germanistische Abhandlungen 34), S. 68-73.

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mêr danne z’einem soume; ouch vant ich einen brunnen kalt [...] von einem plâne ich nie gelas, der wære baz gerüemet [...] Nu hœret, wie mir dô geschach bî disem brunnen küele (V. 1-5, 13f., 25f.) Dame Seltsamkeit führte mich an einen Waldrand an ihrem Zaum. Dort sah ich verschiedenste Blumen, mehr als eine ganze Traglast davon. Auch fand ich eine kühle Quelle. […] Nie habe ich von einer Wiese gelesen, die rühmenswerter gewesen wäre. […] Hört nun, was sich mir zutrug bei dieser kühlen Quelle.15

An dem Waldrand also, zu dem ihn die frouwe wildekeit geführt hat, betritt der Ich-Erzähler einen locus amoenus mit Blumen, Wiese, Quelle, und er erblickt eine Damengesellschaft. Auf einem Richterstuhl sitzt die Dame Gerehtekeit, umringt von den elf Schöffinnen Erbarmeherzekeit, Triuwe, Stæte, Bescheidenheit, Güete, Êre, Scham, Mâze, Zuht, Wârheit und Minne. Da tritt die etwas heruntergekommene Dame Kunst vor und erhebt Klage, dass sie nichts mehr gelte auf der Welt und man nicht mehr sie fördere, sondern nur noch die Stümper. Nach wenigen Pro- und ContraReden, in denen es darum geht, wer Schuld an dieser Entwicklung hat, erfolgt schon der Urteilsspruch, der die Kunstbanausen dazu verurteilt, glücklos in der Liebe und verachtet unter den Leuten zu sein. Und die letzte der nur 32 Strophen schließt den Erzählrahmen und löst den Auftrag der Richterin ein, dieses Urteil bekanntzumachen: bî Cuonzen der uns stât hie bî, die rede ich iu enbiute. Sus kêrt ich hin ûf mînen phat und seite disiu mære, diu mich do ûf der selben stat der edeln Künste swære den rîchen herren künden bat. diu sint alsô gewære, daz im diu sælde sprichet mat, swem kunst ist wandelbære. (V. 240-249) Mit Kunz, der hier bei uns steht, als Zeugen teile ich euch dieses Urteil mit. So machte ich mich auf meinen Heimweg und erzählte diese Begebenheit, die mich da an jenem Ort die Beschwerde der edlen Kunst den mächtigen Herren bekanntzumachen bat. Die ist (eigentl. Plural, diu mære) so wahrheitsgetreu, dass (sich niemand wundern muss, wenn) das Glück den schachmatt setzt, dem Kunst ein Dorn im Auge ist.

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Zit. nach dem Abdruck in: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, Bd. I: Mittelalter. Hrsg. von HELMUT DE BOOR, München 1988, S. 663-666.

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Es gehört keine sublime Interpretationkunst dazu, um zu erkennen, dass die abschließende Ermahnung an die reichen Herren, ihr Geld freundlichst den rechten Kunstschaffenden zukommen zu lassen, der eigentliche Sinn der kleinen Erzählung ist. In der einzigen erhaltenen Abschrift in Michaels de Leone Hausbuch16 trägt sie die Überschrift Diz ist meister Conrades von Wirczburg getichte von vnmiltickeit gein künstrichen leuten. Die allegorische Erzählung ist also nichts als eine poetische Einkleidung eines gesellschaftlichen Appells. Diesen Appell hätte Konrad auch anders formulieren können (und anderweitig hat er ihn auch anders, nämlich als Prologrede von Romanen formuliert). Wäre es also mokant zu sagen: die Erzählung ist bloß eine selbstzweckhafte Demonstration eben der künsterichen dichterischen Erfindungsgabe, deren Anpreisung der Sinn der Strophenrede eben ist? Wegkürzen könnte man sie nicht, aber es wäre nicht undenkbar, eine andere Erzählung an ihre Stelle zu setzen. Um die Begegnung auf der Wiese geht es gar nicht, sondern um die Frage eines richtig verstandenen Mäzenatentums. P s e u d o - E r z ä h l u n g würde ich das aus zwei Gründen nennen wollen: weil nicht die Erzählung primär ist, sondern der spruchdichterliche Appell an soziale Tugenden; und weil das Erzählte keinerlei Konkretheit hat, keinerlei idiosynkratische Züge. Weder das Erzähler-Ich noch die agierenden Tugendfiguren besitzen irgendetwas Individuelles. Die Handlung ist zwar bildhaft (wie es Allegorien immer sind), aber bildhaft-schematisch im Sinne einer Ideenskizze und nicht bildhaft-plastisch im Sinne eines Fensterausschnitts zur lebendigen Realität. Es wäre zu überlegen, ob man die Pseudohaftigkeit des Erzählens, verstanden als (minderen) Grad der Narrativität, mit dem Faktor der ‚experientiality‘, den FLUDERNIK ins Zentrum ihres Theorieentwurfs gestellt hat, zur Deckung bringen könnte. Experientialität, also „the quasi-mimetic evocation of ‚real-life experience‘“ oder die Spiegelung individuell gemachter Erfahrung im Bewusstsein des Erzählenden, ist für FLUDERNIK das Kernphänomen des Erzählens.17 Eine Erzählung wie die Klage der Kunst scheint darin zu versagen, die wahrgenommene Welt so zu repräsentieren, dass sie e r f a h r b a r wirkt. Da menschliche Erfahrung grundsätzlich von Widerständigem ausgelöst wird (dem berühmten ‚Stein des Anstoßes‘, der in Form körperlichen Schmerzes erfahrbar macht, dass ‚da draußen‘ tatsächlich etwas ist; aber auch sonst von jeder Wahrnehmung, die sich nicht einfach wegwünschen lässt: Gewalt, unliebsame Sinnesreize, Eigenwille des Anderen, Kontingenz), wird man in einer Erzählung von einer erfahrbaren Welt Konkreta erwarten, die dem Willen des Subjekts _____________ 16 17

München, UB, 2° cod. ms. 731, 253v-255v. FLUDERNIK: ‚Natural‘ Narratology (Anm. 8), S. 12 (Zitat) und passim.

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widerständig sind (dies müssen keine Realia sein; auch ein notorischer Traumeindruck, eine notorische Einbildung können ‚erfahrungshaltig‘ sein). Solche Resilienz von ‚Welt‘ trägt im Gegenzug wiederum zur Konturierung von Subjektivität bei. Diese notorische Konkretheit scheint in allegorischen Erzählungen des Mittelalters zu fehlen: deren Welten sind ‚aufgeräumt‘ und auf einen Sinn hin präpariert. Jedoch bin ich mir nicht sicher, ob man mit dieser Forderung nicht eine Konvention modernen Erzählens, die Erfahrungshaltigkeit auf Detailreichtum und Konkretheit gründet, unbesehen auf das Mittelalter übertragen würde. Die Eigenschaften der Konradschen Klage der Kunst kann man verallgemeinern: alle erzählenden Minnereden weisen sie in mehr oder weniger hohem Grad auf. Auch wenn sie fast alle die Form von Ich-Erzählungen haben, sind sie doch nur Pseudo-Erzählungen. Auch wenn man die Rolle des Erzählens im Hinblick auf die Gattungsgeschichte der Minnerede betrachtet, scheint zwar Ich-Rede, aber nicht Ich-Erzählen in ihrem Zentrum zu stehen. Minnereden sind meist nicht einzeln überliefert, sondern in Sammelhandschriften, in denen sie oft unter ihresgleichen stehen. Die Überlieferung erlaubt also cum grano salis von einer spätmittelalterlichen Gattungsvorstellung ‚Minnerede‘ auszugehen. Keinen Unterschied machen die Minneredensammler des 14. und 15. Jahrhunderts aber zwischen erzählenden Minnereden und argumentierenden, monologisierenden, diskursiven Minnereden,18 die zudem in der Überzahl sind.19 Diese würden wir nicht unter den Begriff der Ich-Erzählung fassen. Der Gattungsursprung liegt auch historisch ganz deutlich nicht beim Erzählen, sondern in der reflektierenden, nachdenklichen und belehrenden Rede eines Ich.20 An der Überlieferung kann man überdies ablesen, dass es unscharfe Übergänge zu anderen Typen der _____________ 18

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Diese beiden Typen ließen sich auch mit einer Unterscheidung fassen, die für meinen Begriff der Romanist und Linguist HARALD WEINRICH 1964 in seinem Buch: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. München, 6. neu bearb. Aufl. 2001, am Klarsten herausgearbeitet hat. Er differenziert zwischen den zwei grundsätzlichen Sprechhaltungen E r z ä h l e n und B e s p r e c h e n , und er demonstriert sie vor allem im Gebrauch der verbalen Tempora. Kurz gesagt: Erzählen, angezeigt durch das Präteritum, zeugt von Distanz und Gelassenheit gegenüber dem Gesprächsgegenstand; Besprechen, mit dem Leittempus Präsens, bringt ein aktuelles Interesse zum Ausdruck, fordert erhöhte Aufmerksamkeit und signalisiert Engagement. Mit derselben Unterscheidung arbeitet auch ZIEGELER (Anm. 11), S. 55f. ZIEGELER zieht WEINRICH heran, um die Distinktion von ‚episch‘ und ‚didaktisch‘ zu präzisieren, die HANNS FISCHER schon 1953 in seinen ‚Strickerstudien‘ zur Einteilung von Texttypen vorgeschlagen hatte (HANNS FISCHER: Strickerstudien. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts, Diss. München 1953). GLIER (Anm. 10), S. 406. Vgl. die Texte aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die GLIER (Anm. 10) als „Vorläufer“ der Minnerede behandelt (S. 16-53).

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Reimrede gibt, etwa zu Preisreden oder Totenklagen.21 Der Name Minnerede ist daher nicht falsch gewählt, es handelt sich wirklich primär um Reden, selbst dort, wo sie die Form von Erzählungen haben.22 Man könnte vielleicht sagen: Der Sinn dieser Allegorien ist es, ein eigentlich diskursives Bedürfnis in Gestalt einer Erzählung zu verwirklichen. Statt eine Erkenntnis oder ein System von Werten und Begriffen argumentativ zu erörtern, werden diese in ein Kabinett von Figuren verwandelt, durch das der Erzähler hindurchspazieren und das er dabei beschreiben kann. Der Erzähler schreitet eine Gedankenwelt ab. Der schwer beschreibbare Realitätsstatus der allegorischen Ich-Erzählungen hat damit zu tun. Natürlich werden die erzählten Begebenheiten nicht als real geschehen ausgegeben. Konrad von Würzburg setzt mit dem ersten Vers das Signal: Ich bin einer Allegorie begegnet, der Dame Wildekeit. Dennoch zeigt die Rahmung und der zu unterstellende Zweck der Rede, dass es kein im eigentlichen Sinne fiktives Ich ist, das die Begebenheit erzählt, sondern dass es an den Dichter selbst gebunden bleibt. Konrad selbst erzählt von vorgeblich eigenem Erleben in einer nicht-realen Welt. Das leuchtet vor dem Hintergrund der heutigen Erzähltheorie nicht im Geringsten ein, denn dort gilt (wenigstens in den meisten Theoriemodellen) als Gesetz, dass fiktionales Erzählen als Erzählen von einer fiktiven Welt immer mit einer fiktiven Erzählerinstanz verbunden sei.23 Ich bin überzeugt – und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr –, dass für das Mittelalter diese Gesetzmäßigkeit nicht nur nicht gültig ist, sondern dass fiktive Erzähler (in dem Sinne, in dem sie in der modernen Literatur allgegenwärtig sind) im Mittelalter überhaupt nicht vorkommen. Dass eine dezidierte Ablösung der sprechenden Ich-Figuren von der Person ihrer Verfasser sich nirgends ausprägt, ist wohl nicht zuletzt eine Folge davon, dass die Grenze zwischen dem Erzählen und dem Besprechen (vgl. oben Anm. 18) mitten durch die Gattung der Minnerede ver_____________ 21 22

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GLIER (Anm. 10), S. 11f. WOLFGANG ACHNITZ hat vorgeschlagen, die Minnerede deutlich schärfer zu fassen und „als Minnereden [...] künftig [...] nur die rein erörternden Texte“ zu bezeichnen; für die nichterörternden schlägt er den Namen ‚Minneerzählungen‘ vor. WOLFGANG ACHNITZ: Kurz rede von guoten minnen / diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten ‚Minnereden‘. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 137-149, hier S. 147. Dagegen scheint mir ZIEGELER (Anm. 11), auf den ACHNITZ sich beruft, überzeugend gezeigt zu haben, dass die erzählenden Minnereden oft als sekundäre Transformationen eines einfachen Rede-Modells zu verstehen sind (v. a. S. 70f.). Es wäre wenig dienlich, die einen einer anderen Gattung zuzuweisen als die anderen. Besonders die Fiktionstheorien von GÉRARD GENETTE: Fiction et diction, Paris 1991, und DORRIT COHN: The distinction of fiction, Baltimore 1999, kommen zu dem Schluss, dass Fiktion genau dann vorliegt, wenn der Autor vom Erzähler unterschieden werden kann.

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läuft.24 In primär besprechenden, meist lehrhaften Textgattungen, die ja überwiegend zu den auch nach heutigen Maßstäben nicht-fiktionalen Gattungen gehören, liegt es nie nahe, die Sprecherrolle vom Autor zu trennen – anders gesagt, es liegt für den Autor nicht nahe, seine Sprechhaltung weitab von dem anzusiedeln, worin für die Zuhörer- oder Leserschaft seine auctoritas und seine Autorrolle bestehen. Wenn die erzählende Minnerede nur eine Sonderform der diskursiven, oft lehrhaften Minnerede ist, ist es deshalb nur natürlich, dass auch sie an die Autorautorität gebunden bleibt. Dabei ist der Autor oft legitimiert zugleich als Minnekundiger und als Reimredner, d. h. als Dichter. Vielfach erscheint das sprechende Ich als ein Mittler zwischen der Traum- oder Allegoriewelt und der ‚realen‘ Welt des Publikums; es hat Minnelehren und -gebote zu überbringen, nicht anders als Konrad einen Appell. Um diese Mittlerrolle einnehmen zu können, bedarf der Sprechende – zumindest an den Rändern des Texts – der Verankerung in der außertextlichen Kommunikationssituation zwischen Autor und Zuhörern/Lesern. Sofern man das Kriterium des Fiktiven, das die Narratologie für die Instanz des Erzählers bereithält, hier einsetzen will, muss man wohl festhalten: Fiktiv sind nicht die Ich-Erzähler, sondern fiktiv – ganz im wörtlichen Sinne: ausgedacht, spekulativ – sind die erzählten Begebenheiten. III. Auf der Suche nach einem klaren Gegenpol für die Beurteilung des narratologischen ‚Orts‘ des Erzählers fallen die Ich-Erzählungen von F i g u r e n in den Blick. Vor 1250 gibt es überhaupt keine textfüllenden autodiegetischen Erzählungen, sondern nur solche, die von einem Protagonisten eines epischen Texts als Binnen-Erzählung geliefert werden: So beispielsweise Alexanders Brief im Straßburger Alexander (V. 4918-6588), Eneas’ Bericht von der Zerstörung Trojas beim Gastmahl in Karthago25 und die viel interpretierte Erzählung Kalogrenants in Hartmanns Iwein (V. 259802).26 Weil eine solche Binnenerzählung gewöhnlich einen kommunikati_____________ 24 25 26

So auch ZIEGELER (Anm. 11), S. 73f. Zuletzt umfassend narratologisch analysiert von JOACHIM HAMM: Âne missewende. Erzählpoetik und Vorlagenbearbeitung im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, Habil. [masch.] 2007, Kap. 3.3. FRANZISKA WENZEL: Keie und Kalogrenant: Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von BEATE KELLNER/ LUDGER LIEB/PETER STROHSCHNEIDER, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 89-109; GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im

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ven Zweck in der Romanhandlung erfüllt, weil also eine Figur mit ihr irgendetwas erreichen und bei anderen Figuren eine bestimmte Reaktion erzielen will, deshalb muss sie der Romanautor auf die kommunikative Situation hin entwerfen. Es gibt Zuhörer, es gibt einen Ort und einen Zeitpunkt, zu dem erzählt wird. Die entworfene Erzählsituation bildet darüber hinaus einen Rahmen um die Ich-Erzählung herum und trennt die Rollen und Identitäten des Binnenerzählers und des Textautors mit wünschenswerter Klarheit. Diese Figurenerzählungen stehen sämtlich in der Tradition der Reiseund Wundererzählungen, die auch in der Antike oft Ichform hatten – das autodiegetische Erzählen in der ersten Person liegt bei Reiseberichten generell nahe, da die Erfahrung der Fremde niemand authentischer erzählen kann als der, der sie in eigener Person gemacht hat. In diese Tradition lässt sich noch Thomas Morus am Beginn der Neuzeit mit seiner Utopia einordnen, die als Gespräch des Autors mit dem Portugiesen Raphael Hythlodeus, einem angeblichen Reisegefährten des Amerigo Vespucci, erzählt wird. Die Binnenerzählung einer Figur in einem Erzähltext scheint eine komplizierte Form der Ich-Erzählung zu sein, weil sie mit ihrer Rahmenstruktur die Erzählsituation quasi verdoppelt. Der Ich-Erzähler spricht zu anderen Figuren im Text. Zugleich existiert eine Erzählsituation, in der das reale Publikum angesprochen wird: Das reale Publikum, egal ob es noch zuhört oder schon liest, lauscht dem Autor als dem Erzähler des Romans. Trotz der doppelten Erzählsituation ist diese Form des IchErzählens die historisch frühere Form. Was passierte nun, wenn man den Rahmen wegließe? Wenn mit Iwein V. 259 eine Erzählung beginnen würde? Dann würde ein Figuren-Ich, d. h. ein fiktives Ich, ohne weitere Umstände mit seiner Erzählung anheben. Weiterhin gäbe es die zwei Erzählsituationen, aber sie wären im Text nicht mehr markiert. Der Leser müsste anderweitig darüber informiert werden, wer eigentlich das sprechende Ich ist: nicht der Autor, sondern eine Figur. Die Erwartungen und Rezeptionsgewohnheiten des Lesers, die das möglich machen, beruhen auf medialen und pragmatischen Voraussetzungen, die historisch offensichtlich erst später gegeben waren. So gesehen ist die Rahmenstruktur der Binnenerzählung die elementarere, die einfachere Form, weil sie die intradiegetische Erzählsituation ganz ausdrücklich installiert. Die typische Ich-Erzählung der Moderne muss dies implizit tun. Ein ‚Ich‘ hebt dort an zu erzählen, das sich dem Leser irgendwie erst noch bekannt machen muss; jedenfalls _____________ Eneas, im Iwein und im Tristan. Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 1-9, 161-163 und öfter (s. Register); ältere Forschungsbeiträge dort S. 162.

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ist dieses Ich ein fiktives Ich, ein Figuren-Ich. Diese ‚echte‘ Ich-Erzählung gibt es erst seit dem 16. Jahrhundert. Nun könnte Einspruch laut werden: Nichtgerahmte Ich-Erzählungen gibt es in der deutschen Literatur doch etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Konrads Klage der Kunst ist der vielleicht älteste Vertreter dieser Form. Man könnte sich fragen: Sind dies nun solche ‚echten‘ IchErzählungen? Wurde hier der Rahmen weggelassen? Die Antwort, vorab, muss lauten: Nein. Denn das Ich, das hier spricht und erzählt, ist eben kein Figuren-Ich. Bei der allegorischen Ich-Erzählung fehlen die Signale, dass das Ich vom Verfasser verschieden sein soll. Es trägt keinen abweichenden Namen. Konrad von Würzburg lässt sich am Ende der Klage der Kunst sogar als Kunz anreden.27 Darüber hinaus ist der Sprechende in keine fiktive Erzählsituation hinein entworfen; es werden kein Ort und kein Publikum des Erzählens im Text manifest, die nicht ganz einfach die reale Vortragssituation der Reimrede meinen würden.28 Wenn ein Erzählanlass am Textbeginn formuliert wird, dann ist er identisch mit der Kontaktaufnahme des Sprechers mit seinem Publikum. Konrad lässt sich am Ende der Erzählung von seinem allegorischen Gerichtshof den Auftrag erteilen, das Gehörte bekannt zu machen. Ich kerte hin uf minen phat / und seite disiu maere: mit dieser Formulierung tritt Konrad aus der Erzählrealität wieder heraus in die Realität dessen, womit er als Berufsdichter sein Geld verdient. Das Publikum soll begreifen, dass der im Text ausgesprochene Erzählauftrag in dem Moment erfüllt wird, in dem es dem Vortrag zuhört. Dieselbe Technik benutzt rund hundert Jahre später der bairisch-österreichische Berufsdichter Peter Suchenwirt in seinen Minnereden.29 Auch in der französischen Literatur ist sie zu finden.30 _____________ 27

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Dies hat natürlich zugleich die Funktion der Dichtersignatur, die Konrad von Würzburg in seinen nichtlyrischen Dichtungen (mit einer Ausnahme) immer angebracht hat; vgl. die Übersicht bei HORST BRUNNER: Konrad von Würzburg. In: VL, Bd. 5, 21985, Sp. 272-304, hier Sp. 273. D. h., das im Text entworfene ‚implizite Publikum‘ sollte von der jeweiligen Zuhörerschaft auf sich bezogen werden. Der Minne Schlaf mit Auftrag der Frau Minne an den Suechenwirt, der red mit worten schon floriert (V. 177f.; „den Suchenwirt, der Rede mit Worten schön blümt“), ihr Turnier auszurufen, und Bezug darauf am Schluss: Hin schied ich von den frowen tzart / und pin noch auf der selben vart (V. 266f.; „Abschied nahm ich von den hübschen Damen und bin noch immer auf jener Reise“); Widerteil mit Nennung am Ende: Von dann eylt ich Suchenwirt (V. 360; „Ich, Suchenwirt, macht mich von dort auf den Weg“); namentliche Anrede des Ich-Erzählers in der Rede von der Minne und der Minne vor Gericht. Beispielsweise Watriquets de Couvin (Anfang 14. Jahrhundert) allegorischer Miroir des Dames, mit den drei Elementen: Auftrag zur Versifikation und zur Bekanntmachung des Gesehenen, namentliche Anrede des Träumers, schließlich Darstellung des Erwachens und der Erfüllung des Auftrags; siehe MICHEL ZINK: The invention of literary subjectivity, Bal-

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Ein anderes Beispiel: Die Minnelehre des Johann von Konstanz. In Ich-Form ist darin idealtypisch erzählt, wie man es auf zivilisierte Weise anstellt, eine Frau zu verführen. Was Minne eigentlich ist, erfährt der zunächst noch unbedarfte Erzähler aus einer Traumallegorie; wie er zu handeln hat, erfährt er in Lehrgesprächen mit der Herrin Minne, und er praktiziert dann seine neu erworbene Kunst und Beharrlichkeit in einem Musterbriefwechsel mit der Auserkorenen, die anfangs nichts von Liebe wissen will. Ebenso idealtypisch, wie der Widerstand des Mädchens Schritt für Schritt gebrochen, ihr Interesse erweckt und ihre Gegenliebe entzündet wird, dann ihr anfänglicher Zorn über die nicht ganz einvernehmliche Entjungferung ausgesühnt wird und am Ende ein unproblematisches Liebesverhältnis steht, ebenso idealtypisch, allgemein und unindividuell bleibt auch das Ich. Auch hier wird nicht eigentlich e r z ä h l t , sondern der Werdegang einer Liebesbeziehung exemplarisch und musterhaft dargestellt. Wer ist das, der hier spricht? Einen Namen trägt er ebenso wenig wie die Frau. Man scheut sich, ihn Johann von Konstanz zu nennen. Aber es ist bemerkenswert deutlich, dass im Text keinerlei Grenze zwischen dem Autor-Erzähler und dem Erzähler-Protagonisten eingezogen wird. Die Minnelehre beginnt mit einer höchst konventionellen Eröffnung: Woltent ir iungen nu gedagen, swîgen unde hœren sagen schœne rede von minnen, so daz ir gewinnen mugent lop und êre. ob ir mir mîner lêre bietent iuwer ôren her, so riht ich dar nâch mîne ger, wie daz ich gedihte und dihtende berihte, wie man nâch liebe werben sol. (V. 1-11)31 Wenn ihr Grünschnäbel nun schweigen wolltet, einer schönen Rede von der Minne lauschen und zuhören, die so beschaffen ist, dass ihr Ruhm und Ansehen erwerben könntet, wenn ihr meiner Lehre Gehör leiht, dann würde ich mein Streben darauf richten, wie ich poetisch fasse und in Versform bringe, wie man um Liebe werben soll.

Der, der hier spricht – und sein Publikum direkt anspricht –, setzt ein mit der Bitte um Ruhe, dem Anerbieten lehrreicher Auskünfte und mit Re_____________ 31

timore, London 1999 (zuerst erschienen als: La subjectivité littéraire, Paris 1985), S. 141-145. Normalisiert nach der Ausgabe: Die Minnelehre des Johann von Konstanz. Nach der Weingartner Liederhandschrift unter Berücksichtigung der übrigen Überlieferung. Hrsg. von DIETRICH HUSCHENBETT, Wiesbaden 2002.

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flektionen über seine dichterische Befähigung. Er spricht von mîner lêre, von kunst und sin (V. 21f.), bittet auch um allfällige Textkorrekturen, falls die guoten etwas Anstößiges bemerken sollten (V. 30-35), und bekundet seine Gleichgültigkeit gegenüber den Missfallensäußerungen der Ignoranten (der argen widerdiez, V. 36-41). Das ist klassischerweise die Rede eines Autors, der den Nutzen seiner Ausführungen unterstreicht und sich dabei als vor dem Publikum anwesender Sprecher seiner Verse, als mündlicher Erzähler stilisiert.32 Der Übergang zur eigentlichen Erzählung könnte dann direkter und selbstverständlicher nicht sein: Ich will nit mêre bîten, / ich welle iu ûf gnâde sagen, / beidiu künden unde clagen, / wie hie vor mir geschach (V. 42-45; „Ich will es nicht länger hinauszögern, euch zu erzählen, was mir zuvor passiert ist“). Erlebendes Ich und erzählendes Ich wollen also dieselbe Person sein. Dieser Satz ist das Scharnier zwischen der Rahmung, die die kommunikative Situation einer Erzählung abbildet (wer erzählt hier wem?) und die j e d e Erzählung – gleich ob alltagsmündlich oder literarisch – explizit oder implizit umschließt, und der eigentlichen Erzählung von etwas Vergangenem. Wichtiger aber: das erzählende Ich spricht seine einführenden Sätze, mit denen es den ‚Ort‘ seiner Erzählung und seine Beziehung zu den Angeredeten (dem impliziten Publikum) festlegt, nicht in erster Linie in der Rolle des neulich in die Liebe Eingeführten. Der Erzähler spricht nicht primär in der Rolle, die ihm als dem Protagonisten zugewachsen sein könnte durch das Erlebnis, von dem er im Folgenden erzählen will. Das Ich legitimiert sich vielmehr durch seine Fähigkeit, eine schœne rede machen, eben tihten zu können, im selben Maß wie durch seine angebliche eigene Erfahrung. _____________ 32

Bei Reimpaartexten des ausgehenden 13. Jahrhunderts, produziert in einem und für ein wahrscheinlich städtisches Umfeld, wird man nicht mehr davon ausgehen wollen, dass sich die intendierte Vortragssituation direkt und ungebrochen im Text abbildet. Anders als bei der hundert Jahre älteren höfischen Epik und Lyrik dürfte einem Johann von Konstanz oder einem Konrad von Würzburg die Möglichkeit schriftlicher Rezeption bereits recht wesentlich vorgeschwebt und demgemäß auch bereits in die Konzeption und Aufzeichnung der Texte eingegangen sein, zumindest als Alternative zum tatsächlichen Vortrag. Das (topische) Nachsuchen um korrigierende Eingriffe seitens der Rezipienten ist ein Beleg dafür. Soweit sich der Autor dennoch als Sprecher geriert, schreibt er im Hinblick auf diese geplante Leserezeption keine Partitur mehr für seinen oder eines Rezitators Auftritt; eher adaptiert er ein schnell usuell gewordenes Textrahmungsmodell, das auf eben diesen Auftritt verweist und vom lesenden Rezipienten als ein solcher Verweis verstanden werden soll. Er knüpft also an eingespielte Publikumserwartungen an. Dass die Stilisierung als tatsächlicher ‚Erzähler‘ aber der Autorfigur gilt – und nicht einer fiktiven Erzählerfigur wie im 19. Jahrhundert – ist daran abzulesen, dass solche Rahmungen oft genug (wie im Fall der Minnelehre) zwischen mündlichen und schriftlichen Konzepten schwanken und oft auch gleichzeitig die Aufgabe haben, den Text zu signieren. Die Signatur eines Textes bezieht sich sinnvoll nur auf den Autor, nicht auf eine fiktive Figur – jedenfalls solange das Medium keine Möglichkeit bietet, anderweitig (paratextuell) eine ‚echte‘ Autorsignatur anzubringen.

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Dass die Rolle des erlebenden und erzählenden Ich mit der Rolle des Dichters zusammenfallen, ist auch abzulesen daran, wie die Überwältigungsszene am Ende erzählt wird: „daz var als got welle“, sprach ich und underwant mich ir lieplich nâch mîns herzen gir. waz dâ beschæhe, daz wil ich nieman sagen sicherlich, wan nieman dâ von reden sol. ders aber tuot, daz zimet nit wol. man verstât sich wol hie bî, ich wart aller sorgen frî unde wart nie manne baz, swie ich het verschult ir haz. (V. 2350-2360) „Das werden wir schon sehen“, sagte ich und nahm sie in Besitz liebevoll nach meiner Herzens-Lust. Was da geschah, das werde ich mit Sicherheit niemandem erzählen, weil niemand von so etwas reden soll. Wenn es trotzdem einer tut, das gehört sich nicht. Man versteht schon recht gut: ich wurde allen meinen Kummer los, und nie geschah einem Mann Schöneres, wenn ich auch ihren Unmut verdient hatte.

Das Ich schweigt hier nicht deshalb, weil man von Liebeserfolgen nicht prahlen oder die Frau nicht ins Gerede bringen soll. Denn es schweigt ja gar nicht. Es übergeht vielmehr die pikante Szene mit einer topischen und auf Wirkung berechneten Erzählerfloskel, die das nicht Erzählte eigentlich allererst pikant macht; eine Floskel von augenzwinkerndem Einverständnis: ‚na ihr wisst schon, was ich da mit ihr gemacht habe‘. Hier spricht das erzählende Ich nicht in der Rolle eines Bekennenden oder sein Liebesleben Reflektierenden, sondern in der Rolle des Minnereden-Dichters, der sein Publikum im Auge hat, nicht anders als irgendein Romanerzähler des 13. Jahrhunderts. Mit diesen kurzen Blicken in die Klage der Kunst und die Minnelehre wollte ich auf eines hinaus: Eine solche Form der Ich-Erzählung ist Dichterrede. Für andere erzählende Minnereden gilt dasselbe. Auch wenn der ‚Dichter‘, der jeweils spricht, zunächst in Gestalt einer rollenhaften Stilisierung wahrnehmbar wird und deren Ausgestaltung auch in Texten ein und desselben Verfassers verschieden akzentuiert sein kann, so verbietet die Stilisierung es doch nie, sie auf den tatsächlichen Verfasser zu beziehen. Das gilt für die häufigen unindividuellen Gestaltungen der Erzählerrolle, da sich ein allgemeingültiges, leeres ‚Ich‘ eben leicht auf jeden beziehen lässt; es gilt aber auch für überdurchschnittlich individuelle wie die Ich-Erzähler-Stilisierungen Hugos von Montfort oder Hermanns von

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Sachsenheim.33 Es fehlt also in beiden Fällen ein Signal, dass eine Rollenrede beabsichtigt wäre.34 Wie löst man aber erzähltheoretisch das Problem, dass trotz dieser Konstellation von einer autobiographischen Erzählabsicht nicht die geringste Rede sein kann? Das Problem betrifft die zahlreichen allegorischen Minne-Erzählungen des Spätmittelalters – ich nenne hier als die vielleicht prominentesten Texte noch einmal die Minneburg und Hadamars von Laber Jagd sowie den französischen Rosenroman. Noch Hans Sachs nutzt diese allegorische Ich-Form in Spruchgedichten, bei denen biographische Datierungen keinen Zweifel daran lassen, dass der Verfasser selbst das Subjekt der erzählten Träume und allegorischen Begegnungen sein will.35 Und dies gilt nun nicht nur für die Texte, an denen ich dies zu entwickeln versucht habe. Von einem strikt narratologischen Standpunkt belangt dies genauso die beiden großen Ich-Texte des Florentiners Dante an, sowohl seine visionäre Erzählung von der Wanderung durch die drei Jenseitsreiche, die Commedia, als auch die Beschreibung seines Lebens als einer Dichterliebe zu Beatrice in der Vita nova.36 Nicht anders zu beurteilen ist das der Vita nova erstaunlich ähnliche Unterfangen des steirischen Landesherren Ulrich von Lichtenstein, sein Frauendienst.37 Überall dort wird _____________ 33

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GLIER (Anm. 10), S. 396. Für GLIER ist bei ihrer sehr differenzierten Beschreibung der Ich-Rolle in der deutschen Minnerede (S. 394-399) allerdings die Fiktivität des ‚Ich‘ (des „Dichters“) das Primäre; erst sekundär und spielerisch brächten die Autoren diese Rolle mit ihrer Person zusammen: die Verfasser lassen es „in ihrem eigenen Namen sprechen“ bzw. „identifizieren sich indirekt und funktional“. Sie nennt als Fälle namentlicher Identifikation Hartmann von Aue (Klage), den Stricker (Frauenehre), Ulrich von Lichtenstein (Frauenbuch), Peter Suchenwirt und Erhard Wameshaft. Indirekte Gleichsetzungen in unterschiedlicher Deutlichkeit beobachtet sie beim Elenden Knaben, Meister Altswert, Hugo von Montfort und Hermann von Sachsenheim. Rollenrede, wie sie etwa lyrische Frauenmonologe konstituiert, fehlt im Bereich der Minnerede fast völlig; vgl. GLIER (Anm. 10), S. 395, und ZIEGELER (Anm. 11), S. 73, Anm. 41. – Ich gebrauche die Termini ‚Rollenrede‘ und ‚Rollenlyrik‘ im engen Sinn für Texte, bei denen Markierungen wie Titel, Texteinleitung oder sonstige identifizierende Elemente sicherstellen, dass sie nicht als Ich-Rede des Verfassers oder des Sängers, sondern als Rede eines Anderen verstanden wurden. So z. B. das Gesprech die neun gab Muse oder kunst-göttin betreffend: Hans Sachs: Werke. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER/EDMUND GOETZE, Bd. 7, Stuttgart 1870-1908, Nachdruck Hildesheim 1964, S. 202-210. VOLKER MERTENS: ‚Biographisierung‘ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris 16.-18.3.1995. Hrsg. von INGRID KASTEN/WERNER PARAVICINI/RENÉ PÉRENNEC, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 331-344. SANDRA LINDEN: Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein, Tübingen 2004 (Bibliotheca Germanica 49). In dieser gründlichen Studie werden die verschiedenen ‚Ulriche‘ (Autor, Autobiograph und

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die personelle Identität von Autor, erzählendem Ich und erlebendem Ich aufs Deutlichste behauptet, und dennoch handelt es sich nicht um autobiographisches Erzählen im heutigen Sinn. Bei den allegorischen oder spekulativen Erzählungen liegt das auf der Hand – dennoch, und das wäre mir wichtig, haben sie dieselbe Struktur von Erzählinstanzen wie die nicht-allegorischen. Die Einordnung, die ich in dem tabellarischen Schema (Abb. 1) vornehme, liegt allein in dieser äußerlichen Struktur begründet. Natürlich kann und müsste man die Texte auch nach anderen Kriterien differenzieren. Mir ist jedoch diese Trennlinie zwischen Figuren-IchErzählungen und Autor-Ich-Erzählungen so wichtig, weil es sich abzeichnet, dass im Laufe des 16. und 17. Jahrhundert dieses System umgebaut wird. So differenziert sich mittelalterliches Ich-Erzählen, bei dem die Begriffe Autobiographie und Pseudo-Autobiographie sich meist nicht gegeneinander ausspielen lassen, in zwei Qualitäten aus, bei denen diese Differenz anwendbar wird. Seit dem 16. Jahrhundert gibt es Ich-Romane, die die fiktive Lebensgeschichte eines fiktiven Autors sind.38 Das sind PseudoAutobiographien, die ihren Status als literarische Fiktion teils offen zu Markte tragen, teils aber auch mit der Bereitschaft des Leserpublikums spielen, sie als ‚echte‘ Autobiographien zu verstehen.39 Seit dem 15. und 16. Jahrhundert gibt es im Kontrast dazu auch ‚echte‘ Autobiographien in der Volkssprache.40 Gemeint sind Texte wie The Book of Margery Kempe (ca. 1436), Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottanerin (1445-1452), die Lebensbeschreibungen des Thomas (1572) und Felix Platter (1612) oder die Lebenserinnerungen des Bartholomäus Sastrow (1595). Es ist unbestreitbar, dass auch diese Lebensdarstellungen teils in einem hohen Grad fiktiv sind und mit ihrer Subjektkonstitution den heutigen Leser möglicherweise deshalb _____________ 38

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Figur, S. 363) recht rigide auseinanderdividiert. Das dürfte als strategische Schutzmaßnahme gegen die ältere Autobiographie-Diskussion einleuchten. Für die englische Literatur ist zu verweisen auf die neue Studie von MARTIN LÖSCHNIGG: Die englische fiktionale Autobiographie. Erzähltheoretische Grundlagen und historische Prägnanzformen von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Trier 2006: „Genuin fiktionale Ich-Erzähler, d. h. Erzählerfiguren, die persönlich identisch mit einem Handlungsträger auf der diegetischen Ebene sind und auch namentlich [...] vom auktorialen Ich dissoziiert werden, finden sich erst in der elisabethanischen Prosa“ (S. 149). LÖSCHNIGG (Anm. 38), S. 94 und Anm. 60, sowie S. 206: „Tatsächlich scheint es, als wurden Defoes fiktionale Erzählwerke zunächst als authentische histories und erst allmählich als Fiktionserzählungen rezipiert bzw. in das sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts erst herausbildende Gattungsschema des ‚Romans‘ eingeordnet.“ Die Autobiographik des Mittelalters ist vorwiegend lateinisch, die frühesten volkssprachlichen Autobiographien sind nicht in Ich-Form gehalten (Mechthild von Magdeburg, Heinrich Seuse); vgl. GEORG MISCH: Geschichte der Autobiographie. 8 Teilbände, Frankfurt a. M. 1909-1969; ULRICH MÜLLER: Thesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von GÜNTER NIGGL, Darmstadt 1989 (Wege der Forschung 565), S. 297-320.

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irritieren, weil sie an anderen vorgängigen Erzählmodellen ausgerichtet sind als dem modernen Subjekt angemessen scheint; in jedem Fall sind sie nicht als fiktionale Erzählungen angelegt. Exemplarität bleibt noch lange eine wichtige Bestimmung der Autobiographie. Die bedeutende neue Studie von KARL A. E. ENENKEL41 macht die Prätext- und Diskursabhängigkeit sichtbar, mit der gelehrte Autobiographisten bis ins 17. Jahrhundert sich und ihren Lesern ihr Selbst möglichst überzeugend erschrieben (oder erlogen). Der Einschnitt im 15./16. Jahrhundert ist mithin kein absoluter. Die Ausdifferenzierungen von Faktizität, Exemplarität und Fiktionalität einerseits und der Füllung des erzählten ‚Ich‘ mit ‚eigener‘ bzw. ‚fremder‘ Identität und Subjektivität andererseits sind vielschichtig; sie setzen schon im Mittelalter ein und ziehen sich bis zum 18. Jahrhundert hin. Die älteren Formen bleiben daneben bestehen; denn selbstverständlich ist die gerahmte Figuren-Ich-Erzählung bis heute eine gängige Erzählform geblieben. Auch die allegorische Pseudo-Erzählung hat die Schwelle der Neuzeit noch eine Weile überlebt. Und für die quasi autobiographische Prätention einer Identität von Autor, Erzähler und Held, hinter der dennoch die Freiheit literarischer Erfindung hervorlugt, müsste man als modernes Überbleibsel unbedingt Karl May vergleichen. Karl May schreibt Ich-Erzählungen, die der Instanzenlogik der Erzähltheorie spotten. Der Autor Karl May hat bekanntlich darauf beharrt, dass die Erlebnisse des Kara ben Nemsi und Old Shatterhand seine eigenen Erlebnisse waren. Es ist wohl kaum verwunderlich, dass eine im Mittelalter entwickelte Erzähltechnik im 19. Jahrhundert im Bereich der Trivialschriftstellerei fortlebt. Im 19. Jahrhundert wirkt sie naiv, weil sie hinter Techniken zurückbleibt, die inzwischen als avancierter gelten. Im 13. Jahrhundert war sie womöglich selbst die avancierte Erzähltechnik – aber das nur nebenbei. IV. Setzen wir von hier aus noch einmal an mit der Frage, wie das Oszillieren von Ich-Erzählern zwischen allegorischer Irrealität und behaupteter (oder wenigstens nirgends in Frage gestellter) Identität mit dem Verfasser narratologisch zu fassen sein könnte. Dieses Oszillieren bleibt befremdlich, solange man es an einer Idee des Autobiographischen misst oder – auf mein Ausgangsbeispiel rückprojiziert – danach fragt, wessen Erlebnis Johann Werner hier erzählt: seines oder das einer Figur? _____________ 41

KARL A. E. ENENKEL: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographie des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin 2008.

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Was uns dabei in Schwierigkeiten bringt, ist zunächst einmal das Wort Erlebnis. Ich würde vorschlagen, nicht E r l e b n i s , sondern E r f a h r u n g als den Kern des mittelalterlichen Ich-Erzählens zu suchen. Erfahrung durchaus in dem doppelten Sinn des Wortes: Erfahrung, die man gemacht hat, und Erfahrung, die man besitzt. Dass Johann Werners Erzählung autobiographisch wäre, in irgendeinem sinnvollen Verständnis des Begriffs ‚autobiographisch‘, kann man wohl ausschließen. Auszuschließen mithin, dass der Autor ein Erlebnis seiner Jugend erzählt. Und zwar nicht anders als es auch auszuschließen ist, dass Dante in der Commedia etwas erzählt, das ihm im Alter von 35 Jahren, am Karfreitag des Jahres 1300, widerfahren ist. Der Autor als Erzähler erzählt nicht etwas, das ihm tatsächlich passiert ist. Wie alle mittelalterlichen Ich-Erzähler spricht Johann Werner als Reimredner ex officio mit einer Lizenz zur Narrativierung von exemplarischen, lehrhaften Inhalten. Was der Verfasser über die Liebe zu wissen glaubt, was er von ihr am eigenen Leib erfahren haben will, erzählt er in Form von typisierten Liebesabenteuern, die er höchstselbst erlebt haben will. Er narrativiert eine allgemeine Erfahrung. Erfahrung ist nun auf verschiedenen Wegen zu gewinnen, anders als das Erlebnis. Erfahrung über die Frauen und die Liebe gewinnt man auch aus dem Hörensagen, aus dem Exempelschatz der Überlieferung, als Leser. Deshalb muss es nicht verwundern, wenn literarisches Material sich bruchlos in eine biographische Grundstruktur der Narration einfügen lässt. Die Erzählhandlung ist also Fiktion, poetische Einkleidung einer allgemeineren Wahrheit. Der Autor als Erzähler erzählt etwas, das er erfahren hat – woher auch immer – a l s e t w a s , d a s i h m p a s s i e r t s e i n will. Von hier aus lässt sich auch genauer beschreiben, was in dem Verhältnis zwischen erlebenden Ich und erzählendem Ich vorgeht. In der modernen Autobiographie sind dies ein Früher und Später, zwei Aspekte, zwei Momente einer Person, auf deren existentielle Verklammerung nicht verzichtet werden kann. Dasselbe gilt für die romanhafte PseudoAutobiographie der Neuzeit. Der gerettete und heimgekehrte Robinson Crusoe schreibt die Abenteuer des jungen Robinson auf. Der eine ist so fiktiv wie der andere, aber jedenfalls gehören beide derselben Realität an. Schematisch dargestellt:

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Abb. 2: Erzähler- bzw. Ich-Instanzen in der neuzeitlichen Autobiographie und Pseudo-Autobiographie

Wenn es in mittelalterlichen Ich-Erzählungen aber gar nicht um Erlebnisse geht, sondern um Erfahrungswissen, das in stilisierte, exemplarische, erfundene Erlebnisse narrativ umgesetzt wird, wenn Erlebnisse erfunden werden, stehen erzählendes Ich und erlebendes Ich nicht mehr in derselben Realität. Das erzählende Ich, das über Erfahrungswissen verfügt und den Auftrag, dieses zu vermitteln, muss man wohl weitgehend als die textuelle Widerspiegelung des Verfassers ansehen. Auch wenn die Erzählungen nun behaupten, dass dieses Ich zugleich der Protagonist der Handlung sei, hat die Handlung doch nie stattgefunden. Sie kann als Traum, als Vision oder als Allegorie markiert sein. Die imaginäre Handlung affiziert nun aber auch das erlebende Ich, umflort es mit der Aura des Imaginären. Es schiebt sich damit eine markierte Fiktionsgrenze zwischen Erzähler und Protagonist, und das, obwohl auf der Identität der beiden insistiert wird! Das heißt: als Erzählenden erfindet sich der Ich-Erzähler durchaus nicht, aber er erfindet sich als Erlebenden.

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Abb. 3: Erzähler- bzw. Ich-Instanzen in der mittelalterlichen Ich-Erzählung (vgl. oben Abb. 2)

V. Meine These wäre nun: Ein e r z ä h l e n d e s Ich zu fingieren, gelingt in der abendländischen Erzählkultur erst signifikant später als die Fiktion eines erlebenden Ich. Mit Fingieren soll der Entwurf einer unmissverständlich vom Autor selbst verschiedenen Figur gemeint sein, nicht schon die unumgängliche Selbststilisierung, die eintritt, wenn ein Sprechender oder Schreibender ‚Ich‘ sagt. Dass solches Fingieren im Hoch- und Spätmittelalter offenbar nicht angestrebt wurde und dass erst eine Schwelle überschritten werden musste, damit seit der Neuzeit Erzähler erfunden werden, möchte ich im Folgenden begründen. Ich beziehe damit zugleich in einer Frage Stellung, die die Kontroverse zwischen den Bandherausgebern durchzieht, nämlich ob die Vorstellung von Schwellen, Modernitätsschwellen, geeignet ist, einen historischen Prozess zu beschreiben. Ich bin ausgegangen von der Schwierigkeit zu benennen, wer eigentlich erzählt. Das Ich der Erzählung ist zu unindividuell, zu wenig autoreflexiv, um als Person erkennbar und identifizierbar zu sein. Aber was heißt

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eigentlich Person? Wer spricht, wenn in einem Text ‚ich‘ gesagt wird? Wer ist dieses Ich? Oder: Wie macht es das Ich, dass es den Eindruck erweckt, es sei eine Person, eine kohärente Person?42 Wenn im Alltag jemand ‚ich‘ sagt und ein Erlebnis erzählt, ist diese Frage belanglos. Natürlich ist derjenige, der da von sich spricht, eine Person. Er müsste schon sehr unsinnige, zusammenhanglose Dinge von sich erzählen, dass wir an ihm zweifeln – aber selbst dann zweifeln wir nicht daran, dass er eine Person sei, sondern allenfalls, ob er denn ganz richtig im Kopf ist. Das aber ist bei aufgeschriebener Rede ganz anders. Nicht jeder Ich-Satz erweckt den Eindruck, hier sei eine Person sprechend anwesend – das ist eines – oder auch, dieses Ich vertrete tatsächlich eine bestimmte, einzigartige, identifizierbare und wiedererkennbare Person – das ist das andere.43 Das eine, die scheinbare Präsenz einer Person, nenne ich einmal versuchsweise ‚Stimme‘; das andere, den Bezug auf ein Individuum, nenne ich für den Augenblick einmal ‚Identität‘.44 Identität wäre das, was die Wiedererkennbarkeit _____________ 42

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Mir geht es dabei weniger um die grundsätzliche Frage, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass sprachliche Strukturen das Potential haben, in der Vorstellung des Lesers die Illusion einer ‚Person‘ zu generieren. Hierfür wäre auf kognitionspsychologische Erklärungsansätze zu verweisen, da die Textrezeption als vermittelte Wahrnehmung offensichtlich auf Strukturen der direkten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung basiert. Klassisch hierzu HERBERT GRABES: Wie aus Sätzen Personen werden ... . Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica 10 (1978), S. 405-428; des Weiteren vgl. den kurzen Forschungsüberblick bei FOTIS JANNIDIS: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004 (Narratologia 3), S. 177-185, der sich vor allem anlehnt an RALF SCHNEIDER: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000. WOLF SCHMID: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2005 (Narratologia 8), differenziert ganz ähnlich: „ein Erzähler kann stark markiert sein, ohne eine persönliche Identität zu besitzen“ (S. 78). WERNER WOLF: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen 1993 (Buchreihe der Anglia 32), S. 414, unterscheidet zwischen einer primären „Referenzillusion“ und der „Sekundärillusion einer Gegenwart des erzählenden Ichs“. ‚Identität‘ ist ein schwer theoriebefrachtetes und deswegen problematisches Wort. Ich möchte es in diesem Zusammenhang nicht an philosophische, soziologische oder psychologische Theorien des Selbst und der Person anbinden. Ich meine mit Identität jedoch auch etwas anderes, als JANNIDIS (Anm. 42), S. 137-149, in figurennarratologischem Kontext unter diesem Begriff diskutiert; in seinem Modell ist Identität die Sicherstellung von textueller Rekurrenz: die sprachliche Verfasstheit des Textes, die dafür sorgt, dass Erwähnungen einer Entität rückbezogen werden auf (in demselben Text) bereits eingeführte Entitäten, dass also Figuren ‚wiedererkannt‘ werden, auch wenn auf sie nicht jedes Mal mit demselben Wort referiert wird. Das ist weitgehend eine Sache textlinguistischer Kohäsion und Kohärenz. Geht man aber davon aus, dass in den meisten Texten diese elementare Vorbedingung der Figurenkonstitution unproblematisch ist, so kann sich der Leser immer noch die Frage stellen: ‚Wer ist die Person, von der die Rede ist? Kenne ich sie anderweitig?‘ Diese Frage weist über die Grenzen des Texts hinaus, und selbst wenn man von vornherein unter einer Figur ein fiktives Wesen versteht (wie es in den meisten narratologischen Modellen der Fall ist), erübrigt sie sich nicht. Lady Macbeth und Donald Duck kann

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einer Person oder einer Figur garantiert und was es erlaubt, die Frage zu beantworten: W e r spricht da? Ist das ein Mann oder eine Frau? Hat diese Person einen Namen, einen Stand? Wir stellen diese Fragen normalerweise, wenn wir einem Text begegnen, der von einem Ich geäußert scheint. Wenn der Leser ein Buch aufschlägt und der Text auf der ersten Seite mit ‚Ich‘ beginnt – wer spricht da? Heutigentags bekommt niemand ein Buch in die Hand, ohne vorher vom Buchdeckel oder Titelblatt orientiert worden zu sein über die Textgattung. Deshalb ist diese Frage leicht zu beantworten: In nicht-fiktionalen Gattungen erwartet der Leser hier die Stimme des Autors, in fiktionalen Gattungen erwartet er dagegen die Stimme einer Figur. Im ersten Fall ist er über den Besitzer der Stimme nicht selten bereits gut informiert, schließlich liest man nicht-fiktionale Texte (wie Memoiren, Essays, Ratgeber) oft gerade ihres Verfassers wegen; im Fall von Romanen und Erzählungen hat die seit ca. 150 Jahren immer zunehmende Tendenz zur personalen Erzählhaltung und damit meist einhergehenden etischen Textanfängen45 den Leser daran gewöhnt, geduldig und interessiert die Stimme des Erzählers sich entwickeln zu lassen, sie abzuhorchen und dabei die Identität des Erzählers aus Indizien, die dieser selbst preisgibt, sukzessive zu konstruieren. Dass die Erwartungen und VorabOrientierungen, wer denn da sprechen mag, gültig sind, erweist sich auch _____________

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man beliebig in neuen Texten auftreten lassen – was nichts anderes heißt, als dass sie dort als sie selbst wiedererkennbar gestaltet (oder benannt) sein müssen. Da darüber hinaus Erzählen nicht grundsätzlich fiktional sein muss – man kann auch von Christoph Kolumbus, Frida Kahlo oder einer namenlosen Urlaubsbekanntschaft e r z ä h l e n – und der Rezipient nicht immer von vornherein wissen kann, ob die Erzählung fiktional ist oder nicht, gehört zum Verstehen einer Erzählung immer auch der Versuch der Referentialisierung, d. h. das Ansinnen, über die Grenzen des Texts hinaus danach zu fragen, ob hier nicht eigentlich von einem bestimmten Individuum die Rede ist (gleich, ob der Rezipient von der Existenz dieses Individuums zuvor schon wusste oder nicht). – Von linguistischer Seite über die Referenz des Pronomens ‚ich‘ nähert sich LEJEUNE der Frage der Identität des autobiographischen Ich: PHILIPPE LEJEUNE: Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie. Hrsg. von GÜNTER NIGGL, Darmstadt 1989 (Wege der Forschung 565), S. 214-257; zuerst als: Le pacte autobiographique. In: Poétique 4 (1973), S. 137-162). – Figurenidentität im Sinne von Wiedererkennbarkeit ist eine graduelle Eigenschaft. In vielen Textgattungen sind Figuren mit nur generischer, aber kaum persönlicher Identität die Norm (z. B. Märchen, Fabeln, Witze). Zu den Techniken des ‚emischen‘ und des ‚etischen‘ Textbeginns vgl. STANZEL (Anm. 6), S. 215-220. Der ‚emische‘ Textanfang ist erläuternd, orientierend, auf den Wissensstand des Textrezipienten bezogen („Es lebte einmal ein kleines Mädchen ...“), der ‚etische‘ dagegen ist nur in ‚literarischen‘ Texten überhaupt möglich, dort allerdings inzwischen zum Normalfall geworden. Er geht nicht auf den Leser ein, sondern zwingt ihn, sich abrupt dem Horizont des textinternen Sprechers anzuvertrauen (Beispiele findet man in beliebigen belletristischen Neuerscheinungen: „Über die ganze Länge des Tischs hatte sie ihm den Apfel zugeworfen, dabei ausgeholt wie ein Baseball-Spieler, in einer einzigen langen, eleganten Bewegung, hatte ‚grüner Engel, meine Lieblingssorte‘ gerufen und gelacht ...“; Dagmar Leupold: Grüner Engel, Blaues Land, München 2007). Die Begriffe gehen auf ROLAND HARWEG: Pronomina und Textkonstitution, München 1968, zurück.

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daran, dass ein besonderes literarisches Raffinement darin bestehen kann, sie just zu unterlaufen – so dass in (post-)modernen Erzählungen etwa unter großer sprachlicher Anstrengung zu verschleiern versucht werden kann, ob der Ich-Erzähler weiblich oder männlich ist. Identität kann das Resultat einer stimmigen impliziten Charakterisierung sein, kann aber auch durch bloße Zuschreibung vergeben werden. Eine Namensnennung reicht dafür schon aus. Nach der Erfindung des Titelblatts im Buchdruck46 war dieses eine Zeitlang der Ort für diese Form der Zuschreibung einer (obschon) fingierten Identität eines Ich-Erzählers (vgl. Abb. 4, nächste Seite). Heute dagegen gehört das Titelblatt wieder ausschließlich dem Autor. Sofern Identität etwas bloß Deklariertes (oder in Abrede Gestelltes) sein kann, kann sie in Widerspruch zu anderen Zügen des Textes geraten, die an der Charakterisierung eines sprechenden Ich beteiligt sind. ‚Stimme‘ ist ein wichtiger solcher Zug. Damit meine ich das Hörbarwerden einer persönlichen Anwesenheit, eine gewisse Zudringlichkeit der Erzählerstimme.47 Ich verwende den Ausdruck nicht im selben Sinn, wie er in GÉRARD GENETTES Modell erscheint zur Bestimmung der Größe ‚Wer spricht?‘, also nicht im Sinne einer abstrakten Instanz, sondern im Sinne der konkreten Füllung der Erzählinstanz mit der Illusion einer persönlichen Präsenz.48 Aus der moderneren Literatur kennt man zahlreiche erzählerische Verfahren, um den Eindruck von Präsenz hervorzurufen: so die mimetische Abbildung von Mündlichkeit, insbesondere von Idiolekten.49 Im Mittelalter wird man allem voran an vorlaute Manifestationen des Erzählers denken wie etwa die Wolframs von Eschenbach. Erzählerbemerkungen lassen generell den Eindruck eines präsenten Erzählers entstehen. Einen nachgerade theatralen Effekt erzielen fingierte Gespräche eines Erzählers mit dem Publikum, ganz prominent Hartmann _____________ 46

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URSULA RAUTENBERG: Das Titelblatt. Die Entstehung eines typographischen Dispositivs im frühen Buchdruck, Erlangen 2004 (Alles Buch. Studien der Erlanger Buchwissenschaft 10); MARGARET M. SMITH: The title-page. Its early development 1460-1510, London, New Castle 2000; GUSTAV ADOLF ERICH BOGENG: Über die Entstehung und die Fortbildungen des Titelblattes. In: Das Titelblatt im Wandel der Zeit, Leipzig 1930 (Buch und Schrift. Jahrbuch des Deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum 3), S. 74-94. Zum (metaphorischen) Begriff der ‚Stimme‘ vgl. RICHARD ACZEL: Hearing Voices in Narrative Texts. In: New Literary History 29 (1998), S. 467-500; Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Hrsg. von ANDREAS BLÖDORN/DANIELA LANGER/MICHAEL SCHEFFEL, Berlin, New York 2006 (Narratologia 10). Vgl. SONJA GLAUCH: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens, Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), S. 78 und Anm. 167. Nur ein Beispiel aus der jüngsten bundesrepublikanischen Literaturgeschichte ist Kanak Sprak; dazu JULIA ABEL: Konstruktionen ‚authentischer‘ Stimmen. Zum Verhältnis von ‚Stimme‘ und Identität in Feridun Zaimoglus Kanak Sprak. In: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Hrsg. von ANDREAS BLÖDORN/DANIELA LANGER/ MICHAEL SCHEFFEL, Berlin, New York 2006 (Narratologia 10), S. 297-320.

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von Aue im Erec. Mit den mimetischen Möglichkeiten der Moderne lässt sich aber selbst das nicht entfernt vergleichen. Darüber hinaus sind Wolfram und Hartmann keine Ich-Erzähler.

Abb. 4: Die Titelblätter der Erstdrucke des Lazarillo de Tormes und des Robinson Crusoe

Die Ich-Erzähler des Mittelalters wiederum haben ganz allgemein wenig ‚Stimme‘, sie sind als Erzähler unaufdringlich. Auch Ulrich von Lichtenstein bringt sich als erzählendes Ich kaum zur Geltung.50 Das schränkt die charakterisierende Wirkung der Erzählerrede ein und trägt dazu bei, dass _____________ 50

„Insgesamt aber ist die (explizite) Präsenz des Autor-Ich [des Frauendienstes, S. G.] nur schwach ausgeprägt. Es erscheint als grammatisches Subjekt des Erzählens, nicht aber als Person, deren (im Moment des Schreibens) gegenwärtige Existenz zum eindeutigen Fluchtpunkt des vergegenwärtigten Prozesses vergangener Existenz(formen) würde“; CHRISTIAN KIENING: Der Autor als ‚Leibeigener‘ der Dame – oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Hrsg. von ELIZABETH ANDERSEN u. a., Tübingen 1998, S. 211-238; als überarb. Fassung wiederabgedr. in (und zit. nach): CHRISTIAN KIENING: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 199-222, hier S. 202.

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die Erzähler als Erzähler unindividuell wirken.51 Eher individuieren sie sich auf der Ebene des Geschehens, und hier wiederum auf der Ebene ihrer Körper:52 Ulrich von Lichtenstein individuiert sich mit seiner Mundoperation und dem abgehackten Finger – kann man dabei vergessen, dass der möglicherweise ‚individuellste‘ Autobiograph des Mittelalters, Abaelard, seinen Ich-Entwurf auf die Ungeheuerlichkeit einer Kastration gründen musste? Solches erzählte Geschehen (vielleicht nicht bei Abaelard, aber sicher bei Ulrich) ist jedoch als narrative Einkleidung eines allgemeinen Erfahrungswissens in unbestimmbarem Grad imaginär und exemplarisch. Somit sind die Ich-Erzähler als Erzählende schwach profiliert, und als Erlebende verschwimmt ihre Kontur im Beispielhaft-Allgemeinen. Hier zeigt sich deutlich eine Abweichung von der Erwartung, dass die IchRede für die Gestaltung von Autoreflexivität und den Ausdruck von Subjektivität prädestiniert sein sollte. Nicht zuletzt qua ‚Stimme‘ wird diese Subjektivität in der Neuzeit gestaltet. Und die zweite Abweichung von den modernen Verhältnissen besteht in der Identität der Ich-Erzähler: denn wo immer eine Identität überhaupt erkennbar ist, vor allem aufgrund von Namensnennungen, hat der Ich-Erzähler keine erfundene Identität. Noch einmal also die Frage: Wer spricht also, wenn in einem Text ‚ich‘ gesagt wird? Wer ist dieses Ich? Wie wird es unverwechselbar? Ich würde behaupten, die beiden Größen ‚Stimme‘ und ‚Identität‘ wirken zusammen, wenn der Leser diese Fragen zu seiner Zufriedenheit beantworten soll. Das gilt zum einen für das autobiographische Schreiben, bei dem nicht nur die Identität, sondern auch die Stimme plausibel die des Autor sein müssen;53 es gilt aber ebenso für fiktive Ich-Erzähler. Die IchErzählung der Neuzeit ist just der Ort, an dem Autoren ein solches fremdes Sprechen plausibel machen wollen. Die Geschichte der Ich-Erzählung seit der Frühen Neuzeit ist geradezu eine der zunehmenden Verfremdung und Entäußerung der Autorrede. Einen fremdartigen Erzählerstandpunkt zu fingieren, eine fremde Stimme als Pseudo-Autor ihrer eigenen Auto_____________ 51

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Zum Grad der Individualisierung der Minnereden-Ich-Erzähler vgl. auch GLIER (Anm. 10), S. 394-399. Sie bringt Beispiele für eine Skala, die von völlig unindividuellen ‚Ichs‘ bis zu deutlich biographisch bezogenen reicht (Hugo von Montfort, Christine de Pisan, Hans Sachs) und weist besonders auf „jene Mitte zwischen Fiktion und biographischem ‚Realismus‘“ hin, eine Position, die etwa Hermann von Sachsenheim bezieht, der in spielerischer Weise „die Identifikation mit dem ‚Ich‘ immerhin möglich erscheinen lässt, sie aber nie eindeutig vollzieht“ (S. 397). Zur Rolle des Körpers für autobiographische Textentwürfe der Mittelalters ist auf drei Aufsätze von CHRISTIAN KIENING zu verweisen, wiederabgedruckt in: CHRISTIAN KIENING: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 179-198 (zu Guibert von Nogent), S. 199-222 (zu Ulrich von Lichtenstein) und S. 223-243 (zu Opicinus de Canistris). Das wird man als Bedingung für den unproblematischen Abschluss des ‚autobiographischen Pakts‘ (LEJEUNE [Anm. 44]) ansehen dürfen.

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biographie sprechen zu lassen, gehört eben zum Reiz dieser Erzählform. Die Stimme des wirklichen Autors verschwindet im Gegenzug zunehmend aus dem Text.54 Im neuzeitlichen Ich-Roman als Pseudo-Autobiographie wird also eine Grenze zwischen Autor und Erzähler – und damit die Fiktionalität des Romans – nicht nur durch die namentliche NichtIdentität von Autor und Erzähler-Ich markiert, sondern oft genug auch durch ein abweichendes Register der Erzählerstimme. Einen Erzähler fingieren heißt also eine fremde Stimme fingieren. Dies aber heißt, die auktorielle Hoheit über die Erzählung abtreten zu müssen, sie sogar deutlich und offenkundig abtreten zu müssen, denn eine Stimme, die wie die des Autors klingt, wird nicht leicht für eine fremde gehalten werden. Der Wesenskern der mittelalterlichen Ich-Erzählung liegt nun aber darin, dass Erfahrung und dichterische Meisterschaft in ein und derselben Person zur Deckung kommen und ihr eine doppelte Autorität verleihen.55 Diese Konstellation stemmt sich gegen die Idee, eine fremde Stimme und Identität im Text zu installieren. Ebenso wichtig scheint mir, dass die Illusion einer fremden Stimme leichter zu erzeugen ist, wenn diese in einem plausibel fingierten Szenario erklingen kann. Die „Mimesis des Erzählens“56 profitiert davon, wenn ein solches Kommunikationsszenario57 metanarrativ im Text ausgespielt wird. _____________ 54

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Diese Abtretung ist ein langwieriger historischer Prozess. LÖSCHNIGG (Anm. 38) vermerkt zur englischen Pseudo-Autobiographie der Frühen Neuzeit, noch dort komme es „häufig zu einer didaktisch motivierten Überlagerung der Stimme des fiktionalen Erzählers durch die des Autors“ (S. 149). Vgl. auch STANZEL (Anm. 6), S. 271, zu Defoes Moll Flanders: „als hätte Defoe hier das erlebende Ich der Moll Flanders zusammen mit den Reflexionen eines fremden auktorialen Ich in das Joch einer einzigen Person gespannt“. Es gibt Ansätze des Auseinandertretens – oder besser der Zusammenhanglosigkeit – dieser beiden Größen vor allem in stark auf die sprachliche Form ausgerichteten Dichtungen. Als Beispiel wäre Die böse Frau zu nennen, ein Pantoffelheldenlied, das vom Kontrast zwischen der Banalität des besungenen ehelichen Kleinkriegs, der Feigheit des in der ersten Person erzählenden Ehemanns und der Großspurigkeit seines erzählerischen Pathos lebt und aus diesem Kontrast einen witzigen und parodistischen Effekt erzielt. Auch der Finkenritter ordnet sich in diese Reihe. Um die Bezüglichkeit (oder Nichtbezüglichkeit) des Ich als Redekünstler und des Ich als Protagonist in solcher Literatur auszuleuchten, sollte man auch die Lyrik einbeziehen, wo sie ‚erzählt‘ und zugleich in Reimkunststücken schwelgt (z. B. die Pastourellen Gottfrieds von Neifen). ANSGAR NÜNNING: Mimesis des Erzählens. Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts der Erzählung und der Metanarration. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Hrsg. von JÖRG HELBIG, Heidelberg 2001, S. 13-48; DERS.: Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriß einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 26 (2001), S. 125-164. Damit soll nicht behauptet werden, dass ein fiktives Erzählszenario in jedem Erzähltext vorausgesetzt oder gar explizit manifest ist! Allerdings sind sich die meisten Fiktionstheorien über diese narratologische petitio principii einig, wenn auch unter unterschiedlichen begrifflichen Etiketten. Die „Doppelstruktur der Kommunikation im literarischen Erzähl-

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An dieser Stelle kommt die Medialität und damit die Pragmatik der literarischen Kommunikation ins Spiel. Die Textualität der (Sammel-) Handschrift verweigert sich dem nämlich weitgehend. So wie Johann von Konstanz in der Eröffnung seiner Minnelehre stilisieren sich volkssprachige Dichter bekanntlich sehr lange als Sprecher, als tatsächliche Erzähler; sie tun das auch dann noch, als sie längst schreiben und längst wohl auch gelesen werden. Hier bleibt aber in der literarischen Kommunikation ein logischer Schritt schlicht offen: wie nämlich der vorgebliche Vortrag des Erzählers zum Buch geworden ist, fragt niemand und braucht auch niemand zu fragen, solange das Buch gar nicht das eigentliche Werk des Autors, sondern nur ein beliebiges Gefäß zur Aufbewahrung der Erzählung ist. Die Konvention garantiert, dass die Leistung des Autors in seiner Erzählerrede gesucht wird und macht es unnötig, nach dem Schreibakt zu fragen. Der Schreibakt liegt für kürzere hochmittelalterliche Erzähltexte also zumeist außerhalb des Textes, der Text weiß dann nichts davon, dass er aufgeschrieben ist58 – so wie Kinofilme heutigentags in aller Regel nichts davon ‚wissen‘ und nicht damit spielen, dass sie auf eine Leinwand _____________

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werk“ (SCHMID [Anm. 43], S. 46) bzw. „kommunizierte Kommunikation“ (DIETER JANIK: Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Eine semiologisches Modell, Bebenhausen 1973, S. 12) bzw. „Fiktion einer sprachlichen Äußerung“ (ULRICH KELLER: Fiktionalität als literaturwissenschaftliche Kategorie, Heidelberg 1980, S. 21) bedeutet, dass zu einer fiktionalen Erzählung zumindest implizit eine fiktive Erzählsituation gehört, in der das Erzählen vorgeblich vonstatten geht. In dieser fiktiven Erzählsituation erzählt (oder schreibt) der fiktive Erzähler für seine fiktiven Adressaten. Hier wären vielfältige Differenzierungen notwendig. Der Umfang eines Textes spielt eine Rolle (was keine Buchumfänglichkeit hat, kann schwerlich als ‚Buch‘ präsentiert werden, allenfalls als ‚Büchlein‘), noch mehr aber die Konventionen der verschiedenen Gattungen hinsichtlich der Ausformung der Autorrolle. So ist der höfische Roman sicher diejenige weltliche Erzählgattung, die als erste paratextähnliche Schriftreferenzen (Prologe, Epiloge, Akrosticha, Bitten um unveränderte Abschrift etc.) an die eigentlichen Erzählungen anlagert (bezeichnenderweise primär an die ‚Ränder‘ des Texts, vgl. GLAUCH [Anm. 48], S. 50-54), und in denen zuerst ein Selbstverständnis der Autoren als Schreibende manifest wird. Jedoch spricht, anders als in der autodiegetischen Ich-Erzählung, im Roman der Autor als (heterodiegetischer) Erzähler in seinem eigenen Namen. Darüber hinaus wäre zu unterscheiden zwischen isolierten, eingestreuten Schriftreferenzen (wie Wolframs Verweis auf Leserinnen des Parzival, 337,1-4) und Texten, die in toto von ihren Autoren als ein von ihnen geschriebenes Buch begriffen werden. In der didaktischen Literatur dürfte dieses Bewusstsein zuerst durchgedrungen sein: In Thomasins von Zirklaere Welschem Gast und Heinrich Wittenwilers Ring begreifen die Autoren sich als Verfasser und Gestalter eines Buchs. Weitere Beispiele bei MICHAEL CURSCHMANN: Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: PBB 106 (1984), S. 218-257, hier v. a. S. 238-242. Vgl. auch MONIKA UNZEITIG: Konstruktion von Autorschaft und Werkgenese im Gespräch mit Publikum und Feder. In: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik. Hrsg. von NINE MIEDEMA/FRANZ HUNDSNURSCHER, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 89-101, die nur spärliche Belege für die Vorstellung eines schreibenden Autors in der deutschen höfischen Dichtung finden kann (S. 92).

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projiziert werden.59 In dieser Äußerlichkeit, die es dem ‚Werk‘ gegenüber hat, ähnelt das Medium ‚Kodex‘ im Mittelalter eher dem heutigen Medium ‚Film‘ als dem neuzeitlichen Medium ‚Buch‘. Eine gewisse Faszination oder gar Obsession mit der Transmission der Erzählung über die Fiktionsgrenze hinweg scheinen dagegen besonders die Ich-Romane der frühen Moderne zu verraten: hier begegnet man immer wieder Herausgeberfiktionen, der Ansprache des ‚geneigten Lesers‘, spielerischen Verweisen auf Satz, Druck und Verlag und Selbstreflexionen über das Schreiben.60 All dies weist darauf hin, dass man spätestens im 17. Jahrhundert die bedruckte Seite nicht mehr als äußerlichen Träger der Erzählung ignorieren konnte oder wollte, sondern das erzählende Ich sich mit dem Medium ins Benehmen setzen musste. Der Leser durfte erwarten, darüber zu orientiert werden, wie die Worte des Erzählers auf die Seite gelangt waren, die er nun umblätterte. Zugleich eröffnete die selbstreflexive Thematisierung des Mediums und des Schreibakts neue und reizvolle Potentiale der Ironisierung (Kater, die ihren Pfoten das Schreiben erst abringen müssen; Autobiographieschreiber, die langsamer schreiben als ihr Leben voranschreitet ...) und lud zu metaleptischen Verwirrspielen ein.61 Wie kommt es zu diesem Umbruch? Die ‚einfachere‘ Konstellation ist die mittelalterliche: sie sieht das Medium tatsächlich nur als Mittler und Träger, lässt den Rezipienten durch das Medium der Handschrift somit weitgehend hindurchsehen. Die didaktische und poetische Autorität der Verfasser vermittelt sich innerhalb des Wortlauts der Texte durch die auktoriale Stimme, die die Referenz auf die Person des Autors sicherstellt. Die Ich-Erzählungen sind in der Tat noch ‚Erzählungen‘. Sobald sich Autoren als schreibend denken und ihre Autorrolle im Text dementsprechend gestalten – was in verschiedenen Gattungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Fall war –, beginnt sich diese Konvention aufzulösen. _____________ 59

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Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, in denen mit dem Illusionsbruch gespielt wird, indem etwa ins Zelluloid geschmolzene Bildfehler inszeniert werden oder ein Mikrophon ins Bild hängt. Reich an solchen medialen Selbstreferenzen und Ebenendurchbrüchen waren – im Fernsehmedium – z. B. Monty Python’s Flying Circus und die österrreichische Krimiserie Kottan ermittelt. Die Wirkung ist eine ähnliche wie bei Metalepsen: ironische Offenlegung der sonst wirksamen Illusionsmechanismen, Verfremdung, im Extremfall vielleicht auch Verunsicherung. Zum Normalfall filmischen Erzählens gehören solche witzigen Einfälle nicht; sie nutzen sich auch sehr schnell ab. Zu Herausgeberfiktionen in der englischen Literatur etwa LÖSCHNIGG (Anm. 38), S. 91-105, und zum Phänomen der ‚Medialisierung des Erzählvorgangs‘, d. h. der Konkretisierung der Kommunikationssituation, S. 116-122. Unter dem Begriff ‚syndiegetisch‘ und am Beispiel des Katers Murr verhandelt REMIGIUS BUNIA die Tatsache, dass die Typographie bzw. das Gedrucktsein des Textes zu einem der Gegenstände des Romans werden kann; REMIGIUS BUNIA: Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen ‚Erzähler‘ und ‚Paratext‘, angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann. In: Poetica 37 (2005), S. 373-392.

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Denn dann verkoppelt sich die Autorität der Verfasser mit dem prestigeträchtigen Medium ‚Buch‘.62 Irgendwann erwarten Leser, einen Buchautor vorzufinden, der ihnen als Schreibender gegenübertritt. Das, was als das ‚Werk‘ des Autors angesehen wird, wandelt sich von der Erzählung zum Buch.63 Wo ein Autor seine Stimme aber zugunsten eines fiktiven Erzähler-Ich zurücktreten lassen will, würde nun eine Plausibilitäts- und Authentizitätslücke klaffen, die zuvor, solange ‚Erzähler‘ (bzw. Autor) und Buch nichts miteinander zu tun hatten, gar nicht auftreten konnte. Um einen fiktiven Autor überzeugend wirken zu lassen, muss diesem nun auch jene Autorität des Buchautors übertragen werden. Deshalb können die logischen Schritte zwischen der Rede des Erzählers und der Niederschrift – sowie der Niederschrift und dem Druck – nun zu einem Thema werden, sie können plausibel oder unplausibel gefüllt werden und zugleich mit in den Dunstkreis der Fiktion geraten.64 Darüber hinaus wandert der Schreibakt damit in den Text ein, der Text präsentiert sich als geschriebener. Und eben dieses Sprechen über den Schreibakt verleiht einer Erzählerstimme Präsenz, verleiht dem Erzähler eine ‚Stimme‘. Bei der IchErzählung ist es zuvörderst die Auseinandersetzung mit der Situation, in der sich der Autobiograph befindet, wenn er sein eigenes Leben erinnert, rekapituliert und niederschreibt, die die charakteristische Spannung und _____________ 62

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Ob das Medium des Films jemals diese Entwicklung nachvollziehen wird, halte ich für fraglich. Wenn der Roman in der frühen Moderne das Buchmedium, in dem er selbst vorliegt, thematisiert und in die Fiktion hineinzieht, eignet er sich ein tausend Jahre altes Prestige der ‚ernsthaften‘ Buchschriftlichkeit an – wie es auch eine wesenhafte Eigenschaft des Romans als Gattung zu sein scheint, dass er alle ‚ernsthaften‘ Kommunikationsszenarien imitieren und inkorporieren kann. Der Autor als Lehrer, als Historiograph, als Bekennender – vergleichbare zur Imitation verlockende Autorhaltungen kann das audiovisuelle Medium mit seiner kurzen Geschichte und seiner nicht gerade seriösen Reputation als Unterhaltungsmedium kaum anbieten. Zur französischen Literatur vgl. etwa MAX GROSSE: Das Buch im Roman. Studien zu Buchverweis und Autoritätszitat in altfranzösischen Texten, Tübingen 1994. Vgl. auch oben Anm. 58. Zu beobachten etwa in der 1669 erschienenen Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi Oder Der Schluß desselben, die Fragen beantwortet, „die sich zuvor, da [im Simplicissimus, S. G.] der Schreibakt in unproblematischem Dunkel blieb, nicht stellten, nun aber die Glaubwürdigkeit des gesamten Erzählprojekts gefährden“. Denn mit der Versetzung des autobiographieschreibenden Einsiedels auf eine utopische Insel, wo dieser sein Leben „mit einem Gemisch aus ‚Praesilien Safft‘ und ‚Citronen-Safft‘ ‚auff eine Art grosser Palmblätter‘ (ST 569)“ schreibt, „handelt sich der Simplicissimus-Text nicht geringe erzähllogische Anfechtungen ein“, denen NICOLA KAMINSKI: Narrator absconditus oder Der Ich-Erzähler als ‚verschwundener Kerl‘: Von der erzählten Utopie zu utopischer Autorschaft in Grimmelshausens Simplicianische Schriften. In: DVjs 74 (2000), S. 367-394 (die Zitate S. 370), nachspürt: „Wie aber soll dieses erbauliche Palmblätter-Konvolut wieder in die Welt und damit zum ‚ehrlich gesinnte[n] Christliche[n] Leser‘ finden?“ Dass ein Text diese Frage beantworten möchte – wobei er mit der Antwort die Notwendigkeit ihrer Beantwortung allererst sichtbar macht –, scheint mir typisch frühneuzeitlich.

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den Distanzgewinn zwischen erzählendem und erlebendem Ich möglich werden lässt. Dass solche medialen Selbstkonzepte von Erzähltexten am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und im Übergang von der Handschrift zum Buchdruck nicht losgelöst von der tatsächlichen medialen Existenz der Texte betrachtet werden können, dürfte einleuchten.65 Von diesem medialen Standpunkt aus ist jedenfalls festzuhalten: Die gegenüber der Handschrift veränderten Distributionsmechanismen führen dazu, dass in gedruckten deutschsprachigen Büchern binnen einiger Jahrzehnte paratextuelle Lektürelenkungsstrategien gewählt werden, die nicht mehr mit der imaginierten ‚Kommunikation unter Anwesenden‘ etwas zum Modell haben, was ein Auseinanderfallen von Autor- und Erzählerrolle kaum erlaubt bzw. allenfalls zur Modellierung einer Erzählerrolle einlädt, sondern die das Ansprechen einer anonymen Käufer- und Leserschaft nachzeichnen. Dieses Ansprechen ‚aus der Ferne‘ macht es allererst möglich, dass ein fiktiver schreibender Autor an die Stelle des ‚echten‘ Autors tritt. Wenn das Fingieren eines erzählenden Ich bedeutet, (vom Autor her gesehen) eine ‚Stimme‘ innerhalb der Fiktionsgrenze anzusiedeln und die eigene Stimme zurückzunehmen, dann fördert der entwickelte Buchdruck seit dem 17. Jahrhundert dies schon deshalb, weil er dem Autor feste paratextuelle Rückzugsräume wie etwa das Titelblatt einräumt. V. Angenommen, der Umbruch des 16./17. Jahrhunderts ist in erzähltheoretischer, d. h. struktureller Hinsicht zutreffend beschrieben als eine Verlagerung der Fiktionsgrenze und als die Erfindung fiktiver Autorschaft – was tun wir damit im Hinblick auf das, was auf unserer Tagung umstritten sein dürfte und umstritten sein soll: also die Legitimität von Geschichtsund Fortschrittsmodellen, von Alterität und ganz allgemein der Historisierung von Narratologemen? Ich spreche einerseits von einer Erfindung und einem Umbruch, d. h. einer Innovation. Ebenso wie der Buchdruck nicht nur technisch, sondern auch als Distributionsmechanismus eine Innovation genannt werden muss, kann das für Konventionen des Erzählens gelten. Dennoch fördert es die Erkenntnis wenig, die Buchkultur des 12. Jahrhunderts als eine zu beschreiben, die den Buchdruck ‚noch nicht‘ _____________ 65

Vgl. exemplarisch JAN-DIRK MÜLLER: Jch Vngenant und die leút. Literarische Kommunikation zwischen mündlicher Verständigung und anonymer Öffentlichkeit in Frühdrucken. In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. Hrsg. von GISELA SMOLKA-KOERDT/PETER M. SPANGENBERG/DAGMAR TILLMANN-BARTYLLA, München 1988, S. 148-174.

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kennt. Rückblickend mag das vollkommen zutreffen, über die Buchkultur des 12. Jahrhunderts sagt es wenig bis nichts aus. Ebenso wenig Sinn hat es, das Ich-Erzählen des Mittelalters unter der Rubrik des ‚noch nicht‘ zu beschreiben. Nicht ganz zu Unrecht macht man dem Reden vom ‚noch nicht‘ den Vorwurf des Teleologischen, als ob eben die Erfindung fiktiver Autorschaft im Ich-Erzählen immer schon oder a priori angelegt wäre. Das ist sicher nicht der Fall. Die Orientierung auf ein Späteres ist also problematisch. Trotzdem ist sie unabwendbar, denn Andersartigkeit wird nur im Vergleich sichtbar. Es braucht zwei verschiedene Ausprägungen von e t w a s , damit die eine wie die andere ihre Konturen bekommt. Ich habe daher sehr bewusst versucht, eine Andersartigkeit zu beschreiben, die für sich selbst stehen kann, die ohne ‚noch nicht‘ auskommt, und die trotzdem die Differenz zu einem späteren System betont. Dabei ist die Erzähltheorie einerseits als Beschreibungsinstrumentarium notwendig und andererseits gefährlich. Die Verwendung moderner Terminologie und Analysemodelle verlockt zu einer teleologischen Beschreibung, weil moderne Konventionen leicht als Quasi-Normen missverstanden werden. So die Nichtidentität von Autor und Erzähler, in vielen Erzähltheoriemodellen ein Dogma. Deren Nichtidentität ist eine Konvention vor allem der Romanfiktion des 19. und 20. Jahrhunderts. Geht man mit diesem Dogma an mittelalterliche Texte heran, wird man eine Ausdifferenzierung und Grenzziehung unterschwellig auf Phänomene übertragen, bei denen diese Ausdifferenzierung nicht gilt, nie gegolten hat und auch als zukünftige Entwicklung nicht bereits angelegt war. Mit dem modernen Theoriemodell im Hinterkopf kann man aber eine Nichtdifferenzierung kaum anders als eine Noch-Nicht-Differenzierung beschreiben. Jedenfalls wird die mittelalterliche Erzählpraxis zu einer Abweichung vom Modell. So pflegt man zu beschreiben, dass im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein Autor, Erzähler und Protagonist zusammenfallen, dass mithin alle dieselbe Identität namens Ulrich besitzen.66 Das ist zwar nicht falsch, aber insofern irreführend, weil sich Autor und Erzähler in dieser Zeit gar nicht in verschiedene Identitäten dissoziieren könnten. Dass sie es im Mittelalter nicht können, in der Neuzeit aber doch, ist die Benennung einer grundsätzlichen Andersartigkeit. Aber solche Alterität zu behaupten ist kein Werturteil. Weder wird damit eine nostalgische Simplizität hypostasiert noch wird damit fortschrittshörig ein prämodernes Noch-Nicht-Mittelalter installiert. Differenzen zu benennen ist primär ein wertfreies Tun, und dieses ist nicht nur legitim, sondern unhintergehbar. Eine literarische Kultur, die eine fiktive Autorschaft kennt, unterscheidet _____________ 66

LINDEN (Anm. 37).

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sich von einer, die keine fiktiven Autoren kennt. Diese Differenz muss man nicht zur Differenz von Denkformen stilisieren; auch die Differenz von Konventionen der literarischen Kommunikation greift tief genug, um die Quasi-Normen eines erzähltheoretischen Modells zu unterminieren. Ich würde im Hinblick auf die Ich-Erzählung jedenfalls nicht anstehen zu behaupten, dass sich ein modernes System (nämlich seit der Frühen Neuzeit, spätestens seit dem 17. Jahrhundert) und ein älteres System ausprägen und dass man zwischen ihnen einen Umschlag oder eine Schwelle diagnostizieren muss. Auch wenn einzugestehen ist, dass diese Schwelle aus mehreren Teilschwellen besteht und sich mindestens vom 14. bis zum 17./18. Jahrhundert hinzieht – nennen wir sie eben eine Modernitätsschwelle!

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Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie I. ‚Historische Narratologie‘ In ihrem programmatischen Beitrag The Diachronization of Narratology von 2003 hat MONIKA FLUDERNIK gezeigt, welche Randstellung die Geschichtlichkeit des Erzählens als Forschungsobjekt in der klassischen Narratologie einnahm.1 Zurückzuführen ist dies – selbstverständlich, möchte man fast sagen – auf die synchronische Ausrichtung der Narratologie, sei sie strukturalistischer Prägung oder Modellen möglicher Welten verpflichtet.2 Für FLUDERNIK ist eine Diachronisierung als „exciting new area of research“ (S. 332) das Gebot der Stunde, eine neue Richtung also, der ihr zufolge drei Forschungsinteressen den Weg bereitet haben: das feministische rewriting von kanonischer Literaturgeschichte mit dem Ziel, Literatur und Erzählmodelle von und für Frauen wiederzuentdecken, die Ausweitung des narratologischen Interesses auf Geschichtswerke (in der Nachfolge HAYDEN WHITEs) und die Forschungen zu Vorformen und Entstehung des neuzeitlichen Prosaromans (S. 331f.).3 _____________ 1 2

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MONIKA FLUDERNIK: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11 (2003), S. 331-348. Hier S. 331: „Classical structuralist narratology, with its ‚geometrical imaginary‘ (Gibson), necessarily had a synchronic outlook, and the same is true for possible world theory and many poststructuralist approaches.“ FLUDERNIK bezieht sich auf ANDREW GIBSON: Towards a Postmodern Theory of Narrative, Edinburgh 1996. Vor allem die feministisch akzentuierte Narratologie hat den Gegenstandsbereich der klassischen Narratologie nicht nur ausgeweitet, sondern diese auch politisiert. Zur Diskussion um die Zuständigkeiten und Grenzen der Narratologie angesichts dieser neueren Kontextualisierungen siehe bes. die Diskussion zwischen DAVID DARBY und TOM KINDT/HANS-HARALD MÜLLER: DAVID DARBY: Form and Context. An Essay in the History of Narratology. In: Poetics Today 22 (2001), S. 829-852; TOM KINDT/HANSHARALD MÜLLER: Narratology and Interpretation. A Rejoinder to David Darby. In: Poetics Today 24 (2003), S. 413-421; DAVID DARBY: Form and Context Revisited. In: Poetics Today 24 (2003), S. 423-437; siehe auch TOM KINDT/HANS-HARALD MÜLLER: Narrative Theory and/or/as Theory of Interpretation. In: What is Narratology. Questions and An-

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Im skizzierten Programm einer diachronischen Narratologie identifiziert FLUDERNIK mehrere Bereiche, die sich für diachronisch ausgerichtete erzähltheoretische Fragen eignen würden: etwa historische Differenzen in der Ausgestaltung der Erzählfunktion, die historische Bedeutung und Funktion metanarrativer oder metafiktionaler Passagen, die Behandlung und Ausgestaltung orientierender Anfangspassagen in Erzählungen, oder auch Fragen zur geschichtlichen Spezifität aller Elemente klassischer Narratologie: Fokalisierung, Person (etwa das historische Auftreten und die Entwicklung der Ich-Erzählung), Zeitbehandlung, Einführung und Beschreibung von Orten und Szenerien oder von Figuren. Die Liste, so FLUDERNIK, sei fast unendlich, denn so wenig sei aus narratologischer Sicht über historische Aspekte des Erzählens gearbeitet worden (S. 334). FLUDERNIKs Beitrag kommt in einer Zeit, die ein bemerkenswerter Wandel in der allgemeinen Narratologie wie der Altgermanistik prägt. In der Narratologie sind ‚historisch‘ und ‚diachron‘ zu vielversprechenden Adjektiven zur Verortung jeweiliger Modelle geworden, neben FLUDERNIK sei hier auf Arbeiten von FOTIS JANNIDIS und ANSGAR NÜNNING verwiesen.4 Zu beobachten ist also, dass Studien mit systematischem Charakter diachronische Aspekte aufnehmen. Gleichzeitig werden in der diachronen Literaturwissenschaft, als die sich die Altgermanistik unter anderem versteht, schon seit einiger Zeit narratologische Modelle zur Textbeschreibung und Analyse angewendet. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang JAN-DIRK MÜLLERs Spielregeln für den Untergang, das unter anderem die Konstitution des Helden in der Heldenepik zum Thema hat,5 und GERT HÜBNERs Erzählform im höfischen Roman, in dem er die Modelle und Beschreibungssprache der Narratologie GÉRARD GENETTEs auf hochhöfische Epen anwendet.6 Mein Versuch schließt hier an. Ich möchte Fragen der Historisierung der Narratologie in einem Feld durchspielen, das historisch besonders voraussetzungsreich ist und daher spezielle Herausforderungen bietet: die Konturierung der Figur im höfischen Roman. _____________ 4

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swers Regarding the Status of a Theory. Hrsg. von DENS., Berlin, New York 2003 (Narratologia 1), S. 205-219. FOTIS JANNIDIS: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004 (Narratologia 3); ANSGAR NÜNNING: Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects. In: Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings. Hrsg. von BERNHARD REITZ/SIGRID RIEUWERTS, Trier 2000, S. 345-373. JAN-DIRK MÜLLER: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998. GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen 2003 (Bibliotheca Germanica 44).

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II. Zu einer historischen Narratologie der Figur Die literarische Figur als solche spielt in allgemeinen narratologischen Modellen im Vergleich etwas zur Behandlung von Zeit und Perspektive, nicht die Hauptrolle:7 in der inzwischen für den deutschsprachigen Raum kanonischen Einführung in die Erzähltheorie von MICHAEL SCHEFFEL und MATÍAS MARTÍNEZ etwa gibt es keine eigene Behandlung der Figur, und im Appendix dieser Einführung keinen Eintrag zur Figur.8 Solche Niedriggewichtung hat vielerlei Ursachen, aber die primäre ist wohl in der Geschichte der Narratologie selbst zu finden. Dem Formalismus galt die Figur als sekundär und wurde vor allem als Orientierungsgröße innerhalb der Handlung, als Hilfe zur Klassifizierung und Orientierung wahrgenommen bzw. in der folgenreichen Theorie VLADIMIR PROPPs lediglich als Verweis auf eine tiefer liegende invariante Aktantenstruktur gelesen.9 In diesem Sinne, nämlich als Aktualisierung eines tiefenstrukturellen Aktanten, wurde die konkrete Ausgestaltung der Figur als Oberflächenphänomen klassifiziert. Diese funktionalistische Sicht wurde im Strukturalismus von ALGIRDAS JULIEN GREIMAS fortgeschrieben.10 Selbst bei GENETTE, der mit der Frage ‚wer sieht‘ den Figuren implizit einen wichtigen Platz einräumt, geht es eben kaum um die Figur, sondern ihren Blick, ihre Perspektive, ihre Rolle in der Geschehensvermittlung.11 _____________ 7

8 9 10 11

So auch aus mediävistischer Perspektive CHRISTOPHER YOUNG: The Character of the Individual in Hartmann von Aue’s Erec. In: Arthurian Literature 16 (1998), S. 1-25, hier S. 11. Für wichtige systematische Vorstöße siehe URI MARGOLIN: Characters and Their Versions. In: Fiction Updated. Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics. Hrsg. von CALIN-ANDREI MIHAILESCU/WALID HAMARNEH, Toronto, Buffalo 1996, S. 113-132; DERS.: ‚Character‘. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Hrsg. von DAVID HERMAN/MANFRED JAHN/MARIE-LAURE RYAN, Abingdon, New York 2005, S. 52-57; ALEX WOLOCH: The One vs. the Many. Minor Characters and the Space of the Protagonist in the Novel, Princeton, Oxford 2003 (Diskussion zur narratologischen Behandlung der literarischen Figur ebd. S. 14-21, mit weiterer Literatur). Grundlegend für die narratologische Perspektive auf literarische Figuren sind SEYMOUR CHATMAN: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca, London 1978; JAMES PHELAN: Reading People, Reading Plots. Character, Progression, and the Interpretation of Narrative, Chicago 1989; DAVID HERMAN: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, Lincoln, London 2002, S. 115-169. Weitere Hinweise bei GÖRAN NIERAGDEN: ‚Figurendarstellung, literarische.‘ In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von ANSGAR NÜNNING, Stuttgart, Weimar 22001, S. 175f. MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. VLADIMIR PROPP: Morphologie des Märchens. Hrsg. von KARL EIMERMACHER, München 1972. ALGIRDAS JULIEN GREIMAS: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen, Braunschweig 1971 (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie 4). GÉRARD GENETTE: Die Erzählung. Aus dem Frz. von Andreas Knop, mit einem Nachw. hrsg. von JOCHEN VOGT, München 21998.

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Früh aber meldeten sich Zweifel an der strukturalistischen Sichtweise. So mahnte SHLOMITH RIMMON-KENAN die „Ausarbeitung einer systematischen, nicht reduktiven aber auch nicht impressionistischen Theorie der Figur“12 an. SEYMOUR CHATMAN lehnte in Story and Discourse von 1978 den reduktiven Funktionalismus der Strukturalisten ab. Seine „offene Theorie der Figur“13 ist stark auf moderne literarische Texte hin orientiert und lässt sich vor allem aufgrund der anderen Mimesiskonventionen nur schwer auf mittelalterliche Texte anwenden: CHATMAN geht es um im weiteren Sinne realistische Figurendarstellungen. Seine Diskussion bietet aber wichtige Impulse, vor allem den, dass Figuren – weit davon entfernt, bloße Handlungserzeuger oder Anker zur Orientierung im Handlungsgeschehen zu sein – als Größe der Erzählwelt eine zentrale Stellung beanspruchen können und dass sie ein gewisses Eigengewicht gegenüber der Handlung einnehmen, etwa unabhängig von verbaler Gestaltung und Handlungabfolge erinnerbar sein: „Too often do we recall fictional characters vividly, yet not a single word of the text in which they came alive“ (S. 118). Zu dieser Protagonistenbezogenheit der Literaturerinnerung finden sich auch für die mittelhochdeutsche Literatur genügend belegende Beispiele. So ließe sich die in der mittelhochdeutschen Literatur weithin sichtbare Gewohnheit anführen, Texte, auf die referiert wird, mit dem Namen des oder der Protagonisten zu bezeichnen. Auch metanarrative Passagen legen nahe, dass Protagonisten einen herausgehobenen Status haben, z.B. wenn Parzival bei Wolfram als des mæres hêrre bezeichnet wird.14 In lehnsrechtliche Terminologie gebracht ist damit nicht nur die größere Bedeutung Parzivals gegenüber Gawan, sondern auch die Sekundarität von Handlungsverlauf und –gestaltung gegenüber der sie bestimmenden Figur. Die Probleme der narratologischen Theoriebildung in Bezug auf die Figur beginnen bereits bei der Platzierung der Größe literarische Figur innerhalb der Basisdifferenz discours und histoire, die zuerst eine Differenz der Zeitbehandlung, Kausalisierung und Perspektivengestaltung ist und als solche in verschiedenen Erzähltheorien jeweils leicht unterschiedlich und auch, etwa in TOMAŠEVSKIJs Unterscheidung von Fabel und Sujet, früh _____________ 12

13 14

SHLOMITH RIMMON-KENAN: Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London 1983: „the elaboration of a systematic, non-reductive but also non-impressionistic theory of character remains one of the challenges poetics has not met yet.“ In der überarbeiteten zweiten Auflage ihres Standardwerks (London 2002) kann RIMMON-KENAN die Forderung unverändert wiederholen. CHATMAN (Anm. 7), S. 119: „Open theory of character“. Zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe KARL LACHMANNs revidiert und kommentiert von EBERHARD NELLMANN, übertragen von DIETER KÜHN, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8), hier 338,7.

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theoretisiert wurde: die Fabel ist „die Gesamtheit der Motive [einer Erzählung] in ihrer logischen, kausal-temporalen Verknüpfung“ und das Sujet „die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen.“15 Das funktioniert sehr gut, weil Zeit und Kausalität nicht nur Basiskomponenten des Erzählens, sondern auch ausreichend abstrahierbare Konzepte sind. Es funktioniert auch für Perspektive und Fokalisierung, da man sie als Abweichungen von einer Nullstufe wahrnehmen kann. In der Erforschung von beidem, narrativer Zeitgestaltung und Kausalisierung sowie Fokalisierung verbuchte die Narratologie ja auch ihre wichtigsten Erfolge; hier produzierte sie quasi ihre Exportschlager über den eng gestrickten, begrifflich manchmal exklusiven und institutionell relativ geschlossenen Eigenbereich hinaus. Raum bzw. setting und Figur, die zwei weiteren entscheidenden Größen für die Konstitution einer Erzählung, dagegen sperren sich der Zuordnung. JANNIDIS stellt daher zurecht fest, dass für Figuren Formen von Sequenzierung, sozusagen die idealisierte Nullstufe, wie man sie für Zeit und Kausalität in der histoire (re)konstruieren kann, nicht einfach ermittelbar sind.16 Sicherlich ist es so, dass man erzählte Figuren auf beiden Ebenen ansetzen muss: eben nicht nur als Träger der Handlung auf der histoire-Ebene, sondern als spezifisch Gestaltete auf der discours-Ebene: als signifikant beschriebene und erzählerisch spezifisch ausgestattete Figuren, bei deren Darstellung eine reduktive und allusive Technik zum Tragen kommen muss. Damit will ich aber nicht sagen, dass die Figur nicht, genau wie das setting, ein Basiselement der histoire sein muss, vor allem dann, wenn man histoire grundsätzlich von ihrem zeitlich-kausalen Charakter her denkt: Figuren und Ort sind Grundkonstituenten des Erzählens, die allererst Handlung ermöglichen. Im Modell von GREIMAS wäre wegen des spezifischen Zuschnitts seiner Erzählgrammatik keine Schwierigkeit bei einer Ebenenzuordnung aufgetreten. Die Figuren hätte man dem discours oder der parole zuordnen können, da sie in diesem Modell lediglich die Aktanten der Tiefenebene, der narrativen langue, vertreten.17 Mit der Einsicht, dass die Aktantenstruktur zu stark reduktiven Ergebnissen führt und das Projekt einer universalen Erzählgrammatik als gescheitert gelten kann, verlor man aber mit der _____________ 15

16 17

BORIS TOMAŠEVSKIJ: Theorie der Literatur – Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931). Hrsg. von KLAUS-DIETER SEEMANN, Wiesbaden 1985 (Slavische Studienbücher N.F. 1), S. 218; siehe auch VIKTOR ŠKLOVSKIJ: Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy. In: Texte der russischen Formalisten. Hrsg. von JURIJ STRIEDTER, Bd. 1, München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 6,1), S. 245-299, hier S. 297 und 299. Zu konkurrierenden Modellen vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 8), S. 20-26 und 108-111. JANNIDIS (Anm. 4), S. 164-166. Diskussion bei HERMAN (Anm. 7), S. 115-169.

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langue die für die Figur postulierte Nullstufe, den Aktanten, und damit ebenjenen Nullpunkt der Orientierung, der für Zeit und Kausalität in narratologischen Modellen aufrechterhalten werden konnte.18 Die Schwierigkeiten mit dem narratologischen Ort der Figur scheinen zum Teil damit zusammenzuhängen, dass dieses Projekt einer Erzählgrammatik weitgehend aufgegeben wurde, die Narratologie sich aber ihrer strukturalistischen Wurzeln nicht entledigen kann. Wie steht es mit der Historisierung des Konzepts Figur? JANNIDIS identifiziert in seiner sehr grundsätzlichen narratologischen Behandlung der Figur gewisse Basisannahmen, die für die Figur in Anschlag zu bringen sind. Er fasst das in seiner rezeptions- und kognitionsorientierten Theorie so, dass Leser zumeist ohne Probleme erkennen, dass eine Figur eine Figur ist und kein Objekt. Daran läßt sich zeigen, dass die Kategorie ‚Figur‘ prototypisch organisiert ist, d.h. wie prototypisch eine Figur ist, läßt sich durch den Bezug auf die Merkmalskombination in einem besten Exemplar bestimmen. Dieses beste Exemplar für die Kategorie der Figur ist wohl eine im Äußeren menschenförmige und im Inneren den jeweiligen kulturellen Konzepten von typisch menschlichen mentalen Zuständen konforme Gestalt.19

Dies ist nun sehr grundsätzlich und eher systematisch als historisch angelegt: Bei jedem Versuch der Historisierung dieses Konzepts wird man schnell darauf stoßen, dass die dafür entscheidende Operation die Identifizierung jener offen gelassenen „jeweiligen kulturellen Konzepte“ ist – und zwar im übrigen, was für das vormoderne Erzählen entscheidend zu sein scheint, nicht nur Konzepte des Körperinneren, sondern auch des Körperäußeren. Diese Identifizierung wird bei JANNIDIS dem generischen und dem Weltwissen des Lesers zugeordnet: Historisch konkretisierte Umrisse dieses Wissens, selbst wenn es nur innerhalb eines Textes oder einer Textgruppe ermittelt wird, wären notwendig, um überhaupt von einer historischen Narratologie zu sprechen. Hier liegt ein gewisses Problem in JANNIDIS’ Entwurf: wo man, dem Untertitel des Buches nach, historische Konkretisation erwarten würde, verbleibt das Modell weitgehend im Ahistorisch-Systematischen. In einer historischen Narratologie müssten also die „jeweiligen kulturellen Konzepte“ – textuelle und kulturelle Anthropologien, generisches Wissen über Figuren, intertextuelle Sinnkonstitutionen – stärker in die narratologische Modellierung eingebracht werden, als JANNIDIS dies tut. Dennoch wird man schon zugeste_____________ 18

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Ganz unbestritten ist aber auch für die Zeit die Gültigkeit der Unterscheidung zwischen histoire und discours nicht; bereits BACHTINs Chronotoposmodell kann als ein Gegenentwurf dazu angesehen werden. S. dazu jetzt JONATHAN STONE: Polyphony and the Atomic Age. Bakhtin’s Assimilation of an Einsteinian Universe. In: PMLA 123 (2008), S. 405-421, hier S. 412f. JANNIDIS (Anm. 4), S. 239.

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hen, dass Figuren auf ein dem jeweiligen historischen Verständnisrahmen angepasstes anthropomorphes bestes Exemplar hin entworfen sind. Ein zweites Problem, das sich mit der Figur in ihrer Position in einem narratologischen Modell verbindet, betrifft das Verhältnis von Figur, setting und Handlungsabfolgen, das FLUDERNIK problematisiert hat. Sie geht dabei von CHATMANs Unterscheidung von events und existents aus. Existents bezeichnen bei CHATMAN die da-seienden, statischen Elemente einer Geschichte, events die handlungs- und damit letztlich zeiterzeugenden dynamisierenden Elemente der Geschichte.20 FLUDERNIK befragt diese Unterscheidung und stellt Ansätze einer Narratologie vor, welche die Figur zum methodischen Angelpunkt macht: Die Ebene der Geschichte wird in den meisten Erzähltheorien einmal axiomatisch als Kombination von Schauplatz (setting) und Charakteren (actants) dargestellt. Paradoxerweise sind so die Basiselemente traditioneller Geschichte nur existenziell, daher statisch veranlagt. Charaktere und Setting figurieren im Erzähltext meist als Beschreibungspassagen. Erst durch Handlungsabfolgen – durch die Handlungen der Figuren – entsteht die zeitliche Grundkonstellation. So unterscheidet Chatman auf der story-Ebene zwischen events und existents. Sieht man Charaktere allerdings als prototypisch menschlich an, dann kann man ihre Handlungen als Teil ihrer existenziellen Befindlichkeit erfassen und auch den Schauplatz dynamisch sehen, nämlich als Umwelt, die Ereignisse und Entwicklungen, die von außen auf die Protagonisten einwirken, inkludiert.21

Dies ist eine fundamentale Rückbesinnung auf das anthropomorphe Element der Figur, wie sie auch bei JANNIDIS anklingt: in dieser Perspektive wird das Gewicht des Handlungsverlaufs von der Handlungsstruktur wegverlagert und als Teil einer fundamentalen Charakteristik von Figuren verstanden. Anders gesagt: eine Figur, eine Grundbedingung des Erzählens, lässt immer Handlung erwarten. Da dies zum prototypisch Menschlichen der Figur gehört, wird dieser Zusammenhang grundsätzlich erzähltheoretisch relevant sein. Diese Lösung würde nun also die Figur, nicht Handlungs- bzw. Erzählschema ins Zentrum stellen. Diese anthropozentrische Lösung, wie ich sie etwas ungeschützt nennen will, entspricht einer gewissen Intuition historischer Gegebenheiten und kommt eben auch der historisch nachweisbaren zentralen Position der (Haupt-)Figur in der Textwahrnehmung durch Autoren und Rezipienten entgegen. Weithin ungelöst bliebe jedoch weiterhin die Frage, welche anthropologischen Interferenzen an der Figurenkonzeption teilhaben. Hier liegt die entscheidende Herausforderung an eine historische Narratologie der Figur, ganz abgesehen davon, dass hier auch ein großes Problem der allgemeinen narratologischen Theoriebildung zur Figur liegt. _____________ 20 21

Vgl. CHATMAN (Anm. 7), S. 44-145. MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, S. 41.

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Das hängt vor allem mit der Komplexität zusammen, die sowohl die literarische Gestaltung als auch die konzeptionelle Verarbeitung von Figuren durch Rezipienten prägt. In beiden Fällen nämlich wird die textuelle Konstruktion Figur stärker, als dies bei anderen Elementen der Erzählwelt der Fall ist, mit anthropomorphen Interferenzen konfrontiert. Für einen historischen Zugriff auf das mittelalterliche Erzählen, dies wird etwa in der Diskussion der Figur in Heldenepik und Roman der mittelhochdeutschen Literatur deutlich, die JAN-DIRK MÜLLER in seinen beiden großen Monographien vorgelegt hat, besteht die entscheidende Frage darin, wieweit etwa handlungspsychologische Annahmen in Anschlag gebracht werden können, um Figur, ihre Konzeption und Motivation zu erklären. Historisierung meint hier die methodisch kontrollierten Beschreibung einer textuell-generischen Anthropologie, die nicht unbedingt durch riskante Bezüge auf fremdtextliche Diskurse abgesichert werden muss, sondern die aus dem Text22 oder Textgruppen23 selbst heraus entwickelt werden soll. Dabei wird versucht, die Gefahr überzeitlich-ahistorischer Konstrukte durch methodische Reflexion zu bannen: Mit MÜLLER ist mit der Möglichkeit historisch andersartiger Entwürfe von psychischen Dispositionen, Verhaltensmustern, Motivationen und personaler Identität zu rechnen. Diese zu ermitteln, stößt freilich auf erhebliche methodische Schwierigkeiten, vor allem, was die Quellen betrifft. Hier empfiehlt sich ein streng textbezogenes Vorgehen: Literarischen Texten sind, wie Texten auch sonst, mehr oder minder explizit anthropologische Modelle eingeschrieben. Diese Modelle sind nicht unabhängig von anderen, in andere Texte eingeschriebenen oder praktisch gelebten Modellen der gleichen Kultur, doch empfiehlt es sich, die Frage nach der Beziehung unterschiedlicher Diskurstypen und der ihnen inhärenten Modelle zueinander zunächst einmal einzuklammern.24

Wie aber könnte ein „nicht reduktives und gleichzeitig nicht impressionistisches“ (RIMMON-KENAN) historisches Modell einer Narratologie aussehen, in der die Figur als „sprachlich erzeugte konzeptionelle Einheit“25 im Zentrum steht? Dieses Modell müsste in die Lage versetzen, die semiotischen Verfahren des Figurenentwurfs, die Ausbildung von ‚Rekurrenzmustern‘ um einen Eigennamen oder ein Appelativum herum26 sowie gleichzeitig die historisch spezifischen Spannungen zwischen Muster und anthropologischen Interferenzen zu reflektieren. Dies wäre jeweils gattungsmäßig zu spezifizieren. So bleibt etwa bei aller neuartiger „psycholo_____________ 22 23 24 25 26

Für das Nibelungenlied MÜLLER (Anm. 5), S. 201-248. JAN-DIRK MÜLLER: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, bes. S. 41-45. MÜLLER (Anm. 5), S. 202. JANNIDIS (Anm. 4), S. 147. JOEL WEINSHEIMER: Theory of Character. Emma. In: Poetics Today 1 (1979), S. 185-211, hier S. 195.

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gischer Charakterisierungskunst“27 (wenn man es denn so nennen will) die schematische Modelliertheit der Figuren ein prägendes Charakteristikum des mittelalterlichen Romans.28 Figurenentwurf und auf ihn zugerichtete Handlung folgen Schemata, die generisch und wohl auch sozial vorgegeben sind (ohne dass sich diese letzte Komponente historisch klar sichern ließe). Daher würde ich bei aller Problematik dafür plädieren, belegbare Aktantenstrukturen in die Analyse einzubeziehen, ohne diese aber im Sinne einer Erzählgrammatik zu konzeptionalisieren.29 Die eigene Komplexität des Figurenentwurfs im Artusroman etwa entsteht aus einer Spannung: Figuren können wenigstens streckenweise Realisierung eines, oder manchmal auch mehrerer, Aktanten sein. Der Entwurf ist aber meist in immer neuen spezifischen Ausprägungen durch partikulare Eigenschaften bereichert.30 Eine wichtige Frage für die Bestimmung einer „textuellen Anthropologie“31 im höfischen Roman ist, wie sich Schematismus und Abweichung sowie unter Umständen auch unterschiedliche, konfligierende anthropologische Modellierungen zueinander verhalten, wobei diese konfligierenden Entwürfe auf unterschiedliche Figuren verteilt oder in einer Figur simultan oder subsequent realisiert sein können. Dies ist etwa dann der Fall, wenn einem schematisch bestimmten Aventiureritter über eine gewisse Textstrecke Psychonarration verweigert wird, obwohl der Text selbst diese Möglichkeit vorsieht und einer anderen Figur in derselben Textstrecke zuweist. Das geschieht in Hartmanns Erec und Enite. Hier liegt die Chance, konfligierende textuelle Anthropologien narratologisch beschreibbar zu machen. Vorbereitungen dazu sind im Rahmen von Studien zur Figuren-

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Hartmann von Aue: Erec. Text und Kommentar. Hrsg. von MANFRED GÜNTER SCHOLZ, Frankfurt a. M. 2007 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 20), S. 589. Ebd. vertritt SCHOLZ eine entschiedene Gegenposition. So aber RALF SIMON: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990 (Epistemata 66). Dabei ist zu beobachten, dass Nebenfiguren, soweit sie über die Funktion der lateralen Helferfigur hinausgehen, weniger aktantiell bestimmt zu sein scheinen: besonders deutlich wird dies im Parzival, der so reich an solchen Nebenfiguren ist. Dazu ELKE BRÜGGEN: Schattenspiele. Beobachtungen zur Erzählkunst in Wolframs Parzival. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 171-188; MARKUS STOCK: Lähelin. Zu Figurenentwurf und Sinnkonstitution in Wolframs Parzival. In: PBB 129 (2007), S. 18-37. Zum Begriff MICHAEL TITZMANN: Psychoanalytisches Wissen und literarische Darstellungsformen des Unterbewußten in der Frühen Moderne. In: Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Hrsg. von THOMAS ANZ, Würzburg 1999, S. 183-217; MÜLLER (Anm. 23), S. 42, erforscht die „Bausteine zu einer Anthropologie des literarischen Helden in der Epik um 1200“.

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poetik und zur Thematisierung des menschlichen Inneren im höfischen Roman geleistet worden.32 III. Erec und Enite Die mittlere Partie von Hartmanns Erec und Enite33 mit Krise und Auszug des Protagonistenpaares und den ersten Kämpfen des Helden stellt einen wichtigen Konzentrationspunkt der Forschung dar.34 Schwierigkeiten hat vor allem das spannungsreiche Verhältnis zwischen Erec und Enite bereitet. Narrativ werden diese Spannungen primär über die deutlich unterschiedlichen Figurenkonzepte im Entwurf von Erec und Enite erzeugt. Ausgehen will ich von der Erzählstruktur, um dann, unter Rückgriff auf einen Artikel von MARTIN JONES und auf kurze Bemerkungen zu dieser Passage in HÜBNERs Erzählform auf die Gestaltung von Erec und Enite einzugehen.35 Die Bedeutung der sinntragenden Struktur vor allem für das Erzählen im frühen Artusroman wurde in der Folge des Modells von HUGO KUHN immer wieder betont. Die oft beschriebene,36 historisch neuartige narrative Struktur der Artusromane Chrétiens und Hartmanns (vor allem von Erec und Enite) und ihre eigentümliche, komplexe Form lassen es begründet erscheinen, mit ihrem Auftreten einen Einschnitt in der Geschichte _____________ 32

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YOUNG (Anm. 7); MARTIN BAISCH: Orgeluse – Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von ALOIS M. HAAS/INGRID KASTEN, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 15-33; MATTHIAS MEYER: Struktur und Person im Artusroman. In: Erzählstrukturen in der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, Tübingen 1999, S. 145-163; DERS.: Der Weg des Individuums. Der epische Held und (s)ein Ich. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 529-545; Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von MARTIN BAISCH u. a., Königstein 2005; HÜBNER (Anm. 6); MÜLLER (Anm. 23), S. 317-361; SILVIA REUVEKAMP: des gît gewisse lêre / künec Artûs der guote. Zur Thematisierung und Funktionalisierung des Normativen in der Figurenpoetik des höfischen Romans. In: Norm und Normativität in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von ELKE BRÜGGEN/FRANZ JOSEF HOLZNAGEL, Berlin, New York [in Vorbereitung]. Zitiert wird nach der Ausgabe von SCHOLZ (Anm. 27). Zusammenfassend JOACHIM BUMKE: Der Erec Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006 (de Gruyter Studienbuch), S. 104-127. MARTIN H. JONES: Durch schœnen list er sprach. Empathy, Pretence, and Narrative Point of View in Hartmann von Aue’s Erec. In: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von MARK CHINCA/JOACHIM HEINZLE/CHRISTOPHER YOUNG, Tübingen 2000, S. 291-307; HÜBNER (Anm. 6), S. 402-404. Zusammenfassend KURT RUH: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, 2., verb. Aufl., Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik 7), S. 115-141.

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der literarischen Sinnstiftung zu verbinden.37 Im Artusmodell ist die zweiteilige Handlungsführung mit einem bis in Einzelheiten reichenden Netz von Korrespondenzen und Oppositionen verknüpft. Diese Struktur hat sinnstiftende Potenz, die sich aus dem Miteinander von Analogie und Addition der Textelemente ergibt.38 In diesem Strukturdenken erklärt sich Handlung aus dem Schema, die Thematisierung einer Handlungsmotivation ist nicht unbedingt notwendig. Die Theorie der Symbolstruktur postuliert einen eigenen Typus von Protagonisten: er erfüllt das Schema, ob er reflektiert, bleibt in diesem Modell nebensächlich. Wie ich schon angedeutet habe, hielte ich es für einen Fehler, diese Strukturüberlegungen ganz zu den Akten der Wissenschaftsgeschichte zu legen. Kritik wurde ja vielfach geübt, besonders stark von ELISABETH SCHMID.39 Ihre Polemik schießt über das Ziel hinaus, aber man kann der Kritik SCHMIDs und anderer in dem Punkt beipflichten, dass die unergänzte ‚Anwendung‘ der Doppelwegsstruktur als vermeintlicher Interpretationsschlüssel zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Der Blick auf die Figuren kann helfen, diese zu differenzieren. Es geht dabei nicht darum, die Schemagebundenheit der Figuren in Frage zu stellen, sondern die Spannungen auszuloten, die Schemagebundenheit und weitere Ebenen des Figurenentwurfs erzeugen können. Zunächst ist festzuhalten, dass KUHNs Modell ganz entscheidend vom männlichen Protagonisten als Handelndem her konstruiert ist. Das ist im Grundsatz nicht ganz unbegründet, heißt es doch gleich zu Beginn des Fragments, dass es Erec sei, durh den die rede erhaben ist (V. 4; „um dessentwillen diese Erzählung begonnen wurde“). Erec ist der Held in ganz schematischem Sinne, und Enite kommt als die gegen Widerstände zu erringende schönste Frau erst später ins Spiel. Auch im letzten Teil der Handlung und vor allem in der Joie de la Curt-Episode steht Erec klar im Zentrum. Dagegen bleibt Enite in KUHNs Modell unkonturiert – und das, obwohl sie mit Beginn der mittleren Partie eine entscheidende Rolle zu spielen beginnt, die weit über ihre vermeintliche aktantielle Determination _____________ 37 38

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HUGO KUHN: Erec (1948). In: DERS.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Kleine Schriften 1, Stuttgart 1959, S. 133-150. Die für KUHN zentrale sinnbildende Technik von Erec und Enite beschreibt WALTER HAUG so: „Die Stationen der vorgegebenen Struktur werden [...] mit Episoden besetzt, die einerseits in linearer Verknüpfung einen Handlungszusammenhang ergeben, die aber andererseits ihre eigentliche Bedeutung quer zu diesem Zusammenhang aus ihrer strukturellen Position beziehen.“ WALTER HAUG: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach (1971). In: DERS.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 483-512, hier S. 484. ELISABETH SCHMID: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung. In: Erzählstrukturen in der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, Tübingen 1999, S. 69-85.

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(als zu erringende Frau) hinausgeht.40 Hartmanns Erec und Enite (ich wähle diesen Titel bewusst) hat ja spätestens mit dem Beginn des zweiten Teils, der aus der einfachen Märchenhandlung eine komplexere, problematischere macht, zwei Protagonisten. Die Situation ist bekannt: Erec und Enite verligen sich, die Reputation des Königspaares fällt. Enite erhält davon Kenntnis, und klagt zu Mittag in der sonnendurchfluteten Kemenate, im Ehebett abgerückt von Erec, leise über die üble Nachrede, als sie ihren Mann schlafend glaubt.41 Erec, der die Klage hört, stellt seine Frau zur Rede und erfährt vom Reputationsverlust. Er agiert daraufhin sofort, rüstet sich heimlich und verlässt mit Enite den Hof, vorgebend am Abend wieder zurück zu sein, ohne dass die Motivation für sein Handeln und für die Täuschung gänzlich klar würde. Diese Unklarheit besteht für die Informationsvergabe an die Rezipienten ebenso wie für die Figuren auf der Ebene der Handlung. Eigens wird gesagt, dass kein Hofangehöriger Erecs Absichten begriffen hätte: dô enwas aber niemen, der sich des mohte verstân, wie sîn gemüete was getân. (V. 3077-3079) da gab es aber niemanden, der verstehen konnte, wie es in seinem Inneren aussah.

Erec befiehlt Enite vorauszureiten und verbietet ihr das Sprechen, ohne dass klar würde, worin dieses Verbot, das als Bestrafung semantisiert ist, begründet wäre: eine der großen unklaren und vielleicht nicht zur Klärung zu bringenden Forschungsfragen zu Erec und Enite. MARTIN JONES hat vor einigen Jahren in einem Aufsatz im Anschluss an NORRIS LACYs Interpretation von Chrétiens Erec et Enide darauf hingewiesen, dass diese entscheidende Krise im mittleren Teil des Romans auch deshalb so viele Interpretationsschwierigkeiten birgt, weil sich der point of view verschiebt: der point of view ist der Enides, und dieser Teil von Chrétiens Roman ist, anders als der erste und dritte Teil, aufgrund der narrativen Steuerung, Enides Geschichte.42 Hartmann folgt dieser Grundrichtung, ja scheint sie durch gewisse Techniken sogar noch zu akzentuieren.43 Eine entscheidende Spannung in der entsprechenden Partie des deutschen Textes wird über die Filterung der Innensichten erzeugt: Während _____________ 40

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Das hat die Forschung längst aufgearbeitet: MEYER, Struktur (Anm. 32); BRITTA BUSSMANN: Dô sprach diu edel künegîn ... . Sprache, Identität und Rang in Hartmanns Erec. In: ZfdA 134 (2005), S. 1-29; MANUELA NIESNER: schiltkneht Enite. Zur gender-Transzendierung im Erec Hartmanns von Aue. In: ZfdPh 126 (2007), S. 1-20. Zu dieser Szene MÜLLER (Anm. 23), S. 292-296. NORRIS J. LACY: The Craft of Chrétien de Troyes. An Essay on Narrative Art, Leiden 1980 (Davis Medieval Texts and Studies 3), S. 40-42; vgl. dazu auch JONES (Anm. 35), S. 300f. JONES (Anm. 35), S. 299-307.

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Enites muot, ihr seelisches Innere, vor allem über gesprochene und innere Monologe als Erfahrungsraum zugelassen ist, bleibt Erecs gemüete unzugänglich. Diese Unlesbarkeit bezieht sich nicht nur auf die anderen Figuren der Erzählwelt, sondern auch auf die Rezipienten des Textes: niemand am Hofe Erecs (Figurenebene), aber auch kein Rezipient ‚blickt durch‘.44 Auch später wird dies noch einmal deutlich markiert. Auf die Frage des ersten (namenlosen) Grafen, warum Erec seine Frau getrennt von ihm selbst essen lasse, antwortet er: herre, mîn gemüete stât alsô (V. 3745; „Herr, dies entspricht meinem inneren Befinden“). Die Formulierung unterstreicht die Innensichtrestriktion, an dieser Stelle sogar von der Figur selbst formuliert. Der Text lässt Erec sagen, dass er so und nicht anders handle, weil dies seinem Inneren entspreche; über den (alles entscheidenden) inneren Zustand selbst aber erfährt der Fragende, und mit ihm Leser und Hörer, nichts. In der mittleren Passage von Hartmanns Roman liegt also ein negativer Innensichtfilter vor (wir sehen nicht in Erec hinein), zusätzlich aber, das lässt sich in den der Krise folgenden Räuberepisoden zeigen, ist der Raumfilter der Enites. Es geht darum, wie Enite die bedrohliche Welt sieht und wie sie das durch das Redeverbot ausgelöste Dilemma und ihren Impuls, Erec zu warnen, bearbeitet. Die Fokalisierung hat also nicht nur den Effekt, dass Erecs Motivationen durch die Erzähltechnik gezielt verborgen werden, indem Enites point of view eingenommen wird.45 Vielmehr teilen Enite und das Publikum die beschränkte Sicht, das Erleiden und Nichtbegreifen von Erecs undurchsichtigem Handeln. Daher meine ich, dass der Text hier nicht dazu aufruft, Erecs Motivation aus den widersprüchlichen Informationen zu entschlüsseln.46 Vielmehr ist das Rätselhafte an Erecs Verhalten Programm. Er soll nicht gelesen werden. In einem Punkt allerdings, was in den Diskussionen zu Erecs rätselaufgebendem Verhalten gerne übersehen wird, ist sein Verhalten glasklar: er zieht aus nâch aventiure wâne (V. 3111; „in der Hoffnung auf Aventiure“). Dieses schematische Handeln, der erneute Auszug und die Bewährung in Aventiuren zur Restitution der sozialen Ehre, wäre unproblematisch, wären da nicht Enite und ihre Behandlung. Erec erscheint in dieser Partie des Romans als handlungsfunktional bestimmter Aventiureritter. Er absolviert Stationen, treibt Handlung voran; seine Motivationen oder ein Innenleben werden nicht thematisiert. Erec ist in dieser Partie ganz auf die _____________ 44 45 46

LACY (Anm. 42), S. 40, beobachtet eine ähnliche Verweigerung der Einsicht in Erecs innere Motivationen in Chrétiens Erec et Enide; siehe dazu auch JONES (Anm. 35), S. 300f. So LACY (Anm. 42), S. 40, und JONES (Anm. 35), S. 300f. So aber JONES (Anm. 35), S. 305-307, der meint, Erecs Verhalten sei von den Rezipienten als „pretence“ zu deuten.

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Funktion der Handlungserzeugung reduziert.47 Das störend-verstörende Element ist, dass er die schönste Frau der Erzählwelt zum Pferdeknecht degradiert. Zum Verhalten Erecs gibt es explizite erklärende Textsignale, etwa die Äußerung Enites, dass sie den Ehrverlust als ihre Schuld begreift, die Aussage im nachhinein, dass Erec seine Frau prüfen wollte, und eben auch die Aussage, dass die Behandlung Enites âne sache (V. 6775) war, also keine Begründung hatte.48 Diese Textsignale sind aber uneindeutig, und verstärken in ihrer Widersprüchlichkeit eher die Ambivalenz und Unlesbarkeit von Erecs Verhalten, als dass sie es erklären.49 Die entwürdigende Behandlung Enites also bleibt unerklärt, und die befremdete Reaktion anderer Figuren der Textwelt auf diese Behandlung dient der textuellen Absicherung einer erwarteten oder erwartbaren Leser/Hörerreaktion, nämlich der Verstärkung der Meinung, dass Erecs Verhalten in der Tat befremdlich und auch nicht durch wie auch immer geartete mysogyne Strukturen mittelalterlicher Kultur gedeckt ist. INGRID KASTEN hält fest: „Erec wird anderen problematisch, nicht aber sich selbst“.50 Es zeigt sich auch daran, dass die Erzählersteuerung ebenfalls das Problematische an Erecs Verhalten hervorhebt: In der Tat „legt der Erzähler nicht nur an dieser Stelle, sondern schon zuvor oft und deutlich genug gegen die Enite von Erec auferlegten Demütigungen sein Veto ein, so dass dieser alles andere ist als der ideale Repräsentant einer dem Mittelalter adäquaten Denkweise.“51 Als Figur ist Enite selbst geradezu entgegengesetzt entworfen, und daraus lässt sich systematisch wie historisch einiges für eine narratologische Betrachtung der Figur ableiten. Von Enites Rede im Ehebett an wird regelmäßig eine privilegierte Sicht in ihr Inneres geboten. Es lässt sich daher eine gezielte Opposition zum Entwurf Erecs in dieser Partie vermuten. muot ist eine Art Leitwort im Sprechen über Enite. Des wart vil riuwec ir muot (V. 3002; „darüber wurde sie in ihrem Inneren sehr traurig“), heißt es zu Beginn der Krise. Im Zwiespalt, ob sie Erec vor den Räubern warnen sollte, obwohl er ihr das Reden verboten hatte, redete si in ir muote (V. 3148; _____________ 47 48 49 50

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JONES (Anm. 35) betont Erecs Empathiefähigkeit. Diese kann man aber, gerade im Vergleich mit Enite, nur sehr vereinzelt nachweisen. Mit den Worten dem unbescheiden hazze wart ein ende gegeben (7099f.) lässt der Text sie sich nach dem zweiten Guivreiz-Kampf wieder vertragen. Das qualifizierende Adjektiv stützt die negative Beurteilung durch die Erzählerinstanz. Vgl. auch das Referat der Forschungspositionen bei SCHOLZ (Anm. 27), S. 869-882, das zu einem ähnlichen Ergebnis kommt. INGRID KASTEN: Bachtin und der höfische Roman. In: bickelwort und wildiu maere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von DOROTHEE LINDEMANN/BERNDT VOLKMANN/KLAUS-PETER WEGERA, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 51-70, hier S. 64. SCHOLZ (Anm. 27), S. 872f.

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„redete sie in ihrem Inneren“). Gleich darauf wird mitgeteilt, welcher muot in Enites gedanc kam (V. 3167). Wohlgemerkt: Diese Aussagen fallen keine hundert Verse nach den oben zitierten Worten, dass die Natur von Erecs gemüete seinem Hof unklar sei. Enite, zum Schweigen gezwungen und bloß reaktiv, ist durch die undurchsichtigen Regeln ihres Mannes entmachtet und zu äußerlichem Schweigen verurteilt, aber spricht in ir muote.52 Deutlich sichtbar wird dadurch der Gegensatz zwischen der Kreation und der Diskursivierung des muotes auf Enites Seite und der Restriktion der Innensicht in Erecs Fall. Entscheidendes am Figurenentwurf der beiden Hauptfiguren ist daher nicht auf der histoire-Ebene, sondern auf der discours-Ebene gestaltet. Auf der histoire-Ebene haben Erec und Enite ja denselben Status. Erst in der konkreten Ausgestaltung, also auf der discours-Ebene, in der Enite eine neue Möglichkeit der Fokalisierung zugewiesen wird, wie sie sich im höfischen Roman des zwölften Jahrhunderts entwickelt, zeigt sich die entscheidende Differenz. Erecs Handlung bleibt unerklärt, er wird als schemagemäß Agierender präsentiert, als Dominanz suchender Ritter, der nâch âventiure wâne auszieht. Enite dagegen, äußerlich unfreier, darf im Inneren freier agieren, abwägen, entscheiden, sie wird gezeigt als eine Figur, die an den Möglichkeiten einer „neuen Kultur der Innerlichkeit“53 im höfischen Roman partizipiert. Das ist nicht nur Abbildung von gegebenen und neu funktionalisierten historischen Möglichkeiten des Figurenentwurfs für den höfischen Roman, was an sich vielleicht ja schon ein interessanter Befund für eine historische Narratologie wäre. Es ist auch Illustration der Spannung zwischen schemagebundenem, ‚objektivem‘ Handeln auf der einen Seite und durch Innenweltsicht neu motiviertem, ‚subjektiv begründetem‘ Handeln auf der anderen. Das zweite wird in Ansätzen vorgeführt in der Darstellung des Dilemmas in Enites muote. In aller Deutlichkeit kann die Spannung aber nur durch den Gegensatz zwischen Erec und Enite gezeigt werden, und so wird Hartmanns Roman, oder zumindest dessen Mittelpassage, auch zu einer Reflexion auf erzählerische Möglichkeiten der Figurenkonzeption. Dieser Niederschlag konfligierender Anthropologien und letztlich auch Narratologien, zeichnet Hartmanns Erec und Enite sicherlich ebenso aus wie das Strukturschema. Strukturanalytische Studien wären daher zu ergänzen um die Spannungen, die Figurenentwürfe und ihre diskursive Präsentation bieten. Das hieße aber, dass die Spannungen, die _____________ 52

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Zu Reden und Schweigen im Erec zusammenfassend BUMKE (Anm. 34), S. 113-128 (mit der wichtigen Literatur S. 113). Nicht zustimmen kann ich BUMKEs Aussage: „Wenn man sagt, dass Reden und Schweigen das Hauptthema des Erec ist, dürfte man heute kaum noch Widerspruch finden“ (ebd.); Reden und Schweigen sind eher Symptome im Rahmen der Darstellung eines zentralen Problems als das Hauptthema des Textes. MÜLLER (Anm. 5), S. 221.

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konfligierende textuelle Anthropologien in den Text hineinbringen, ein besonders fruchtbares Feld der Analyse zu sein scheinen. IV. Konfligierende textuelle Anthropologien Die Analyse der Binnenpassage von Hartmanns Erec und Enite hat erbracht, dass zwei Figurenkonzepte vergleichsweise unvermittelt und spannungsreich nebeneinander stehen. Der narratologische Zugriff hilft, diese Spannungen klarer zu konturieren. Sie resultieren aus konfligierenden Realisationen von Möglichkeiten des Figurenentwurfs für den höfischen Roman, die gezielt gegeneinander gesetzt sind. Es versteht sich, dass dieses Beispiel nur eines unter vielen ist, die aus narratologischer Sicht zu vormodernen Figurenentwürfen analysiert werden könnten. Andere Felder liegen auf der Hand, etwa der Bereich der Schemainterferenzen und der Hybridität von Figuren.54 Auch für diese Fälle scheint es angemessen, nicht nach harmonisierenden Modellen der Figur zu suchen, sondern sich den Spannungen des Figurenentwurfs auszusetzen. Auch hier lässt sich vermuten, dass ein Modell bloßer Aktantenrealisation für die mittelalterliche Literatur nicht ausreicht, man es sich aber gleichzeitig nicht leisten kann, die Schemagebundenheit von Handlungs- und Figurenentwurf außer acht zu lassen. Narrative Technik erzeugt im hier analysierten Fall eine Spannung zwischen den Entwürfen von Erec und Enite, gleichzeitig aber auch eine Spannung in den Figuren selbst. Die Anwesenheit der jeweils eine andere ‚Anthropologie‘ vertretenden Figur in derselben Erzählwelt setzt die jeweiligen Figurenentwürfe auch in sich, durch die Anwesenheit einer jeweils nicht realisierten Alternative, in dialektische Schwingung. Sicher aber ist es nicht die Struktur, die die Handlungen der Figuren vorgibt. Vielmehr ist deren Handeln von den narrativ erzeugten Grundbedingungen des Figurenentwurfs her erklärbar. Die narrative Kreation und Kundgabe von Enites seelischem Innenraum ist das entscheidende Element dieser ganzen Partie: Die dahinterstehende ‚Anthropologie‘, nämlich dass Menschen _____________ 54

Dies wurde für den so genannten nachklassischen Roman im Blick auf die fehlende Kohärenz der Figurenentwürfe diskutiert. Siehe STEPHAN FUCHS-JOLIE: Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen dreizehnten Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31); ARMIN SCHULZ: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), S. 63-74; vgl. auch, zur sequentiellen Anordnung, VOLKER MERTENS: Herrschaft, Buße, Liebe. Modelle adliger Identitätsstiftung in Mai und Beaflor. In: German Narrative Literature of the Twelth and Thirteenth Centuries. Essays Presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday. Hrsg. von VOLKER HONEMANN u. a., Tübingen 1994, S. 391-410.

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einen verbal veräußerbaren Innenraum haben, der in Konflikt zur Außenwelt stehen kann – die allgemein dem höfischen Roman zugesprochene Neuerung –, ist hier aber nicht unhinterfragte homogene Grundlage des Entwurfs, sondern findet ihren unmittelbaren Kontrast im akzentuiert und thematisiert schematischen Entwurf Erecs. Diese Pluralität zeugt von einer inhomogenen ‚Anthropologie‘. Ein weiterer wichtiger Befund ist, dass diese narrative Möglichkeit der Innenraumdarstellung im höfischen Erzählen das schemabestimmte Handeln einer Figur, deren Motivation im Dunkeln bleibt, als Innensichtrestriktion und damit als Problem erscheinen läßt. In Gattungen und Traditionen, in denen Innensicht nicht prononciert vorgesehen ist, wäre solches Handeln als Normhandeln dagegen nicht per se problematisch. Erec und Enite diskutiert implizit – durch narrative Technik – die Brüche zwischen den Figurenentwürfen. Die Verfügbarkeit der Entwürfe wird vor allem darin deutlich, dass an wenigen Stellen aufscheint, dass Erec eine gewisse Entscheidungsfreiheit über Innensichtrestriktionen (mîn gemüete stât alsô; V. 3745) hat; er kann sein gemüete unlesbar bleiben lassen. So lässt sich hier wie an anderen epischen Texten des hohen Mittelalters nachweisen, dass Reflexe narrativer Entscheidungen auf die Figurenebene gespiegelt werden. Dies betont die Bedeutung, die in einer Modellierung einer Poetik des hochhöfischen Romans die Figur gegenüber Raum- und Zeitstrukturen hat. Figuren erscheinen so nicht als statische Handlungsträger (existents) deren Rolle vor allem darin besteht, das nächste Strukturereignis (event) zu ermöglichen. Vielmehr werden Struktur, Raum und Figur in einer Weise dynamisiert, dass die Durchlässigkeit zu einem Inneren (das in dieser Bewegung als solches allererst konstituiert wird) und die hermetische Abschließung desselben, wie sie uns bei Enite und Erec in der mittleren Partie von Hartmanns Roman begegnen, selbst zum entscheidenden Ereignis werden. Von hier aus ließe sich das Verhältnis von Figur und Erzählstruktur neu fundieren sowie das Verhältnis von existents und events überdenken.

MARTIN BAISCH

Vorausdeutungen Neugier und Spannung im höfischen Roman

Erzählen ist in.1 Außerhalb von Wissenschaft will es möglichst phantastisch sein und nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln passen und passieren. Innerhalb von (mediävistischer) Literaturwissenschaft reagiert die Beschäftigung mit ihm vielleicht darauf, dass man der theoretischen Debatten im Fach im Moment überdrüssig ist. Oder müde ist danach zu fragen, wie es ‚nach der Sozialgeschichte‘ wirklich ‚weitergehen‘ soll. Freilich: Wer ediert, wird (zu Recht!) weiter edieren. Doch wer ein neues Forschungsfeld eröffnen will und dies möglichst auch methodisch innovativ, hält im Moment – so scheint es – irritiert inne. Vielleicht ist auch bei den engagiertesten Theoretikern eine Unlust vorhanden, sich nach den Kontroversen um gender-Theorie, Dekonstruktivismus, New oder Material Philology, Medialität, (Historischer) Anthropologie, Systemtheorie, Performativität und Präsenz (um nur einige der Paradigmen der letzen Jahre und Jahrzehnte in ungeordneter Reihenfolge zu nennen) neu und anders zu positionieren. Da ist es ein Vorteil, dass, wer sich mit dem Erzählen beschäftigt, sich nicht legitimieren muss. Es gehört zu den Grundlagen des Faches, zu seinem engsten Gebiet. Es hat eine zentrierende Funktion: Nach all den ‚Dezentrierungen‘ erreicht man die Mitte der Disziplin.2 Vielleicht ließe sich ähnliches konstatieren, würde man die Wiederentdeckung der Ästhetik einfordern – an Texten, denen man den Status von ‚Literatur‘ (den-

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Vgl. etwa als ein Beispiel unter vielen: Die Welt der Geschichten. Kunst und Technik des Erzählens. Hrsg. von ALF MENTZER/ULRICH SONNENSCHEIN, Frankfurt a. M. 2007, S. 9-12. Vgl. hierzu KATRIN FISCHER: Die Haug-Graevenitz-Debatte in der DVjs als Kontroverse um Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft(en) und wissenschaftliches Argumentieren. In: Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. Hrsg. von RALF KLAUSNITZER/CARLOS SPOERHASE, Berlin 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 19), S. 485-500.

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noch) abspricht.3 Die Forderung nach der Rephilologisierung von Literaturwissenschaft kommt um die Narratologie nicht herum. Die These der Initiatoren der Osnabrücker Tagung, wonach die historische Dimensionierung der Narratologie zwar ein Forschungsdesiderat par excellence darstelle, zu dem die Wege aber noch nicht nur nicht beschritten seien, sondern auch unklar ist, welche Wege zu einem Erkenntnis fördernden Ziel führten, ließe sich nicht nur dadurch erhärten, dass es – so scheint es – um mehr geht, als nur um die Anverwandlung oder die Anwendung einer Begrifflichkeit, die in Auseinandersetzung mit der vornehmlich europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Vielmehr steht die Frage im Raum, ob die mittelalterliche Literatur und ihre Verfasstheit einen Untersuchungsgegenstand abgeben, der sich aufgrund seiner in diesem Zusammenhang erneut zu bestimmenden Alterität der Applikation von Ansätzen der Narratologie entzieht. Hier treffen die Positionen – dies markiert die momentane Forschungssituation – unvermittelt aufeinander. Ich gebe wenige Beispiele. In einem Aufsatz DIETER KARTSCHOKEs über mittelalterliches Erzählen findet sich folgende Bemerkung, die durch keine Erläuterung konkretisiert wird: „Perspektivisches Erzählen liegt, trotz mancher gegenteiligen Behauptung, noch außerhalb der poetischen Möglichkeiten des Mittelalters.“4 Folgte man dieser Auffassung, wäre eine Anwendung narratologischer Kategorien im Bereich der mittelalterlichen Literatur hinfällig, ihre historisierende Anverwandlung wohl unsinnig. Nach Auffassung von HARALD HAFERLAND existiert in den Romanen des 16. Jahrhunderts noch nicht die Unterscheidung von ‚Autor‘ und ‚Erzähler‘. HAFERLAND negiert damit am Beispiel der Romane Wickrams jene zentrale narratologische Leitdifferenz, die sich auch in der mediävistischen Forschung in den letzten Jahrzehnten einen festen epistemologischen Ort erobern konnte.5 Fragen nach Bedingungen und Funktionen von Autorschaft und die nach dem Status und der Statur des mittelalterlichen Erzählers sind seit geraumer Zeit Gegenstand auch alt_____________ 3

4 5

Vgl. MANUEL BRAUN: Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur‘. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von MANUEL BRAUN/CHRISTOPHER YOUNG, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 1-40; Ursula PETERS: ‚Texte vor der Literatur‘? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39 (2007), H. 1-2, S. 59-88. DIETER KARTSCHOKE: Erzählen im Alltag – Erzählen als Ritual – Erzählen als Literatur. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hrsg. von LUDGER LIEB/STEPHAN MÜLLER, Berlin, New York 2002, S. 21-39, hier S. 28. HARALD HAFERLAND: Gibt es einen Erzähler bei Wickram? Zu den Anfängen modernen Fiktionsbewusstseins. Mit einem Exkurs: Epistemische Zäsur, Paratexte und die Autor/Erzähler-Unterscheidung. In: Vergessene Texte – verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von MARIA E. MÜLLER/MICHAEL MECKLENBURG, Frankfurt a. M. 2007, S. 361-394.

Vorausdeutungen

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germanistischer Literaturwissenschaft gewesen.6 Eine Historisierung des Beschreibungsinventars der Narratologie scheint bei HAFERLAND ausgeschlossen. GERT HÜBNER behauptet hingegen, dass man über die narrativen Strukturen des höfischen Romans nur reden kann, „indem man die Analysekategorien der modernen Narratologie so weit differenziert, daß ihre Applikation auf die Texte möglich wird.“7 Für HÜBNERs Untersuchung zentral ist die Kategorie der Fokalisierung, wie sie vor allem von GENETTE in die Debatte eingeführt worden ist. Eine Historisierung von Erzähltheorie sieht er in der Möglichkeit, „wenn man historisch spezifische Konstellationen jeweils als komplexe Kombinationen elementarerer Strukturmuster beschreibt.“8 Wiederum anders verfährt ein Ansatz, der die mittelalterliche Pragmatik des Erzählens als Analysegegenstand wählt, der in poetischen Texten Situationen des Erzählens untersucht und in ihnen nach Spuren einer freilich imaginativ überhöhten Praxis sucht.9 Schließlich wäre hier noch JAN-DIRK MÜLLERs Rekurs auf Ergebnisse der kognitiven Psychologie bzw. der narrativen Psychologie anzuführen, der mittels der Scripttheorie in hochmittelalterlichen epischen Texten Erzählkerne auf ihre Verknüpfung und ihre Semantik hin betrachtet und nicht nur Erzählmuster, sondern über die Kategorie des (gesellschaftlichen) Imaginären auch Kulturmuster in den Blick nimmt.10 Freilich sind damit noch nicht alle Ansätze der virulenten Debatte genannt.11 So erweisen sich – schon bei oberflächlicher Betrachtung – neuere Beiträge einer explizit mediävistischen Narratologie als heterogen, ja zuweilen als widerspruchsvoll in Ansatz und Methode. Eine solche offene Situation bietet in der Tat aber auch Chancen, unterschiedliche Wege zu _____________ 6 7 8 9

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Ich verzichte hier bewusst auf die Nennung einschlägiger Forschungsliteratur. Vgl. aber die Hinweise bei GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 94ff. HÜBNER (Anm. 6), S. 82. Vgl. hierzu die Rezensionen von ARMIN SCHULZ (in: Arbitrium 22 (2004), S. 158-165) und MICHAEL WALTENBERGER (in: PBB 127 [2005], S. 493-498). GERT HÜBNER: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolfram-Studien XVIII. Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS u. a., Berlin 2004, S. 127-150, hier S. 134. LUDGER LIEB: Erzählen am Hof. Was man aus einigen Metadiegesen in Wolframs von Eschenbach Parzival lernen kann. In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Hrsg. von ERNST HELLGARDT/STEPHAN MÜLLER/PETER STROHSCHNEIDER, Köln 2002, S. 109-125. Vgl. auch: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hrsg. von LUDGER LIEB/STEPHAN MÜLLER, Berlin, New York 2002. JAN-DIRK MÜLLER: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 6-45. Vgl. kritisch zum Konzept des (literarischen) Imaginären, wie es von ISER und WARNING in die Debatte gebracht wurde, JOACHIM KÜPPER: Was ist Literatur? In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45, 2 (2001), S. 187-215, bes. S. 188-190. Unbedingt erwähnenswert ist die Arbeit von MONIKA FLUDERNIK: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London, New York 1996. Vgl. auch MONIKA FLUDERNIK: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11 (2003), H. 3, S. 331-348.

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gehen. Offensichtlich scheint mir auch, dass solche divergenten Einschätzungen eines Sachverhalts gebunden sind an, was man – und dies ist nicht polemisch gemeint! – Meistererzählungen vom Mittelalter nennen könnte.12 Der vorliegende Beitrag sucht in drei Abschnitten je unterschiedliche und hoffentlich sinnvoll-mögliche Antwortrichtungen anzugeben, die, wenn man sie weiter beschreiten würde, als es hier geschieht, dem Unterfangen einer historischen Erzähltheorie zuarbeiten. Die Antwortrichtungen sind mehr oder weniger ‚kontextualistisch‘ angelegt. Ich gehe davon aus, dass es auch Aufgabe der Narratologie ist, den Kontext von Texten mit einzubeziehen.13 Meine ersten beiden Stichworte lauten ‚Neugier‘ und ‚Spannung‘: Diese bilden im und für den Prozess des Erzählens zentrale Phänomene, scheinen bisher allerdings wenig, zu wenig beachtet in der (historischen) Narratologie/Narrativistik.14 Sie sind Effekte der Rezeption von Texten, gleichwohl produktionsästhetisch in deren Struktur, in deren Verfasstheit begründet. Sie stehen im Zusammenhang mit dem Modus von Erzählen, mit Wahrnehmungsweisen von Figuren, mit Blicklenkungen im Erzählten, schließlich mit der Vergabe und Regulierung von Informationen. Ein letztes Stichwort macht die Probe aufs Exempel: Das Mittel der Vorausdeutungen – ein Werkzeug des Erzählens, das epochenübergreifend zu beobachten ist – wird auf Bedingungen der Möglichkeit seiner Historisierung befragt. I. Neugier Am Abend eines von König Artus veranstalteten Pfingstfestes, so erzählt Hartmann von Aue in seinem zweiten Artusroman, versammelt sich eine Gruppe illustrer Ritter: Dodines, Gawein, Segremors, Iwein und Kalogrenant. Der Letztgenannte ist dabei, von einem Erlebnis zu erzählen, das seinem ritterlichen Ansehen nicht gerade förderlich ist, das aber die Neugier der anwesenden Ritter zu wecken versteht: ein maere, / von grôzer sîner swaere / und von deheiner sîner vrümekeit15 (V. 93ff.; „eine Geschichte von _____________ 12 13 14 15

Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen. Hrsg. von FRANK REXROTH, München 2007 (Historische Zeitschrift. Beihefte. N. F. 46). Vgl. What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Hrsg. von TOM KINDT/HANS-HARALD MÜLLER, Berlin 2003 (Narratologia. Contributions to Narrative Theory/Beiträge zur Erzähltheorie 1). Vgl. hierzu aber neuerdings den Band: Zwischen Text und Leser: Studien zu Begriff, Geschichte und Funktion literarischer Spannung. Hrsg. von DANIELA LANGER/INGO IRSIGLER/CHRISTOPH JÜRGENSEN, München 2008. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. BENECKE/K. LACHMANN/L. WOLFF. Übersetzung und Nachwort von THOMAS CRAMER. Dritte, durchgese-

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großer Gefahr, die er erlebt, und mangelnder Tapferkeit, die er dabei gezeigt hatte“). Unter diesen befindet sich auch der Truchsess des Königs, der müde Keie. In einem Zelt in der Nähe liegen Artus und Ginover im Bett. Artus schläft, die Königin aber hört Kalogrenant erzählen und schleicht sich unbemerkt davon, um dem Erzählereignis beizuwohnen: dô erwachte diu künegin unde hôrte sîn sagen hin in. sî lie ligen den künec ir man unde stal sich von im dan, und sleich zuo in so lîse dar daz es ir deheiner wart gewar, unz si in kam vil nâhen bî und viel enmittem under sî. (Iwein, V. 97-104) Da erwachte die Königin und hörte drinnen seine Worte. Sie ließ den König, ihren Mann, liegen, und stahl sich von ihm fort und schlich sich so leise zu ihnen hin, dass es keiner von ihnen merkte, bis sie ganz nahe an sie herangekommen war und plötzlich mitten unter ihnen stand.

Auffällig an der poetischen Gestaltung ist, dass die „narrative Alltagsrede [Kalogrenants, M. B.] nicht wiedergegeben oder indirekt nacherzählt“ wird, „wie das in einer Literatur, für die der Alltag noch keinerlei Interesse hat, nicht anders zu erwarten ist. Mit dem Hinzutreten der Königin allerdings entsteht eine neue Situation, deren Außeralltäglichkeit auch das Erzählinteresse stimuliert. Nun erst wird die Erzählung Kalogrenants auch erzählt.“16 Als sie die Ritter erreicht, erkennt nur Kalogrenant rechtzeitig die Königin. Er unterbricht seine Erzählung, erhebt sich und begrüßt Ginover. Das bringt ihm eine Schelte Keies ein, woraufhin sich Kalogrenant weigert, weiter zu erzählen. Keies verbale Attacke gegenüber Kalogrenant verzögert nicht unerheblich das Erzählen und dient derart der Spannungssteigerung.17 Erst Ginovers ausdrücklicher Wunsch, ihr königlicher Befehl, ermöglicht es, dass wir – wie die Artusritter – erfahren, wie die Geschichte Kalogrenants ihr Ende findet. Mit der Bitte der Königin ist eine völlig neue Situation entstanden: Kalogrenant erzählt ‚bei Hofe‘. Er setzt völlig neu ein – mit einer nun explizit höfischliterarisch stilisierten Erzählung. Kalogrenants Erzählung hat also zwei Anfänge: einen alltäglich-konversationellen, der nicht wörtlich zitiert wird, und einen festlich-repräsentativen in Analogie zum literarischen Prolog. Das heißt, die veränderte Pragmatik erfordert einen neuen Text.18

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hene und ergänzte Auflage, Berlin, New York 2001; vgl. auch Hartmann von Aue: Gregorius – Der Arme Heinrich – Iwein. Hrsg. und übersetzt von VOLKER MERTENS, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6). KARTSCHOKE (Anm. 4), S. 28. Vgl. den Kommentar von MERTENS (Anm. 15), S. 981. KARTSCHOKE (Anm. 4), S. 33.

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Dies dokumentiert nicht nur den Stellenwert, den das Erzählen von aventiure im Artusroman besitzt, sondern auch, wie das Wissen von Abenteuern in Abhängigkeit von einer ‚Gier‘ nach ihm inszeniert wird.19 Es ist dann die durch Kalogrenants Erzählung geweckte, ritterliche Neugier Iweins (und sein Streben nach êre), die diesen heimlich und allein aufbrechen lässt, um das Brunnenabenteuer zu bestehen, und die schließlich zum Tod von Askalon führt.20 Indem die Erzählung einen „Anstoß zum Handeln“ gibt,21 hat sie performative Qualitäten: „literarische Neugierde schlägt um in die Neugierde, ästhetische Erfahrung ‚real‘ nachzuvollziehen“.22 Sie ist eingebunden in ein höfisches Selbstverständnis, das das „Überschreiten der eigenen Lebenswelt“ durchaus kennt,23 dessen Ausdruck die curiositas der beiden Helden ist: ‚swie niugerne ich anders sî ‘ (V. 769; „‚wie neugierig ich sonst auch sei‘“). Auffällig ist zudem, dass Iweins Neugier zumindest nicht der Intention des intradiegetischen Erzählers entspricht: ‚ich hân einem tôren gelîch getân‘ (V. 795; „‚Ich habe wie ein Tor gehandelt‘“) kommentiert Ka_____________ 19

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Kalogrenant fordert von seinen Zuhörern genaues Zuhören, eine gespannte Aufmerksamkeit ein, wenn diese von seiner Geschichte einen Nutzen haben wollen. Dies rekurriert auch auf eine rezeptionsästhetische Formulierung im Prolog, wo vom Zuhörer oder Leser verlangt wird, er habe sîn gemüete zu wenden (vgl. HELMUT BRALL: Imaginationen des Fremden. Zu Formen und Dynamik kultureller Identitätsfindung in der höfischen Dichtung. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. Hrsg. von GERHART KAISER, München 1991 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 12), S. 115-165, hier S. 130; MIREILLE SCHNYDER: Âventiure? waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Euphorion 96 (2002), S. 257-272). HUBERTUS FISCHER: Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns Iwein. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos, München 1983 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 3), S. 19-28. Vgl. auch PETER KERN: Der Roman und seine Rezeption als Gegenstand des Romans. Beobachtungen zum Eingangsteil von Hartmanns Iwein. In: Wirkendes Wort 23 (1973), S. 246-252; zur Pragmatik des Erzählens am Hof besonders FRANZISKA WENZEL: Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von BEATE KELLNER/LUDGER LIEB/PETER STROHSCHNEIDER, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 89-109; ERICH AUERBACH: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern, Stuttgart 81988 (Sammlung Dalp 90). Vgl. auch schon ALFRED ADLER: Sovereignity in Chrétien’s Yvain. In: PMLA 62 (1947), H. 2, S. 281-305, hier S. 302f. WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 131. Vgl. auch MARK CHINCA/CHRISTOPHER YOUNG: Literary theory and the German romance in the literary field c. 1200. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 612-644. MANFRED KERN: Iwein liest Laudine. Literaturerlebnisse und die ‚Schule der Rezeption‘ im höfischen Roman. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe im 13. Jahrhundert. Festschrift Volker Mertens. Hrsg. von MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 385-414, hier S. 409. BRALL (Anm. 19), S. 135.

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logrenant sein gescheitertes Abenteuer. Hartmann von Aue rückt derart zu Beginn des Iwein die Neugier in den Mittelpunkt der Darstellung: Mittels einer Erzählung in der Erzählung – einer Diegese – wird der Zusammenhang von Neugier und Narration im Modus der Selbstreflexion des Erzählens zur Erscheinung gebracht.24 * Das Vergnügen an Erzählungen, wie auch die Bedingung ihrer Möglichkeit, besteht darin, dass es – wie an den aufmerksamen Artusrittern im Iwein deutlich ist und worauf auch die neuere Erzähltheorie verweist – mit dem Begehren verbunden ist: Geschichten erzählen von verschiedenen Arten des Begehrens und was mit ihm geschieht, doch ist zugleich auch jeder Erzählfortgang vom Begehren getrieben, […] dem Begehren zu wissen: Wir wollen Geheimnisse entdecken, wissen, wie es ausgeht, die Wahrheit herausfinden.25

Und dies nicht nur in den Fällen, von denen die Kriminalromane erzählen. So ist das Erzählen selbst eine Ebene, auf der in poetischen Texten Neugier untersucht werden könnte. Denn es gilt: Kein Erzählen ohne Neugier. Keine Neugier ohne Erzählen. Literatur in Moderne (wie Vormoderne) – von Dante bis Freud, von Raimundus Lullus bis Henry James – ist „Topos wie Paradigma der neugierigen Weltverfallenheit“.26 Spätestens nach den Bekenntnissen Augustinus’ ließe sich behaupten, dass die Neugier ein narratives Muster ausgebildet hat: curiositas und conversio, die in vielschichtigem Bezug zueinander stehen, ermöglichen den Modus von Umerzählung und Relektüre, der seine Wirksamkeit in den europäischen Literaturen breit entfaltet hat.27 Zu einem historisch weitreichenden Muster literarischer Darstellung zählt ebenso das Motiv der ‚Suche‘ (Queste âventiure), in der Neugier, Wissen und Erfahrung zueinander in Beziehung gesetzt sind.28 „Als Medium der Darstellung realer und imaginärer Wel_____________ 24 25 26 27

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Vgl. hierzu die Überlegungen von HÜBNER (Anm. 6) zur ‚Erzählung in der Erzählung‘. JONATHAN CULLER: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2002, S. 133. BARBARA VINKEN: Curiositas/Neugierde. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von KARLHEINZ BARCK, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2000, S. 794-813, hier S. 796. Vgl. VINKEN (Anm. 26), S. 800. Zur Figur der conversio vgl. MARIA MOOG-GRÜNEWALD: Conversio – Zu einem ‚apokalyptisch‘ figurierten Topos autobiographischen Schreibens. In: Apokalypse. Der Anfang im Ende. Hrsg. von MARIA MOOG-GRÜNEWALD/VERENA OLEIJNICZAK LOBSIEN, Heidelberg 2004, S. 1-20. NORRIS J. LACY: The Craft of Chrétien de Troyes: An Essay on Narrative Art, Leiden 1980 (zum Begriff der queste S. 1ff.). Vgl. für den Begriff der âventiure aus sprachgeschichtlicher Perspektive KLAUS-PETER WEGERA: mich enhabe diu âventiure betrogen. Ein Beitrag zur Wort- und

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ten“ ist es gerade der Ritterroman, der „stets auch von den ‚Schwierigkeiten mit der Natürlichkeit der Wißbegierde‘“ handelt: Die im klerikal gelehrten Kontext so oft gescholtene curiositas scheint im höfischen Roman „für eine Rede über die Welt am Natur- und Weltbewusstsein vorbei zu bürgen“.29 Neugier gilt – aus der historischen Perspektive einer Geschichte des Wissens und der Wissenschaften betrachtet – als Antrieb des Menschen, aus den Fesseln theologisch-dogmatischer Beschränkung auszubrechen.30 Sie wird einerseits als Phänomen menschlicher Grundverfassung angesehen, das genauso unspezifisch, flüchtig und hedonistisch verfasst ist, wie erkenntnisorientiert und handlungsmotivierend. Sie kann sich grund_____________

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Begriffsgeschichte von âventiure im Mittelhochdeutschen. In: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von VILMOS ÁGEL u. a., Tübingen 2002, S. 229-244; wichtig zuletzt die Beiträge von FRANZ LEBSANFT, VOLKER MERTENS, HARTMUT BLEUMER, MIREILLE SCHNYDER und PETER STROHSCHNEIDER in dem Band: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von GERD DICKE/MANFRED EIKELMANN/BURKHARD HASEBRINK, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10). GERHARD WILD: ‚Viajes en Turquia‘ oder: Wie sich der Ritterroman ‚orientalisierte‘. In: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident. Hrsg. von LAETITIA RIMPAU/PETER IHRING, Berlin 2005, S. 235-211, hier S. 235. Aus der umfangreichen Literatur zum Thema seien nur genannt: HANS BLUMENBERG: Augustins Anteil an der Geschichte des Begriffs der theoretischen Neugierde. In: Revue des Études Augustiennes 7 (1961), S. 35-70; HANS BLUMENBERG: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von ‚Die Legitimität der Neuzeit‘. Dritter Teil, Frankfurt a. F. 1973; GUNTHER BÖS: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin, Paderborn 1995; CAROLINE WALKER BYNUM: Wonder. In: DIES.: Metamorphosis and Identity, New York 2001, S. 37-75 [auch in: American Historical Review 102 (1997), S. 1-26]; Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von KLAUS KRÜGER, Göttingen 2002; LORRAINE DASTON: Die kognitiven Leidenschaften. Staunen und Neugier im Europa der frühen Neuzeit. In: DIES.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2001, S. 77-97; LORRAINE DASTON/KATHERINE PARK: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750, Frankfurt a. M. 2002; CARLO GINZBURG: High and Low. The Theme of forbidden Knowledge in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Past and Present 73 (1976), S. 28-41; JOACHIM METTE: Curiositas. In: Festschrift Bruno Snell zum 60. Geburtstag, München 1965, S. 227-235; JAN-DIRK MÜLLER: Curiositas und erfarung der Welt im frühen deutschen Prosaroman. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN/KARL STACKMANN, Stuttgart 1984, S. 252-271; JAN-DIRK MÜLLER: Erfarung zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos. In: Daphnis 15 (1986), S. 307-342; MARINA MÜNKLER: ‚allezeit den Spekulierer genennet‘. Curiositas als identitäres Merkmal in den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Faust-Jahrbuch II (2005/06), S. 61-81; HEIKO OBERMAN: Contra vanam curiositatem. Ein Kapitel der Theologie zwischen Seelenwinkel und Weltall, Zürich 1974; MONIKA SCHAUSTEN: Suche nach Identität. Das ‚Eigene‘ und das ‚Andere‘ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 2006 (Kölner Germanistische Studien. N. F. 7), S. 181-190; RENATE SCHLESIER: Die Schmerzlust des Zuschauers. Dramatisierungen der Neugier bei Euripides und Augustinus. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hrsg. von MARTIN BAISCH/ELKE KOCH, Freiburg i. B. 2009 (im Druck).

Vorausdeutungen

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sätzlich auf jedes Objekt, auch auf wunderbare und Staunen erregende Dinge, richten. Und gerade darin liegt ihr prekärer Status als menschliche Eigenschaft in der christlichen Anthropologie der Vormoderne begründet: Als ‚Augenlust‘ bewertet avanciert sie, grundlegend die curiositas-Auffassung des Augustinus, zum Topos der Kritik. Im Selbstverständnis der Moderne wird die (theoretische) Neugier jedoch andererseits nicht selten als Katalysator des kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritts aufgefasst, mit wissenschaftlicher Forschung assoziiert und mit Begriffen wie ‚Emanzipation‘ oder ‚Aufklärung‘ in Verbindung gebracht. Die Analyse historisch rekonstruierbarer Neugier-Diskurse fundiert ein methodisches Vorgehen, das modernes wie vormodernes Erzählen und seine Funktionsweisen bestimmen will. Motor der hier interessierenden curiositas-Poesie ist die (dekonstruierende) Auseinandersetzung mit der Ordnung theologisch-philosophischer Referenzdiskurse: „Sie bringt zur Geltung, sie nimmt herein, was jene im Interesse ihrer Ordnung ausgrenzen.“31 Deutlich scheint, dass Neugier damit je verschieden codiert und modelliert ist. Sie hat teil an der Generierung von Wissen – je gebunden an ästhetischen Gattungskonventionen – und damit auch an der Steuerung von Erzählprozessen. In der Neugier (eines Textes) ist mehr konzeptualisiert als ein von ihm strukturell gelenktes Interesse, die erzählte Handlung als Ganzes zu verstehen. Neugier ist ein kulturelles Narrativ.32 * Knappe Bemerkungen zum narrativen Prozess im Herzog Ernst mögen diesen Sachverhalt illustrieren. Bekanntermaßen spielt die Neugier in der erzählerisch intensiv ausgestalteten Grippia-Episode im Orientteil des Herzog Ernst eine herausragende Rolle. Nach seinem Aufbruch von Konstantinopel hindert ein gewaltiger Seesturm den Helden, mit seiner Flotte nach Jerusalem zu gelangen.33 Zwölf der Schiffe versinken in den bedrohlichen Fluten, ihre Besatzungen finden einen schrecklichen Tod. Nach _____________ 31 32

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RAINER WARNING: Petrarcas Tal der Tränen. Poetische Konterdiskursivität im Canzoniere. In: Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner, Stuttgart 2003 (Text und Kontext 17), S. 225-246, hier S. 241. ASTRID ERLL/SIMONE ROGGENDORF: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von ANSGAR NÜNNING/VERA NÜNNING, Trier 2002, S. 73-113. Vgl. auch RALF KLAUSNITZER: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin, New York 2008 (de Gruyter Studienbuch), S. 423. Das Motiv des Seesturms markiert den Übergang in einen Raum der Fremde, d. h. einen geographisch unbestimmten, von mirabilia geprägten Raum, den – wie im Text betont ist – kein Mensch jemals zuvor oder danach betreten hat (Herzog Ernst V. 2166f.).

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einer Irrfahrt von drei Monaten – alle Lebensmittel sind aufgebraucht – gelangt Ernst mit seinen Männern eines Morgens wieder in Küstennähe und steuert auf einen Hafen zu. Als sie ankern, erblicken die Kreuzfahrer sogleich eine herrliche Stadt, die von einer starken und kostbaren Mauer aus in vielen Farben leuchtendem Marmor umgeben ist. Auch die Zinnen der Stadt erregen die Aufmerksamkeit der Reisenden: Sie sind meisterlîch gezieret, mit golde wol gevieret und mit edelem gesteine, beide grôz unde kleine, allez meisterlîch geworht. (Herzog Ernst, V. 2235-2239)34 meisterhaft gearbeitet, mit Gold schön verziert und mit großen und kleinen Edelsteinen besonders kunstvoll ausgeschmückt.

Der enormen, äußeren Aufmachung Grippias korrespondiert die Qualität der vielfältigen Verteidigungsanlagen, die kein Heer überwinden könnte: werchûs berfrît brustwer gemâlt und meisterlîch ergraben, als wirz von den buochen haben dâ ez an geschrîben stât. (Herzog Ernst, V. 2242-2245) Schutzbauten, Türme und Brustwehr waren sinnvoll geplant und ausgeführt, wie uns die Bücher bezeugen, in denen es berichtet wird.

In einer längeren Beratung zwischen dem Herzog und seinen Rittern wird die Situation der Helden analysiert: Gott müsse die Kreuzfahrer zu dieser prächtigen Stadt geführt haben, um Lebensmittel zu erwerben. Da man nicht weiß, ob die Bewohner Christen oder Heiden sind, bewaffnen sich Ernst und seine Leute und dringen in die leere, unbewehrte Stadt ein.35 Rasch entsteht eine Atmosphäre der Ungewissheit und der Gefahr. Man glaubt, die Bewohner haben sich absichtsvoll verborgen, um sie mit dieser _____________ 34

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Herzog Ernst B. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von KARL BARTSCH mit den Bruchstücken der Fassung A. Herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von BERNHARD SOWINSKI, Stuttgart 1970. Vgl. hierzu die textkritischen Untersuchungen bzw. den edierten Text von CORNELIA WEBER: Untersuchung und überlieferungskritische Edition des Herzog Ernst B. Mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A, Göppingen 1994 (GAG 611). Vgl. hierzu die zur Überinterpretation neigenden Überlegungen von RASMA LAZDA-CAZERS: Hybridity and Liminality in Herzog Ernst B. In: Daphnis 33 (2004), S. 79-96, S. 89f.: „Considering that cities were traditionally personified as women, one could also argue that Ernst’s desire is not sparked by curiositas alone, but also by the strong urge to penetrate the city as result of the temptingly open gates and their seductive invitation. […] The narratives of subjugation and pillaging of cities and fortresses can be paralleled to the rape of a female perceived as unwilling, but seductive. In fictional discourse, the city as woman might function as a possible means of compensation for masculine anxieties and wishes, especially in case for a foreign and exotic femininity associated with sexuality as in the case of the Grippia episode.“

Vorausdeutungen

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List besser überwältigen zu können: „Denn daß man niemanden sieht, wird nicht als Zeichen von Abwesenheit verstanden, sondern als Zeichen von Verborgenheit, die einerseits aus der Perspektive einer visuell orientierten Kultur merkwürdig erscheint […], andererseits in der genuin konflikthaften Situation des Aufeinandertreffens als Täuschung interpretiert wird […].“36 Dennoch herrscht bei Ernst und seinen Männern wohl aufgrund ihrer eigenen Stärke Zuversicht, mögliche Angriffe der unsichtbaren Fremden zu überstehen. des nam sie michel wunder (V. 2315; „das wunderte sie sehr“): die Inszenierung eines Geheimnisses, das die Erzählung von Grippia prägt, löst bei den hungrigen Rittern Neugier aus, wie das Leitwort dieser Episode belegt.37 Kampflos gelangen Ernst und sein Gefolge in kurzer Zeit bis ins Zentrum der Stadt (V. 2366f.). Dort entdecken sie – angerichtet in einer würmelâge (V. 2373; „Tiergarten“) – ein Bankett: zu einem Ring geordnet finden sich auf prächtig geschmückten Tischen üppige Speisen und Getränke in edlen Gefäßen. Die Männer waschen sich die Hände, lassen sich auf bequemen Sesseln nieder und stillen Hunger und Durst – nicht ohne Gott für die Gaben zu danken, die ihnen von den Bewohnern der Stadt nicht angeboten wurden. Ernst mahnt seine Leute zur Eile – er vermutet die Grippianer in der Nähe – und befiehlt, Proviant für die Weiterreise mitzunehmen. Nichtsdestotrotz nehmen sich die Kreuzfahrer die Zeit, die vielen außergewöhnlichen Dinge in Grippia genauer in Augenschein zu nehmen (V. 2457-2462): Das fremdartige Grippia führt zu Staunen und Beunruhigung. Schließlich kehren sie – beladen mit Fleisch, Wein und Brot – zu ihren Schiffen zurück und ruhen sich aus, als sich in Ernst plötzlich die Neugier regt: Dô sie ein wîle also gelâgen und ir gemaches phlâgen, dô sprach der herzoge Ernest sân zem grâven Wetzel sînem man „mich lustet vil sêre daz ich hin wider kêre und die burc baz besehe.“ (Herzog Ernst, V. 2481-2487) Nachdem sie eine Weile so gelegen und sich ausgeruht hatten, sagte der Herzog Ernst plötzlich zum Grafen Wetzel, seinem Gefährten: „Ich habe ja große Lust, noch einmal zurückzukehren und die Stadt genauer anzusehen.“

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BURKHARD HASEBRINK: Prudentiales Wissen. Eine Studie zur ethischen Reflexion und narrativen Konstruktion politischer Klugheit im 12. Jahrhundert. Göttingen 2000. Unveröffentlichtes Manuskript (erscheint in: Bibliotheca Germanica), S. 234. Ich danke BURKHARD HASEBRINK sehr herzlich, dass er mir seine wichtige Studie vor der Drucklegung zur Verfügung gestellt hat. Im Orientteil des Textes finden sich 56 Belege für wunder (vgl. RICHARD SPULER: The Orientreise of Herzog Ernst. In: Neophilologus 67 [1983], S. 410-418, hier S. 411).

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Rhetorisch markant durch eine Alliteration hervorgehoben teilt der ‚augenlustige‘ Ernst in direkter Rede seine Motivation für den zweiten Ausflug nach Grippia mit, den MAX WEHRLI emphatisch als einen „Akt freier, furchtloser Neugier“ bezeichnet hat.38 Es scheint fast, als ob ein Moment der Ruhe – die ‚Langeweile‘ bei den Schiffen (V. 2481) – Ernst auf andere, auf falsche Gedanken kommen lässt.39 Gleichzeitig wird so auch die weitere Handlung motiviert, das weitere Erzählen in Gang gesetzt, die Neugier erweist sich als performativ. Der zweite Besuch Grippias durch Ernst und Wetzel ist keineswegs kontingent im Sinnzusammenhang des Romans, sondern liegt stringent im poetischen Kalkül des Textes. Dies lässt sich dadurch plausibilisieren, dass diese Doppelung mit der Konzeption der Neugier in diesem zwischen heldenepischem und höfischem Erzählen oszillierendem Text zusammenhängt. Im Roman wird nämlich zwischen einem faszinierten und einem auswertenden Schauen differenziert und über die genannte Wiederholungsstruktur zugleich voneinander geschieden und aufeinander bezogen.40 Die Neugier verbindet sich mit einer nicht-funktionalen, allein auf das Außergewöhnliche gerichteten Wahrnehmung; kontrastiv dazu stellt er eine pragmatisch gebundene, zielgerichtete Wahrnehmung vor. Die sich derart andeutende Nähe zum klerikalen Diskurs zeigt sich in diesen Textabschnitten auch darin, wie häufig das Sehen und Schauen thematisiert wird. Zwar hat dies die Forschung bereits festgestellt,41 diesen Textbefund aber nicht ausreichend im Kontext der Neugier-Problematik ausgewertet. Wahrnehmung als augustinische ‚Augenlust‘, als emanzipiertes, nicht mehr funktionsgebundenes Sehen begegnet vor allem bei dem zweiten Besuch von Grippia durch Ernst und Wetzel, wenn diese die üppige Pracht, die ästhetische Qualität, die handwerkliche Kunstfertigkeit und Gemachtheit der Gegenstände in großer Detailfülle wahrnehmen: Nicht mehr ein pragmatisches Interesse, sondern die reine Lust am Schauen läßt den Herzog den Vorschlag machen, noch einmal in die Stadt zurückzukehren.

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MAX WEHRLI: Herzog Ernst. In: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze, Zürich, Freiburg i. Br. 1969, S. 141-153, hier S. 149. Vgl. hierzu auch die Überlegungen von HASEBRINK (Anm. 36), S. 235: „Doch die GrippiaEpisode ist nach dem Muster der Verdopplung in zwei Besuche unterteilt, die von einer Phase des Ausruhens unterbrochen sind, die mit den Stichworten geligen (v. 2481) und gemaches phlegen (v. 2482) an die ‚Krise‘ im Erec Hartmanns von Aue denken läßt, ohne daß hier die geringste Kritik wahrnehmbar wäre.“ Es ließe sich aber auch – wenn man nach intertextuellen Verweisen sucht – an die hier schon angeführte Festsituation zu Beginn des Iwein denken: Nach dem Essen, in ruhiger und entspannter Runde, ist es Zeit für eine Geschichte. Vgl. hierzu EVA LIEBERICH: Neugier und Staunen im Herzog Ernst und Reinfried von Braunschweig. Staatsexamensarbeit, Berlin 2007. Vgl. etwa CARSTEN MORSCH: Lektüre als teilnehmende Beobachtung. Die Restitution der Ordnung durch Fremderfahrung im Herzog Ernst (B). In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von WOLFGANG HARMS u. a., Stuttgart 2003, S. 109-128.

Vorausdeutungen

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[…] Diese lust als so etwas wie ‚romantische[n] Abenteuergeist‘ zu verstehen verkennt den Begründungszusammenhang dieser Neugier. Zwar nimmt der Herzog das Risiko eines Angriffs in Kauf, aber er sucht es nicht. Sein Ziel ist die genaue Betrachtung und Erkundung der Stadt, deren ungewöhnliche, kunstvolle Ausstattung bereits bei dem ersten Besuch zur Sprache gekommen war: der Herzog plant kein Abenteuer, sondern eine Besichtigung. Seine curiositas ist frei von Nützlichkeitserwägungen.42

So verwundert es nicht, wenn das Erzählen während des Besuchs von Ernst und Wetzel von ausführlichen descriptiones (2562-2697) geprägt ist. Gleichsam mit den Augen der Protagonisten nehmen wir den Reichtum und Luxus des fremden Palastes wahr. „Mit genussvollem Erstaunen erkunden sie die großzügige Anlage der Burg“,43 entdecken schließlich in einem wunderbar eingerichteten Zimmer ein prachtvolles Bett: do gesach der vil küene Ernest der vil werde man ein kemenaten wol getân: diu was gezieret innen von meisterlîchen sinnen44 von edelem gesteine. die wâren algemeine in liehtem golde schône erhaben und meisterlîche wol ergraben. dô sie dar în begunden gân, ein spanbette sie sâhen stân, als wir daz mære hœren sagen, daz was mit golde wol durchslagen beide schône und rîche, und was vil meisterlîche mit berlîn gefieret und mit steinen wol gezieret von vil fremden sachen. lewen unde trachen, nâtern unde slangen, die lâgen an den spangen geworht von golde, daz was lieht. (Herzog Ernst, V. 2568-2585) Dann entdeckte der tüchtige Ritter, der kühne Herzog Ernst, ein prächtig eingerichtetes Zimmer, das innen meisterlich mit Edelsteinen ausgeschmückt war, die

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HASEBRINK (Anm. 36), S. 235. INGRID KASTEN: Emotionalität und der Prozess männlicher Sozialisation. Auf den Spuren der Psycho-Logik eines mittelalterlichen Textes. In: Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von INGRID KASTEN/GESA STEDMAN/MARGARETE ZIMMERMANN, Stuttgart, Weimar 2002 (Querelles VII. Jahrbuch für Frauenforschung 2002), S. 52-71, hier S. 61. SPULER (Anm. 37), S. 412: „In the descriptions of the artwork and architecture one adjective tends to prevail: meisterlich. Its frequent application underscores the quality of excellence found in these objects from the Orient.“

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alle erhaben in glänzendem Golde schön eingelegt und kunstvoll eingefasst waren. Sie gingen hinein und sahen dort ein bequemes Bett stehen. Es war, wie uns die Erzählung überliefert, mit Einlagen aus Gold schön herrlich durchsetzt und sehr meisterhaft mit Perlen im Viereck geschmückt und mit Edelsteinen in ungewöhnlicher Weise sehr prächtig verziert. Löwen und Drachen, Nattern und Schlangen, aus leuchtendem Golde getrieben, waren an den Pfosten angebracht.

Bald darauf entdecken die beiden Besucher ein Badehaus aus grünem Marmor inmitten vieler ebenfalls grüner Zedernbäume, darin – detailliert beschrieben – zwei rot goldene Badewannen, die über zwei silberne Rohre mit warmem wie kaltem Wasser versorgt werden. Ein weiteres Rohr aus Erz nimmt das verbrauchte Wasser auf und leitet es über die Straßen der Stadt, die so von Staub und Unrat gereinigt werden. Selbst der Erzähler ist beeindruckt und staunt über die wie Schnee glitzernden Straßen: ich wæne burc deheine / ûf erden ie sô rîch gestê: / ir strâzen glizzen sô der snê. (V. 2696-99; „ich glaube, dass keine Stadt auf der Erde so prächtig ausgestattet ist: ihre Straßen glitzerten wie Schnee“). Diese artifizielle Konstruktion lässt in Ernst erneut einen Wunsch wach werden: „vil sneller degen hêre, mich lustet vil sêre daz wir in daz bat gân.“ (Herzog Ernst, V. 2703-2705) „Tapferer Held, ich möchte unbedingt, dass wir ein Bad nehmen.“

Gegen den ausdrücklichen Rat seines vasallitischen Begleiters und Freundes Wetzel entkleiden sich die Helden und setzen sich in die Wannen. Sie tauchen wortwörtlich ein in die fremde Welt. Die Neugier der Helden erhält hier fraglos eine körperliche Dimension: Teilhabe an der Welt über den Sehsinn wird abgelöst von der Erfahrung der Welt mit dem Körper: „Curiositas als Überbietung der Lust am Schönen durch die Lust an der Erfahrung kommt hier zu ihrem Recht.“45 Die Negativierung der Neugier im Herzog Ernst offenbart sich schließlich im weiteren Handlungsverlauf. Der durch die curiositas geleitete zweite Besuch in Grippia hat bekanntlich fatale Folgen, wie der Tod der Prinzessin und vieler Begleiter der beiden Helden offenbaren. Auch ein Erzählerkommentar verweist direkt auf diesen Zusammenhang (V. 3692f.). Beobachtbar ist aber im Herzog Ernst auch, wie die Neugier im Text positiviert erscheint. Dazu kann man auf das Handeln des Königs von Arimaspi verweisen, der an den Fremden mit neugierigem Blick das wahrnimmt, was ihm für die Sicherung seiner Herrschaft bedeutsam erscheint, nämlich ihre militärischen Fähigkeiten: dô schouwete der künic rîch ir helme schilde unde swert.

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HASEBRINK (Anm. 36), S. 238.

Vorausdeutungen

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sie wâren im liep unde wert. im geviel vil wol ir leben. […] der recken er sich underwant und hiez dô ziehen sâ zehant ein viel schœne castellân, starc unde wol getân, vür in ûf den hof dar. dâ bî wolde er nemen war welher der tiurste wære. Ernest der degen mære zehant nâch dem zoume greif. er spranc dar ûf ân stegereif und reit ez ritterliche. (Herzog Ernst, V. 4594-4611) Daraufhin betrachtete der König ihre Helme, Schilde, Schwerter. Er war über die Ritter erfreut und wusste sie zu schätzen. Ihr Verhalten gefiel ihm. […] Er sorgte für die fremden Ritter und ließ dann sogleich ein schönes kastilisches Pferd, das kräftig und wohlgebaut war, zu ihnen in den Hof bringen. Auf diese Weise wollte er feststellen, wer der vornehmste von ihnen war. Ernst, der berühmte Held, griff sogleich nach dem Zaum, sprang ohne Stegreif auf und ritt es wie ein Ritter.

Die neugierkritische, wohl an Positionen der klerikalen Tradition orientierte Konzeption zu Beginn des Textes wird abgelöst von einer Aufwertung neugierigen Verhaltens, die notwendig scheint für die Festigkeit der romanintern entwickelten gesellschaftlichen Ordnung. Ob textintern von einer Umbesetzung der Neugier gesprochen werden kann, bedarf allerdings weiterer Untersuchung. Das Romanende zeigt, wie Neugier und Staunen zunehmend positiv markiert und als Verhaltensnorm in die Gesellschaft integriert werden. So zieht sich der Kaiser nach der vornehmlich durch Adelheit eingefädelten Versöhnung mit Herzog Ernst zwölf Tage lang mit dem weit gereisten Helden in eine Kemenate zurück, um sich von den Wundern im Orient faszinieren zu lassen: Das Interesse an Ernsts fabulösem gesynne (v. 5971) bestimmt […] den Schlussteil des Romans: Die erste Frage des Kaisers an Ernst nach der Messe betrifft die Wunderwesen (v. 5970f.). Sie werden aus Bayern zum Kaiser gebracht (v. 59745977). Der Kaiser bittet Ernst, eyn teil syner wunder (v. 5983) abzugeben, was dieser ihm nach anfänglichem Widerstreben gewährt (v. 5984-5989).46

Doch wird diese Isolation – und dies ist entscheidend – dann aufgebrochen, im Text „werden nacheinander verschiedene Stufen der Vergemeinschaftung des Wunderbaren durchschritten“.47 Der Kaiser lässt das Gehörte – die ganze Geschichte des Herzog Ernst – verschriftlichen und damit wird es als Erzählung für den Hof verfügbar. Dass Ottos Interesse _____________ 46 47

MARKUS STOCK: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 221. LIEBERICH (Anm. 40), S. 26.

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an den Erlebnissen und Erfahrungen von Herzog Ernst „weniger [als] ein Zeichen von curiositas“48 zu werten ist, kann freilich nur behaupten, wer von einem eindimensionalen Konzept von Neugier ausgeht. Dass die Neugier in diesem Text nicht der Erzeugung von Wissen und Erkenntnis dient, sie etwa mit BLUMENBERGs Konzept der kognitiven theoretischen Neugier wenig zu tun hat, sie eher eng verknüpft mit der augustinischen Auffassung von Neugier als einer lustbetonten und körperbezogenen Begierde ist, führt zu der Einsicht, dass Wissen nicht über die Neugier hervorgebracht wird. Wissen wird vielmehr über Erzählungen bereitgestellt. Exkurse des Erzählers – z. B. über die architektonische Gestalt Grippias (V. 2240-2250), über die erwähnten kunstvollen Verzierungen des Hochzeitsbettes (V. 2577-2596) oder über die Geschichte der Prinzessin aus Indien (V. 2879-2909) – inserieren in die narrative Handlung Wissen. Aber auch Figuren vermitteln auf der Handlungsebene über Erzählungen Kenntnisse: die Prinzessin berichtet Herzog Ernst ihre Geschichte, Herzog Ernst selbst erzählt von seinen Erlebnissen nicht nur dem Mohrenkönig, sondern auch Kaiser Otto. Entscheidend ist: Wissen wird erzählt.49 Die durch Neugier motivierten Erfahrungen von Herzog Ernst, die nicht auf unmittelbaren Erkenntnisgewinn abzielten, erlangen den Status von Wissen, nachdem sie durch die Initiative Ottos zu einer Erzählung geworden sind. * Deutlich sollte geworden sein, wie eng in diesem Text auf verschiedenen Ebenen Neugier und Erzählen aufeinander bezogen sind, ja wie Neugier und Narration einander bedingen. Ähnliche Überlagerungen von NeugierDiskursen und Prozessen des Erzählens hat BARBARA VINKEN beobachtet.50 Ihrer Auffassung der Neugier liegt ein semiotischer, auf einem augustinischen Verständnismodell von Neugier basierender Ansatz zugrunde. Neugier als Zeichenproblem meint die Ausblendung des Verweiszu_____________ 48

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ALEXANDRA STEIN: Die Wundervölker des Herzog Ernst (B). Zum Problem körpergebundener Authentizität im Medium der Schrift. In: Fremdes Wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von WOLFGANG HARMS, Leipzig 1997, S. 21-48, hier S. 42. Eine Gegenposition zum Verhältnis von Wissen und Literatur findet sich bei ULRICH WYSS: Erzählen. In: Fischer Literatur-Lexikon. Hrsg. von ULFERT RICKLEFS, Frankfurt a. M., Bd. 1, 1996, S. 594-610, S. 609: „Erzählen ist weniger ein Mitteilen von Wissen und Rat als das immer neue Spielen mit den Möglichkeiten, Wörter zu kombinieren. […] Erzählungen umspielen, was sich nicht sagen läßt.“ BARBARA VINKEN: Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans, Freiburg 1991 (Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae).

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sammenhangs der Dinge in der Welt auf ihren Schöpfer: Der nur oberflächlich bleibende Zugriff des Neugierigen auf die Welt verkennt, dass die Dinge, um deren Erkenntnis der Neugierige sich bemüht, sich diesem entziehen.51 Die begehrende, die leidenschaftliche Perspektive auf die Welt führt dazu, dass die Objekte sich vor den Augen des Neugierigen ‚wandeln‘. Sie erhalten eine Präsenz und Fülle, die Konstruktion und Effekt der Neugier ist. Derart verkennt diese ‚kognitive Leidenschaft‘ (DASTON) in ihrer Aneignung von Welt, dass diese immer nur im Modus der Spur, des Entzugs, des Verlusts oder gar ihrer Unverfügbarkeit zu fassen ist. Der Neugierige ist der Welt ‚verfallen‘, ohne diese wirklich zu erkennen. VINKEN entwickelt aus der philosophisch-theologischen Verurteilung der curiositas ein Interpretationsmodell von Schein und Sein, Trug und Wahrheit, Blindheit und Einsicht, das diese immer wieder und je anders konfiguriert in Texten der abendländischen Kultur abgebildet findet. Zielpunkt ist bei VINKEN eine Theorie des modernen Romans; für diesen sei nämlich kennzeichnend, dass er eine allegorisierende Lektüre der Welt selbst als Verblendung begreift und als solche in den Texten inszeniert. Das VINKENsche Modell – in seiner poststrukturalistischen Ausrichtung durchaus kritisierbar – eröffnet einer historisch argumentierenden Erzähltheorie dennoch ein spannendes Forschungsfeld, das Literatur als Wissensform versteht und methodisch abgesichert durch Berücksichtigung kontextueller Diskurse verfährt.52 II. Spannung „Erzählen heißt spannen.“53

Verfahren der Spannungserzeugung in literarischen Texten auch des Mittelalters mag man einerseits als tension,54 andererseits als suspense55 beschrei_____________ 51 52 53

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BARBARA VINKEN: Das Geheimnis der Neugierde. Pascal und Freud. In: Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation V. Bd. 3: Geheimnis und Neugierde. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN, München 1999, S. 243-252. WARNING (Anm. 31). THOMAS MANN: Heinrich von Kleist und seine Erzählungen. In: DERS.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. und mit Nachbemerkungen versehen von PETER DE MENDELSSOHN. Bd. 8: Leiden und Größe der Meister, Frankfurt a. M. 1982, S. 495-515, hier S. 514. Vgl. PETER WENZEL: Spannung in der Literatur. Grundformen, Ebenen, Phasen. In: Spannung. Studien zur englischsprachigen Literatur. Für Ulrich Suerbaum zum 75. Geburtstag. Hrsg. von RAIMUND BORGMEIER/PETER WENZEL, Trier 2001, S. 22-35, S. 22: „Dementsprechend kennt die englische Sprache – anders als die deutsche – zur Bezeichnung von Spannung zwei verschiedene Begriffe: Es gibt zum einen das Wort tension als Begriff für die statische, auf Gegensätze fußende Spannung.“

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ben: Spannung – im Sinne von tension – kann als Resultat konfligierender Textelemente, Erzählebenen, Textmuster oder -strategien beschrieben werden, auch als Wirkung antagonistischer sprachlich-stilistischer Mittel des Textes. Spannung – im Sinne von suspense – kann als Merkmal der narrativen Textstruktur beschrieben werden, wenn etwa spezifische Strategien der Wissensvergabe zwischen Text und Leser gemeint sind, wenn Wissensdiskrepanzen zwischen Erzähler und/oder Figuren inszeniert werden, oder wenn unterschiedliche Erzählschemata Verwendung finden.56 Wer gespannt ist, versteht besser: Eine Bedingung der Neugier des Rezipienten ist in narrativen Texten die Erzählspannung als Kategorie der literarischen Kommunikation zwischen den Instanzen Autor, Text und Rezipient. Spannung und ihre Erzeugung zielen direkt auf das Spiel des Wissens und seine Beurteilung: Zu analysieren sind hierbei sowohl Strategien der Wissensvergabe zwischen Text und Leser, wie auch Wissensdiskrepanzen zwischen Erzähler und/oder Figuren. Es ist dabei nach den Zeichen zu fragen, die – bedeutungsleer oder überdeterminiert – Handlungen in Gang setzen und/oder die Konstitution von Wissen dynamisieren. Das Erzählphänomen Spannung ist in dieser Perspektive gebunden an die Vergabe von Informationen: Konstitutives Merkmal von ‚Spannung‘ ist ein Mangel an Information, verbunden mit dem Wunsch, ihn aufzuheben. Als spannend wird ein Text empfunden, wenn man nicht genau weiß, aber geradezu begierig wissen will, wie es darin in der Zukunft weitergeht oder wie sich ein vergangenes Geschehen wirklich abgespielt hat. Andeutungen oder Vorausdeutungen stimulieren den Rezipienten dazu, Vermutungen über zukünftige oder vergangene Geschehnisse anzustellen. Unterbrechungen oder Dehnungen des Handlungsverlaufs […] und der Informationsvergabe […] sind charakteristische Kennzeichen der Erzeugung, Aufrechterhaltung und Intensivierung von Spannung.57

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Vgl. WENZEL (Anm. 54), S. 22: Der Begriff der suspense steht „für eine dynamische, auf den Verlauf einer Handlung bezogene Spannung, die bei der Analyse von Filmen, Romanen und Kurzgeschichten eine wichtige Rolle spielt. Während man in jedem Text ein gewisses Maß an tension entdecken kann, setzt die Erzeugung von suspense eine (im breiteren Sinne) narrative Textstruktur voraus. Suspense ist damit der engere, spezifische und interessantere Spannungsbegriff.“ MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 2003, S. 137. Die Schemaorientiertheit mittelalterlichen Erzählens – man denke etwa an das bekannte Brautwerbungsmuster – hat CLEMENS LUGOWSKI die begriffliche Unterscheidung zwischen Ob-Überhaupt-Spannung und Wie-Spannung treffen lassen (CLEMENS LUGOWSKI: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von HEINZ SCHLAFFER, Frankfurt a. M. 1976). Vgl. auch die differenzierten Überlegungen bei DANIELA LANGER: Literarische Spannung/en. Spannungsformen in erzählenden Texten und Möglichkeiten ihrer Analyse. In: LANGER/IRSIGLER/JÜRGENSEN (Anm. 14), S. 12-32. THOMAS ANZ: Spannung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 464-467, S. 464. Vgl. auch VOLKER MERTENS: Spannungsstruktur. Ein erzählanalytisches Experiment am Walewein. In: ZfdA

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Durch das Spiel mit dem Wissen lässt sich auch mittelalterliche Literatur mit dem Begriff der ‚Spannung‘ in Verbindung bringen, wenn diesem ein informationsästhetischer Ansatz zugrunde gelegt wird.58 Die Literaturwissenschaft hat – mit Ausnahme ihrer Beschäftigung mit dem Drama – um das Problem der Spannung jedoch auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen Bogen gemacht: „In erstrangiger Literatur gilt sie als zweitrangiges, nur in zweitrangiger Literatur als erstrangiges Phänomen.“59 Wer sich mit dem Phänomen der Spannung auseinandersetzt, interessiert sich gewöhnlich für Kriminal-, Detektiv- und Schauerromane oder Kinderund Jugendliteratur, hat in der Regel pädagogische und literaturdidaktische Interessen.60 Aber auch (mittelalterliche) Höhenkammliteratur kommt ohne ‚Spannung‘ nicht aus und reflektiert diese: Eingefügt in die Erzählung von Parzivals Aufenthalt auf der Gralsburg Munsalvaesche findet sich ein poetologischer Erzählerkommentar, der das komplexe Erzählen in Wolframs von Eschenbach Gralroman rechtfertigt. Das sogenannte ‚Bogengleichnis‘ bezieht sich am Anfang und am Ende direkt auf die berichtete Handlung auf der Gralsburg.61 Nach Schilderung der Gralszeremonie und des Spei_____________

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(1998), S. 149-168, S. 150: „Spannung ist eine textgesteuerte Rezeptionsdimension; sie entsteht durch die Antizipation möglicher Textfortsetzungen und ihre Einlösung oder Enttäuschung. Die Antizipation geschieht einmal aufgrund von vorausgehenden Lesererfahrungen, die zu Gattungs- bzw. Typuserwartungen führen. Typussignale wie Personal, Ort und Zeitlichkeit, Erzählgestus bauen diesen Erwartungshorizont auf.“ Vgl. dazu kritisch KATJA MELLMANN: E-Motion. Was bewegt uns an den Medien? Über fiktionale Welten, virtuelle Kontakte und die Realität der Gefühle. In: Parapluie. Elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen 13 (Frühjahr 2002): Cyberkultur, http://parapluie.de/archiv/cyberkultur/emotion/: „Eng verbunden mit dem Phänomen der Lust ist das der Spannung. Warum will man auch in einem durch und durch trivialen Krimi noch wissen, wer der Mörder war? Und warum kann man einen Hitchcock-Film auch beim zweiten Mal noch mit Spannung verfolgen, obwohl man nicht vergessen hat, wie er ausgeht? Spannung ist nicht, wie man lange glaubte, lediglich eine Frage der Informationsvergabe, sondern hängt von unserem aktiven Mitvollzug einzelner narrativer Einheiten, sogenannter Spannungsbögen ab.“ THOMAS ANZ: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 2002, S. 152f. Vgl. etwa ELENA JENSSEN: Die Narrativik des Geheimen. Erzählplots in den Spionageromanen von John LeCarré, Hamburg 2000; RALF JUNKERJÜRGEN: Spannung – narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne, Frankfurt a. M. 2002; ULRICH SUERBAUM: Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart 1984. Aus der umfangreichen Literatur zum ‚Bogengleichnis‘ vgl. MICHAEL CURSCHMANN: Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs Parzival. In: DVjs 45 (1971), S. 627-667; ARTHUR B. GROOS: Wolfram von Eschenbach’s ‚Bow Metaphor‘ and the Narrative Technique of Parzival. In: MLN 87 (1972), S. 391-408; Bernd Schirok: Diu senewe ist ein bîspel. Zu Wolframs Bogengleichnis. In: ZfdA 115 (1986), S. 21-36; HAUG (Anm. 21), S. 155-178; ALEXANDRA STEIN: wort unde werc. Studien zum narrativen Diskurs im Parzival Wolframs von Eschenbach, Frankfurt a. M. 1993; CORNELIA SCHU: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. 2002 (Kultur – Wissenschaft – Literatur 2); PETER KERN: ich sage die se-

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sewunders wird erzählt, wie der Gral von den 24 Jungfrauen wieder herausgetragen wird. Parzival erhascht einen Blick durch die Tür auf einen weiteren Raum. Dort befindet sich ein alter Mann, dessen Schönheit für Parzival unvergleichlich ist. Dann setzt das ‚Bogengleichnis‘ ein: 241,1

G Wer der selbe wære. des freischet ir her nach mare. dar zô der wirt div burch sin lant. div werdent iv von mir genant. her nach so dez wirt zit. bescheidenlichen ane strit. vnde allez rehte vur gezogen. ich sage die sênwe vngelogen. div senwe ist ein bispel. (G, fol. 19vc Z. 61-20ra Z. 1)62

D Wer der selbe wære. des freiscet hernach mære. dar zuo der wirt sin bvrch sin lant. di werden iv von mir genant. hernach so des wirdet zit. besceidenlichen ane strit. vnde an allez fvr zogen. ich sage die senewen ane bogen. div senewe ist ein bispel. (D, S. 67)63

Wer er war, davon sollt ihr später hören. Dann wird euch auch der Wirt, die Burg, das Land von mir genannt, doch nachher erst zu seiner Zeit, da, wo es hingehört nach rechtem Urteil, ohne Zank und erst dann, wenn’s an die Reihe kommt. Ich sage die Sehne, nicht den Bogen - die Sehne ist nämlich ein Gleichnis.64

Deutlich ist, wie über die Einfügung eines Erzählerexkurses die Neugier Parzivals in jener des Lesers oder der Leserin des Romans ‚gespiegelt‘ wird, darüber hinaus wie über diesen Exkurs Neugier allererst geweckt bzw. Spannung erzeugt wird: _____________

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newen âne bogen. Zur Reflexion über die Erzählweise im Parzival. In: Wolfram-Studien XVII (2002), S. 46-62; NICOLA KAMINSKI: ich sage die senewen âne bogen. Wolframs Bogengleichnis, slehte gelesen. In: DVjs 76 (2003), S. 16-44; MARTIN SCHUHMANN: Warum mittelhochdeutsche Literatur spannend ist. In: LANGER/IRSIGLER/JÜRGENSEN (Anm. 14), S. 123-139, S. 134-137. Wolfram von Eschenbach: Parzival, Titurel, Tagelieder. Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Bd. 1: Faksimile. Bd. 2: Transkription der Texte von GERHARD AUGST, OTFRIED EHRISMANN, HEINZ ENGELS mit einem Beitrag zur Geschichte der Handschrift von FRIDOLIN DREßLER, Stuttgart 1970. Wolfram von Eschenbach: Parzival (Handschrift D). Abbildung des Parzival-Teils von Codex St. Gallen 857 sowie des (heutigen) Berliner Fragments L (mgf 1021) der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen aus dem St. Galler Codex. Hrsg. von BERND SCHIROK, Göppingen 1989 (Litterae 110). Die Übersetzung, die sich auf die Fassung der Hs. D bezieht, stammt von PETER KNECHT (in: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von KARL LACHMANN. Übersetzung von PETER KNECHT. Einführung zum Text von BERND SCHIROK, Berlin, New York 1998, S. 245).

Vorausdeutungen

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Die in raffiniertem Kalkül evozierte Wissbegierde wird nicht sofort befriedigt; der nach Aufklärung des Rätselhaften verlangende angespannte Zustand der Hörer und Leser wird nicht gelöst, im Gegenteil: Die Spannung wird noch gesteigert, indem der Wunsch nach Aufklärung thematisiert, aber einstweilen nicht erfüllt wird. Wir müssen noch lange warten, bis wir […] das, was wir wissen möchten, erfahren […].65

Deutlich ist auch der „Aspekt sozialer Kontrolle“, der mit dieser Technik der Informationsweitergabe bzw. -verzögerung einher geht: „Der Rezipient wird über das Argument des höheren Unterhaltungswerts zum passiv-geduldigen Ausharren gezwungen, wenn er nicht das Schicksal der ungeduldigen Kuh in der Nigellus-Fabel (2,20ff.) teilen will.“66 Wolframs Erzählen – revealing while concealing67 – erzeugt jenseits seiner metapoetischen Reflexion des Phänomens Spannung über den Modus rekurrenten Erzählens, es „greift Erzählzüge immer aufs Neue auf, setzt sie in Bezug zueinander und akzentuiert so ihre Bedeutung“.68 Es ist retardierendes Erzählen dadurch, dass es Informationen solange zurückhält, bis eine Gipfelsituation ihrer bedarf. Schließlich verfügt das Erzählen Wolframs über „eine Technik des Streuens von Informationen“, es spielt mit differierenden Graden der Informiertheit von Figuren wie Lesern.69 Wolframs Erzählen ist darüber hinaus „experimentierendes Erzählen, das oftmals quer zum Gerüst des doppelten Kursus steht und über alternative Figurenkonzeptionen neue narrative Felder eröffnet.“70 Plastisch wird das Gesagte in der bereits erwähnten Gralszene von Buch V: Auf der Handlungsebene lässt sich beobachten, dass die Akteure über einen unterschiedlichen _____________ 65 66

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KERN (Anm. 61), S. 47. SANDRA LINDEN: Spielleiter hinter den Kulissen? Die Gawanfigur in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Hrsg. von GISELA VOLLMANN-PROFE u. a., Tübingen 2007, S. 151-166, hier S. 153. Vgl. DENNIS H. GREEN: The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival, Cambridge 1982, S. 11 (mit weiterer Literatur). GREEN übernimmt die griffige Formel von JAMES F. POAG: diu verholnen mære umben grâl (Parz. 452, 30). In: Wolfram-Studien II (1974), S. 72-84, hier S. 73. HARALD HAFERLAND: Die Geheimnisse des Grals. Wolframs Parzival als Lesemysterium? In: ZfdPh 113 (1994), S. 23-51, S. 23: „Wolfram führt dies z.B. an Gegenständen wie dem Speer in Trevrizents Klause, an Ereignissen wie dem für Parzival zweimal folgenreichen Schneefall und an Personen wie Sigune und Trevrizent durch.“ HAFERLAND (Anm. 68), S. 24: Wolfram „erzählt mehr, als seine Figuren über die Situation wissen, in der sie sich gerade befinden; oder er erzählt nur das, was auch diese wissen können; oder er erzählt schließlich auch weniger, als diese wissen müssen. Dabei werden zuweilen Informationen gegeben, die ein Hörer im Nachhinein neu interpretieren muß, um sie nicht als Fehlinformation aufzufassen.“ LINDEN (Anm. 66), S. 152. Vgl. auch ULRICH ERNST: Formen analytischen Erzählens im Parzival Wolframs von Eschenbach. Marginalien zu einem narrativen System des Hohen Mittelalters. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, Tübingen 1999, S. 165-198.

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Informationsstand verfügen: „Dem unwissenden Protagonisten steht die wissende Gralgemeinschaft gegenüber, deren Aktionen jedoch unter dem Damoklesschwert der Wirkungslosigkeit einer provozierten Frage stehen.“71 Der Rezipient des Parzival wird in eine spannungsreiche Situation geführt, wenn er zunächst mit einer Vielzahl an Informationen konfrontiert wird, die seine Neugier wecken sollen. Doch wird er in der metapoetischen Passage darauf hingewiesen, dass sein Wissensbegehren erst später im Roman mit Antworten gestillt sein wird. Die Erfahrung des Lesers wiederholt damit jene des Protagonisten im Roman, dessen Informationsstand freilich nur schwer, absichtlich schwer zu bestimmen ist.72 Dieses Erzählverfahren lässt sich in Rekurs auf die Terminologie GENETTEs als Filtertechnik beschreiben: Im Fall der Filtertechniken wird die Erzählung nicht dadurch perspektiviert, dass sie ausdrücklich das Welterleben einer Figur darstellt, sondern dadurch, dass sie ihre ‚Informationspolitik‘ auf den mentalen Horizont einer Figur beschränkt. Der Rezipient erfährt dann immer nur soviel, wie gerade auch der Figur bekannt ist.73

Die momentane Diskussion, ausgehend vom cognitive turn, hat gezeigt, dass ‚Spannung‘ nicht allein als objektive Textstruktur analysierbar ist, sondern auch ein subjektives Rezeptionsphänomen darstellt, es gehört der Wirkungsdisposition eines Textes an.74 Um die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen für die Produktion und die Rezeption von Literatur zu untersuchen, hat die Narratologie auf Konzepte der Kognitionstheorie zurückgegriffen, beispielsweise um eine Kategorie wie die Empathie für Textanalysen zu operationalisieren.75 Der informationsästhetische Spannungsbegriff, wie er hier in Bezug auf die Ebene des Textes verwendet wurde, hat nicht wenig Kritik erfahren, denn er „amputiert intellektualistisch die Komplexität menschlicher Wünsche, die literarische Phantasien hervorbringen, auf den Willen zum Wissen.“76 Wenn Analysen von Spannungsphänomenen nicht auskommen ohne leserpsychologische, kogniti_____________ 71

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BERND SCHIROK: Die Inszenierung von Munsalvaesche. Parzivals erster Besuch auf der Gralsburg. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 46 (2005), S. 39-78, hier S. 41. Im neunten Buch gibt Trevrizent folgenden Bericht von den Vorgängen auf der Gralsburg: Gott habe der Gralsgemeinschaft, nachdem alle Versuche scheiterten, Anfortas zu heilen, in Form einer Inschrift auf dem Gral eine Botschaft zukommen lassen: ein Ritter werde kommen, der durch seine Frage den König erlösen könne (483,20ff.). Der Ritter müsse allerdings die Frage am ersten Abend seiner Ankunft stellen und er dürfe von den Gralsbewohnern nicht gewarnt werden (483,24-26). SCHIROK (Anm. 71), S. 41. HÜBNER (Anm. 6), S. 138. INGO IRSIGLER/CHRISTOPH JÜRGENSEN/DANIELA LANGER: Einleitung. In: IRSIGLER, JÜRGENSEN, LANGER (Anm. 14), S. 7-11, hier S. 8. Vgl. SUZANNE KEEN: Empathy and the novel, Oxford 2007 (mit weiterer Literatur). ANZ (Anm. 59), S. 168.

Vorausdeutungen

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onspsychologische und -linguistische, kommunikationswissenschaftliche und wirkungsästhetische Modelle, so ist es doch schwer, hier als Mediävist etwas beizutragen. Die Kunstwerke vergangener Epochen bewahren nämlich oft zu wenig Wissen über ihre kulturelle Einbettung, so dass bei dem Versuch der Rekonstruktion entsprechender Strategien und Konventionen „die Gefahr eines interpretatorischen Zirkelschlusses“ besteht.77 Das sollte aber nicht bedeuten, dass das Gespräch zwischen psychologischer und literaturwissenschaftlicher Spannungsforschung nicht fortgesetzt werden sollte.78 Mit Vorsicht allerdings sollten bei diesem Dialog vermeintlich gesicherte Epochenkonzepte und -bestimmungen gerade des Mittelalters Verwendung finden, die oft eine Alterität mittelalterlicher Denk- und Fühlweisen ansetzen, eine Alterität, die vor der Folie einer ebenfalls nur vermeintlich gesicherten Bestimmung der Moderne entwickelt worden ist.79 III. Vorausdeutungen: Historische Narratologie? Man muß sich die Umwandlung von epischen Formen in Rhythmen vollzogen denken, die sich denen der Verwandlung vergleichen lassen, die im Laufe der Jahrhunderttausende die Erdoberfläche erlitten hat. Schwerlich haben sich Formen menschlicher Mitteilung langsamer ausgebildet, langsamer verloren. Der Roman, dessen Anfänge in das Altertum zurückgreifen, hat Hunderte von Jahren gebraucht, ehe er im werdenden Bürgertum auf die Elemente stieß, die ihm zu seiner Blüte taugten. Mit dem Auftreten dieser Elemente begann sodann die Erzählung ganz langsam in das Archaische zurückzutreten […].80 Zum einen sind wir überzeugt, dass die Moderne sich selbst nur auf den Begriff bringen kann, wenn sie die kognitiven Ressourcen auch solcher Epochen nutzt, die als vormodern gelten. Die Moderne ist nämlich eine radikal historische Epoche, will sagen: In ihr laufen mächtige Traditionen weiter, obwohl sie genealogisch nichts mit der Moderne zu tun haben und doch zu ihrer Gegenwart gehö-

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KATHRIN ACKERMANN: Möglichkeiten und Grenzen der historischen Spannungsforschung. In: LANGER/IRSIGLER/JÜRGENSEN (Anm. 15), S. 33-49, hier S. 40. Vgl. hierzu auch THOMAS SCHMITZ: Ist die Odyssee ‚spannend‘? Anmerkungen zur Erzähltechnik des homerischen Epos. In: Philologus 138 (1994), S. 3-23. KATHRIN ACKERMANN: Die Entstehung des Nervenkitzels. Zum Verhältnis von psychologischer und literaturwissenschaftlicher Spannungsforschung. In: Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften. Hrsg. von WALBURGA HÜCK/ URSULA RENNER, Würzburg 2005, S. 117-128. Auf schmaler Quellenbasis, aber mit weitreichenden Thesen argumentiert beispielsweise ACKERMANN (Anm. 78), S. 127f. WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. In: DERS.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort von ALEXANDER HONOLD, Frankfurt a. M. 2007, S. 108.

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ren. Die Moderne setzt sich zwar aller Geschichte entgegen (sonst wäre sie nicht modern); doch zugleich verkörpert sie, mehr als andere Epochen, die Gegenwart aller Zeiten (sonst wäre sie nicht). Darum gilt: je mehr historisches Erinnern, desto reicher die Zukunft.81 Sus lâgen sie unlange. dô gehôrten si schiere, in heller süezer stimme ûf rôtvarwer verte nâch wundem tiere ein bracke kom hôchlûtes zuo zin iagende. Der wart eine wîle ûf gehalden. des bin ich durh friunde noch die clagende.82 So lagen sie noch nicht lange. Da vernahmen sie plötzlich, wie auf blutfarbiger Spur hinter einem verwundeten Wild mit kräftiger, wohlklingender Stimme ein Bracke mit hohem Gebell auf sie zujagte. Der wurde für eine kurze Zeit aufgehalten. Deshalb bin ich immer noch um meine Freunde in Klage.

Die 137. Strophe des Wolframschen Titurel – der unvermittelte Beginn des zweiten Fragments – „wirft nur Fragen auf und gibt keine Antworten: Woran knüpft das sus an? Wer sind si und wie kommen sie an den nicht näher beschriebenen Ort, auf dem sie lâgen? Was genau ist unter lâgen zu verstehen – lagern in höfischer Muße und/oder beieinander liegen in außerhöfischer, erotischer Naturidylle? Worauf bezieht sich die Zeitangabe unlange?“83 Die in der Forschung als „kryptisch“ oder „gebrochen“ bewertete Erzählweise im Titurel zielt auf spannungsvolle Rätselhaftigkeit, die selbst an der Syntax zu beobachten ist: „Sätze bleiben offen, Satzteile hängen in der Luft, überlange Parenthesen und gesuchte grammatische Konstruktionen drohen, die Satzgefüge zu zerschlagen, gesuchte Fachtermini und Wortbildungen irritieren die Beschreibungen (z.B. hôchlûtes 137,3 […]). Gehörtes (in heller süezer stimme) und Gesehenes (ûf rôtvarwer verte nâch wundem tiere 137,2) stehen mit ‚Perspektivenwechsel‘ […] unvermittelt nebeneinander und sind nur locker dem abrupt einsetzenden Hauptsatz verbunden.“84 Der Schluss der ersten Strophe verknüpft darüber hinaus eine verkürzte Anspielung auf das spätere Einfangen des Hundes mit einer die Betroffenheit des Erzählers bezeichnenden Vorausdeutung. Prolepsen finden sich nicht eben selten in Wolframs Fragment. ULRICH WYSS hat sie 1974 gezählt und – wichtiger noch – ihre Funktion analysiert: Die etwa 20 Vorausdeutungen haben kaum je die Aufgabe, lakonisch auf das Ende der Geschichte hinzuweisen. Vielmehr besteht das Modell für die Handhabung der epischen Vorausdeutung im Titurel darin, dass sie ins Erzählte eingebunden und damit entformalisiert wird. Pro_____________ 81 82 83 84

HARTMUT BÖHME: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 29. Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg., übersetzt und mit einem Kommentar und Materialien versehen von HELMUT BRACKERT/STEPHAN FUCHS-JOLIE, Berlin, New York 2002, Str. 137. Wolfram: Titurel (Anm. 82), S. 390. Wolfram: Titurel (Anm. 82), S. 390.

Vorausdeutungen

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lepsen werden derart in diesem Erzählen eingesetzt, „daß [sie] nicht nur den Prozeß des Erzählten, sondern auch den des Erzählens aus der scheinhaften Geschlossenheit seines Kontinuums herausbr[echen].“85 Zu beobachten ist eine „reflexive Brechung des epischen Kunstmittels“, die von Wolfram nochmals reflektiert werde.86 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun, dass WYSS seine Analyse der epischen Vorausdeutung im Titurel nicht allein aus der Betrachtung des Wolframschen Textes gewinnt, sondern als Folie die andersartige, auf Formelhaftigkeit zielende Verwendung von Prolepsen im Nibelungenlied heranzieht.87 Die bloße Wahrnehmung der Verwendung einer Vorausdeutung in einem Erzähltext reiche nicht aus: Bestimmungen, die das epische Kunstmittel nicht über seine technische Funktion hinaus zu definieren vermögen, verharren nicht nur bei einem unspezifischen Begriff des Fiktiven, sondern machen gleichzeitig die genaue historische Unterscheidung verschiedener ihnen subsumierter Phänomene unmöglich.88

WYSS’ Aufsatz stammt nun – wissenschaftsgeschichtlich betrachtet – aus jener Zeit, mit der HARALD HAFERLAND in dem Streitgespräch mit MATTHIAS MEYER die Notwendigkeit einer historisch ausgerichteten Narratologie legitimiert. Eine Zeit nämlich, in der reflektiert wurde, dass in der Roman- und Ästhetiktheorie von Hegel bis Lukács und darüber hinaus ein bestimmter Zusammenhang immer präsent gehalten wurde, der heute eine immer geringere Rolle spielen dürfte: der von Erzählform und Gesellschaft,

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ULRICH WYSS: Selbstkritik des Erzählers. Ein Versuch über Wolframs Titurelfragment. In: ZfdA 103 (1974), S. 249-289, hier S. 251. WYSS (Anm. 85), S. 251. Vgl. zu Vorausdeutungen in mittelalterlicher Literatur ALFRED GERZ: Rolle und Funktion der epischen Vorausdeutung im mhd. Epos, Berlin 1930; HARALD BURGER: Vorausdeutungen und Erzählstruktur in mittelalterlichen Texten. In: Typologia Litterarum. Festschrift Max Wehrli. Hrsg. von STEFAN SONDEREGGER u. a., Zürich 1969, S. 125-153. Zu Vorausdeutungen generell: EUGEN GERLÖTEI: Die Vorausdeutung in der Dichtung. In: Helicon 2/1 (1940), S. 54-73; EBERHARD LÄMMERT: Bauformen des Erzählens. Neunte, unveränderte Auflage, Stuttgart 2004, S. 139-194; GÉRARD GENETTE: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Vorwort hrsg. von JÜRGEN VOGT, München 1994 (UTB), S. 45-54 u. 210; MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 58), S. 34-39; JOACHIM HEINZLE: Vorausdeutung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 801-803. WYSS (Anm. 85), S. 249. Man kann, JOACHIM HEINZLE hat darauf hingewiesen, dem Erzählmittel der Vorausdeutung transhistorische Geltung zuschreiben: Sie findet sich in der in Ilias und Odyssee, im Beowulf, in der Chanson de Roland wie im Nibelungenlied – und auch in der Moderne (vgl. HEINZLE [Anm. 87], S. 802). Davon bleibt aber die Frage nach der historischen Funktionalität und Spezifik von Vorausdeutungen als Mittel des Erzählens unberührt.

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Martin Baisch

und zwar einer Gesellschaft im besonderen Stand ihrer historischen Entwicklung und dann auch einer entsprechend verstandenen Erzählform.89

Von Wolframs Fragment behauptet WYSS allerdings nun, „daß es bereits die Bedingungen der Romanform erfüllt“.90 Und er macht dies u. a. daran fest, wie Wolfram die Kohärenz seines Erzählens auflöst, indem er – über seine Verwendungsweise der Vorausdeutungen – die Ereignisse radikal aus ihrer Reflexion konstruiert, den Prozess des Erzählens als solchen thematisiert. WYSS’ Auffassung von Erzählform und Gesellschaft, die sich in seinem Titurel-Aufsatz mehr oder weniger explizit findet, basiert auf der Annahme, dass das, was sich in ‚Kunst‘ fassen lässt, irreduzibel sei. Der Kunst kommt, so WYSS „die Funktion zu, daß in ihr die Subjekte ihre Geschichte als nicht restlos misslungen anschauen dürfen; sie ist angesichts der Objektivität des historischen Prozesses Kontingenz schlechthin.“91 Kunst in diesem Sinne, Höhenkammliteratur, scheint mir, wenn ich nicht falsch interpretiere, konterdiskursiv. Wolframs Titurel ist romanhaft, weil er vermittelt in seinen ästhetischen Verfahren irreduzibel, nicht restlos ableitbar aus den Bedingungen seiner Entstehung ist. Ein gelungener Begriff von Alterität müsste dann – neben anderem – im Bereich des Erzählens Phänomene des Ungleichzeitigen im Gleichzeitigen berücksichtigen. Weder die Marginalisierung noch die Verabsolutierung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten scheinen einer historischen Situation gerecht werden zu können.

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HAFERLAND/MEYER: Dialog, S. 429. WYSS (Anm. 85), S. 286. WYSS (Anm. 85), S. 286.

HARTMUT BLEUMER

‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg

historia [...] magistra vitae (Cicero, De oratore II) „Die Legende kennt das „Historische“ […] überhaupt nicht, sie kennt nur Tugend und Wunder.“ (Jolles, Einfache Formen, S. 40)

Die Karriere der Narratologie ist ebenso erstaunlich wie verwirrend. Nimmt man ROLAND BARTHES’ programmatische Berufung auf die Universalität der Erzählung zum Ausgangspunkt,1 dann hat es den Anschein, als sei die Narratologie ihrem anfänglichen Universalitätsanspruch gerecht geworden, hat sie sich doch ihrerseits zu einem umfassenden, transdisziplinären Diskurs entwickelt: von einer formalistisch vorgeprägten, dann strukturalistisch neu begründeten Textwissenschaft zu einem komplexen theoretischen und methodologischen Gefüge, das sich inzwischen auf Gegenstandsbereiche wie etwa Malerei, Film, Religion, Geschichte und Bewusstsein erstreckt. Das postmoderne Erstaunen über diesen Erfolg der Narratologie bringt die offenbar unvermeidliche Etikettierung als narrativist turn klar zum Ausdruck.2 Das eigentlich Verwirrende an dieser sogenannten Wende ist jedoch nicht etwa die schiere Masse an Publikationen mit ihren jeweils unterschiedlichen interdisziplinären Querverbindungen, auch nicht die wissenschaftsgeschichtlich übliche, produktive _____________ 1 2

Vgl. ROLAND BARTHES: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: DERS.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von DIETER HORNIG, Frankfurt a. M. 1988 (edition suhrkamp N.F. 441), S. 102-143, hier S. 102f. Vgl. das Stichwort in der kritischen Durchsicht einer Reihe von zentralen Beiträgen des anglo-amerikanischen Diskurses bei MARTIN KREISWIRTH: Trusting the Tale. The Narrativist Turn in the Human Sciences. In: New Literary History 23 (1992), S. 629-657, hier S. 630.

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Ambiguisierung der Leitbegriffe, durch die im Nachhinein etwa ältere Erzähltheorie, historisch-typisierende und pragmalinguistische Erzählforschung der Narratologie einverleibt werden.3 Schwierigkeiten macht vielmehr ein Gegensatz, der sich ausgerechnet zwischen dem frühen strukturalistischen Universalitätsanspruch und der Universalität der Erzählung selbst auftut. Denn dieser Anspruch verschließt, was die Erzählung gerade öffnet. Als TZVETAN TODOROV im Namen des strukturalistischen Systematisierungspostulats das Etikett der ‚Narratologie‘ in die Welt setzte, so geschah dies zweifellos in Erwartung eines geschlossenen Theoriemo_____________ 3

Vgl. die bibliographische Pionierleistung von WOLFGANG HAUBRICHS (Hrsg.): Erzählforschung 1-3. Theorie, Modelle und Methoden der Narrativik. Mit einer Auswahlbibliographie zur Erzählforschung, Göttingen 1976-1978 (LiLi, Beiheft 4, 6, 8), hier Erzählforschung 1, S. 257-331, Erzählforschung 2, S. 297-300, und Erzählforschung 3, S. 412-415, in der bereits 2356 Titel zusammenkommen. Die Expansion des Forschungsfeldes dokumentiert die von CHRISTINE PUTZO/JAN CHRISTOPH MEISTER erarbeitete Bibliographie der Hamburger Forschergruppe Narratologie (http: www.icn.uni-hamburg.de; Rubrik ‚NarrBib‘), die bis 2006 über 4000 Titel erfasst. Die Dynamik des Diskurses lässt einerseits die Forschungsberichte schnell veralten, zwingt aber andererseits zu einer Orientierung an wenigen zentralen Diskursivitätsbegründern und zur ständigen Erneuerung synchroner Bestandsaufnahmen. Vgl. die jeweils unterschiedlich akzentuierten Übersichten von ANSGAR NÜNNING, die schließlich auf das Votum für eine kulturell kontextualisierte und historisierte Narratologie hinauslaufen. Als Basis ANSGAR NÜNNING: Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects. In: Proceedings. Anglistentag 1999 Mainz. Hrsg. von BERNHARD REITZ/SIGRID RIEUWERTS, Trier 2000 (Proceedings of the Conference of the German Association of University Teachers of English 21), S. 345-373, und als weiter systematisierde Fortführung DERS.: Narratology or Narratologies? Taking Stock of Recent Developments, Critique and Modest Proposals for Future Usages of the Term. In: What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Hrsg. von TOM KINDT/HANS-HARALD MÜLLER, Berlin, New York 2003 (Narratologia 1), S. 239-275. Vgl. auch sehr ähnlich ANSGAR NÜNNING/VERA NÜNNIG: Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie. Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von DENS., Trier 2002, S. 1-33. Schließlich das allgemeine Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche und historische Ausrichtung ANSGAR NÜNNING: Narratology and Cultural History. Tensions, Points of Contact, New Areas of Research. In: The Wider Scope of English. Hrsg. von HERBERT GABES/WOLFGANG VIERECK, Frankfurt a. M. u. a. 2006 (Bamberger Beiträge zur Englischen Sprachwissenschaft 51), S. 154-185. Allgemeiner parallel dazu MONIKA FLUDERNIK: Beyond Structuralism in Narratology. Recent Developments and New Horizons in Narrative Theory. In: Anglistik 11 (2000), S. 83-96, sowie DIES.: Histories of Narrative Theory (II). From Structuralism to the Present. In: The Companion to Narrative Theory. Hrsg. von JAMES PHELAN/PETER J. RABINOWITZ, Malden 2005, S. 36-59. Die Wahrnehmungsschwierigkeiten zwischen amerikanischer und deutscher Narratologie dokumentieren sich im Gegensatz von DAVID DARBY: Form and Context. An Essay on the History of Narratology. In: Poetics Today 22 (2001), S. 829-852, und MONIKA FLUDERNIK: History of Narratology. A Rejoinder. In: Poetics Today 24 (2003), S. 405-411. Als weitere bibliographische Bestandsaufnahmen seien noch genannt MONIKA FLUDERNIK/BRIAN RICHARDSON: Bibliography of Recent Works on Narrative. In: Style 34 (2000), S. 319-328, sowie JAN ALBER: Bibliography of German Narratology. In: Style 38 (2004), S. 253-272.

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dells.4 In dem für bestimmte Zweige der Narratologie so charakteristischen Ehrgeiz, neue terminologische Prägungen hervorzubringen, die chirurgische Präzision bei der Textanalyse verheißen, lässt sich dieser Systematisierungsanspruch ebenso noch vernehmen, wie in dem wachsenden Bedürfnis, die eigenen Instrumentarien enzyklopädisch zusammenzufassen.5 Nur scheint gerade die Dynamik der Geschichte, auf der die vermeintliche Universalität der Erzählung beruht, aus diesen Systematisierungsversuchen immer wieder auszubrechen. Das lässt die Narratologie wachsen, es entgrenzt und pluralisiert sie, so dass sie allmählich, fast wie der Geschichtsbegriff selbst, zu einem Kollektivsingular zu werden scheint.6 Ist sie dann aber noch – im strikten Sinne TODOROVs – überhaupt eine ‚Narratologie‘? Es gibt nun gewiss kaum etwas Ermüdenderes als den Streit um wissenschaftliche Nomenklaturen, aber für eine diskursive Formation, die sich derartig über ihr terminologisches Vermögen definiert, müsste die zunehmende Unschärfe ihrer Selbstbezeichnung ein latentes Problem indizieren. Das gilt insbesondere für Projekte einer ‚historischen Narratologie‘. Denn hier tut sich der Gegensatz von systematischer Geschlossenheit und dynamischer Offenheit besonders nachdrücklich auf. Gerade weil Wahrnehmung, Konstruktion und Deutung der ‚realen Geschichte‘ oder Historie prinzipiell an narrative Prozesse gekoppelt sind,7 verstrickt sich _____________ 4 5

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Vgl. TZVETAN TODOROV: Grammaire du Décaméron, The Hague, Paris 1969 (Approaches to Semiotics 3), hier S. 10. Vgl. die Übersichten zum terminologischen Gebrauch im Handbuch von GERALD PRINCE: A Dictionary of Narratology. Revised Edition, Lincoln, London 2003 (zuerst 1987); in den narratologischen Einführungen besonders die unverzichtbaren Glossare in MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 72007 (C. H. Beck Studium); in MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006 (Einführung Literaturwissenschaft), sowie das Begriffslexikon von DAVID HERMAN/MANFRED JAHN/MARIE-LAURE RYAN (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London, New York 2005, dem die Rezensenten inzwischen schon wieder einen zu verengten Blick bescheinigen. Vgl. zuerst das Plädoyer für die Verwendung des Begriffs im Plural bei DAVID HERMAN: Introduction. Narratologies. In: Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Hrsg. von DEMS., Columbus 1999 (Theory and Interpretation of Narrative Series), S. 1-30, hier S. 1-3; ähnlich daneben FLUDERNIK, Beyond Structuralism in Narratology (Anm. 3), hier S. 91. Kritisch dazu besonders NÜNNING, Narratology or Narratologies? (Anm. 3), S. 243f., 255f. Dazu in der deutschen Geschichtsphilosophie schon vor dem Einfluss der Narratologie HANS-MICHAEL BAUMGARTNER: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1972; WERNER SCHIFFER: Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (DANTO, HABERMAS, BAUMGARTNER, DROYSEN), Stuttgart 1980 (Studien zur allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft 19). Zum aktuellen Stand der Diskussion in der geschichtswissenschaftlichen Mediävistik vgl. FRANK REXROTH: Meistererzählungen und die Praxis der

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eine ‚historische Narratologie‘ in besonderer Weise ins hermeneutische Paradox der Wirkungsgeschichte. Dies scheint damit zusammenzuhängen, dass ein klassisch-narratologisches Denken in Oppositionen mit Paradoxien generell nicht zurechtkommt. Die binäre strukturalistische Denkfigur, wie sie ausgehend von der linguistischen Scheidung in Signifikat und Signifikant über die Differenzierung in histoire und discours der Narratologie eingeschrieben ist, erzeugt nämlich angesichts der eigenen Einbindung in die Geschichte ein Dilemma, das auch in den erzähltheoretischen Beschreibungsmodellen wiederkehrt: Narratologie muss den Prozess der Geschichte, auf dem sie beruht, systematisch stillstellen, und sie muss sich dem hermeneutischen Geschäft der Interpretation verweigern, weil sie nur Relationen beschreiben kann. Wenn aber das historische Denken auf der Dynamik der Geschichte und ihrer Interpretationsleistung basiert, dann ist eine solche Narratologie lediglich diachron angelegt und nicht historisch.8 Die Alternative dazu scheint zu lauten: Die Erzähltheorie gibt ihren Systematisierungsanspruch soweit auf, dass sie diese hermeneutische Bewegung in ihre eigene Modellbildung integrieren kann. Durch diese Öffnung ist sie dann aber keine Narratologie.9 Festzuhalten ist an diesem Punkt der Polemik nachdrücklich, dass es dieses Dilemma außerhalb des binären Denkens in Zeichenrelationen, d. h. jenseits der strukturalistischen Epistemologie nicht gibt.10 Fasst man die Geschichte nicht über ein binäres Zeichenmodell auf, sondern begreift sie als einen dynamischen Symbolisierungsprozess, dann ist das wirkungs_____________ 8

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Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung. In: Meistererzählungen vom Mittelalter. Hrsg. von DEMS., München 2007 (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 46), S. 1-22. Vgl. folgerichtig die eher deskriptive Gegenüberstellung von mittellalterlichen und neuzeitlichen Szenenwechseln im Zusammenhang der programmatischen Forderung nach einer diachronen Narratologie bei MONIKA FLUDERNIK: The Diachronization of Narratology. In: Narrative 11 (2003), S. 331-348. Vgl. die Debatte der Forschergruppe ‚Narratologie‘ zum Verhältnis von Deskription und Interpretation, mit dem Votum für deren strikte Trennung von TOM KINDT/HANSHARALD MÜLLER: Narrative Theory and/or/as Theory of Interpretation. In: What is Narratology? (Anm. 3), S. 205-219, hier S. 213-215, auf der einen und der integrativen Position von WOLF SCHMID: Narrativity and Eventfulness. In: What is Narratology? (Anm. 3), S. 17-31, hier S. 30, auf der anderen Seite. Zur weiteren Aufklärung der Position von SCHMID wäre an den Rekurs von JOHN PIER auf die Semiotik UMBERTO ECOs anzuknüpfen (JOHN PIER: On the Semiotic Parameters of Narrative. A Critique of Story and Discourse. In: What is Narratology? [Anm. 3], S. 73-97, hier S. 84-86). Vgl. das über die Jahre in verschiedenen Publikationen ausgearbeitete Modell SCHMIDs in der Zusammenschau: WOLF SCHMID: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2005 (Narratologia 8), dessen hermeneutische Anteile durch die Orientierung an GEORG SIMMELs Begriff der ‚Sinnlinie‘ (S. 246-249) deutlich werden. Vgl. die grundsätzliche Kritik an der restriktiven strukturalistischen Interpretationsfigur bei ECKHARD LOBSIEN: Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft, München 1988 (Übergänge 20).

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geschichtliche Paradox sowohl in die Konstruktion der historischen Realität als auch in die Analyse historischer Erzählformen integrierbar. Nur ist dann der Terminus der Narratologie unpassend: HAYDEN WHITE ist ebenso wenig ein Narratologe wie PAUL RICOEUR, nicht nur deshalb, weil der eine ein Geschichtstheoretiker und der andere ein Philosoph narrativer Zeitfigurationen ist, sondern weil beide die semiotische Epistemologie mit ihrer binären Trennung in Signifikant und Signifikat implizit oder explizit zu überwinden versuchen. Umgekehrt lässt sich bezweifeln, ob der dezidierte Vorschlag einer ‚Historischen Narratologie‘ von FOTIS JANNIDIS schon deshalb historisch ist, weil sein Modell der pragmatischen Figurenkonzeption eine Leerstelle für historisch variantes Weltwissen vorsieht.11 Die historische Variabilität kommt mit dieser Öffnung nicht abhanden, aber sie ist auch nicht Teil des Modells. Müsste man aber von einem historischen Ansatz nicht auch eine eigene Interpretationsfigur erwarten dürfen, die dem historischen Denken entspricht? In der mediävistischen Debatte wiederholt sich diese Schwierigkeit ganz offenkundig. Dass die Applikation moderner Begriffe nicht nur strukturalistische Implikationen, sondern auch moderne Imaginationskonzepte in die älteren historischen Gegenstände hineinträgt, ist in diesem Zusammenhang sehr deutlich von GERT HÜBNER betont worden.12 Wenn _____________ 11

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Vgl. FOTIS JANNIDIS: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin, New York 2004 (Narratologia 3). Die Revision des Figurenbegriffs von JANNIDIS repräsentiert das Problem der historischen Narratologie recht deutlich, da sein Ansatz auf der Nahtstelle der Begriffe des Historischen und der Narratologie operiert: Weil sein Ansatz an einen kritisch-rationalen Verstehensbegriff und das linguistische Modell einer inferenzbasierten Kommunikation geknüpft ist, kommt es zur erhellenden Kritik der deskriptiven Nomenklaturen der Narratologie (S. 7-10), und es gelingt eine gewisse Öffnung für den hermeneutischen Vorgang: Die narrative Kommunikation ist kein einfacher Dekodierungsprozess, sondern setzt ein gezieltes Raten des Rezipienten voraus (S. 44-52, 81f.), bei dem historisch variables Weltwissen einfließt. In der Folge kann JANNIDIS darum die Kategorie der Figur über ihre latenten Anthropomorphisierungen erfolgreich neu bestimmen (S. 119, 192-195). Aber mit seiner pragmalinguistischen Orientierung am Inferenzprozess klammert JANNIDIS stillschweigend den Begriff der Geschichte mit seiner genuinen hermeneutischen Funktion aus, denn es geht in der narrativen Kommunikation für ihn lediglich um die effektive Information über ein Geschehen, damit noch nicht um das Verstehen einer Geschichte (S. 55). Insgesamt bietet JANNIDIS damit ein narratologisches Modell an, in dem das Historische eher als eine Leerstelle fungiert, weil durch die Favorisierung des Geschehensbegriffs die Ebene der Geschichte in einer Art Ellipse verschwindet. Vgl. den gleichen Sprung in FOTIS JANNIDIS: Narratology and Narrative. In: What is Narratology? (Anm. 3), S. 35-54, mit dem Plädoyer, den Begriff des Narrativen von der Geschichte abzukoppeln. Ist aber ein historisches Modell ohne Geschichte denkbar? Vgl. GERT HÜBNER: Fokalisierung im Höfischen Roman. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 127-150, hier S. 132-134. Da der Band notgedrungen nur einen Ausschnitt der jüngeren Bemühungen in der germanistischen Mediävistik bieten kann, ist wenigstens für die ältere mediävistische Forschung auf DENS.: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), zu verweisen, der die vorhergehende Literatur so umfassend verzeichnet, dass sich nur Petitessen

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man mit Hilfe der narratologischen Terminologie nicht nur den jeweiligen Theorieansatz in den Texten wiederfinden will, wird man folglich gut daran tun, sich einerseits der historischen Begriffsbildungen in lateinischer Rhetorik und Poetik theoretisch zu vergewissern,13 andererseits aber auch den Blick für jene spezifisch mittelalterlichen Kohärenzbedingungen und Verknüpfungsformen offen zu halten, die als Abweichungen von den modernen Kohärenzerwartungen praktisch in Erfahrung kommen.14 Damit wäre aber wiederum nur zugegeben, dass eine solche Narratologie auf dem Eingeständnis des eigenen historischen Defizits beruht, weil sie ihr theoretisches Basismodell von den historischen Erzählformen her ständig praktisch unterwandern lassen muss. Demnach müsste auch hier für die wissenschaftliche Selbstetikettierung gelten: Ansätze einer historischen Erzähltheorie, die sich entsprechend öffnen, distanzieren sich von jenem restriktiven Selbstverständnis, über das sich die Bezeichnung als Narratologie rechtfertigt. So sie sich aber der Öffnung verweigern, sind sie nicht historisch. Ich möchte daher nicht länger global von ‚historischer Narratologie‘ sprechen, sondern jede historische Erzähltheorie,15 die an die Stelle des binären Denkens in Zeichenrelationen mit dynamischen Symbolbeziehungen operiert, als ‚historische Narrativistik‘ bezeichnen.16 Damit geht _____________

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nachtragen ließen. Inwiefern HÜBNERs differenzierte Studie der von ihm selbst angezeigten Schwierigkeit entgeht, bedürfte einer eindringlichen Diskussion. Theoretisch bemerkenswert an ihr ist in jedem Falle die Integration des häufig übersehenen Ansatzes von BORIS USPENKIJ. Vgl. die Nachzeichnung der theoriegeschichtlichen Grundpositionen bei ULRICH ERNST: Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Fs. Dietrich Weber. Hrsg. von RÜDIGER ZYMNER, Köln 2000, S. 179-199. Vgl. zu den Kohärenzbedingungen besonders die Skizze bei JAN-DIRK MÜLLER: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, hier S. 25-51, sowie als besonders weit gehender Vorschlag HARALD HAFERLAND: Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie. In: PBB 126 (2004), S. 36-64; DERS.: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion 99 (2005), S. 323-364. Vgl. den Terminologievorschlag von NÜNNING, Narratology or Narratologies? (Anm. 3), S. 258, den Terminus der Narratologie einfach durch ‚narrative theory‘, d. h. den etablierten und schlichten Ausdruck ‚Erzähltheorie‘ zu ersetzen, was freilich die von NÜNNING selbst dargestellte Umwälzung der Forschungsgeschichte durch die Rückkehr zu einem älteren Etikett gerade verdeckt. Das ist nicht unbedingt als Annäherung an den anglo-amerikanischen Sprachgebrauch anzusehen, obwohl der Ausdruck hier häufiger im Kontext der Arbeiten HAYDEN WHITEs gebraucht wird. Er vermeidet jedenfalls die Verwechslung mit den vom New Historicism beeinflussten New Historical Narratologies, die sich z. B. bei NÜNNING den Vorwurf gefallen lassen müssen, als ‚untertheoretisiert‘ zu gelten (DERS.: Narratology or Narratologies? [Anm. 3], S. 256). Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen JOHN BENDER und DORRIT COHN: JOHN BENDER: Making the World Save for Narratology. A Reply to Dorrit Cohn. In: New Literary History 26 (1995), S. 29-33; DORRIT COHN: A Reply to John Bender and

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der Vorschlag einher, die Geschichte entschiedener als bisher als eine Symbolisierungsstruktur aufzufassen. Konkret lautet dieser Vorschlag in radikal verkürzter Form, den seit der kulturalistischen Wende wieder verstärkt diskutierten Symbolbegriff ERNST CASSIRERs auf die Struktur der Geschichte zu übertragen.17 Im Folgenden sei die Geschichte als eine dynamische, axiologisch besetzte Struktur aus Anfang, Mitte und Schluss definiert, deren Dynamik auf einer Doppelbewegung beruht, einer progressiven und einer rekurrenten. In der Geschichte begegnen gewissermaßen von vorn Symbole, denen jeweils eine Bedeutung unmittelbar gegeben zu sein scheint, diese Symbole müssen aber im Nachhinein, also sozusagen von hinten, als Zeichen aufgelöst werden, damit ihnen reflexiv ein Sinn zugewiesen werden kann. Dies ergibt eine permanente Interferenz zwischen vor- und rückläufiger Tätigkeit, in der Symbole in Zeichen umgewandelt werden und Zeichen wiederum als Symbole begegnen, d. h., phänomenologisch gesprochen, in der Bedeutungen zunächst ‚vermeint‘ und im Gegenzug reflexiv durch distinkte Sinnzuweisungen ersetzt werden. Diese Interferenz ist prinzipiell unendlich. Mit dem Schluss der Geschichte ist sie nicht zu Ende, sie setzt sich fort im hermeneutischen Überschuss, der über das Ende der Geschichte hinaus weiterwirkt und um dessentwillen die Geschichte von vornherein erzählt wird. Zur Exemplifizierung dieses Vorschlags wird ein Textbeispiel aus dem Bereich jener Erzählungen gewählt, deren Struktur das Historizitätsproblem im Umgang mit dem Erzählen selbst repräsentiert, weil es geradezu ihr Ziel ist, die Historie zu überschreiten: Als Beispiel dient die Legende. Sie löst, um das in der geschichtswissenschaftlichen Narrativitätsdebatte oft bemühte Zitat Ciceros zu verwenden, die Geschichte als magistra vitae auf (Cic., de orat. 2,36), aus der sie doch selbst hervorgeht, bis sie schließlich dem Historischen geradezu entgegenzustehen scheint. Zu diesem Zweck muss diese Erzählform jedoch, so die konkrete These für das Beispiel der Silvesterlegende bei Konrad von Würzburg, ihrerseits eine _____________

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Mark Seltzer. In: New Literary History 26 (1995), S. 35-37. Die gewählte Bezeichnung ist in der deutschsprachigen Literatur weitgehend unbelastet; hier, soweit ich sehe, bisher WOLFGANG BRÜCKNER: „Narrativistik“. Versuch einer Kenntnisnahme theologischer Erzählforschung. In: Fabula 20 (1979), S. 18-33, der damit die Schnittmenge aus älterer Erzähltheorie, volkskundlicher Erzählforschung sowie narrativer Theologie bezeichnet, und im Titel des volkskundlichen Tagungsberichts von BERND RIEKEN: „Völkerpsychologie“ und Narrativistik. Überlegungen zum Anfang der wissenschaftlichen Erzählforschung. 17. interdisziplinäres Symposion zur Volkserzählung auf der Brunnenburg, Dorf Tirol/Südtirol, 22.10 – 26.10.2003. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 58 (2004), S. 259-263. Vgl. dazu als Versuch einer ausführlichen theoretischen Begründung und praktischen Explikation HARTMUT BLEUMER: Die Narrative Interferenz. Schritte einer historischen Narrativistik im literarischen Feld um Dietrich von Bern, Habil. Masch. Hamburg 2002.

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spezifisch ‚narrative Arbeit‘ verrichten:18 Sie arbeitet an der Überbrückung der Kluft zwischen Signifikat und Signifikant bzw. histoire und discours, die es im Übergang von Symbol und Bedeutung nicht zu geben scheint. II. Was ist eine Legende? Und was ist ein Heiliger? Geht man von der histoireEbene aus, so lassen sich diese Fragen nur unzulänglich beantworten. Zwar kann man – mit EDITH FEISTNERs ‚Historischer Typologie‘ – zwei Grundformen von Handlungsverläufen unterscheiden: die Bekennerlegende einerseits und die Märtyrerlegende andererseits.19 Aber nur die Märtyrerlegende weist eine dezidierte Geschichtsstruktur auf. Nur sie ist primär syntagmatisch organisiert: Während die Märtyrerlegende mit dem Grundmuster aus Verhör, Haft, Hinrichtung, also einer basalen Struktur aus Anfang, Mitte und Schluss operiert, ist die Bekennerlegende primär paradigmatisch organisiert und tendiert zum seriellen Geschehen: Die Handlung besteht aus einer Ereignisreihe, in welcher der Heilige wiederholt seinen Glauben bekennt oder in der sich Wunder ereignen. In ihrer paradigmatischen Organisation der Handlung als Ereignisreihe zeigt die Bekennerlegende aber nur immer wieder eine strukturelle Eigentümlichkeit, die in der Märtyrerlegende in syntagmatischer Erstreckung auftritt, nämlich die zunehmende Entwertung der syntagmatischen Relation: „Nicht der Zusammenhang des menschlichen Lebens ist ihr wichtig, nur die Augenblicke sind es, in denen das Gute sich vergegenständlicht“, hat darum ANDRÉ JOLLES über die Legende gesagt, als er seinen Begriff der ‚einfachen Form‘ anhand der Legende entwickelte.20 _____________ 18

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Diese These läuft, wie man vielleicht schon hier vermuten kann, auf eine Inversion der Vorstellung von der ‚Arbeit am Mythos‘ (BLUMENBERG) hinaus, d. h. auf die Vorstellung einer hermeneutischen Modellierung, die nicht an einer Erzählform geleistet, sondern durch diese selbst erst verrichtet wird. Damit ergibt sich ein Unterschied zum recht stark mit einer linguistischen Differenz- und Oppositionslogik operierenden programmatischen Ansatz von PETER STROHSCHNEIDER: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Alexius. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hrsg. von GERT MELVILLE/HANS VORLÄNDER, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 109-147, bes. S. 114f., da das Erzählen der Geschichte im Folgenden nicht als Gegensatz zur überzeitlichen Transzendenz des Heiligen aufgefasst wird, sondern als Bedingung der Möglichkeit, diese Transzendenz überhaupt zu denken. Vgl. EDITH FEISTNER: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zu Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), hier S. 26-43. ANDRÉ JOLLES: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 71999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), hier S. 40.

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Demnach wäre das Heilige eine axiologische Qualität, die in der Zeitlichkeit der Geschichte augenblicklich vergegenwärtigt wird, deren Vergegenwärtigung diese Zeitlichkeit paradoxer Weise aber auch aufhebt. Diese Qualität würde also durch die Geschichte syntagmatisch repräsentiert und wäre letztlich doch nicht durch sie zu greifen. Folglich scheint es näher zu liegen, die Qualität des Heiligen von vornherein nicht als eine syntagmatische, sondern als eine paradigmatische Relation zu beschreiben. Aber auch durch die Wiederholung konstituiert sie sich noch nicht. Denn das Wunder, das Bekenntnis oder das Martyrium, sie sind nicht das Gleiche wie das biblische göttliche Wirken oder das Leiden Christi, sie sind das Selbe. Diese Identitätsbehauptung,21 die zu jener Art mythischer Konnektivität führt, die ein symbolisches Denken charakterisiert,22 macht auch den Kern der Definition der ‚einfachen Form‘ bei JOLLES aus. Die Bestimmung von JOLLES ist für die folgenden Überlegungen nicht nur deshalb nützlich, weil sie von der Legende ausgeht, sondern auch, weil die in ihr behauptete Konnektivität zwei Erstreckungen hat: Sie bestimmt das Sprachverständnis, da für die einfache Form ein „plötzliches Zusammenkommen und ein vollkommenes Ineinanderaufgehen von Meinen und Bedeuten“ angesetzt wird.23 Sie betrifft aber auch die einfache Form als _____________ 21

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Solche Identitätslogik des Heiligen muss aus der Sicht der von STROHSCHNEIDER (Anm. 18) akzentuierten Differenzlogik prekär erscheinen. Die von STROHSCHNEIDER diskutierte Alexius-Erzählung Konrads illustriert diese Prekarität sehr deutlich, weil sie, den Poetiken der weltlichen Erzählungen Konrads ähnlich, durch die Thematisierung des Visuellen gerade die Unverfügbarkeit sinnlicher Wahrnehmung im sprachlichen Medium unterstreicht und diese Figur auf das Problem der Transzendenz des Heiligen ausdehnt. Darin erweist sich dieser Text aber gerade nicht als Beispiel für die eigentümliche Konnektivität der Legende, weil er, wie STROHSCHNEIDER (S. 136) selbst zugesteht, gerade in seiner Thematisierung der Unverfügbarkeit von anderen Bekennerlegenden abweicht. Die von der Neubeschreibung abhängenden Generalisierungen wären demnach zu überprüfen. Vgl. zur vorgängig wirksamen Korrelation von Inhalts- und Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens besonders den Symbolbegriff bei ERNST CASSIRER: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: DERS.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, S. 169-200, bes. S. 174-176 sowie DERS.: Zur Logik des Symbolbegriffs. In: DERS.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81994, S. 201-230. Diese Korrelation von Inhalt- und Ausdruckseite hält sich als ein Prinzip des Verstehens in der Hermeneutik durch; vgl. dazu zunächst die wortgeschichtliche Darstellung des Symbolbegriffs bei HANS-GEORG GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6., durchgesehene Aufl., Tübingen 1990 (Gesammelte Werke 1), S. 77-86, der auf eine kritische Volte gegen CASSIRER hinauswill, dann aber am Beispiel der christlichen Symbolik ganz entschieden auf der besagten Korrelation insistiert und diese sogar ausbaut: „Die Darstellungsfunktion des Symbols ist nicht die einer bloßen Verweisung auf Nichtgegenwärtiges. Das Symbol läßt vielmehr etwas als gegenwärtig hervortreten, was im Grunde stets gegenwärtig ist. […] Ein Symbol verweist nicht nur, sondern es stellt dar, indem es vertritt. Vertreten aber heißt, etwas gegenwärtig sein lassen, was nicht anwesend ist. So vertritt das Symbol, indem es repräsentiert, das heißt, etwas unmittelbar gegenwärtig sein läßt.“ (S. 158f.) JOLLES (Anm. 20), S. 44.

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Syntagma, denn sie führt zur Auffassung der Handlung als einer entzeitlichten Gegenwart, die „in sprachlichen Gebilden wiederum Sein und Geschehen zugleich meint und bedeutet“.24 Die Legende wäre demnach eine einfache Erzählung mit einer elementaren Symbolfunktion. Gegen diese Abstraktion ließe sich einwenden, dass die konkreten Legenden bisweilen alles andere als einfach sind und damit ihre Symbolik zwangsläufig zu komplexen Zeichenrelationen ausbauen. Dies gilt insbesondere für die Silvesterlegende, oder besser: für die ‚Silvestererzählung‘ Konrads von Würzburg,25 die geradezu in Umkehr des paradoxen Verhältnisses vom Heiligen zur narrativen Struktur das Problem der Heiligendefinition in der Erzählung präsentiert und zu reflektieren bzw. zu literarisieren scheint. Oder als These genauer formuliert: Konrads Silvester entdeckt im Erzählen ein Dilemma, das der Text zugleich durch das Erzählen zu überwinden trachtet. Diese Tendenz beginnt bei Konrad schon mit der Wahl der Fassung. Die Fassungsfrage pflegt die Forschung wiederum mit Blick auf die histoireEbene der Texte zu entscheiden. Für die Silvesterlegende lassen sich zwei Fassungen separieren, die sowohl lateinisch als auch volkssprachig überliefert sind. Fassung A repräsentiert in der Volkssprache die Kaiserchronik. Für Fassung B steht die Erzählung bei Konrad von Würzburg.26 Die Zuordnung zu den Grundtypen von Märtyrer- oder Bekennerlegende ist für die Fassung A unproblematisch. Die Kaiserchronik bietet eine Bekennerlegende: Sie beginnt mit der Traumvision und der Wunderheilung des Kaisers Konstantin, welche zu einer Kette von Bekehrungen führen: der des Kaisers, der Römer und schließlich, nach einer erfolgreichen Disputation Silvesters mit jüdischen Gelehrten, der Bekehrung der überwundenen Juden, der Mutter des Kaisers und aller übrigen Heiden. Die Handlung wäre demnach weitgehend paradigmatisch organisiert.27 _____________ 24 25

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Hier, S. 45. Zu deren möglicher historischer Einbindung in die Heiligenverehrung die Übersichten bei TIMOTHY R. JACKSON: The Legends of Konrad von Würzburg. Form, Content, Function, Erlangen 1983 (Erlanger Studien 45), hier S. 29-36, 40-45; HERMA KLIEGE-BILLER: … und ez in tiusch getihte bringe von latîne. Studien zum Silvester Konrads von Würzburg auf der Basis der Actus Silvestri, Münster 2000, hier S. 140-160. Vgl. FEISTNER (Anm. 19), S. 152, mit einem kursorischen Vergleich der Fassungen. Zur konkreten Vorlagenfrage Konrads die Basis der älteren Forschung bei GEORG PROCHNOW: Mittelhochdeutsche Silvesterlegenden und ihre Quellen. In: ZfdPh 33 (1901), S. 145-212; die weitere ältere Literatur zusammenfassend RÜDIGER BRANDT: Konrad von Würzburg, Darmstadt 1987 (Erträge der Forschung 249), hier S. 10f., 23f., 49f., 124-128. Eine Revision bietet KLIEGE-BILLER (Anm. 25). Vgl. zu dieser strukturellen Eigenart der Kaiserchronik insgesamt die klassische Studie von FRIEDRICH OHLY: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster 1940 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10), mit dem Begriff der Typologie hier S. 16-29, 237-242, zur Silvesterlegende

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Das heißt gewiss nicht, dass die Legende nach A keine kausal-syntagmatische Rahmung kennt. Die Silvesterlegende der Kaiserchronik erzählt, wie es zur Konstantinischen Schenkung kommt, wie der Heilige Rock nach Trier gelangt und, zu guter Letzt, wie Silvester die Römer von der Bedrohung durch einen Drachen befreit (V. 7806-10633).28 Aber diese Legende besitzt damit bereits einen ambivalenten Schluss, der für die narrative Organisation der Handlung insgesamt symptomatisch ist. Einerseits hat die Erzählung der Kaiserchronik die typisch historiographische Funktion einer narrativen Erklärung der Gegenwart aus einer retrospektiv entworfenen Vergangenheit. Erst dies macht das Geschehen zu einer Geschichte: Es handelt sich um eine Struktur aus defizitärem Anfang, einer Gegenbewegung in der Mitte und einem Äquilibrum als Schluss, deren hermeneutischer Überschuss begründet, d. h. narrativ erklärt, warum es zur Konstantinischen Schenkung kam. Weil Konstantin erkrankt, dann durch Silvesters Worte und Taten bekehrt und wunderbar gerettet wird, ist der Papst Inhaber der weltlichen Herrschaftsgewalt in Rom; weil Silvester die jüdischen Gelehrten überwindet und damit die Mutter Konstantins bekehrt, schickt diese den Heiligen Rock nach Trier. Damit ist die Geschichte über ihre Folgen abgeschlossen und hat in dieser Geschlossenheit eine retrospektiv-erklärende Wirkung.29 Andererseits setzt die Erzählung in _____________

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S. 162-171. Zum darin angelegten typologischen Prinzip vgl. allgemein DERS.: Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung. In: DERS.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 312-337. Weitere Literatur zur daraus entstandenen Kontroverse um die Typologie in weltlicher Literatur bei HARTMUT BLEUMER: Die Crône Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, München 1997 (MTU 112), hier S. 7-10. In jüngerer Zeit werden für die Kaiserchronik die paradigmatischen Korrelationen wieder verstärkt diskutiert, sie werden von OTTO NEUDECK: Karl der Große – der beste aller werltkunige. Zur Verbindung von exegetischen Deutungsmustern und heldenepischem Erzählen in der Kaiserchronik. In: GRM 53 (2003), S. 273-294, als ‚typologieanaloge Denkform‘ gefasst (S. 275), während CHRISTOPH PETERSEN: Zeit, Vorzeit und die Narrativierung von Geschichte in der Kaiserchronik. In: ZfdPh 126 (2007), S. 321-353, durch seinen Begriff der paradigmatischen Kohärenz zum Terminus der Typologie auf Distanz zu bleiben versucht. Solche Distanz scheint unnötig, wenn man nicht mit OHLY die Typologie zum Ausgangspunkt der Betrachtung von Unmittelbarkeitseffekten der paradigmatischen Kohärenzbildung macht, sondern umgekehrt mit AUERBACH solche paradigmatischen Kohärenzbildungen zum Vorläufer der Typologie, die sich damit als christliche Sonderform figuralen Denkens darstellt. Vgl. ERICH AUERBACH: Figura. In: DERS.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern, München 1967, S. 55-92. Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER. In: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. Hrsg. von der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde. 1. Bd.: Deutsche Kaiserchronik. Trierer Silvester. Annolied. Teil 1: Deutsche Kaiserchronik, ND Berlin 1964 (MGH, Deutsche Chroniken 1,1; Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). Zu dieser prinzipiell finalen Anlage von narrativen Erklärungen vgl. hier nur die klassische Analyse von ARTHUR C. DANTO: Narration and Knowledge (including the integral text of Analytical Philosophy of History), New York 1985 (A Morningside Book), S. 17-26. Zur konkreten narrativen Erklärungsleistung der Kaiserchronik HARTMUT BLEUMER: Narrative

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ihren Wiederholungen auch auf die paradigmatische Organisation des Geschehens. Dabei wird in der Wiederholung zugleich deutlich, dass die Ereignisse selbst paradigmatische Appelle an den Rezipienten darstellen, die eine eigene Axiologie beinhalten. Der Blick auf das Wunder führt wieder und wieder zur Bekehrung, diese Bekehrung bedeutet die Rettung von dem Bösen: Sie fungiert als ein Paradigma einer durch das Wunder ausgelösten Umkehrbewegung zum Glauben, die sich aber auch über die Textgrenze hinaus fortsetzt und vom Rezipienten nachvollzogen werden soll. Die historische Erklärung durch das Erzählen und die Aufforderung zur Nachfolge gehen so Hand in Hand. Konrads ungleich komplexere Fassung B baut diese ambivalente Strukturierung schon auf den ersten Blick aus. Am offensichtlichsten ist, dass die Drachenepisode vom Ende an den Anfang der Erzählung rückt und sich bereits vor der Aussatzheilung Konstantins ereignet. In paradigmatischer Hinsicht scheint dies zunächst keine grundsätzliche Veränderung zu bedeuten, denn in einer rein paradigmatischen Ordnung ließen sich die Elemente gegeneinander austauschen. Anders stellt sich dies jedoch im Zusammenhang der syntagmatischen Verknüpfungen der Geschichte dar. Hier zeichnet sich sogar so etwas wie eine konzeptionelle Differenz ab, auf die Konrad schon in seinem genau 100 Verse umfassenden Prolog hinweist und die sich dann schrittweise vom Erzählen in das Erzählte hineinzieht. Der Prolog Konrads gilt durch seinen Verzicht auf jeglichen Inspirationstopos und seine, wenngleich beiläufige, Betonung der Unterhaltungsfunktion für das Legendenerzählen als untypisch.30 Aus diesem Abstand _____________

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Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des Eckenliedes. In: ZfdA 129 (2000), S. 125-153, hier S. 132-134. Das Narrativitätsparadigma ist in der Forschung zur Kaiserchronik, entgegen anders lautender Aufsatztitel, noch nicht durchgreifend erprobt: Vgl. die Orientierung am heldenepischen Exorbitanzbegriff, die ohne den Rückgriff auf heldenepische Erzählmuster auskommt, bei NEUDECK (Anm. 27), S. 289-292, sowie PETERSEN (Anm. 27), der von Narrativierungen spricht, sich aber tatsächlich nur für Geschehensfolgen interessiert und so letztlich ohne die Begriffe von Narration und Geschichte operieren kann. Außerhalb dieser Diskussionszusammenhänge bleibt JÜRGEN WOLF: Narrative Historisierungsstrategien in Heldenepos und Chronik – vorgestellt am Beispiel von Kaiserchronik und Klage. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 334-337, der versucht, eine chronistische Ablehnung der Heldensage in der Kaiserchronik als Folie für die Klage wahrscheinlich zu machen. Für den Ansatz auf der Diskursebene bietet sich ein Bezugspunkt mit ALMUT SUERBAUM: Erzählte Geschichte. Dialog und Dialogizität in der Kaiserchronik. In: Wolfram-Studien 16 (2000), S. 235-255. Vgl. noch tastend zur moralisierenden Tendenz KLAUS BRINKER: Formen der Heiligkeit. Studien zur Gestalt des Heiligen in mittelhochdeutschen Legendenepen des 12. und 13. Jahrhunderts, Phil. Diss. Bonn 1968, hier S. 172; eine deutlichere Nähe zu weltlichen Erzählformen sieht ULRICH WYSS: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973 (Erlanger Studien 1), hier S. 243; vgl. zur Studie von WYSS die Kritik am quellen-

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heraus versucht er von vornherein eine Antwort auf die Frage nach dem gewählten Erzähltyp zu geben: Was ist eine Legende? Für den Erzähler handelt es sich um ein götlichez mære (vgl. V. 3, 11, 97).31 In einer solchen göttlichen Geschichte gehe es um die Diener Gottes, was wiederum bei den Lesern dazu führen soll, daz man gote diensthaft / muoz werden (V. 20f.). Die Legende wäre demnach ein Paradigma, das eine besonders nachdrückliche Wirkung erzeugt. Dabei zielt der Prolog auf den Typus der Märtyrerlegende, denn diesen hebt der Erzähler hervor: swâ man ir reinen marter und ir tugend hœret sagen, dâ muoz ein edel herze tragen vil starke bezzerunge von (V. 22-25). Wo auch immer man von ihrer reinen Marter und ihrer Tugend erzählen hört, wird ein edles Herz dadurch eine tief greifende Besserung erfahren.

Diese Favorisierung des Märtyrertypus ist insofern erstaunlich, als diese Legendenform primär syntagmatisch organisiert ist und Silvester bekanntlich gerade keinen Märtyrer darstellt, sondern, wie am Beispiel der Kaiserchronik deutlich wurde, den paradigmatischen Bekennertypus vertritt. Gleichwohl kommt in Konrads Silvestererzählung das Martyrium vor. Das Christentum befindet sich durch seine permanente Verfolgung selbst in strenger marterunge (V. 53), so dass Silvester durch sein Bekenntnis zum Retter der Christenheit wird. Märtyrer- und Bekennertypus werden so schon vorab allgemein ineinandergeblendet. Einerseits wird das Bekenntnis syntagmatisch umgewertet: Das Bekenntnis dient zur Begründung der Aufhebung des Martyriums. Andererseits kehrt sich diese syntagmatische Erklärung wiederum ins Paradigma, da der Text selbst zur Nachfolge auffordert. Damit würde sich auch der Erklärungswert der narrativen Struktur gegenüber der Kaiserchronik verschieben: Die Fassung A erklärt durch die Geschichte vor allem, wie es konkret zur Konstantinischen Schenkung kommt, Konrads Fassung B bietet mit dem Rekurs auf den Märtyrertypus auf einer höheren axiologischen Ebene die Erklärung an, wie es überhaupt zur Erlösung kommt. Das hieße insgesamt: Die Narration liefert eine Erklärung ihrer eigenen paradigmatischen Wirkung. _____________

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fernen Vorgehen von FEISTNER (Anm. 19), S. 161, Anm. 246. Auf das Fehlen des legendentypischen Inspirationstopos macht TIMOTHY R. JACKSON: Konrad von Würzburg’s Legends. Their Historical Context and the Poet’s Approach to His Material. In: Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969. Hrsg. von PETER F. GANZ/WERNER SCHRÖDER, Berlin 1972 (Publications of the Institute of Germanic Studies 13), S. 197-213, hier S. 206, aufmerksam. Ausgabe: Konrad von Würzburg: Die Legenden. I. Hrsg. von PAUL GEREKE, Halle/Saale 1925 (ATB 19).

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In der erzählten Geschichte setzt sich diese Korrelation von Martyrium und Bekenntnis fort, und zwar sehr konkret. Denn die Silvestererzählung beginnt mit der Legende eines anderen Heiligen, und dieser erweist sich tatsächlich als ein Märtyrer: An ihrem Anfang steht der Heilige Timotheus. Timotheus kommt ins Haus Silvesters, predigt dort und bekehrt so die Ungläubigen. Dafür wird er von den Römern gefangen genommen, gefoltert und enthauptet. Wie der Erzähler weiß, ist Timotheus für seinen Märtyrertod in den Himmel aufgestiegen (V. 158-241). Damit ist seine irdische Geschichte zu Ende, aber dieses Ende erzeugt einen Überschuss, der das Ende zugleich überschreitet. Am einfachsten ist die Struktur dieser Grenzüberschreitung vielleicht mit Hilfe des strukturalistischen Aktantenmodells zu beschreiben: Das vollständige praktisch-aktantielle Scheitern des Protagonisten vollzieht sich im Namen der christlichen Werte und führt so zu einem ebenso vollständigen axiologischen Ertrag, über den sich die Geschichte fortpflanzt.32 Timotheus gilt als Heiliger und seine Heiligkeit wirkt nun in der Geschichte Silvesters weiter, die zunächst ebenfalls auf ein Martyrium hinzulaufen scheint: Silvester holt den Leib des Timotheus in sein Haus zurück und dieser wird auf Geheiß des Papstes neben dem Heiligen Paulus bestattet (V. 242-286). Daraufhin wird Silvester wie Timotheus von den Römern gefangen genommen und soll schließlich unter der Androhung der Folter gezwungen werden, sich vom Christentum abzuwenden und sich zu den heidnischen Göttern zu bekennen. Aber Silvester hält am Glauben fest, zumal er sich der Bestrafung seiner Feinde durch Gott schon gewiss ist (V. 315-335). Diese Bestrafung tritt postwendend ein. Da der römische Richter Tarquinius, der feindliche Gegenspieler von Timotheus und Silvester, in der folgenden Nacht beim Verzehr eines Fisches an einer Gräte erstickt, wird dies allgemein für ein Wunder gehalten und Silvester bleibt unversehrt. Als Folge dieses Wunders, das den Richter richtet, wendet sich nicht Silvester vom Christentum ab, sondern die Heiden wenden sich Silvester zu. Der Heilige bekennt seinen Glauben und bleibt darin statisch, ihm geschieht nichts. Die geschichtliche Bewegung vollziehen die anderen, die narrative Dynamik liegt bei ihnen.33 _____________ 32

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Zur Terminologie vgl. die jüngere Akzentuierung des Aktantenmodells bei ALGIRDAS JULIEN GREIMAS: A Problem of Narrative Semiotics. Objects of Value. In: DERS.: On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Translation by Paul J. Perron and Frank H. Collins. Foreword by Fredric Jameson. Introduction by Paul J. Perron, London 1987, S. 84-105. Schon BRINKER (Anm. 30), S. 180, hat dies impliziert, als er zu Recht von Silvester als einem Wendepunkt in der Geschichte des Christentums gesprochen hat. Zustimmend HARTMUT KOKOTT: Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989, hier S. 117. WYSS (Anm. 30), S. 245, erkennt darin ein dezidiert episches Verfahren, zu dem seine Studie selbst indes keinen Schlüssel findet, da sie dem Text die mangelnde narrative Integration seines Legendenmaterials vorhält (S. 252f.).

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Auf diese Weise wird der Erzähltyp der Märtyrerlegende der Bekennerlegende Silvesters auch ganz konkret eingeschrieben. Das Martyrium führt zum Bekenntnis, das Bekenntnis führt zum Wunder, das Wunder führt zur Umkehr der anderen. Dabei erweist sich die Relation von Märtyrer- und Bekennertypus als eine Rezeptionsbeziehung: Silvester sieht die Geschichte des Heiligen Timotheus, sein Bekenntnis ist ein Resultat dieser Wahrnehmung. Die Heiden sehen dagegen Silvesters Bekenntnis und das Wunder und unterwerfen sich: Es beginnt so eine Umkehrbewegung zum Christentum. Die Geschichte setzt also die Ausführungen des Erzählers aus dem Prolog praktisch fort und deutet ein Rezeptions- und Wirkungsverhältnis an, das auch für die Narration insgesamt gilt. Streng genommen ist der ‚Held‘ der Geschichte, d. h. der Protagonist, der die Handlung der Geschichte vollzieht, immer auch der jeweilige Betrachter des Heiligen. So wie Silvester dem Vorbild des Timotheus folgt, so hätte der Leser der Legende dem Vorbild Silvesters zu folgen. Die Narration würde so die Grenze des Textes überschreiten. Nur wird die fortgesetzte Korrelation von Paradigma und Syntagma damit vollends problematisch. Zunächst verschwindet die paradigmatische Relation, da sie in der syntagmatischen aufgeht. Die Heilswirkung überträgt sich vom Martyrium des Timotheus auf Bekenntnis und Wunder Silvesters. In dieser Übertragung ist Silvester dem Timotheus nicht nur ähnlich, die Kraft, die in ihm wirkt, ist identisch. Das betrifft aber auch das narrative Syntagma, weil diese heilige Kraft der Kausalität der Geschichte schon vorausgeht. Sie hat nicht etwa in Timotheus ihren Anfang und in Silvester ihr Ende, sondern ist, wie der Prolog andeutet, prinzipiell schon in anderen Dienern Gottes vorgebildet und über den Text hinaus prinzipiell ad infinitum in Wiederholungen realisierbar. Sie ist in der Geschichte vorgängig wirksam und geht jenseits ihres Endes weiter. Die syntagmatische und paradigmatische Relation geraten so in eine Wechselbeziehung, die zur besagten mythischen Konnektivität des Symbols führt. Im Rahmen einer kausal-motivierten Geschichte erzeugt das eine mythisch anmutende Kreisfigur: Die Geschichte wird auf ein Ende hin erzählt, das im Anfang schon vorausgesetzt wird. III. Dieser Zirkel auf der histoire-Ebene forciert das Vermittlungsproblem der Legende auf der discours-Ebene. Indem der Heilige oder das Wunder die Wahrheit im götlichen mære unmittelbar vergegenwärtigen, tut sich zwischen dem Erzähler und dem Erzählten eine Kluft auf. Sie betrifft die Wahrheit der erzählten Inhalte. Denn der Wahrheitsstatus der erzählten Ereignisse

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ist prinzipiell höher als der Wahrheitsstatus des Erzählens. An dieser Stelle kommt es zu dem Ausdrucksparadox, das für die Rede vom Heiligen generell gilt: Nur ein heiliger Text kann von der Wahrheit des Heiligen angemessen sprechen, außerhalb von heiligen Texten ist die Rede von Heiligkeit schwierig. Im narrativen Kontext heißt das: Es gibt ein Kompetenzgefälle zwischen dem Erzähler und dem heiligen Gegenstand bzw. den Worten der Heiligen. Angesichts der symbolischen Konnektivität des Wunders und der heiligen Handlung verfügt der Erzähler nämlich nur über arbiträre Zeichen. Angedeutet ist dieses Kompetenzgefälle bei Konrad schon im Prolog. Der Erzähler klassifiziert sich ausdrücklich als tump. Außerdem ist er erlösungsbedürftig. Im Auftrag an ihn, die Legende Silvesters nachzudichten, artikuliert sich zunächst der Erlösungswunsch des Auftraggebers. Dieser Wunsch wird wiederum für Konrad als ‚Gnade‘ bezeichnet, die das Dichten für den Erzähler zu einer Herzensangelegenheit macht. sô hât ein herre mich gebeten daz ich entslieze die getât, die sîn lîp begangen hât um den êweclichen solt. von Rœtenlein her Liutolt der hât mit sînen gnâden mich tumben Cuonrâden von Wirzeburc dar ûf gewent daz sich dar nâch mîn herze sent daz ich diz buoch verrihte (V. 76-85). So hat mich Herr Leuthold von Roeteln gebeten, dass ich die Taten nicht auslassen möge, die er (Silvester) um des ewigen Lohnes willen begangen hat. Mit seiner Gnade hat er mich, den unverständigen Konrad von Würzburg, dazu gebracht, dass sich mein Herz danach sehnt, dieses Buch zu verfassen.

Die tumpheit des Erzählers ist folglich auch kein bloßer Bescheidenheitstopos, sondern funktional notwendiger Bestandteil der Wahrheitskonstitution. Eigentlich ist der Wahrheitsgehalt der Rede nur durch Heiligkeit selbst zu garantieren: sei es durch das Wunder, sei es durch das Wort der heiligen Figur. Denn wie das Wunder auf der histoire-Ebene, so weist das heilige Wort bzw. das Wort des Heiligen jene mythische Konnektivität des Symbols auf, die in der Legende den unmittelbaren Zugang zur Heilsbedeutung verspricht. Darum ist der ideale Sprecher im Text der Heilige Silvester selbst. Präfiguriert wird dies wiederum im Vorbild des Heiligen Timotheus und seiner süeze[n] predigunge. / sîn ûzerweltiu zunge / bekêrte liute unmâzen vil (V. 203-205; seiner „süßen Predigt. Seine auserwählte Zunge bekehrte außerordentlich viele Menschen“). Ebenso ist auch Silvester mit der Kraft der göttlichen Rede ausgestattet. Als dieser zum Papst gewählt wird, erweist sich Silvester buchstäblich als begnadeter Prediger. In der Beschrei-

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bung seiner Rede stecken darum auch die Schlüsselworte der Poetik, wie sie dem Text insgesamt zugrunde liegt: Die inspirierten Worte haben eine eigene süeze, zielen auf einen durch ein edeles herz ausgezeichneten Rezipienten und werden von einer Figur vorgestellt, die vom Erzähler durch varwe und glanz ausgezeichnet wird.34 Die poetologische Selbstbeschreibung des Erzählens ist also vom Prolog als ihrem klassischen Ort in das Erzählen selbst verlagert.35 der gnâden hete in got gewert daz sîn vil reiniu zunge sô süeze predigunge zallen zîten brâhte vür daz si nâch edels herzen kür niht bezzer mohte werden. den liuten ûf der erden und gote vor in allen muoste wol gevallen diu rede und diu gebærde sîn. sîn vorme und sîner varwe schîn diu gâben engelischen glanz. durnehtic was er unde ganz an lîbe und an gesuntheit. gezieret was mit süezekeit sîn sprâche als ein geblüemet wise. (V. 480-495) Gott hatte ihm die Gnade gewährt, dass seine reine Zunge stets eine so süße Predigt hervorbrachte, wie sie sich ein edles Herz nicht besser wünschen konnte. Den Menschen auf der Erde und vor allem Gott mussten seine Rede und seine Gebärden gut gefallen. Seine Gestalt und die Leuchtkraft seiner Farben erzeugten einen engelsartigen Glanz. Er war von Gestalt und Konstitution vollkommen und tadellos. Seine Sprache war, gleich einer blumenbestandene Wiese, mit Süße geschmückt.

Der Erzähler kann sich demgegenüber nur des Unsagbarkeitstopos’ bedienen, kein zunge sei in der Lage, die Heiligkeit Silvesters angemessen auszudrücken (V. 502-507). Doch obwohl damit die Schwierigkeit formuliert ist, dass zwischen den Worten des Erzählers und der Geschichte sowie den Worten des Heiligen ein prinzipieller Abstand besteht, das Erzählen vom Heiligen also immer eine Kluft zwischen der Sprache des Erzählers und der angezielten heiligen Bedeutung besteht,36 wird zugleich auch die Überbrückung dieses Abstandes angedeutet. Das klassische narratologische Problem der Verbindung von histoire und discours, wie es in der Trennung von Signifikat und Signifikant vorgebildet ist, wäre demnach zu _____________ 34 35 36

Vgl. auch zum edele[n] herze im Prolog, V. 24. Das Verfahren erinnert an den Umgang mit der Prologfunktion im Iwein, zu den Möglichkeiten MERTENS in diesem Band. Vgl. JACKSON (Anm. 25), S. 169f.; grundsätzlich auch STROHSCHNEIDER (Anm. 18), S. 117.

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überwinden. Zwar könnten nur heilige Worte bzw. die Worte des Heiligen die Geschichte Silvesters angemessen zur Sprache bringen. Aber der Heilige selbst pflegt in seiner Rede den geblümten Stil: sîn sprache [ist] als ein geblüemet wise. Das heißt, die Rede des Heiligen präfiguriert wiederum jene Redeweise, die der Erzähler in allen Erzählwerken Konrads von Würzburg verwendet, auf die auch im Prolog sowie in der Beschreibungsmetaphorik des Erzählers verschiedene Male hingewiesen wird (V. 9, 68 u. ö.).37 Konkret lässt der Erzähler dann durch Farb- und Lichtsignale in seinen Beschreibungen insbesondere den Heiligen in der Erzählung zu einer strahlenden Erscheinung werden.38 Die Überbrückung der Kluft zwischen dem Text und dem Heiligen wäre durch diese bildprägende Qualität der Rede also buchstäblich in Aussicht gestellt. Doch Reden ist noch nicht Erzählen, und in der erzählten Geschichte reißt dann der Abstand zwischen Gesagtem und Gemeintem förmlich auf. Mit Blick auf die histoire-Ebene kann das Wunder als Kristallisationspunkt dieser prekären Beziehung von Sprache und Heilsbedeutung gelten. Denn das Wunder ist als Heilssymbol Ereignis gewordenes Wort Gottes. In ihm liegt die besagte Konnektivität vor, die der Geschichte und dem Erzählen Schwierigkeiten macht. Das Wunder verspricht als Symbol eine unmittelbare Beziehung zur Bedeutung, in der die Kluft des Zeichenbegriffs verschwindet. Wenn aber die Sprache des Erzählers und damit die Struktur der Geschichte an der Überwindung dieser Kluft arbeitet, dann entzieht das Wunder der Geschichte die Grundlage und entblößt die in ihr wirksamen Gegensätze. Genau in diesem Sinne bildet das Wunder in der Silvestererzählung eine problematische Stelle im Erzählen. Diese Problematik klingt schon bei der schlichten Erzählung der ersten Bekehrungen an, die einsetzen, weil die heidnischen Römer den durch _____________ 37

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Zum Begriff des bluemens problematisierend JAN-DIRK MÜLLER: schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik). In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von GERD DICKE/MANFRED EIKELMANN/BURKHARD HASEBRINK, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 287-307. Zur Glanz-Ästhetik Konrads grundlegend WOLFGANG MONECKE: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit, Stuttgart 1968 (Germanistische Abhandlungen 24) sowie zusammenfassend demnächst HARTMUT BLEUMER: Zwischen Wort und Bild. Narrativität und Visualität im Trojanischen Krieg Konrads von Würzburg (mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte). In: Zwischen Wort und Bild: Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. Hrsg. von DEMS. u. a., Köln (im Druck). Das erzählerische Verfahren lässt sich für den Silvester, wie etwa auch für Partonopier und Meliur, im Umgang Konrads mit seiner Quelle deutlich machen. Dazu die erste Andeutung bei BRINKER (Anm. 30), S. 176, konkret in der Gegenüberstellung schließlich KLIEGEBILLER (Anm. 25), S. 217-219. Vgl. die Zusammenstellung von Farb- und Glanzmetaphern bzw. entsprechenden Vergleichen bei JACKSON (Anm. 25), S. 222-233; daran anschließend KOKOTT (Anm. 33), S. 122. Vgl. auch FEISTNER (Anm. 19), S. 162.

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die Fischgräte verursachten Erstickungstod des Tarquinius selbstverständlich als christliches Wunder akzeptieren und sich daher Silvester unterwerfen. Diese Wirkung ist im Rahmen der narrativen Struktur zu einfach: Sie ist derart richtig, dass sie falsch wirkt. Sie ist vollkommen geschlossen und damit zirkulär, darum fehlt ihr der axiologische Überschuss narrativer Strukturen.39 Regelrecht markiert wird die narrative Schwierigkeit des Wunders jedoch durch die Überwindung des Drachens. Konrad zieht nämlich, wie in der Fassung B der Legende üblich, die Überwindung des Drachens nicht bloß vor. Er gestaltet den Sieg über den Drachen vielmehr in zwei Richtungen aus. In einem Berg nahe Rom haust ein Drache. Dieser ist nicht etwa ein Zeichen, das auf das Böse verweist, sondern er erscheint als dessen ganz konkretes Symbol: das Böse manifestiert sich in ihm und setzt sich in der Welt fort. Ihm opfern heidnische Zauberer jeden Monat, die dadurch ihre innerweltliche Macht empfangen. Der Drache ist pures Gift, wer seinen Atem einatmet, der stirbt. Entsprechend konkret ist die Herausforderung dieses bösen Tieres an den christlichen Glauben: Die heidnischen Römer machen Silvester die Überwindung des Drachen zur praktischen Aufgabe, und wenn Silvester den Drachen beseitigte, so würden sie an den christlichen Gott glauben (V. 661-737). Man könnte meinen: hier zeigt sich auf unmittelbar-praktische Weise die mythische Konnektivität im Geschehen und wird Teil einer elementaren narrativen Struktur: Nach der Bedrohung durch den Unglauben führt die göttliche Macht durch das Wunder unmittelbar zum Glauben. Es zeigt sich aber, dass das angedeutete, mythische Symbolverständnis die narrative Einbindung sofort auflöst. Zunächst ist die Geschichte forciert kausal gedacht und verfehlt dadurch schon von vornherein, was sie verspricht: die Möglichkeit, narrativ zu erklären, warum man zum Christentum übergeht. Der Sieg über den Drachen ist das Ende einer praktischen Handlung, in der nur aktantielle Werte zählen. Der Glaube ist dagegen eine geistliche Haltung, er betrifft ausschließlich die christliche Axiologie. Als praktische Handlung kann der Sieg über den Drachen folglich praktische Konsequenzen für die bedrohten Römer haben, aber darum hat er nicht automatisch einen kausalen Einfluss auf ihr Heidentum. Silvester thematisiert dies selbst ausdrücklich in seiner Antwort auf das allzu pragmatische heidnische Angebot: Auch wenn der Drache durch die Kraft Christi besiegt werde, nütze das nichts, denn der Unglaube der Heiden werde dann andere Widerwärtigkeiten finden, die Gott und seiner Ehre missfallen _____________ 39

Vgl. zu diesem Zirkelproblem die klassische Kritik an der frühen (!) Variante des GREIMASschen Erzählmodells von RAINER WARNING: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Identität. Hrsg. von ODO MARQUARD/KARLHEINZ STIERLE, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 553-589.

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(V. 741-759). Wo es keinen Glauben gibt, da hilft auch kein Wunder, den Glauben zu bewirken. Wer die christliche Axiologie nicht teilt, der kann durch diese auch nicht in die Geschichte eingebunden werden. Eine kausale Relation auf der histoire-Ebene, die durch das Wunder zum Heil führt, gibt es für Silvester also offenbar nicht. Doch der Heilige scheint zu irren. Nach einer Vision, in der ihm der Apostel Petrus mitteilt, mit welchen Worten der Drache zu bannen sei, dringt Silvester unter dem Beistand von kollektiven Gebeten der Christen zum Drachen vor und überwältigt ihn mit der Kraft des Wortes (V. 771-841). Das ist ein Wunder, wie es Silvester selbst erwartet hatte: Die von Petrus geoffenbarten Worte, gesprochen aus dem Munde des Papstes und die Gebete der Christen, sie können zum Wunder führen, weil ihnen von vornherein die göttliche Kraft innewohnt. Diese Worte sind also keine arbiträren Zeichen, sie scheinen eine symbolische Wirkung zu besitzen, die dem Drachen als Symbol des Bösen adäquat ist. Soweit bleibt alles im Rahmen des vom Heiligen Erwarteten. Aber darüber hinaus werden, ganz gegen Silvesters Annahme, die Heiden tatsächlich zu Christen und lassen sich von Silvester sofort taufen (V. 850-854).40 Das erscheint nach Silvesters Einwand als ein irritierender Ebenenfehler. Das im Wunder demonstrierte unmittelbare Sprachverständnis, das den Zeichenbegriff zugunsten einer unmittelbaren Wirkung des Wortes aufhebt, ist den Worten des Heiligen zufolge in der Geschichte vom Wunder nicht gültig. Dennoch wird die Geschichte so erzählt. Und darum überzeugt sie nicht. In dieser Konstruktion geht es um die Paradoxie, die bei der Bekehrung durch das Wunder grundsätzlich vorliegt und die sich in der Geschichte fortsetzt: Es gibt kein Wunder ohne Wunderglauben. Die Bekehrung der Ungläubigen ist darum irritierend, ja selbst wunderbar. Wenn das Wunder nur kausal in die Geschichte eingebunden wird, ist dieses Wunder schwierig. Man fällt nämlich von einem Dilemma ins andere. Falls das ‚Wunder‘ schon darin besteht, dass die Heiden von der Bannung des Drachens durch das Wort ebenfalls überwältigt werden, dann ist das Wunder ein praktisch-aktantieller Sieg. Es ist dann Teil einer kausalen Erklärung im Rahmen eines Protonarrativs: Das Wunder würde sich als Endpunkt einer Art elementaren Geschichte ergeben – aber damit wäre es eben kein Wunder mehr. Ebenso wäre dann auch die Geschichte unterkomplex und darum nur protonarrativ: Sie hätte ein Resultat, sie böte jedoch keinen hermeneutischen Überschuss, der sie zu einer narrativen Erklärung machen würde. Wenn dagegen die Heiden das Wunder als Wunder verstehen, dann setzt dies schon vorab auch für sie eine christliche Axiologie bei _____________ 40

Zur Responsion auf die vorangegangene Unterwerfung nach dem Tod des Tarquinius BRINKER (Anm. 30), S. 183f.

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der Wunderrezeption voraus. Das hieße: Die Legendenerzählung von der Bekehrung der Heiden durch den Sieg über den Drachen enthält eine narrative Erklärung, die in einem logischen Zirkel aber nur als Resultat ausgibt, was sie selbst schon voraussetzt. Die Geschichte vom Wunder wäre damit keine Geschichte, die das Wunder erklärt, sondern eine solche, die durch das Wunder selbst erklärt werden muss. Was sich in diesen Aporien negativ zeigt, lässt sich vielleicht auch positiv zunächst als Frage formulieren: Gibt es ein Wunder ohne die Struktur der Geschichte? Und gibt es die Geschichte ganz ohne die Kraft des Wunders? Tatsächlich markiert die Drachenepisode vorab genau jenes Interpretationsproblem, das später die zentrale Episode der Heilung des aussatzkranken Kaisers Konstantin nicht nur vollends herausarbeitet, sondern auch zu überwinden versucht. Obschon noch kein Christ, zeigt Konstantin schon vor seiner Bekehrung eine durch und durch christliche Verhaltensweise. Der Aussatz, der den Kaiser befällt, gilt als eine Strafe für die Verfolgung der Christen (V. 890-901). Der Weg zur körperlichen Heilung wird dem Kranken durch seine heidnischen Ratgeber gewiesen, aber er führt nur zu einer neuerlichen Schuld: Wenn der Kaiser im Blut von 3000 unschuldigen Kindern badet, so gerät er seiner Selbstreflexion zufolge in ein Dilemma: Falls er die Kinder tötet, gewinnt er sein irdisches Leben zurück, aber er ist zugleich êweclîche tôt (V. 1073). Konstantin erkennt, dass er zwar durch den Tod der Kinder als Kaiser am Leben bleibt, aber zugleich gegen seine Pflichten als Kaiser verstößt und damit den Anspruch darauf verwirkt, Kaiser zu sein. Sein aktantieller Erfolg wäre also zugleich ein axiologischer Verlust. Aus dieser Einsicht heraus beschließt Konstantin ausdrücklich, den Willen Gottes als Macht anzuerkennen. Aber er widersetzt sich ihm auf signifikante Weise. Als Kaiser habe er stets die anderen besiegt, nun aber besiege er sich selbst (V. 1018-1167). Silvester formuliert dies ausdrücklich als eine moralische Wende: sô wirde ich aber hiute sterker danne ich selbe sî, gestât mir hie diu sælde bî daz ich mir selben angesige und ich sô vester sinne pflige daz ich dem argen willen mîn widerwertic mac gesîn, alsô daz ich in von mir jage. (V. 1128-1135) So werde ich heute aber stärker, als ich es selbst bin, wenn es mir glücklich gelingt, mich selbst zu besiegen und ich meine Absicht derart unbeirrt verfolge, dass ich mich meinem bösen Willen so entgegenzustellen vermag, dass ich ihn von mir vertreibe.

Sich selbst zu besiegen ist eine Niederlage, die ein Sieg ist: Diese Lösung enthält mit Blick auf die Logik der Geschichte die gesuchte paradoxe

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Konstruktion. In ihr lässt sich die christliche Interpretationsfigur einer ‚Genealogie der Moral‘ beobachten, die sich strukturalistisch so reformulieren lässt: Der aktantielle Verlust wird akzeptiert, aber eben deshalb in einen vollständigen axiologischen Gewinn umgewertet. Die durch eigene Einsicht bewirkte Umkehr des Kaisers geht dem Wunder schon voraus. Der Kaiser zeigt damit selbst schon vorab jene Grundhaltung, auf deren Grundlage das Wunder erst als solches begriffen werden kann. Noch ist dies jedoch als ein Antagonismus zwischen Kaiser und Gott gedacht. Denn mit seiner Selbstüberwindung gedenkt Konstantin dem göttlichen Willen gerade zu trotzen: dâ sol ich hiute an got hie sehen, alsô daz ich den willen sîn setze gein dem willen mîn und den lâze strîten vil sêre an disen zîten wider mînes herzen gir. gesiget gotes wille an mir, sô trage ich doch die sigenuft, wand ich vil strenger sünden guft mit senften und mit süezen siten hab an mir selben überstriten. (V. 1142-1152) Daran werde ich heute Gott hier erkennen, dass ich nämlich seinen Willen dem meinen entgegenstelle und diesen Willen jetzt mit aller Kraft gegen das Begehren meines Herzens kämpfen lasse. Wenn Gottes Wille mich besiegt, so trage ich doch den Sieg davon, denn ich habe den unerbittlichen Ruf der Sünde mit sanftem und süßem Verhalten an mir selbst besiegt.

Aber die Struktur dieser Selbsterlösung ist der christlichen Erlösungsfigur schon so ähnlich, dass die nun folgende wunderbare Heilung Konstantins diese Grundhaltung nur noch einmal zu sanktionieren braucht, um sie vollends in eine christliche zu wandeln. Das Wunder schrumpft dabei auf ein narrativ integrierbares Maß. Es wiederholt sich das kollektive Gebet der christlichen Gemeinde, das auch schon bei der Überwindung des Drachens geholfen hatte, und an die Stelle des Blutbades tritt das Bad der Taufe, die nicht nur die körperliche Krankheit, sondern auch die Sünden des Kaisers abwäscht. In der Taufe vollzieht sich so das Wunder der Heilung, aber dieses ist nicht, wie in allen bisherigen Handlungen, ein erneuter irritierender kausaler Auslöser einer Bekehrung, es ist vollends ein Symbol des Heils. Der Text führt dabei geradezu vor, wie sich anhand der Geschichte Symbole konstituieren. Weil Konstantin von vornherein schon durch eigene Reflexion die Struktur der Erlösungshandlung erkannt hat, kann nun ihm gegenüber auch ausdrücklich zur Sprache kommen, was ein Heiliger ist. Man kann es ihm erklären. Diese Erklärung kommt aus berufenem Munde. Der Heilige

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Silvester selbst nimmt sie vor, da er über die konnektive Macht der Sprache verfügt. Damit schließt sich auch auf der discours-Ebene eine Kreisbewegung. Sie begann mit der Legendencharakteristik des Erzählers im Prolog, setzte sich im Problem der Rede vom Heiligen und der begnadeten Redefähigkeit Silvesters fort und findet nun in der Definition des Heiligen durch den Heiligen ihren vorläufigen Abschluss. In einem Traum sind dem kranken Kaiser zwei Männer erschienen, Petrus und Paulus, die sich ausdrücklich als Heilige vorstellen und dann Konstantin den Weg zur Heilung durch Silvester aufzeigen, der im Bekenntnis zu Jesus Christus durch die Taufe besteht (V. 1210-1272). Dieser Traum scheint völlig verständlich, dennoch muss Silvester, als er zum Kaiser gerufen wird, den Traum erklären. Silvester ist kein Traumdeuter, er ist ein Kommentator, der den Zirkel des Wunderbegriffs abschließt und seinen Überschuss nunmehr bezeichnet. Der Traum enthielt von vornherein keine interpretationsbedürftigen Bilder, er enthielt vor allem eine ausführliche Rede der Heiligen mit direkten Anweisungen zur Handlung. Silvester trägt dazu nun nach, inwiefern Petrus und Paulus als Heilige gelten (V. 1430-1458). Und er trägt dazu von außen ein dezidiert bildliches Argument an den Traum heran. Wiederum führt dies zu einer irritierenden kausalen Logik. Sie wirkt wie ein Fehlschluss in einer juristischen Disputation: Konstantin verlangt einen positiven Beweis für die Richtigkeit der Aussage, dass es sich bei den Figuren in seinem Traum um Heilige handelt. Nur: dieser Beweis ist kein Wunder, es handelt sich auch um keine rationale Erklärung, sondern – passend zum ästhetischen Konzept, dass die Sprache des Textes selbst vertritt – um ein konkretes Bild. Weil Konstantin sich die Bilder der Heiligen zeigen lässt und diese mit den Traumerscheinungen übereinstimmen, zeigt sich für ihn die Wahrheit des Gesagten.41 Damit ist der Fall klar, die Aussage Silvesters bietet eine richtige Erklärung. Diese Erklärung sichert zugleich den Erkenntnisprozess des Kaisers, der nunmehr als abgeschlossen gelten kann. Und das anschließende Heilungswunder fungiert in diesem Sinne nochmals als Beweis der Heiligkeit, der Traum der Heilung wird zur konkreten Wahrheit. Diese Wahrheit zeigt sich in der erzählten Wirklichkeit, aber sie ist nicht mit ihr zu verwechseln. Deshalb unterscheidet sich diese Wahrheit auch von der bloßen Richtigkeit der Erklärung, die Silvester geboten hat. Sie kann nämlich nicht einfach sprachlich bezeichnet, sondern nur symbolisiert werden. _____________ 41

Vgl. am Beispiel der Stelle in der Kaiserchronik grundsätzlich zum Problem der physiognomischen Ähnlichkeit DIETER KARTSCHOKE: Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter. In: Festschrift für Walther Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1. Hrsg. von JOHANNES JANOTA u. a., Tübingen 1992, S. 1-24, S. 15f.

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Man möchte vielleicht zunächst sagen: In seiner rational-praktischen Funktion entwertet das Wunder genau das, was es bestätigt, nämlich die innere Umkehr des Kaisers, die solcher Beweise zuvor offenbar gar nicht bedurfte. Das Wunder wäre dann nur die aktantielle Bestätigung dafür, dass die Erklärung Silvesters richtig ist. So wie schon die Bilder der Heiligen als sichtbare Zeichen fungierten, die nur bestätigten, dass Silvester den Traum zutreffend entziffert hat, so würde das real eintretende Wunder lediglich nochmals die vorgeschlagene Lesart des Geschehens als korrekt auszeichnen. Aber es geht um mehr als nur um die Frage der Richtigkeit von Silvesters Erklärung in der erzählten Wirklichkeit. Die Erklärung zielt auf die Wahrheit der Werte. Darum vollzieht sich die Denkbewegung auch genau umgekehrt. Durch die Identifikation der Heiligen über das Bild ist nachträglich von Silvester kognitiv bestätigt, was zuvor nur unklar von Konstantin vernommen worden war: der vorgängig wirksame Zusammenhang von eigener Schuld und göttlichem Erlösungshandeln (vgl. V. 1014-1025). Dazu bildet die Taufe als sichtbares Symbol mit heilender Wirkung den Abschluss: Es handelt sich um den Prozess einer Offenbarung. Die rationale Erklärung bildet so aber nicht etwa einen Gegensatz zum symbolischen Denken, sie ist vielmehr zu seiner Voraussetzung geworden. Ihre Rationalität wird zum Teil einer hermeneutischen Praxis im Rahmen einer doppelten Geschichte, die sich zunächst als ein innerer Umkehrprozess des Kaisers darstellt und die dann äußerlich in der Heilung wiederholt wird. Und die doppelte Geschichte vollzieht ihrerseits eine doppelt-gegenläufige Bewegung: Sie vernimmt von vornherein eine Bedeutung und sie verwandelt sie nachträglich über einen internen Interpretationsprozess reflexiv in einen klaren Sinn. IV. Die Silvesterlegende ist in all ihren Fassungen dadurch ausgezeichnet, dass sie die Möglichkeit enthält, die Heilswirkung des Glaubens nicht nur zu demonstrieren, sondern auch zu erörtern. Sie enthält dazu einen Diskurs über die Grundlagen des Glaubens und des Wunders. Das Bemühen um eine kompositorische Einbindung des Streitgesprächs bei Konrad ist deutlich: Während es z. B. in der Kaiserchronik in der Mitte erscheint, bildet es hier Ende und Höhepunkt der Erzählung. Es treten zwölf jüdische Gelehrte auf der einen und Silvester auf der anderen Seite gegeneinander an. Am Anfang wird die Berechtigung des christlichen Glaubens in Frage gestellt, dann kommt es zur agonalen Phase der Disputation, und am Ende stehen Sieg oder Niederlage einer der Parteien. Der Verlauf der Disputation ergibt also wiederum eine protonarrative Struktur mit dem aktan-

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tiellen Dreischritt aus Anfang, Mitte und Schluss, in der die christliche Axiologie nun selbst verhandelt wird. Weil dabei auch noch Handlung, Rede und Wunder sämtlich gegeneinander ausgespielt werden, geht es offensichtlich darum, deren Relationierungen abschließend für den ganzen Text aufzuklären.42 Dabei gewinnt der Diskurs am Ende mit seiner Prozesslogik und seinen Regeln, d. h. der Wahl eines Richters und der Bildung zweier Prozessparteien, die eine Streitfrage verhandeln, gewiss nicht zufällig Ähnlichkeit mit einem regulären Heiligsprechungsprozess. Dass die historische Kanonisierung der Heiligen auf ein juristisches Verfahren der Urteilsbildung zurückgreift, wird zu einem Modell, das in der Theorie schon JOLLES genutzt hat, um die Eigenart der Legende zu beschreiben.43 Konrad von Würzburg geht genau so vor, aber er praktiziert seine Modelldiskussion im Erzählen. Die narrative Praxis ist ihrer Theorie so schon voraus. Rational erklärbar und positiv beweisbar ist die Heiligkeit durch das Wunder nicht, denn das Wunder lässt sich nicht, wie ein juristisch zu verhandelnder Kasus, einer etablierten Normvorstellung subsumieren. Dennoch soll das Wunder aber seit Innozenz III. durch einen juristischen Prozess begriffen werden.44 Vor diesem Hintergrund ist das Ende der Silvestererzählung interessant. Denn hier ist der Heilige am Ende seiner eigenen Legende im Prozess um die eigenen Heiligkeit selbst anwesend. Silvester verhandelt damit nichts weniger als seinen eigenen legendarischen Status. Und was er nun explizit vorschlägt, sind gerade keine nor_____________ 42

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Eine ähnlich selbstreflexive Funktion des Streitgesprächs hat SUERBAUM (Anm. 29), hier S. 239-246, für den vergleichbaren Passus der Kaiserchronik gesehen: Sie interpretiert bereits die dortige Disputation als Diskurs über die Wahrhaftigkeit des chronikalischen Erzählens. Zum Typus des Streitgesprächs die allgemein-vergleichende Zusammenstellung des Materials bei ELISABETH SCHENKHELD: Die Religionsgespräche der deutschen erzählenden Dichtung bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Phil. Diss. Marburg 1930, hier S. 7-15, mit dem abschließenden Hinweis auf das nur indirekte Verhältnis von lateinischer jüdischchristlicher Glaubensdisputation und volkssprachiger Silvesterlegende (S. 115-118). Für die lateinischen Fassungen A und B der Legende konnte dagegen LEVISON einen direkten Einfluss des Conflictus Arnobii et Serapionis von Arnobius dem Jüngeren geltend machen. WILHELM LEVISON: Konstantinische Schenkung und Silvester-Legende. In: DERS.: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, Düsseldorf 1948, S. 390-465, hier 426-431, zu allgemeineren Berührungen mit antijüdischen Streitschriften am Beispiel der lateinischen Fassung A S. 414-417. Die über die Disputation der Faustinianlegende in der Kaiserchronik zu greifende Forschung ist zuletzt zusammengestellt bei RAYMOND GRAEME DUNPHY: Die wîlsælde-Disputation. Zur Auseinandersetzung mit der Astrologie in der Kaiserchronik. In: ZfdPh 124 (2005), S. 1-22. Vgl. JOLLES (Anm. 20), S. 26-33. Zur Geschichte des Kanonisierungsprozesses im Mittelalter vgl. THOMAS WETZSTEIN: Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im europäischen Spätmittelalter, Köln, Weimar, Wien 2004 (Forschungen zur Kirchengeschichte und zum Kirchenrecht 28), S. 213-243.

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mativen Ableitungen, es sind vielmehr Interpretationsstrategien. Diese werden zwar nunmehr am Ende des Textes expliziert, sie waren aber in der Interpretation von Taufe und Blutbad schon vorgängig wirksam. Im Text werden die verschiedenen Positionen des Disputs schriftlich, gewissermaßen als Prozessgrundlage, vorformuliert und dann mündlich verhandelt. Aufgrund eines Briefes von Konstantins Mutter, die zum Judentum übergetreten ist, und daher Konstantins Übertritt zum Christentum verwerflich findet (V. 2443-2568), antwortet der Kaiser mit einem ebenso schriftlichen Vorschlag, die Glaubensgegensätze in einem Disput Silvesters mit den jüdischen Gelehrten mündlich zu entscheiden (V. 25752696). Die Disputation ist nicht ohne Witz, sie zieht sich aber über 2300 Verse hin (V. 2798-5162) und braucht im Detail hier nicht verfolgt zu werden, denn es geht in beständiger thematischer Variation immer um dasselbe Muster. Der binäre Antagonismus des Entweder-Oder auf jüdischer Seite wird nachträglich vom Heiligen in eine Dialektik überführt. Silvester besiegt seine Kontrahenten, aber dieser Sieg erweist sich zugleich als eine Integrationsleistung. Genauer gesagt, wird die in der Disputation angelegte Opposition durch die Antworten Silvesters in der Dialektik des figuralen Denkens aufgehoben.45 Es geht also nicht schon um die Frage, wer Recht hat oder wer gewinnt und verliert, es geht um die Wirksamkeit der typologischen Interpretation, die den argumentativen Erfolg vorab schon begründet und zugleich den gesamten Disput von einer rhetorischen zu einer hermeneutischen Veranstaltung macht.46 _____________ 45

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Vgl. die Zusammenstellung einzelner Argumente im Vergleich zu anderen Religionsgesprächen bei SCHENKHELD (Anm. 42), S. 75-114 passim, die insbesondere auf die typologischen Ableitungen mit der Akzentuierung der Beweisfunktion des Wunders verweist (S. 50-53). Zum typologischen Verfahren auch LYDIA MIKLAUTSCH: Der Antijudaismus in den mittelalterlichen Legenden am Beispiel der Silvesterlegende in der Fassung des Konrad von Würzburg. In: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Hrsg. von ALFRED EBENBAUER/KLAUS ZATLOUKAL, Wien, Köln, Weimar 1991, S. 173-182, hier S. 177, die im Interesse ihrer allgemeinen Leitthese, der Silvester Konrads liefere „die heilsgeschichtliche Begründung und Legitimation für die Verfolgung der Juden“ (S. 176), deren „Dämonisierung“ (S. 179 u. ö.) sehr stark akzentuiert. Angesichts der Erlösungsfähigkeit der Juden durch das Wunder ist diese Akzentuierung problematisch, sie erweist sich dagegen für das Religionsgespräch der Kaiserchronik als angemessen, wo die jüdische Partei sich im Unterschied zu Konrad schließlich dem Wunder verweigert. Dazu differenziert VERA MILDE: si entrunnen alle scentlîchen dannen. Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der Kaiserchronik. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hrsg. von URSULA SCHULZE, Tübingen 2002, S. 13-34. Vgl. dazu genau in diesem Sinne grundsätzlich die Relationierung des Figuraldenkens zwischen mythischem Symbolismus einerseits und allegorischer Zeichenhaftigkeit andererseits bei AUERBACH (Anm. 27), S. 79-81. Auf die sich daraus ergebende Umakzentuierung des von der Position FRIEDRICH OHLYs geprägten Typologie-Problems sei nochmals nachdrücklich hingewiesen: siehe oben Anm. 27.

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Das typologische Muster ist von Anfang an deutlich: Die jüdischen Gelehrten bezweifeln jeweils auf der Grundlage des Alten Testamentes die christlichen Heilswahrheiten des Neuen Testamentes, Silvester legt daraufhin Textstellen des Alten Testamentes auf das Neue Testament hin aus und zeigt damit stets, dass die jüdische Auslegung der christlichen nicht widersprechen kann, da sie die christliche Auslegung als Implikation schon enthält. Dabei ist das jüdische Auslegungsverfahren immer in der Frage nach dem sensus historicus begründet, oder narratologisch ausgedrückt: Die jüdischen Leser der biblischen Geschichten gründen ihren Zweifel auf die in der histoire-Ebene gültigen kausalen Verknüpfungen, mit deren Hilfe sie zu Widersprüchen gelangen. Diese werden Silvester als Dilemmata vorgelegt. Gegenüber dem Denken in Oppositionen verwendet Silvester die Figuraldeutung, die in der Wiederholung für den Text insgesamt eingeübt wird und der es nun gelingt, die vormaligen Aporien in Paradoxien zu verwandeln. Dieses Deutungsverfahren hat folglich auch für die Sicht auf das Wunder und die Hermeneutik der erzählten Geschichte insgesamt Konsequenzen. Demonstriert werden sie insbesondere anhand jenes Wunders, das die Disputation und damit die legendarische Erzählung selbst abschließt. Der zwölfte der jüdischen Gelehrten, Zambri mit Namen, verlangt von Silvester nämlich wiederum einen Wunderbeweis (V. 4547-4578). Schon dieses Ansinnen ist erkennbar problematisch, denn das Wunder wird aus jüdischer Sicht als ein Ereignis der histoire-Ebene gedacht. Es soll in der Handlung die Richtigkeit des Glaubens praktisch beweisen. Eines sollte bislang jedoch klar sein: Wunder beweisen in diesem Sinne nichts. Sie fügen sich darum auch keiner rational-kausalen Prozesslogik. Aber umgekehrt führt schon die Forderung nach dem Wunder als Beweis nun das rationale Denken selbst in ein Dilemma. Hier sieht das wie folgt aus: Ein wilder, rasender Stier soll von den Juden getötet werden, Silvester hat das Tier dann wieder zum Leben zu erwecken. Dies wäre der Wunderbeweis. In diese Handlung wird eine tödliche Wortmagie eingespielt. Solche Magie des Wortes ist nun zweifellos kausal und aktantiell wirksam. Der jüdische Herausforderer Silvesters will das wilde Tier dadurch töten, dass er den unaussprechlichen Namen seines Gottes ausspricht, der sofort den Tod bringt (V. 4612-4642). In dieser Behauptung steckt bereits ein Widerspruch, denn ein derart tödlicher Name ist nicht lesbar und nicht sagbar, ohne dass man ums Leben kommt. Um dies zu markieren, fragt Konstantin als Richter eigens nach und erhält eine logisch ziemlich unbefriedigende Erklärung darüber, wie im Rahmen einer rituellen Praktik das Unsagbare an ihn vermittelt wurde (V. 4706-4742). Aber wie dem auch sei: Die Sache funktioniert, der jüdi-

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sche Gelehrte spricht dem wilden Bullen das tödliche Wort ins Ohr und das Tier fällt augenblicklich tot zu Boden. Das ist eine dem kausalen Denken verhaftete Sprachmagie, aber kein Wunder.47 Darum kommt es Silvester auf solche Kausalbeziehungen zwischen Wort und Handlung nicht an, und entsprechend repliziert der Papst diese Tat zunächst nicht. Vielmehr erläutert er das Verhältnis von Name und Handlung angesichts des Evangeliums: Silvester verwendet den Namen Christi problemlos in seinem Hinweis auf Jesu Erlösungshandeln, seine Wundertaten, seinen Tod und seine Auferstehung und proklamiert zugleich, dass dieser das Leben und die Befreiung vom Teufel bedeute. Dagegen sei ein tötender Name offenbar teuflisch, d. h. eine Gefährdung des Heils (V. 4875-4912; 4948-4986). Vorerst bleibt der wilde Bulle also tot am Boden liegen, wie es scheint, hat Silvester die Probe nicht bestanden. Gleichwohl echauffieren sich die Juden wegen der Rede, denn obwohl sie sich praktisch bereits als Sieger wähnen dürfen – moralisch haben sie verloren. Die aktantielle Ebene der Handlung und ihre Axiologie treten auseinander. Der Kasus scheint entschieden. In der erzählten Wirklichkeit zeigt sich: die Juden hatten offenbar Recht. Aber in der Rede Silvesters liegt eine für sie provozierende Wahrheit, die praktisch unantastbar ist. Daraufhin erlöst Silvester die Ungläubigen gewissermaßen aus diesem Spannungszustand. Er befiehlt dem wilden Bullen, im Namen Gottes aufzustehen (V. 5093-5113), was dieser auch tut, wobei er sich zugleich sanft wie ein Lamm verhält. Die Nicht-Christen fallen Silvester zu Füßen und lassen sich taufen (V. 5132-5162). Dieses Ende hat eine gewisse Ironie, denn das praktisch gut funktionierende Wunder widerspricht der Lehre, die Silvester selbst gegeben hat. Solche Ironie ist zweifellos ein Indiz der Literarizität. Offensichtlich dient das Ende vor allem dazu, das typologische Verfahren nochmals zu akzentuieren. Das Alte Testament wird durch das Neue Testament, die Sünde durch Tod und Auferstehung Christi als Lamm Gottes aufgehoben. Und ebenso wie das Heilsgeschehen des Neuen Testamentes die Heiligkeit Christi nicht ‚beweist‘, so kann auch hier durch das Wunder der Wiederbelebung des Bullen die Macht des Christentums nicht praktisch bewiesen werden. Die Frage nach der Art des Beweisens betrifft die narrative Struktur des Textes als Ganzes: Das Wunder muss erzählt werden, um weiter wirken zu können. Damit ist es Teil einer narrativen Struktur, aber es ist nicht schon kausal zu fassen, und es hebt die narrative Struktur auf, der es _____________ 47

Das Problem, dass für ein rational-kausales Denken Wunder und Magie zusammenfallen, kehrt auf der Ebene der wissenschaftlichen Ansatzbildung wieder bei STROHSCHNEIDER (Anm. 18), der zum Umgang mit Reliquien grundsätzlich formuliert: „Aus der Sicht neuzeitlicher wissenschaftlicher Rationalität wäre solche Praxis als magische zu beschreiben.“ (S. 112) Vgl. auch die Interpretation des heiligen Leichnams als „magischer Helfer“ (S. 138 u. ö.).

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entstammt. Das Wunder wäre demnach die radikale Entgrenzung der Geschichte. Doch umgekehrt macht erst die Erzählung das Wunder interpretierbar: als wirksamer, freigesetzter Überschuss eines konnektivfiguralen Prinzips, das in der Geschichte schon vorgängig wirksam ist, das mit der Kausalität von Handlungsabläufen zusammenspielt, aber das Kausale letztlich auch übersteigt. V. Ich versuche eine Zusammenfassung, zunächst mit Blick auf den literarischen Status des Textes und dann mit Blick auf mögliche Schlussfolgerungen für das Problem einer so genannten ‚historischen Narratologie‘. Gut narratologisch gesagt, erweist sich die Silvestererzählung Konrads als eine ‚Metalegende‘. D. h. sie diskursiviert ihr eigenes Erzählverfahren auf unterschiedlichen Ebenen, ohne deshalb fiktional zu sein.48 Weil der damit vorgeschlagene Begriff des metalegendarischen Erzählens die unnötige Vermischung von Fiktionalität und Diskursivität vermeidet, zielt er nicht nur auf die literarische Qualität von Konrads Silvestererzählung, sondern er könnte zugleich eine terminologische Lücke im Umgang mit Erzählungen vom Heiligen schließen. Denn einerseits würden in das von hier aus anzusetzende, weitere Spektrum des Metalegendarischen jene bislang nur schwer klassifizierbaren, weltlichen Erzählformen vom Heiligen gehören, die das Problem der Heiligkeit diskursiv ausstellen, ohne deshalb selbst schon legendarisch zu wirken. Andererseits wäre mit dem Metalegendarischen aber auch das Spezifikum gerade jener literarisch-reflexiven Sonderformen von Legenden zu fassen, die ihre eigenen Interpretationsmuster diskursiv oder metaphorisch ausstellen, ohne damit den Bereich der legendarischen Verbindlichkeit zu verlassen. Konrads Silvester wäre dann aber zweifellos ein zentraler Punkt im Feld dieses näher zu beschreibenden metalegendarischen Diskurses, weil er seine beiden Entwicklungsrichtungen repräsentiert. Einerseits werden in Konrads Erzählen alle Fragen narrativ prozessiert, die eine Legende aufwirft: Was ist eine Legende? Welche Typen von Legenden gibt es? Wie wirkt eine Legende? Was ist ein Heiliger? Was ist das Problem der narrativen Erfassung und Präsentation des Heiligen? Welche Auslegungsmuster sind in der Legende vorgängig wirksam? Oder _____________ 48

Zu den theoretisch möglichen Ebenen solcher Diskursivierungen und der daran jeweils unterschiedlich anzuknüpfenden, d. h. notwendig im Detail verwirrenden Terminologie die zusammenfassenden Klarstellungen bei MONIKA FLUDERNIK: Metanarrative and Metafictional Commentary. From Metadiscursivity to Metanarration and Metafiction. In: Poetica 35 (2003), S. 1-39, mit einem Modellvorschlag S. 29.

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zusammenfassend: Wie soll man Legenden lesen? Anschließend an diese letzte Frage muss man wohl sagen: Im genauen Wortsinne des Lateinischen legendum liefert Konrads Erzählung die Legende zur Legende. Andererseits treibt gerade Konrads Silvestererzählung im Rahmen des Narrativs vom Heiligen einen Scheinwiderspruch hervor, der für das weltliche Erzählen genauso gilt, aber hier nur latent bleibt. Ebenso wie für den Umgang mit der Heiligkeit aus weltlicher Sicht generell das Paradox entsteht, dass „Heiligkeit einerseits eine Distanzkategorie ist, andererseits eine Teilhabekategorie“, so stellt auch das Erzählen, wenn es den Heiligen zum Protagonisten einer Geschichte macht, die eigene paradoxe Verfassung geradezu aus.49 Auch die narrative Struktur operiert mit Differenzkategorien, ist aber zugleich auf eine Identitätslogik angewiesen; sie erzeugt ihren Sinn mit Hilfe sprachlicher Zeichen, aber dies beruht auf der vorgängigen Wirksamkeit von Bedeutungen. Diese werden in der narrativen Struktur unmittelbar wirksam, sie sind Teil eines symbolischen Prinzips, das einen direkten Zusammenhang zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten verspricht. Wenn man die vorgängig wirksame, symbolische Konnektivität, wie sie historisch besonders in der christlichen Figuraldeutung greifbar wird, zu ignorieren versucht, gerät das Erzählen in einen logischen Zirkel, die Geschichte büßt ihre erklärende Kraft ein und wird auf ihre aktantielle, protonarrative Basis zurückgeworfen. Die Erklärungswirkung des Narrativen beruht also nicht schon auf kausalen Ableitungen, sondern sie beruht auf der Interpretation einer durch Wiederholung abgebildeten Identität. Diese Identitätsbehauptung ist mehr als eine paradigmatische Relation. Sie wäre vielleicht mit dem Begriff einer ‚erweiterten Metonymie‘ näher zu beschreiben, wie HARALD HAFERLAND dies vorgeschlagen hat.50 Damit gelangt man aber vollends in den Bereich des symbolischen Denkens. Nach diesen Befunden mag vielleicht auch eine allgemeine Schlussfolgerung zum Problem der ‚historischen Narratologie‘ erlaubt sein. Klassische Narratologien erweisen sich ganz zweifellos als nützliche Voraussetzungen, die Formen des symbolischen Denkens in narrativen Strukturen _____________ 49

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Zusammenfassend zum Problem SUSANNE KÖBELE: heilicheit durchbrechen. Grenzfälle von Heiligkeit in der mittelalterlichen Mystik. In: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit. Hrsg. von BERNDT HAMM/KLAUS HERBERS/HEIDRUN STEIN-KECKS, Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie 6), S. 147-169, bes. S. 148-151, zit. S. 149. KÖBELEs weitere Anregungen zu Grenzüberschreitungen in der diskursiven Sonderform der Mystik konvergieren in sehr aufschlussreicher Weise mit dem skizzierten Erzählproblem der Legende, und es wäre folglich eine weitere Diskussion wert, in wiefern narrative Paradoxien als Wahrnehmungs- und Deutungsformen genauer mit den von KÖBELE gezeigten Paradoxien der diskursiven Heiligung korrelieren. HAFERLAND, Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion (Anm. 14), zum Begriff S. 325f., zu seiner Verwendung zur Beschreibung von Heiligkeit S. 325f. sowie zur Beschreibung der Heiligenlegende am Beispiel der Eustachiuslegende S. 335.

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zu beschreiben, aber sie können, solange sie weitgehend dem Primat des strukturalistischen Zeichenbegriffs verhaftet bleiben, nicht hinreichend sein. Wenn darüber hinaus die Struktur der Geschichte stets eine symbolische Funktion im Sinne der hier gebotenen Skizze übernimmt, dann hätte der Begriff der Narratologie von seinem Anspruch her, eine streng rationale Theorie des Erzählens zu bieten, schon immer ein Problem. Im Begriff der historischen Narratologie verschärft es sich, weil im Begriff des Historischen der Begriff der Geschichte noch einmal enthalten ist, was hieße, dass auch das Historische im Rahmen einer Symbolstruktur zu denken wäre. Das Etikett einer ‚historischen Narratologie‘ wäre folglich grundsätzlich zu überprüfen. Doch ganz gleich, wie man sich zu solchen Einwänden verhält: In jedem Falle müsste die historische Variante des symbolischen Denkens, wie Konrads Silvester sie bietet, der wissenschaftlichen Epistemologie einer streng aufgefassten Narratologie suspekt sein. Polemisch könnte man darauf nach der Lektüre der Silvestererzählung mit ihrer narrativen Überwindung des rationalen Differenzdenkens entgegnen: Das ist kein Wunder.

BRIGITTE BURRICHTER

Fiktionalität in französischen Artustexten In seinem Buch über die Literaturtheorie im deutschen Mittelalter hat WALTER HAUG zu Chrétiens de Troyes Erec et Enide die These aufgestellt, dass es sich bei diesem Roman um das erste fiktionale Werk des nachantiken Europa handele.1 Diese These ist seither äußerst kontrovers diskutiert und vor allem von der germanistischen Mediävistik immer wieder zurückgewiesen worden. Auch im Rahmen einer Tagung zur historischen Narratologie müsste hinter dem Titel dieses Beitrages ein großes Fragezeichen stehen. Das Konzept der Fiktionalität unterliegt, wie auch andere Instrumente und Konzepte der Narratologie – und vielleicht noch mehr als die anderen im Rahmen dieser Tagung verhandelten – dem Verdacht, an mittelalterliche Texte ihnen fremde Maßstäbe anzulegen. Ich werde im Folgenden – im bewussten Rückgriff auf HAUGs Argumentation – noch einmal die Frage nach der Fiktionalität von Chrétiens Erec et Enide stellen. Dazu werde ich Chrétiens Prolog im Kontext anderer zeitgenössischer Prologe aus dem Umfeld Chrétiens betrachten. Zwei Aspekte sollen im Mittelpunkt meiner Studie stehen, zum einen der Umgang mit den Quellen und zum anderen die causa scribendi (in einem weit gefassten Sinn). Zunächst will ich aber den Begriff von Fiktionalität, den ich meiner Argumentation zugrunde lege, kurz umreißen. I. Fiktionalität Fiktionalität ist kein statischer Begriff, kein Befund, der für einen gegebenen Text je endgültig getroffen werden könnte. Ich möchte deshalb eingehend ganz kurz die Aspekte umreißen, die meinen Untersuchungen französischer arthurischer Texte des 12. Jahrhunderts zugrunde liegen. _____________ 1

WALTER HAUG: Chrétiens de Troyes Erec-Prolog und das arthurische Strukturmodell. In: DERS.: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985, S. 91-106.

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Brigitte Burrichter

In den gängigen – und griffigen – Definitionen der Fiktionalität kommen der Autor und der Rezipient gleichermaßen in den Blick, wobei der Rezipient offenbar entscheidend ist. Als „willing suspension of disbelief“ charakterisierte SAMUEL COLERIDGE die Lesehaltung, die fiktionalen Texten gegenüber angemessen ist.2 Die Ergebnisse der Tagung Poetik und Hermeneutik zur Fiktion, die im Tagungsband zusammengetragen sind,3 lassen sich auf die Formel des ‚fiktionalen Pakts zwischen Autor und Leser‘ bringen. Ob dieser Pakt geschlossen wird, hängt im Einzelfall letztlich vom Leser ab. Er kann ein fiktional intendiertes Werk auch als Lüge lesen oder als historisch zuverlässigen Faktenbericht; genauso kann er etwa einen Faktenbericht als Fiktion aufnehmen. Die Übergänge sind fließend. Auf der Grundlage dieses pragmatischen Fiktionalitätsbegriffs und unter der idealisierenden Annahme, dass der Leser der Intention des Autors folgt, zeigt sich in der mittelalterlichen Historiographie – wie bereits in der antiken – ein Autor-Leser-Verhältnis, das Ähnlichkeiten mit dem fiktionalen Pakt aufweist: Zwar sind die res factae der eigentliche Gegenstand der Historiographie und auf deren wahrheitsgetreuer Wiedergabe basiert die Glaubwürdigkeit des Werks, für den Ornat aber, der aus dem bloßen Faktenbericht eine Historia macht oder der die Fakten untermalt, gelten andere Regeln. Hier scheint es für den Verfasser und seine intendierten (zeitgenössischen) Leser selbstverständlich zu sein, dass – um den griffigen deutschen Titel von HAYDEN WHITEs Essays zu diesem Thema zu zitieren – Klio natürlich dichtet.4 Diese ‚Dichtung‘ ist nicht Lüge – das wäre sie nur, wenn sie sich als ‚Wahrheit‘ ausgeben würde. Sie ist aber auch nicht Fabel ohne jeden Bezug zur faktischen Realität, sondern argumentum: Erfindung im Dienst der historischen Wahrheit. Dies gilt vermutlich – idealtypisch – auch für die volkssprachliche Literatur, die sich als Geschichtstradierung versteht – und das ist der größte Teil der Literatur im französischen 12. Jahrhundert. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts entsteht aber – in der Volkssprache und schriftlich konzipiert – eine neue Art von Literatur, in der die res factae keinen Referenzpunkt mehr in der historischen Realität haben (und _____________ 2 3 4

SAMUEL COLERIDGE: Biographia Literaria (1817). Hrsg. von JOHN SHAWCROSS, 2 Bde., Oxford 1979, Bd. 2, S. 6. Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von DIETER HENRICH/WOLFGANG ISER, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10). HAYDEN WHITE: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Übers. von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann, Stuttgart 1986 (Sprache und Geschichte 10); orig.: Tropics of discourse: essays in cultural criticism, 1978; Vgl. zum Verhältnis von Historiographie und Fiktion in der Artusüberlieferung des 12. Jahrhunderts BRIGITTE BURRICHTER: Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jahrhunderts, München 1996 (Beihefte zu Poetica 21).

Fiktionalität in französischen Artustexten

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in denen dies auch nicht mehr behauptet wird). Die Frage ist, ob man diesen Texten – von Seiten des Autors wie von Seiten der Leser/Hörer – den Status der Fiktionalität zuschreiben kann. Wir haben für die mittelalterliche historiographische Literatur so wenig wie für die erzählende Literatur – um die es im Folgenden gehen soll – explizite Auskünfte über die Leserhaltung, die Hinweise auf einen ‚fiktionalen Pakt‘ geben. Die implizite Annahme einer Verständigung zwischen Autor und Leser darüber, wie Teile des Textes zu verstehen sind, stützt sich für die mittelalterliche lateinische Historiographie vor allem darauf, dass Autor und Leser ein vergleichbares Hintergrundwissen haben. Die Lektüre dieser Texte setzt Lateinkenntnisse und damit eine literarischrhetorische Grundbildung voraus, die das nötige Wissen für eine adäquate Rezeptionshaltung vermittelt – theoretisch jedenfalls. Bei den volkssprachlichen Texten entfällt diese Hürde, sie sind – sofern sie vorgelesen werden – jedem zugänglich. Man muss also wohl von einer großen Bandbreite an möglichen Rezeptionshaltungen ausgehen, die sich nicht mehr erschließen lässt. Aber vielleicht ist es auch für diese Texte gut, die Frage nach dem intendierten Publikum, für das sie ursprünglich verfasst worden sind, zu stellen, nach dem Publikum mithin, das der Autor kannte und dessen literarisches Vorwissen er einschätzen konnte. Mein Gegenstand werden im Folgenden Artuserzählungen des 12. Jahrhunderts sein. Das ‚Erstpublikum‘ dieser Texte lässt sich teilweise aus den Angaben in Prologen oder durch zeitgenössische Zuschreibungen recht gut rekonstruieren. Waces Roman de Brut von 1155, ein frühes volkssprachliches Geschichtswerk, war für die englische Königin Aliénor geschrieben,5 Chrétiens de Troyes Lancelot wird von ihm als Auftragswerk für Aliénors Tochter aus erster Ehe,6 Marie de Champagne, präsentiert. Man kann vermuten, dass auch die anderen Romane, mit Ausnahme des Perceval, am Hof oder für den Hof der Champagne in Troyes, verfasst worden sind.7 Es ist also ein überschaubares, höfisches Publikum, und es ist, nach allem was wir wissen, auch ein sehr anspruchsvolles. Aliénor und ihr Mann, König Heinrich II. Plantagenêt, waren hoch gebildet, für Aliénors Kinder ist dies anzunehmen. Die frühe französische Artusliteratur – wir bewegen uns in der Zeit zwischen 1155 und etwa 1180 – war also wohl für ein literarisch gebildetes Publikum verfasst, das z. B. _____________ 5 6 7

So zumindest die Auskunft von Layamon: Brut or Chronicle of Britain. A Poetical Semi-Saxon Paraphrase of the Brut of Wace. Hrsg. von FREDERIC MADDEN, London 1847, V. 37-44. Chrétien de Troyes: Le chevalier de la charrete (Lancelot). Hrsg. von MARIO ROQUES, Paris 1983 (Les classiques français du Moyen Âge 86), Prolog. A companion to Chrétien de Troyes. Hrsg. von NORRIS J. LACY/JOAN TASKER GRIMBERT, Cambridge/New York 2005.

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auch mit den Rezeptionsgewohnheiten der lateinische Historiographie vertraut war.8 Für dieses Publikum kann man vielleicht davon ausgehen, dass es die Werke Chrétiens als fiktionale Werke im oben skizzierten Sinn gelesen hat, bei den weniger gebildeten Rezipienten außerhalb dieses elitären Zirkels ist dies eher zweifelhaft. Die Quellenlage über die konkrete Rezeption von narrativen Werken ist für das französische Mittelalter nicht sehr gut. Ich möchte daher diesen Aspekt nur kurz anreißen und mich dann der enger gefassten Frage zuwenden, ob sich in den Texten selber, also auf der Produzentenseite, Hinweise auf eine intendierte oder vielleicht sogar explizite Fiktionalität finden lassen. Solche Hinweise sind – aus meiner Sicht – zunächst Äußerungen der Autoren, die darauf schließen lassen, dass sie sich selber bewusst sind, welchen Status ihre Erzählung hat. Dazu zählen aber auch explizite Hinweise auf die literarische Konstruktion der Erzählung, die eine Zuordnung zu den gängigen, über ihre Referenzebene definierten Gattungen ausschließen. Solche Gattungen wären in der altfranzösischen Literatur die auf die historische Faktizität verweisende chanson de geste und Geschichtswerke, daneben auch die auf Heilsoffenbarung bezogenen Heiligenlegenden und die auf die antike, beglaubigte Überlieferung basierten Antikenromane. Ich möchte meinen weiteren Ausführungen eine kurze lexikalische Bemerkung voranschicken. Ich verwende der Einfachheit halber die Begriffe ‚Literatur‘ und ‚Gattung‘ in ihrem heutigen Verständnis, wohl wissend, dass dies nicht mit dem mittelalterlichen gleichzusetzen ist. Problematisch, aber nicht zu umgehen, ist der Begriff ‚Roman‘. Der altfranzösische Terminus roman, der in vielen Titeln vorkommt, hat nicht die Bedeutung des modernen Begriffs ‚Roman‘. Er bezeichnet ursprünglich einen aus dem Lateinischen oder – selten – aus einer anderen Sprache in die romanische Volkssprache übersetzten Text, der schriftlich vorliegt. Er lässt zunächst keinerlei Rückschlüsse auf Inhalt, Form oder Intention des betreffenden Werkes zu. Mit entscheidend für die Frage nach der Fiktionalität eines Werks ist aber auch die Frage nach seiner (intendierten) Referenzebene, die Frage mithin nach dem ‚Wahrheitsgehalt‘.

_____________ 8

Heinrich II. von England besaß ein Manuskript der Historia Regum Britanniae des Geoffrey of Monmouth, Étienne de Rouen verfasste für ihn den lateinischen Draco Normannicus.

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II. Der Wahrheitsgehalt der Texte Wahrheit ist ein schillernder Begriff, den ich hier ganz pragmatisch auf den einen, bereits angesprochenen Aspekt reduzieren möchte, ob sich für den Inhalt eines Werkes ein Referenzpunkt außerhalb dieses Werkes in der historischen oder heilsgeschichtlichen Realität angeben lässt. Wir ordnen heute die mittelalterlichen Werke mehr oder weniger befriedigend verschiedenen Gattungen zu, die unserem modernen Begriff der literarischen Gattung entsprechen, der seinerseits eng mit der Frage der Fiktionalität verbunden ist. Ich möchte versuchsweise mit den mittelalterlichen Zuordnungen beginnen, weil sie zwar nicht von Fiktionalität handeln, aber doch den Status von Texten mitdenken. Es wird sich dabei zeigen, dass mittelalterliche Autoren oder Kritiker zeitgenössische Werke zwar primär nach ihrem ‚Wahrheitsgehalt‘ beurteilen, dass sie die Relevanz dieses Kriteriums aber durchaus differenziert einschätzen. Es gibt aus dem späten 12. Jahrhundert einen expliziten Versuch, verschiedene Kategorien von erzählender Literatur zu unterscheiden. Ausgangspunkt ist dabei der Stoff, über den gehandelt wird und der den Charakter eines Werkes bestimmt. Es ist meines Wissens die früheste Systematik der volkssprachlichen Literatur: N’en sont que trois materes a nul home entendant: De France et de Bretaigne et de Romme la grant; Ne de ces trois materes n’i a nule samblant. Li conte de Bretaigne s’il sont vain et plaisant Et cil de Romme sage et de sens aprendant, Cil de France sont voir chascun jour aparant.9 Es gibt für einen verständigen Menschen nur drei Stoffe: / Den von Frankreich, den von der Bretagne und den vom großen Rom; / Nichts kommt diesen drei Stoffen gleich. / Die Erzählungen aus der Bretagne sind eitel und unterhaltsam / Und die von Rom weise und lehrreich, / aber die von Frankreich sind für immer wahr.

Unterhaltsam, aber ohne weiteren Wert sind die bretonischen Stoffe, lehrreich die antiken und wahr diejenigen, die die französische Geschichte zum Thema haben. Der Verfasser dieser Systematik erzählt natürlich selber eine wahre Geschichte. Es gibt aus dem letzten Drittel des 12. und dem Beginn des 13. Jahrhunderts mehrere Autoren ‚wahrer‘ Werke, die dieses vain et plaisant der matiere de Bretaigne aufgreifen. Sie sind sich alle einig, dass die Geschichten von Marie de France oder Chrétien de Troyes _____________ 9

Jehan Bodel: Saisnes (1196?), zitiert nach: Französische Literarästhetik des 12. und 13. Jahrhunderts. Hrsg. von ULRICH MÖLK, Tübingen 1969, S. 6f., V. 6-11. Ich zitiere im Folgenden die altfranzösischen Texte nach MÖLKS Sammlung, die Übersetzungen sind, sofern nichts anderes angegeben ist, von mir.

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– beide werden ausdrücklich genannt – Lügen oder Phantastereien sind. Alle beklagen dabei aber auch, dass das Publikum diese Geschichten liebt. Keiner wirft seinen Zuhörern allerdings vor, dass sie diesen Geschichten Glauben schenken.10 Dieser kurze Blick auf die zeitgenössische Kritik gibt einen ersten Hinweis, welche Kriterien die Vertreter der ernsthaften Gattungen – chanson de geste und Heiligenvita – im 12. Jahrhundert anlegen: Es ist der Stoff, der entscheidend ist. Ich folge ihnen insofern, als ich mich im Folgenden auf die matière de Bretaigne beschränke. Als wohlwollende Leserin sehe ich die vanitas der bretonischen Erzählungen allerdings natürlich wesentlich differenzierter. Ich gehe bei meinen Untersuchungen der bretonischen Texte von dem Werk aus, das sehr deutlich als – nicht nur inhaltliche – Quelle für den ‚historischen Rahmen‘ der arthurischen Erzählungen gedient hat, den Roman de Brut von Wace. Der Roman de Brut ist eine volkssprachliche, anglonormannische Bearbeitung der lateinischen Artusgeschichte. Im Wesentlichen geht sie auf die Historia regum Britanniae des Geoffrey of Monmouth (etwa 1135/36 verfasst) zurück. Es ist also ein Werk, das mit Sicherheit keiner wie auch immer gearteten ‚intendierten Fiktionalität‘ verdächtigt werden kann, sondern als ernstzunehmender historiographischer Text verstanden werden will. Wace schmückt seinen Bericht reichlich aus und amplifiziert den bereits bei Geoffrey beträchtlichen Anteil des Ornats. Genauso wie die lateinisch schreibenden Historiographen der Artusgeschichte grenzt auch er sich von Erzählungen ab, die seiner Meinung nach nicht in den Bereich des Historiographen fallen. Während seine lateinisch schreibenden ‚Kollegen‘, z. B. Wilhelm von Malmesbury, dabei die volkstümlichen Geschichten als Lügen abtun, sieht Wace sie differenzierter. Diese Geschichten – Wace spricht von conte oder von aventure – spielen sich zunächst in historiographisch ‚leeren‘ Zeiten ab, in der langen Friedenszeit, in der sich im Artusreich nichts Berichtenswertes ereignet:11 En cele grant pes que je di, Ne sai se voz l’avez oï, furent les mervoilles provees, Et les aventures trovees Qui d’Artur sont tant recontees Que a fables sont atornees12

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Bekannteste Beispiele sind Denis Piramus und der anonyme Verfasser der Vies des Pères, In: MÖLK (Anm. 9), S. 92f. und S. 94f. Auch die zweite lange Friedenszeit ist eine Zeit der mervoille: Es nuef anz que il [Artus] France tint / Mainte mervoille li avint zitiert nach: Wace: La partie arthurienne du Roman de Brut (Extrait du manuscrit B.N. fr. 794). Hrsg. von ANTHONY J. HOLDEN und MARGARET PELAN, Paris 1962, V. 1601f. Hier, V. 1245-1252.

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In diesem großen Frieden, von dem ich gesprochen habe, / ich weiß nicht, ob Ihr davon gehört habt, / wurden die wunderbaren Geschichten erwiesen / und die Abenteuer gefunden, / die von Artus so viel erzählt werden, / dass sie zu Fabeln geworden sind.

Diese Geschichten sind nicht einfach erfunden, sondern haben einen unsicheren Status. Sie werden mündlich überliefert, und die Form der Überlieferung wirkt sich auf die Form des Erzählten aus. Durch das Wieder- und Wiedererzählen verändern sich die ursprünglichen Ereignisse so sehr, dass sie schließlich alle als Fabeln, als unwahre Geschichten erscheinen. Allein ihre Herkunft aus der faktischen Realität oder vielleicht auch aus der Ausschmückung historischer Ereignisse verhindert, dass sie ganz dem Bereich der sinnlosen Fabel zugeschlagen werden. Wace beschreibt den Status und den Prozess der Veränderung dieser contes so: Ne tot mançonge ne tot voir, Ne tot folor ne tot savoir. Tant ont li contëor conté E li fablëor tant fablé Por lor contes anbeleter, Que tot ont fet fable sanbler.13 Nicht ganz Lüge und nicht ganz Wahrheit, / nicht ganz Dummheit und nicht ganz Wissen. / Die Erzähler haben so viel erzählt / und die Fabulierer so viel fabuliert, / um ihre Geschichten zu verschönern, / dass deswegen alles wie eine Fabel aussieht.

In ihrer gegenwärtigen Form nehmen die contes eine Zwischenposition ein, oszillieren zwischen historischer Faktizität und bloßer Erfindung. Dies ist das Resultat der mündlichen Überlieferung, in denen die Geschichten dem Belieben und Bemühen der Spielleute ausgesetzt waren. Wace zeigt mit diesen Ausführungen ganz deutlich, dass es – bei den professionellen Schreibern jedenfalls – ein Bewusstsein dafür gab, dass es zwischen ‚wahren‘ Berichten, die einen Referenzpunkt in der faktischen Geschichte (oder auch in der Heilswahrheit) haben und Fabeln ohne einen solchen Referenzpunkt noch ein Drittes gibt. Der Bezug dieses ‚Dritten‘ zur historischen Faktizität ist zwar zweifelhaft, doch kann es innerhalb der Artusüberlieferung glaubhaft sein. Es muss mangels Belegen dahingestellt bleiben, wie die contëor und fablëor ihre Erzählungen präsentiert haben. Denkbar ist, dass sie nicht anders als ihre Kollegen, die Stoffe der matière de France vorgetragen haben, auf der Wahrheit des Berichteten insistierten.14 Für Zuhörer wie Wace waren sie allerdings vorrangig ein ästheti-

_____________ 13 14

Hier, V. 1253-1258. Vgl. dazu die Prologe zu chansons de geste in MÖLK (Anm. 9), S. 1-18.

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sches Vergnügen, ihr Gegenstand ein bel fait […] ki bon sereit et bel a dire,15 eine schöne Begebenheit, die gut und schön zu erzählen wäre – wenn sie denn in einem historiographischen Bericht zu rechtfertigen wäre. Denn wenn Wace auch diese Geschichten nicht als Lügen abtut, wie seine lateinisch schreibenden Kollegen, sondern sich bemüht, ihren besonderen Status zu beschreiben, so steht für ihn doch fest, dass die Geschichten der contëor und fablëor grundsätzlich vom historiographischen Bericht ausgeschlossen sind. Wace expliziert die klare Trennung von Historiographie und nichthistoriographischer Artusüberlieferung noch ein weiteres Mal. In seinem zweiten historischen Werk, dem Roman de Rou, berichtet er, dass er als Historiker die Wunderquelle von Broceliande suchen wollte. Rückblickend stellt er fest, dass es sinnlos war, das arthurische Wunderbare mit dem Blick des Historikers suchen zu wollen: La alai io merveilles querre, Vi la forest e vit la terre, Merveilles quis, mais nes trovai, Fol m’en revinc, fol i alai, Fol i alai, fol i revinc, Folie quis, por fol me tinc.16 Dorthin ging ich, um Wunder zu suchen, / ich sah den Wald und ich sah das Land, / Wunder habe ich gesucht, aber ich habe keine gefunden. / Dumm bin ich zurückgekommen, dumm bin ich hingegangen / dumm bin ich hingegangen, dumm bin ich zurückgekommen, / Dummheit habe ich gesucht, für dumm halte ich mich.

Unterschiedliche Inhalte, so lässt sich Waces Position resümieren, erfordern unterschiedliche Herangehensweisen. Die historischen Fakten müssen der Überprüfung standhalten, ihre erhaltenen Spuren verifizierbar sein.17 Die aventures und merveilles der Artusüberlieferung wollen – wo sie nicht mehr Mythos, sondern conte sind – ästhetisch genossen werden. _____________ 15

16 17

Roman de Rou. In: Wace: La partie arthurienne du Roman de Brut (Extrait du manuscrit B.N. fr. 794). Hrsg. von IVOR ARNOLD und MARGARET PELAN, Paris 1962 (Bibliothèque française et romane: Sér. B, Textes et documents 1), V. 345f. Das bon in der Fügung ist hier, wie an anderen Stellen, rein ästhetisch gemeint und hat keine moralische Implikation; vgl. etwa, ebenfalls im Roman de Rou. In: MÖLK (Anm. 9), S. 99, die Klage Waces, man speise ihn mit einem Lob ab, anstatt ihm wirkliche Ehre zu erweisen: Tart truverei […] ki nule autre honur me face / Fors tant: mult dit bien Maistre Wace; / Vus devriez tuz tens escrire, / Ki tant savez bel e bien dire, V. 154-160; „Ich werde kaum jemanden finden […] der mir eine andere Ehre erweist als nur [zu sagen]: Meister Wace spricht sehr gut; Ihr müsstet dauernd schreiben, so schön und gut versteht Ihr zu sprechen“. Roman de Rou. In: MÖLK (Anm. 9), S. 100, V. 6415-6420. In dieser Perspektive fügt sich die vergebliche Verifizierung des Quellenwunders in die realistischen, auf eigene Beobachtung gestützten Beschreibungen ein, die im 12. Jahrhundert in der anglonormannischen Historiographie zu finden sind, vgl. dazu ANTONIA

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Solche Artusgeschichten, die weder ganz Lüge noch ganz Wahrheit sind, sondern zwischen beidem stehen, werden von den Verfassern der frühen volkssprachlichen Texte als Quellen für ihre Werke angegeben. Deren Haltung zu ihren Quellen ist nicht einheitlich. Einige – unter denen ich Marie de France als Beispiel untersuchen werde – betonen den Wahrheitsgehalt ihrer Quellen und präsentieren sich als getreue Bearbeiter der überlieferten Geschichten in einer anderen Sprache, eben dem romanz. Andere kritisieren die Geschichten der contëor und fablëor und versichern, selbst die wahre Version zu kennen.18 Die dritte Haltung ist diejenige Chrétiens de Troyes, der aus diesen Geschichten Texte schafft, die man vielleicht als fiktional bezeichnen kann. Die zweitgenannte Möglichkeit, das bloße Zurückweisen von konkurrierenden Versionen, ist in unserem Kontext wenig ergiebig. Anders ist es mit der Position Maries de France, deren Umgang mit den – aus ihrer Sicht – verlässlichen mündlichen Quellen das besondere Herangehen Chrétiens deutlich zeigen wird. III. Die Aufwertung der mündlichen Überlieferung Ungefähr zur selben Zeit, in der Chrétien de Troyes seinen Erec verfasst hat – zwischen 1165 und 1170 –, hat Marie de France eine Sammlung von bretonischen Lais aufgezeichnet, die sie ins Anglonormannische übertragen hat. Im Prolog geht sie auf die Überlieferungsgeschichte und auf ihre eigene Tätigkeit ein. Wie Wace sieht sie die bretonischen Lais als mündliche Überlieferung von aventures, anders als Wace problematisiert sie diese Überlieferungsform aber nicht: Des lais pensai k’oï aveie; Ne dutei pas, bien le saveie, Ke pur remambrance les firent Des aventures k’il oïrent Cil qui primes les comencierent E qui avant les enveierent.19 An die Lais habe ich gedacht, die ich gehört habe; / ich zweifelte nicht daran und wusste wohl, / dass diejenigen sie zur Erinnerung / an die Abenteuer gemacht haben, die sie hörten, / die sie zuerst angefangen haben / und sie weitergetragen haben.

_____________ 18 19

GRANSDEN: Realistic Observation in Twelfth-Century England. In: Speculum 47 (1972), S. 29-51, bes. S. 34-36. Vgl. etwa Béroul: Tristan, In: MÖLK (Anm. 9), S. 29, oder Thomas: Tristan, Fragment Douce, In: MÖLK (Anm. 9), S. 31. Marie de France: Les Lais de Marie de France. Hrsg. von JEAN RYCHNER, Paris 1981 (Les classiques français du Moyen Âge 93), Prolog V. 33-38.

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In den kurzen Prologen, die sie den einzelnen Lais voranstellt, betont sie immer wieder die ‚Wahrheit‘ des Berichteten.20 Sie selber reiht sich in die Reihe derjenigen ein, die die Erinnerung an die Abenteuer weitertragen: M’entremis des lais assembler, par rime faire reconter.21 Ich habe es unternommen, die Lais zusammenzustellen / (und) sie in Reimen weiterzuerzählen.

Ihre Arbeit umreißt sie mit dem Reimen und In-Verse-Setzen der Lais, die sie gehört hat, mit einem doppelten Übersetzen also: vom Bretonischen ins Altfranzösische und von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Sie weist damit Waces Charakterisierung der mündlichen Überlieferung zurück und sieht das conter und anbeleter (hier: in Reime und Verse setzen) im Dienst der Wahrheit. Es ist hier unerheblich, wie weit Marie durch ihr Reimen in ihre Quellen eingegriffen hat. Wichtig scheint mir, dass sie den Wert ihrer Quellen sehr hoch schätzt. Diese Wertschätzung der bretonischen Stoffe drückt sich im Prolog nicht nur in der Wahrheitsbekundung aus. Marie gibt dort einen Einblick in ihre Vorüberlegungen. Sie wollte eigentlich, so sagt sie, lateinische Texte übersetzen, aber da das schon so viele machen, fiel ihre Wahl auf die Lais. Die bretonischen Stoffe stehen damit auf einer Ebene mit den lateinischen. Dies ermöglicht es Marie, im Prolog zu den Lais auf die gelehrte Tradition zurückzugreifen und Priscians Äußerungen zur antiken Literatur anzuführen. Sie zitiert ausführlich die Praxis der antiken Autoren, bewusst dunkel zu schreiben, damit die Nachwelt etwas zu entdecken habe und die Texte je neu interpretieren könne. Dabei erklärt sie zwar nicht explizit, dass auch ihre Lais solch dunkle Texte seien, aber es liegt nahe, ihr aus der Priscianstelle entwickeltes Modell des doppelten Schriftsinns – Literalsinn und surplus der Interpretation – auch auf ihre Lais zu beziehen. Die bretonischen Geschichten sind also auch im Hinblick auf die Rezeption den lateinischen ebenbürtig. Maries Verhältnis zu ihren Quellen entspricht damit demjenigen der Verfasser antiker Romane. Sowohl der anonyme Autor des ThebenRomans als auch Benoît de Sainte-Maure argumentieren mit der Verlässlichkeit ihrer Quellen und sehen sich als Bearbeiter derselben im Kontext des romanz.22

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Z. B. Guigemar : Les contes que jo sai verrais, / Dunt li Bretun unt fait les lais, V. 19f. Hier, V. 47f. Vgl. die Vorworte in MÖLK (Anm. 9), S. 33 und S. 24-28. Benoît diskutiert ausführlich die Quellenlage (V. 44-131) und entscheidet sich begründet für einen Gewährsmann (V. 94-116).

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IV. Die Transformation der mündlichen Überlieferung Chrétiens de Troyes Einschätzung seiner Quellen unterscheidet sich grundlegend von derjenigen Maries, am deutlichsten in seinem ersten Roman, Erec et Enide. Chrétien treibt in seiner Kritik an den contes d’aventure Waces Konzept des mündlichen Erzählens auf die Spitze: Das Fabulieren, Erzählen und Ausschmücken der ursprünglichen Geschichte löst diese schließlich völlig aus ihrem früheren Zusammenhang und verändert sie so sehr, dass dieser ursprüngliche Kontext verloren geht. Die Geschichten werden zum Fundus, über den frei verfügt werden kann. Die Berufserzähler sind in Chrétiens Augen nicht in der Lage, über die bloße Abenteuergeschichte hinauszugehen und die verloren gegangene Bindung und Sinngebung durch etwas entsprechendes Neues zu ersetzen. Genau dies ist nun Chrétiens Programm. Seine mout bele conjointure wird aus dem wertlos gewordenen Stoff eine Geschichte schaffen, die bis zum Jüngsten Tag Bestand haben wird. Er hat dabei nicht vor, die ursprüngliche Geschichte zu restituieren, ihr die verloren gegangene Einheit wiederzugeben. Sein Unterfangen soll aus den disparaten, sinnlosen Bruchstücken der Geschichte von Erec, dem Sohn des Lac, eine völlig neue Art von Erzählung machen. Diese neue Erzählung ist auf die Fixierung durch die Schrift angewiesen, um sie vor dem zerstörenden Zugriff der freien Tradierung zu entziehen. Der Begriff der bele conjointure ist – dies ist hinreichend bekannt – einerseits vieldiskutiert und nicht klar zu fassen, andererseits aber natürlich das Kernstück jeder Auseinandersetzung mit Chrétiens Werk und Grundlage der These von der Fiktionalität seiner Erzählungen. Die bele conjointure gehört in den engeren Bereich der Narratologie. Er betrifft zunächst die Ebene der histoire, die dispositio. Dafür spricht, neben der Wortbedeutung der ‚Zusammenfügung‘ auch, dass die bele conjointure dem depecier et corronpre der jongleure entgegengesetzt ist. Genauso aber zeichnet sich auch die Ebene des discours durch die bele conjointure aus. Die konkrete sprachliche Realisierung der einzelnen Episoden stellt nicht weniger als deren Anordnung eine enge Verbindung zwischen ihnen her. Dieser doppelte Aspekt der bele conjointure verweist möglicherweise auf den Ursprung des Terminus. Im Altfranzösischen ist das Wort conjointure extrem selten. Chrétiens Verwendung dürfte der älteste Beleg sein.23 Als mögliches lateinisches Vorbild wird in der Forschung die callida iunctura _____________ 23

Vgl. den entsprechenden Eintrag in ALGIRDAS JULIEN GREIMAS: Dictionnaire de l’ancien français, Paris 1999 (Trésors du français).

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aus der Ars poetica des Horaz diskutiert.24 Problematisch scheint, dass Horaz die callida iunctura nur für die Wortbildung einfordert und auch Cicero die iunctura nur auf die Syntax ausweitet. Andererseits hat DOUGLAS KELLY gezeigt, dass lateinisch schreibende Autoren aus dem Umfeld Chrétiens den Terminus iunctura auf die dispositio des Textes anwenden.25 Da Chrétien die bele conjointure für sich auf allen Ebenen des Textes reklamiert, scheint mir der Rückgriff auf Horaz und wohl auch auf die zeitgenössischen Poetiken plausibel. Auch die Ersetzung von callida durch bele lässt sich erklären: während Horaz den Prozess des Schreibens thematisiert, für den er gewitzte (oder geistreiche) Wortschöpfungen verlangt, präsentiert Chrétien das Ergebnis seiner Bemühungen, die schöne, gelungene Zusammenfügung. Der Terminus könnte in diesem Fall noch mehr leisten: Er könnte als Entsprechung zu Maries PriscianVerweis gelesen werden und würde so die Rückbindung des eigenen Schreibens an die lateinische Tradition garantieren. Chrétiens Arbeit setzt also, dies zumindest verdeutlicht der Fachterminus, anders als die Maries, nicht erst auf der Ebene des discours, der elocutio, ein. Er nimmt die einzelnen Elemente der überlieferten Geschichte quasi als Verfügungsmasse, mit der er nach eigenem Gutdünken umgehen kann und die er neu komponiert, um daraus eine ganz neue Geschichte zu machen. Chrétien ist vermutlich nicht der einzige, der so vorgeht. Im Gegensatz zu den gescholtenen Berufserzählern aber reflektiert er sein Vorgehen. Und im Gegensatz zu allen Zeitgenossen, die sich im großen Fundus der Geschichten bedienen, diskutiert er es im Prolog und legt seine Prinzipien im Umgang mit den Geschichten offen. Diese Ausdrücklichkeit verändert sowohl den Status seines Materials als auch den seiner Erzählung. Die völlige Lösung aus der Überlieferung und der völlige Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch verleihen dem Ausgangsmaterial einen Charakter, der Ähnlichkeit mit dem Inhalt des rhetorischen Ornats in der Geschichte hat: wie dieser hat es keine Referenz außerhalb des Werkes, wie dieser beansprucht es ihn aber auch nicht. Und sowenig das Wissen um den fehlenden Realitätsbezug die Rezeption des rhetorischen Beiwerks beeinflusst, sowenig spielt der Status der Abenteuergeschichte eine Rolle für die neue Erzählung. _____________ 24

25

si callida verbum / reddiderit iunctura novum. Horaz: Ars poetica, V. 47f., ähnlich auch V. 242f. (meine Herv.). Zu Horaz als Vorbild für den Terminus bele conjointure siehe insb. DOUGLAS KELLY: The Source and Meaning of conjointure in Chrétien’s Erec 14. In: Viator 1 (1970), S. 179-200 (dort auch ein Überblick über die ältere Forschung); DERS.: The Art of Medieval French Romance. Madison, Wis. 1992, S. 15-31; CLAUDIA VILLA: Per Erec, 14: Une mout bele conjointure. In: Studi di filologia medievale offerti a D’Arco Silvio Avalle, Mailand, Neapel 1996, S. 453-466. Vgl. zur Diskussion der bele conjointure auch BURRICHTER (Anm. 4), S. 138f. KELLY: The Source (Anm. 24), S. 180-186.

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Doch während der rhetorische Schmuck der Historiographen im Dienst der Wahrheit steht und innerhalb der Gattungskonvention seinen Platz hat, präsentiert sich Chrétiens Ergebnis der bele conjointure als autonomes Werk. Chrétien nennt keinen höheren Sinn, keine irgendwie geartete Wahrheit, die durch sein Werk erklärt würde. Es ist einzig und allein die narratologische Leistung des Autors, die es der Erinnerung würdig macht.26 Besonders sinnfällig wird diese ‚Leerstelle‘, wenn man die Prologe zu Gautiers d’Arras Ille et Galeron oder zum anonymen Partonopeu de Blois zum Vergleich heranzieht, die etwa zur selben Zeit und im selben Umfeld entstanden sind und beide auf dem moralischen Nutzen der Werke insistieren.27 Ich möchte diesen Aspekt mit der genauen Lektüre des Prologs unterstreichen. Auf den ersten Blick – und, soweit ich sehe, in den gängigen Interpretationen – bereitet dieser Prolog, abgesehen von der bele conjoiture, keine Probleme. Er beginnt mit einem Sprichwort, nennt die causa scribendi, grenzt sich von ‚Kollegen‘ ab und schließt mit der Wertschätzung des eigenen Werks. Bei genauerer Betrachtung weicht allerdings das topische Argument der causa scribendi deutlich von der üblichen Ausformulierung ab und verlohnt daher eine genauere Analyse. 28 Die causa scribendi ist in den meisten zeitgenössischen Prologen zweigeteilt. Zum einen berufen sich die Autoren auf die Verpflichtung, das ihnen von Gott gegebene Wissen zu nutzen und zu schreiben. Zum anderen begründen sie ihr Schreiben mit dem Auftrag, ein Werk oder einen Stoff zu tradieren oder den nicht des Latein Kundigen in einer Übertragung zugänglich zu machen. Hinsichtlich des ersten Teils fügt sich Chrétien in die zeitgenössische Tradition ein, wenn auch mit einer leichten Verschiebung. Maries Version repräsentiert sozusagen das Muster: Qui Deus ad duné escience E de parler bon’ eloquence Ne s’en deit taisir ne celer, Ainz se deit volunters mustrer.29 Wem Gott das Wissen gegeben hat / und das gute Reden / der darf nicht schweigen und sich nicht verstecken, / sondern muss sich gerne zeigen.

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Dies schließt nicht aus, dass der Roman auch in didaktischer, moralischer oder anderer Sicht gelesen werden kann. Wichtig scheint mir, dass der Autor sich auf keine derartige Lesart beruft. Vgl. Ille et Galeron. In: Gautier d’Arras, Ille et Galeron. Hrsg. von YVES LEFEVRE, Paris 1988), V. 23-32 ; Partonopeu de Blois. In: MÖLK (Anm. 9), S. 51-53, V. 93-135. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die Antikenromane, von denen der Roman de Thèbes und der Roman de Troie einen Prolog haben und auf Maries de France Lais, die als schriftlich konzipierte Werke im literarischen Anspruch Chrétiens Roman vergleichbar sind. Marie de France, Lais (Anm. 19), V. 1-4.

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Gottes Gabe erfordert das Schreiben.30 Chrétien leitet den Auftrag zum Schreiben zunächst aus dem Sprichwort her (V. 4-8) und tritt dann selbst als ‚Auftraggeber‘ auf: Por ce dist Crestïens de Troies que reisons est que totevoies doit chascuns panser et antandre a bien dire et a bien aprandre; (V. 9-13)31 Deshalb sagt Chrétien de Troyes, / dass es richtig ist, dass auf jeden Fall / jeder überlegen und es unternehmen muss, / gut zu sprechen und gut zu lehren.

Erst in einer dritten Argumentationsschleife verweist er dann auf Gott (V. 18). Komplexer als der Verweis auf die Gabe Gottes als Verpflichtung zum Schreiben gestaltet sich in Chrétiens Prolog der zweite Aspekt der causa scribendi, der im Stoff begründet liegt. Seine Zeitgenossen beteuern in der Regel, einen guten und wertvollen Stoff zu bearbeiten. Der Verfasser des Roman de Thèbes erzählt eine chose digne de remembrer (V. 12), Benoît de Sainte-Maure eine estoire riche et granz (Roman de Troie, V. 40), um nur die ‚gewichtigsten‘ zu nennen.32 Chrétien beginnt seinen Prolog dagegen mit dem Verweis auf das Sprichwort der einfachen Leute, demzufolge auch geringgeschätzte Dinge Wert haben können: Li vilains dit an son respit que tel chose a l’an an despit qui molt vait mialz que l’an ne cuide. (V. 1-3) Der einfache Mann sagt in seinem Sprichwort, / dass man manche Sache verachtet, / die mehr wert ist, als man glaubt.

Er kennzeichnet seinen Stoff damit vom ersten Vers an als wertlos – die überlieferte Erzählung, die er im Folgenden als Quelle angibt, begründet also nicht den Sinn des Unternehmens. Dieser ergibt sich erst aus der bele conjointure. Die bele conjointure ist damit kein Wert an sich, sondern sie ist Instrument: une bele conjointure par qu’an puet prover (V. 14f.; „eine schöne Fügung mit der man beweisen kann“). Es müsste nun eigentlich ein Hinweis auf das Produkt der Anstrengung folgen. Marie de France schreibt, um die Lais nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, Benoît de SainteMaure und Alexandre de Paris verfassen ihre Werke, damit auch diejenigen, die nicht des Lateinischen mächtig sind, die Geschichte von Troja _____________ 30 31 32

Statt Gott kann auch eine auctoritas genannt werden, etwa Salomon im Roman de Troie; vgl. MÖLK (Anm. 9), S. 24, V. 1. Alle Zitate aus Erec et Enide aus: Chrétien: Erec et Enide. Hrsg. von MARIO ROQUES, Paris 1968 (Les classiques français du Moyen Âge 80). Die Zitate sind aus MÖLK (Anm. 9), S. 23 bzw. S. 25. Die Spielleute betonen allesamt den Wert ihres Stoffes.

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bzw. Alexander33 lesen können – Chrétiens Argumentation dagegen läuft in gewisser Weise ins Leere. Mit der conjointure kann er beweisen – so der Prolog –, dass seine Eingangsbehauptung richtig ist: Por ce dist Crestïens de Troies que reisons est que totevoies doit chascuns panser et antandre a bien dire et a bien aprandre; et tret d’un conte d’avanture une molt bele conjointure par qu’an puet prover et savoir que cil ne fet mie savoir qui s’escïence n’abandone tant con Dex la grasce l’an done. (V. 1-10) Deshalb sagt Chrétien de Troyes, / dass es richtig ist, dass auf jeden Fall / jeder überlegen und es unternehmen muss, / gut zu sprechen und gut zu lehren / und zieht aus einer Abenteuergeschichte / eine sehr schöne Fügung, / mit der man beweisen und wissen kann, / dass derjenige nicht weise handelt, / der nicht von seinem Wissen Gebrauch macht, / soweit Gott ihm die Gnade dazu gibt.

Er ‚zieht‘ aus der Abenteuergeschichte eine bele conjointure, weil sich jeder bemühen muss, möglichst gut zu sprechen und zu vermitteln und beweist mit der bele conjointure, dass es Unrecht ist, seine Fähigkeiten brach liegen zu lassen. Es wird kein weiterer, im Stoff oder in der Bearbeitung liegender Nutzen angeführt – kein Bemühen um Tradierung oder ‚Popularisieung‘, kein Hinweis auf den lehrreichen (oder gelehrten) Aspekt des Werks. Bewiesen wird mit der bele conjointure nur, was sie veranlasst hat. Der einzige ‚Nutzen‘, den Chrétien im Prolog explizit angibt, ist das Gefallen, das der Text bereitet: […] qui son estuide antrelait, tost i puet tel chose teisir qui molt vandroit puis a pleisir. (V. 6-8) […] wer sein Bemühen unterlässt, / kann leicht etwas verschweigen, / das später sehr gefallen würde.

Das pleisir, durch Reimstellung hervorgehoben, steht unmittelbar vor der oben zitierten Begründung und leitet sie logisch ein. Es entsteht allein durch das Bemühen des Erzählers und resultiert allein aus der Erzählung selber. Dieses pleisir schließt ‚moralische‘ Lesarten nicht aus, verweist aber wohl doch in erster Linie auf das ästhetische Gefallen. Die Autonomie des Erzählten, die sich aus der zirkulären Argumentation des Prologs ergibt, scheint mir das wesentliche Merkmal von Chrétiens Werken zu sein. Der Wert des Erec beruht allein in seiner narra_____________ 33

Benoît de Sainte-Maure: Roman de Troie. In: MÖLK (Anm. 9), S. 25, V. 33-39; Alexandre de Paris: Alexandre, In: MÖLK (Anm. 9), S. 20, V. 30f.

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Brigitte Burrichter

tiven Realisierung, und diese bele conjointure nobilitiert den wertlosen Stoff so sehr, dass er – wie Maries Lais – sogar die gelehrte Überlieferung integrieren kann. Die Geschichte von Aeneas und Dido bzw. Aeneas und Lavinia wird geradezu zur figura der Beziehung zwischen Erec und Enide. Aeneas’ Liebe zu Dido wird der Spiegel für die absolut gesetzte Liebe Erecs zu seiner amie Enide. Aeneas’ Liebe zu Lavinia dagegen steht für die gesellschaftskonforme Liebe, die Erec erst finden muss. Enide vereinigt am Ende die Dido- und die Lavinialiebe: sie ist fame et amie (V. 4650f.). Erec und Enide übertreffen damit die Liebeskonzeption des antiken Prätextes. Aeneas musste zwischen Liebe und Ehe wählen, Erec und Enide vereinen beide Konzepte. Ähnlich sehe ich auch den Verweis auf Macrobius.34 Dank der bele conjointure hat Chrétien seinen Helden so weit geführt, dass er der Krönung durch das gelehrte Wissen würdig ist. Sinnfälliger Ausdruck dafür ist der Krönungsmantel. Das Vorbild dafür findet sich, so Chrétien, bei Macrobius. Der Verweis auf die schriftliche Quelle mag hier überraschen, zumal Chrétien nachgerade darauf insistiert. Aber der Verweis hat seine Logik. Chrétiens Erec ist ein explizit schriftlich konzipiertes Werk und es enthält als Folge der bele conjointure Elemente, für die es in der mündlichen Tradition keine Quellen gibt. Das (mögliche) Horaz-Zitat des Prologs und der Verweis auf Macrobius bilden die Klammer des neu geschaffenen Werkes. Das Bewusstsein, eine neue Art von Erzählung geschaffen zu haben, drückt sich auch in der Bezeichnung aus. Die strenge Komposition, die vor allem den Erec auszeichnet, gibt dem Werk einen im zeitgenössischen Kontext eigenständigen Charakter, der das Resultat der bele conjointure ist. Im Erec-Prolog gibt es noch keine eigene ‚Gattungsbezeichnung‘, aber die Verwendung der Termini scheint wohl überlegt. Wertloser Ausgangspunkt ist eine conte d’aventure, Chrétien dagegen beginnt mit der Erzählung seiner estoire. Estoire ist also etwas anderes als ein conte. Tatsächlich steht der Terminus zu Chrétiens Zeit fast ausschließlich für Texte, die sich an lateinischen Vorbildern orientieren. Der Begriff konnotiert offensichtlich einen höheren Anspruch als der des conte. Er leistet hier noch mehr: Auch Macrobius’ Buch ist eine estoire.35 Erec et Enide steht also auf einer Stufe mit dem gelehrten Werk. Bereits im Yvain verwendet Chrétien einen anderen Begriff und nennt sein Werk roman. Ganz offensichtlich hat hier eine Einengung und Bedeutungsverschiebung stattgefunden. Der ursprüngliche Aspekt der Übersetzung fällt weg, ein Roman ist – in Chrétiens Verwendung – ein Text in der Volkssprache, der bestimmte Merkmale aufweist: diejenigen der bele con_____________ 34 35

Erec, (Anm. 31), V. 6674-6681. Erec, (Anm. 31), V. 6674.

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jointure. Es gibt bei einem späteren Autor, Renaut de Beaujeu, eine Formulierung, die diese Engführung von Erzählprinzip und quasi Gattungsbezeichnung belegt. Renaut beschreibt seine Tätigkeit ganz ähnlich, wie Chrétien: auch er zieht etwas aus einer conte d’aventure – allerdings nicht mehr eine bele conjointure, sondern einen roman: veuil un romount estraire / d’un molt biel conte d’aventure heißt es bei ihm.36 Fast alle Texte, die im letzten Drittel des 12. und am Anfang des 13. Jahrhunderts als Roman bezeichnet werden, haben als Thema ein conte, also eine Gattung, die der matière de Bretagne zugerechnet wird und vain et plaisant ist. Chrétiens bele conjointure wird so zu einer Ausprägung der neuen Gattung Roman, die im Verständnis der altfranzösischen Autoren deutlich von der chanson de geste als epischer Gattung zu trennen ist. Kriterien sind der Inhalt und die vorhandene oder fehlende Referenz auf die historischen Fakten. Conte und Roman werden durch Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit unterschieden. Damit komme ich wieder auf die eingangs gestellte Frage nach der Fiktionalität zurück. Es gibt den Begriff im 12. Jahrhundert nicht, jedenfalls nicht in unserem Verständnis. Es gibt aber auf der einen Seite Autoren, die sich darüber im Klaren sind, dass sie Werke verfassen, die keine Geschichtsschreibung sind, die aber auch nicht der Fabel zugeordnet werden sollen. Chrétien de Troyes und – weniger pointiert – auch einige andere Autoren legen das ihrem Publikum dar und bringen zum Ausdruck, dass diese Werke etwas Neues sind, das einen ganz eigenen Wert und Status hat. Das Publikum seinerseits goutiert diese Werke, liest sie zur Unterhaltung (in der Lektüreszene im Yvain hat Chrétien selbst sein Publikum portraitiert)37 und schätzt sowohl den Inhalt als auch die Form über alle Maßen. Daran, dass diese Werke vain sind, Lügengeschichten und Phantastereien, wie die strengen Kritiker sagen, stört sich offensichtlich keiner. Dies legen jedenfalls die Vorwürfe der belehrenden oder erbaulichen Werke an ihr Publikum nahe. Wir haben also auf der einen Seite Autoren, die mit höchsten ästhetischen Ansprüchen ans Werk gehen und erfundene Stoffe zu schönen Geschichten formen und auf der anderen Seite ein Publikum, das genau dies liebt. Wie soll man das Verhältnis, das beide zu diesen Werken einnehmen, bezeichnen? Mir scheint – bei allem Bewusstsein der historischen Differenz – der Fiktionsbegriff immer noch der Treffendste zu sein. _____________ 36 37

Renaut de Beaujeu: Le bel inconnu. Hrsg. von GWLADYS PERRIE WILLIAMS, Paris 1991 (Les classiques français du Moyen Âge 38), V. 4f.; „Ich will einen Roman ziehen / aus einer sehr schönen Abenteuergeschichte“. Vgl. Chrétien de Troyes: Le chevalier au lion (Yvain). Hrsg. von MARIO ROQUES, Paris 1982 (Les classiques français du Moyen Âge 89), V. 5354-5364.

MONIKA FLUDERNIK

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“ (1 Kor 13:12) Die Entstehung des Bewusstseins in der englischen Literatur, 1050-15001 Die Bewusstseinsdarstellung in mittelalterlicher Literatur war bisher selten Gegenstand narratologischer Forschung. Zum einen rührt dies natürlich daher, dass sich die klassische Narratologie im Allgemeinen nur unzureichend mit Erzählungen vor dem 18. Jahrhundert, d. h. vor den Anfängen des Romans, auseinandergesetzt hat. Zum anderen resultiert dies aber auch aus der allgemeinen Auffassung, richtige Bewusstseinsdarstellung habe ihre Anfänge frühestens Ende des achtzehnten Jahrhunderts und komme erst mit dem Bewusstseinsroman im späten 19. Jahrhundert (beginnend mit Thomas Hardy) zu ihrer vollen Geltung. Wie ALAN PALMER in Fictional Minds überzeugend darstellt, konzentrierte sich die Erforschung von Rede- und Gedankendarstellung auf die Redeformen und darüber hinaus auf folgende vier Kategorien: direkte Rede, innerer Monolog, erlebte Rede und indirekte Rede.2 Dem Gedankenbericht (im Englischen: psychonarration, nach COHN)3 wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. PALMER gelang es, die quantitative Bedeutung des Gedankenberichts im realistischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts nachzuweisen. Auch im Schauerroman des 18. Jahrhunderts und in Virginia Woolfs modernistischem Erzählwerk lässt sich diese proportional und funktional signifikante Präferenz für die Form des Gedankenberichts erkennen. In The Fictions of Language und Towards a ‚Natural‘ Narratology habe ich bereits gezeigt, dass erlebte Rede in frühneuzeitlichen und mittel_____________ 1

2 3

Dieser Beitrag ist aus dem Englischen übersetzt. Das Original erscheint als: MONIKA FLUDERNIK: ‚Through a Glass Darkly‘: The Emergence of Mind in English Literature, 1050-1500. In: The Emergence of Mind. Hrsg. von DAVID HERMAN, Lincoln, NE 2009. Für die Übersetzung danke ich Ramona Früh; für die editorische Bearbeitung Theresa Förster. ALAN PALMER: Fictional Minds, Lincoln, NE 2004. DORRIT COHN: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, NJ 1978.

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Monika Fludernik

alterlichen Texten zu finden ist und dass Aphra Behns Prosawerke der 1680iger Jahre einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der Gedankendarstellung markieren.4 Ich habe jedoch auch darauf hingewiesen, dass Behn überhaupt für einen wesentlichen Fortschritt in der Entwicklung des Romans verantwortlich zeichnet. Vor Behn werden auch die meisten Beispiele erlebter Rede in der englischen Literatur eher zur Wiedergabe von Äußerungen als von Gedanken verwendet. Die Bewusstseinsdarstellung im Allgemeinen kommt vor Behn nur selten in den Texten vor. Der vorliegende Beitrag überprüft und modifiziert bisherige Arbeiten über Bewusstseinsdarstellung in mittelalterlichen englischen Erzählungen und stellt auch die Kategorien in Frage, mit deren Hilfe bisher die Entstehung des Bewusstseins analysiert wurde. I. Die verbale Ausrichtung der Rede- und Gedankendarstellung Wie die Geschichte der Erforschung von Rede- und Gedankendarstellung zeigt, gab es stets die Tendenz, Gedanken zu verbalisieren. Dies zeigt sich am deutlichsten im Begriff ‚Rede- und Gedankendarstellung‘ selbst, dem narratologischen Standardausdruck für die Analyse des ‚eingebetteten Diskurses‘. Diese Betonung des verbalisierten Bewusstseins äußert sich auf zweifache Weise. Auf der einen Seite wird Bewusstsein als innere Äußerung gesehen, als Rede, die nicht laut, sondern still und monologartig artikuliert wird. Andererseits resultiert die Gewohnheit, mentale und verbale Vorgänge als zitierfähiges Material zu behandeln, das auf einer Ebene unterhalb der primären diegetischen Ebene liegt und in diese eingebettet ist, darin, das Bewusstsein der Figuren als sprachliches Element einzustufen. Wenn zwei Figuren miteinander sprechen, erzählen sie sich oft auch Geschichten. Solche Geschichten sind deshalb Einlagen, Geschichten innerhalb einer Geschichte, und auf der hypodiegetischen Ebene zu finden. Haben Figuren eine Vision oder einen Traum, so werden diese ebenfalls als hypodiegetisch angesehen. Im ersten Fall wird die eingebettete Erzählung erzählt; im zweiten Fall wird sie im Bewusstsein des Protagonisten vorgestellt oder visualisiert. Während deshalb im Falle der ‚Geschichte in der Geschichte‘ eine Figur die Geschichte v o r t r ä g t , trifft dies auf Visionen oder Träume nicht zu. Entweder muss der Protagonist e r z ä h l e n , was er im Traum erlebt hat, und so die Traumerzählung verbalisieren und in die Kategorie der eingebetteten Geschichte überführen, oder der Primärerzähler muss das mentale Erleben des Träumers in einer ausführli_____________ 4

MONIKA FLUDERNIK: The Fictions of Language and the Languages of Fiction. The Linguistic Representation of Speech and Consciousness, London 1993, S. 93-96, S. 193-195; MONIKA FLUDERNIK: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London 1996, S. 139-159.

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chen Passage der erlebten Wahrnehmung und des Gedankenberichts wiedergeben. Hier ist die Parallele zwischen Rede und Gedanken nicht mehr glaubwürdig. Kritik an der Parallele zwischen Rede und Gedanken wurde zuerst von Linguisten geäußert, insbesondere von MICHAEL F. SHORT in Style in Fiction.5 In diesem Buch zeigt SHORT, dass im Englischen die direkte Rede die weitaus häufigste Form der Rededarstellung ist, wohingegen Bewusstsein vorwiegend im ‚narrative report of thought acts‘ (NRTA; ‚Erzählbericht der Denkakte‘), also im Gedankenbericht wiedergegeben wird. Noch auffälliger ist die Tatsache, dass der Gedankendarstellung eine der häufigsten grammatischen Formen der Rededarstellung fehlt: die indirekte Rede. Ein Satz wie ‚Er überlegt, ob er ihr die Wahrheit sagen könnte‘ entspricht nicht notwendigerweise ‚Er fragte sich: „Kann ich ihr die Wahrheit sagen?“‘, sondern legt auf Grund des verbum cogitandi ein nicht-wörtliches Lesen des Satzes nahe, d. h. einen Prozess des Abwägens, ob und wie der Protagonist zugeben könnte, das Auto zu Schrott gefahren zu haben, eine Affäre gehabt zu haben, usw.6 Die Parallele zwischen Rede und Gedanken wurde ebenfalls, wenn auch nur implizit, von ANN BANFIELD in ihrem berühmt-berüchtigten Buch Unspeakable Sentences (1982) in Frage gestellt. In ihrer Studie zeigte sie überzeugend, dass Sätze in indirekter und erlebter Rede nicht das Ergebnis einer Übertragung von direkter in indirekte oder erlebte Rede, sondern eigenständige syntaktische Konstruktionen sind.7 Mit anderen Worten: BANFIELD forderte die Sichtweise der Schulgrammatiker heraus, indirekte und erlebte Rede seien lediglich eine Umformung wörtlicher Äußerungen, wobei die Bezüge zu (normalerweise) dritter Person und Vergangenheitstempus verschoben und der umliegenden Erzählung in ihrer Deixis angepasst würden. (Ich liebe dich zu Er sagte ihr, dass er sie liebe; Ich werde morgen nach Paris fahren zu Sie sagte, dass sie am nächsten Tag nach Paris fahren würde). Außerdem bewahrt indirekte Rede, wie von logischen Semantikern gezeigt wurde, nur die propositionale (de re), nicht jedoch die lexikale (de dicto) Bedeutung direkter Rede. BANFIELDs Forschung basiert auf logisch-semantischen Arbeiten u. a. von QUINE. 8 Wenn indirekte Rede schon eine mehr oder weniger freie Wiedergabe einer ursprünglichen Äußerung ist, dann trifft dieser Vorbehalt gegen die Transformationstheorie noch zwingender auf Gedanken zu, die im Ge_____________ 5 6 7 8

GEOFFREY N. LEECH/MICHAEL H. SHORT: Style in Fiction, London 1981/22007. Zum problematischen Status der indirekten Gedanken siehe FLUDERNIK (Anm. 4), S. 311f. ANN BANFIELD: Unspeakable Sentences. Narration and Representation in the Language of Fiction, Boston, MA 1982, S. 26-37. WILLARD V. O. QUINE: Quantifiers and Proposional Attitudes. In: DERS.: The Ways of Paradox and other Essays, Cambridge, MA 1976, S. 185-196.

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Monika Fludernik

gensatz zur Rede nicht mittels Tonbandaufzeichnungen des Originals überprüft werden können. Aus offensichtlichen Gründen ist die Wiedergabe fiktionaler Rede noch ‚erfundener‘, da eine ‚Originaläußerung‘ vorher überhaupt nicht existierte. Der Glaube an die wörtliche Wiedergabe erhielt durch meine eigene These von der Erfundenheit direkter Rede den Todesstoß. Durch Verweis auf Korpora von gesprochenem Englisch und auf Grundlage von Arbeiten über Diskursanalyse9 habe ich gezeigt, dass direkte Rede in mündlichen Alltagserzählungen meist erfunden ist und die ‚Originaläußerung‘ nicht wortwörtlich wiedergibt, eben weil es nie eine Originaläußerung gegeben hat.10 Wie SHORT/WYNNE/SEMINO argumentiert haben, widerspricht diese Tatsache den Erwartungsnormen bezüglich der direkten Rede. Direkte Rede in qualitativ hochwertigen Zeitungen wie The Times und The Guardian (oder der FAZ bzw. der Welt) wird sicherlich den Anforderungen an wörtliche Zitate gerecht. Dies trifft auch auf den Zeugenstand und ähnliche Situationen zu.11 Das bedeutet jedoch nicht, dass jede direkte Rede tatsächlich eine wörtliche Wiedergabe ist; in rechtlich weniger bindenden Kontexten mag der allgemeine Aussagegehalt ausreichen oder die Wiedergabe auf bestimmte Sätze fokussiert sein, während andere Teile des Originals vernachlässigt werden. Für unsere derzeitige Fragestellung ist es am wichtigsten, dass sogar im Falle direkter Rede keine vollständige Zuverlässigkeit erwartet werden kann. Dies im Falle von Gedankenprozessen zu tun, ist deshalb absurd, da sie für jeden unzugänglich sind, abgesehen von demjenigen, der sie hervorgebracht hat. Die Parallele zwischen Rede- und Gedankendarstellung ist deshalb sowohl auf formaler als auch auf substantieller Ebene eine Fehlannahme. Falls diese theoretischen Argumente diesen Punkt nicht hinreichend be_____________ 9

10 11

Insbesondere WALLACE CHAFE: The Deployment of Consciousness in the Production of a Narrative. In: The Pear Stories. Cognitive, Cultural, and Linguistic Aspects of Narrative Producion. Hrsg. von WALLACE CHAFE, Norwood, NJ 1980 (Advances in Discourse Processes 3), S. 9-50; DEBORAH TANNEN: Conversational Style. Analyzing Talk Among Friends, Norwood 1984 (Language and learning for human service professions); DEBORAH TANNEN: Talking Voices. Repetition, Dialogue, and Imagery in Conversational Discourse, Cambridge 1989 (Studies in Interactional Sociolinguistics 6). FLUDERNIK (Anm. 4), S. 398-433. MICHAEL H. SHORT/MARTIN WYNNE/ELENA SEMINO: Revisiting the Notion of Faithfulness in Discourse Presentation Using a Corpus Approach. In: Language and Literature 11 (2004), S. 325-355. Siehe auch MICHAEL H. SHORT/ELENA SEMINO/JONATHAN CULPER: Using a Corpus for Stylistics Research: Speech and Thought Presentation. In: Using Corpora in Language Research. Studies in the honour of Geoffrey Leech. Hrsg. von J. THOMAS/M. SHORT, London 1996, S. 110-131; MICHAEL H. SHORT: A Corpus-Based Approach to Speech, Thought and Writing Presentation. In: Corpus Linguistics by the Lune: A Festschrift for Geoffrey Leech. Hrsg. von A. WILSON/P. RAYSON/T. MCENERY, Frankfurt a. M. 2003 (Łódź studies in language 8), S. 241-271.

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“

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wiesen haben, so bestätigt mittelalterliche Literatur erneut die Notwendigkeit, Gedanken und Rede auf unterschiedliche Weise zu beurteilen. Im Folgenden werde ich zunächst einige Bemerkungen zu allgemeinen Merkmalen der mittelenglischen Bewusstseinsdarstellung machen, um danach Textbeispiele für eine Vielzahl unterschiedlicher Arten der Gedankendarstellung anzuführen. II. Formen des Bewusstseins in mittelalterlichen Texten Da das Bewusstsein Bereiche umfasst, die nicht verbal konzeptualisiert sind, ist es nahe liegend, mit einer Reihe nicht-verbalisierter Bewusstseinszustände und Bewusstseinsprozesse zu beginnen. Dabei werden hier ‚Gedanken‘ (thoughts) so verstanden, dass sie konkret genug sind, um als Aussage formuliert zu werden, wie zum Beispiel beim literarischen Argumentieren in Gedanken und bei tatsächlichen Selbstgesprächen. (Man könnte sogar behaupten, dass das Selbstgespräch eine allgemeine Schablone für Beisich-Reden und inneres Debattieren liefert.) Außerhalb dieses Bereichs gibt es unartikulierte und vage Gedankenfetzen, die durch den Kopf schwirren, ohne gefasst und in eine bestimmte syntaktische Form gepresst werden zu können. (Sie sind für die mittelalterliche Literatur nicht relevant, spielen aber in Texten der Moderne eine Rolle. Sie finden sich beispielsweise in den Einwortsätzen des inneren Monologs.) Zweitens fallen Emotionen deutlich aus dem verbalisierten Bereich (obwohl sie verbalisierbar sind). Gefühle können alles beinhalten, angefangen von Stimmungen und Veranlagungen bis hin zu spezifischeren Gefühlsformen wie Angst, Freude, Ärger, Verletztheit oder Eifersucht. Hier verstehe ich die Lexeme ‚Emotionen‘ (emotions), ‚Gefühle‘ (feelings) und ‚Empfindungen‘ (sentiments) als größtenteils synonym, während Kognitionswissenschaftler bisweilen zwischen ihnen differenzieren.12 Emotion wird oft als überge_____________ 12

So werden Emotionen manchmal als messbare physikalische Reaktionen auf bestimmte Reize angesehen, wohingegen Gefühle als subjektive Erfahrungen, die diese Vorgänge manchmal begleiten, behandelt werden. (Wikipedia, siehe ‚emotion‘). Einige Wissenschaftler zählen Hunger eher zu den Gefühlen als den Sinneseindrücken und bestreiten somit, dass die Kategorien ‚Emotionen‘ (‚emotions‘) und ‚Gefühle‘ (‚feelings‘) zusammenfallen. Auch Veranlagungen und Stimmungen werden von den erstgenannten Kategorien abgegrenzt (siehe hierzu die Diskussion in JENEFER ROBINSON: Deeper Than Reason. Emotion and Its Role in Literature, Music and Art [2005], Oxford 2007). Weitere Unterscheidungen werden getroffen zwischen ‚Affekt‘ (‚affect‘), ‚Affektäußerung‘ (‚affect display‘), ‚Veranlagung‘ (‚disposition‘), ‚Gefühl‘ (‚feeling‘) und ‚Stimmung‘ (‚mood‘). Die Terminologie hängt im Wesentlichen auch davon ab, welche Emotionstheorie als Ausgangspunkt genommen wird. ‚Beurteilungstheorien‘ (‚judgement theories‘) stellen meist den kognitiven Aspekt von Emotionen in den Vordergrund, während ‚Einschätzungstheorien‘ (‚appraisal theories‘) dessen Rolle geringer veranschlagen.

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ordneter Begriff mit den Unterkategorien ‚Stimmungen‘ und ‚Gefühle‘ gesehen. ‚Einstellungen‘ (attitudes), ‚Überzeugungen‘ (beliefs) und ‚Ansichten‘ (views) gehören zu einer anderen Bewusstseinskategorie. Sie werden oft verbalisiert (insbesondere, wenn sie sich auf häufig artikulierte Maximen wie ‚Alle Politiker sind korrupt‘ beziehen), können aber auch unbestimmte Antipathien, die typisch sind für rassistische Haltungen, optimistische bzw. pessimistische Lebenseinstellungen (oder wären diese vielmehr Stimmungen bzw. Veranlagungen?), idealisierte Erwartungen, Verdächtigungen usw. beinhalten. ‚Sinneseindrücke‘ (sensations) machen eine weitere Kategorie aus (Hunger, Schmerz, Schwindel), zu der das Erleben von Farbe, Licht oder Dunkelheit möglicherweise auch gezählt werden kann. Schließlich sind noch Ideen und Erinnerungen und damit Aspekte des Bewusstseins zu nennen, die nur schwer einzuordnen sind. Ideen können spontan und noch nicht verbalisiert sein, obwohl sie normalerweise als propositionale verbalisierte Bewusstseinselemente und Teil des rationalen Denkens angesehen werden. Erinnerungen ‚beinhalten‘ die anderen Emotionen, z. B. Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Ideen und Überzeugungen, und geben daher mentale Kategorien in einem getrennten Verzeichnis oder in einem anderen Modus wieder. Als Literaturwissenschaftlerin werde ich diese Problematik natürlich nicht weiter erhellen können. Mich interessiert vielmehr die Tatsache, dass im Hinblick auf Gedankendarstellung nur die Kategorie ‚Gedankenbericht‘13 in der Lage ist, diese nicht-verbalisierten Bewusstseinszustände und -prozesse adäquat wiederzugeben, obwohl der innere Monolog und der Bewusstseinsstrom durch ihre Betonung von Assoziationen gut in der Lage sind, die Verknüpfung von Bewusstseinselementen als Prozess des Gedankenflusses darzustellen. Angesichts der großen Bedeutung des nonverbalen Bewusstseins war es höchste Zeit, dass sich jemand, wie ALAN PALMER es tat, auf den Bewusstseinsbericht konzentrierte. Der englische Begriff psychonarration für ‚Gedankenbericht‘ ist dabei gut gewählt, da er sich zumindest dem Namen nach nicht wie ‚Gedankenbericht‘ und MICHAEL H. SHORTs NRTA (narrative report of thought acts; ‚Erzählbericht der Denkakte‘) auf verbalisiertes Bewusstsein konzentriert.14 _____________ 13 14

COHN (Anm. 3), S. 21-58; FRANZ K. STANZEL: Theorie des Erzählens; Göttingen 72001 (UTB 904), S. 173-175. Bei ELENA SEMINO/MICHAEL H. SHORT: Corpus Stylistics: Speech, Writing and Thought Presentation in a Corpus of English Writing. Routledge Advances in Corpus Linguistics, London 2004, S. 30f. wird das Lexem ‚Bericht‘ (‚report‘) durch ‚Repräsentation‘ (‚representation‘) ersetzt und eine neue, prägnantere Kategorie eingeführt, für die der Begriff ‚Bericht‘ verwendet wird: NRS (‚narrator’s report of speech‘; ‚Erzählerbericht der Rede‘), NRT (‚narrator’s report of thought‘; ‚Erzählerbericht der Gedanken‘), neben NRSA/NRTA (‚narrator’s representation of speech‘/‚narrator’s representation thought acts‘; ‚Erzählerische Darstellung der Sprechakte‘/‚Erzählerische Darstellung der Denkakte‘).

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III. Bewusstseinsdarstellung im Mittelenglischen Wie werden diese unterschiedlichen Arten des Bewusstseins nun in mittelenglischen Texten dargestellt? Ich habe jeweils zwei Texte aus dem 13. und 14. Jahrhundert sowie mehrere Texte aus dem 15. Jahrhundert analysiert, um Formen der Bewusstseinsdarstellung herauszuarbeiten und um eine mögliche diachrone Entwicklung aufzuzeigen. Die Texte sind die beiden frühen Romanzen King Horn und Sir Orfeo; das South English Legendary; Chaucers Knight’s Tale; Capgraves The Life of St. Katharine; und zwei Prosaromanzen (Auszüge aus Malorys Morte D’Arthur und The Three Kings’ Sons). Meine erste Kategorie ist für unseren traditionellen Analysetypus neu: Beschreibungen von Gestik und Kinetik, die auf emotionalen Aufruhr hindeuten und die ich ‚Indizien innerer Bewegung‘ nennen möchte. Sie entspricht der psychologischen Kategorie ‚Affektdarstellung‘ bzw. ‚Affektausdruck‘. Wie ein Vergleich mit dem Drama zeigt, ist dies eine Kategorie, die einen Anspruch auf ‚Natürlichkeit‘ erheben darf. In Bühnenanweisungen gibt es zahlreiche Hinweise wie ‚Sie fällt in Ohnmacht‘; ‚Verzweifelt hebt er seine Hand‘. Diese Bewusstseinssignale werden in der Erzählforschung traditionell als Teil des Plots (‚in Ohnmacht fallen‘) oder als Beschreibung gesehen, also als Teil des Erzählerberichts, der den narrativen Rahmen für geäußerte Rede, Dialoge oder für ausführlichere Wiedergaben von Gedankenprozessen oder Gefühlen bildet. Dass der Zusammenhang von solchen Passagen mit dargestelltem Bewusstsein nicht deutlich wird, kann wiederum an der Tendenz der Narratologie zur Plotfokussierung liegen. Wir wollen uns nun einigen typischen Beispielen zuwenden. (1.1)

The children hi broghte to stronde, Wringinde here honde.15

Sie brachten die Kinder zum Strand, / die Hände ringend. (1.2)

Tho gan Rymenhild mislike And sore gan to sike. Armes heo gan buwe; Adun heo feol y-swowe. Horn in herte was full wo.16

_____________ 15

16

King Horn. In: Middle English Verse Romances. Hrsg. von DONALD B. SANDS, Exeter 1993 (Exeter Medieval English Texts and Studies), ll. 115f. Sämtliche Hervorhebungen durch Kursivschrift, Fettdruck und Unterstreichungen sowie die Übersetzungen stammen von mir. Um das Verständnis für Nicht-Anglisten zu erleichtern, sind die Übersetzungen dem mittelenglischen Text syntaktisch angepasst. Dies führt zu einigen sehr ungeschickten und unidiomatischen deutschen Wendungen. Hier, ll. 429-33.

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Monika Fludernik

Da begann es Rimenhild zu missfallen / und sie seufzte sehr / sie bewegte die Arme / sie fiel in Ohnmacht zu Boden / Horn im Herz war voll Leid (darob).

In den beiden Textstellen aus der Romanze King Horn aus dem 13. Jahrhundert finden wir Hinweise auf Gesten – das Ringen der Hände, die verzweifelte Bewegung der Arme; im zweiten Beispiel seufzt Rimenhild und erleidet daraufhin einen Ohnmachtsanfall. Die zweite Passage enthält außerdem zwei eindeutige Fälle von Bewusstseinsbericht (gan … mislike; „begann es Rimenhild zu missfallen“, und was full wo; „Horn im Herz war voll Leid“). (1.3)

The King into his chaumber is go And oft swooned opon the ston And made swiche diol and swiche mon That neighe his lif was y-spent.17

Der König ist ins Gemach gegangen / und fiel oft in Ohnmacht auf den Boden / und klagte und stöhnte so (‚machte so ein Klagen und Stöhnen‘), / dass sein Leben fast beendet war.

In diesem Beispiel aus Sir Orfeo fällt der König, der eben erst seine Königin verloren hat, in Ohnmacht und beklagt dann laut seine Situation; dennoch bleibt es unklar, ob diol und mon (‚Klage‘ und ‚Stöhnen‘) als verbale oder nonverbale Kundgebungen seines Leids aufgefasst werden sollen. Noch schwieriger ist die Einordnung des letzten Verses („dass sein Leben fast beendet war“). Es handelt sich hierbei um einen einprägsamen Erzählerkommentar zur großen emotionalen Erschöpfung Orfeos, der als Bewusstseinsbericht gelesen werden kann (aber nicht muss). Die zweithäufigste Form der Bewusstseinsdarstellung ist die ‚direkte Rede‘.18 Die Verbalisierung von Gedanken wird hier durch den wiederholten Gebrauch der inquit-Formel ‚sagte‘ hervorgehoben. Nicht immer werden diese selbstgesprächartigen inneren Reden jedoch durch ein verbum dicendi eingeleitet, und sie variieren auch deutlich in Länge und Komplexität. Werfen wir einen Blick auf ein Beispiel aus Malory: (2.1)

And so the nyght fell on hym, and than was he ware in a slade of a pavylyon of rede sendele. „Be my feyth,“ seyde sir Launcelot, „in that pavylyon woll I lodge all this nyght.“19

_____________ 17 18 19

Sir Orfeo. In: Middle English Verse Romances (Anm. 15), ll. 172-175. Natürlich sieht diese Zählweise jedes Auftreten direkter Rede als ein Beispiel an. Wenn man die Zeilen im Text zählt, wird direkte Rede zur häufigsten Kategorie, da sich diese inneren Reden oft über mehrere Zeilen erstrecken. Sir Thomas Malory: Works. Hrsg. von EUGÈNE VINAVER, Oxford 21971, VI 153: ll. 19-21.

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Und so überfiel ihn die Nacht, und da bemerkte er in einem Tal einen Pavillion von rotem Sandelholz. „Wahrlich“, sagte Sir Launcelot, „in diesem Pavillon will ich die Nacht verbringen“.

Hier finden wir eine eingeschobene inquit-Formel (seyde sir Launcelot; „sagte Sir Launcelot“) sowie die direkte Wiedergabe der Entscheidung Launcelots, die Nacht im Pavillion zu verbringen. Bemerkenswert ist die Interjektion Be my feyth („Wahrlich“), die der inneren Rede eine besonders umgangssprachliche Note verleiht. Ein emotional noch aufgeladeneres Beispiel ist der folgende längere Auszug aus Sir Orfeo: (2.2)

„O,“ quath the steward, „now me is wo! That was my lord, Sir Orfeo, Allas wreche, what shall I do That have swiche a lord y-lore! A way, that ich was y-bore! [...]“ Adoun he fell aswoon to grounde;20

„Oh,“ sagte der Verwalter, „Jetzt ist mir Weh! / Das war mein Herr Sir Orfee / Ach, ich Armer, was soll ich tun / der so einen Herrn verloren / Oh weh, dass ich geboren...“ / Er fiel ohnmächtig zur Erde.

Auch hier wird quath (‚sagte‘) verwendet, um das Selbstgespräch einzuleiten. Der treue Verwalter ist von der Nachricht von Sir Orfeos mutmaßlichem Tod so überwältigt, dass seine innere Klage abrupt mit einem Ohnmachtsanfall endet und er bewusstlos zu Boden fällt. Die übermäßig rhetorische Qualität dieser Selbstgespräche zeigt sich auch im folgenden Textauszug aus St. Katherine im South English Legendary, dem mittelenglischen Legendarium aus dem späten 13. Jahrhundert: (2.3)

Þemperour þo gan drawe his her . & sore sike & grone Mahoun he seide hou schal ich do . schal ich beleue alone Whi neltou raþere fecche me . & bringe me of þis lyue Þan suffri to leose alle mi men . after mi leoue wyue21

Da begann der Kaiser sein Haar zu raufen . und schwer zu seufzen und stöhnen / „Mahoun [Mohammed]“, sagte er, „was soll ich tun . soll ich allein bleiben? / warum willst du nicht lieber mich holen . und mich aus dem Leben nehmen / als zu erlauben, dass ich alle Männer verliere . nachdem ich schon meine Frau verloren habe“

Der böse Despot Maxence beklagt den Verrat seiner Gefolgsleute und seiner Gattin, die alle zum Christentum konvertiert sind. Oft ist die innere Rede an einen abwesenden Adressaten gerichtet. So ruft Maxence in (2.3) Mohammed (Mahoun) an und wendet sich Arcite in Chaucers The Knight’s _____________ 20 21

Sir Orfeo (Anm. 17), ll. 518-25. St. Katherine. In: The South English Legendary. Corpus Christi College Cambridge MS 145. Hrsg. von CHARLOTTE D’EVELYN/ANNA J. MILL. 3 Bd., Oxford 1967-69 (EETS 234, 235, 244), 541, 267-270.

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Tale mit seiner Klage über seinen großen Liebesschmerz direkt an die abwesende Emily: (2.4)

Love hath his firy dart so brennyngly Ystiked thurgh my trewe, careful herte, That shapen was my deeth erst than my sherte. Ye sleen me with youre eyen, Emelye!22

Die Liebe hat ihren feurigen Pfeil so schmerzvoll / durch mein treues sorgenvolles Herz gestochen / dass ich tot war, bevor noch mein Gewand durchbohrt war / Du tötest mich mit Deinen Augen, Emely!

Auch Rimenhild in King Horn spricht ihr Herz an: Herte, nu thu berste (V. 1202; „Herz, zerbrich jetzt“) und ihr Bruder Athulf, der vergebens darauf gewartet hat, dass Horn zurückkehrt und Rimenhilds erzwungene Ehe verhindert, richtet sein Selbstgespräch an Horn: (2.5)

„Horn, nu thu ert well longe. Rymenhild thu me toke That I sholde loke. Ich habbe y-kept hure evre; Com nu other nevre — I ne may no leng hure kepe. For sorewe nu I wepe.“23

„Horn, nun bist Du lang weggeblieben / Du hast mir Rimenhild anvertraut / dass ich nach ihr sehen sollte. / Ich habe sie die ganze Zeit über bewacht. / Komm jetzt oder nie mehr; / ich kann sie nicht länger beschützen. / Vor Trauer weine ich nun.“

Diese Textstelle ist besonders interessant, da Athulf seine Gefühle auf sich selbst bezogen analysiert: For sorewe nu I wepe (V. 1113; „Vor Trauer weine ich nun“). Anstatt Leid und Sorge zu unterdrücken (wie der Verwalter in [2.2] oben), lenkt Athulf die Aufmerksamkeit auf äußere Zeichen seines emotionalen Aufruhrs („Ich weine“) und spezifiziert die durch seine Tränen ausgedrückten Gefühle als ‚Trauer‘. Diese Analyse der eigenen Gefühle ist ein interessanter Aspekt der Bewusstseinsdarstellung, dem bisher noch kein Augenmerk geschenkt wurde. Insbesondere möchte ich auf den Zusammenhang mit den von Psychologen so genannten ‚Meta-Emotionen‘ hinweisen, obwohl die Anwendung dieses Konzepts den in (2.5) vorliegenden Fall nicht mit einschließt.24 Ich bezeichne damit ein Reden über Emotionen, das über Gefühlsdarstellung hinausgeht. _____________ 22 23 24

Geoffrey Chaucer: The Riverside Chaucer, Oxford 31988, A 1564-1567. King Horn (Anm. 15), ll 1106-1113. CHRISTOPH JÄGER/ANNE BARTSCH: Meta-Emotions. In: Grazer Philosophische Studien 73 (2006): S. 179-204. JÄGER/BARTSCH verwenden das Konzept der ‚Meta-Emotion‘, um eine Gefühlsebene zu bezeichnen, auf der das Subjekt sich widersprechende Gefühle wie Schuld und Schadenfreude erkennt bzw. miteinander zu vereinbaren versucht.

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“

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Es lohnt sich aufzuzeigen, dass die einzige Textstelle, die einem modernen inneren Monolog nahe kommt, bei Malory zu finden ist, und dass alle anderen Beispiele Fälle innerer Rede sind, die so artikuliert werden, als würden sie auf der Bühne gesprochen. Die frühen modernen Selbstgespräche in den Prosaromanzen von Robert Greene (1558-1592) oder Thomas Lodge (1558-1625) sind deshalb keine Erfindungen des 16. Jahrhunderts, sondern Überbleibsel und Weiterführungen einer blühenden mittelenglischen Tradition. Die dritte Kategorie in meiner Betrachtung ist der ‚Gedankenbericht‘. Diese Form der Bewusstseinsdarstellung kommt in mittelalterlichen Erzählungen ausgesprochen häufig vor. Dabei existieren nur kurze Passagen von Gedankenbericht. Zwei typische Beispiele sind (3.1) und (3.2): (3.1)

The children dradde therof. Hi wenden to wisse Of here lif to misse.25

Die Kinder hatten Angst. / Sie glaubten zu wissen, / dass man sie töten würde. (3.2)

And in a tour, in angwissh and in wo, This Palamon and his felawe Arcite […]26

Und in einem Turm, in Sorge und Leid, / sind dieser Palamon und sein Freund Arcite [gefangen]

In (3.1) haben die Kinder Angst und glauben, getötet zu werden. Die verba sentiendi et cogitandi werden hier verwendet, um mentalen Aufruhr – Furcht und ängstliche Erwartung – zu beschreiben. Im Gegensatz dazu komprimiert Chaucer den mentalen Bezug durch die Verwendung von Nominalphrasen (in anguish and in wo; „in Sorge und Leid“) anstelle von verbalen Beschreibungen. (3.3)

Heo luvede so Horn child That negh heo gan wexe wild.27

Sie liebte Klein-Horn so / dass sie beinahe den Verstand verlor. Of folk heo hadde drede [...] Hire sorewe ne hire pine Ne mighte nevre fine.28 Sie hatte Angst vor den Leuten [...]. / Ihre Trauer und ihr Leid / mochten kein Ende nehmen.

_____________ 25 26 27 28

King Horn (Anm. 15), l. 124. Chaucer (Anm. 22), A 1030f. King Horn (Anm. 15), l. 255f. Hier, ll. 262, 265f.

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In dieser Textstelle wird Rimenhilds Liebe zu Horn dramatisch dargestellt. Am Anfang wird über sie gesagt, „sie liebte Klein-Horn so, dass sie beinahe den Verstand verlor“. Später verwendet der Erzähler wiederum Nominalphrasen (‚Trauer‘ und ‚Leid‘), um auf ihren Liebesschmerz Bezug zu nehmen. Allerdings sind die Verse 265f. schwierig zu interpretieren. Anstatt sie als Zusammenfassung des Erzählers oder Barden von Rimenhilds – wie proleptisch angemerkt wird – andauernder emotionaler Beeinträchtigung zu lesen (ne mighte nevre fine; „mochte kein Ende nehmen“), könnte man die Verse auch dahingehend interpretieren, dass sich Rimenhild selbst der Unendlichkeit ihrer Seelenqual bewusst wird und die Stelle daher als ein Bruchstück erlebter Rede sehen (sozusagen eine erzählerische Transposition von ‚meine Trauer und mein Leid werden niemals ein Ende nehmen‘). Ausgedehntere Bewusstseinsdarstellungen finden sich in (3.4)-(3.6). In (3.4) empfindet Horn starke Schmerzen, weil er Rimenhilds Ohnmachtsanfall zusehen muss: (3.4)

He makede Rymenhilde lay And heo makede walaway. Rymenhild feol y-swowe [...] Hit smot to Hornes herte So bitere that hit smerte.29

Er sang das Lied von Rimenhild / und sie wehklagte. / Rimenhild fiel in Ohnmacht. / […] / Es traf Horn im Herzen / so bitter, dass es schmerzte.

Horn, der als Sänger verkleidet ist, singt Rimenhilds Lied, woraufhin sie in Wehklagen ausbricht (Redebericht?) und in Ohnmacht fällt. Der Anblick der so leidenden Geliebten verstört Horn zutiefst. In diesem Textausschnitt wird auf die emotionale Intensität nicht durch externe Gestik hingewiesen, sondern durch inneren Schmerz, den die Erzählung mit Horns Entsetzen in Einklang bringt. Die beiden letzten Verse dieser Textstelle präsentieren Horns Gefühle aus externer Perspektive in allwissender Manier, indem sie die Heftigkeit seines Schmerzes eher beschreiben als direkt ausdrücken. Mindestens hundertfünfzig Jahre später beweist Chaucer größeren Einfallsreichtum, wenn er Palamons Liebe und Eifersucht mit dem Bild eines das Herz durchbohrenden Schwertes beschreibt und dieses markante Bild mit Palamons eigenem Bewusstsein dieser Empfindung auf folgende Weise verbindet:

_____________ 29

Hier, ll. 1489-1494.

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“

(3.5)

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This Palamoun, that thoughte that thurgh his herte He felte a coold swerd sodeynliche glyde, For ire he quook.30

Dieser Palamon, der meinte, dass er durch sein Herz / ein kaltes Schwert durchgleiten fühlte, / vor Wut zitterte er.

Die umfangreichste Passage mit Gedankenbericht, auf die ich in meinem vorläufigen Corpus gestoßen bin, stammt ebenfalls aus der Erzählung des Ritters (The Knight’s Tale). Theseus muss ein Urteil über die beiden Ritter fällen, die er bei ihrem Duell um die Liebe Emilys überrascht hat. Die Theseus begleitenden Frauen sprechen sich für die beiden Ritter aus, und Theseus’ Ärger geht in Mitgefühl über, als er versteht, dass es die Liebe war, die den einen Ritter dazu motivierte, aus dem Gefängnis zu flüchten, den anderen dazu, durch seine Rückkehr aus der Verbannung den Tod zu riskieren. Die beiden Kontrahenten hatten einander zufällig in einem Wald getroffen, wo Palamon Arcites Selbstgespräch belauschte (!), in dem dieser seiner Liebe für Emily Ausdruck verlieh (‚Allas,‘ quod he, ‚that day that I was bore!‘ 31). Nun zu Theseus’ Überlegungen: (3.8)

Til at the laste aslaked was his [Theseus’] mood, For pitee renneth soone in gentil herte. And though he first for ire quook and sterte, He hath considered shortly, in a clause, The trespas of hem bothe, and eek the cause, And although that his ire hir gilt accused, Yet in his resoun he hem bothe excused, As thus: he thoghte wel that every man Wol helpe hymself in love, if that he kan, And eek delivere hymself out of prisoun. And eek his herte hadde compassioun Of wommen, for they wepen evere in oon; And in his gentil herte he thoughte anon, And softe unto hymself he seyde, „Fy Upon a lord that wol have no mercy, But been a leon, bothe in word and dede, To hem that been in repentaunce and drede, As wel as to a proud despitous man That wol mayntene that he first bigan. That lord hath litel of discrecioun, That in swich cas kan no divisioun, But weyeth pride and humblesse after oon.“32

Zuletzt schwächte sich (verflog) der Zorn Theseus’ endlich ab, / denn Mitleid lebt häufig in einem sanften Herz. / Und obwohl er zuerst vor Wut zitterte und erbebte,

_____________ 30 31 32

Chaucer (Anm. 22), A 1574-1576. Hier, A 1542-1571; „‚Verflucht der Tag, an dem ich geboren wurde.‘“ Hier, A 1760-1783.

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/ so hat er bald bei sich bedacht, in einem Satz (Gedankengang), / [und] die Übertretung der beiden und den Grund dafür [erwogen]. / Und obwohl sein Zorn ihre Schuld anklagte / entschuldigte er sie mit seinem Verstand / wie folgt: er erwog, dass jeder Mensch / sich, wenn er liebt, behelfen würde, wenn er nur könnte, / und sogar aus dem Gefängnis entfliehen würde. / Zudem hatte sein Herz Mitleid / für die Frauen, denn sie weinten alle, / und in seinem sanften Herzen dachte er da / und sagte leise zu sich: „Pfui, / dass ein Herrscher kein Mitleid haben sollte / und sich in Wort und Tat wie ein Löwe gebärden wollte / denen gegenüber, die in Angst sind und ihre Taten bereuen; / und pfui auch einem stolzen unnachgiebigen Mann, / der an dem festhält, was er zuerst begann. / Solch ein Mann hat wenig Verstandesgabe, / dass er in solchem Fall keinen Unterschied macht / und Stolz und Demut für dasselbe betrachtet.“

Die Textstelle beginnt mit einem Gedankenbericht und einer narrativen Zusammenfassung von Theseus’ Bewusstseinszustand: sein Zorn ist verflogen. Darauf folgt eine gnomische Feststellung des Erzählers über sanfte Herzen (V. 1761), die sich auf Theseus bezieht. Dieser dient als Beispiel für die allgemeine Wahrheit, dass ein sanftes Herz über Gnade verfügt. Schließlich entwickelt sich eine äußerst detaillierte psychologische Analyse: Es werden die verschiedenen Stadien von Theseus’ Emotionen, seine unterschiedlichen Argumente zur Entschuldigung der Ritter und schließlich seine Entscheidung – motiviert durch seine Ideale – wiedergegeben. Vom Gedankenbericht (considered, V. 1763; „bedacht“) wendet sich die Analyse hin zur beinahe allegorischen Erklärung (Zorn gefolgt von Vernunft sind für seinen Stimmungswechsel verantwortlich), um danach seine Argumentation im Detail darzustellen (thoughte, V. 1767; „erwog“). In dieser Passage wird dann das Bewusstsein eindeutig in verbalisierter Form wiedergegeben. Die Textstelle fährt fort mit einer weiteren Analyse von Theseus’ Gefühlen (compassioun, V. 1770; „Mitleid“). Auf die Wiederholung des ‚sanften Herzens‘ (V. 1767) folgt ein Selbstgespräch, eine Art innerer Monolog, in dem er die Vorteile von Mitleid und Gnade für die Rolle des idealen Herrschers abwägt. Derart lange und komplexe Gedankenberichtspassagen sind, von Chaucer abgesehen, selten und treten erst wieder in den Prosaromanzen des späten fünfzehnten Jahrhunderts auf, wie zum Beispiel in The Three Kings’ Sons: (3.9)

[…] thus departed fferant the Senesshalł […] til that he approched the Reaume of Sizile, auisyng alwey his newe seruaunt / consideryng withyn hym self / his persone, his beaute / his maner, his humbles / wherof he was moche ameruailed / for he wende not that yn the body of any one man might haue ben so many vertues to-gedir / So thought he wele / that if he had as moche worthynesse and prowes as he had

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“

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persone & maner, he shold be the moost perfit thinge that euer god made sith tyme of his passion.33 So reiste der Seneschall […] bis er das Gebiet Siziliens erreichte. Immerzu betrachtete er seinen neuen Diener / und dachte (bei sich) / über dessen Erscheinung nach, über seine Wohlgestaltetheit, / sein Verhalten und seine Bescheidenheit, / die er sehr bewunderte. / Er glaubte nicht, dass im Körper irgendeines anderen Menschen/Mannes so viele Vorzüge vereint wären (sein könnten). / So war er der Ansicht, / dass wenn er [der Diener] genauso viel an Qualität und Tapferkeit hätte, wie an Erscheinung und Umgangsformen, dann wäre er das perfekteste Geschöpf, das Gott seit der Zeit seiner Passion [der Passio Christi] je erschaffen hatte.

Eine vierte Kategorie der Bewusstseinsdarstellung – eine, die in traditionellen narratologischen Darstellungen keinen Platz findet – beschreibt die ‚Einfühlung des Erzählers‘ oder Barden in den Protagonisten. Diese stellvertretenden Erzählerkommentare treten auch in Texten mit einem ‚engaging narrator‘ (einem adressatenbezogenen Erzähler) auf,34 jedoch wurde dem narrativen Status solcher empathischen Ausrufe, soweit mir bewusst ist, noch keine detaillierte Analyse zuteil. Außerdem ist eine mögliche Verbindung dieser Figur mit der Bewusstseinsdarstellung eine narratologische Leerstelle, da bislang das Bewusstsein einer Figur im Erzähltext immer als gegeben (also als der erzählerischen Darstellung voranliegend) angesehen wurde. Dies ist ein Trugschluss, da jede Darstellung eine kreative (Wieder-)Erfindung ist und weil in literarischen Kontexten keine ‚originalen‘ inneren Äußerungen existieren, die wiedergegeben werden könnten. Schauen wir uns nun einige Beispiele an. (4.1) kann als allwissende Aussage des Erzählers gelesen werden. Dennoch legen das Ausrufungszeichen und die ausdrucksstarke Emotionalität der zwei Verse nahe, dass es sich um einen mitfühlenden Ausruf des Erzählers handelt: (4.1)

Ofte hadde Horn beo wo Ac nevre wurs than him was tho!35

Oft hatte Horn Leid / aber nie so arg wie jetzt!

Allwissend bemerkt der Erzähler, dass Horn in seinem Leben viel Leid erfahren hat, aber niemals so viel wie in diesem Moment. Die Passage könnte – aus heutiger Sicht – als erlebte Rede kategorisiert werden, aber dies ist vielleicht im Hinblick auf die wenigen Beispiele von erlebter Rede in mittelenglischer Literatur in diesem Kontext eine unwahrscheinliche _____________ 33 34 35

The Three Kings’ Sons. Hrsg. von F. J. FURNIVALL, London 1895 (EETS E.S. 67), ll. 13.39-14.9. ROBYN R. WARHOL: Toward a Theory of the Engaging Narrator: Earnest Interventions in Gaskell, Stowe, and Eliot. In: PMLA 101 (1986), S. 811-818. King Horn (Anm. 15), ll. 119f.

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Lesart (für Beispiele siehe unten [5.1] bis [5.3]). Der Gebrauch des Namens Horn (anstelle eines Pronomens) macht es weniger wahrscheinlich, hier erlebte Rede anzunehmen. Das Zeitadverb tho („jetzt“), als Distaldeixis, spricht ebenfalls gegen eine Interpretation des Satzes als erlebte Rede (proximales nu ist in der Romanze sehr häufig und wäre deshalb wohl verwendet worden, wäre eine Fokalisierung aus Horns Perspektive intendiert gewesen). In (4.2) und (4.3) ist der mitfühlende Ausruf des Erzählers relativ eindeutig: (4.2)

Lord! Who may telle the sore This King sufferd ten yere and more!36

Oh Herr, wer mag das Leid zählen, / dass der König erlebte 10 Jahr und mehr! (4.3)

Nou God helpe sein Thomas . for he was al one.37

Nun helfe Gott Sankt Thomas, denn er war ganz allein.

Im ersten Beispiel wird Orfeos Leiden durch einen Ausruf unterstrichen, und der Erzähler fügt noch eine invocatio dei hinzu. Im zweiten Beispiel sympathisiert der Erzähler mit der Situation des hl. Thomas und wünscht ihm die Hilfe Gottes. Auch das Knight’s Tale enthält eine ausführliche Textstelle, in der der Erzähler von der gerafften Darstellung der siebenjährigen Gefangenschaft der zwei Ritter zu einer kurzen Passage von Gedankenbericht übergeht, in der er Palamons geistigen Zustand beschreibt (forpyned, wo, distresse; „verhärmt“, „Leid“, „Sorge“), und dann eine rhetorische Frage stellt, deren einziger Zweck darin zu bestehen scheint, die mitfühlende Anteilnahme mit dem Protagonisten zu betonen: (4.4)

In derknesse and horrible and strong prisoun Thise seven yeer hath seten Palamoun Forpyned, what for wo and for distresse. Who feeleth double soor and hevynesse But Palamon, that love destreyneth so That wood out of his wit he goth for wo?38

In Dunkelheit und fürchterlichem, strengem Kerker / hat Palamon diese sieben Jahre verbracht, / verhärmt vor Leid und Sorge. / Wer fühlet doppelt Leid und Unglück (‚Schwere‘) / wie es Palamon tut, den die Liebe so verzehrt, / dass er vor Leid fast seinen Verstand verliert?

_____________ 36 37 38

Sir Orfeo (Anm. 17), ll. 239-240. St. Thomas, In: The South English Legendary. Corpus Christi College Cambridge MS 145. Hrsg. von CHARLOTTE D’EVELYN/ANNA J. MILL, 3 Bd., Oxford 1967-69 (EETS 234, 235, 244), II 627, l. 521. Chaucer (Anm. 22), A ll. 1451-1456.

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“

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Die Anteilnahme des Erzählers wird darüber hinaus durch den Gebrauch des Präsens betont, das Palamons Zustand als noch gegenwärtig hervorhebt, und ihn in einem Bild anhaltenden Grams darstellt.39 Schließlich möchte ich noch auf den häufigen Gebrauch von Vergleichen in der Gedankendarstellung hinweisen, z. B. in (4.5), wo der Erzähler einen Zugang zum inneren, emotionalen Zustand der Figur liefert, indem er ein analoges Szenarium beschreibt. Im folgenden Beispiel wird die Verwundung von Palamons Herz durch Amors Pfeil mit dem Zufügen einer tatsächlichen Verwundung verglichen, die ihm Laute des Schmerzes entlockt und ihn erblassen lässt: (4.5)

That thurgh a wyndow, thikke of many a barre Of iren greet and square as any sparre, He cast his eye upon Emelya And therwithal he bleynte and cride, „A!“ As though he stongen were unto the herte.40

Der durch ein Fenster, dick mit Stäben vergittert, / die von Eisen und dick und stark wie Balken waren, / [er] ein Auge auf Emily warf / und sofort erblasste er und rief: „Ah“, / als ob ins Herz er gestochen worden wäre.

Noch originellere Vergleiche finden sich bei Chaucer häufig, und ich werde mich mit einer längeren und komplexeren Passage später (7.1) in einem anderen Kontext beschäftigen. (4.5) wird hier erwähnt, weil die Qualität von Palamons Leiden nur durch das Bild des Erzählers sichtbar wird: Der Grund für die körperlichen Anzeichen des Leidens wird nicht explizit genannt, sondern durch das Szenarium körperlichen Schmerzes angedeutet, eines Schmerzes, der in vielsagender Position, im Herzen, auftritt. Meine fünfte Kategorie ist die der ‚erlebten Rede‘. Bei der Auswahl der Textstellen für diesen Artikel bin ich auf zwei eindeutige Fälle von ‚erlebter Rede‘ für die Gedankendarstellung gestoßen und auf eine Stelle, bei der verschiedene Deutungsmöglichkeiten bestehen. Das zweifelhafte Beispiel ist King Horn entnommen (vergleiche die Diskussion oben [4.1]): (5.1.)

The king alighte off his stede, [...] And his gode knightes two. All too fewe he hadde tho! 41

Der King sattelte ab / und auch seine zwei Ritter. / Viel zu wenige hatte er da!

_____________ 39

40 41

Ein weiteres Beispiel von Chaucer, dieses Mal aus The Man of Law’s Tale, ist: O blood royal, that stondeth in this drede, / Fer been thy freendes at thy grete neede, B 657f.; (Erzählung des Juristen: „O königliches Blut [Konstanze ist die Tochter eines Kaisers], die du in solcher angstvollen Gefahr schwebst. / Weit sind deine Freunde in der Stunde deiner Not!“) Der Erzähler fühlt hier mit Konstanze (Custance im Original), die des Mordes angeklagt wurde. Chaucer (Anm. 22), A 1075-1079. King Horn (Anm. 15), ll. 51-54.

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In diesem Beispiel trifft Horns Vater mit zwei ihn zufällig begleitenden Rittern auf eine überwältigende Überzahl von Sarazenen, und es kommt zum Kampf. Der Ausruf All too fewe he hadde tho! (V. 54; „Viel zu wenige hatte er da!“) ist eine Klage über die eindeutig fatale Lage des Königs. Man kann diesen Ausruf dahingehend interpretieren, dass der König seine gefährliche Situation erkennt, die in der großen Überzahl der Feinde besteht (also dann: ‚erlebte Rede‘); aber es ist überzeugender, den Vers als Ausdruck des Mitgefühls des allwissenden Erzählers zu lesen, der seine empathische Angst angesichts des bevorstehenden Unheils zum Ausdruck bringt. Diese zweite Lesart wird durch distales tho („da“) untermauert, obwohl diese Deixis die Interpretation der erlebten Rede nicht ausschließt. Man kann ja nicht erwarten, dass in frühen Beispielen erlebter Rede sämtliche ‚Regeln‘, die im 19. und 20. Jahrhundert gelten, bereits in Reinform verwirklicht wären. Eindeutige Beispiele für erlebte Rede finden sich jedoch in (5.2) und (5.3), die interessanterweise beide eher umgangssprachlichen Heiligenlegenden entnommen sind: (5.2.)

„Now hath Porfir me forsake, That was wardain of al mi liif!“ Oft he seyd allas allas That euer was he born of wiif! 42

„Nun hat mich Porfir verlassen / der Wächter meines Lebens war!“ / Oft sagte er „Weh oh weh, / dass er je von Weib geboren ward!“

Der relevante Satz lautet hier: Allas, allas, that euer was he born of wiif! (V. 599f.; „Weh oh weh, dass er je von Weib geboren ward“). Dies ist eindeutig keine direkte Rede, da das mutmaßliche ‚ich‘ des Herrschers an die dritte Person der umgebenden Präteritum-Erzählung angepasst wurde. (Allas, allas, that euer was I born of wiif! wäre direkte Rede.) Das fehlende Plusquamperfekt, im Mittelenglischen ohnehin selten, ist kein Gegenargument gegen eine Interpretation als erlebte Rede. Die Textstelle kann auch nicht als indirekte Rede gelesen werden, denn indirekte Rede enthält normalerweise keine Interjektionen. Wichtiger jedoch ist, dass ohne die Interjektion die verbleibende Aussage (*that euer was he born of wiif! „dass er je von einer Frau geboren ward“) der Originalstelle inhaltlich widerspricht. Da alle Menschen von Frauen geboren wurden, ist diese Aussage sinnlos und das „je“ verliert seine Funktion im Satz. Tatsächlich hängt der Relativsatz von der Interjektion „weh oh weh“ ab („Weh oh weh, dass er je von Weib geboren ward!“) und ist als solcher syntaktisch gesehen ein vollständiger Ausrufesatz (‚Weh oh weh, dass ich je geboren wurde‘). Folglich _____________ 42

Seynt Katerine. In: Altenglische Legenden. Hrsg. von CARL HORSTMANN, Heilbronn 1881, 256, ll. 597-600.

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“

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dient das einleitende „sagte“ nicht als einleitendes Verb, dessen Objekt der dass-Satz ist, sondern als verbum dicendi zur Einleitung von direkter Rede. Deshalb sollte nach seyd nach den Regeln heutiger Interpunktion ein Doppelpunkt stehen. Der folgende Satz ist dann ein eigenständiger Satz mit verändertem Bezug und daher erlebte Rede. Es besteht sogar die entfernte Möglichkeit, seyd nicht als ‚sagte‘, sondern als ‚seufzte‘ zu übersetzen, aber diese Interpretation des Vergangenheitstempus von siȝen ‚seufzen‘ ist eher gewagt. (5.3) ist das eindeutigste Beispiel für ‚erlebte Rede‘ in meinem vorläufigen Korpus: (5.3) Sein Thomas isei wel þo . þat þer nas wei bote on þat he moste stif wiþstonde . oþer is riȝtes forgon He þoȝte þat Holy Churche . he nolde neuere bitraye And þat he nolde neuere in such seruage . hure bringe bi is daye Raþer he wolde [as] oþer were . to martirdom be ido Þane Holy Churche were so bineþe . iredi he was þerto Neuere ne miȝte þe kyng and he . acordi noþing þer Ac departede al in wraþþe . as hi ofte dude er43 Da sah St. Thomas wohl . dass es nur einen Weg gab, / dass er fest [‚steif‘] widerstehen müsse . oder seiner Rechte verlustig gehen. / Er dachte daran, dass er die Heilige Kirche . nimmer betrügen würde wollen / und dass er sie nie in Sklaverei . bringen würde, während er lebte. / Lieber würde er wie andere auch . zum Märtyrer gemacht werden [‚sich zum Märtyrer machen lassen‘]. / Die Heilige Kirche war so unterdrückt . dass er dazu bereit war. / Nie konnten der König und er . in irgendetwas übereinstimmen, / Und er [der König] ging fort in Wut . wie schon öfter davor.

Die Stelle beginnt mit zwei Sätzen Gedankenbericht: „Da sah St. Thomas wohl […]. Er dachte daran […].“ Darauf folgen zwei Zeilen erlebter Rede, im Zitat kursiv gesetzt, in denen Thomas’ Hingabe an den Märtyrertod in einer inneren Auseinandersetzung widergespiegelt wird, die auf die zwei vorherigen Zeilen folgt: „Lieber würde er wie andere auch zum Märtyrer werden; die Heilige Kirche war so unterdrückt, dass er dazu bereit war.“ Die Textstelle ist ein absolut überzeugendes Beispiel für erlebte Rede, weil sie als Fortsetzung eines relativen dass-Satzes auftritt. Obwohl erlebte Rede keine geläufige Form der Gedankendarstellung im Mittelenglischen ist, gibt es sie (und es gibt ebenso zahlreiche Beispiele für Redewiedergabe).44 Der darauf folgende Satz (Z. 729) ist wieder ambig. Er kann sowohl als erlebte Rede gelesen werden (Thomas denkt: ‚Der König und ich können uns nicht einigen‘) wie auch als Konstatierung des Erzählers, der das Verhältnis von König und Erzbischof zusammenfasst. _____________ 43 44

St. Thomas (Anm. 37), II, 723-730. Vgl. FLUDERNIK: Fictions of Language (Anm. 4), S. 93-95 und S. 194-195.

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Ich möchte meine Untersuchung mit zwei Sonderfällen abschließen, die ich sehr interessant finde. Es dürfte sich lohnen, diese als Muster im Hinterkopf zu behalten, wenn weitere mittelenglische Texte analysiert werden. Diese beiden Fälle sind zum einen Beispiele für kollektives Bewusstsein und zum anderen stellen sie virtuelle direkte Rede dar. ALAN PALMER hat dem ‚kollektiven Bewusstsein‘ sowohl in seinem Buch Fictional Minds wie auch in zwei Aufsätzen einige Aufmerksamkeit geschenkt.45 Die Darstellung von kollektivem Bewusstsein (der Einstellungen eines Dorfes, der Meinungen einer Familie, etc.) ist jedoch kein Phänomen, das von George Eliot oder Jane Austen erfunden worden wäre. Überraschenderweise findet es sich auch im Mittelenglischen, obwohl ich sogleich hinzufügen muss, dass ich bisher nur von einem Beispieltext weiß, nämlich Capgraves romanartigem Heiligenepos The Life of Saint Katharine (ca. 1445). Die kollektive und gesellschaftliche Überzeugung wird hier betont und mit der störenden Individualität Katharinas kontrastiert. Meine beiden kürzeren Beispiele sind in ihrer Interpretation als Äußerungen oder Denkvorgänge zweideutig, aber da die Einstellungen der Menschen genau beschrieben werden, könnten sie auch Bewusstsein statt Rede darstellen. Die erste meiner zwei Beispieltextstellen zeichnet die Gerüchte bei Hof nach, als Katharinas Mutter in hohem Alter durch eine Art Wunder schwanger wird. Das Resultat dieser Schwangerschaft ist die spätere hl. Katharina: (6.1.)

Many a man & woman at þis thyng low, Sume of hem sayd, „it is but a lye, þe kyng is ful febyll, þe qwen ful eld now: Schall sche now grone, schal sche now crye? schal sche in þis age in chyldebede lye? þis thyng is not lykly,“ þus seyd þei alle, ladyes in þe chaumbyr’ & lordys in þe halle.46

Viele Männer und Frauen lachten darüber. / Einige von ihnen sagten: „Es ist nur eine Lüge. / Der König ist sehr schwach, die Königin sehr alt. / Soll sie nun schwanger werden, soll sie nun gebären? / Soll sie in diesem Alter im Kindbett liegen? / Das ist nicht wahrscheinlich.“ So sagten sie alle, / die Damen am Hofe und die Adeligen in der Halle.

Hier wird eine Reihe von Argumenten gegen die mögliche Schwangerschaft der Königin in einprägsamer direkter Rede aufgelistet. Männer und Frauen am Hof zweifeln übereinstimmend an den Zeichen der Schwan_____________ 45

46

Vgl. PALMER (Anm. 2); ALAN PALMER: Intermental Thought in the Novel: The Middlemarch Mind. In: Style 39 (2005), S. 427-439; DERS.: Large Intermental Units in Middlemarch. In: Postclassical Narratology: New Essays. Hrsg. von JAN ALBER/MONIKA FLUDERNIK (in Vorbereitung). John Capgrave: The Life of St. Katharine of Alexandria. Hrsg. von CARL HORSTMANN. Millwood, NY 1893 (EETS O.S. 100), I 204-210.

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gerschaft; sie sprechen buchstäblich miteinander über ihre Zweifel („sagten“), weshalb es sich höchstwahrscheinlich um tatsächlichen Tratsch handelt. Da jedoch die Haltung der Höflinge beschrieben wird, bedarf es keiner tatsächlichen Äußerung jedes Einzelnen, die Passage kann auch eine Zusammenfassung der communis opinio sein. Das zweite Textbeispiel zeigt uns die Reaktion der Gelehrten, die gerufen wurden, um die hl. Katharina mit ihren Argumenten zu widerlegen, aber sich stattdessen selbst deren Logik beugen müssen: (6.2.)

„O good godd,“ seyd þeis clerkes thane, „þis mayd hath lerned mor’ thyng in her’ lyue Than we supposyd, for mor’ than we sche canne. We wondyr how sche may our’ argumentis dryue ffor hyr conclusyon now in ȝerys fyue Cune we not lerne þat sche doth in one“ Thus seyd þeis wysmen be row euerychon.47

„Oh guter Gott“, sagten diese Gelehrten alle, / „Diese Maid hat in ihrem Leben mehr gelernt / als wir geglaubt haben, denn sie weiß mehr als wir / Wir wundern uns darüber, wie sie unsere Argumente widerlegen kann / Um zu ihrem Ergebnis zu kommen [könnten wir] in fünf Jahren / (könnten wir) nicht lernen, was sie in einem lernt“. / So sprachen diese weisen Männer einer nach dem anderen.

Wiederum ist es möglich, dass diese Gelehrten einander von ihrer Überzeugung berichten, die hl. Katharina sei ihnen an Intelligenz und Wissen überlegen. Allerdings macht es auch Sinn, dass jeder Einzelne von ihnen selbstständig zu diesem Schluss gelangt, und dann handelt es sich um Bewusstseinsdarstellung. Zugegebenermaßen ist diese Kategorie daher in diesem Stadium der Untersuchung noch nicht sehr markant, aber es könnte durchaus noch eindeutigere Fälle geben, die ich bisher noch nicht entdeckt habe.48 Der Knackpunkt bei dieser Frage (Rede- oder Gedankendarstellung?) liegt im Gebrauch von seyd („sagten sie“), da dieses Verb im Mittelenglischen sowohl als verbum dicendi wie auch verbum cogitandi gebraucht wird und verbalisierte selbstgesprächsartige innere Rede einführt. Meine letzte Beispielkategorie ist eine relativ komplexe Passage von Chaucer, in der ein ausgedehnter Vergleich in einem erfundenen Selbstgespräch endet, das von einer Figur in der Welt des Metaphernspenders geäußert wird. Die Situation ist wiederum das Duell zwischen Palamon und Arcite. Als beide gerade dabei sind, sich aufeinander zu stürzen, schildert der Erzähler, dass ihnen die Röte ins Gesicht steigt und beginnt in einem ausgedehnten Vergleich die beiden Ritter mit Jägern zu vergleichen, die _____________ 47 48

Hier, I 414-420. In FLUDERNIK: Fictions of Language (Anm. 4), S. 195, Beispiel (68) habe ich ein weiteres Beispiel von Chaucers Man of Law’s Tale (B 621-625) zitiert, das jedoch zweideutig ist.

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einem gefährlichen und möglicherweise todbringenden Tier gegenüberstehen. Diese Spannung des Jägers, Auge in Auge mit Bär oder Löwe, ist, wie der Vergleich expliziert, für die Veränderung der Gesichtsfarbe der Ritter verantwortlich. Ihr Gesicht rötet sich, weil sie sich der Gefahr bewusst sind, dass einer der beiden in diesem entscheidenden Kampf den Tod finden könnte: (7.1.)

And in the grove, at tyme and place yset, This Arcite and this Palamon ben met. Tho chaungen gan the colour in hir face, Right as the hunters in the regne of Trace, That stondeth at the gappe with a spere, Whan hunted is the leon or the bere, And hereth hym come russhyng in the greves, And breketh bothe bowes and the leves, And thynketh, ‚Heere cometh my mortal enemy! Withoute faille, he moot be deed, or I: For outher I moot sleen hym at the gappe, Or he moot sleen me, if that me myshappe‘ So ferden they in chaungyng of hir hewe, As fer as everich of hem oother knewe.49

In einem Hain zu festgesetzter Stunde / haben sich Palamon und Arcite [sind] gefunden. / Da begann die Farbe in ihrem Gesicht sich zu röten / so wie bei Jägern in Thrakien, / die in einem Dickicht mit dem Speer stehen / wenn man den Löwen oder Bären jagt / und ihn kommen hören, wie er durch das Gehölz rennt / und die Äste und Blätter zertrampelt, / und so wie diese sich dabei denken ‚Hier kommt mein Todfeind! / Ohne Zweifel, entweder wird er sterben oder ich. / Entweder muss ich ihn hier töten, / oder wenn ich Pech habe, tötet er mich!‘ / so verhielten sie sich, als sich ihr Gesicht färbte, / als sie einander anblickten und sich erkannten.

Hier handelt es sich – formal gesehen – eindeutig um ein Selbstgespräch des metaphorischen Jägers aus dem Bildspender-Bereich der Metapher. Aus dieser Perspektive benötigt die Textstelle also kaum Erläuterungen. Was sie allerdings bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass sich Chaucer – und in dieser Hinsicht nimmt er deutlich Elemente des Romans vorweg – auf die Gefühle der Protagonisten konzentriert und große Mühe darauf verwendet, diese umfassend und ausführlich darzustellen. Der zweite bemerkenswerte Aspekt dieser Passage ist ihre literarische Stilebene. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Art des Vergleichs in den populäreren Genres der mittelenglischen Literatur zu finden ist, und soweit ich mir bewusst bin, treten solche komplexen Vergleiche erst wieder bei Gascoigne, Sidney und den anderen elisabethanischen Romanzen-Autoren auf. Aus europäischer Perspektive ist der Gebrauch solch ausgearbeiteter rhetorischer Figuren zu dieser Zeit keine Überraschung – Dantes Divina _____________ 49

Chaucer (Anm. 22), A 1635-1648.

„Durch einen dunkel verzerrten Spiegel“

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Commedia enthält eine Vielzahl solcher Vergleiche. In Bezug auf die uns zur Verfügung stehenden mittelenglischen Texte jedoch ragen derart originelle und komplexe Vergleiche, die sogar fiktive Selbstgespräche beinhalten, heraus und nehmen spätere Entwicklungen in der englischen Erzählkunst vorweg. IV. Schlussbemerkungen Meine Untersuchung mittelenglischer Literatur, die noch auf einem sehr begrenzten Textkorpus beruht, hat bereits zu einigen wichtigen Ergebnissen geführt. Erstens kann die radikale Trennung zwischen Rede und Gedanken, die die narratologische Diskussion in der Romananalyse dominiert hat, nicht auf gleiche Weise auf mittelalterliche Texte angewandt werden. Innere Rede von Figuren ist, wenn sie als direkte Rede wiedergegeben wird, deutlich artikuliert und ähnelt dramatischen Selbstgesprächen, die wahrscheinlich wiederum das narrative Selbstgespräch nachahmen. Nicht nur, dass Figuren das Selbstgespräch anderer mithören können, ohne dass dies als Angriff auf die Erwartungen des Lesers an den Realismus der Erzählung gewertet wird. Auch sind die Selbstgespräche selbst durchgängig durch inquit-Formeln wie seyd oder quoth eingeleitet, was darauf hinweist, dass man diese vielleicht mit ‚sagte zu sich‘ oder ‚äußerte‘ (anstelle von ‚dachte‘) übersetzen sollte. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, könnte darin bestehen, Rede- und Gedankenwiedergabe nicht in Rededarstellung versus Bewusstseinsdarstellung zu unterteilen, sondern in verbalisierte und nichtverbalisierte Bewusstseinszustände und verbalisierte innere Rede auf die Seite der Rededarstellung zu stellen, unausgeformte Gefühle, Emotionen und Empfindungen hingegen auf die der Bewusstseinsdarstellung. Zweitens kann man konstatieren, dass der häufig angenommene Parallelismus zwischen Formen der Rede- und der Gedankenwiedergabe auf das Mittelenglische ebenso wenig zutrifft. Die wichtigste Art der Bewusstseinsdarstellung ist die Beschreibung von Gestik und Körpersprache, die auf emotionale Aufwühlung hindeutet. Aufgrund der großen Zahl an entsprechenden Textstellen muss diese Kategorie der Liste mit Arten der Bewusstseinsdarstellung im Mittelenglischen hinzugefügt werden. Die Analyse, ob diese Technik in Texten von der Renaissance bis heute ebenso wichtig ist, wäre ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Alleine zu diesem Punkt könnten mehrere Studien durchgeführt werden (aufgehorcht, Doktoranden in Narratologiekursen!). Wie wir gesehen haben, kommt der Gedankenbericht, eine Art der Bewusstseinsdarstellung,

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die im Roman eine große Rolle spielt, auch im Mittelenglischen häufig vor. Bis ins 15. Jahrhundert sind die Beispiele jedoch eher kurze Sätze, einzelne Verben oder Nomina und keine längeren Passagen, wie sie später zum Regelfall werden. In der Terminologie von SEMINO/SHORT ist deshalb Gedankenbericht meist NRT (‚narrator’s report of thoughts or consciousness‘; ‚Erzählerbericht über Gedanken oder Bewusstsein‘), nicht NRTA (‚narrative representation of thought acts‘; ‚Erzählerbericht von Denkakten‘). NRTA erreicht seine volle Ausformung erst im späten 14. Jahrhundert (Chaucer) und etabliert sich mit der Prosaromanze des späten fünfzehnten Jahrhunderts als die wichtigste Form der Bewusstseinsdarstellung im Roman. Wie ich bemerkt habe, gibt es darüber hinaus eine Anzahl von Textstellen, in denen der Erzähler mitfühlend die Emotionen des Protagonisten in propria persona zu Gunsten der Zuhörer wiedergibt, die ebenfalls eingeladen sind, diese Gefühle nachzuempfinden. Auch hier dürfte eine Untersuchung des Ausmaßes dieser Darstellungsform nach 1500 zu interessanten Ergebnissen über eine verborgene Geschichte erzählerischer Teilhabe führen. Zuletzt gibt es, wie wir gesehen haben, einige wenige Fälle erlebter Rede im Mittelenglischen, obwohl sie nirgends so überzeugend sind wie im Altfranzösischen.50 Zusätzlich finden sich auch Darstellungen kollektiver Rede (und Gedanken?) in diesem frühen Entwicklungsstadium. Zusammenfassend kann man daher sagen, dass das Mittelenglische viel ausgedehntere narrative Darstellungen von Subjektivität und Innensicht zeigt, als ihm für gewöhnlich zugestanden wird (insbesondere von Spezialisten des Frühneuenglischen, die behaupten, Subjektivität habe sich erst im späten 16. Jahrhundert entwickelt).51 Trotz der klischeehaften _____________ 50

51

Siehe SUZANNE FLEISCHMAN: Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction, Austin 1990 (Texas Linguistics Series); SOPHIE MARNETTE: Speech and Thought Presentation in French, Amsterdam 2005 (Pragmatics & beyond; N.S. 133). Die Existenz von erlebter Rede im Altfranzösischen ist umstritten, da Forscher unterschiedliche Definitionen haben, was als wirkliches Beispiel für erlebte Rede gilt. Siehe zum Beispiel ELIZABETH HANSON: Discovering the Subject in Renaissance England, Cambridge 1998; VERENA LOBSIEN OLEJNICZAK: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur, München 1999; HUGH GRADY: Our Need for a Differentiated Theory of (Early) Modern Subjects. In: Philosophical Shakespeares. Hrsg. von JOHN J. JOUGHIN, London 2000 (Accents on Shakespeare), S. 34-50; CHRISTOPHER PYE: The Vanishing: Shakespeare, the Subject, and Early Modern Culture, Durham, NC 2000; PAUL DYCK/MATTHEW MARTIN: Constructions of the Early Modern Subject. In: Early Modern Literary Studies: A Journal of Sixteenth- and Seventeenth-Century English Literature 9 (2002), S. 1-3 sowie sämtliche Aufsätze dieses Sammelbandes; VERENA LOBSIEN OLEJNICZAK/ECKHARD LOBSIEN: Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert, München 2003; MARK C. AMODIO: Tradition, Modernity, and the Emergence of the Self in Sir Gawain and the Green Knight. In: Essays: Critical Approaches to Medieval and Renaissance Texts 8 (1995), S. 47-68; TERRY EAGLETON:

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Qualität der meisten Gefühlsregungen in mittelenglischen Texten werden Protagonisten dargestellt, wie sie leiden, Freude empfinden, zweifeln oder Angst haben. Der ästhetische Effekt der Darstellung ihrer Gefühle und Gedanken soll die Zuhörer emotional ergreifen und erreicht auch dieses Ziel. Zweitens wurden in diesem Artikel theoretische Fragen nach der Anwendbarkeit aktueller Modelle von Rede- und Gedankendarstellung aufgeworfen. Ich glaube, dass man, indem die Entwicklung von Gestik und Erzählerkommentaren in post-mittelalterlichen Texten berücksichtigt wird, möglicherweise ein Modell entwickeln könnte, das mittelalterliche und moderne Formen der Rede- und Bewusstseinsdarstellung integriert und die jeweils vorherrschenden Darstellungsmittel in der Analyse einzelner Epochen betont. Weitere Forschung auf diesem Gebiet ist nötig, bevor sich die Grundrisse eines solchen Modells abzeichnen könnten.

_____________ Self-Undoing Subjects. In: Rewriting the Self: Histories from the Renaissance to the Present. Hrsg. von ROY PORTER, London 1997, S. 262-269. Gegenargumente gegen eine spezifisch moderne Subjektivität finden sich bei DAVID AERS: A Whisper in the Ear of Early Modernists; or, Reflections on Literary Critics Writing the ‚History of the Subject‘. In: Culture and History 1350-1600. Essays on English Communities, Identities and Writing. Hrsg. von DAVID AERS, New York 1992, S.177-201; FRITZ PETER KNAPP: Subjektivität des Erzählers und Fiktionalität der Erzählung bei Wolfram von Eschenbach und anderen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Wolfram-Studien, XVII: Wolfram von Eschenbach - Bilanzen und Perspektiven. Hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS/ ECKART CONRAD LUTZ/KLAUS RIDDER, Berlin 2002, S. 10-29; ANTHONY C. SPEARING: Textual Subjectivity. The Encoding of Subjectivity in Medieval Narratives and Lyrics, Oxford, New York 2005; Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von MARTIN BAISCH u. a., Königstein 2005.

FLORIAN KRAGL

Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen? Oder: Warum bei höfischen Romanen Langeweile das letzte Wort hat und wieso Seifrit das bei seinem Alexander nicht wusste Shinbone ist ein verschlafenes Westernnest. Die meisten Leute dort können weder lesen noch schreiben, die Stadt und ihre Bewohner leben im Spannungsfeld zwischen dem Banditen Liberty Valance und seiner Gang und dem heldenhaften Farmer Tom Doniphon. Das ändert sich mit dem Eintreffen des frisch gebackenen, jungen Anwalts Ransom Stoddard: Er wird später als The Man Who Shot Liberty Valance – so nannte John Ford seinen späten Film von 1962 mit James Stewart (Stoddard), Lee Marvin (Valance) und John Wayne (Doniphon) – Karriere machen; obwohl er bestenfalls der Mann ist, who supposedly shot Liberty Valance. Tatsächlich war es ein anderer. Doch das ist eine andere Geschichte. Mir geht es hier nur um eine kurze und doch wichtige Szene dieses Films, der das Genre ‚Western‘ wie kaum ein anderer dekonstruiert hat. Es ist eine Unterrichtsszene, genau zur Mitte des Films, in der Ransom Stoddard, der Anwalt, den Lernwilligen, zum Teil auch den zum Lernen Gezwungenen Stunden in Allgemeinwissen gibt: Da gehört das Abc genauso dazu wie Grundkenntnisse in amerikanischer Verfassungsgeschichte. Zu den Schülern zählen Kinder im Volksschulalter, raubeinige Cowboys, interessierte Bürger oder die hübsche Hallie (Vera Miles) – die, für den Moment, schüchterne Blickkontaktliebe und spätere Frau von Ransom Stoddard. Ransom Stoddard betritt in dieser Szene den bereits übervollen Schulraum und beginnt, wie es ein guter Lehrer eben tut, mit der Wiederholung des bisher Gelernten: Die Kinder singen im Chor das Abc, die etwas pummelige, im Bewegen wie im Formulieren gleichermaßen ungeschickte Nora erklärt, was sie über die Vereinigten Staaten und den Begriff ‚Republik‘ gelernt hat. Und dann fragt Stoddard weiter. Fragt nach dem Grundgesetz der USA. Die Streberin Julietta meldet sich, wie immer, doch Stoddard winkt ab. Da zeigt, ermuntert von seinem Sitznachbarn, Pompey

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(Woody Strode), der Knecht von Tom Doniphon, auf – und scheitert kläglich an der Fragestellung: „It was writ by Mr. Thomas Jefferson of Virginia.“ – und Stoddard korrigiert: „was written“. Pompey: „He called it the Constitution.“ Und Stoddard berichtigt: „Declaration of Independence.“ Pompey versucht, den Anfang der Deklaration zu zitieren: „We hold these truths to be ... “ – er weiß nicht mehr weiter, sein Sitznachbar Charlie flüstert ihm zu: „self-evident“, Stoddard untersagt das Einsagen. Pompey will weiter zitieren, doch es will ihm nicht einfallen, welche Wahrheit denn selbstverständlich ist, so dass ihm schließlich Stoddard selbst aus der Patsche hilft: „... that all men are created equal.“ – Pompey schämt sich, dass er all das nicht mehr besser wusste, und entschuldigt sich mit einem Satz, der implizit seine dümmliche Art nochmals illustriert: „I knew that, Mr. Rans, but I plumb forgot it.“ Doch wichtiger als sein Versagen ist, wie Ransom Stoddard reagiert: Er wird als nicht nur guter, sondern auch gütiger Lehrer gezeichnet, der Verständnis für Pompey und seinen lapsum memoriae hat: „Alright, Pompey. A lot of people forget that part. You did just fine, Pompey.“ Das ist wohl auch eine Spitze gegen die anwesenden, stockkonservativen Bürger von Shinbone, denen die zitierte Gleichheit aller Menschen alles andere als selbstverständlich erscheint. Was ich hier am Beispiel eines Western-Klassikers beschrieben habe, ließe sich in unzähligen anderen, nicht selten patriotisch-kitschigen Filmen in ganz ähnlicher Form finden: Eine Unterrichtsszene, in der ein freundlicher, kompetenter, verständnisvoller Lehrer Grundsätze der Welt, wie sie sein soll, darlegt. Interessierte, begeisterungsfähige, bunt gemischte Schüler lauschen dem Vortrag oder beteiligen sich, wenn es die Situation verlangt, mit Freude am Unterricht. Es ist nichts anderes als ein sehr schematisches Handlungsgerüst, das hier realisiert wird, und dessen strukturelle Funktion weniger im Geschehen, in der präsentierten Unterrichtshandlung an sich liegt, sondern mehr in seiner Bedeutung für die Erzählwelt, in der es steht: Zum einen werden positive Werte des Erzähluniversums festgeschrieben, zum anderen wird der Charakter des flawless hero als klug, wissend, gebildet, menschlich, wohlwollend, uneigennützig, nachsichtig u. s. w. markiert. Erzähltheoretisch könnte man von einem Erzählschema sprechen. I. Erzähltheorie und Erzählschemata Wenn es in diesem Band ganz allgemein um Erzähltheorie geht, ist dieses Beispiel als Einstieg schlecht gewählt. Zwar ist, was ich hier beschrieben habe, ein erzähltheoretisches Phänomen, und auch der evident strukturalistische Zugriff – die Zuschreibung einer strukturellen Funktion zu einem

Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen?

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Handlungselement – kann als typisch auch für die gegenwärtige erzähltheoretische oder narratologische Begriffsbildung gelten.1 Ganz gleich, ob man diverse Online-Angebote von erzähltheoretischen Forschungsinstitutionen oder einführende Literatur nimmt: es geht, wie es etwa in der Präambel zum ‚Grundkurs Narratologie‘ des Interdisziplinären Centrums für Narratologie an der Universität Hamburg – die inzwischen ein ganzes NarrNetz betreibt – heißt, um „eine narratologische Beschreibung eines Textes und eine Strukturanalyse“.2 Die Einführungen zur Erzähltheorie, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen, vermitteln ein ganz ähnliches Bild.3 Und trotzdem: schlecht gewählt, dieses Beispiel. Schlecht gewählt, weil bei meinem einleitenden Beispiel die makrostrukturelle4 Komponente _____________ 1

2

3

4

Nicht verständlich ist mir, wie eine poststrukturalistische Narratologie auszusehen hätte, wie sie z. B. JÖRG SCHÖNERT: Was ist und was leistet Narratologie? Anmerkungen zur Geschichte der Erzählforschung und ihrer Perspektiven. In: literaturkritik.de 4 (April 2006), überarbeitete Version von: JÖRG SCHÖNERT: Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie. In: Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien. Hrsg. von VITTORIA BORSÓ/CHRISTOPH KANN, Köln, Weimar, Wien 2004 (Europäische Geschichtsdarstellungen 6), S. 131-143, konzipiert. Poststrukturalistische Narratologie kann immer nur Reaktion auf ein strukturalistisches Modell sein. Es sei denn, Poststrukturalismus wird nicht als Methode, sondern als Inhalt gesetzt, wozu man wohl besser Postmodernismus sagen würde. Dann aber geht es bloß um die inhaltliche Fokussierung bzw. Kontextualisierung narratologischer Studien – die Methodik wäre nach wie vor strukturalistisch. Eher hat es den Anschein, als würden sich dem Selbstverständnis nach poststrukturalistische erzähltheoretische Arbeiten insofern von der ‚klassischen‘ Erzähltheorie abheben, als sie verstärkt kognitionstheoretische und rezeptionsästhetische Modelle verwenden. Vgl. die in Anm. 56 zitierten Arbeiten. „Grundkurs Narratologie – Studies in Narrative Formations I“, URL: https://elsrv.rrz.unihamburg.de/public/FB07_Narrative_Formations_I/index.html (24.10.2007). Vgl. auch die Lernziele des NarrNetz: „Erwerb der Fähigkeit zur medienübergreifenden Analyse und zum transmedialen Vergleich narratologischer Phänomene auf der Grundlage vorgegebener Beschreibungskategorien und Theorieansätze; Erwerb der Fähigkeit zur transmedialen, interdisziplinären theoretischen Reflektion narrativer Phänomene“, URL: http://www.icn.uni-hamburg.de/NarrNetz/ (24.10.2007). HORACE PORTER ABBOTT: The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge 2003; MATÍAS MARTÍNEZ/MICHAEL SCHEFFEL: Einführung in die Erzähltheorie, München 52003 (C. H. Beck Studium); MIEKE BAL: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto, Buffalo, London 21997 (Foundations & facets; Literary facets), expressis verbis S. X; WOLF SCHMID: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2005 (Narratologia 8) (vgl. Anm. 57); JOCHEN VOGT: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 8., durchges. und aktualis. Aufl., Opladen 1998 (WVStudium; Literaturwissenschaft 145); MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006 (Einführung Literaturwissenschaft) versucht, in ihre Darstellung auch poststrukturalistische Ansätze mit einzubeziehen, bleibt aber im Wesentlichen ebenfalls einem strukturalistischen Zugriff verhaftet. Ich verwende ‚makro-‘ und ‚mikrostrukturell‘ bewusst. In Vielem wäre es – in Anlehnung an GENETTE – denkbar, von ‚Diskursebene‘ und ‚Histoireebene‘ zu sprechen, was aber im Detail den Sachverhalt verzerren würde: Die Art, wie makrostrukturelle Erzählschemata

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eines Erzählphänomens ins Zentrum gerückt wird. Die neuere Erzähltheorie, wie sie die deutsche Literaturwissenschaft kennt – im angloamerikanischen Raum ist die Schwerpunktsetzung etwas abweichend5 –, fokussiert demgegenüber vor allem Phänomene der narrativen Mikrostruktur: seien dies nun Phänomene der Erzählperspektive, der Fokalisierung, der narrativen Zeit – kurz: vergleichsweise kompakte erzähltheoretische Einheiten, die man ‚Erzähltechniken‘ zu nennen versucht ist.6 Locus classicus sind hierbei natürlich vor allem die Beiträge GÉRARD GENETTES.7 Auch das Streitgespräch von HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER konzentriert sich auf diese mikrostrukturellen Einheiten – oder ergeht sich in weit ausgreifenden, im Grunde metaphorischen Überlegungen zur Gattungsgeschichte anhand der Begriffe ‚Epos‘ und ‚Roman‘. Woher dieses Desinteresse an makrostrukturellen Einheiten? Ich sehe, das ist nur eine Vermutung, dafür zwei Gründe. Der eine ist ein forschungsgeschichtlicher: Zu sehr erinnern Abstraktionsversuche von Narrationen zu abstrakten Handlungsgerüsten an die ältere Märchen-, Sagenund Motivforschung à la VLADIMIR PROPP8, STITH THOMPSON9 oder HELMUT BIRKHAN10, deren reduktionistischer Gestus heute Befremden auslöst. Der andere Grund mag im Gegenstandsbereich der modernen Erzähltheorie liegen: Wer sich mit Dostojewski oder Proust beschäftigt, wer primär Höhenkammbetrachtung an Literatur des 19. und (schon seltener) 20. Jahrhunderts betreibt, der wird auf makrostruktureller Ebene – erzähltheoretisch – ganz einfach nicht weit kommen. Die hochkomplexe, singuläre Handlungsstruktur dieser (meist) Romane sträubt sich gegen die Einordnung in generalisierbare, über den einzelnen Text hinaus relevante Handlungsschemata. Der makrostrukturelle Bereich bleibt zwar, auch für Höhenkammliteratur des 19. bis 21. Jahrhunderts, analytisch und interpre_____________

5 6 7 8 9 10

konstituiert sind, verbindet GENETTEs Deskriptoren: Da es sich um inhaltliche Versatzstücke handelt, gehören sie zur histoire. Da aber den einzelnen Episoden bei einer makrostrukturellen Analyse funktionale oder semantische ‚Bedeutungen‘ im Strukturgefüge zugeschrieben werden, hat man es zugleich mit einem Phänomen des discours zu tun. Vgl. FLUDERNIK (Anm. 3), S. 40. – Man vergleiche etwa die Einführungen von ABBOTT (Anm. 3) und MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 3). Ein, wie ich meine, typisches Beispiel ist die Einführung MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 3). Vor allem GÉRARD GENETTE: Die Erzählung. Aus dem Frz. von Andreas Knop, mit einem Nachw. hrsg. von JOCHEN VOGT, München 21998 (UTB 8083). VLADIMIR PROPP: Morphologie des Märchens. Hrsg. von KARL EIMERMACHER, Frankfurt a. M. 1975 (stw 131). STITH THOMPSON: Motif-Index of Folk Literature. A Classification of Narrative Elements in Folktales, Ballads, Myths, Fables, Mediæval Romances, Exempla, Fabliaus, Jest Books and Local Legends, rev. and enlarged Ed., Kopenhagen 1955-1958. HELMUT BIRKHAN u. a.: Motif-index of the German Secular Narratives from the Beginning to 1400, 6 Bde. und 1 CD-ROM, Berlin, New York 2005/06.

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tatorisch interessant, doch theoretisierbar – das heißt: in Form allgemeiner Regeln fassbar, wie das einleitende Beispiel – ist er kaum noch. Schlecht gewählt – trotzdem gewählt. Denn in dem Moment, wo ich diese Höhenkammperspektive ad acta lege, erweitert sich der Horizont erheblich.11 Bleibt man in der Gegenwart, könnte man vielleicht an BasteiLübbe-Heftchen denken, oder aber – für mich erträglicher – an das Medium Film. Zum Beispiel eine Hollywood-Liebeskomödie: Die beginnt mit der Exposition zweier denkbar unterschiedlicher Charaktere: sozial verschieden (Mauerblümchen- oder Prostituiertenszenario12), politisch verschieden (revolutionär vs. reaktionär), religiös verschieden – ganz egal. Die beiden geraten irgendwie aneinander, verlieben sich trotz aller Widrigkeiten – das ist halt die Macht der Liebe –, eine Romanze bricht sich Bahn. Pünktlich zur Filmmitte die obligate Kerzenlichtbettszene, wenn nicht mit richtigem, dann immerhin mit ‚gefühltem‘ Kerzenlicht. Dann aber entstehen furchtbare Verwechslungen oder Missverständnisse, ein grober Streit wird vom Zaun gebrochen, die junge Liebe scheint zu scheitern. Doch im Punkt größter emotionaler Verzweiflung löst sich alles in einem ‚Happy Ending‘ auf, das bedingungslose Zweisamkeit ohne Aussicht auf Bewährung garantiert. Freilich: Was ich hier mit wenigen Strichen angedeutet habe, ist sehr vereinfacht und im Detail sicher hinterfragbar. Verlässt man aber die Gegenwart und erweitert den Horizont in die Vergangenheit, kann man sich – kann ich mich – von der Last der Beweisführung befreien und auf eine Fülle von Forschungsliteratur verweisen, die genau das über Jahrzehnte hinweg betrieben hat. Die Rede ist von erzähltheoretischen Arbeiten, wie sie im altgermanistischen Bereich entstanden sind – davon, wie man seit dem mittleren 20. Jahrhundert versucht hat, mittelalterliche Erzähltexte erzähltheoretisch in den Griff zu bekommen; die Rede ist von HUGO KUHNs Erec-Aufsatz von 194813 und den Folgen. KUHNs Strukturanalyse des Erec war – auch wenn sie sich auf ältere Arbeiten aus dem frühen 20. Jahrhundert berufen konnte14 – ein großer _____________ 11 12 13

14

Vgl. in Ansätzen MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 3), S. 135f. Pretty Woman (1990) ist nur eines von vielen Beispielen für diese moderne Variante der Aufsteigergeschichte – die Ministerialenthese lässt grüßen. HUGO KUHN: Erec. In: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen 1948, S. 122-147; wieder in: DERS.: Kleine Schriften I: Liebe und Gesellschaft. Hrsg. von WOLFGANG WALLICZEK, Stuttgart 21969, S. 133-150; und in: Hartmann von Aue. Hrsg. von HUGO KUHN/CHRISTOPH CORMEAU, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 359), S. 17-48. Siehe ELISABETH SCHMID: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, Tübingen 1999, S. 69-85.

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Wurf. Erstmals ist es gelungen, abseits von rückprojizierten geistesgeschichtlichen Fragen (z. B. nach ‚Schuld‘) eine Analyse und Interpretation des höfischen Romans zu entwerfen, die von sich behaupten konnte, am Material selbst entwickelt worden zu sein. Was KUHN und dann vor allem auch WALTER HAUG15 gefunden haben, waren ‚Gerüststrukturen‘ von Texten; Handlungsschemata, die – das ist jetzt ganz im Sinne von HAUG gedacht – garantieren, dass ein wie auch immer gefundener Stoff literarisch-großepisch verständlich gemacht werden kann.16 Der doppelte Kursus des Artusromans stellt hier nur eine Möglichkeit dar, daneben gibt es das Brautwerbungsschema der so genannten ‚Spielmannsepen‘, das Schema der gestörten Mahrtenehe, die Exil-Rückkehr-Fabel bzw. Fluchtsage der historischen Dietrichepik, Befreiungs- und Erlösungsschema der aventiurehaften Dietrichepik u. s. w.17 Die Altgermanistik ist diesem makrostrukturellen, ‚makrostrukturalistischen‘ Zugriff auf Texte bis heute treu geblieben, und so kommt es, dass Erzähltheorie in der Altgermanistik eine recht ‚schematische‘ Angelegenheit ist. Anders als in der allgemeinen Erzähltheorie ist man häufig auf der Suche nach ‚Sinnstrukturen‘, die hinter einer Handlung stehen. Das geht so weit, dass selbst der einflussreiche Entwurf einer Literaturtheorie des deutschen Mittelalters, den HAUG in den 80er Jahren aus digressiven Passagen mittelalterlicher Erzählliteratur konstruiert hat, im Wesentlichen eine Erzähltheorie nach diesem Muster darstellt.18 Man könnte nun wieder über die Gründe für dieses Missverhältnis zwischen allgemeiner und altgermanistischer Erzähltheorie nachdenken. Ein Grund mag – forschungsgeschichtlich – in der Faszination liegen, die von KUHNs Idee ausgegangen ist, so dass man vor allem in den 1970er Jahren kaum anderes zu tun hatte, als Doppelwege in Artus- und anderen _____________ 15

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Das Gros der Arbeiten HAUGs ist von diesem Zugriff geprägt, vgl. vor allem die Aufsatzsammlungen: WALTER HAUG: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Studienausgabe, Tübingen 1990; DERS.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995. Dieses Theorem ist nach wie vor aktuell, vor kurzem etwa hat DAVID HERMAN mit ‚story logic‘ (auf allen erzählstrukturellen Ebenen) zu beschreiben versucht, wie Erfahrungen (in einem sehr allgemeinen Sinne) durch Erzählen bzw. Erzähllogik organisiert und verstanden werden können. DAVID HERMAN: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, Lincoln (Nebraska) 2002 (Frontiers of Narrative). Eine Engführung dieser altgermanistischen Zugriffe mit PROPPs ‚Funktionen‘ hat RALF SIMON: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990 (Epistemata. Literaturwissenschaft 66), unternommen. WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992 (Germanistische Einführungen).

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höfischen Romanen zu suchen.19 Ein anderer Grund könnte die Schwierigkeit sein, andere erzähltheoretische Begriffe auf das Mittelalter zu applizieren, so dass man dies erst in der jüngsten Zeit (etwa GERT HÜBNERs Buch zur Fokalisierung)20 gewagt hat; und daher haben HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER schließlich auch die Tagung in Osnabrück organisiert, deren Ergebnisse dieser Band vorlegt. Ein dritter Grund mag auch in der Machart der Texte selbst liegen, die es – ähnlich wie das Hollywood-Liebeskomödienbeispiel oben – einem oft sehr leicht machen, konkrete Handlungsverläufe zu ‚Gerüststrukturen‘ zu abstrahieren.21 Sei es, wie es sei. Ich will mir diese spezifische Konfiguration der altgermanistischen Erzähltheorie zunutze machen und die allgemeine Fragestellung nach dem Historisierungspotential bzw. nach der Historisierbarkeit von Erzähltheorie pars pro toto im makrostrukturellen Bereich durchdeklinieren. Historisierung verstehe ich dabei in einem doppelten Sinne: einmal im Sinne der Beschreibung eines historischen Prozesses von Station A nach Station B, einmal – grundlegender – im Sinne einer historisch ‚adäquaten‘ Deskription narrativer Phänomene. Anders gesagt: Historisierung ist zum einen das Erzählen einer Geschichte mithilfe eines neuzeitlichen Instrumentariums, zum anderen die Frage nach der prinzipiellen Applizierbarkeit dieses neuzeitlichen Instrumentariums auf einen ‚historischen‘ Gegenstand. Das wäre, hoffe ich, auch im Sinne von HAFERLANDs und MEYERs Streitgespräch. Hingewiesen sei aber schon einleitend auf einen Unterschied zwischen meinem Zugriff und den Beispielen in der Tagungseinladung: Zwar wird in beiden Fällen mit einem neuzeitlichen Instrumentarium operiert. Doch während dies dort vor allem an Texten der letzten 200 Jahre entwickelt worden ist bzw. wird, ist es hier in Auseinandersetzung mit ‚alten‘ Texten entstanden. Ich werde darauf zurückkommen. Für den Moment bleibe ich bei meinem grundlegenden Problem: der Historisierbarkeit von Erzählschemata.

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Zum Beispiel für den Lanzelet – und z. T. mit sehr abenteuerlichen Hypothesen, um die sperrige Handlung nur ja als Doppelweg geltend zu machen: PATRICK M. MCCONEGHY: Aventiure and Anti-Aventiure in Ulrich von Zatzikhoven’s Lanzelet and Hartmann von Aue’s Iwein. In: The Germanic Review 57 (1982), S. 60-69; KLAUS M. SCHMIDT: Frauenritter oder Artusritter? Über Struktur und Gehalt von Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet. In: ZfdPh 98 (1979), S. 1-18. GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44). Der letzte Gedanke zwischenzeilentlich auch bei MARTÍNEZ/SCHEFFEL (Anm. 3), S. 136f.

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II. Historisierbarkeit von Erzählschemata 1. Themenstellung: höfische ‚Happy Endings‘ Eine Möglichkeit wäre, ein bestehendes Instrumentarium hinsichtlich seiner Historisierbarkeit zu überprüfen, nahe läge natürlich als Paradebeispiel der arthurische Doppelweg als erzähltheoretisches Analyseraster. Hier hat man auch immer wieder Historisierungsversuche gemacht, meist freilich nach einem recht einfach gestrickten Muster: Je nachdem, ob in einem Text ein doppelter Kursus noch nicht oder nicht mehr (in idealtypischer Form) zu finden war, hat man sich die deutsche Artusliteratur in vorklassische, klassische und nachklassische Romane eingeteilt.22 Und eine solche Historisierung ließe sich auch beliebig erweitern – letzten Endes bis zu Quentin Tarantinos Death Proof, der im Sommer 2007 in den Kinos zu sehen war und als ‚invertierte‘ Doppelwegvariante beschrieben werden könnte: ein Antiheld und Bösewicht, der seinen Untergang über einen erstaunlich rigide durchgeführten doppelten Kursus erreicht. Problem bei diesem Beispiel wäre freilich, dass man es mit einem erzähltheoretischen Deskriptor zu tun hätte, der mit forschungsgeschichtlichem Ballast überladen ist wie kaum ein anderer. ELISABETH SCHMID hat schon vor einiger Zeit eindrücklich demonstriert, wie problematisch der doppelte Kursus, und vor allem: wie problematisch die mit ihm verbundenen Implikationen als analytisches Instrument sind.23 Ich will mich daher an eine tabula rasa setzen, will ein anderes, ein erfundenes oder neu gefundenes Beispiel wagen – ein Experiment sozusagen, das in seiner Konzentration auf nur einen einzigen makrostrukturellen Baustein einem Laborversuch gleichen mag. Es geht um die closure eines höfischen Romans, darum, wie ein höfischer Roman endet.24 Es geht um die ... _____________ 22

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Vgl. etwa WALTER HAUG: „Das Land, von welchem niemand wiederkehrt“. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chrétiens Chevalier de la Charrete, im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven und im Lancelot-Prosaroman, Tübingen 1978 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21), S. 60 u. ö. SCHMID (Anm. 14). Grundlegend der Forschungsbericht von CORINNA BIESTERFELDT: Werkschlüsse in der höfischen Epik des Mittelalters. Ein Forschungsbericht. In: LiLi 99 (1995), S. 51-68 und die Bibliographie von WOLFGANG HAUBRICHS: Kleine Bibliographie zu ‚Anfang‘ und ‚Ende‘ in narrativen Texten (seit 1965). In: LiLi 99 (1995), S. 36-50. Nicht erfasst (weil später erschienen) sind darin: UWE RUBERG: Die Königskrönung Erecs bei Chrétien und Hartmann im Kontext arthurischer Erzählschlüsse. In: LiLi 99 (1995), S. 69-82; MONIKA UNZEITIG-HERZOG: Überlegungen zum Erzählschluß im Artusroman. In: WOLFZETTEL (Hrsg.): Erzählstrukturen (Anm. 14), S. 233-253. – Die Forschung zu Erzählschlüssen spielt im deutschsprachigen Raum eine vergleichsweise kleine Nebenrolle, während im angloamerikanischen Bereich – vor allem zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Film – eine ganze Reihe von Arbeiten vorliegen. Vgl. die umfassende Zusammenstellung

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2. Konstruktion eines ‚schematischen‘ Deskriptors a) Erec Das nachgerade klassische Beispiel für ein solches höfisches ‚Happy Ending‘,25 wie ich es für meine Themenstellung im Blick habe, liefert Hartmanns Erec.26 Ich paraphrasiere die Stelle kurz und beginne nach Erecs Sieg über Mabonagrin – wir sind also in Brandigan: Alle sind von Erecs Sieg überrascht und halten Mabonagrins Niederlage für unglaublich. Ivreins von Brandigan, der Burgherr, führt alle in den Garten (dessen Eingang sonst niemand zu finden im Stande ist), man übt sich – für einen Friedensschluss doch befremdlich – in vrôem wîcsange (V. 9660). Alles Leid ist in Freude verkehrt, Erec wird wortreich gelobt (V. 9628-9679). Enite und die Geliebte Mabonagrins freunden sich an, finden heraus, dass sie genifteln (V. 9717) sind und beide in Lute geboren wurden, was sie lauthals verkünden (V. 9680-9743).27 Man nimmt die Köpfe der früheren Gegner Mabonagrins von den Pfählen des Baumgartens und organisiert entsprechende Begräbnisse. Die Kunde von der Wiedererringung der Hoffreude macht im ganzen Land die Runde, es folgt ein großes, vierwöchiges Fest. Noch immer traurig aber sind die 80 Witwen, deren Männer Mabonagrin erschlagen hat und mit denen Ivreins und Erec großes Erbarmen zeigen. Erec lädt die Frauen an den Artushof; Ivreins ist einverstanden und kleidet sie nach ihrem Willen swarz riuwevar (V. 9857; V. 9744-9857). Nach Ende des Festes bricht Erec mit den Frauen zum Artushof auf, Ivreins und seine Leute geleiten sie noch ein Stück Weges. Am Artushof bereitet man ihnen einen herzlichen Empfang, ist aber von der einheitlich schwarzen Kleidung etwas irritiert. Erec wird breit gelobt, dann begeben er und Artus sich ins Gemach der Frauen, die radikal gelîche sind (V. 9934-9939). Artus lobt Erec, nicht zuletzt weil er des hoves wünne _____________

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unter ‚Narrative Closure‘ bei JOSÉ ANGEL GARCÍA LANDA: A Bibliography of Literary Theory, Criticism and Philology, 12. Aufl. (2007), URL: http://www.unizar.es/ departamentos/filologia_inglesa/garciala/bibliography.html (18.11.2007). Auch die meisten bei HAUBRICHS gelisteten Arbeiten entstammen dem anglo-amerikanischen Raum. Nichts zu Handlungsschlüssen, Romanenden und dergleichen findet sich bezeichnenderweise im ‚Ende-Band‘ in der Reihe ‚Poetik und Hermeneutik‘: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von KARLHEINZ STIERLE, München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16). – In der einführenden Literatur beschäftigt sich nur ABBOTT (Anm. 3), S. 51-61 mit ‚Closure‘. Vgl. RUBERG (Anm. 24), S. 81. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von ALBERT LEITZMANN, fortgef. von LUDWIG WOLFF, 6. Aufl. bes. von CHRISTOPH CORMEAU/KURT GÄRTNER, Tübingen 1985 (ATB 39). Imain von Tulmein ist ihr beider Onkel: Mutterbruder oder Mann der Mutterschwester Enites, Vaterbruder oder Mann der Vaterschwester der Geliebten Mabonagrins; – bei Chrétien sind die Väter Brüder (V. 6207-6210). Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Erec und Enide. Afrz./Dt. Übers. und hrsg. von ALBERT GIER, Stuttgart 1987 (RUB 8360).

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(V. 9948) vermehrt habe – und man weiß nicht, ob Artus die Erfolge Erecs meint, oder dass er die Frauen an seinen Hof gebracht hat. Jedenfalls sei verflucht, wer Erec nicht Gutes (oder Besitz?) gönnt. Alle (vermutlich sind die 80 Frauen gemeint) sprechen âmen (V. 9951) – und die Stimmung der Trauerfrauschaft wechselt ins Positive. Die Frauen bekommen von Artus neue Kleidung, die der renovierten Freude angemessen ist, sie ehren ihn dafür (V. 9858-9962). Nun hält man Erec und Guivreiz am Artushof in hohen Ehren. Als aber Boten berichten, dass Erecs Vater verstorben ist, nimmt Erec Abschied in Richtung Karnant und beschenkt dabei die Armen reichlich. Auch Guivreiz macht sich nach Irland auf. Man geleitet sie bis zur Weggabelung. In Karnant kommen Erec 6000 seiner Landsleute drei Tagreisen weit entgegen, ein überschwänglicher Empfang vertreibt jede Trauer. Erzähler und Erecs Untertanen veranstalten ein hypertrophes Erec-Lob, es folgt das größte Fest aller Zeiten, das sechs Wochen lang dauert. Erec wird gekrönt, die ideale Herrschaftsfolge ist garantiert, überall herrscht Friede. Enites Eltern kommen nach Karnant, um mit dem jungen Herrscherpaar zu leben. Doch selbst die Schwiegerleute können die penetrante Freude nicht trüben, zumal die ja von Gott herstammt, der Erec und Enite schließlich noch das ewige Leben schenkt (V. 9963-10135). Was hier auf ca. 500 Versen beschrieben wird, mag auf einen heutigen Leser wie eine Akkumulation der Langeweile an sich wirken. Doch was sich so unspektakulär liest, diese spezifisch höfische Art eines ‚Happy Endings‘, ist nicht bloß fade, sondern besteht aus ganz bestimmten Ingredienzien: 1. Alle offenen Handlungsprobleme sind oder werden gelöst, Mabonagrin ist besiegt, Erecs Weg ist zu Ende. 2. Überall ist Versöhnung, Freundschaft, Friedensschluss, hier zwischen Erec und Mabonagrin sowie zwischen Enite und Mabonagrins Geliebter. 3. Die Ordnung wird restituiert: Die Köpfe werden von den Pfählen genommen und ordentlich bestattet, alle gehen in ihre Herrschaftsgebiete, Herrschaftsvergabe und Herrschaftsnachfolge werden geregelt, die dynastischen Pläne werden umgesetzt: Erec und Enite gehen nach Karnant, Guivreiz nach Irland, Enites Eltern zu Erec und Enite. 4. Das alles wird von schwerem ideellem Geschütz begleitet: Alle und alles steht in größter, hundertfach konstatierter Freude, die vor allem in ein paar größten Festen, die es je gab, Ausdruck findet. Die Herrscher demonstrieren unermessliche milte, die Tugend der Untertanen ist triuwe, der Frieden ist auf lange Sicht garantiert.

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5. Die Schilderung dieser Vorgänge ist – das konnte meine Zusammenfassung nicht abbilden – voller Iterationen und Redundanzen, z. B. stellt Entgegenreiten oder Geleitgeben eine conditio sine qua non dar; was auf 500 Verse verteilt ist, ließe sich auch in 50 sagen. Geleistet wird mit einer solchen Schilderung eine Schlussmarkierung, die kaum deutlicher sein könnte: Alle Handlungsfäden sind gelöst bzw. zu Ende gebracht, und auch die Protagonisten stehen nach ihrer Rückkehr in ihre Herrschaftsgebiete nicht mehr für weitere Episoden zur Verfügung. Das ‚Happy Ending‘ wird mit einer derartigen Konsequenz inszeniert, dass nichts mehr offen bleibt. Die annähernde Deckungsgleichheit von histoire- und discours-Fortschritt unterbindet jede weitere Bewegung. Und natürlich fragt man sich: ‚ganz Gallien‘? Nein. Es gibt doch das eine oder andere kleine Erzähldorf, das nicht komplett gelähmt ist, es bleiben einige – wenige – ungelöste Probleme: Da ist beispielsweise der vrô wîcsanc – ‚fröhlicher Schlachtgesang‘ –, der schlecht zum allseitigen Frieden passt. Und da ist, viel drastischer, das Leid der 80 Witwen, das zwar aus der Handlung verschwindet – doch wieso es das tut, ist schwer zu sagen.28 Werden die Frauen einfach nur glücklich, weil Artus zu ihnen spricht? Weil er Erec lobt? Oder weil er – mit seinem Erec-Lob – signalisiert, dass er sich über ihre Anwesenheit freut? Oder werden sie fröhlich, weil alle fröhlich sind, sozusagen aus Gruppenzwang? Und dann bekommen sie auch noch neue Kleidung, damit sie ihre Trauer ganz wörtlich ablegen und sich, wieder wörtlich, in Freude kleiden können. Oberflächlicher kann ein Stimmungsumschwung kaum sein! Hier wird Einiges kaschiert, und immer wird es mit wenigen Versen abgetan. Die Erzählwelt ist also nicht vollständig paralysiert – doch es wird so getan, als ob sie es wäre. Und das mit einer Vehemenz, die jedem Einspruch das Fürchten lehrt. b) Lanzelet Trotzdem ist das längst kein extremes Beispiel, eher ein durchschnittliches Ende. Denn im Vergleich zum Handlungsschluss von Lanzelet, Wigalois29 oder Daniel30 nimmt sich der Erec-Schluss geradezu lakonisch aus. Ich bleibe – um das Schema mit einem zweiten Beispiel abzusichern – beim Lanzelet:31 _____________ 28 29 30 31

Bei Chrétien fehlt diese Geschichte der 80 Witwen. – RUBERG (Anm. 24) unternimmt zwar einen Vergleich der Schlüsse der beiden Erec-Romane, konzentriert sich dabei aber auf die Krönungsszenen und geht daher nicht weiter auf dieses Witwen-Problem ein. Siehe Anm. 32. Siehe Anm. 34 und 35. Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Bd. 1: Text und Übersetzung, Bd. 2: Forschungsbericht und Kommentar. Hrsg. von FLORIAN KRAGL, Berlin, New York 2006.

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Nachdem die Ginover-Entführung durch Lanzelet beendet ist und auch Erec samt Walwein aus den Fängen des bösen Zauberers Malduc befreit sind, reiten Lanzelet, Erec, Walwein und die weiteren Protagonisten der Befreiungsaktion zurück an den Artushof. Artus kommt seinen Leuten einen halben Tag weit entgegen und empfängt sie prächtig in großer Freude (V. 7717-7756). Das ganze Land versammelt sich (Könige, Grafen, Herzöge) und es wird das größte Fest gefeiert, das man je in so kurzer Zeit hat organisieren können. Buhurt, Tanz, Spiele. Alle sind fröhlich, Lanzelet und sein Glück werden groß gelobt, ihn, den alle lieben, erklärt man zum größten Ritter (V. 7757–7816). Doch dann zerbröselt der Friedefreudeeierkuchen – für ganz kurz nur freilich: Iblis erzählt ihrem Mann Lanzelet das aller vremdeste maere (V. 7835), das geschehen ist, während er nicht am Hof war: von einem Drachen, der geküsst werden will, und vor dem sich alle Artusritter zu Tode fürchten. Lanzelet macht sich auf, um auch diese Herausforderung noch zu meistern, und ‚erküsst‘ Elidia, die Königstochter von Thile, aus ihrer bärtigen Drachengestalt. Sie wird am Artushof rihtaerîn über di hübscheit (V. 8035), Lanzelet durch diese Probe als bester Ritter aller Zeiten bestätigt (V. 7817-8040). Was ohnehin längst klar war, musste noch einmal demonstriert werden. Kein Wunder also – die Feierlichkeiten gehen weiter –, dass Artus seinen Lanzelet am liebsten unter allen Rittern hat. Doch Lanzelet will endlich auch eigenes Land – sein Erbland Genewis ist in fremder Hand, seit die dortigen Fürsten Lanzelets Vater Pant, einen bösartigen Tyrannen, gestürzt haben, als Lanzelet noch ein Säugling war. Lanzelet rüstet zur Heerfahrt und wird von Artus und seinen Rittern (namentlich erwähnt werden Walwein, Torfilaret, Erec und Tristrant) tatkräftig unterstützt. Das Heer sammelt sich am wundersamen Wilden Ballen (V. 8041-8134). Iwan Peneloi und Giot werden als Lanzelets Boten voraus nach Genewis geschickt und kommen dort zufällig zu einem Gerichtstag, bei dem das ganze Land versammelt ist. Aspiol von Timant organisiert als Stellvertreter des Königs das Interregnum. Der Anlass zur Versammlung sind Nachrichten von Lanzelet: Man hat von dessen Tapferkeit gehört und fürchtet sich vor seiner Rache. Doch Aspiol erklärt den Boten, dass Lanzelet der rechtmäßige Herrscher wäre – wenn er denn, füttert er seine Rede mit einem Appell, seine Leute besser behandelt als sein Vater Pant. Lanzelet erntet von Aspiol großes Lob. Iwan Peneloi verspricht daraufhin, dass Lanzelet Gnade wird walten lassen, droht aber den Abtrünnigen sehr drastisch, so dass die Leute von Genewis erschrecken. Aspiol fängt die Aggression aber geschickt ab, stellt sich gegen jene potentiellen Törichten, die sich gegen einen Herrscher Lanzelet stellen würden. Seine Strategie ist

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von Erfolg gekrönt, alle versprechen sich und ihre Länder dem neuen Herrn (V. 8135-8332). Die Boten bringen die erfreuliche Nachricht zu Lanzelet, vor Freude beginnen die Ritter einen Buhurt. Lanzelet zieht unter der Anleitung von Artus (der ihm die ganze Zeit als Ratgeber zur Seite steht) nach Genewis. Krönung, Gefolgschaftseid, Vergabe der Lehen (an Fürsten, Grafen, Herzöge, Freiherrn und Dienstmannen). Der Hoftag ist wieder der größte, Lanzelet demonstriert unermessliche miltecheit, auch gegenüber Fahrenden. Die Herrschaft wird an Aspiol und Lanzelets Mutter delegiert (die während des Interregnums bei Aspiol Aufnahme gefunden hat), bis Lanzelet (1.) erwachsen ist und (2.) geklärt hat, wie die Dinge in Dodone – dem Erbreich seiner Frau Iblis – stehen. Nach reichen Beschenkungen ziehen Lanzelet und Artus (samt Heer) zurück nach Karadigan (V. 8333-8468). Inzwischen sind Boten aus Dodone nach Karadigan gekommen, da man gehört hat, dass dort der Besieger Iwerets zu finden sei. (Lanzelet hat Iweret, den Herrscher von Dodone, im Brunnenabenteuer getötet und damit sowohl dessen Tochter Iblis als auch die Herrschaft über Dodone erworben.) Sie bringen prächtige Geschenke (darunter Iwerets Schwert für Lanzelet und ein kostbares Mückennetz [?] für Iblis). Iblis erkennt die fürstengleichen Boten (sie hätten selbst Könige in Dodone sein können, wenn sie es gewollt hätten, V. 8731-8739), man feiert das nächste große Fest. Die Boten geben das Land an Iblis und, wenn er denn will, Lanzelet. Iblis und Lanzelet üben sich in großer milte (Iblis gibt das Netz an Genover, doch Artus will Iwerets Schwert nicht annehmen). Die Boten werden (vor allem von Artus) reich beschenkt; bevor sie abreisen, bitten sie noch Lanzelet, einen Hoftag in Dodone auszurichten. Der Termin wird nach guter arthurischer Sitte auf Pfingsten gelegt (V. 8469-8810). Die Boten kehren heim, in Dodone organisiert man einen Hoftag, der – natürlich – der größte bis zum suonestac (V. 8848) sein wird. Lanzelet lädt die von Genewis ein, sie treffen ihn prächtig herausgeputzt bei Karadigan. Selbstredend garantiert die Freigebigkeit von Artus den besten Empfang aller Zeiten. Auf der Reise nach Karadigan (die größtenteils nur in P, der jüngeren von zwei vollständigen Handschriften, überliefert ist, V. 8945-9082) wird jeder Dame ein Ritter nach ihrem Wunsch als Begleiter zugeteilt, alles ist so höfisch, wie es nur sein kann (V. 8811-9086). Die Einheimischen aus Dodone kommen Lanzelet und den Seinen zehn Tagreisen weit (?) entgegen (V. 9102f., V. 9114) und sogar Artus wird in den Mund gelegt, er habe noch nie solche Pracht gesehen. Die früheren Gespielinnen von Iblis (die um Iblis willen Jungfrauen geblieben sind) werden endlich wieder froh. Die Ritter buhurdieren, die Herrschenden zeigen große milte, vor allem gegenüber dem fahrenden Volk, Lanzelet verschenkt Iwerets Besitz freizügig. Er und Iblis werden gekrönt, Lanzelet

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empfängt sîne fürsten alle ze man (V. 9209; „alle seine Fürsten als Gefolgsmänner“). Es ist – man ahnt es schon – der größte Hoftag ever. Artus bleibt über drei Monate bei Lanzelet, bis ihn Boten von zuhause erreichen und er aufbricht. Lanzelet und Iblis begleiten ihn noch einige Zeit, dann verabschieden sie sich unter Tränen (V. 9087-9308). Es folgt eine kurze Digression: Ulrichs Quellenangabe zur LanzeletGeschichte (V. 9309-9349). Doch gleich anschließend wird das ‚Happy Ending‘ fortgesetzt: Die Besucher aus Genewis reiten nach Hause, Lanzelets Mutter kommt nach Dodone und freut sich erst jetzt so richtig über den Erfolg ihres Sohnes. Lanzelet und Iblis sind in der milte wîtspür (V. 9373, V. 9396; „großspurig im Geschenkeverteilen“) und haben vier Kinder: drei Söhne und eine Tochter. Das passt zu den vier Reichen (die Herrschaft zu Dodone besteht aus drei Königreichen). Lanzelets Idealität stellt alles in den Schatten: Er ist ein guter Hausherr nach dem Vorbild von Artus, verliget sich aber dennoch nicht (V. 9409-9413) – wenn Erec und Iwein bloß Lanzelet gelesen hätten, ist man versucht zu ergänzen. Das Herrscherpaar wird in Ehren alt, erlebt noch die Enkelkinder und stirbt am selben Tag (V. 9350-9445). Die Länge der Inhaltssynopse lässt es schon erahnen: Was beim Erec ca. 500 Verse gebraucht hat, füllt im Lanzelet – der insgesamt ein bisschen kürzer ist als der Erec! – über 1700 Zeilen. (1.) Wieder sind alle Probleme gelöst, die entführte Genover ist zurückerobert, Erec und Walwein befreit, Lanzelet als bester Ritter bestätigt. (2.) Friedensschlüsse bilden die Basis von Lanzelets Herrschaft in Genewis. (3.) Alle offenen Angelegenheiten werden in Ordnung gebracht: Die Herrschaft in Genewis und Dodone wird organisiert, z. T. mit einem relativ hohen Realitätsgehalt (Lehensvergabe), die dynastischen Verhältnisse werden über eine ausgeklügelte Empfängnispolitik bis in die nächste Generation geregelt (vier Kinder für vier Reiche). (4.) Wiederum wird das, noch penetranter als im Erec, von nicht enden wollender Freude und einem größten Fest aller Zeiten nach dem anderen begleitet. Beim Lesen dieser Passage kann es leicht passieren – ist es mir schon mehrmals passiert –, dass man plötzlich nicht mehr sagen kann, in welchem Hoffest an welchem Hof nun schon wieder Geschenke verteilt werden. Wie wichtig diese festlich-freudige Komponente aber ist, zeigt das Verhalten von Erec und Walwein nach deren Befreiung: den recken wac daz kleine, daz si vor liten nôt, sît manz sô manigem rîter bôt durch ir willen schône. (V. 7784-7787) Die Recken kümmerte es wenig, dass sie davor Not gelitten hatten, weil man wegen ihnen so viele Ritter gut behandelte.

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Sie vergessen sogleich die erlittene Not, weil man um ihretwillen nun viele Ritter gut behandelt. Wenn man das generalisiert, bedeutet das cum grano salis nichts anderes, als dass die gesamte Aventiurehandlung auf den Festschluss hinzentriert ist.32 (5.) Wichtig sind dabei erneut die Tugenden, wobei im Lanzelet vor allem die obrigkeitliche miltecheit betont wird. Die Redundanzen und Iterationen sind dieselben wie im Erec (z. B. Geleit), doch noch in viel stärkerem Ausmaß vorhanden. Vielleicht liegt es auch an dieser Aufschwemmung jener handlungsarmen Episoden, die bewirkt, dass die Bruchstellen im ‚Happy Ending‘ häufiger werden. Sie lassen sich drei Bereichen zuordnen: Der eine betrifft Lanzelets Vorgehen bei der Herrschaftsübernahme in Genewis. Was aufs Ganze gesehen wie ein Friedensschluss inszeniert ist, kommt im Detail nicht ohne Aggression aus. Das zeigt sich schon am komplizierten Gespräch der Boten mit Aspiol, wo die Angst der Leute aus Genewis durchschimmert und was ohne Aspiols Verhandlungstalent – er begreift die Situation schnell und handelt entsprechend – auch in einen Krieg hätte münden können. Wenn es nach dem Gefolgschaftseid heißt, dass den fürsten waere sô waege niet / sô rehter volge an der nôt (V. 8310f.; „dass den Fürsten in der Not nichts so vorteilhaft wäre wie rechte Gefolgschaft“), kann an der nôt zweierlei meinen: die nôt in einem Land ohne Herrschaft, oder die Notlage angesichts der militärischen Bedrohung. Die gespannte Situation wird im Oxymoron abgebildet. Ähnlich problematisch ist die Herrschaftsübernahme in Genewis: Zwar hat Lanzelet im Brunnenabenteuer die Herrschaft erworben, doch gerade diese ‚mythische‘ Komponente scheint ja gegen Ende keine Rolle mehr zu spielen. Dennoch wollen ihn die _____________ 32

Ähnliches hat WALTER HAUG: Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers Ring. In: Das Fest. Hrsg. von WALTER HAUG/RAINER WARNING, München 1989 (Poetik und Hermeneutik 14), S. 157-179 [zit. danach]; wieder in: HAUG: Brechungen (Anm. 15), S. 312-331, hier S. 157 – allerdings mit anderer Argumentation – für Chrétiens Erec postuliert: „ich behaupte, der arthurische Roman Chrétiens de Troyes, insbesondere sein Erstling, der Erec, sei nichts anderes als eine narrativ umgesetzte und ausgefaltete Diskussion der Idee des höfischen Festes“. HAUGs Argumentation unterscheidet sich von meiner allerdings grundlegend darin, dass es ihm um Spezifika des Artusromans chrétien-hartmannscher Prägung geht, während ich ganz allgemein höfische Romanschlüsse im Blick habe (und daher etwa auch den etwas abseits stehenden Lanzelet integrieren kann). HAUGs Ergebnisse sind daher präziser und spezieller (HAUG betont die Aufhebung der Dichotomie zwischen Utopischem und Faktischem in der Fest-Utopie), beschreiben gewissermaßen eine Subspezies des höfischen ‚Happy Endings‘. – Bereits der Wigalois schert aus dieser schmal definierten Spur aus, wie STEPHAN FUCHS: Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31), S. 185-192 gezeigt hat: An die Stelle der arthurischen Utopie ist die „Konstruktion eines utopischen Helden“ (S. 192) getreten, die verschiedenen Schlussfeste spielen verschiedene Festszenarien (Erfolgsfest, Artusfest, Herrschaftsantritt) durch, doch stets zu Ehren des ‚singulativen‘ Protagonisten.

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Landsleute aus Dodone, und das, obwohl Iweret als guter Herrscher stilisiert wird (V. 8615-8617). Dass hier nicht alles glatt geht, zeigt auch die Notiz, dass Lanzelet an sein ‚Erbe‘ Dodone (V. 8937) gelangen soll. ‚Eroberung‘ wäre wohl nicht diplomatisch genug.33 Der zweite Bereich an Irritationen besteht aus offenen Problemen, ungelösten Handlungsfäden. So kann man sich etwa fragen, was mit Iblis’ Jungfrauen weiter passiert. Doch geradezu provokant gesetzt ist die Leerstelle bei Artus’ Heimkehr, als ihn ein Bote zurück nach Hause beordert, der im seit, des ich niht vernam (V. 9276; „der ihm etwas sagte, das ich nicht vernommen habe“). Ganz ähnlich werden ganz am Ende, freilich maskiert mit einem Unfähigkeitstopos, auch noch weitere Taten Lanzelets und Iblis’ angedeutet: swaz iu anders ieman sage von in, des hân ich niht vernomen. wer möhtes alles ze ende komen, was wunders Lanzelet begienc? sît er ze êrst ze tugenden vienc, sô wuohs sîn lop, unz er verschiet. (V. 9426-9429) Was immer euch jemand von ihnen auf andere Weise erzählt, davon habe ich nichts gehört. Wer könnte all das vollständig erzählen, was Lanzelet an Wundern vollbrachte? Seit er erstmals nach den Tugenden griff, seither wuchs sein Lob, bis er starb.

Das mag erzählerische Inkompetenz sein. Ich halte es für bewusst gesetzte Ironiesignale. Ironiesignale, wie sie sich auch – und das wäre der dritte Bereich – im Detail (und damit leichter fasslich) finden. Denn wenn der Erzähler seinem Protagonisten beim Hoftag in Genewis, wo Lanzelet die Nachfolge seines Tyrannenvaters antritt, ‚angeborene‘ (V. 9389) miltecheit attestiert, lässt sich das kaum anders denn als zynische Spitze deuten. Doch nicht nur die so oft angerufene Freigebigkeit wird dem Spott ausgesetzt. Auch die Institution ‚größter Hoftag aller Zeiten‘ kriegt ihr Fett ab. Just beim Höhepunkt der Feierlichkeiten, am Hoftag zu Dodone, wird erklärt: Swer ze grôzem hove ist komen, dâ man vröude und wunder sach, ob des hi allez niht geschach, sô geloubent mir niht, des ich gesage. (V. 9236-9239) Wenn einer jemals zu einem großen Hof gekommen ist, wo man Freude und Wunderbares gesehen hat, und wenn das hier nicht alles geschah, dann glaubt mir nicht, was ich euch erzähle.

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Vielleicht ist auch bloß erbe im Sinne von ‚Grundeigentum‘ (im Gegensatz zum Lehen) gemeint, vgl. Lexer I, Sp. 609; BMZ I, S. 439.

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Doch natürlich ist es genau jenes Erzähler-Ich, das damit zugleich versichert, dass es größere Pracht nicht geben kann. Die logische Struktur kommt einer mise en abyme gleich. Und trotzdem: Was ich hier als Bruchstellen aufgelistet habe, ist im Text marginalisiert, bekommt kaum Raum zwischen den langatmigen Festschilderungen. Der Erzähler spielt auf diese Weise mit dem Schema, doch ohne es tatsächlich zu Fall zu bringen. Die Ironie bleibt verhalten und geht, das ist zumindest meine Lektüreerfahrung, im Festgeklingel unter; die Bruchstellen signalisieren vorsichtig – wenn auch deutlicher als im Erec –, dass sich noch etwas bewegen könnte, doch das bleibt außen vor, wird mit Seidenbrokat und Edelsteinen zugedeckt. Dominant ist das absolute, bedingungslose ‚Happy Ending‘, dominant die Schlussmarkierung, die damit gesetzt wird. Die strukturelle Determination der Passage ist so unverkennbar, dass – wäre vom Lanzelet nur diese Versstrecke (freilich ohne Schlusswort: Lanzeletes buoch ist ûz, ûz, ûz, 9445) überliefert –, man sie auch dann als Schluss einer Handlung erkennen würde. c) Was macht einen ‚schematischen‘ Deskriptor aus? Er besteht grundsätzlich aus zwei Komponenten: einer analytischen und einer interpretatorischen – wobei die interpretatorische wieder aus verschiedenen Ebenen bestehen kann. Was den Deskriptor, das erzähltheoretische Instrument – man könnte es höfisches ‚Happy Ending‘ nennen – ausmacht, ist die Verbindung dieser beiden Aspekte zu einer Einheit. Für mein Beispiel – das für beinahe jeden höfischen Romanschluss stehen kann34 – wäre die analytische Komponente inhaltsbezogen: die Schilderung einer utopischen, statischen Idealität, die Auflösung aller Handlungsstränge etc.35 Die interpretatorische Komponente läge in der Zuschrei_____________ 34

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Dass dieser – mit den Worten von CORINNA BIESTERFELDT (Anm. 24), S. 64 – „traditionelle[.] ‚happy end‘-Schluß“ konstitutiv für den Artusroman, wohl generell für den höfischen Roman ist, hat man immer wieder notiert. Vgl. etwa HORST BRUNNER: Von Munsalvaesche wart gesant / der den der swane brahte. Überlegungen zur Gestaltung des Schlusses von Wolframs Parzival. In: GRM N. F. 41 (1991), S. 369-384, hier S. 369-372 (vor allem zu Chrétiens Erec – BRUNNERs Folie für die Analyse des Parzival-Schlusses); JOACHIM BUMKE: Parzival und Feirefiz – Priester Johannes – Loherangrin. Der offene Schluß des Parzival von Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 64 (1991), S. 236-264, hier S. 236 (der die Harmonie im Parzival-Schluss aufgehoben sieht, damit diese aber als Erwartungshaltung festschreibt). – Die große Ausnahme ist der Iwein; doch hat man bezeichnenderweise in der Überlieferung versucht, den ‚fehlenden‘ Schluss zu ergänzen: CHRISTOPH GERHARDT: Iwein-Schlüsse. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 13 (1972), S. 13-39 hat gezeigt, dass in der Handschrift f von 1415 (die auch einige erbauliche und didaktische Partien aus dem Wigalois übernimmt) Teile des Schlusses von Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens interpoliert sind, die das ‚happily ever after‘ Iweins und Laudines (sowie Lunetes) ausblickhaft darstellen. Vgl. auch Anm. 51. Man hat gelegentlich darüber gestritten, was denn nun die wichtigste Ingredienz wäre: die letzte Einkehr am Artushof (HAUG: Literaturtheorie [Anm. 18], S. 98 zu Hartmanns Erec),

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bung einer bestimmten erzählstrukturellen Funktion an dieses Handlungselement: der Schlussmarkierung ohne Wenn und Aber. Man könnte auch sagen: Die Genese des Deskriptors besteht in der Aufladung einer – ganz allgemein gesprochen – Form mit Bedeutung; man könnte auch von Oberflächen- und Tiefenstruktur sprechen. Das ist nicht nur in meinem Beispiel der Fall, sondern eine generalisierbare Regel für Begriffe der strukturalistischen Erzähltheorie. Im Grunde ist es nichts anderes als eine Analogie zur signifié-signifiant-Struktur. Dasselbe ist es – ich bleibe im Makrostrukturellen –, wenn bei HUGO KUHN die ‚Gerüststruktur‘ von mittelalterlichen Texten als eine Struktur gilt, „die als solche Aussage konstituiert“.36 Dasselbe, wenn WALTER HAUG Heldendichtung als die Überlagerung von Stoff und Schema beschreibt, wobei der Stoff erst durch das Schema ‚sinnvoll‘ wird.37 Dasselbe, wenn MARKUS STOCK die Zweiteilung des Straßburger Alexander in Feldzugsgeschichte und Mirabilia-Stationen als Doppelweg aus Eroberung und Relativierung des Erreichten interpretiert.38 Dasselbe, wenn – um beim Straßburger Alexander zu bleiben – PETER STROHSCHNEIDER und HERFRIED VÖGEL diesen Text qua Flussübergänge (Euphrat und Strage) in ein geographisches Tryptichon aus Griechenland, Persien und Indien schneiden, die wiederum drei Aspekten der Alexander-Figur – vanitas, _____________

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das große (arthurische) Hoffest (HAUG: Fest [Anm. 32], S. 157-165 zu Chrétiens Erec), ausführliche Hochzeitsbeschreibungen (TRUDE EHLERT: Die Funktionen des Hochzeitsfestes in deutscher erzählender Dichtung vornehmlich des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Feste und Feiern im Mittelalter. Hrsg. von DETLEF ALTENBURG/JÖRG JARNUT/HANS-HUGO STEINHOFF, Sigmaringen 1991 [Paderborner Symposium des Mediävistenverbandes 3], S. 391-400, bes. S. 393f. zu Eneide, Kudrun, Daniel und Gutem Gerhart) oder der Herrschaftsantritt des Protagonisten (UNZEITIG-HERZOG [Anm. 24], S. 252 zu Erec und Iwein; in Ansätzen auch RUBERG [Anm. 24], der die Krönung in den Mittelpunkt seiner Analysen der Erec-Schlüsse Chrétiens und Hartmanns stellt). Ich denke, dass es ein Konglomerat verschiedener Faktoren ist, die aber gemeinsam haben, dass sie eine statische Utopie (die keine arthurische sein muss, z. B. auch – wie in Lanzelet oder Wigalois [vgl. Anm. 32] – eine auf den Protagonisten zugeschnittene sein kann) formieren. Ich übernehme die Formulierung von PETER K. STEIN: Ein Weltherrscher als vanitasExempel in imperial-ideologisch orientierter Zeit? Fragen und Beobachtungen zum Straßburger Alexander. In: Stauferzeit. Geschichte – Literatur – Kunst. Hrsg. von RÜDIGER KROHN/BERND THUM/PETER WAPNEWSKI, Stuttgart 1979 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 144-180, hier S. 171. Vgl. KUHN: Erec (Anm. 13); HUGO KUHN: Gestalten und Lebenskräfte der frühmittelhochdeutschen Dichtung. Ezzos Lied, Genesis, Memento mori. In: HUGO KUHN: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 112-132. Insbesondere WALTER HAUG: Die historische Dietrichsage. Zum Problem der Literarisierung geschichtlicher Fakten. In: ZfdA 100 (1971), S. 43-62; DERS.: Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik, Gegenentwurf. In: ZfdA 104 (1975), S. 273-292; wieder in: HAUG: Strukturen (Anm. 15), S. 277-292 [zit. danach]. MARKUS STOCK: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123).

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Welteroberer und memento mori – entsprächen.39 Dasselbe, wenn noch vor kurzem JOACHIM BUMKE in seinem Einführungsbüchlein zum Erec unter Bezugnahme auf die Handlungsstruktur erklärt, dass „die künstlerische Bauform des Erec [...] dadurch gekennzeichnet [sei], daß hinter der Handlungs-Ebene eine ‚Sinn-Ebene‘, eine ‚Bedeutungs-Ebene‘, erkennbar ist.“40 Auch mit mikrostrukturellen Deskriptoren lässt sich dieses dichotome Schema durchspielen, wenn etwa erlebte Rede als Darbietung figurenbezogener Inhalte in dritter Person verstanden wird mit der Funktion, das Innenleben dieser Figur abzubilden.41 Und auch bei mikrostrukturellen Deskriptoren spielt Interpretation eine wichtige Rolle.42 Doch zurück zum höfischen ‚Happy Ending‘, und zurück zur Frage nach Historisierung: Denn diese lässt sich nun konkreter formulieren als zuvor. Basis ist der deduktiv entwickelte Deskriptor, der über seinen Bezug zu einer bestimmbaren Textbasis einen konkreten historischen Ort hat: Erec und Lanzelet, daneben weitere höfische Romane. Es wäre – im Gegensatz zu GENETTEschen oder anderen Rückprojektionen – der Versuch, einen historisch adäquaten Begriff zu schaffen, der nun bei Erweiterung der Perspektive einen größeren historischen Bereich beschreiben kann. Dass ein solcher Historisierungsversuch über einen makrostrukturellen Deskriptor möglich ist, scheint mir auf der Hand zu liegen, man denke nur an bestimmte Handlungsschemata aus Märchen, die schon über das Attribut ‚archaisch‘ historisch dimensioniert werden. Schwieriger zu sagen ist, wie eine solche historische Untersuchung vorzugehen hätte. Wenn ich an das Epos-Roman-Problem im Streitgespräch zwischen HAFERLAND und MEYER denke, müsste es sich dabei um eine quantifizierende Untersuchung handeln: Man könnte überlegen, in welchen Texten diese Form der absoluten Schlussbildung zuerst auftritt, und auch, wie das Modell späterhin neben anderen Parallelentwürfen bestehen bleibt oder vielleicht irgendwann einmal von der Bildfläche verschwindet. Finden würde man z. B. das Ende von Tolkiens Lord of the Rings, das bis in Details diesem höfischen ‚Happy Ending‘-Schema entspricht. Genauso wie man Doppelweg, Brautwerbungsschema, Exil-Rückkehr-Fabel oder auch die Liebeskomödie à la Hollywood durch die Literatur- oder Filmgeschichte verfolgen kann. _____________ 39 40 41 42

PETER STROHSCHNEIDER/HERFRIED VÖGEL: Flußübergänge. Zur Konzeption des Straßburger Alexander. In: ZfdA 118 (1989), S. 85-108, bes. S. 105. JOACHIM BUMKE: Der Erec Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006 (de Gruyter Studienbuch), S. 79. Vgl. Anm. 57. Ein Beispiel wäre eine Otfrid-Stelle, die NINE MIEDEMA in ihrem Beitrag diskutiert. Dort (IV,22) ist allein die Interpretation (Rufzeichen oder Punkt) ausschlaggebend dafür, ob der Vers als Gedankenbericht oder als erlebte Rede zu lesen ist. Die Entscheidung liegt beim Interpreten bzw. – in diesem speziellen Fall – beim Herausgeber.

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Ich bezweifle, ob durch eine solche Schnitzeljagd viel gewonnen wäre; ob das zwar arbeitsintensive, aber letztlich banale statistische Ergebnis irgendwie mehr sein kann als eine abstrakte, quantitative Liste, die man dann eben zur Kenntnis nehmen kann, oder nicht. Doch über Interessenlagen lässt sich zwar vortrefflich streiten, aber schwerlich diskutieren. Diskutabel aber wird ein solches historisches Verfahren, wenn es an seine Grenzen stößt. Beim höfischen ‚Happy Ending‘ lässt sich diese Grenze zeitlich recht genau bestimmen: es ist, laut Subskription der Handschrift, die Martinsnacht 1352; die Rede ist von: 3. Seifrits Alexander Oder konkreter: von dessen Schluss. Ich referiere kurz den Inhalt: Nach seinen zahlreichen Eroberungszügen zieht Alexander mit seinem Heer in Babylon ein und wird dort freundlich empfangen: Die Stadtbewohner reiten dem Ankommenden entgegen. Sie bewirten die Griechen reichlich, die sich über die Pause nach sieben Jahren Kriegszug freuen. Alexander, der Kaiser, will ettlich jar in Babylon bleiben (V. 7748) – wobei nicht klar wird, ob das nur ‚einige‘ oder ‚viele‘ Jahre meint (V. 7723-7754). Seine Regentschaft ist zunächst von Härte gekennzeichnet: Boten aus aller Welt (Frankreich, Spanien, England, Britannien, Italien, Kampanien, Sizilien, Sardinien) signalisieren ihm, dass seine Weltherrschaft anerkannt ist, Alexander wird gefürchtet. Er regiert grymmiklich und vorichtsam (V. 7785f.; „grimmig“ und „gewaltsam“) und plant einen Hoftag in einem Jahr, zu dem er alle Untergebenen beordert. Dort werden sie ihre Lehen erhalten; den Zins müssen sie gleich mitbringen (V. 7755-7798). Alexander schickt außerdem nach seiner Kaiserin (Roxane), die noch irgendwo in Persien weilt und die er drei Jahre nicht gesehen hat. Sie reitet in einem, man könnte fast sagen: Triumphzug in Begleitung von mehr als 700 wunderschönen Frauen zu Alexander, wobei jede der Frauen – wie bei der Reise nach Dodone im Lanzelet – einen Ritter an ihrer Seite hat. Die Zeit vertreibt man sich mit hubscher red (V. 7845), also mit ‚höfischer Konversation‘ (V. 7799-7846). Die Ankommenden werden prächtig und herzlich empfangen, Alexander reitet Roxane entgegen und erzählt ihr von seinen Taten (wenn auch nicht von allen)43. Allerlei höfische Vergnügungen heben an (justiern, stechen, hoffiern, sper prechen, V. 7867f.; „tjosten, [Lanzen] stechen, höfisch feiern, Lanzen brechen“), man spielt Musik, die Stadt ist für den Empfang prächtig geschmückt. Die Kaiserin wird offiziell gekrönt: _____________ 43

Denkt der Erzähler hier an Kandacis? Was ist es, das Alexander vor Roxane verschweigt? Oder würde bloß die Zeit nicht reichen, all seine Erlebnisse zu schildern?

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da was die maist reicheit und die grost wirdikeit die man vor oder noch yn der welt ye gesach. (V. 7897–7900) Dort gab es die größte Pracht und Herrlichkeit, die man jemals auf der Welt gesehen hatte.

Wieder ein Fest der Superlative (V. 7847-7900). Nun schreibt Alexander seine Briefe an Aristoteles44 und Olympias, die bei Seifrit sehr kurz ausfallen: Alexander referiert im Wesentlichen seine Eroberungszüge und wird dafür von Olympias und Aristoteles ebenso kurz gelobt (V. 7901-7968). In Babylon vertreibt man sich die Zeit bis zum Hoftag (also ein Jahr lang) mit höfischen Vergnügungen (hoffiern): stechen, turnyern, tanczen, singen, lauffen, schiessen, springen (V. 7975-7978; „[Lanzen] stechen, turnieren, tanzen, singen, laufen, schießen, springen“),45 hat also chuerczweill vill (V. 7980; „viel Unterhaltung“). Außerdem geht man jagen und pierssen vill (V. 7983; „häufig auf Jagd und Pirsch“), wie es sich für die mylten (V. 7990; „Freigebigen“) nun einmal gehört (V. 7969-8004). Der Hoftag beginnt: Alexander bewirtet seine Gäste großzügig, sie bringen ihm wiederum kostbare Geschenke dar. Ein halbes Jahr lang gebricht es ihnen Tag und Nacht an keiner Freude. Dann geht Alexander mit seinen Fürsten zu Rat und beschließt, dass ihm alle Gefolgschaft schwören und ihm sowie dem Reich mit Leben und Besitz dienen müssen. Die Beistandspflicht wird festgeschrieben. Inszeniert ist das alles als Rittereid, denn ein jeder muss all dies schwören – und dass er ein rechter ritter wer (V. 8048; „ein ordentlicher Ritter wäre“). Alexander ruft den Landfrieden aus, Selbstjustiz und Fehden sind verboten, die Rechtssprechung geht vom Reich aus. Der Hoftag endet mit dem Abschied der Fürsten (V. 8005-8062). Alexander regiert acht Jahre in Babylon und kümmert sich um sein Reich wunnyklich und schon (V. 8065; „herrlich und gut“), alles steht in Freude und Wonne. Vor allem aber übt er großzügig milte, vergibt Lehen, schlägt niemandem etwas aus (V. 8063-8072). Als eines Tages ein armer Mann den Kaiser um einen Pfennig bittet, schenkt ihm Alexander die Herrschaft über eine ganze Stadt. Doch der arme Mann ist überfordert, so dass ihm Alexander schließlich zehn Mark Gold überlässt (V. 8073-8094). Ein Exempel für Alexanders maßlose milte. _____________ 44 45

Der eigentlich bei ihm sein sollte, denn er hilft Alexander mit der Spiegel-List gegen den Basilisken. Das sind im Wesentlichen jene Tätigkeiten, die in höfischen Romanen bei der Ritterausbildung aufgezählt werden. Vgl. etwa Lanzelet, V. 278-293 und den Kommentar (Anm. 31) dazu, S. 1089.

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Im Prinzip ist das nichts anderes als der Schluss des Erec oder Lanzelet: (1) Alle Probleme der Handlung sind gelöst, Alexander hat erobert, was es zu erobern gibt. (2) Die Kriege sind vorüber, es herrscht allgemeiner Frieden. (3) Alexander bringt Ordnung in sein Reich: Er fixiert seine und Roxanes Herrschaft, vergibt Lehen und erlässt Gesetze. (4) Das geschieht unter großer Freude und in Begleitung des größten Fests, das es je gab; die Vergnügungen entsprechen denen im höfischen Roman bis ins Detail (Geleit, paarweises Reiten von Damen und Rittern). Mit ca. 400 Versen entspricht die Länge in etwa dem Erec-Schluss. (5) Unter den Tugenden ist wiederum die milte des Herrschers zentral. Brüche finden sich kaum, im Vergleich zum Erec und Lanzelet sind sie deutlich reduziert: Denn nur zu Anfang wird die höfische Idealität durch ein relativ harsches Auftreten des Kaisers Alexander relativiert. Entsprechend berichten die Boten Alexanders der Kaiserin in Persien, dass Alexander gewaltiklich und schon (V. 7813; „mit starker Hand“) regiert – im weiteren Verlauf der Passage bleibt nur das schon übrig. Der Roman könnte, wäre nicht die Rede von einer achtjährigen (und damit zeitlich begrenzten) Herrschaft, nach Alexanders Hoftag aus sein. Das ist jedenfalls das Signal, das der Text mit seinem höfischen ‚Happy Ending‘ gibt. Alexander und Roxane könnten Kinder haben, unter denen das Reich aufgeteilt wird, könnten in Ehren alt werden und gleichzeitig sterben. Doch diese ‚Strukturregel‘ wird schroff gebrochen: Die Handlung geht weiter; und nicht in Form nicht enden wollender Freude- und Festschilderungen, sondern mit einer Verkehrung der eben etablierten positiven Ordnung ins Chaos. Sichtbar wird das zuerst an der Figur Alexanders: Der gerade noch freigebige Herrscher fällt zurück in die ‚klassische‘ mittelalterliche Alexanderrolle eines hochmütigen Welteroberers:46 Von seinen Goldschmieden lässt er zwei je 30 Fuß lange Goldsäulen anfertigen und darauf seine wundersamen Taten eingravieren; sie werden in Babylon und Persien aufgestellt, das man vernem auch allda nach seinem tod seiner mer, wie gewaltig er gewesen wer. (V. 8116-8118) damit man überall dort auch nach seinem Tod erzählen hören würde, wie mächtig er gewesen war.

Alexander hat seine Erinnerung nicht, wie Lanzelet oder Erec, durch das Weitererzählen seiner Geschichte gesichert; er muss selbst für seine Memorialzeichen sorgen (V. 8095-8118). Wenig später wird ein Kind gebo_____________ 46

Vielleicht war schon sein Geschenk an den Bettler ein Signal für die in die Handlung zurückkehrende superbia.

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ren, dessen obere Körperhälfte wie ein Mensch gestaltet, jedoch leblos ist. Unten ist es quicklebendig, zugleich aber sonderbar, wie ein Tier. Die Weisen deuten das als Anzeichen für Alexanders nahenden Tod (obere Hälfte) und das dadurch ausgelöste Chaos (untere Hälfte). Die Prophezeiung bewahrheitet sich: Antipater und seine Söhne schmieden ein Komplott gegen Alexander, das Ende der Geschichte ist bekannt. Doch nicht nur die ‚falsche‘ Positionierung der Episode irritiert. Irritierend ist die Existenz bzw. Machart dieser Passage per se. Denn Seifrits Alexander ist alles andere als ein höfischer Roman. Seifrit ist nichts an höfischem Geplänkel gelegen, er will – das sagt er mehrmals – die wahre Geschichte von Alexander erzählen. Dementsprechend ist sein Stil im Wesentlichen chronikalisch gehalten, Seifrit folgt dem Ideal der brevitas, erzählt kurz und prägnant. Das Buch wird von ihm am Ende auch kronica (V. 9083) genannt, genauso wie seine Quelle (V. 9, V. 226, V. 9013), die Historia de preliis, mit deren Inkonsequenzen Seifrit zu kämpfen hat. Immerhin gelingt es ihm dabei, eine zuvor in der deutschen Alexandertradition ungekannte Rationalisierung zu erreichen:47 Seifrit tilgt Widerspruch um Widerspruch aus der Handlung, übt sich in quellenkritischen Notizen, erzählt mit einem hohen Realismusgehalt – etwa indem er Sprachprobleme thematisiert, die während des Alexanderzuges aufgetreten sind.48 Das geht so weit, dass sich Seifrit explizit gegen den höfischen Roman abgrenzt. Er tut das bei der ersten großen Schlacht Alexanders gegen das Perserheer des Darius am Granicus: Seifrit schildert die Schlachthändel nur sehr kurz, denn: das ich vil saget von der diett, wie vil yeglicher schar hiet, wie sich yeglicher hiet berait, oder wer yglichew schar laitt, als Wolfram tet von Eschenpach, da prich ich mich nit nach, es wuerd zu lang und wer enwicht; ir erchennet doch chainen nit. (V. 2669-2676) Ich will mich nicht abmühen, euch viel von diesem Haufen zu erzählen, wie es Wolfram von Eschenbach zu tun pflegte: wie groß die einzelnen Gruppen waren, wie ein jeder einzelner gewappnet war oder wer die einzelnen Gruppen anführte; es würde zu lange dauern und doch nichts nützen – ihr kennt sie schließlich allesamt nicht.

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Vgl. FLORIAN KRAGL: De ortu Alexandri multiplicis. Nektanebus ze diute getihtet. In: troianalexandrina 6 (2006), S. 35-80. Grundlegend zu Seifrits Alexander: ROBERT SCHÖLLER: Seifrits Alexander. Form und Gehalt einer historischen Utopie des Spätmittelalters, Wien 1997 – mit intensiver Diskussion der genannten Eigenheiten.

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Seifrit nimmt hier vermutlich auf den Willehalm Bezug. Und er belässt es nicht bei einer Distanzhaltung. Er wertet ganz klar: Was Wolfram macht, ist lang(weilig) und unnötig. Ein Urteil, das er wohl – so stelle ich mir das zumindest vor – auch über andere Aspekte der höfischen Literatur getroffen hätte, die er offenbar gut kennt. Was also soll diese sonderbare Schlussepisode in Babylon, die nicht mal Schlussepisode ist, dieser Fremdkörper im doppelten Sinne? Ich sehe zwei Deutungsmöglichkeiten: (1.) Der Bruch im Erzählduktus ist intentional, Seifrit inszeniert bewusst einen Kontrast zwischen dieser Episode und dem restlichen Roman.49 Das plötzliche Umschlagen in das Schluss-Schema eines höfischen Romans steigert die Fallhöhe von Alexanders blühender Herrschaft zu seinem plötzlichen Tod. Denn was ist schon der Tod eines egoistischen Feldherrn im Vergleich zum Tod eines höfischen Kaisers? Die Drastik des Alexander-Untergangs würde intensiviert, zugleich die Vergänglichkeit der weltlichen Freuden krass demonstriert. Seifrit würde bewusst eine Erwartungshaltung aufbauen und dann ironisch brechen. Im Grunde bediente er damit den alten vanitas-Gedanken, ohne den kaum eine mittelalterliche Alexanderdichtung auskommt.50 (2.) Die andere Möglichkeit ist, dass Seifrit sich gar nicht um solche ‚schematischen‘ Überlegungen schert. Die strukturale Funktion des Schemas, wie ich sie am Erec und Lanzelet herauszuarbeiten versucht habe, würde nicht gesehen oder ignoriert. Seifrit würde zwar ein Versatzstück aus der höfischen Literatur um 1200 übernehmen, doch ohne sich groß Gedanken über dessen Funktionalisierbarkeit zu machen. Beide Fälle haben Konsequenzen für den Schema-Begriff und dessen Historisierung. Folgt man der ironischen Lesart, sind diese Folgen noch vergleichsweise beruhigend: Man hätte es mit einer Varianz des höfischen ‚Happy Endings‘ zu tun, das aber als solches in seiner Existenz bestätigt würde: Denn andernfalls würde die Ironie nicht funktionieren, die damit spielt, dass ein Roman beendet wird, ohne dass er zu Ende ist. Die Historisierung bestünde aus einer Varianz des Schemas. Die funktionale Bedeutung ‚Schlussmarkierung‘ würde um eine ironische Note ergänzt. Es wird nicht ein makrostrukturelles Versatzstück durch ein anderes ersetzt, sondern am Versatzstück gearbeitet. Der strukturalistische Handlungsbaustein _____________ 49 50

Die Bedeutung eines solchen Spiels mit Erwartungshaltungen, mit ‚suspense‘ und ‚surprise‘, bei der narrativen Schlussbildung betont ABBOTT (Anm. 3), S. 51-61. Um es mit einer Analogie zu sagen: Es ist ein bisschen so, als würde am Ende von Casablanca (1942) statt der Flughafenszene eine Schlussszene in Rick’s Cafè nach dem Vorbild von The Adventures of Robin Hood (1938) eingeschoben. Victor Laszlo reist ab, Rick und Ilsa sind ein glückliches Paar, das marokkanische ‚happily ever after‘ scheint unabwendbar. Doch der Film geht noch fünf Minuten weiter, der nächste Tag bricht an, Major Strasser kommt und erschießt Rick.

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wird modifiziert. Es wäre ein historischer Wandel in der Geschichte dieses Deskriptors von 1200 zu 1352. Folgt man aber der zweiten Lesart, tritt an die Stelle der Geschichtserzählung die Historisierung des beschreibenden Instrumentariums: Denn nun hat jemand, der gut mit der höfischen Literatur vertraut ist, jemand, der fast noch Zeitgenosse ist, nun hat Seifrit etwas nicht oder zumindest sehr anders verstanden als wir – als ich anno 2007.51 Ist das eine Ungleichzeitigkeit von Gleichzeitigem in einem Traditionsstrang? Oder eine Komplexitätsreduktion bei einem historisch später entstandenen, noch dazu gut erzählten und auf einer hohen Reflexionsebene argumentierenden Text? Ich denke nicht. Ganz offensichtlich wird die funktionale Bedeutung des Schemas nicht gesehen oder nicht verwendet, wird im Moment der produktiven Perzeption eines Handlungsversatzstückes (durch Seifrit) auf die Bedeutung ‚Schlussmarkierung‘ kein Wert gelegt. Das lässt ganz grundsätzliche Zweifel an der ursprünglichen Definition des Deskriptors wach werden. In dieser Perspektive hätte ich den Erec und den Lanzelet fehlgedeutet, wäre die Kombination von Form und Bedeutung eine vorschnelle gewesen. Es wäre der Fall, wo narratologische Deskriptoren zwar greifen, die Sache aber doch irgendwie von der falschen Seite her anpacken. Der Deskriptor, das analytische Instrument würde von einer solchen Sichtweise nicht zerstört. Doch die über ihn erreichte Historisierung hätte sich verschoben: Was vorher ein historischer Wandel zwischen 1200 und 1352 war, wäre nun einer zwischen 1200 oder 1352 und 2007. Der Deskriptor hätte seinen Ort nur dort, wo er entstanden ist: am Schreibtisch des Interpreten. Das wäre eine Problematisierung des makrostrukturellen Zugriffs auf ‚alte‘ Texte durch die moderne Wissenschaft an sich, mithin die Beschreibung der Aporie, ein historisch ‚adäquates‘ Beschreibungsinstrumentarium für ‚alte‘ Texte zu finden. Diese beiden Optionen sind nicht gegeneinander abwägbar, stehen unvermittelt als zwei gleichwertige Möglichkeiten nebeneinander.52 Die Art, wie Historisierung funktioniert, ist aber in beiden Fällen ähnlich. Es handelt sich um:

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Dass die spezifische Machart des höfischen ‚Happy Endings‘ noch im 14. Jahrhundert und darüber hinaus gang und gäbe war, ja dass die Erwartungshaltung bis ins 15. Jahrhundert hinein ein solches Ende forderte (GERHARDT [Anm. 34], S. 33), demonstriert die IweinHandschrift f von 1415. Vgl. Anm. 34. Ein analoger Fall wäre die doppelte Lesbarkeit des Peter von Staufenberg als modern oder archaisch im Beitrag von STEPHAN FUCHS-JOLIE in diesem Band.

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III. Historisierung durch Variierung Schlecht gewählt, habe ich am Anfang zu meinem Beispiel gesagt. Und schlecht gewählt ist es, wenn man sich für die praktisch-pragmatische Beschreibung von historischen Prozessen interessiert. Denn das Ergebnis solcher Historisierungsversuche auf makrostruktureller Ebene ist von einer solchen Einfachheit, dass man es banal nennen könnte. Viel komplizierter sind da Historisierungsfragen zu mikrostrukturellen ‚Techniken‘, da diese schlichtweg schwieriger greifbar sind, wesentlich breitere und detailreichere Textanalysen voraussetzen. Denn was ist schon die Extraktion eines Schemas im Vergleich zur Suche nach erlebter Rede oder bestimmten Fokalisierungstypen? Vielleicht ist es aber gerade durch diesen hohen Grad an Fasslichkeit und Luzidität, gerade durch diese Einfachheit und Prägnanz leichter, vom konkreten Beispiel zu abstrahieren und so zu methodologischen Überlegungen von allgemeiner Relevanz vorzustoßen. Darum war es ja von Anfang an gegangen: die allgemeine Fragestellung nach dem Historisierungspotential bzw. nach der Historisierbarkeit von Erzähltheorie pars pro toto zu diskutieren. Dann würde das zum höfischen ‚Happy Ending‘ Gesagte zur Analogie – zu einem exemplarischen Diskurs, der im Grunde nicht anders funktioniert als etwa der von HAFERLAND und MEYER; ich nähere mich dem im einladenden Streitgespräch angesprochenen Problem, Epos vs. Roman. Was bei mir die Kombination von abstrahierten Inhalten und struktureller Funktion war, ist dort, ich nehme HAFERLAND beim Wort, die „Engführung von Erzählform und Gesellschaft“, die Kombination von Erzählform und Sozialgeschichte, politischer Geschichte, Medialität usf. Dass das auf einer viel höheren Abstraktionsebene spielt, liegt auf der Hand. Doch in beiden Fällen ist das Ergebnis eine Kombination verschiedener Kriterien. Und in beiden Fällen ist Historisierung kaum einmal die Frage nach dem Da-Sein eines Phänomens in Reinkultur. Ich denke – und könnte mich auf Seifrits Roman berufen –, man kommt hier nicht wirklich weiter, verläuft sich in komplizierten, letztlich aber simplifizierenden Statistiken. Erzählphänomene werden auf Biegen und Brechen in normative, statische, idealtypische Kategorien eingeschlichtet, die es auf freier Wildbahn kaum einmal wo gibt. Auf der Strecke bleibt die graduelle Veränderbarkeit von narrativen Elementen, auf der Strecke bleibt bei einer solchen Jägerund Sortiererperspektive der historische Prozess.53 _____________ 53

So besehen wäre STANZELs Erzähltypologie (letzter Stand: FRANZ K. STANZEL: Theorie des Erzählens, 3., durchges. Aufl., Göttingen 1985 [UTB 904]) gegenüber jener GENETTEs (Anm. 7) zu bevorzugen. Denn während GENETTE einzelne analytische Deskriptoren zur Verfügung stellt, in die sich Erzählphänomene einordnen lassen (oder eben nicht – was

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Versteht man aber Historisierung weniger als Kategorisierung denn als Beschreibung von Veränderbarkeit, wird auch so etwas wie eine Modernitätsschwelle fraglich. Die Schwelle oder gegebenenfalls die Summe der verschiedenen Modernitätsschwellen, wäre womöglich breiter als die beiden Räume, die sie verbindet. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und fragen, ob man diese Schwelle braucht, oder vielleicht genauer: ob man die beiden Räume braucht, die durch die Schwelle getrennt werden. Sie sind doch nichts anderes als idealtypische Setzungen des absolut Vergangen-Archaischen und absolut Gegenwärtig-Finalen, die für Historisierungsversuche nur dann von Wert sind, wenn ich das Historische werten möchte. Konkret gesagt: Das Wörtchen ‚modern‘ hilft mir nicht ein bisschen, um den Übergang von einem erzähltheoretischen Phänomen zu einem anderen oder deren Koexistenz zu beschreiben. ‚Modern‘ brauche ich nur, um mich zu vergewissern, dass das historisch Spätere auch das Komplexere ist. Varianz an sich aber lässt sich auch ohne eine derart explizite Wertung beschreiben. Das soll nicht bedeuten, dass man nicht, nach bestimmten und bestimmbaren Kriterien, werten kann, darf oder soll. Die Beschreibung historischer Vorgänge funktioniert aber auch ohne. Diese Beschreibung stellen sich HAFERLAND und MEYER als das Herausarbeiten von Veränderung (HAFERLAND) oder Beständigkeit (MEYER) vor. Mit den Worten von MEYER: „Es gilt, die Diskontinuitäten/Kontinuitäten herauszuarbeiten.“ Darin, in dieser „dogmatischen Vorentscheidung“, liege der „Hauptdissens“ des Streitgesprächs. Ich würde dieser Aussage eine andere, nicht minder plakative entgegensetzen wollen: Es gilt, die Varietäten herauszuarbeiten. ‚Liminal‘ gesprochen: Nicht die Schwelle als Verbindung zweier Räume ist das historisch Spannende, sondern die, wenn man so will, ‚Schwelle schlechthin‘ als dynamischer Bereich. Dynamisch, weil nur das historisierbar ist, was qua Interpretation (im weitesten Sinne) in einen Text hineinkommt. Weil Historisierung nicht oder nur sehr eingeschränkt die Suche nach der planen Realisation von narratologischen Deskriptoren sein kann. Es ist eben nicht die – oben kurz angedeutete – Frage nach der Existenz oder Absenz eines strukturalistischen Elements. Das wäre zugleich eine Kritik an einem zu rigoros gehandhabten Strukturalismus, der das Phantasma ausbildet, Erzählphänomene objektiv_____________ immer wieder zu Kritik bzw. Erweiterungen geführt hat, etwa bei BAL [Anm. 3]), beinhaltet STANZELs Typenkreis die Möglichkeit gradueller Variation. Damit ist der Typenkreis auch fähig, diachrone Änderungen abzubilden, indem sich der Kreis erst über die Zeit füllt. Dass manche Erzählphänomene (oder genauer: manche analytische Deutungen von Erzählphänomenen) aus STANZELs Typenkreis herausfallen bzw. dort keinen Platz finden, steht freilich auf einem anderen Blatt.

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analytisch beschreiben und folglich auch historisieren zu können.54 Als bestünde Historisierung in der statistischen Aufbereitung der Wanderungen eines analytischen Atoms durch die Literaturgeschichte! Dahinter steckt nichts anderes als der Trick, mitunter sehr weit gehende Interpretationen oberflächlich als unverdächtige Analysen zu verkaufen,55 indem mit normativen Analysebegriffen gearbeitet wird, die zwar nicht interpretierend benützt werden, jedoch selbst schon Interpretamente darstellen.56 Das hat, wenngleich ohne dezidiert historisches Interesse, vor kurzem auch WOLF SCHMID in seinen ‚Elementen der Narratologie‘ herausgestrichen57 – einer also, von dem man es angesichts seiner hyperklassifikatori_____________ 54

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Dies kritisieren auch TOM KINDT/HANS-HARALD MÜLLER: Narrative Theory and/or/as Theory of Interpretation. In: What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Hrsg. von DENS., Berlin, New York 2003 (Narratologia 1), S. 205-219, hier S. 213, wenn sie betonen, „that almost any moderately ambitious discussion of texts (and therefore any narratological analysis) depends on ‚interpretation‘ in a very basic sense”. Allerdings halten sie zugleich an der Idee der Erzähltheorie als ‚neutrales‘ Analyseinstrument fest, das „as a heuristic for interpretation“ (worunter sie groß angelegte interpretatorische Entwürfe verstehen) genützt werden kann und soll (S. 215). Dabei denken sie wohl vor allem an die ‚intersubjektive‘ Gültigkeit narratologischer Analysen (z. B. S. 211), die in viel höherem Maße gegeben ist als bei breit angelegten (poststruktualistischen, psychoanalytischen, sozialgeschichtlichen etc.) Interpretationen. Dagegen lässt sich freilich kaum etwas einwenden, wenngleich ich skeptisch bin, was die klare Scheidung in ‚low-‘ und ‚high-level‘ Interpretationen angeht. So etwa, ganz prominent, im Vorwort GENETTEs zu seinem Discours du récit, wo er von „universellen oder zumindest transindividuellen Elementen“ handelt, die er in seiner Proust-Analyse herausarbeiten will – wobei er „auf der Suche nach dem Spezifischen beim Universellen“ landet (Anm. 7, S. 12). Das ist auch noch in der Vorbemerkung zum Noveau discours du récit nicht viel anders, wenn GENETTE von der „Mechanik der Narratologie“ spricht und die Narratologie als Disziplin gegen die Betrachtung von „thematischen, ideologischen oder stilistischen“ Aspekten – also gewissermaßen gegen Interpretation – stellt (hier S. 195). Nur wenige jüngere erzähltheoretische Arbeiten haben auf dieses Problem reagiert und einen dezidiert rezeptionsästhetischen (lektürebezogenen) oder kognitionstheoretischen Ansatz verfolgt. Zu nennen sind insbesondere MONIKA FLUDERNIK: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London, New York 1996 und die Arbeiten von ANSGAR NÜNNING (z. B. DERS.: ‚Unreliable Narration‘ zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: ‚Unreliable Narration‘. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hrsg. von ANSGAR NÜNNING, Trier 1998, S. 3-39; vgl. auch den Sammelband: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von ANSGAR NÜNNING/VERA NÜNNING, Trier 2002 [WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4]) und MANFRED JAHN (Anm. 60). SCHMID tut das im Rahmen seiner Definition der ‚Ereignishaftigkeit‘, die er über eine Reihe von Merkmalen (Relevanz der Veränderung, Imprädiktabilität, Konsekutivität, Irreversibilität, Non-Iterativität) bestimmt, was ihm offenbar die Kritik seiner Kollegen in der Hamburger Forschergruppe Narratologie eingebracht hat: diese „Merkmale seien stark interpretationsabhängig und hätten in der Narratologie, die, wie auch die Metrik, nur objektiv beschreibe und nicht interpretiere, nichts verloren“. Doch diese „Interpretationsabhängigkeit“, so SCHMID weiter, „soll unumwunden eingestanden werden, jedoch sei zu be-

Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen?

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schen Vorgehensweise vielleicht gar nicht erwartet hätte.58 Wenn es nun aber um Historisierung von Erzähltheorie oder Erzählverfahren geht, ist die Lage nochmals prekärer: In dem Moment, wo ein solches Atom definitorisch wird, ist es nicht mehr in der Lage, Veränderung abzubilden – wird Seifrits Episode zum analytischen Problem: entweder, in der ironischen Lesart, weil die Ironie statistisch nicht darstellbar ist, oder, in der skeptizistischen Lesart, weil eine krasse Diskrepanz zwischen statistischem Ergebnis (höfisches ‚Happy Ending‘) und zeitgenössischer Erwartungshaltung (Seifrit kümmert das alles nicht) besteht.59 Ein Deskriptor, der zur Norm wird, verliert seine deskriptive Potenz.60 Nimmt man die Doppel- oder auch Mehrfachnatur strukturalistischer Deskriptoren aus Form und Bedeutung ernst, bedenkt man die Teilbarkeit eines jeden Atoms, wird historischer Wandel annähernd gleichbedeutend mit der Änderung eines Deskriptors: wird historischer Wandel vor allem dann beschreibbar, wenn sich einer der beiden Teile eines Deskriptors ändert. Beim Vergleich zwischen Erec und Lanzelet einerseits und Seifrits Alexander andererseits war die Konstante die Schilderung einer, plakativ _____________

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denken gegeben, dass die Gegenüberstellung von ‚objektiver Beschreibung‘ und ‚subjektiver Interpretation‘ [...] kaum Bestand haben kann [...]. Die Narratologie kann sich nicht darin erschöpfen, analytische Instrumente für eine scheinbar ‚voraussetzungsfreie‘, interpretationsunabhängige Deskription narrativer Texte bereitzustellen. Bereits die Konstruktion des ‚Erzählers‘, sofern sie auf die Semantisierung von Textsymptomen angewiesen bleibt, ist, um nur ein Beispiel zu nennen, stark interpretationsabhängig. Auch die seit den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts währende Kontroverse um die erlebte Rede zeigt, wie ‚voraussetzungsreich‘ die erstellten Beschreibungsmodelle jeweils sind. Stark interpretationsabhängig ist oft schon die ‚Feststellung‘ einer Veränderung der Situation“ (SCHMID [Anm. 3], S. 26f.). Wenige Zeilen später bestimmt er dann den Erkenntniswert, wiederum in Bezug auf den Kriterienkatalog zur Ereignishaftigkeit, doch ließe sich das wohl generalisieren: „Er [scil. der Katalog] soll die Heuresis fördern, insofern er zentrale Phänomene des Narrativen zu erkennen und zu unterscheiden hilft. Und damit unterstützt er die Artikulation von Werkinterpretationen“ (W. SCHMID [Anm. 3], S. 27). Ganz Ähnliches ließe sich zu MIEKE BALs Einführung sagen, vgl. BAL (Anm. 3), S. X: „Conceived as a set of tools, as a means to express and specify one’s interpretative reactions to a text, the theory presented here holds no claim to certainty.“ Diese Offenheit der makrostrukturellen Analyse haben auch jüngere Arbeiten aus dem anglo-amerikanischen Raum gezeigt, die bei PROPPs Funktionen ansetzen, dabei aber zeigen, dass die Funktionszuschreibung zu konkreten Erzählungen polyvalent sein und sich auch im Leseprozess ändern können. Vgl. EMMA KAFALENOS: Functions after Propp: Words to Talk about How We Read Narrative. In: Poetics Today 18 (1997), S. 469-494. Streng genommen gilt das auch schon für synchrone Beschreibungen, wie MANFRED JAHN: Frames, Preferences, and the Reading of Third-Person Narratives: Towards a Cognitive Narratology. In: Poetics Today 18 (1997), S. 441-468 unter Zuhilfenahme eines kognitiven ‚frame‘-Konzepts gezeigt hat. Traditionelle erzähltheoretische Zugriffe (sein Hauptbeispiel ist wohl nicht ohne Zufall der ‚free indirect discourse‘) würden in der Applikation von Beschreibungsmustern zu stur verfahren, keine Ausnahmen zulassen wollen, die Beschreibungsmuster nicht flexibel genug gestalten und multiple Zuordnungen von Textphänomenen (zu verschiedenen Beschreibungsmustern) unterbinden (bes. S. 449f.).

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Florian Kragl

gesagt, suspense-losen höfischen Fest-Utopie. Variiert hat die funktionale Bedeutung:61 bei Erec und Lanzelet Schlussmarkierung, bei Seifrit eine ironische Rezeption dieses Schemas. Oder, in der radikaleren Deutung: die Konstruktion und Dekonstruktion einer solchen funktionalen Bedeutung im heutigen Umgang mit ‚alten‘ Texten.62 Das ließe sich auch umkehren, indem – für das Beispiel Schlussmarkierung – die Funktion konstant gesetzt und nach anderen inhaltlichen Füllungen gesucht würde.63 Es versteht sich, dass jede dieser beiden Komponenten selbst wieder aufgebrochen werden kann, dass jede analytische Komponente selbst als dichotome Struktur aus Analyse und Interpretament verstanden werden kann, z. B. für die analytische Komponente des höfischen Happy Ends: Festschilderung plus utopische, ideale Statik.64 In die andere hierarchische Richtung kann das höfische Happy End selbst als analytische Komponente eines komplexeren Handlungsschemas, z. B. eines doppelten Kursus, gelten. Damit ist jedes Element prinzipiell doppelt oder auch (bei multiplen Bedeutungszuschreibungen) mehrfach kodiert. Es ergeben sich Stemmata von Bedeutungszuschreibungen. Die Reduktion auf eine singuläre signifié-signifiant-Relation ist bloß ausschnittshaft. Ein historischer Prozess also – und darauf kommt es mir an – ist in erster Linie beschreibbar als Varianz einer Funktions- oder Sinnzuschreibung, egal auf welcher Ebene diese erfolgt, und egal ob Analyse oder Interpretament als Konstante gesetzt werden.65 Um auf die Titelfrage zurückzukommen: Sinnlos im Sinne von unnötig sind narrative Schemata – genauso wie andere erzählstrukturalistische Begriffe – nur dann, wenn man sie sich sinnlos im Sinne von ahistorisch und interpretationsfrei denkt. Mit anderen Worten: Erst im Moment seiner Deutung wird ein narratives Element zu einem historischen. Diese Varianz, von der eben die Rede war, müssen wir bei ‚alten‘ Texten irgendwie greifen können, um sie zu merken. Seifrit musste das höfische Fest noch auffällig inszenieren, um seine Labilität zu signalisieren. _____________ 61 62

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Eine ähnliche Varianz hat SONJA GLAUCH in ihrem Beitrag für das Ich-Sagen beschrieben. Darauf aufbauend ließe sich weiter fragen, ob denn die schematische Analyse an sich ein probates Analyseinstrumentarium darstellt: Doch die Selbstverständlichkeit, mit der wir mit erzähltheoretischen Kategorien operieren, macht diesen Rezeptionsmodus unhintergehbar. Dekonstruierbar ist nur eine Metaphysik durch die Kontrastierung mit einer anderen; der Ebenensprung ins gleichsam Divinatorische kann nicht gelingen. Das hat MONIKA FLUDERNIK in ihrem in diesem Band vorliegenden Beitrag mit Bezug auf verschiedene Formen der Bewusstseinsdarstellung unternommen. Beleg für eine feinere Differenzierung, im Wesentlichen eine Kontrastierung Erec – Wigalois, ist die Interpretation des Wigalois-Schlusses durch STEPHAN FUCHS-JOLIE (Anm. 32). Diese Verlegung der Historisierung ins beschreibende Instrumentarium bringt es auch mit sich, dass – wie im Fallbeispiel – die Beschreibung eines historischen Prozesses und die Historisierung des beschreibenden Instrumentariums dasselbe argumentative Muster ausbilden.

Sind narrative Schemata ‚sinnlose‘ Strukturen?

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Diese interpretatorische Varianz kann aber auch ein rein rezeptionsästhetisches Phänomen sein, was sich freilich nur in der jüngeren Vergangenheit relativ bestimmt einschätzen lässt – weil alte Erwartungshorizonte einfach verloren sind. Bei The Man Who Shot Liberty Valance genügt es völlig, wenn der Fokus um 45 Jahre verschoben wird – von 1962 zu 2007:66 1962 sieht man – vermute ich – einen kompetenten Lehrer, der seinem zwar bemühten, aber leider etwas dümmlichen Schüler argumentativ unter die Arme greift, eine Lehrerfigur, die gerade im Kontrast zu einem solchen Schüler an positiver Kontur gewinnt. Das ist die Basis, auf der John Ford mit seinen Figuren von den Grundfesten der US-amerikanischen Verfassung, des US-amerikanischen Staates sprechen kann: „that all men are created equal“. Das ist ganz ‚schematisch‘ gedacht. 2007 aber ist, ohne dass sich der Film verändert hätte, plötzlich etwas passiert, wird ein anderes, politisch unkorrektes, rassistisches ‚Schema‘ im ‚Unterrichtsschema‘ sichtbar, das 1962 vielleicht nur marginal, selbstverständlich, nicht weiter bedeutsam gewesen war – ein Baustein zeigt sich, dessen Fokussierung die einleitend skizzierte Deutung der Szene als naiv und reduktionistisch – MEYER würde wohl sagen: ‚unterkomplex‘ – erscheinen lässt: Denn jene langsam denkende Schülerfigur, deren evidente kognitive Defizite als Vehikel dazu dienen, die Gleichheit aller Menschen besonders nachdrücklich in den Wertehorizont des Films einzubrennen – dieser Pompey ist ein Schwarzer.

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Ich meine das nicht als autorintentionale Interpretation. Vielmehr scheint mir, dass sich John Ford des im Folgenden beschriebenen Ironieeffekts durchaus bewusste gewesen sein könnte. Indiz dafür wäre zum einen der durchgängig ironische Unterton dieses Westerns, der zu gattungstheoretischen Überlegungen Anlass gibt (Aushebeln der ‚klassischen‘ Heldinstanzen Doniphon und Valance durch Stobbard, unheroisches Duell mit Ermordung des ‚Bösen‘ aus dem Hinterhalt etc.), zum anderen die Charakterisierung von Pompey in anderen Szenen: Er ist, die Unterrichtsszene ausgenommen, die mit Abstand rationalste Figur des Films, handelt überlegt, bewahrt auch die ‚Guten‘ vor einigen gröberen Missgriffen. Drittens schließlich wird nach dem Mord an Valance die Rassendiskriminierung durch Pompeys Aufenthalt im Saloon auch kritisch thematisiert. Dennoch vermute ich, dass eine unkritische, dann diskriminierende Rezeption der Unterrichtsszene im Bereich des Denkbaren ist, zumal die ‚Schwarz-Weiß-Malerei‘ in zeitnahen Filmen auf genau diese Weise funktioniert.

ARMIN SCHULZ

Fremde Kohärenz Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik1

Die folgenden Überlegungen gelten den Unterschieden zwischen mittelalterlichem und modernem Erzählen. Sie zielen dabei auf poetische Verfahren, die sich gleichermaßen in Geschichten des 12. und des 19. Jahrhunderts finden lassen, und sie fragen danach, ob die äußerlich gleichen Erzähltechniken nicht im jeweiligen Bedeutungsaufbau völlig unterschiedliche Funktionen haben könnten. Es geht mir also nicht darum, die völlige ‚Andersheit‘ vormoderner kultureller Hervorbringungen zu behaupten. Vielmehr geht es darum, die Geschichte menschlichen Erzählens, die Geschichte seiner Techniken und Verfahren zunächst am konkreten Einzelfall zu beleuchten. Mein Beispiel ist die narrative Kohärenzbildung. Ich frage danach, was eine mittelalterliche Erzählung zu einem zusammenhängenden Text macht, auch und gerade wenn sie nach neuzeitlichem Geschmack eine Fülle von Brüchen und Widersprüchen aufweist.2 _____________ 1

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Vorfassungen der folgenden Überlegungen habe ich nicht nur auf der Osnabrücker Narratologie-Tagung vorstellen dürfen, sondern auch bei einem Vortrag in Kiel am 17. Januar 2008 sowie am 16. Februar 2008 beim jährlichen Treffen der Lehrstühle von URSULA PETERS und JAN-DIRK MÜLLER. Allen Mitdiskutierenden sowie OLGA SEUS danke ich für Anregungen und Kritik. Es geht dabei auch um die Frage nach der Sujetfügung in vormodernen Texten, um eine Frage also, bei deren Beantwortung die an der Literatur der Moderne orientierte Erzähltheorie und ihre wichtigsten Protagonisten nur bedingt hilfreich sind. Ist hier auch neuerdings das Bemühen um Historisierung spürbar, staunt man als Mediävist nicht schlecht, dass dasjenige, was sich die ältere Literaturwissenschaft in den letzten mehr als einhundert Jahren als narratologisches Instrumentarium erarbeitet hat, von den Vertretern neuerer Disziplinen schlicht ignoriert wird, obwohl es oftmals wirklich nicht nötig ist, das Rad neu zu erfinden. Vgl. bereits diverse Beiträge zu Alpharts Tod in den PBB 16 (1892); MAX H. JELLINEK/CARL KRAUS: Widersprüche in Kunstdichtungen. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 44 (1893), S. 673-716; FRIEDRICH PANZER: Hilde – Gudrun. Eine sagen- und literaturgeschichtliche Untersuchung, Halle/S. 1901; MAX H. JELLINEK: Kudrun. In: Festgabe für Samuel Singer, Tübingen [1930], S. 20-28; CLEMENS LUGOWSKI: Die

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Armin Schulz

Diese Frage ist bislang, so weit ich sehe, noch nicht übergreifend diskutiert worden, sondern immer nur für kleinere Textgruppen oder Einzeltexte. Als besonders ergiebig haben sich dabei traditionellerweise die Kudrun3 und das Nibelungenlied erwiesen: die Kudrun in ihrem Versuch, die Summe aller ‚gefährlichen Brautwerbungen‘ nicht nur in der syntagmatischen Abfolge wiederholender Schemavariation zu bilden, sondern zugleich auch in der verstörenden Ko-Okkurenz, in der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Handlungsmuster und -rollen;4 das Nibelungenlied in seinem Versuch, das Material einer uneinheitlichen Sagenüberlieferung zu einem mehr oder minder geschlossenen Ganzen zu fügen. Dort wird, wie man schon lange gesehen hat, „die Handlung […] offenbar nicht durch die dargestellte Wirklichkeit motiviert“,5 so dass nach anderen Kohärenzmustern zu fragen ist. Für WALTER HAUG verfügt „[d]as Nibelungenlied […] in einer so erstaunlichen Weise über seine eigene Stoffgeschichte, daß es nichts mehr sagt, wenn man feststellt, es sei aus ihr herausgewachsen. Das Nibelungenlied setzt seine Stoffgeschichte vielmehr als seinen eigenen Bezugshorizont“,6 vor dem sich die Handlung profiliert, im Sinne eines Erzählens, das sich einerseits im Einklang mit der Sagentradition befindet und sich andererseits zugleich von dieser Tradition absetzt – JAN-DIRK MÜLLER nannte dies „Umschriften der Sage“;7 im Sinne eines Erzählens schließlich, das, so PETER STROHSCHNEIDER, den Vorgang der Auswahl aus unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten immer wieder präsent macht.8 _____________

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Form der Individualität im Roman [1932]. Mit einer Einleitung von HEINZ SCHLAFFER, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 151); KARL STACKMANN: Einleitung [1965]. In: Kudrun. Hrsg. von KARL BARTSCH. Neue ergänzte Ausgabe der 5. Aufl., überarbeitet und eingeleitet von KARL STACKMANN, Wiesbaden 1980 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), S. V-XCVII, hier S. XV-XLII. Beispiele aus allerjüngster Zeit: UTA STÖRMER-CAYSA: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007 (de Gruyter Studienbuch); JAN-DIRK MÜLLER: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Literatur um 1200, Tübingen 2007. Ich selbst bereite im Augenblick einen Einführungsband in die Erzähltheorie für Mediävisten vor, der sich um eine operable Zusammenschau, Synthese und Fortführung der vorliegenden Ansätze bemüht. Vgl. PANZER (Anm. 2); JELLINEK/ KRAUS (Anm. 2); STACKMANN (Anm. 2). Vgl. hierzu STACKMANN (Anm. 2), bes. S. XXIII-XXVII. WALTER JOHANNES SCHRÖDER: Das Nibelungenlied. In: PBB (Halle) 76 (1955 [recte: 1954]), S. 56-143, hier S. 62. WALTER HAUG: Montage und Individualität im Nibelungenlied [1987]. In: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von CHRISTOPH FASBENDER, Darmstadt 2005, S. 12-29, hier S. 20f. JAN-DIRK MÜLLER: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 55-102. PETER STROHSCHNEIDER: Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum Nibelungenlied [1997]. In: FASBENDER (Hrsg.): Nibelungenlied und Ni-

Fremde Kohärenz

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Ein Beispiel ist der Umstand, dass Sivrits heroische Jugend erst sehr spät in der 3. Aventiure nachgetragen wird. Dass er derjenige ist, der sich gewaltsam den Nibelungenhort, das Schwert Balmunc und die Tarnkappe erkämpft hat; dass er derjenige ist, der einen Drachen getötet hat und nun (beinahe) unverwundbar ist – das alles erfährt man nicht aus dem Munde des Erzählers, sondern aus demjenigen Hagens, und man erfährt es erst, als der zuvor vollendet höfisch erzogene junge Mann am Wormser Hof erscheint, um hier um Kriemhilt zu werben. Mit einem Mal, und ohne dass ein Grund dafür benannt würde, benimmt sich Sivrit so aggressiv, wie er eben beschrieben worden ist, und er fordert König Gunther zu einem Zweikampf – nicht um Kriemhilt, sondern um Gunthers Reich. Dann allerdings gelingt es vor allem Gernot, ihn zu besänftigen und ihn als privilegierten Gast in das Hof- und Herrschaftsgefüge der Burgunden einzubinden. Um diese 3. Aventiure, eine der prominentesten in der Forschungsgeschichte des Nibelungenliedes, geht es im Folgenden. Ich werde hierzu zunächst knapp die Forschungslage andeuten. In einem zweiten Schritt werde ich einige grundsätzliche Überlegungen zum Problem narrativer Kohärenz skizzieren. Im dritten Abschnitt werde ich unter dieser Maßgabe den Beginn der dritten Aventiure interpretieren, im vierten Sivrits Auftritt am Wormser Hof. Im fünften Abschnitt fasse ich die Ergebnisse zusammen und perspektiviere sie vor allem anhand der Kaiserchronik im Blick auf grundsätzliche Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen modernem und mittelalterlichem Erzählen. I. Zur Forschungslage Das Geschehen der 3. Aventiure ist in der Forschung höchst kontrovers diskutiert worden. Aber für den plötzlichen Handlungsumschwung interessierte man sich kaum unter dem Aspekt der poetischen Faktur. JANDIRK MÜLLER stellte die thematische Paradigmatik in den Vordergrund seiner Interpretation: die schroffe Gegenüberstellung zweier Herrschaftskonzepte, eines charismatischen, rein auf physische Überlegenheit gegründeten, wie es Sivrit verkörpert, und eines politischen, das sich herrschaftlicher Funktionsträger bedient, wie es Gunther vertritt.9 OTFRID EHRISMANN hat vorgeschlagen, die Abfolge der gegenseitigen Provokati_____________

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belungenklage (Anm. 6), S. 48-82, hier S. 73f.: „Das aber hieße, daß dieser narrative Text nicht nur – wie jeder – eine Selektionsstruktur sei, daß er sich vielmehr als solche zeige“ (S. 73). JAN-DIRK MÜLLER: SIVRIT: künec – man – eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenlieds. In: ABäG 7 (1974), S. 85-124.

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onen und die abschließende Einigung nicht mehr, wie die ältere Forschung, im Zusammenhang germanischer Reizreden zu betrachten, sondern als Reflex auf die zeitgenössischen Gepflogenheiten politischen Handelns und politischer Rhetorik.10 Dass es in der Szene darum geht, die jeweiligen Geltungsansprüche der Protagonisten deutlich zu machen, leuchtet ein, aber auch damit ist noch nicht erklärt, wie der Text die Eilverwandlung Sivrits in einen Aggressor und wieder zurück in sein eigenes Bedeutungsgefüge integriert hat. Einen Hinweis darauf gibt eine Arbeit INGEBORG CAVALIÉs.11 Beim Versuch, zu klären, ob das HerausfordererMotiv intertextuell vorgeprägt oder aus den genuinen Vorgaben des Nibelungenlieds selbst herausentwickelt worden sei, stößt sie auf die Szene, in der Sivrit seinen Entschluss zur Brautwerbung bekräftigt, nachdem ihn sein Vater scheinbar völlig grundlos vor den berühmten Burgunden gewarnt hat. CAVALIÉ interessiert sich nicht für die Kausalitäten der Handlungsführung, sondern für Ähnlichkeiten in Wortlaut und Struktur, bei denen sie auch fündig wird. Eher nebenbei unterlaufen ihr in ihrer Motivsuche wichtige Beobachtungen zur Kohärenz vormodernen Erzählens. Ich möchte im Folgenden zu zeigen versuchen, dass es sich lohnen kann, diesen Weg bewusst weiterzugehen. II. Kohärenz Ich komme damit zur grundsätzlichen Frage nach der Kohärenz von Erzähltexten. In der Nibelungenlied-Forschung insgesamt – und nicht nur dort – hat sich die interpretatorische Praxis darin verfestigt, Kohärenz vor allem im Blick auf die kausale Motivation der Ereignisse zu betrachten, besonders im Sinne eines Deutlichmachens der Antriebe der Figuren. Sind die Ereignisse derart kausal motiviert, ist syntagmatische Kohärenz gegeben, sind sie es wie so oft nicht, ist danach zu fragen, ob sie nicht bestimmte thematische Basiskonfigurationen durchspielen. Dann ist die Rede von paradigmatischer Kohärenz. Ein Beispiel hierfür wäre das Fazit JAN-DIRK MÜLLERs in seiner Untersuchung zu „Motivationsstrukturen und personale[r] Identität im Nibelungenlied“. Auch er hat das Problem _____________ 10

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OTFRID EHRISMANN: „Ich bin ouch ein recke und solde krône tragen“. Siegfried, Gunther und die Spielregeln der Politik im Mittelalter. In: Ethische und ästhetische Komponenten des sprachlichen Kunstwerks. Festschrift für Rolf Bräuer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von JÜRGEN ERICH SCHMIDT/KARIN CIESLIK/GISELA ROS, Göppingen 1999 (GAG 672), S. 61-80. Vgl. auch DERS.: Das Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung, München 22002 (Beck’sche Elementarbücher), S. 68-78. INGEBORG CAVALIÉ: Die umstrittene Episode in der dritten âventiure des Nibelungenlied[s]: Sîfrîts ‚widersage‘ an die Burgonden. In: ZfdPh 120 (2001), S. 361-380; dort auch ein Forschungsbericht zur 3. Aventiure (S. 361-364).

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textueller Kohärenz im wesentlichen als Frage nach der Verknüpfung von Handlungseinheiten und der darin kenntlichen Motivierung begriffen. Ich zitiere: Verständigung über selbstverständlich-verbindliche Ordnungen ist Aufgabe des Epos. Dem entspricht ein weniger syntagmatisch-verknüpfender als paradigmatisch explizierender Motivationstypus. Wo widersprüchliche Antriebe und Anforderungen einander durchkreuzen, bemüht sich der Epiker weniger um lineare Verknüpfung oder deutliche Hierarchisierung, sondern er rückt sie scheinbar unverbunden nebeneinander, läßt die Entscheidung [...] aus der scheinbar alogischen und apsychologischen Konfrontation entgegengesetzter Motive hervorgehen.12

Blickt man hingegen in die gängigen literaturwissenschaftlichen Handbücher, so stößt man dort auf ein deutlich umfassenderes Kohärenzverständnis, wohl weil es auch anhand von lyrischen Texten entwickelt ist. ‚Kohärenz‘ definiert sich laut ELISABETH STUCK als Bedeutungszusammenhang zwischen einzelnen Textelementen, welcher dadurch entsteht, dass diese Elemente durch Wiederholungen implizit miteinander verknüpft werden.13 Mit JURIJ M. LOTMAN erzeugen Wiederholungen, deren Glieder in einer „Relation nicht vollständiger Gleichheit“ stehen, übergreifende Bedeutungszusammenhänge, die er Äquivalenzklassen nennt.14 So entstehen aus Äquivalenzen „neue systematische (‚paradigmatische‘) Ordnungen“.15 In diesen Zusammenhang gehört auch der Begriff der Kontiguität. Kontiguität meint mit MICHAEL TITZMANN die „Nachbarschaft innerhalb eines Bedeutungsfeldes bzw. Sachbereichs“, wobei die „verwendeten Zeichen“ nicht notwendig ähnlich sein müssen. Kontiguität kann durch bloße Nähe „Äquivalenzen und Rekurrenzen konstituieren _____________ 12

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JAN-DIRK MÜLLER: Motivationsstrukturen und personale Identität im Nibelungenlied. Zur Gattungsdiskussion um ‚Epos‘ und ‚Roman‘. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hrsg. von FRITZ PETER KNAPP, Heidelberg 1987, S. 221-256, hier S. 254f. Gefragt wird in der interpretatorischen Praxis zumeist nicht nach der Kohärenz des Textes insgesamt, sondern „nach Kohärenz oder Inkohärenz in der Motivationsstruktur“, so schon im Titel der Arbeit von THORSTEN GUBATZ: „waz ob si alsô zürnet, daz wir sîn verlorn?“ Zur Frage nach Kohärenz oder Inkohärenz der Motivationsstruktur in der siebten Aventiure des Nibelungenlieds. In: Euphorion 96 (2002), S. 273-286. Für GUBATZ ist das Ende der 7. Aventiure durchaus syntagmatisch stringent in seinem Auserzählen der konkurrierenden Paradigmen ‚Höfischheit‘ und ‚Heroentum‘. ELISABETH STUCK: ‚Kohärenz‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 280-282, hier S. 280. JURIJ M. LOTMAN: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von ROLF-DIETRICH KEIL, München 31989 (UTB 103), S. 125. Zur mediävistischen Anwendung dieser Theorie vgl. MARKUS STOCK: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im Straßburger Alexander, im Herzog Ernst B und im König Rother, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 17-33. MICHAEL TITZMANN: ‚Äquivalenzprinzip‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 12f., hier S. 12.

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und spielt eine wichtige Rolle für die Bildung von Metonymien, semantischen Isotopien und allgemein von [...] Kohärenz“.16 Von daher lässt sich die Frage nach der Kohärenz vormoderner und auch moderner Erzähltexte nicht auf ihre Widerspruchsfreiheit und auf die Motivation einzelner Handlungen im Sinne kausaler Linearität einschränken.17 Nur in diesem Sinne sind vormoderne Texte oftmals inkohärent, weil die Gründe, die es für einzelne Handlungen gibt, mitunter fehlen, bloß beliebig erscheinen oder zu viele und widersprüchlich sind.18 Aber, und darauf kommt es im Folgenden an: Der textuelle Zusammenhalt wird deshalb eben nicht allein über die thematische Ebene bestimmter Paradigmen hergestellt, sondern auch über den Wortlaut, und dies nicht allein syntagmatisch, sondern auch paradigmatisch. Denn die Paradigmen sind im Text nicht per se gegeben, sondern sie werden erst durch Äquivalenzen auf der Textoberfläche aktualisiert oder allererst hergestellt. III. Sivrits Entschluss zur Brautwerbung Mein Plädoyer geht demgemäß dahin, die Kohärenz mittelalterlicher Texte wieder stärker von der Oberfläche her, vom Wortlaut selbst, in den Blick zu nehmen, um so zu verstehen, wie diese Texte funktionieren; um zu verstehen, wie sie ihr heterogenes Material gerade von dieser Oberfläche aus integrieren und strukturieren. Angestoßen worden sind meine Überlegungen vor allem von HARALD HAFERLANDs Überlegungen zum ‚metonymischen‘ Erzählen. Er fragt danach, ob in mittelalterlichen Erzählungen, die stark auf das Ende hin orientiert sind, Handlungszusammenhänge weniger durch Kausalitäten gestiftet werden als vielmehr durch eine _____________ 16 17

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Ebd. Vgl. ANNE SOPHIE MEINCKE: Finalität und Erzählstruktur. Gefährdet Didos Liebe zu Eneas die narrative Kohärenz der Eneide Heinrichs von Veldecke?, Stuttgart 2007, etwa S. 244f.: „Beschränkung auf Ereignisse und Linearitätsdogma [...] bilden – einhergehend mit einer Verabsolutierung von ‚Kausalität‘ zur anthropologischen wie narrativen Universalie – gleichsam den Grund für ein einseitiges, reduktionistisches Verständnis von Kohärenz, das der Komplexität literarischer Erzähltexte kaum gerecht zu werden vermag und zumal bei der Applikation auf ‚fremde‘ Texte sich als ungenügend bzw. untauglich erweist.“ Es stellt sich die Frage, ob man überhaupt in solchen Kausalitäten denken darf. Schon ROLAND BARTHES hat darauf hingewiesen, „daß die treibende Kraft der narrativen Aktivität die Verwechslung von zeitlicher Folge und logischer Folgerung ist, das Nachfolgende in der Erzählung als verursacht von gelesen wird“. Und weiter: „die Erzählung wäre in diesem Fall die systematische Anwendung des in der Scholastik unter der Formel post hoc, ergo propter hoc angeprangerten logischen Irrtums, der durchaus der Wahlspruch des Schicksals sein könnte, dessen ‚Sprache‘ die Erzählung im Grunde ist“; ROLAND BARTHES: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen [1966]. In: DERS.: Das semiologische Abenteuer. Übersetzt von DIETER HORNIG, Frankfurt a. M. 1988 (edition suhrkamp N.F. 441), S. 102-143, hier S. 113.

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als metonymisch zu bezeichnende Relation assoziativer Nähe zwischen zwei Ereignissen, die unmittelbar aufeinander folgen.19 ‚Metonymisch‘ meint hier also eine spezifische kontiguitäre Struktur und fasst somit den Begriff absichtsvoll sehr weit. Hierzu gehören, wie seit ROMAN JAKOBSON üblich, auch synekdochische Bezüge. Ich möchte die Kontur dieses Verfahrens im Nibelungenlied herausarbeiten und vor diesem Hintergrund zu klären versuchen, wieso die Werbung Sivrits um Kriemhilt paradoxerweise gleichermaßen als harmlos-höfische und gefährlich-heroische inszeniert wird.20 Was die Interpretation der Szene selbst betrifft, werde ich nicht viel Neues erzählen, ich werde allerdings unter den genannten Maßgaben versuchen, die Befunde anders zu perspektivieren, als dies bislang geschehen ist. In der 3. Aventiure beschließt Sivrit, um Kriemhilt zu werben, und er kommt schließlich an den Burgundenhof. Die Aventiure beginnt mit der Variation des Erzählmusters der ‚einfachen Brautwerbung‘ (51-64):21 Sivrit hört von der Schönheit eines burgundischen Mädchens (44). Diese Schönheit und ihr höfischer Stolz locken viele Fremde in Gunthers Land (45). Kriemhilt aber – der Name fällt jetzt erst – will keinen von den Werbern (46). Sivrit richtet den Sinn auf hohe Minne (47). Die vier Strophen enthalten bereits eine Reihe von Vorausdeutungen, die unmissverständlich klarmachen, dass Sivrit Kriemhilt heiraten wird.22 Alles bleibt im Rahmen des Regelhaften, im Sinne eines gemeinsamen Entschlusses des herrscherlichen Personenverbandes. Sivrits Verwandte und Getreue raten ihm, sich mit einer ihm angemessenen Dame zu verheiraten, und Sivrit verkündet, Kriemhilt nehmen zu wollen (48f.). Alle wol_____________ 19

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HARALD HAFERLAND: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion 99 (2005), S. 323-364. HAFERLAND versucht, das Spezifische dieser Erzählform über Muster des zeitgenössischen ‚outillage mental‘ zu fassen; vgl. auch DERS.: Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie. In: PBB 126 (2004), S. 36-64; DERS.: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter. In: IASL 33 (2009), S. 52-101. Zur Moderne vgl. HARTMUT BÖHME: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006 (rowohlts enzyklopädie 55677). Ich zitiere: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von KARL BARTSCH hrsg. von HELMUT DE BOOR, 22., revidierte und von ROSWITHA WISNIEWSKI ergänzte Aufl., Wiesbaden 1996 (Deutsche Klassiker des Mittelalters). Vgl. MÜLLER: Spielregeln (Anm. 7), S. 400f. von der er sît vil vreuden und ouch arbeit gewan (44,4; „die ihm später vieles an höfischer Freude und auch an Mühen bereitete“); er was ir noch vil vremde, dem si wart sider undertân (46,4; „Er, dem sie später untertan wurde, war ihr noch völlig unbekannt“); ez was ir aller werben wider in ein wint. / er mohte wol verdienen scœner frouwen lîp. / sît war diu edele Kriemhilt des küenen Sîvrides wîp (47,2-4; „Das Werben aller war im Vergleich zu ihm nur wie ein Lufthauch. Er konnte sich eine schöne Dame durchaus durch Dienst gewinnen. Später wurde die edle Kriemhilt die Frau des kühnen Sivrit“).

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len das Gleiche. Der Entschluss zur Minne wird Sivrit zugeordnet, die Aufforderung zu Brautwerbung und Heirat dem Gefolge. Alle scheinen sich einig zu sein. Doch nun folgt eine kleine Überraschung. An dieser Entscheidung waren offenbar doch nicht alle relevanten Personen beteiligt. Denn die Eltern, Sigmunt und Siglint, erfahren erst nachträglich von Sivrits Vorsatz, weil ihre Leute ihnen davon erzählt haben, und sie versuchen, dem Sohn seinen Entschluss wieder auszureden. Immer wieder erklärt ihm der Vater, wie gefährlich Gunthers Leute, besonders aber Hagen, seien; immer wieder gibt sich der Sohn unbeeindruckt, im Vertrauen auf die eigene körperliche Stärke. Sigmunt bietet Sivrit schließlich an, mit Heeresmacht ins Burgundenland einzufallen, Sivrit setzt dagegen den Plan, nur mit elf Begleitern dorthin zu reiten. Notgedrungen unterstützen ihn die Eltern. Angesichts der voraufgehenden Schilderungen des Burgundenhofs in der 1. Aventiure und angesichts der nun unmittelbar folgenden Handlung – Sivrit kommt nach Worms – erscheinen die Warnungen der Eltern seltsam unmotiviert. Aber sie markieren einen thematischen ‚shift‘: von der ‚einfachen Werbung‘ zur ‚gefährlichen Brautwerbung‘, die aber eigentlich nicht per se gefährlich ist, sondern es nur wird, weil sich Sivrit in Worms wie ein höchst aggressiver Heros benimmt, was wiederum die entsprechenden Gegenreaktionen auf den Plan ruft. Der Text gibt allen Anlass zu glauben, dass Sivrit freundlich empfangen worden wäre, hätte er nicht mit einem Mal ein provokantes Verhalten an den Tag gelegt. Die Gefahr, die in Sonderheit von Hagen ausgehen soll, tritt nicht bei der Werbung selbst hervor, sondern erst viel später. Die Warnung der Eltern erscheint zunächst narrationslogisch dysfunktional, zum einen, weil Sivrit nicht darauf hört – es handelt sich hier also auch um eine ‚abgewiesene Alternative‘, deren Zweck nicht im Fortgang der Handlung, sondern in der Charakterisierung des Helden liegt.23 Und zum anderen benehmen sich die Wormser lange Zeit nicht so, wie es ihnen Vater Sigmunts Mahnung unterstellt. Sinnvoll erscheint sie nur vom Ende des Geschehens her; und dabei erhält sie diesen Sinn nicht erst ex post zugewiesen, als Sivrit stirbt. Denn dem Rezipienten dürften die Eckpunkte der Handlung vorab hinlänglich vertraut gewesen sein. Die Warnungen vor Gunther und Hagen sind damit gewissermaßen weniger für die dargestellte Welt bestimmt, wo sie vom Helden beiseite geschoben werden, als vielmehr hauptsächlich für den Rezipienten. Sie stehen damit auf der gleichen Funktionsebene wie die zahlreichen Vorausdeutungen des Erzählers, die den Entschluss zur Werbung flankieren, und zwar als deren konkretisierende Fortsetzung. _____________ 23

Vgl. hierzu (im Anschluss an PETER STROHSCHNEIDER und JAN-DIRK MÜLLER) ARMIN SCHULZ: Fragile Harmonie. Dietrichs Flucht und die Poetik der ‚abgewiesenen Alternative‘. In: ZfdPh 121 (2002), S. 390-407.

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Es handelt sich also auch um eine narrative Metalepse, um einen Ebenensprung, einen Kurzschluss zwischen der dargestellten Welt und der Erzählsituation. Mit der Markierung von Fiktionalität, wie in modernen Erzählungen, hat diese Metalepse allerdings nichts zu tun.24 Die massierten Vorausdeutungen seitens des Erzählers infiltrieren gewissermaßen in der dargestellten Welt die Figurenrede, im Sinne einer ‚thematischen Überfremdung‘,25 deren Funktion es ist, das Ende des Geschehens von Anfang an präsent zu halten. Der Ebenensprung zerstört zwar die Kohärenz der Handlung, wenn man Kohärenz vorrangig als In-Szene-Setzen von Kausalzusammenhängen versteht, nicht aber die Kohärenz des Textes: Das ist hier entscheidend.26 Denn hier wird zugleich die Kohärenz des Textes als eines ebenso syntagmatischen wie paradigmatischen Sinnzusammenhangs erhöht. Die Logik, die dahintersteckt, ist eine der Kontiguität, der Berührung, der Nachbarschaft von assoziativ miteinander verknüpften Bedeutungsfeldern: Es geht um die Ereignisse der Zukunft, die vorab bekannt sind und von Anfang an präsent gehalten werden. Die Warnungen der Eltern setzen funktional das fort, wovon unmittelbar zuvor in den Vorausdeutungen die Rede war. Ich würde behaupten, dass es sich um eine gewissermaßen metonymische Erzähllogik handelt. Die unmittelbare Aufeinanderfolge der beiden Elemente, die gleichermaßen das aktuelle Geschehen – die Brautfahrtsplanungen – auf eine vorab bekannte Zukunft beziehen, stellt so eine kontiguitäre Beziehung auch der thematischen ‚Berührung‘ her. Die Metalepse wird dabei gewissermaßen durch die Metonymie überbrückt: Die beiden Glieder der Wiederholungsfigur sind miteinander im Sinne einer Kontiguität verbunden, insofern beide, die Vorausdeutung des Erzählers wie die Warnung der Figur, ein gemeinsames thematisches Feld kenntlich machen. Dieses thematische Feld ist die folgende Brautwerbungsgeschichte und in gewissem Sinn die epische Totalität des Nibelungenlieds überhaupt (wenigstens seines ersten Teils). Die beiden Glieder der Wiederholungsfigur sind auf dieses thematische Feld metonymischsynekdochisch im Sinne eines pars pro toto bezogen: die Vorausdeutungen _____________ 24

25 26

Vgl. MONIKA FLUDERNIK: The diachronization of narratology. Dedicated to F. K. Stanzel on his 80th birthday. In: Narrative 11 (2003), H. 3, S. 331-348; KARLHEINZ STIERLE: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Hrsg. von HANS ULRICH GUMBRECHT, Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum GRMLA 1), S. 253-313. Vgl. LUGOWSKI (Anm. 2). Mit anderer erzähltheoretischer Gewichtung könnte man natürlich auch sagen, dass episches Erzählen den Unterschied zwischen Erzählerrede und Figurenrede nicht in dem Maße kennt wie modernes Erzählen, sofern es dabei um das Erzählen eines Wissens geht, das nicht grundsätzlich arkan ist. Ich denke aber dennoch, dass er zunächst wichtig ist, die unterschiedlichen Ebenen von Erzähler- und Figurenrede analytisch auseinanderzuhalten.

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auf den vorerst positiven Ausgang der Brautwerbung, die Warnungen des Vaters auf Sivrits Ende.27 IV. Sivrits Auftritt in Worms Die Tendenz zum Kontiguitär-Assoziativen bestimmt die 3. Aventiure auch weiterhin, bei Sivrits Auftritt in Worms. Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Umstand, dass der Held, der eben noch so formvollendet höfisch eingetroffen ist, sich mit einem Mal völlig anders benimmt, nämlich ganz genau so, wie ihn Hagens Erzählung über Sivrits Jugend beschrieben hat. Dieser äußerst merkwürdige Sachverhalt wurde bislang noch nicht angemessen beachtet. URSULA SCHULZE bemerkt hier nur lapidar: „Der Fremde bestätigt zunächst das von Hagen beschworene Bild des vreislichen Siegfried“.28 Mein Verdacht geht dahin, dass die Lücke in der Handlungskausalität gleichgültig ist, weil Kohärenz auch hier über Kontiguität im Oberflächentext hergestellt wird. Das Verfahren, und darauf kommt es hier wohl am meisten an, ermöglicht es, Widersprüchlichkeit zu prozessieren und konkurrierende Optionen offenzuhalten.29 Zu Beginn _____________ 27

28

29

Man kann solche Phänomene auch anders beschreiben; vgl. MEINCKE (Anm. 17), S. 224, zum Eneasroman: „Nicht nur ist durch Vorausdeutungen und vorausdeutende Kommentare des Erzählers alles Geschehen auf einen Zielpunkt bezogen und von daher rein formal zusammenhängend und sinnvoll, sondern gleichermaßen generieren innerhalb dieses ‚finalen‘ Rahmens signifikante Figurenäußerungen spezifische – über bloße ‚syntaktisch-semantische‘ Verknüpfungen hinausgehende – inhaltliche Verweisungszusammenhänge. Mit anderen Worten: Wir beobachten hier den Fall, dass Faktoren der Kohäsion eines Textes zugleich dessen – formale und thematische – Kohärenz stiften“. URSULA SCHULZE: Das Nibelungenlied, Stuttgart 1997 (Literaturstudium; RUB 17064), S. 179. Ähnlich lapidar JAN-DIRK MÜLLER: Das Nibelungenlied, Berlin 2002 (KlassikerLektüren 5), S. 74: „Zwischen dem Vorwurf sagengeschichtlicher Klitterung und Tadel für Siegfrieds Charakter findet man alle Arten von Deutungsversuchen. Dabei setzt die Szene nur fort, was von der ersten Aventiure an angelegt war: den dauernden Registerwechsel zwischen höfischer Ordnung und heroischer Sagenwelt.“ – Die Abweichung innerhalb der drei Haupthandschriften ist gering; in A allerdings fehlen die Strophen 100f., in denen Hagen von der Drachentötung erzählt (100) und er Gunther dazu rät, den Helden deshalb umso besser zu empfangen (101). Insofern inszeniert A Sivrit sogar konsequenter als denjenigen, der sich genau so verhält, wie er eben beschrieben worden ist. Vgl. Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B, C nebst Lesarten der übrigen Handschriften. Hrsg. von MICHAEL S. BATTS, Tübingen 1971. Mittelalterliches Erzählen tut sich ausgesprochen schwer damit, Eigenschaften und Qualitäten (proprietates), aber auch Stimmungslagen menschlicher Figuren und diese Figuren selbst als gemischte darzustellen. Derlei hat zu PETER CZERWINSKIs Rede vom ‚Aggregativen‘ im Aufbau mittelalterlicher Erzählungen und der in ihnen entworfenen Welten geführt – in dem Sinne, dass es dort eben kaum ‚Mischungen‘, sondern beinahe nur distinkt voneinander geschiedene ‚Aggregatzustände‘ gibt. Womöglich ist dies tatsächlich auf mentale Strukturen zurückzuführen, diese Frage aber kann von einem Literaturwissenschaftler kaum beantwortet werden (vgl. PETER CZERWINSKI: Der Glanz der Abstraktion. Frühe

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der 3. Aventiure war es der Umstand, dass die Handlung genau auf der Scheidelinie zwischen ‚einfacher‘ und ‚gefährlicher Brautwerbung‘ angelegt ist und von Sivrits Entschluss an seiner Doppelnatur wegen immer beides zugleich ist, auch wenn im Fortgang der Handlung zumeist alternierend immer nur einer der beiden Aspekte zum Tragen kommt. Sivrits Ankündigung, Kriemhilt mit eigener Hand zu erstreiten, scheint zunächst eingeklammert, als er und seine elf Begleiter in vollendeter höfischer Pracht am Wormser Hof erscheinen. Hagen, der als ‚Wissender‘ dem König Auskunft über die Fremden geben soll, kann sie aufgrund ihrer Kleidung zunächst nur als Fürsten oder deren Boten taxieren, bis plötzlich ein Schalter umgelegt erscheint: Auch wenn er Sivrit niemals gesehen habe, sagt er, sei er doch überzeugt davon, dass es sich um jenen recke[n] handele, der dort sô hêrlîchen gât (86,4; „der dort so herrenmäßig/wie ein Herr geht“). Hagen erzählt nun die heroische Jugendgeschichte Sivrits, die der Text bislang ausgespart hatte.30 Er erzählt sie sprunghaft, assoziativ; räumliche und zeitliche Verhältnisse bleiben ebenso unbestimmt wie die Kausalitäten. Von Sivrit im Nibelungenland ist die Rede; er trifft dort vor einem Berg vil manegen küenen man. / die wâren im ê vremde, unz er ir künde dâ gewan (88,3f.; „viele kühne Männer, die kannte er zuvor nicht, bis er sie dort kennenlernte“). Dennoch erkennt ihn in der Binnenerzählung einer ebenso unvermittelt und spontan, wie ihn auf der Ebene der Haupterzählung Hagen erkannt hat: ‚hie kumt der starke Sîvrit, der helt von Niderlant.‘ (90,3; „‚hier kommt der starke Sivrit, der Held aus Niederland‘“.) Rahmen- und Binnenerzählung werden über die Rekurrenz des Anagnorisis-Motivs miteinander verbunden. Die Wiederholung ist funktional begründet, weil sie – wiederum metonymisch – einen Aspekt von Sivrits Wesen anschaulich macht, der genuin zu ihm gehört, bislang aber kaum thematisch wurde: das Heros-Sein, wobei seine Unvergleichlichkeit sich in einer besonderen Kenntlichkeit ausdrückt. Wie Sivrits Verhalten in der Binnengeschichte völlig unmotiviert ins Heroische ‚switcht‘, so wechselt es im unmittelbaren Anschluss – ebenfalls unmotiviert – in der _____________

30

Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I, Frankfurt a. M., New York 1989; DERS.: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II, München 1993). In jedem Fall reagiert die erzählende Literatur auf das grundsätzliche Problem in der Prozessierung des Widersprüchlichen, das eben nicht zusammengeblendet, sondern nacheinander abgearbeitet wird; vgl. MÜLLER: Höfische Kompromisse (Anm. 2), S. 43. Vgl. zur Szene MÜLLER: Spielregeln (Anm. 7), S. 234f., 130-136; ARMIN SCHULZ: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135), S. 63-70. Es handelt sich hier – gegen CAVALIÉ (Anm. 11), S. 369, um die Schilderung einer durchweg heroischen Jugend. Sivrit „erweist sich“ gerade nicht „[a]ls höfisch geprägter Urheld […] in der Hortgewinnung“. Von höfischen Verhaltensmuster vermag ich in Hagens Bericht über Sivrit nichts zu erkennen.

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Haupterzählung: Eben noch im freundlichen Einvernehmen mit den Nibelungen, deren Schatz er aufteilen soll, geriert er sich als rasender Heros; am Ende sind die Nibelungenkönige und alle, die sich dem Helden in den Weg gestellt haben, tot; nur Alberich, der besiegte Hüter des Schatzes, bleibt am Leben. Die Gründe der Eskalation bleiben im Dunkeln.31 In der heroischen Welt proliferiert sich die Gewalt unkontrollierbar, bis der Sieger feststeht und die Verhältnisse geklärt sind. Auf Kausalitäten kommt es hier nicht an. Dieses Potential scheint der Heros auch in die geordnete höfische Welt hereinzutragen. Erst die Wiederholung macht das Thema des Heros-Seins (und die Konsequenzen daraus) zum narrativen Paradigma. Zwischen dem archaischen Weltausschnitt der Binnengeschichte und dem höfischen Worms bestehen merkwürdige Verbindungen und Äquivalenzen. Ohne die Begleitung eines Heeres kommt Sivrit in einen unter Brüdern geteilten Herrschaftsbereich, und in beiden Fällen hüten die Brüder etwas, was sich der Heros aneignen wird: den Nibelungenhort und Kriemhilt. Nachdem Hagen noch knapp von Sivrits Drachentötung und seiner Unverwundbarkeit erzählt hat, kommt es nun gewissermaßen zu einem Überschlagsphänomen, auch hier einer Metalepse. Der Sivrit der Hauptgeschichte verhält sich, wiederum ohne dass ein Grund genannt würde, genau wie der übermächtige Heros der Binnenerzählung: nu sich, wie degenlîche er stêt in strîtes var (102,2; „sieh nur, wie heldenmäßig er mit sichtbarem Kampfwillen dasteht“). Dies bemerkt Gunther zu Hagen; und nachdem er Sivrit begrüßt hat, wird er unversehens mit dessen Herausforderung konfrontiert, denn der Fremde möchte mit dem König um dessen Reich kämpfen. Die narrative Logik des Nibelungenlieds ist auch hier kontiguitär, nicht kausal: Um den Umschwung im Verhalten des Helden vorzubereiten, wird einfach zuerst von einem anderen Umschwung erzählt. Die unmittelbare Nähe zwischen beiden Ereignissen, von denen das eine das andere variierend wiederholt, im discours genügt – und die Wiederholung liefert tautologisch ihre eigene Regel gleich mit: sie impliziert Gesetzmäßigkeit. Dabei ist auch hier das Erzählen kontiguitär bzw. metonymisch: kontiguitär, weil die Wiederholung das gleiche thematische Feld aktualisiert und eine entsprechende Äquivalenz herstellt; und metonymisch, weil die jeweils zur Schau gestellte Aggressivität pars pro toto für Sivrits heroisches Wesen steht. Eine ähnliche Relation besteht auf der Ebene der dargestellten Welt: Sivrits _____________ 31

Dô gâben si im ze miete das Nibelunges swert / si wâren mit dem dienste vil übele gewert, / den in dâ leisten solde Sîvrit der helt guot. / er’n kundez niht verenden: si wâren zornec gemuot (93,1-4; „Da gaben sie ihm zur Belohnung das Schwert Nibelungs. Mit dem Dienst, den ihnen dort der hervorragende Held leisten sollte, war ihnen schlecht geholfen. Er konnte es nicht zu Ende bringen: Sie waren in zorniger Stimmung“).

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heroische Potenz tritt erstmals genau dann hervor, als er in die unmittelbare Nähe eines anderen Heros gerät, nämlich Hagens. Beide partizipieren an der gleichen ‚Sphäre‘. Im höfischen Worms, wo Herrschaft nicht im körperlichen Charisma eines heroischen Königs begründet ist, stößt Sivrits Herausforderung allerdings an die Grenze, dass ihm niemand der Gefolgsleute Gunthers, die stellvertretend für den König mit ihm zu kämpfen bereit wären, ebenbürtig erscheint. Die Situation bleibt verfahren, bis Gernot die Sache in die Hand nimmt.32 Er verbietet seinen Leuten, Sivrit mit Worten zu reizen. Damit verbunden ist ein erstaunlicher Handlungsumschwung: „Daz sol ich eine wenden“, sprach aber Gêrnôt. allen sînen degenen reden er verbôt iht mit übermüete, des im wære leit. dô gedâhte ouch Sîvrit an die hêrlîchen meit. (Str. 123,1-4) „Das werde ich allein abwenden“, sagte wiederum Gernot. Allen seinen Helden verbot er, etwas im Übermut etwas Herausforderndes zu sprechen, was ihm [Sivrit] verhasst sein könnte. Da dachte auch Sivrit an das herrliche Mädchen.

Gernot versucht, das Heroische der Situation wegzudrängen, und schon erinnert sich Sivrit, weshalb er überhaupt hergekommen ist.33 Dieser setzt zwar noch eine Aufforderung zum Kampf nach, aber keiner antwortet ihm. Gernot heißt nun die Fremden willkommen: wir sulen iu gerne dienen, ich und die mâge mîn (126,3; „wir werden Euch gern dienen, ich und meine Verwandten“). Man reicht Gunthers Wein als Willkommenstrunk. Dô sprâch der wirt des landes: „allez daz wir hân, geruochet irs nâch êren, daz sî iu undertân, und sî mit iu geteilet lîp unde guot.“ dô wart der herre Sîvrit ein lützel sanfter gemuot. (Str. 127,1-4) Da sagte der Landesfürst: „Alles, was wir haben, sei Euch untertan, wenn Ihr es in Ehren wollt, und mit Euch seien Leben und Gut geteilt.“ Da wurde der Herr Sivrit ein wenig sanfter in seiner Stimmung.

Sivrit bekommt dasjenige, was er lautstark gefordert hat, aber nur auf der Ebene von Höflichkeitsbezeugungen. JAN-DIRK MÜLLER hat in diesem _____________ 32

33

MÜLLER: SIVRIT (Anm. 9), S. 90: „Der Text verzichtet auf eine eindeutige Hierarchisierung der Motive Minne und Kampf um die Herrschaft. In der parataktischen, nicht kausal verknüpfenden Darstellung wird nicht einmal so klar, wie die Interpreten wollen, was Sîvrit schließlich zum Nachgeben veranlaßt“. SCHULZE (Anm. 28), S. 127: „Der Gedanke [an Kriemhilt] bewirkt nicht abrupt einen Verhaltensumschwung, leitet ihn aber ein.“ Vgl. JAN-DIRK MÜLLER: Das Nibelungenlied. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von HORST BRUNNER, Stuttgart 1993 (Interpretationen; RUB 8914), S. 146-172, hier S. 154f.: „Schon während der Konfrontation hatte der Gedanke an die minne Kriemhilds unvermittelt seine [Sivrits] aggressiven Forderungen durchkreuzt: Die antagonistischen Motive werden nicht hierarchisiert; als gleichzeitig wirksam erscheinen sie, indem sie unverbunden nebeneinander stehen.“

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Zusammenhang von ‚Virtualisierung‘ gesprochen.34 Der Konflikt wird gelöst, indem er von der Eigentlichkeit in die Uneigentlichkeit verschoben wird und indem die Unterwerfung bloß metaphorisch ist. Zugleich greift hier die Logik höfischer Reziprozität, in der HARALD HAFERLAND neben dem ‚Agon‘ und dem ‚Ausdruck‘ eines der zentralen feudalen Interaktionsmuster erkannt hat:35 Nachdem das Heroische mit dem Verbot der Reizreden aus der Szene verschwunden ist und Sivrit auf sein Nachtarocken im gleichen Register nicht einmal eine Antwort erhält, wechselt sein Verhalten augenblicklich ins Höfische, sobald er im Register höfischer Virtualisierung angesprochen wird, in einem Register, das eben gerade nicht auf agonale Konfrontation und die Feststellung von Hierarchie zielt, sondern im Gegenteil darauf, den Agon ruhigzustellen – durch Handlungen, deren Wechselseitigkeit Gleichheit erzeugen soll. So offenbart sich die Doppelnatur des Helden. Auch hier gibt es keine kausale Begründung für den Verhaltensumschwung. Es genügt, dem Helden den heroischen Situationsrahmen zu entziehen und ihn mit dem höfischen Verhaltensregister zu konfrontieren, und schon denkt er wieder an die Minne und lässt sich bald darauf bereitwillig einbinden.36 Wieder ist die Erzähllogik kontiguitär: Handlungen und Folgehandlungen werden nicht durch Handlungsgründe miteinander verknüpft, sondern dadurch, dass sie im Sinne einer Kontiguität ‚benachbart‘ sind und jeweils metonymisch an eben diesem gemeinsamen thematischen Feld partizipieren. Das Nibelungenlied ist hier durchaus ein höchst kohärenter Text – nur eben nicht hinsichtlich der Kausalitäten der Handlung. Zeigen ließe sich das nun auch großräumig, hinsichtlich thematischer Kontiguitäten, die von der jüngeren Forschung ja auch oft bemerkt worden sind.37 Beispiele fänden sich etwa im Anschluss an die PrünhiltWerbung, als Sivrit ins Nibelungenland zurückkehrt und dort denjenigen Akt, der ihn dort zum Herrscher gemacht hat, wiederholt: die Niederringung Alberichs. Dabei trägt er, wie in der voraufgehenden Episode auf Isenstein, in der er ja ebenfalls gegen eine latent andersweltliche Gegnerin gekämpft hat, die Tarnkappe. List und Kampf wiederholen sich scheinbar ohne jede Notwendigkeit, und doch erfüllt dies eine Funktion: Gezeigt wird so, dass Sivrit nicht in der Rolles eines Helfers der Burgunden auf_____________ 34 35 36

37

MÜLLER: Spielregeln (Anm. 7), S. 410f. Vgl. HARALD HAFERLAND: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 10), S. 17. JÖRN BOCKMANN hat mich darauf hingewiesen, dass dieses Muster auch in Wolframs Willehalm benutzt wird, als der Heros als Rasender durch den Hoftag von Munleun tobt, bis ihn der Anblick von Alyze, der ‚Realabstraktion‘ (CZERWINSKI, Der Glanz der Abstraktion [Anm. 29], S. 39-43) alles Höfischen (und damit auch der Minne) augenblicklich pazifiziert. Vgl. insgesamt etwa MÜLLER: Das Nibelungenlied (Anm. 28), S. 56-89.

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geht, weil er nach dem für seine Figur relevanten charismatischen Führungsprinzip selbst Herrscher ist. Deshalb fehlt hier natürlich Gunther, und damit der narrative ‚Beweis‘ funktionieren kann, darf Alberich seinen Herrn nicht erkennen; ebenso fehlt Prünhilt, weil es nicht zum ‚Kurzschluss‘ zwischen Werbungshelfer und Braut kommen darf, die aus heroischer Sicht immerhin merkmalsgleich und damit füreinander passend wären.38 Die Prünhilt-Werbung (6./7. Aventiure) ist nicht nur mit der Nibelungenland-Episode der 8. Aventiure kohärent verknüpft, sondern auch mit den beiden voraufgehenden Aventiuren: mit der 5., in der Sivrit Kriemhilt zum ersten Mal sehen darf, über das Motiv der Minne und über Kriemhilts Schneiderdienste für die Brautwerbungsfahrt (die ihre metonymische Präsenz bei dem Unternehmen sicherstellen); mit der 4. des Sachsenkrieges über das Motiv, dass Sivrit stellvertretend für Gunther heroische Handlungen vollbringt. Motivisch-thematische – also kontiguitäre – Kohärenzen dieser Art ließen sich im Nibelungenlied zuhauf finden.39 Wenn man mit JAN-DIRK MÜLLER zwischen der ‚syntagmatischen‘ und der ‚paradigmatischen Integration‘ von Handlung unterscheiden kann,40 dann leistet kontiguitär-metonymisches Erzählen nicht allein die Herstellung, sondern auch die syntagmatische Einbindung der thematischen Paradigmen, hier also der Demonstration der Doppelnatur des Helden einerseits und andererseits der doppelten Wirkung, die sie auf die Burgunden hat.41 Offenbar kann ein solches Erzählen von Nutzen sein, wo ursprünglich heterogenes Material in einen narrativen Zusammenhang eingebunden werden soll. Paradigmatische Integration kann so unabhängig von Kausalität bewerkstelligt werden: Womöglich handelt es sich hier gewissermaßen um einen ‚Ersatz‘ für kausale Motivation. Insgesamt ließe sich wohl, wollte man die Beschreibung systematisieren, ein Modell unterschiedlicher, durch Kontiguität und Metonymie er_____________ 38 39

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Vgl. STROHSCHNEIDER (Anm. 8). Zur ersten Hälfte des Nibelungenlieds vgl. hierzu BRUNO QUAST: Wissen und Herrschaft. Bemerkungen zur Rationalität des Erzählens im Nibelungenlied. In: Euphorion 96 (2002), S. 287-302. QUAST hebt besonders die im Titel seines Aufsatzes genannte Koppelung hervor. „Die Kohäsion des Erzählten wird offenbar wesentlich paradigmatisch konstituiert. Es scheinen im Nibelungenlied Kohärenzen unterschiedlicher Dichte und Qualität auf verschiedenen Textebenen vorzuliegen“ (S. 299), wobei vor allem „Parallelisierung als poetisches Mittel einer historisch fremden Kohärenzbildung“ hervortrete (S. 300). MÜLLER: Spielregeln (Anm. 7), S. 87-93. Es gälte zu überprüfen, ob damit insgesamt ein Modell textueller Kohärenz zu beschreiben wäre, das hinausginge über ein „nicht-lineares Kohärenzverständnis […], welches auch Brüche und Sprünge erträgt“, etwa wenn das Verhalten von Figuren an die semantischen Felder gekoppelt ist, die sie repräsentieren (vgl. BERNHARD SCHMITZ: Rollenfiguren und Bedeutungsfelder im literarischen Spiel. Überlegungen zu den Aporien im Nibelungenlied. In: ABäG 56 [2002], S. 123-154, hier S. 125).

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möglichter Ebenensprünge (Metalepsen) rekonstruieren: erstens auf unterschiedlichen Ebenen des discours (Erzählerrede infiltriert Figurenrede), zweitens auf unterschiedlichen Ebenen des Emplotments (Diegese der Binnenerzählung infiltriert Diegese der Haupterzählung; anders gesehen: Figurenrede infiltriert Erzählerrede), drittens in der Verknüpfung von Ereignissen auf der Ebene der histoire (metonymische Relationen verkoppeln Motive und Themen unabhängig von Kausalitäten und stiften so Rekurrenzen; diese wiederum generieren Paradigmen). Das freilich wäre noch sehr genau zu überdenken. V. Metonymisches Erzählen in Mittelalter und Moderne Erzählen im Nibelungenlied ist stark von einer kontiguitären Logik geprägt. Zusammenhänge ergeben sich mitunter weniger aus Kausalitäten als vielmehr aus der ‚Nähe‘ von Protagonisten und Protagonistengruppen zu rekurrenten Themen und Worten. Diese Nähe ist vor allem eine innerhalb des Wortlauts der Erzählung, des discours, zugleich stellt sie sich dann teilweise gleichzeitig auch innerhalb der dargestellten Welt her.42 Das allerdings ist keinesfalls ein spezifisch mittelalterliches Erzählverfahren. Die Narratologin MONIKA FLUDERNIK hält sehr allgemein fest: Neben der Metaphorik existiert in vielen Romanen [...] eine Strategie, die wiederkehrende Schlagwörter und Wortfelder zu strukturellen Zwecken nutzt. [...] In solchen Texten kehren gewisse Begriffe leitmotivisch wieder, und durch ihre Assoziationen im Kontext der Figuren und des Plot wandeln sie sich in Symbole, die auf einer übergeordneten Ebene Zusammenhänge und Argumente suggerieren. [...] Die wiederkehrenden Verweise und Wortwiederholungen lassen also eine Symbolik entstehen, die [...] primär auf der Basis von Metonymie, als der wiederkehrenden Kontiguität der Schlüsselbegriffe mit Romanfiguren und bestimmten Situationen, funktioniert.43

_____________ 42

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Die Erzähllogiken, die ich zu beschreiben versucht habe, sind einerseits stark assoziativ, andererseits lassen sie sich sicherlich schon im Mythos nachweisen. Insofern sind sie weder an mediale noch an konzeptionelle Mündlichkeit oder Schriftlichkeit gebunden, auch nicht unbedingt an die Frage, ob der Text, der sie nutzt, ‚noch‘ Epos oder ‚schon‘ Roman ist, ebensowenig daran, ob dieser Text ‚vor‘ oder ‚hinter‘ der Modernitätsschwelle liegt. Die Hauptsache ist ihr Gebrauch und ihre Akzeptanz beim Publikum. MONIKA FLUDERNIK: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006 (Einführung Literaturwissenschaft), S. 91. Die Fortsetzung des Zitats lautet: „Dennoch ähnelt die Struktur der Metapher insofern, als Elemente auf der syntagmatischen Achse miteinander korreliert und verglichen werden und sich Äquivalenzen (aber auch Kontraste) etablieren. Allerdings ist die Ähnlichkeit vorgegeben (die Begriffe sind Wiederholungen oder stammen aus demselben Wortfeld) und wird nicht erst als Sinneffekt produziert, sondern die vorhandenen Äquivalenzen werden genutzt, um Argumente, Kontraste und Interpretationen zu stricken, also quasi ein semantisches Netz von Äquivalenzen auf einer höheren Ebene zu konstituieren.“

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Es gälte also, die historische Spezifik solcher Verfahren zu bestimmen, die das Geschehen ausgehend vom schieren Wortlaut der Textoberfläche her organisieren. Ich versuche dies abschließend in einem erweiterten Rahmen, bin mir aber der Unzulänglichkeit meiner Überlegungen durchaus bewußt. Ein überwältigend simples Beispiel findet sich in der CaesarGeschichte der Kaiserchronik,44 wo das Verfahren noch irritierend unbeholfen erscheint. Die Partie wird mit folgender Bemerkung eingeleitet: jâ heten Rômære, / vil harte grôz êre (V. 211f.; „ja, die Römer hatten durchaus große Ehre“), so dass sie sich alle Länder unterworfen hätten. Und dann: Duo hiezen Rômære giezen ûzzer êre elliu diu lant diu si hêten bidwungen in ihr gewalt. (V. 217-220) Da ließen die Römer aus Erz alle Länder gießen, die sie in ihre Gewalt gezwungen hatten.

Die Homonymie zwischen der ‚Ehre‘ und dem ‚Erz‘ sowie der zweifach unmittelbar hintereinander verwendete Reim Rômære/êre stiften wenig elegant, aber äußerst massiv Kohärenz auf der Ebene des Oberflächentextes – und koordinieren zugleich die Abfolge der Handlungseinheiten, aber gerade nicht im Sinne einer Motivation. Kontiguität wird hier, anders als in den komplexeren Beispielen aus dem Nibelungenlied, nicht über die Teilhabe an gleichen Bedeutungsfeldern hergestellt, sondern, in unmittelbarer textueller Nähe, über Äquivalenz im Klang. Wiederholung erzeugt ein Paradigma, zugleich stiftet dies Kohärenz völlig unabhängig von jeder Kausalität. Das Beispiel markiert gewissermaßen den einfachstmöglichen Fall im Zusammenhang der zahlreichen Wiederholungen von Wortmaterial, Namen, Motiven, Situationstypen und Themen, von denen die Kaiserchronik geprägt ist. Die Funktion dieser Wiederholungen, die sich sehr kleinteilig auf einzelne Episoden beschränken können, aber auch großräumig unterschiedliche Episoden aufeinander beziehbar machen, beschäftigt hier die Forschung seit ERNST FRIEDRICH OHLY. Manches wurde mit OHLY sehr spezifisch im Sinne christlicher Typologie verstanden; manches wurde mit MARKUS STOCK neutraler und deskriptiver als Erzählverfahren im Rahmen einer ‚korrelativen Sinnstiftung‘ begriffen45 – zumal Typologie nichts _____________ 44 45

Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Hannover 1892 (Monumenta Germaniae Historia; Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 1/1). Vgl. ERNST FRIEDRICH OHLY: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung [1940], Repr. Darmstadt 1968; KARL STACKMANN: Erzählstrategie und Sinnvermittlung in der deutschen Kaiserchronik [1990]. In:

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anderes als eine ganz besondere Semantisierung von Wiederholungsfiguren ist.46 Mein Verdacht geht für die Kaiserchronik naheliegenderweise dahin, dass solche Wiederholungen besonders dazu dienen sollen, heterogenes, auch aus unterschiedlichen Quellen stammendes Material in einen Erzählfluss zu integrieren und im neuen Text dann die Kohärenz zu erhöhen. Man kann das beispielsweise anhand der Caesar-Partien näher demonstrieren. Sie sind augenscheinlich z. T. wortwörtlich aus dem Annolied abgeschrieben, erscheinen aber deutlich kryptischer als die Vorlage und verzichten im Gegensatz zu ihr auf einige kausale Motivationen bzw. Begründungen. Im Gegenzug erscheinen aber die Wiederholungsfiguren auf der Ebene des Wortlauts sowie auf derjenigen der Evokation basaler Themen und Paradigmata deutlich forciert.47 An einigen Stellen kürzt der Chronist Erläuterungen heraus; das Geschehen erscheint nurmehr im Sinne einer kontiguitären Logik – und zwar auf der Textoberfläche, nicht in der dargestellten Welt – miteinander verbunden. Im Annolied heißt es, gut verständlich, von den Bayern: wiliche knechti dir wêrin, deist in heidnischin bůchen mêri. dâ lisit man: „Noricus ensis“, daz diudit „ein suert beierisch“, wanti si woldin wizzen, daz ingeini baz nibizzin, die man dikke durch den helm slûg. demo liute was ie diz ellen guot. (20,7-14)48 Was für Krieger dort waren, das ist bekannt aus heidnischen Büchern. Dort liest man „Noricus ensis“ (das heißt: „ein bayerisches Schwert“), denn sie glaubten zu wissen, dass keine [anderen Schwerter] besser bissen: Oft durchschlug man die Helme damit. Dieses Volk besaß stets große Tapferkeit.

_____________

46 47

48

DERS.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hrsg. von JENS HAUSTEIN, Göttingen 1997, S. 51-69; TIBOR F. PÉZSA: Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen Kaiserchronik, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Europäische Hochschulschriften I/1378); MATÍAS MARTÍNEZ: Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der Kaiserchronik. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von MATÍAS MARTÍNEZ, Paderborn 1996 (explicatio [7]), S. 83-100; STOCK (Anm. 14), S. 34-72. Vgl. CHRISTIAN GELLINEK: Die deutsche Kaiserchronik: Erzähltechnik und Kritik, Frankfurt a. M. 1971, S. 11-13. Für meine Fragestellung ist es gleichgültig, ob man hier zusätzlich die Zwischenstufe einer verlorenen Reimchronik ansetzt, wie STEPHAN MÜLLER: Vom Annolied zur Kaiserchronik. Zu Text- und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik, Heidelberg 1999 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Das Annolied. Hrsg. und übersetzt von EBERHARD NELLMANN. In: Deutsche Dichtung des Mittelalters, Bd. I: Von den Anfängen bis zum hohen Mittelalter. Hrsg. von MICHAEL CURSCHMANN/INGEBORG GLIER, Frankfurt a. M. 1987 (Fischer-Taschenbuch 5488), S. 92-147.

Fremde Kohärenz

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In der Kaiserchronik liest sich das dann erheblich kryptischer: owî wie guote cnehte Baier wâren, daz ist in den haidenisken buochen mære. dâ liset man inne ‚Noricus ensis‘, daz kît ain swert Baierisc. diu swert man dike durch den helm sluoc, dem liute was sîn ellen vil guot. (V. 311-316) Ach, wie gute Krieger die Bayern waren, das ist bekannt aus den heidnischen Büchern. Darin liest man: ‚Noricus ensis‘, das bedeutet ein bayerisches Schwert. Die Schwerter schlug man oft durch den Helm, dem Volk nutzte seine Tapferkeit sehr.

Der Text kann auf den Noricus ensis nicht verzichten, weil es im Rahmen seiner origo gentis-Entwürfe zu seinen zentralen und immer wieder durchvariierten Paradigmen gehört, einen ‚deutschen Stamm‘49 mit einer spezifischen Waffe in Verbindung zu bringen. Kausale Erklärungen aber erscheinen hier weitgehend gleichgültig; gegenüber den thematischen Paradigmen erwecken sie den Eindruck des Fakultativen. Der Zusammenhalt der gekürzten Passage wird ausschließlich durch die kontiguitäre Rekurrenz von swert oberflächentextuell erzwungen, im Sinne textueller Kohäsion. Kohäsion ist von Kohärenz insofern zu unterscheiden, als Kohäsion den syntagmatischen, grammatischen Zusammenhang auf der Ebene des Oberflächentextes meint,50 der nach modernen Erwartungen zwar mit textueller Kohärenz einhergeht, aber dies nicht notwendig muss. Texte können auch dort kohärent sein, wo sie nicht kohäsiv sind, umgekehrt können sie kohäsiv sein, wo sie nicht kohärent sind, und genau das kann jeweils spezifische narrative Funktionen erfüllen. Metonymisches Erzählen kann nun, wie bereits angedeutet, paradigmatisches Erzählen in ein narratives Syntagma integrieren. Denn die Kaiserchronik hält, trotz aller Umstellungen und Auslassungen, am Äquivalenzprinzip des Annoliedes fest, d. h. Kohärenz wird hier durch die wiederholende Variation bestimmter Grundparadigmen hergestellt. Bei Caesars Begegnungen mit den ‚deutschen‘ Stämmen, mit denen er auf vertrautem Fuß steht, wird, wie schon im Annolied, die thematische Konfiguration in ihre einzelnen Bestandteile auseinandergenommen, und diese Bestandteile werden dann variierend rekombiniert. Schwaben und Bayern haben gleichermaßen eine besondere Beziehung zu einem Berg, von dem sie ihre Herkunft einmal etymologisch, einmal real ableiten (in beiden Fällen also _____________ 49

50

Zum Problem vgl. UTA GOERLITZ: Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Identität seit dem Annolied. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.-16. Jahrhundert), Berlin, New York 2007 (QuF 45 [279]); vgl. dort auch zur Szene S. 79-90 (Annolied) und S. 137-142 (Kaiserchronik), allerdings ohne Berücksichtigung der literarischen Faktur. Vgl. MEINCKE (Anm. 17), S. 210f.; STUCK (Anm. 13), S. 280.

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metonymisch). Wie die Schwaben ihren Namen von einem Berg ableiten, so leiten die Sachsen, die ursprünglich zum Gefolge Alexanders des Großen gehört haben sollen, den ihren von den scharfen Messern ab, mit dem sie die Thüringer heimtückisch getötet haben, deshalb sint si noch gehaizen Sahsen (V. 342; „heißen sie noch Sachsen“). Auch den Bayern, die aus Armenien, vom Berg Ararat, herstammen sollen, wird ein besonderes Verhältnis zu Waffen nachgesagt (Noricus ensis). Der Textzusammenhalt wird durch das Äquivalenzprinzip gestiftet: Zweimal gibt es eine Verbindung mit einem Berg, zweimal eine Anbindung an Heils- und Weltgeschichte, zweimal eine etymologische Herleitung des Stammesnamens. Die Paradigmen verändern sich leicht, ‚shiften‘ gewissermaßen, aber das kontiguitäre Prinzip bleibt das gleiche. Es wird auch bei der Konfrontation mit den Franken beibehalten – auch sie sind als Caesars alte[ ] mâgen (V. 344; „alte Verwandte“), die sich wie er auf die Flüchtlinge aus dem Trojanischen Krieg zurückführen (V. 346-348), Gegner und Freunde zugleich. Ungleich raffinierter begegnen solche paradigm shifts dann im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven. Hier gibt es – und eben nicht nur in der ersten Romanhälfte, sondern auch in der zweiten (Lanzelets Minnehaft auf Pluris, Ginovers Entführung durch Valerin, die Gefangenschaft Erecs und Walweins) – einen gewissen Pool gängiger Themen und Motive: ein mythischer Ort; eine heiratsfähige, höfische junge Frau; eine übermächtige männliche Figur aus der Vätergeneration mit teils höfischen, teils archaischen – mythischen oder heldenepischen – Anteilen; eine Rechtsbindung der Frau an diese Vaterinstanz; die Gefangenschaft des Helden; die Befreiung des Helden mit fremder Hilfe; eine Minneverbindung mit der jungen Frau; die Tötung der Vaterinstanz; weibliche AndersweltAusschnitte, aus denen Konstitutiva des Höfischen stammen, etc. Das initiale Paradigma – im Sinne eines thematischen Clusters – zeigt bei weitem nicht alle dieser Themen bzw. Motive, einzelne werden dann in der nächsten Episode variierend wiederholt (womit die Episoden dergestalt kontiguitär verknüpft werden), während andere wegfallen und neue hinzukommen. Das Paradigma ‚shiftet‘ auf der Basis komplexer Kontiguität gewissermaßen durchgängig, weshalb alle Versuche, der Romanstruktur im Blick auf den ‚klassischen Doppelweg‘ beizukommen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind; vielmehr erscheinen die Wiederholungen über das von MARKUS STOCK beschriebene Prinzip der ‚korrelativen Sinnstiftung‘ beschreibbar. Die Ebene des unmittelbaren Wortlauts spielt dabei allerdings kaum eine Rolle, weil der syntagmatische Zusammenhang sich hier bereits mühelos aus der Wegstruktur der Handlung ergibt. Anders ist dies in Erzählungen, die nicht zwingend auf ein Ende hin zulaufen, weil ihre narrativen Paradigmen nicht mutieren, sondern mehr

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oder minder die gleichen bleiben. Dies ist der Fall bei den Rückkehrabenteuern der Tristan-Fortsetzer, die die Episoden, die Gottfried von Straßburg nicht mehr erzählt hat, aus Eilharts älterer Geschichte und aus der Tristan-Tradition überhaupt auswählen, neu anordnen und durch oberflächentextuelle Rekurrenzen sowie durch paradigmatische, variierende Wiederholungen neu miteinander verbinden.51 Das Verfahren, die Handlungsebene durch kontiguitäre Rekurrenz auf der Textoberfläche zu steuern, erscheint durchaus ubiquitär. Das kann abschließend ein kurzer Blick auf die Erzählliteratur des späten 19. Jahrhunderts zeigen. Gemeinhin wird den Novellen und Romanen des ‚bürgerlichen Realismus‘ eine besonders große Rolle in der Herausbildung moderner Kohärenzverfahren zugeschrieben, und zwar im Sinne einer kausalen Verknüpfung der Handlungsereignisse. Für die Ebene der erzählten Ereignisse, der histoire also, mag dies auch durchaus zutreffend sein, nicht aber für die Ebene des Textes selbst, des discours, über die die erzählten Ereignisse überhaupt erst vermittelt und ‚hergestellt‘ werden.52 Beobachten lässt sich das etwa anhand von Wilhelm Raabes Stopfkuchen aus dem Jahr 1890.53 Der Redefluss des Erzählers unterliegt hier von Anfang an einer kontiguitären Logik, die sowohl von der Nähe der Sprachzeichen als auch von der assoziativen Verknüpfung auf thematisch-motivischer Ebene bestimmt zu sein scheint. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel vom Beginn des Romans; es gäbe Hunderte: denn man kann doch nicht von jedem deutschen Professor verlangen, daß er auch nach Afrika gehe und sein Wissen an den Mann, das heißt an den Buschmann bringe oder es im Busche sitzenlasse (S. 3; Herv. von mir, A. S.).

Der Erzählfluss folgt nicht irgendwelchen Notwendigkeiten oder äußerlich vorgegebenen Ordnungen, sondern der ostentativen Willkür des Erzählers, dessen Assoziationen immer wieder massive Metalepsen produzieren. Zusammengehalten wird die ‚See- und Mordgeschichte‘ vor allem dadurch, dass Wiederholungsfiguren beim Wortmaterial und im Sinne thematischer Kontiguität die unterschiedlichen Ebenen miteinander verbinden, indem sie sie über Äquivalenzen kurzschließen. So vermeint der Erzähler den Ruf „‚Feuer auf dem Schiff‘“, der ihn auf seiner mit Schrei_____________ 51

52 53

Zum Problem vgl. RAINER WARNING: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von RAINER WARNING/GERHARD NEUMANN, Freiburg i. Br. 2003 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 98), S. 175-212. Vgl. KLAUS W. HEMPFER: Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts Orlando furioso. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hrsg. von EBERHARD LÄMMERT, Stuttgart 1982 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 4), S. 130-156. Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Mit einem Nachwort von ALEXANDER RITTER, Stuttgart 2004 (RUB 9393).

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ben zugebrachten Rückreise-Passage nach Südafrika kurzfristig irritiert hat, in der Variation „‚Feuer! Feuer auf der Roten Schanze‘“ auch an dem Ort und in der Situation zu vernehmen, an die er sich schreibend gerade erinnert (S. 88); in beiden Fällen handelt es sich dann um reichlich falschen Alarm, weil einmal nur die Strümpfe des Schiffskochs brennen, das andere Mal die angekündigte Aufklärung einer alten Mordgeschichte dann doch wieder aufgeschoben wird. Der assoziative Duktus, der kontiguitärmetonymischem Erzählen innewohnt, dient hier vor allem dazu, das Erzählen als einen Willkürakt des Erzählers herauszustellen, der sich in der Geschichte, die er erzählt, ohnehin in narrativer Konkurrenz mit dem ebenso willkürlich erzählenden Jugendfreund ‚Stopfkuchen‘ befindet, der ihm das begehrte Wissen um den Mord aus beider Kindertagen immer wieder vorenthält. Metonymisch-kontiguitäres Erzählen, Erzählen und Koordination des Erzählten vom Wortlaut der Textoberfläche her, dient im Rahmen ‚realistischer‘ Prosa nicht mehr dazu, konkurrierende Sichtweisen auf dasselbe Geschehen offenzuhalten, oder dazu, heterogenes Erzählmaterial zu integrieren (auch wenn es durchaus dazu genutzt wird, zwischen unterschiedlichen Erzählsträngen hin- und herzuschalten). Stattdessen dient es vorrangig dazu, den Akt der Narration als einen willkürlichen auszustellen, den der Erzähler gewähren, aber auch verweigern kann. Metonymisches Erzählen dient so einem Autonomiegestus. Die Alterität vormoderner Literatur und Kultur ist nur eine partielle, und sie wird erst dann sichtbar, wenn man sich die alten Texte ‚fremd‘ macht – indem man zwar die formalen Kontinuitäten herausarbeitet, aber dabei nach funktionalen Diskontinuitäten sucht. Die selbstreferentielle und selbstreflexive Funktion hat metonymisches Erzählen in den vormodernen Texten noch lange nicht, auch wenn es, wie im Beispiel aus der Kaiserchronik, das eigene Verfahren überdeutlich ausstellt. Der sprachliche Akt, der die unterschiedlichen Dinge in oft auffälligen Metalepsen zusammenbringt und zusammenzwingt, soll gerade nicht als Akt auktorialer Willkür erscheinen, sondern er sorgt nur dafür, dass ausgedrückt wird, was ohnehin der Fall ist.

UTA STÖRMER-CAYSA

Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung Über die zyklische Raumzeitstruktur vormoderner Erzählungen mit biographischem Schema

I. Zum Thema des Vortrags und der Tagung In ihrem Streitgespräch haben HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER die Frage nach den Epochenschwellen mit der nach bestimmten Gattungen verbunden. Gattungen haben Entstehungsbedingungen und Blütezeiten wie Pflanzen, aber sie verschwinden nie ganz, ihre Möglichkeiten bleiben betretbar. Allerdings wird es geschehen, dass ein späterer Autor zu einer alten Form greift, und siehe, sie gerät ihm unter der Hand zu etwas anderem, etwa so, wie der Russische Formalismus die Kontinuität der Gattungstradition beschreibt.1 Welche alten Formen jeweils bevorzugt ummodelliert werden, gehört zu den Eigenschaften der Epoche. Welche Grenzen sich der Aneignung dabei entgegenstellen, auch. Sie haben nicht nur etwas mit Literatur zu tun, sondern ebensoviel mit Lebensweise und Denkgewohnheiten. Wirklichkeit ist immer die eigene - wieviel einer auch gelesen hat; und der Hörer und Leser oder der rezipierende Neudichter nimmt unwillkürlich Bezug auf sie, wenn er den Grundmodus der Mimesis in einem alten Text verstehen will, z. B. das Wunderbare und Phantastische, aber auch spezifische Eigenschaften des plots wie den guten Ausgang des Ritterromans. Umgekehrt können Dichter auch rezipieren, was aus weit entfernter Hand zu empfangen ihnen kaum bewusst ist, weil eine nähere Vergangenheit es, wenn auch fragmentiert und neu zusammengesetzt, in sich trägt. _____________ 1

Vgl. JURI TYNJANOW: Das literarische Faktum. In: DERS.: Poetik. Hrsg. von BRIGITTA SCHRÖDER/WALTRAUD SCHROEDER/WOLFRAM SCHROEDER. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von RALF SCHRÖDER, Leipzig, Weimar 1982 (Gustav Kiepenheuer Bücherei 35), S. 7-30.

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Für mein Vorverständnis ist der Roman eine Gattung, die eigentümlich in die Neuzeit gehört, und das Epos eine Gattung, die eigentümlich in das griechische Altertum gehört; im Mittelalter gibt es die eine noch und die andere schon, oft in Mischformen. Vor 70 und noch vor 50 Jahren hießen die Texte, die wir heute höfische Romane nennen, in der Forschungsliteratur Epen. Die Interpreten waren damals nicht dümmer als jetzt. Das heißt wohl, dass sich das Interesse an den Texten eher zum mit der modernen Literatur Gemeinsamen hin verschoben hat, weg von der Alterität. Während sich diese Umbenennung vollzog, hat sich die gattungshafte Beschreibung des neuzeitlichen Romans nicht annähernd so grundsätzlich geändert. Mir scheint es deshalb nützlich zu fragen, bis zu welchem Grade die Erzählungen, die man Versepen oder höfische Romane nennen kann, in ihrem Bauplan denn für die Rezeption in der Neuzeit verwendbar bleiben. Man weiß, dass die Romantik sich dem Mittelalter in einer Beziehung sympathetischer Differenz zuwendet, einer Beziehung, die das epochale Verständnis des Modernseins (und damit der Epochenschwelle) in einem grundlegenden Sinn voraussetzt. So ist ein Autor in romantischer Tradition einerseits ein geeigneter Gewährsmann für solcherlei Fragen. Andererseits könnte es sein, dass Stoffen, die er bei mittelalterlichen Kollegen vorfindet, bestimmte erzählerische Verfahren traditionell eingeschrieben sind; das würde das Bild der rein technischen Verfügbarkeit von Mustern verfälschen. So versuche ich meine Frage nach dem neuzeitlichen erzähltechnischen Erbe des Ritterromans an Texten zu stellen, die motivisch nicht aufeinander verweisen. In die Diskussion geht mein Beitrag mit folgenden Thesen: 1. Die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit spiegelt sich narrationstechnisch im Verhältnis zwischen biographischer Zeit, die in der fiktiven Welt an der Hauptfigur (oder den Hauptfiguren) zu vergehen scheint, und figurenübergreifenden Zeitverläufen innerhalb der Erzählung. 2. Dieses Verhältnis hat mit der Auffassung von aufdeckbarer Kausalität innerhalb der fiktiven Welt zu tun. II. Die zyklische Raumzeitregie im Erec Für die ersten, klassisch gewordenen Erzählungen aus dem Artuskreis – die sich überwiegend auf einen Erzählstrang beschränken und deren fiktive Welt über den Erzählausgang hinaus als intakt und fortbestehend behauptet wird – ist eine kreisförmige Raumzeitstruktur auf der Makround Mikroebene kennzeichnend. Solche Erzählungen führen ihren Helden in einen Zustand und an eine Stelle, die er schon einmal innehatte,

Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung

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und lassen ihn Stationen mehrmals durchlaufen.2 Es ist eine Struktur der Wiederholung und der Wiederkehr, ein ganz spezifischer und nicht mit dem antiken Epos und Roman vergleichbarer Chronotopos, wie BACHTIN sagen würde.3 Er soll am Erec entwickelt werden, weil mir das am redlichsten scheint: An diesem Text hat jeder studierte Germanist schon einmal über Wiederholung nachgedacht. KUHN4 fragt sich bekanntlich, warum sich auf Erecs Bewährungsfahrt alles gleichsam zweimal ereignet, und er findet die Antwort, dass sich jeweils das Vorzeichen ändere, Erec Fehler wahrnehmbar korrigiere. Nun trifft das, wie er sehr gut sehen kann, bei den Räuberabenteuern nicht zu; folglich erklärt er sie zum ‚epischen Doppelpunkt‘, also gewissermaßen zum erzählten Erzählprogramm.5 Das ist insofern problematisch, als er damit implizit behauptet, dass das zweite Ereignis auf der Aventiurefahrt in sich, also innerhalb der fiktiven Welt, überhaupt nichts bedeutet, sondern gewissermaßen aus einer anderen Welt, der der Rezeption, wie ein Wegweiser in die fiktive Welt hineinragt, und das nur, weil sich der Sinn umkehrender Vertauschung, mit der er die anderen Dopplungen begründet, hier nicht unterstellen lässt. Meines Erachtens muss man die identische Dopplung aber von der Zeitstruktur her erklären, denn in dieser Hinsicht verhalten sich identische und variierende Dopplung ganz gleich. Der unter der erzählten Handlung ausgebreiteten Zeitstruktur fragt KUHN aber nicht weiter nach, obgleich ihm eine Besonderheit aufgefallen ist, nämlich dass die Handlungen pro genannter Zeiteinheit auf der Bewährungsfahrt stark, um nicht zu sagen wunderbar, verdichtet sind;6 es _____________ 2

3

4 5 6

Vgl. ILSE NOLTING-HAUFF: Märchen und Märchenroman. Zur Beziehung zwischen einfacher Form und narrativer Großform in der Literatur. In: Poetica 6 (1974), S. 129-178, hier S. 130-132; JENS HAUSTEIN: Kausalität als Autorität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur. Oder: Clemens Lugowski als mediävistische Autorität? In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN/INGRID KASTEN/EVA NEULAND, Bd. 2, Bielefeld 1999, S. 553572, hier S. 566. MICHAIL BACHTIN: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. In: DERS.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Aus dem Russ. übers. von MICHAEL DEWEY unter Zugrundelegung einer deutschen Fassung von HARRO LUCHT/ROLF GÖBNER. Hrsg. von EDWARD KOWALSKI/ROLF GÖBNER. Berlin, Weimar 1986, S. 262-464, hier S. 262. HUGO KUHN: Erec. In: DERS.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 133-150. Hier, S. 143. Zum Beispiel hier, S. 139: „Wir konnten ja die sechs ersten Abenteuer nur dadurch in fünf Nächten unterbringen – eine Zählung, die aber gerade Hartmann jedesmal ausdrücklich hervorhebt – , daß (außer der verständlichen Zusammenrechnung der zwei Räuberabenteuer der ersten Nacht) auch in 5 eine ziemlich ausführliche Episode, die man bisher immer eigens gezählt hat, hier als Vorgeschichte zum folgenden Abenteuer geschlagen wurde: die Befreiung des Ritters Cadoc aus der Hand zweier Riesen.“

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wird zwar ein natürliches Zeitgerüst von Tag- und Nachtwechseln erzählt, aber die durch Handeln verbrauchte Zeit müsste, wenn das Eigenmaß dieses Handelns zugrunde gelegt würde, größer sein. Damit haben sich KATHARINA KNOLL7 und BARBARA NITSCHE8 beschäftigt. KNOLL hebt die Linearität der wie immer defektiven Zeitzählung hervor und sieht darin einen im engeren Sinne mimetischen Zug, die Hervorhebung menschlichen Handelns, das in festen Räumen und Zeiten spielt, gegenüber den Bedingungen des Wunderbaren, das sie am Märchen festmacht und das eher raum- und zeitindifferent sei.9 NITSCHE geht es eher um den erzählerischen Einsatz vorab gedeuteter Zeit: Die Bewährungsaventiuren spielen bis zur Erweckung Erecs im symbolischen Totenreich Limors sämtlich in der Nacht und damit im Grundmodus der Verkehrung.10 Was aber weder bei KUHN noch in diesen neueren Arbeiten steht, ist eine Erklärung der zeitlichen Bewandtnis der Verdopplungen, eine Erklärung, die möglichst auch die Räuberepisoden und die Mabonagrin-Episode umgreift. Ich bemühe mich, es wie KUHN anzugehen: „Versuchen wir es nachzudenken!“11 In der ersten Nacht des Bewährungsweges erscheinen Räuber und noch einmal Räuber; Enites Haltung und Erecs Sieg gegenüber diesen unhöfischen Gestalten ist jeweils gleich. In der zweiten Nacht und in der fünften wird Enite jeweils von einem Grafen begehrt, gegen den Erec kämpfen muss; Enites Position zu diesen Ansinnen ändert sich nicht, wohl aber Erecs Kampfvoraussetzungen. Am dritten Tag (der Tag des Auszugs ist mitgezählt) und am Morgen des fünften kämpft Erec mit Guivreiz; Enites Beteiligung am Ausgang des Kampfes ist beim zweiten Mal größer, Erecs Position kehrt sich um. Da scheint es doch so, als könne alles, was Aventiure heißt, grundsätzlich immer wiederkehren, und zwar entweder genauso oder unter vertauschten Voraussetzungen und mit vertauschten Rollen; die Aventiure selbst ist aber ubiquitär, allzeit anwesend, als sei sie nicht nur überhaupt, sondern auch in bestimmter, vorgeformter Gestalt eine zeitlose Voraussetzung dieser fiktiven Welt. Zeit, die an Aventiure gebunden ist, vergeht nicht nur innerhalb der Aventiure nichtlinear – das war BACHTIN aufgefallen –, sondern sie vergeht in der gesamten fiktiven Welt, die von Aventiure geprägt ist, kreisförmig, inso_____________ 7 8 9 10 11

HILTRUD KATHARINA KNOLL: Studien zur realen und außerrealen Welt im deutschen Artusroman (Erec, Iwein, Lanzelet, Wigalois), Diss. Bonn 1966, S. 14-17. BARBARA NITSCHE: Die Signifikanz der Zeit im höfischen Roman. Kulturanthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur, Frankfurt a. M. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 12), S. 41-68, bes. S. 62f. KNOLL (Anm. 7), S. 14. Vgl. NITSCHE (Anm. 8), S. 51-57 und S. 72-77. KUHN (Anm. 4), S. 143.

Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung

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fern sich dasselbe oder ein Ähnliches jederzeit wiederholen kann, wie unwahrscheinlich oder wunderbar es auch in sich sei. Das ist eine Zeitstruktur, die dem Immer des Mythos12 ähnlich ist, aber sie bildet es in einer spezifischen Brechung ab: Es ist nicht die eine Handlung, die Vergangenheit und Zukunft zum Ring schließt und damit für alle steht und die als jederzeitig zu denken ist, sondern eine zweite und potentiell dritte und nächste Handlung wiederholt die erste strukturell, ohne mit ihr gleich zu sein oder auch nur Identität vorzugeben - Aventiurezeit, wenn man BACHTINs Terminus verwenden will. Im Artusroman jedenfalls ist die grundsätzliche Wiederholbarkeit und Jederzeitigkeit von Aventiure an ein Sinnpotential gebunden, nämlich an die Habitualisierung von ritterlicher Tugend.13 Auch die zeitgenössische Tugendlehre hat, wenngleich etwas später und im Anschluss an Aristoteles, die menschliche Tugend als Habitus bestimmt.14 Habitualisierung wiederum verlangt eine gerichtete Zeit, sie geht nur vorwärts vonstatten. Und tatsächlich bedeutet die Kreisförmigkeit der Aventiurezeit nicht, dass der Ritter sich mit seiner Eigenzeit völlig im Kreise bewegt, sondern sie impliziert nur, dass er jederzeit wieder mit einer neuen Aventiure anfangen kann: Die Progression seiner Lebenszeit ist nicht aufgehoben, sondern nur schwach akzentuiert, wenn nicht gar retardiert. Chrétien hat sich einen Kunstgriff einfallen lassen (und Hartmann hat ihn übernommen), um zu zeigen, dass es sich nicht grundsätzlich um ein Tun im Jederzeit und Immer handelt, sondern um die Überlagerung einer zyklischen und einer linearen Zeit: Unter der Wiederholung ist eine schwach akzentuierte progressive Zeit zu denken. Die Pferde der Besiegten, die Enite zu führen hat, werden mehr, obgleich sich der Vorgang nur wiederholt hat wie ein wiederkehrender Traum; solches Summieren setzt aber Folgerichtigkeit voraus, die nur in einer linearen Zeit entstehen kann, die gleichsam unter den Kreisbewegungen der Wiederholungen liegt. Wenn man die Verdopplungen so erklärt, gibt es keinen vernünftigen Grund, sie nur im Bewährungsweg aufzusuchen; vielmehr lässt sich die Cadoc-Episode, in der Riesen bekämpft werden, ganz im KUHNschen _____________ 12 13

14

Vgl. ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 2: Das mythische Denken, Darmstadt 1958, S. 136f. Zum Gedanken der Habitualisierung vgl. HANS JÜRGEN SCHEUER: Gegenwart und Intensität. Narrative Zeitform und implizites Realitätskonzept im Iwein Hartmanns von Aue. In: Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. Hrsg. von RETO SORG/ADRIAN MATTAUER/WOLFGANG PROß, München 2003, S. 123-138, hier S. 133. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologiae I-II, quaestio 55 art. 1: Utrum virtus humana sit habitus („Ob die menschliche Tugend eine gewohnheitsmäßige Haltung sei“). In: Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. edita. Cura et Studio Fratrum Praedicatorum. Bd. 6, Roma 1891, S. 349.

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Sinn als verkehrende Wiederholung der Zwergenepisode am Anfang begreifen und die Mabonagrin-Episode als verkehrende Spiegelung der Folgen von Enites Erwerbung; das Episodenhafte der Episoden gehört dabei eng zur grundsätzlichen Wiederholbarkeit als Aventiure. Nun besteht aber nicht die gesamte Erzählung aus lose gereihten und ab und an wiederholenden Episoden. Es gibt daneben auch Zeitstrukturen mit aufgeknöpften Konnektoren, die die Reihenfolge festlegen und Folgerichtigkeit der erzählten Geschichte erzeugen (weil die Ursache früher ist als die Wirkung). Dass das Frühere als das Begründende aufgefasst werden kann, gleichsam in einer kausalen Verstehensvermutung, ist eine auch lexikalisch und grammatisch verfestigte Grundfigur von sprachlicher Darstellung überhaupt – ich erinnere an die Doppelfunktion zeitlicher und kausaler Adverbien und Konjunktionen, z. B. bei dô und sît. Aktualisiert wird diese grundsätzliche Möglichkeit im Erec nach der Krise kaum; weder ruft der erste Räuberüberfall den zweiten hervor noch bringt der zweite den freundlichen Knappen herbei usw.; die Episoden bleiben in sich selbstständig. Aber dass die Entehrung früher liegen muss als die Rehabilitierung und der Fehler früher als die Bewährung, ist ein zeitlich-logisches Verhältnis, in dem nichts ohne tiefe Sinnstörung ausgetauscht werden könnte; diese Relationen der temporalen Ordnung und Folgerichtigkeit betreffen einerseits die Zwergenepisode und die Sperberepisode, andererseits diese und die Mabonagrin-Episode: Das Episodische, immer Mögliche wird also gerahmt von Klammern der Kausalität, und Kausalität ist an eine gerichtete und geradlinige Zeitachse gebunden. Die kausalen Klammern haben immer mindestens einen Festpunkt in der Verfehlung, weil Fehler und Wiedergutmachung nur in dieser Reihenfolge und als Begründungskette verstanden werden können. Das würde bedeuten, dass man an eine grundlegende Progression der Zeit denken müsste, die der schwach akzentuierten progressiven Lebenszeit des Helden entspricht und der die Zeitkreise der Aventiuren gleichsam aufgenäht sind. Aber so verhält es sich nicht. Die Zeitlinie der Handlung ist nämlich nicht völlig identisch mit der des Romans. Die Handlung des Erec endet z. B. mit der Regierungsübernahme des Helden nach dem Tod seines Vaters; die Zeitlinie wird aber im Ausblick noch weiter gezogen, ohne dass im eigentlichen Sinn erzählt wird; in 14 Versen werden ungezählt viele Regierungsjahre zusammengefasst,15 dann heißt es ze wunsche wurde si beide alt (V. 10115; „Sie wurden beide so alt, wie man es sich wünscht“), und vier Verse weiter beginnt ein langer Satz, der die beiden Hauptfiguren _____________ 15

Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von MANFRED GÜNTER SCHOLZ. Übersetzt von SUSANa. M. 2004. (Bibliothek des Mittelalters 5), V. 10101-10114.

NE HELD. Frankfurt

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bis in die Ewigkeit begleitet: Hier ist unmissverständlich die progressive Lebenszeit modelliert, aber die Handlung ist schon zu Ende, man befindet sich im Ausblick. Betrachtet man die Zeitlinie der eigentlichen Handlung, und zwar nicht als Kette von Zeitangaben, sondern als vektorielle Summe zeitverbrauchenden Handelns, so ergibt sich keine Linie, auch keine gestufte Zickzacklinie, wie die geläufigen Handlungsschemata sie enthalten, sondern eher ein Kreis. Das Stichwort für dieses Modell zeitlicher Folge hat wiederum KUHN geliefert, der den Weg Erecs von den Vorstellungen der Entwicklung und Läuterung abgrenzt und den Begriff der Buße verwendet. Nun ist die mittelalterliche Vorstellung von Buße grundsätzlich nicht auf eine gerade, sondern auf eine runde Zeitachse aufgebunden; Reue, Buße und Aussöhnung mit Gott stellen seelisch den ungetrübten Ausgangszustand wieder her, der vor dem Fehler bestand; ob darüber progressive Lebenszeit verstreicht, spielt keine Rolle, solange sie noch zur Verfügung steht (sie kommt nur in den Blick, wenn der Sünder in der Sünde stirbt). Diese Wiederherstellung des Ausgangszustandes kennt auch das weltliche Recht, und zwar als Wiedergutmachung und Schadenersatz, die auch bei irreversiblen Veränderungen wie Tod und Invalidisierung angestrebt werden und die Basis für die Einigung der Streitparteien liefern.16 Erec kommt nach dem Tod seines Vaters dort wieder an, wo er vor seinem Fehler schon einmal war, am selben Ort, mit denselben Figuren und in derselben Lage. Es wäre also eine Zeitlinie des Romans zu zeichnen, die als Gerade beginnt und dann wie eine Eisenbahnweiche in einen großen, von kleinen Aventiurekreisen und -spiralen überwucherten Kreis führt, auf dem man zu dem Punkt der Geraden zurückkommt, an dem man sie verlassen hat. Eine solche Zeitlinie kann man auch für den Iwein zeichnen, der seinen Helden wieder im Quellenreich und gleichsam vor seinem Fehler ankommen lässt, und sogar für den Parzival, der seinen Helden trotz aller gegenteiligen Ansichten von Figuren zurück zum Gralskönig und vor die einzige Frage zurückführt. Auch im Parzival ist die Handlungslinie kreisförmig, obgleich die Lebenslinie des Helden und seiner Familie in einigen Strichen über das Ende hinaus verlängert worden sind.

_____________ 16

Vgl. EKKEHARD KAUFMANN: ‚Buße‘. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 575-577; GREGOR MÜLLER: ‚Genugtuung‘. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 4, Freiburg 21986, Sp. 683-686; NORBERT ANGERMANN: ‚Wergeld‘. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp. 2199-2204.

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Raumzeitmodell für den Erec

Was bedeutet diese Zeitlinie des romanhaften Erzählens, wenn sie denn eine richtige Beschreibung der zeitlichen Strukturen des frühen und vorbildlich gewordenen Typs von Erzählungen über Artusritter sein sollte, für die Organisation folgerichtigen Erzählens in diesen Texten? Ich gehe wieder vom Erec aus. Grundsätzlich ist jedes menschliche Handeln nach diesem Muster auf eine doppelte Zeitfolie gelegt: auf eine der linearen, progressiven und endlichen Lebenszeit des Haupthelden und auf eine der grundsätzlichen Wiederholbarkeit, Zyklizität und potentiellen Unendlichkeit von Aventiure. Die beiden Folien werden im Hintergrund unterschiedlich gegeneinander verschoben, so dass bald die eine, bald die andere dominant erscheint. Im Vordergrund wird indes eine Geschichte mit linearen und zyklischen Handlungsverläufen erzählt, also solchen, die von einer räumlichen und personalen Handlungskonstellation zur nächsten fortschreiten, und solchen, die zu früheren Konstellationen zurückkehren. Am Anfang nimmt der Leser und Hörer die Aventiure, von der er erst später lernen wird, dass sie grundsätzlich als Prototyp auftritt und Reihen bildet, als singulär und je einzig wahr, weil der Held zu keiner zurückkehrt. Erster höfischer Erfolg wird durch eine prominente, bereits bestandene Aventiure begründet. Mit dieser Kausalität ist auch ein linearer Zeitverlauf eingeführt: Die Handlung lässt das lineare Zeitmuster stärker sehen als das zyklische, das nur in den natürlichen Rhythmen zutage tritt. Der Weg vom Erfolg zum Fehler wird dagegen als linear behauptet, indem ein zeitlicher Verlauf geschildert wird, aber dieser Verlauf wird nicht durch Kausalität verstärkt; die Verfehlung bleibt als Willensakt kontingent (auch dort, wo ihre Voraussetzungen kausal motiviert werden wie im Iwein und im Parzival).17 Dadurch entsteht gegenüber dem vorigen Erzählabschnitt eine we_____________ 17

Der menschliche Willensakt führt auf Handlungen, die auch anders sein könnten, und fällt

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niger starke zeitliche Linearität dieses Ausschnitts der Erzählung. Der Fehler stürzt den Helden in die Krise und er sich daraufhin in die Welt der Aventiure. Deren Episodenhaftigkeit führt den Hörer oder Leser so, dass er eher die kleinen zeitlichen Kreise der Aventiuren sieht als die Linearität der fortschreitenden Lebens- und Handlungszeit des Helden. Die Linearität der Lebenszeit des Helden gerät hier bisweilen ganz aus dem Blick, sofern sie nicht durch Folgerichtigkeit der Episoden untereinander mit aufgerufen wird. Weil die verstreichende Zeit nicht mitgezählt wird, können die Aventiuren auch erheblich vermehrt werden. Nur das Schlussglied der Kette scheint festzustehen: Dorthin gehört eine Episode, in der der Held sich selbst begegnet und mit einem anderen Ich kämpfen muss: Erec gegen Mabonagrin, Parzival gegen Feirefiz; und wenn der Löwenritter den Schutz gegen eine Bedrohung zusagt, die einem wie Iwein zuzutrauen wäre und gegen die Laudine zu verteidigen Iweins Aufgabe wäre, dann bleibt dieser Kampf gegen sich selbst zwar ein Gedankenexperiment, aber er liefert auch gleichsam einen Schlüssel für die vergleichbaren Episoden. Mit dieser Episode wird die Aventiurenkette dort befestigt, wo sie begonnen hatte: bei der Dissoziation des voranschreitenden Handlungssubjekts durch zeitweiligen (und dadurch zeitaufhaltenden) Ehrverlust. Der Zusammenhang von Kausalität auf Figurenebene und Raumzeitstruktur der fiktiven Welt stellt sich in den musterbildenden Erzählungen über Artusritter also so dar, dass es die menschliche Kausalität selbst ist, die auf eine zwar progressive, aber nichtlineare Zeitstruktur der Gesamthandlung führt. Dass es daneben noch zahlreiche kleinere gerichtete, progressive Zeitkreise gibt, die Aventiuren, trifft auch zu, aber prägt das Modell nicht in gleichem Maße, sondern ist eher eine epochale Anverwandlung des überzeitlichen Themas der mythischen Überzeit und Immerzeit. Diese Verbindung von Kausalität und Kreis macht, wie ich glaube, die Vorbildlichkeit des von Chrétien geschaffenen Musters aus. Für spätere Erzählungen über Artusritter ohne Krise tritt an die Stelle der kausalen Klammer, die durch den Fehler entsteht, die kleinere und weniger bindungsfähige Kausalität von Herausforderung oder Hilfsbitte und Kampf. Dadurch verschiebt sich die gesamte Raumzeitstruktur: Immer noch sind die Aventiuren episodisch gereiht, also in beliebiger Zeitreihenfolge, nicht kausal, sondern potentiell zyklisch und ohne progressiven Zeitparameter. Aber ohne die Grundfigur der Wiederkehr des Helden an die gleiche Statt hat die Handlung kein rechtes Ende mehr (wie man am Wigalois und am Daniel auch deutlich sehen kann), sondern es kann _____________ deshalb – besonders in Verbindung mit dem Problem der unbekannten Zukunft, der contingentia futura – für das zeitgenössische scholastische Denken unter den Begriff der Kontingenz. Vgl. JOSEF DE VRIES: ‚Kontingent (contingens)‘. In: DERS.: Grundbegriffe der Scholastik, Darmstadt 31993. S. 59-63, bes. S. 62f.

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immer weitergehen, weil der Held immer wieder im Ungewohnten und Neuen ankommt, auch wenn damit keine Progression verbunden ist, sondern nur eine Variation. Von dem oben entworfenen vorläufigen Befund aus könnte man sich fragen, wo sich – außer im Erec, Iwein und Parzival, die hier, zumindest kurz, bereits erwogen wurden – die Auffassung, dass die lineare Zeitprogression im Leben des Helden für die ihn umgebende fiktive Welt zyklisch sei, dass er mit seiner verrinnenden Lebenszeit gleichsam im Laufrad der Aventiure den Umlauf der unveränderlichen fiktiven Welt antreibt, geschichtlich gesehen vorfindet. Was könnte an diesem Modell für spätere Zeiten interessant werden, und wo sind die Grenzen der Rezeption? Es geht vor allem um folgende Züge mittelalterlicher Erzählungen: − Innerhalb der fiktiven Welt erscheint eine lineare und progressive Zeit vornehmlich als die subjektive Zeit des handelnden Helden. Dieser Zusammenschluss von zwei Bestimmungen, die sich für neuzeitliches Zeitbewusstsein tendenziell zu widersprechen scheinen (gerichtete lineare Zeit, die aber subjektiv sein soll), entsteht auf folgende Weise: Als subjektiv (im mittelalterlichen, metaphysischen Sinne des Zugrundeliegens), also als Zeit des Helden, wird diese Zeit wahrgenommen, insofern er in der erzählten Geschichte handelt und die Erzählung die Raumzeit an ihm festmacht. Handlung erzeugt aber den Anschein der Folgerichtigkeit: Die subjektive, figurengebundene Tatenzeit gewinnt dadurch eine lineare und gerichtete Dimension. Tag-Nacht-Rhythmen, Fristangaben und vergleichbare Zeitindikatoren stützen den Anschein der stetigen Progression, aber sie begründen keine raumzeitliche Realität, die dem Helden innerhalb der Erzählung vorausginge. − Vom Standpunkt eines idealen Beobachters innerhalb der fiktiven Welt, der eine Figur sein kann oder der Rezipient, wenn er sich auf das Was und nicht auf das Wie konzentriert, stellt der Held durch sein fortwährendes Handeln einen verlorenen, besseren früheren Zustand der fiktiven Welt wieder her. Dadurch entsteht der Eindruck eines Umlaufes, ähnlich einer Planetenbahn, und diese Wiederherstellung eines identischen, gleichsam systemischen, Zustandes scheint den Zeitpfeil für die gesamte fiktive Welt zurückzulenken, es entsteht ein Bild zyklischer Zeit. Es wird besonders klar konturiert, wenn – wie im Erec – die jederzeitige Wiederholbarkeit von Ereignissen stärker gewichtet wird als Ansätze einer übergeordneten progressiven Zeitordnung (z. B., indem sie in Handlung umgesetzt werden, wogegen die Progression nur in beiläufigen Erwähnungen natürlicher Rhythmen durchscheint).

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Die gewonnene Unveränderlichkeit der fiktiven Welt, deren Fehler der Protagonist heilt und deren Ordnung er auch sich selbst gegenüber wiederherstellt, spiegelt sich auf den Helden zurück. Obgleich er Kämpfe und Schwierigkeiten bestanden und Lebenszeit verbraucht hat, wirkt er am Ende unverändert, weil während des Erzählens sowohl auf der Figurenebene als auch in der Rezipientenlenkung jede Veränderung seines Weltverhältnisses als Störung und Fehler interpretiert wurde. So kommt die scheinbare Zeitresistenz des Helden zustande, die BACHTIN an die Abenteuerzeit knüpft, aber mit dem antiken Roman verbindet. Was in der Fabel kausal begründet wird, ist wesentlich an den Helden gebunden: Entehrung, Krise, Rehabilitierung. Die Eigenart dieser theologisch eingefärbten Schuldkausalität lässt sie rund erscheinen, aber sie bleibt Kausalität. III. Eichendorffs Taugenichts

Um mich zu vergewissern, ob mit der beschriebenen Raumzeitstruktur wirklich Epochentypisches getroffen wurde, nehme ich eine Erzählung der Neuzeit zu Hilfe, deren Fabel einige Gemeinsamkeiten mit der des Erec hat: Ein junger Mann macht in den Augen seiner Mitwelt und gemessen an seinen sozialen Pflichten einen bedeutenden Fehler, er geht in die Welt hinaus, um mit der Kunst den Zumutungen der bürgerlich-bäuerlichen Welt zu entrinnen, findet eine Liebe, zieht fort und kehrt schließlich an einen Punkt zurück, an dem er sich schon einmal befunden hatte, um seinen Platz in der unveränderten Welt einzunehmen:18 Joseph von Eichendorffs Taugenichts, eine Erzählung in der Tradition biographischen Erzählens über einen Helden in einer weitgehend intakt bleibenden fiktiven Welt. Wiederum suche ich nach dem raumzeitlichen Grundmuster der Erzählung. Alle Angaben über die Raum- und Zeitordnung sind hier programmatisch an die Wahrnehmung und Erinnerung eines erzählenden Ich gebunden; das schafft eine Subjektivität dieser Angaben, die durchaus der im höfischen Roman vergleichbar ist, die aber völlig anders begründet wird: nicht von der Handlung der Figur, sondern von ihrer höchst singulären Wahrnehmung der fiktiven Welt. Der Taugenichts strebt, halb gedrängt, halb freiwillig, in die Welt, um sein Glück zu machen, wie ein Ritter auf Aventiurefahrt geht. Mühle und Dorf werden als Ausgangspunkte _____________ 18

Diese Kreisform der Erzählung ist immer betont worden, vgl. JOHANNES KLEIN: Geschichte der deutschen Novelle, Wiesbaden 41960, S. 131f.

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der Erzählung nicht geographisch festgelegt; aber wenig später gibt der Held ein Ziel an, das in der fiktiven Geographie offenbar in der Nähe liegt, weil es in einem Tag mit der Kutsche erreicht werden kann – oder umgekehrt: Es wird keine Nacht erwähnt (nur „schwere weiße Mittagswolken“19), und dadurch scheint es, als sei das Schloss nicht weit. Der zurückgelegte Weg steht hier – das ist eine Grundfigur von Erzählen und epochenunabhängig – ebenso für Zeit wie für Raum. Für die Zeit des Aufbruchs gibt es immerhin eine Jahreszeitangabe („der Schnee tröpfelte emsig vom Dache“, 85,3).20 Das Schloss, die erste raumzeitliche Handlungsstation, hat keinen Namen und keinen genauen Ort. Die Stadt W. in der Nähe („Nach W.“, 87,9, „Seitwärts durch die Bäume sah ich die Thürme von W.“, 88,7) wird erst viel später, im neunten Kapitel, in Figurenrede Wien (179,12) genannt. Im Schloss vergeht ungezählte Zeit, die in allgemeinen Angaben wie „an schwülen Nachmittagen“ (89,31-90,1) zusammengefasst wird. Diese Angabe weist ebenso wie die Tätigkeit im Garten auf einen Sommer hin; der Taugenichts überspringt, um es vorwegzunehmen, wie der Artusroman den Winter. Im zweiten Kapitel wird die kleine Region in der fiktiven Welt, die durch das Schloss Kontur gewinnt, um eine vorübergehende Landstraße und ein Zollhäuschen erweitert (96,14-17), in dessen Garten der Taugenichts ebenso vorübergehend wie vergeblich Muße und Tätigkeit nach dem Vorbild des Adels sucht. Sonst ist der Schauplatz entrückt und der Handlung genug. Wenn von „kritischen Zeitläuften“ (102,18) die Rede ist, so sind sie keineswegs auf Geschichte bezogen, sondern auf den Hergang der Liebeshändel des Helden und seiner schönen Freundin. Am Ende des zweiten Kapitels ist wieder (wie beim Aufbruch vom heimischen Dorf) die Richtung die präziseste Angabe zur Örtlichkeit: „zwischen den grünen Bergen und an lustigen Städten und Dörfern vorbei gen Italien hinunter“ (110,28-111,2). Das dritte Kapitel führt den Helden in ein Dorf, in dem ein Mädchen ihm die Möglichkeit, für Geld zu musizieren, vor Augen stellt – aber der Ort liegt im Irgendwo. Nachts, zu der Zeit, in der _____________ 19

20

Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-Kritische Ausgabe. Begründet von WILHEM KOSCH/AUGUST SAUER. Fortgeführt und hrsg. von HERMANN KUNISCH/HELMUT KOOPMANN. Bd. V.1 hrsg. von KARL KONRAD POLHEIM, Tübingen 1998 (HKA V,1), S. 83-197, hier S. 87,25. Im Folgenden werden die Stellen im Fließtext nach Seite und Zeile in dieser Ausgabe nachgewiesen. Die Jahreszeiten ermöglichen im Wesentlichen eine progressive, wenn auch verschwimmende und modifizierte Zeitzählung, die ich hier als die Hauptlinie betrachte; daneben nimmt sich der Autor aber Freiheiten der Abwandlung gegenüber natürlicher Logik, die jeweils - eben als Abweichungen - den Zustand des Subjektes, nicht seiner Welt, spiegeln; darüber einlässlicher KLAUS KÖHNKE: „Hieroglyphenschrift“. Untersuchungen zu Eichendorffs Erzählungen, Sigmaringen 1986 (Aurora-Buchreihe 5), S. 89, und SABINE KARL: „Unendliche Frühlingssehnsucht“. Die Jahreszeiten in Eichendorffs Werk, Paderborn 1996, S. 206f.

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Erec seine Räuberabenteuer absolviert, trifft er auf seine künftigen Reisegefährten, die er zunächst für Räuber hält; der Ort B., der nur erfunden zu sein scheint, um die Vorsehung am Werk zu zeigen, weil er erreicht wird, obgleich der Taugenichts ausdrücklich nicht weiß, wohin sich nach dem Wunsch der neuen Reisegefährten wenden, bekommt keinen Namen. Erst im vierten Kapitel, das den Helden als Kutscher auf je vorausbestellten Postkutschen seiner Weggefährten zeigt, wird wieder ein Schauplatz erwähnt, der Wirklichkeit behauptet. Das Wirtshaus, von dem an der Held den vorgesehenen Weg seiner entwichenen Gefährten allein fortsetzt, liegt im „Welschland, das sie dort Lombardey nennen“ (128,5-6). Die Trennungsszene wird jahreszeitlich datiert: „eine warme Sommernacht“ (129,28); vom Aufbruch von der Mühle kann also, wenn nicht unbestimmte, weil ungezählte, Zeit auf dem Schloss zu unterstellen ist, nur ein Vierteljahr vergangen sein. Das letzte Stück der Kutschenfahrt wird relativ, aber nicht absolut situiert: Man fährt „auf die untergehende Sonne zu“ (134,2-3) und in ein „wüstes Gebürge“ (134,5). Wie die Bekanntschaft mit den beiden vorgeblichen Malern wird auch die Ankunft auf dem rätselhaften Schloss in die Nacht gelegt („Wir aber rasselten durch die stille Nacht einen Steinweg hinan“, 135,9-10), und wieder bildet die Nachtszene den Hintergrund für eine falsche Identitätssetzung – wie sie im Artusroman die Aventiuren im Modus der Verkehrung anzeigt.21 Der falsch adressierte Brief mit der sinngemäß richtigen Botschaft dagegen kommt „an einem schwülen Nachmittage“ (142,26-27) an, und nachts kann der Taugenichts entrinnen, weil ein anderer ihn für ein Mädchen hält (148,9-149,17). Hier, nach dem Ende des Lebens in der fremden Rolle, steht wieder ein Hinweis auf wirklichkeitsförmige Geographie: „Unterwegs erfuhr ich, dass ich nur noch ein paar Meilen von Rom wäre“ (150,12-13). Rom ist auch im Erstdruck ausgeschrieben, ruft realitätsnahe geographische Vorstellungen auf. Es ist wieder Nacht, als der Held nach Rom kommt (151,19-24) und in einem Palast seine Freundin zu hören glaubt (152,3-6), Morgen, als er es für eine Sinnestäuschung hält (153,19-154,1). Die nächste Nacht (und das nächste Kapitel) wiederholt und variiert diese Konstellation: Nachts erwartet eine römische Gräfin den Helden, aber der Held ist im Wortsinne darüber enttäuscht, dass es nicht seine Freundin ist – die falschen Identitätsannahmen enden hier, und der Held verlässt Rom. Der Anfang des neunten Kapitels zeigt ihn bereits auf einem Berg an der österreichischen Grenze – einem Berg, und beim Hinüberschauen nach _____________ 21

Den Tageszeiten widmet sich intensiv PETER PAUL SCHWARZ: Aurora. Zur romantischen Zeitstruktur bei Eichendorff, Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970, S. 129-165, zum symbolischen Tag-Nacht-Wechsel besonders S. 137.

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Österreich (174,11-12), nicht nur auf den nächsten Berg.22 Hier beginnt jetzt eine Anzahl chronotopischer Auffälligkeiten, die auch den Editor KARL KONRAD POLHEIM beschäftigt haben.23 Die Begegnung mit den Studenten, die zu Semesteranfang in Prag sein wollen, scheint den Stand der Reise auf den Herbst zu datieren. Der Vorschlag, gleich bei Linz links nach Prag abzubiegen (176,8-10), könnte noch auf wirklichkeitsförmige Geographie bezogen werden, wenn man die Wanderer bei ihrer Alpenüberquerung etwa in der Salzburger Gegend angekommen sein lässt.24 Auch wenn die Alpen auf einen einzigen Berg zusammengeschmolzen sind – im Großen und Ganzen scheint die fiktive Geographie sich also doch in den Fixpunkten nach der wirklichen zu richten, und sie bleibt unter den Füßen des Helden offenbar immer dieselbe. Das ist für fiktive Welten nicht selbstverständlich und, wie man von Strickers Daniel, aus der Krone und aus dem Wigalois wissen kann, im Artusroman durchaus anders. Dennoch, hat es überhaupt einen Sinn, einen geographischen Punkt zu suchen, von dem aus man auf dem Weg von Rom nach Wien links abbiegen kann, um nach Prag zu kommen? Wer vor dem Taugenichts den Iwein gelesen hat – und den berühmten Aufsatz von ERICH AUERBACH über Rechts und Links,25 der muss unweigerlich ins Zweifeln kommen, ob das Abbiegen nach links nicht einfach einen falschen Plan bezeichnet (im nächtlichen Rom kommt der Held dagegen durch Abbiegen nach rechts auf einen Platz, den er tagsüber vergeblich gesucht hat (169,20-24). Denn mit Prag und dem Studieren scheint es den jungen Herren im Taugenichts nicht so eilig, und so setzt sich unter den Figuren nun ein anderer Vorschlag durch, nach dem die Reisenden zur Donau gehen und darauf nach Wien – also in einer wirklichkeitsförmigen Geographie von Prag weg – fahren, dorthin, wohin der Taugenichts will, nicht dorthin, wohin sie vorgeblich wollten und sollten. Wie lange Reisezeit in der Angabe „Als wir an das Ufer kamen“ (179,24) verborgen ist, bleibt ungesagt. Dieser Neben_____________ 22 23 24

25

Vgl. zu der Stelle OSKAR SEIDLIN: Die symbolische Landschaft. In: DERS.: Versuche über Eichendorff, Göttingen 1965, S. 36. SEIDLIN geht davon aus, dass die Stelle einen Wirklichkeitsort (die Grenze zwischen Tirol und Österreich) symbolisch umforme. KARL KONRAD POLHEIM: „...und es war alles alles gut“. Über Eichendorffs TaugenichtsNovelle und ihren Schluß. In: DERS.: Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretation, Bern 1992, S. 201-218. Dass der Held auf dem Berg, von dem aus er Österreich sieht, schon die Donau blitzen sehen kann, wie KARL KONRAD POLHEIM unterstellt, darf nicht vorausgesetzt werden, weil er sich auf einen Liedvers bezieht („Die Donau blitzt aus tiefem Grund“, 443). POLHEIM (Anm. 23), S. 211. Den Helden von Norden (statt von Südwesten) ankommen zu sehen (ebd.) gibt es m. E. keinen textlichen Anhaltspunkt. ERICH AUERBACH: Der Auszug des höfischen Ritters. In: DERS.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen u. a. 91994, S. 120-138. Vgl. zum Problem auch URSULA DEITMARING: Die Bedeutung von Rechts und Links in theologischen und literarischen Texten bis um 1200. In: ZfdA 98 (1969), S. 265-292.

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satz ist aber auch alles, was textlich auf einen zurückgelegten Weg schließen lässt, der zwischen dem vorigen Schauplatz auf dem hohen Berg und der Donau liegt, auf der man geradewegs zum Ausgangspunkt der Aventiurefahrt, zum Schloss, zurückkommt. In der Erzählung ist die Distanz nahe oder unerheblich; zwischen beidem kann oder muss nicht unterschieden werden. Das erinnert einerseits an die Stationenabfolge im höfischen Roman, in dem es keine Kontinuität des fiktiven Raumes gibt, sondern nur von der Erzählung beleuchtete Schauplätze, zwischen denen es nur ausnahmsweise und im symbolträchtigen Fall eine objektivierbare Verbindung gibt, also eine Landschaft, die vor dem Helden da ist und auch in seiner Abwesenheit als vorhanden gedacht werden soll. Andererseits bleibt bei Eichendorff unter der symbolischen Verschiebung und Verfremdung doch immer eine auf Objektivität bezogene mentale Landkarte erhalten, die nicht nur der Held mit allen Figuren gemeinsam benutzt, sondern auch der Leser – und das gibt es im Artusroman nicht, nicht einmal in den Tristanromanen, die mit Wirklichkeitsresten ausgestattet sind. Die Ankunft im Schloss ist durch Naturbilder wieder auf Herbst datiert, denn die Kastanie ist noch belaubt (187,17-19), und die Wipfel der Bäume sind vergoldet (188,6f.). In der nachzählbaren Chronologie der Geschichte, wie sie dem Ich-Erzähler in den Mund gelegt wird, ist also seit dem Aufbruch höchstens ein Dreivierteljahr vergangen, von Vorfrühling bis Spätherbst. Nun sagt aber die Freundin dem Taugenichts: „Als ich vergangenen Sommer [...] mit der Gräfin aus Rom kam, und wir das Fräulein Flora glücklich gefunden hatten, und mit zurückbrachten, von Dir aber dort und hier nichts hörten – da dacht’ ich nicht, daß alles noch so kommen würde!“ (195,21-26)26

Dieser Satz überrascht durch seine Darstellung der Zeitstruktur der vergangenen Ereignisse. Er besagt nämlich, dass der Held nach Aurelies Zeitzählung ein Jahr länger weggeblieben ist, als der Leser bisher aus ex_____________ 26

Die Werkausgabe von 1841 hat die Variante ‚hörte‘, die POLHEIM als sekundär ausscheidet, vgl. KARL POLHEIM/KARL KONRAD POLHEIM: Text und Textgeschichte des Taugenichts. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist, Bde. 1-2, Tübingen 1989, hier Bd. 1, S. 354f., Bd. 2, S. 197. Die Begründung, Eichendorff habe die Korrekturen für diesen Text der Ausgabe nicht selbst gelesen, gibt POLHEIM nochmals in POLHEIM (Hrsg.): Sämtliche Werke (Anm. 19), S. XIII. Das ist sicher die höchstautorisierte Aussage zu dieser Lesart, die man erlangen kann, dennoch ist es gewissermaßen schade um den Singular hörte: Wenn man den Singular gelten ließe, dann wiese die grammatische Inkongruenz der Subjekte von Haupt- und Nebensatz darauf hin, dass von verschiedenen Erlebnis- und Wahrnehmungsmodi die Rede ist, die ein aussagbares Wir und ein eher verstecktes und also nicht konsequent ausgedrücktes Ich betreffen, es gäbe also eine Parallele zwischen der grammatischen und jener inhaltlichen Unbestimmtheit der Bezüge, die oben weiter erklärt wird.

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pliziten Angaben hat summieren können.27 POLHEIM rationalisiert diesen offenkundigen Widerspruch durch ungenannte weitere Wanderungen.28 Das liegt weniger am Text, der davon nichts erwähnt, als daran, dass der kundige Interpret sich darauf glaubt verlassen zu dürfen, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Geschichten erzählt werden, in denen nur eine, eine objektive, Uhr des Geschehens in der fiktiven Welt tickt, deren Zeitvorgaben allerdings subjektiv erlebt und gesehen werden können.29 Es gibt auch tatsächlich für die Annahme, dass das in der Ich-Erzählung präsentierte Raumzeitgerüst des vergangenen Geschehens sich an intersubjektiv beachteten Ordnungen von Raum und Zeit orientiert, ausreichend Anhaltspunkte im Text: Dem Taugenichts gelingt es immer wieder, zu einer verabredeten Zeit an einen verabredeten Ort zu kommen. Er kann sich fragend räumlich in der Welt orientieren und bezieht sich auf die Rhythmen der Natur, denen die anderen Figuren ebenso unterworfen sind.30 Dem stehen die bereits besprochene, im Wortsinn eigenartige Geographie und die Zeitanomalie in der Rede der Aurelie gegenüber. Diese Beobachtung spricht für Interpreten, die gewohnt sind, neuzeitliche Texte zu lesen, für einen Auseinanderfall von subjektivem Raumzeitgefüge der Figuren, die vom Rezipienten empathisch begleitet werden, und innerhalb der fiktiven Welt objektiv gedachter und gezeigter Zeit und Landschaft.31 Wer mit älteren Texten umgeht, wird sie als Hinweis auf eine literarische Folie vorneuzeitlichen Dichtens lesen, was kein Widerspruch zur Leseweise der neugermanistischen Kollegen ist, aber den Blick auf das Auffällige und daher Interpretationsbedürftige etwas verschiebt, indem die Wirklichkeit als mögliche Referenzgröße noch weiter in den Hintergrund rückt. Denn im Artusroman gehört es zur Konvention, dass der Winter im Allgemeinen ausgespart wird, weil der Ritter im Schnee keine Rittertaten vollbringt. Die Ausnahmen, etwa im Parzival und in der Krone, sind deutlich als solche markiert und beziehen ihre semantische Beschwerung eben aus dem Ausnahmestatus (und nicht etwa aus dem _____________ 27 28 29

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SCHWARZ (Anm. 21), S. 162 zeigt an dem mit „Weißt du noch...“ (195,29) beginnenden Dialog zwischen dem Taugenichts und seiner geliebten Dame ähnliche tageszeitliche Differenzen zu zuvor Erzähltem, die ebenfalls auf subjektive Zeitbrechung hinweisen. POLHEIM (Anm. 23), S. 211. SCHWARZ (wie Anm. 21), S. 129-138 hat gezeigt, wie Eichendorff den Tageszeitenrhythmus als Rahmungsprinzip für Kapitel des Taugenichts und für die ganze Erzählung verwendet. Damit wird, wie dort herausgearbeitet ist, ein doppelter Verweiszusammenhang konstruiert, weil einerseits die Figur nach den vorfindlichen Rhythmen der Natur und im Einklang mit dieser zu handeln scheint, während sich andererseits die Natur nach der Figur zu richten scheint – wogegen, das steht nicht bei SCHWARZ, das Vorfindliche im mittelalterlichen Erzählen ganz hinter dem Arrangement der natürlichen Umwelt nach der Tat des Helden zurücktritt. Vgl. aber die oben in Anm. 20 bemerkten Lizenzen gegenüber diesem Grundverhältnis. In dieser Grundausrichtung sind sich alle bisher zitierten Autoren einig.

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letzten Endes auf Wirklichkeitserfahrungen zurückgreifenden Argument, dass ein Jahr mit Winter ein grundsätzlich anderes, sozial weniger vorgeprägtes Zeitmuster schaffe als eines ohne ihn). So ist auch das Schweifen und Singen im Taugenichts kein Wintergeschäft, aber erst mit dem Anfang dieser Lebensweise verlässt der Held auch den Winter. Der Vater hatte seinen Winter noch: „der Schnee tröpfelte emsig vom Dache“ (85,3). Die Jahreszeitenanomalie ist also kein Naturzustand einer Sängerwelt und für alle Sänger gleich, wie es der einer Ritterwelt und für alle Ritter gleich war, sondern sie entspricht dem frei gewählten und im Nachhinein erinnerten Zuschnitt der Welt, wie sie sich für ein einziges Subjekt (und nicht einmal für ein zweites innerhalb derselben fiktiven Welt, etwa für Aurelie) darstellt.32 In der Erzählung fehlt jeder Versuch der Synchronisation solcher Zeitrechnungen und Zeitwahrnehmungen; andererseits fallen der verlassene und der übergangene Winter als Sinnträger erst dann auf, wenn ein Leser einen wirklichkeitsförmigen Kalender mit vier Jahreszeiten im Kopf hat und ihn in die Erzählung hineinliest. Es scheint kein zeitliches Orientierungsproblem für die Figur zu geben und keines für den Leser. Das verhält sich in den alten Texten mit polyzentrischer Zeit, in denen sich die Zeit einer Aventiure in ihrem Voranschreiten nach dem Helden richtet,33 ebenso, wird bei Eichendorff aber damit begründet, dass ein Ich-Erzähler die Zeitordnung seiner Erzählung setzen muss und insofern auch rechtens in bestimmter Weise setzen darf. Im Artusroman biegt sich die Zeit nach jedem Ritter gleich, den die Erzählung gerade als ihren Haupthelden privilegiert.34 Mir scheint, als seien diese chronotopischen Anomalien sowohl auf der Ebene der fiktiven Welt als auch auf der der Rezeption bedeutsam. Auf der Ebene der fiktiven Welt zeigen sie, dass das in der Ich-Erzählung entworfene Raumzeitgerüst nur ein Entwurf für die Raumzeitordnung der Vergangenheit ist, dem, auch wenn er den Anspruch der Allgemeinheit und Verbindlichkeit erweckt, andere Raumzeitgliederungen zur Seite gestellt werden. Auf der Ebene der Rezeption zeigen sie an, dass die Erzäh_____________ 32

33 34

Gegenüber einer psychologischen Interpretation wie der von SABINE KARL (Anm. 20), S. 206, „Der bis zum Ende der Erzählung währende permanente Sommer offenbart, daß der ‚Taugenichts‘ die Reifephase nicht zu überwinden vermag, in ihr vielmehr immer befangen bleibt“, rät der Vergleich mit vormodernen Mustern eher zu Vorsicht. Vgl. grundlegend auch DIETER KARTSCHOKE: Erzählte Zeit in Versepen und Prosaromanen des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 10 (2000), S. 477-492. GERT HÜBNER verwendet den Begriff ‚Raumfilter‘, der einen parallelen Sachverhalt der Zentrierung von Raum auf Figuren meint, und zwar unter dem Aspekt der Wahrnehmung der fiktiven Welt durch den Hörer oder Leser. GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Biblioteca Germanica 44), S. 122-125.

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lung auf historische Muster zurückgreift, in denen die Figurenzentrierung von Raum und Zeit der Normalfall und eine figurenübergreifende, für die fiktive Welt einheitliche Raumzeit mit festen Parametern die Abweichung ist. Unter diesem Aspekt sieht man noch mehr Verbindendes mit dem Artusroman, aber stets auch eine Verschiebung des Musters in einen neuen Verständnishorizont: Der Taugenichts hat im Schloss bei Wien sein erstes Auskommen und seine Liebe, so wie der Ritter im mittelalterlichen Roman von Artus aufgenommen wird und in kurzer Zeit Frau und Land erwirbt. Er sieht zwar nicht seine Ehre, aber seine Liebe vernichtet und bricht auf Aventiurefahrt auf. Zufällig, wie es sich gehört, aber als Medium fremder Bestrebungen, wie der mittelalterliche Roman es nie zulassen würde, gerät er auf ein fremdes Schloss, das in seiner sprachlichen und kulturellen Andersheit einer Anderwelt gleicht, die ihn schließlich gefangen nimmt und der er entrinnen muss. Aus eigenen Kräften, wie es der Ritter soll, nach Rom gelangt, beginnt er dort die queste, die ihn von Hinweis zu Hinweis und schließlich zurück zum Ausgangspunkt, zum Schloss, führt. Am Ende des Textes sieht sich der Held in einer Phantasie wieder nach Italien ziehen: Wie im Artusroman hat ihn die Rückkehr an den Ort auch wieder an den Ausgangspunkt möglicher Handlung gebracht; wie dort ist andererseits die erzählte Handlung in sich abgeschlossen und zu Ende gebracht. Die Raumzeitstruktur dieser Erzählung ist durch Signale, die auf moderne Zeitmessung und -rechnung und auf wirklichkeitsförmige fiktive Geographie hinweisen, grundsätzlich mimetisch angelegt. Weil das für die Neuzeit – anders als für das Mittelalter – bedeutet, dass progressive und lineare Zeitvorstellungen und eine Weltzeit unterstellt werden und dass die natürliche Umwelt dem Menschen gegenüber als bedingend und vorgängig gedacht wird, ergibt sich gleichsam ein Normalmodus des Erzählens über die fiktive Welt, der gegenüber die Figurenzentrierung von Raum und Zeit, das Erbe der mittelalterlichen Raumzeitregie, als bedeutungsvolle Abweichung erscheint und mit der neuzeitlichen Konzeption von Subjektivität verbunden werden kann. Die Kausalität menschlichen Handelns kann erzählerisch zu allen Zeiten bereits durch eine Erzählreihenfolge angedeutet werden, aus der der Hörer oder Leser vermutend einen Verstehenszusammenhang bildet, in dessen Annahme die Erzählung ihn bestärken oder den sie dementieren kann. An den Artuserzählungen mit Krise hatte sich gezeigt, dass die im engeren Sinn kausale Klammer nur die Handlung um die Verfehlung erfasst, die den raumzeitlichen Kreis begründet. Bei Eichendorff wird der Kreis der Kausalitäten verdoppelt, weil der Held nach seiner Sicht der Dinge kausal handelt, sich seine Gründe aber aus der Sicht anderer Figu-

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ren oder durch die Darstellung des Ich-Erzählers selbst für ihn und für den Leser als Täuschungen erweisen, so dass es der Rezipient nicht nur mit Begründungszusammenhängen und Zeitreihen, sondern zugleich jeweils mit einem Wahrheitsproblem zu tun hat: In dieser fiktiven Welt können Gründe richtig oder unrichtig sein, aber Fehlschlüsse zu erwünschten Resultaten führen. Das darin liegende Reflexionspotential ist dem höfischen Roman nicht ganz fremd, aber doch unvertraut. Weitgehend fremd ist ihm auch die innerfiktive nachträgliche Rationalisierung von Ereignissen, die als providentielle erzählt worden waren. Auch die kausale Begründung des guten Schlusses ist so verdoppelt, dass die Zuversicht in begründetes Handeln dadurch nicht verstärkt, sondern eher in Frage gestellt wird: Der Held verdient die Geliebte durch sich selbst und weil er sie erstrebt, obgleich sie zu erlangen unmöglich erscheint; sein Schloß wird ihm geschenkt, weil er sich unwissend und arglos zum Gefäß und Mittel fremder Bestrebungen machen lässt. Mit Glücksgütern beschenkt zu werden, die zu erstreben in dieser fiktiven Welt kaum einen Gedanken wert ist, erweist sich als der einzig sichere Weg, Erstrebenswertes zu erlangen. Auf einer solchen in sich verdoppelten Welt, in der es grundsätzlich immer die eigenen Gründe und die der anderen gibt, auch dann, wenn sie einander glücklich verstärken, können die Befestigung der Handlungskausalität an der Zeitreihe des Erzählens einerseits und der Schluss von kausalem Erzählen auf progressiv vergangene Zeit andererseits nicht mehr abbildlich und eindeutig aufeinander bezogen werden. War es im mittelalterlichen Erzählen so, dass von der ritterlichen Tat auf verstrichene Aventiurezeit geschlossen werden konnte, so lässt Eichendorff ausdrücklich auch dann Zeit vergehen, wenn der Held ganz und gar nichts tut, wogegen umgekehrt das Haus, in dem er die Geliebte zu sehen glaubt, am nächsten Morgen verschlossen und verhängt ist wie seit Jahren (153,19-30) – hier wird Handlungszeit des Subjektes gleichsam auf der Ebene des in der fiktiven Welt Tatsächlichen zurückgedreht und annulliert, mit der erzählten Vision und Audition wird ausdrücklich die dazugehörige Zeit als unwirklich behauptet. In dieser fiktiven Welt, in der nichts einfach ist, wird der Held nicht an denselben Ort zurückgeführt, um vor seinem Fehler wiederzubeginnen, sondern deshalb, um vor seinen Irrtum zu gelangen. Es ist also nicht das in sich kausale Denkmuster von Schuld und Wiedergutmachung, sondern eines von Irrtum und Berichtigung, das der raumzeitlichen Kreisbewegung zugrunde liegt. Auch die Berichtigung eines Irrtums führt den Denkenden an den Punkt vor dem Irrtum zurück. Doch wird im Artusroman der Anstoß zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Fehler zum Bereich der Notwendigkeit gerechnet – Erec muss irgendwann bemerken, dass die

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Welt mit ihm unzufrieden war, und Laudine braucht den Rechtsakt des Aufsagens, um nicht handlungsunfähig zu sein. Den Fehler zu bemerken gehört also im Artusroman ins Reich der Kausalität und Notwendigkeit. So verhält es sich beim Taugenichts nicht; hier ist es wiederum ein Missverständnis, das ihn das Richtige tun lässt. Der Anstoß zur Berichtigung fällt nicht ins Reich der Kausalität und der Notwendigkeit aus Figurenperspektive, sondern reicht aus den Gefilden des Zufalls und der Vorsehung in die Handlung hinein. Diese Lücke in der kausalen Klammer bricht sie gleichsam entzwei; es ist eine Rückkehr unter dem Vorzeichen, dass es auch anders hätte kommen können, und Aurelie äußert genau das: „da dacht’ ich nicht, daß alles noch so kommen würde“ (195,25f.). ‚Es würde nicht kommen‘, nicht: ‚du würdest nicht kommen‘ – das menschliche Handeln ist nicht selbstausgerichtet: Kausalitäten überlagern einander und führen zu unerwarteten Resultaten, unter denen der Handlungskreis die ebenso unerwartete wie glückliche Ausnahme ist (nicht nur für den Taugenichts, sondern auch für den kleineren Handlungskreis des Grafen und Floras), wogegen die Heillosigkeit, weil Ort- und Heimatlosigkeit des handelnden Einzelnen eher in der stetigen Linearität von Zeit und Folge liegt. Weil das Rundende am Kreis des Raumes und der Handlungszeit, nämlich der Impuls zur Berichtigung des Irrtums, von außen kommt und sich als zufällige Resultante ergibt, also providentiell gestaltet wird, bestätigt die Kreisbewegung als Ausnahme die Herrschaft ihres Gegenteils, nämlich dass das Lineare auch in dieser fiktiven Welt zu erwarten gewesen wäre.

Raumzeitmodell für den Taugenichts

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IV. Ergebnisse Meine erprobende Analyse hat im Taugenichts Textstrategien gefunden, die denen des höfischen Romans gleichen. Ein Einfluss des Stoffes kann in dem speziellen Fall ausgeschlossen werden – insofern eignet er sich besser zum Vergleich als eine moderne Bearbeitung einer mittelalterlichen Fabel. Eichendorff benutzt figurengebundene Raum- und Zeitkonzeptionen, die auch im mittelalterlichen Roman schon subjektiv sind, und er benutzt sie sehr ähnlich wie der höfische Roman. Freilich hat sich der Begriffsumfang und Assoziationsraum des Subjektiven grundlegend geändert, wie die ganze Anlage des Taugenichts lehrt – im Subjektsein als freiem Selbstsein, mit allen Möglichkeiten, liegt nun der eigentliche Wert der Figur, wogegen der mittelalterliche Ritter sich in seinen Geschichten dadurch ausgezeichnet hatte, dass der Raum des Subjektiven einer helfenden und ordnungsbringenden Tat zugrunde lag, zuweilen aber auch einem Fehler oder einem Laster (das macht z. B. im Parzival den Unterschied zwischen Gawan und Urjans aus). Tat oder Laster sind in der mittelalterlichen Denkfigur sub-iectum das Obere und Bedeutsame, der einzelne Mensch ist nur ihr Träger. Im Ritterroman ist der rechtens angeklagte Ritter entehrt und augenblicklich nichts mehr wert, gleichgültig, was er vorher an Großem vollbracht hat, und zwar so lange, bis er sich wieder als Subjekt einer Tugend oder sozial stabilisierenden Großtat präsentiert. Der Taugenichts beweist seinen durch alle Figuren und eine sehr um ihn besorgte Vorsehung anerkannten Wert darin, was in ihm liegt und was er schöpferisch hervorbringen kann, auch dann, wenn er gerade nicht dichtet und musiziert. Auf dem Hintergrund einer solchen Verschiebung des Denkens über den Menschen kann Eichendorff die tradierten Strategien mit völlig anderen, eben modernen, Sinnbezügen verwenden.35 Denn das alte Muster hatte den Helden so zum Ausgangspunkt zurückgeführt, dass die Rückkehr in der Logik seines eigenen Handelns lag und seinem Wollen und Streben entsprach. Demgegenüber kann Eichendorff die Kreisbewegung so uminterpretieren, dass sie sich auf einer objektiven Ebene der fiktiven Welt als Resultante mehrfach anstoßender Kräfte ergibt, während das eigene Wollen und Streben des Helden auf Täuschung beruht. Nur indem er seine Wahrnehmungen (im Wortsinne) gegen die wiederholten Zumutungen der Wirklichkeit, die sie zu korrigieren trachtet, behauptet, kann er zum glücklichen Objekt fremder Bestre_____________ 35

Für die spätere Zeit seines Lebens ist nachweisbar, dass Eichendorff mittelalterliche Ritterromane gekannt hat. In der Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857) geht Eichendorff auf Hartmanns Erec und Iwein und Wolframs Parzival ein. Kap. III: Die christliche Poesie. In: Joseph von Eichendorff. Schriften zur Literaturgeschichte. Hrsg. von HARTWIG SCHULTZ, Frankfurt 1990 (Werke in 6 Bänden, Bd. 6), S. 838-875, über Hartmann S. 854.

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bungen werden. Nicht mehr organisiert sich die Welt in wechselnder Größe und Beschaffenheit um die Taten des handelnden Subjekts, sondern das Objekt fremden Handelns gerät, insofern es auch schauendes Subjekt ist, zum natürlichen Mittelpunkt seiner Welt.36 So zentriert das Subjekt seine Welt je neu, aber weil diese Welt von ihm unabhängig gedacht ist, stößt sie es in demselben Vorgang auch wiederum an und bewegt es als ihr Objekt. Der kleine Kreis des Ichs in der Welt spiegelt und begrenzt den großen, bedrohlichen Wirbel der Welt, der es zum Objekt macht. Für Eichendorff hatte sein Formexperiment mit der Gattung Roman zu tun, denn in der fiktiven Welt reflektieren Figuren darüber, was in der Gattung Roman zu erwarten sei. „‚aber Du hast wohl noch keinen Roman gelesen?‘“, fragt der Graf, den der Taugenichts als Leonhard kennt, und fährt fort: „‚Nun, so hast Du doch einen mitgespielt.‘“ (193,8-10). Diese Berufung auf den Roman als Reservoir von Handlungsmustern wird noch einmal aufgenommen: „Also zum Schluß, wie sich’s von selbst versteht und einem wohlerzognen Romane gebührt: Entdeckung, Reue, Versöhnung, wir sind alle wieder lustig beisammen, und übermorgen ist Hochzeit!“ (194,3-6). In dieser Stelle ist, darin mag OTTO EBERHARDT37 recht haben, der triviale Abenteuer-. und Liebesroman die direkte Referenz. Denn es sind gerade nicht die typischen Handlungsstationen arthurischer Erzählungen, die hier erwähnt werden. Entdeckung gibt es nach Irrtum oder Intrige; das Gattungsbewusstsein der literarischen Figur spielt also schon in einer verdoppelten, folglich modernen Welt, nicht in der einfältigen der mittelalterlichen Wahrheit. Ob jedoch tatsächlich ein einziger Quellentext namhaft gemacht werden kann, sei dahingestellt, denn die Rede des Grafen hebt ja eher das Prototypische hervor, den Roman als Schemaliteratur. Das erlaubt, wie ich glaube, die vorn herausgearbeiteten Strukturparallelen so zu sehen: _____________ 36

37

CAREL TER HAAR: Joseph von Eichendorff. Aus dem Leben eines Taugenichts. Text, Materialien, Kommentar, München, Wien 1977, S. 164 schreibt, dass der Held „für sich nicht den Anspruch erhebt, ihr Mittelpunkt zu sein“. Das mag richtig sein, insofern von Anspruch die Rede ist, also vom Abbild eines Subjektes, das sich seiner Welt mit Willen bemächtigt; aber es schließt nicht aus, dass die fiktive Welt so um den Helden arrangiert ist, dass er ihr organisierender Mittelpunkt bleibt, und zwar in höherem Maße als in den mittelalterlichen Artuserzählungen, die dieses Zentrierungsphänomen auch schon kennen und an die Bewegungen und Taten des Helden knüpfen, weil die Zentrierung der fiktiven Welt um den Helden im Taugenichts davon ausgeht, ob und wie er sie wahrnimmt. Dass eine Welt grundsätzlich ontologisch früher ist als ihre Bewohner, wird damit zugleich ebenso allgemein vorausgesetzt wie im Speziellen verneint. Diese Ebene der Reflexion zur Welterschaffung ist dem mittelalterlichen Erzählen im Bereich des Ritterromans nur ausnahmsweise verfügbar. OTTO EBERHARDT: Eichendorffs Taugenichts. Quellen und Bedeutungshintergrund. Untersuchungen zu poetischen Verfahren Eichendorffs, Würzburg 2000, S. 44f.

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Eichendorff sind Versatzstücke der Tradition vormodernen Erzählens, mit der er spielt und die bis zum höfischen Roman zurückreichen, aus Schemaliteratur vertraut. Es sind Versatzstücke, die für ihn ausdrücklich zur Tradition des Romans gehören. Die Rezeption des tradierten Handlungsmusters von der glücklichen Rückkehr an einen früheren Ort führt auf eine grundlegende semantische Umbesetzung. Sie stößt an epochenbedingte Grenzen, besonders in der Auffassung von Zeit und Kausalität, aber auch von Subjektsein. Gerade das Bemühen, archaische Züge des höfischen Romans modern nachzubilden (z. B. die gelegentliche Polyzentrik der Zeit und Relativität des Raumes), drängt den so gewordenen Text Eichendorffs tendenziell aus der zeitgenössischen Gattung Roman heraus, weil es die epochalen gattungshaften Dominanten dieser Kunstübung zurücktreten lässt.

UDO FRIEDRICH

Erzählen vom Tod im Parzival Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter

I. Erzählen und Kontingenzbewältigung Zu den elementaren Voraussetzungen von Erzählen gehört, dass es der Bewältigung von Kontingenz und damit der Sinnbildung dient. Im Erzählvorgang werden isolierte Geschehensmomente der Wahrnehmung in eine zeitlich strukturierte Erfahrung überführt, wird über die Verbindung von Anfang und Ende ein Ereigniszusammenhang gestiftet, wobei nicht nur der Anfang auf ein Ende hin zuläuft, sondern das Ende immer schon den Anfang mit bestimmt.1 Jede Art von Erzählen setzt eine spezifisch rückblickende Zeiterfahrung voraus. Anfang und Ende sind aber nicht nur erzähltechnische, sondern zugleich elementare anthropologische Kategorien. Der Umstand, dass jeder Mensch einen Anfang und ein Ende hat, hat die Biographie zum geradezu natürlichen Modell des Erzählens und die lineare Zeitstruktur des Weges zur privilegierten Metapher des Lebens gemacht.2 Und doch verfügt das Subjekt weder über seinen Anfang noch über sein Ende. Geburt und Tod als die blinden Flecken der Biographie sind daher seit je auch Einfallstor für mythische Besetzungen: etwa im Ursprung des Heros und im Heldentod oder im Vatersuche-Heimkehrschema, wie es noch im höfischen Roman auftritt, oder in Jenseitsvisionen der Legende als Neugier auf das zukünftige Schicksal. Anfang und Ende als Grenzmarken der Zeitlichkeit lassen sich schließlich zu komplexen geschichtsphilosophischen Sinnfiguren, zu Metanarrativen, ausbauen. _____________ 1

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KARLHEINZ STIERLE: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von JÜRGEN KOCKA/THOMAS NIPPERDEY, München 1979 (Beiträge zur Historik 3; dtv Wissenschaft 4342), S. 85-118. WOLFGANG MÜLLER-FUNK: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien, New York 2008, S. 17-35.

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Nicht nur das Subjekt hat einen Ursprung und ein Ziel, sondern auch die Gemeinschaft: die Sippe, die Nation oder die Menschheit insgesamt (Genesis/Apokalypse). Genealogien und Gründungsmythen zeugen gerade im Mittelalter von dem Bedürfnis, über die natürlichen Zeitgrenzen hinaus sich einer Kontinuität und Ordnung zu vergewissern. Untergangserzählungen wie das Hildebrandslied, das Nibelungenlied oder der Prosalanzelot dramatisieren dagegen das Ende: einer Genealogie, eines Stammes, einer Idee. Die Erzähltheorie hat die Instanzen von Anfang und Ende gerade in Bezug auf das mittelalterliche Erzählen selbst reflektiert: JURIJ LOTMAN etwa mit der Bestimmung von Anfang und Ende als Markierungen des Erzählrahmens und seiner Abhängigkeit vom jeweiligen Kulturmodell. Dem Mittelalter spricht LOTMAN die Mythisierung einer auf den Anfang ausgerichteten Fixierung zu: Im Mittelalter existiere deshalb nur, was einen Anfang habe.3 Demgegenüber fokussiert CLEMENS LUGOWSKI archaisches und d. h. auch mittelalterliches Erzählen auf die Finalitätsfigur des mythischen Analogons, die kausale Motivierung zugunsten einer finalen Ausrichtung unterbelichte.4 Sozialer Sinn konstituiert sich erzählerisch einmal über eine Figur der Begründung, der mythischen Herleitung aus einem Ursprung, das andere Mal durch die unausweichliche Folgerichtigkeit der Ereignisse, durch Finalität. Aus moderner Sicht folgen diese weder einer logischen noch einer psychologischen Kausalität: logisch nicht, weil viel Magisches, Mythisches und Zufälliges (‚Aventiure‘) einschießt und die Handlung trotzdem zu ihrem Ziel kommt, psychologisch nicht, weil die Ereignisse kaum geplant oder in der Gedankenwelt der Protagonisten reflektiert werden. Sie vollziehen sich, und der Held scheint keinen anderen Einfluss auf sie zu haben, als sie zu bestehen. Wenn jedes Erzählen zugleich auf eine kausale und finale Dimension ausgerichtet ist, prägt das mittelalterliche Erzählen im historischen Vergleich offenbar besonde_____________ 3

4

„Der Rahmen eines literarischen Werks besteht aus zwei Elementen: dem Anfang und dem Ende. Die besondere modellbildende Rolle der Kategorien Text-Anfang und Text-Ende hängt unmittelbar mit den allgemeinsten Kulturmodellen zusammen.“ JURIJ M. LOTMAN: Die Struktur literarischer Texte, München 1981 (UTB 103), S. 305. Anfang und Ende sind keine beliebigen Instanzen. Sie betreffen den Rahmen eines Kunstwerks und damit den des Modells im Verhältnis zur unendlichen Welt. Jeder künstlerische Text benötigt einen solchen mythologisierenden Aspekt: „Es ist also der mythologisierende Aspekt des Textes, der in erster Linie mit dem Rahmen zu tun hat, während der Fabelaspekt nach Zerstörung des Rahmens strebt.“ (S. 304). Die Fixierung auf Anfang und Ende, auf Kontinuität und Linearität sowie auf die Ausschaltung von Kontingenz bezeichnet auch MÜLLER-FUNK (Anm. 2, S. 32) als „mythologische Konfiguration des Erzählens“. CLEMENS LUGOWSKI: Die Form der Individualität im Roman, Frankfurt a. M. 1976 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 151) (zuerst 1932); HEINRICH DETERING: Zum Verhältnis von ‚Mythos‘, ‚mythischem Analogon‘ und ‚Providenz‘ bei Clemens Lugowski. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von MATÍAS MARTÍNEZ, Paderborn u. a. 1996 (Explicatio), S. 63-79.

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re Formen aus.5 Die strukturelle Überdetermination von Anfang und Ende in vielen mittelalterlichen Erzählungen verweist auf ein historisch spezifisches, kulturelles Sinnbedürfnis, das sich im Rahmen eines stabilen Zeithorizonts konstituiert. Ein erster Befund für eine mögliche Alterität. Die Frage nach der Historizität von Erzählformen und Erzählmodi beschäftigt die mediävistische Erzählforschung seit den 70er Jahren. Einander gegenüber stehen sich eine historisch-rhetorische Perspektive und eine ästhetisch-moderne. Je nachdem, ob aus der Antike (Epos) oder aus der Moderne (Roman) auf das mittelalterliche Erzählen geblickt wird, ergibt sich ein anderes Bild: zum einen die Orientierung an überlieferten Erzählstoffen, Erzähltechniken und Weltbildern, zum anderen die Erfindung neuer Stoffe, einer neuen Erzählarchitektur und die Öffnung von Horizonten: Wiedererzählen gegen Symbolstruktur.6 Die Alterität mittelalterlichen Erzählens ist darüber hinaus auf den verschiedensten Ebenen beschrieben worden: inhaltlich die Vermittlung einer heroischen oder ritterlichen Lebensform sowie eines christlich-feudalen Wertesystems, die eine eigene Exemplarik der Handlung zur Folge habe; formal Erzählstrukturen wie Doppelweg (KUHN) und Symbolstruktur (HAUG) oder die Verbindung von Aktanten- und Figuralschema (WARNING); die aggregative Episodenreihung (CZERWINSKI) oder die Variation von Erzählmustern (MÜLLER); verfahrenstechnisch die Orientierung am rhetorischen Dichtungsparadigma, die Typisierung der Figuren; schließlich das Problem der Kohärenzbildungsverfahren generell.7 In all diesen Phänomenen scheint sich mittelalterliches Erzählen von modernen Erzählweisen gravierend zu unterscheiden. Struktur, Figur, Motivierung, neuerdings auch Fokalisierung d. h. narratologische Kategorien prägen die Untersuchungen.8 Ein zweiter Befund der Alterität. _____________ 5 6

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UTA STÖRMER-CAYSA: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007 (De-Gruyter-Studienbuch), S. 96-106. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142; WALTER HAUG: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 45 (1971), S. 668-705. HUGO KUHN: Erec. In: DERS.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Kleine Schriften 1, Stuttgart 1959/69, S. 133-150; RAINER WARNING: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hrsg. von HANS ROBERT JAUSS/ERICH KÖHLER. Bd. 4,1: Le Roman jusqu’ à la fin du XIIIe siècle, direction. Hrsg. von JEAN FRAPPIER/REINHOLD R. GRIMM, Heidelberg 1978, S. 25-59; PETER CZERWINSKI: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1989; JAN-DIRK MÜLLER: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007. GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneasroman, im Iwein und im Tristan, Tübingen 2003 (Bibliotheca germanica 44).

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Mein Beitrag setzt demgegenüber eher konventionell an. Er orientiert sich an Kategorien wie Zeitlichkeit, Kontingenz, Erinnerung und Erfahrung. Es handelt sich um Kategorien, die nicht auf der Beschreibungsebene einer formal operierenden Narratologie liegen, die aber dennoch für den Akt des Erzählens unverzichtbar und historisch unterschiedlich modelliert scheinen. Eine Erzählung ist zwar aus strukturalistischer Perspektive ein reiner Funktionszusammenhang, der über eine narrative Technik gestaltet wird, doch kommt dieser nicht ohne die Kategorie ‚Sinn‘ aus. Die klassische Erzähltheorie, etwa LUKÁCS, BENJAMIN, JOLLES, LUGOWSKI etc., operierte denn auch mit diesen Kategorien, und vor allem die Romanistik hat sie aufgegriffen und weiterentwickelt.9 Der Relevanzzusammenhang einer Erzählung bildet nicht nur einen immanenten Funktionszusammenhang, sondern er ist zugleich bedingt durch Inhalt, Struktur und Pragmatik von Kontexten, in denen das Erzählen sich vollzieht und aus denen es seinen Sinn bezieht.10 Sie betreffen den kulturellen Kontext und die pragmatische Funktion von Erzählen. Am Beispiel des Erzählens vom Tod im Parzival möchte ich solche Kontextualisierungen beschreiben, soll Erzählen im Kontext von Anfang und Ende (Zeitlichkeit), von Unterbrechung des Lebensweges durch Aventiure (Kontingenz), von kollektiven und individuellen Gedächtnisstrategien (memoria) thematisiert werden. Der Akt des Erzählens hängt unmittelbar mit der Bewältigung von Zeitlichkeit und Kontingenz, mit der Reduktion und Strukturierung von Komplexität zusammen. Die Erzählung erweist sich als „eine sehr menschliche und sehr wenig ‚wissenschaftliche‘ Vermischung von materiellen Ursachen, Zielsetzungen und Zufällen“ (PAUL VEYNE).11 Die Modellierungen von Anfang und Ende reihen sich in Wolframs allgemeines Darstellungsverfahren, in sein spannungsreiches Spiel mit Oppositionen ein. Am Anfang des Parzival steht mit dem Tod des Anschevîn Gandîn ein individuelles Ende.12 Nach dem Tod des Vaters erbt der älteste Sohn Gâlôes das Reich, während der jüngere Gahmuret sich gezwungen sieht, seine Heimat zu verlassen, um den Ansprüchen der Ritterschaft zu genügen. Der Tod des Vaters isoliert den Protagonisten und treibt ihn in die Fremde. Während Erbschaft scheinbar Kontinuität von Geschlecht und Herrschaft garantiert, führt der Weg der Ritterschaft _____________ 9 10 11 12

ANDRÉ JOLLES: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Halle 1930; WARNING (Anm. 7); STIERLE (Anm. 1). STIERLE (Anm. 1). Zitiert nach PAUL RICOEUR: Rhetorik und Geschichte. In: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophisches Denken. Hrsg. von HERTA NAGL-DOCEKAL, Frankfurt a. M. 1996, S. 107-125, hier S. 115. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von KARL LACHMANN. Übersetzung von PETER KNECHT, Berlin, New York 1998.

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zunächst in Isolation und Diskontinuität, eröffnet aber die Chance zur Heldenbiographie mit Herrschaftsgründung und eigenem Ende im Heldentod.13 Am Ende des zweiten Buchs stirbt Gahmuret denn auch unterwegs im Kampf. Der Erzähler verbindet bekanntlich den Tod Gahmurets aufs engste mit der Geburt Parzivals, suggeriert aus der Perspektive Herzeloydes gar eine Art Wiedergeburt: und bin sîn muoter und sîn wîp (109,25; „und bin seine Mutter und sein Weib“). Indem das Ende des Vaters durch die Geburt des Sohnes aufgefangen wird, tritt wieder Genealogie an die Stelle von Biographie, wird Kontingenz erneut in Kontinuität, in eine Finalitätsfigur überführt. Entsprechend wird die natürliche Kontinuität des Geschlechts wiederholt über die Vererbung männlicher Arteigenschaft signalisiert: ir antlütze sippe jach: / diu wârn ein ander vil gelîch (46,28f.; „ihr Anblick sprach Verwandtschaft aus, sie waren einander sehr ähnlich“). „Blutsverwandtschaft (‚Konsanguinität‘) werde durch den Autor als Körpereinheit (‚Konsubstantialität‘) entworfen.“14 Man stirbt eigentlich nicht wirklich. Das Leben des Heros erhält über die Genealogie einen über ihn selbst hinausweisenden Zusammenhang und Sinn. Am Ende des Parzival schließlich steht ein neuer Anfang, es beginnt die Geschichte seines Sohnes Loherangrîn.15 Der Erzählzusammenhang reicht also in die Vorgeschichte und öffnet sich auf die Zukunft. Die doppelte Rahmung ist Wolframs Zutat gegenüber Chrétien. Er verankert die Biographie in einer Genealogie, die bekanntlich später noch durch weitere Metanarrative mythisch (Artusgenealogie) und heilsgeschichtlich (Gralsgenealogie) dimensioniert wird.16 Die Genealogie ist die Figur des Anfangs und des aufgeschobenen Endes, sie richtet sich am natürlichen Rhythmus des organologischen _____________ 13

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Das alte biblische Kulturmuster von gesegneter Sesshaftigkeit und verdammtem Nomadentum erhält hier sein feudales Gegenbild: seine Variation. Vgl. HAYDEN WHITE: The Forms of Wildness. Archeology of an Idea. In: The Wild Man within. An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism. Hrsg. von EDWARD DUDLEY/MAXIMILIAN E. NOVAK, Pittsburgh 1972, S. 3-38. So ELKE KOCH: Trauer und Identität. Studien zur Emotionsdarstellung in narrativen Texten um 1200, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 8), S. 90, in Referenz auf BERNHARD WALDMANN: Natur und Kultur im höfischen Roman. Überlegungen zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters, Erlangen 1983, S. 184: „Wolfram von Eschenbach verwortet dieses Primärdenken, welches will, daß Verwandte nicht allein metaphorisch eines, sondern auch in der Substanz ungeschieden seien, nämlich leiblich, physisch […].“ JOACHIM BUMKE: Parzival und Feirefiz – Priester Johannes – Loherangrin. Der offene Schluß des Parzival von Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 65 (1991), S. 236-264. Vgl. ELISABETH SCHMID: Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralsromanen des 12. und 13. Jahrhunderts, Tübingen 1986 (Zeitschrift für romanische Philologie; Beihefte 211); DIES.: Studien zur Problematik der epischen Totalität in Wolframs Parzival, Erlangen 1976, S. 95-110. Zur Genealogie vgl. BEATE KELLNER: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittealter, München 2004; MÜLLER (Anm. 7), S. 46-106.

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Modells aus und sichert einen Haltepunkt im Fluss der Zeit. Über die genealogische Kette versichert sich die Feudalkultur einer Kontinuität im kontingenten Wechsel der Leben. Das hat Folgen auch für die Erzählform. Am Parzival lässt sich eine mittelalterliche Ausprägung dessen beobachten, was über den Unterschied zwischen Epos und Roman beschrieben worden ist: dass nämlich der Roman endet, das Epos aber nicht. Die Erzählung mag enden, ihr Gehalt aber, z. B. das Substrat der Figur, besteht fort: in der Genealogie, im Jenseits oder im Märchenschluss des höfischen Festes.17 Epos und Roman ist ein anderer Typus von Zeitlichkeit und ein anderes Verhältnis zum Tod eigen, das in der Spannung von Genealogie und Biographie angelegt ist. Im Epos ist der Tod Bestandteil des Laufs der Dinge, im Roman ist er das kontingente Ereignis, das mit einem Wort WALTER BENJAMINs die „tiefe Ratlosigkeit des Lebenden“ bekundet und gegen das die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt erst dramatisch wird.18 So spielt im Parzival der Tod im Wechsel der Generationen zwar eine Rolle, doch wird seine destruktive Wirkung sogleich durch einen neuen Anfang gemildert. An die Stelle des toten Helden tritt der neue Held. Der Tod des Ritters im Kampf ist aber kein natürlicher, er ist vielmehr Inbegriff von Kontingenzerfahrung. Der gewaltsame Tod bedarf daher einer zusätzlichen Legitimation, um Fragen der Identität des Einzelnen innerhalb der Feudalkultur zu stabilisieren. Er wird es durch seine Heroisierung, durch die Verewigung des Namens im Ruhm, überdies im höfischen Roman durch die Verbindung mit einem sozialen Faktor: mit dem Frauendienst. Wird über die Genealogie der Tod in einem natürlichen Zusammenhang verortet und bewältigt, so über Ruhm und Ehre in einem kulturellen: zum einen Sichtbarkeit in der Nachwelt durch Konsubstantialität der Nachkommen; zum andern durch Erinnerungszeichen wie Grabmäler und Waffen oder Erinnerungsprozeduren wie Rituale und eben Erzählungen. Damit erfahren Leben und Tod des Adels eine doppelte Sinnstiftung. Ablesbar wird das ansatzweise schon an der Genealogie seines Geschlechts, die Gahmuret im Abschiedsbrief an Belacâne entfal_____________ 17

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Der Iwein endet mit der Bekundung des Erzählers, nicht zu wissen, wie die Geschichte weitergeht. Handschrift f bietet eine ‚epische‘ Erweiterung des Endes mit Ausblick auf die Genealogie Iweins sowie auf seine ideale Herrschaftspraxis als Vorsorge für sein Seelenheil, auf das noch Bezug genommen wird. Hartmann von Aue: Iwein. Text und Kommentar. Hrsg. von THOMAS CRAMER, Berlin, New York 2001, S. 150-152; CHRISTOPH GERHARDT: Iwein-Schlüsse, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 13 (1972), S. 13-39. WALTER BENJAMIN: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: DERS.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von ROLF TIEDEMANN/HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Bd. II: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt a. M. 1977, S. 438-465, hier S. 443. Gerade dort, wo der Tod, der Untergang, das Werk abschließt, scheint sich das Bedürfnis des Weitererzählens einzustellen: Nibelungenlied-Klage.

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tet. Im Geschlecht Gahmurets ist die enge Bindung von Minne und Kampf in einem mythischen Ursprung verankert: in der Verbindung des Stammvaters Mazadân mit der Fee Terdelaschoye (96,20f.). Hatte Heinrich von Veldeke die antike Verbindung von Krieg (Mars) und Minne (Venus) noch als verständlichen, aber illegitimen Akt inszeniert, so werden Ritter und Fee im Entwurf Wolframs zum mythischen Fundament der feudalen Genealogie. strît und minne was sîn ger (35,25; „Nach Kampf und Liebe sehnte er sich“) heißt es entsprechend noch von Gahmuret, dessen Großvater, Vater und Bruder durch Ritterschaft und Frauendienst den Tod gefunden haben. Der mythischen Konstruktion ist es geschuldet, dass für das Mazadângeschlecht nicht einfach der Tod das Telos des Lebens ist, sondern der Tod in Ritterschaft und Minnedienst, deren Verbindung schon im Ursprung der Genealogie angelegt scheint: Indem die Verbindung von Ritterschaft und Frauendienst, Gewalt und Minne, sich in die Zukunft hinein wiederholt und fortschreibt, bleibt das Prinzip über die Zeit wirksam und präsent, schreibt sich als mythischer Mechanismus von Leben und Tod in die Figur der Genealogie ein und verleiht ihr einen semantischen Wert. Gahmurets kleine Erzählung über die Generationenfolge des Mazadângeschlechts bewältigt die Kontingenz des gewaltsamen Todes auf zweifache Weise, indem sie ihn einerseits mittels Genealogie überwindet, andererseits dem Einzelnen durch Erzählung Erinnerung sichert.19 Wenn die Genealogie den Einzelnen in die Generationenkette einfügt, der Ruhm ihn aber heraushebt, wird bereits hier die Spannung von kollektiver und individueller Identität sichtbar. Die Erzählung ist die Form, die Genealogie und Ehre, Natur und Kultur, als zwei Formen der Erinnerung zusammenführt und zu zentralen Figuren der Kontingenzbewältigung macht: das Syntagma der natürlichen Kette und der erinnerten Namen im Paradigma von Kampf und Minne, Leben und Tod. Schon im Anfang werden die axiologischen Besetzungen in die Serie eingeführt, die die Geschichte tragen. ‚Erzählen‘ kommt von ‚Aufzählen‘ und stellt ein Verfahren dar, das besondere Ereignis (den Einzelnen) in eine Kette anderer Ereignisse (Genealogie) einzugliedern und ihm eine Richtung zu geben. Genealogie und Erzählen verfahren gewissermaßen strukturanalog. Die mittelalterliche Kultur ist eine Kultur der Erinnerung. „Memoria, die Überwindung des Todes und des Vergessens durch ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ bezeichnet fundamentale Bereiche des Denkens und Han_____________ 19

Die Erzählung Gahmurets bildet im Präparat noch einmal Wolframs Inversionstechnik ab: Der Brief beginnt mit einer Adresse an den Nachkömmling, den letzten der genealogischen Kette, er verfolgt dann die Generationenfolge zurück und endet mit dem mythischen Ursprung. Erneut: Ein Anfang mit dem Ende der Kette und am Ende deren Anfang. Auch hier sind wie im Gesamtrahmen des Textes Erzählverfahren, anthropologisches Thema und genealogische Rahmung aufeinander abgestimmt.

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delns von Individuen und Gruppen.“20 Gegenüber der religiösen Bewältigungsform des Todes setzt der Parzival gleich zu Beginn zwei Sinnmodelle, die natürlich und kulturell ausgerichtet und zugleich mythisch verankert sind. In der Figur der mythisch fundierten Genealogie aber setzt Wolfram sichtbar einen Anfang, von dem alles Geschehen her sich erklärt. Der viel beschworenen Modernität des Parzival, seiner Romanhaftigkeit, steht in dieser Perspektive ein bewusst akzentuiertes episches Komplement zur Seite. Es geht mithin weder um die Alternative von Epos oder Roman noch um eine Teleologie vom Epos zum Roman, sondern um ein komplexes Interferenzverhältnis von epischem und romanhaftem Erzählen. Man kann die genealogische Rahmung der Parzivalfigur selbst mit BACHTINs Terminologie noch beschreiben: Wenn er Epos und Roman durch ihr Weltmodell und ihre Zeitstruktur unterscheidet, kommt auch er auf den Status von Anfang und Ende zu sprechen. Während für das Epos Anfang und Ende absolute Wert-Zeit-Kategorien darstellen, vollzieht sich das Geschehen des Romans vor dem Hintergrund eines anderen Zeitmodells: „Sie wird zu einer Welt, in der es kein erstes Wort (keinen idealen Anfang) gibt und in der das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.“21 Das Epos besetzt die Kategorien des Anfangs und des Endes werthaft und verkündet die Botschaft: ‚Es gibt Sinn‘. Der Roman tut das nicht. Nach BENJAMIN findet das Subjekt im Roman keinen Haltpunkt mehr in der Zeit. Das Epos hingegen bindet das Subjekt an die Kontinuität des Geschlechts und des kulturellen Gedächtnisses. Der Einzelne mag kontingentes Glied in der genealogischen Kette sein, diese selbst aber besitzt einen mythischen Ursprung und ein offenes Ende. II. Tod und Erzählen Inbegriff von Kontingenzerfahrung ist der gewaltsame Tod. ALOIS HAAS hat in seinem Buch über ‚Todesbilder im Mittelalter‘ die verschiedenen Kontexte entfaltet, in denen mittelalterliche Autoren sich mit dem Tod auseinandersetzen.22 Vor allem die geistliche Literatur thematisiert immer _____________ 20

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OTTO GERHARD OEXLE: Memoria in der Gesellschaft und Kultur des Mittelalters. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M. 1994, S. 297-323, hier S. 297; JAN ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. MICHAIL BACHTIN: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von EDWARD KOWALSKI/MICHAEL WEGNER, Frankfurt a. M. 1989, S. 210-255, hier S. 228 u. S. 240. ALOIS HAAS: Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur, Darmstadt 1989. Vgl. auch: GERHILD SCHOLZ-WILLIAMS: Der Tod als Text und als Zei-

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wieder Hinfälligkeit und Sterblichkeit des Menschen und predigt in vielfachen Formen das memento mori. Die Erfahrung von Kontingenz wird hier aber aufgehoben in der Vorstellung von einer jenseitigen Kontinuität: gewissermaßen das klassisch metaphysische Modell der Kontingenzbewältigung. Innerhalb der Heldenepik scheinen vom Gilgameschepos über die Ilias bis hin zum Beowulf der Tod und seine Überwindung durch Gedächtnis ein zentrales Thema der Gattung zu sein. Entsprechend kreist noch die frühe deutsche Heldenepik vielfach um den Tod des Helden – Alexander, Roland, Sîvrit - , Tode, die aber bei Bedarf noch christlich perspektiviert werden können.23 WALTER HAUG hat noch einmal nachdrücklich die Verbindung von Geschichtlichkeit und Todesthematik für die Heldensage hervorgehoben. Der heroische Tod vermittle jene Grenzerfahrung, in der „die Einmaligkeit eines einzelnen, in sich geschlossenen Lebens mit einem signifikant markierten Anfang und Ende“ zum Ausdruck komme. Die Heldenepik schaffe den angstlosen Helden, und „Angstlosigkeit ist die Voraussetzung dafür, daß man der Geschichte, der Einmaligkeit, dem Tod entgegentreten kann.“24 Im heroischen Ende artikulieren sich Grundmomente der Biographie. Die Heldenepik als eine Form kollektiver Krisen- und Katastrophenbewältigung wäre der institutionelle Ort, an dem das herausragende Subjekt sich in die Perspektive des Kollektivs, in das kulturelle Gedächtnis, einschreibt. Gegenüber der geistlichen Literatur und der Heldenepik spielt nach HAAS der Tod im höfischen Roman nur eine untergeordnete Rolle, wird nicht zum existentiellen Thema. Er tritt eher episodisch auf: „Im höfischen Roman sind [...] der Tod und das Sterben keiner erzählerischen Eschatologie unterworfen, sondern Tod und Sterben sind Stationen menschlichen Lebens, die unter verschiedener Deutung dem Protagonisten vor Augen gebracht werden, mal als Resultat ritterlichen Kampfes – der Zufallstod im Turnier oder der Totschlag durch einen Ritter âne zuht –, _____________

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chen in der mittelalterlichen Literatur. In: Death in the Middle Ages. Hrsg. von HERMAN BRAET/WERNER VERBEKE, Leuven 1983, S. 134-149; Tod im Mittelalter. Hrsg. von ARNO BORST u. a., Konstanz 1993. HAAS verweist hier auf MAX WEHRLI, wenn er den höfischen Roman mit seinen Ansätzen zur „transzendentalen Obdachlosigkeit“ dem Heldenlied mit seiner Transzendenzlosigkeit, Geschlossenheit und Düsternis gegenüberstellt. MAX WEHRLI: Strukturen des mittelalterlichen Romans – Interpretationsprobleme. In: DERS.: Formen mittelalterlicher Erzählung, Zürich 1969, S. 25-50, hier S. 26f. WALTER HAUG: Szenarien des heroischen Untergangs. In: 8. Pöchlarner Heldengespräch. Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung. Hrsg. von ALFRED EBENBAUER/JOHANNES KELLER, Wien 2006, S. 147-161, hier S. 148f. Bereits HUGO KUHN hatte die Rahmung der Parzivalerzählung durch den Orientteil als Entmythisierung des Heldenmusters beschrieben: als Historisierungsvorgang. HUGO KUHN: Parzival. Ein Versuch über Mythos, Glaube und Dichtung. In: DERS.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1969, S. 151-180, hier S. 159-161.

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mal als Buß- und Sühnetod, mal – in höchster Form – als Liebestod.“25 Im Artusroman werde mehr das Leben des Protagonisten, werden seine Konflikte um soziale Integration thematisiert als der Tod selbst. Es scheint der Märchenstruktur geschuldet zu sein, die HANS ROBERT JAUSS als ein spezifisches Kennzeichen der mittelalterlichen Romanform, speziell der matière de Bretagne, ausmacht, dass die Protagonisten zielsicher durch die Aventiuren schreiten.26 Der Wahrheitsbegriff von Epos und Roman gründet mithin in ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsbezügen.27 HAAS zitiert HEINZ RUPP: „Selbst im Parzival, dieser christlichsten Ritterdichtung des Mittelalters überhaupt, spielt der Tod kaum eine Rolle, höchstens bei Randfiguren wie Sigûne.“28 HAAS hat denn auch am Beispiel von Sigûne vorgeführt, dass hier der Tod als Liebestod, „als innerste Form und der tiefste Gehalt der Minne“ exemplifiziert wird.29 Viermal trifft Parzival auf seinem Weg auf seine Cousine, die sukzessive ihrem Geliebten nachstirbt.30 WALTER HAUG hat dafür in Bezug auf Wolframs Titurel die schöne Wendung „Erzählen vom Tod her“ geprägt. Man wird den Befund über den Status des Todes im höfischen Roman im Großen und Ganzen akzeptieren, kaum aber für den Parzival (wie auch für den Tristan und Konrads Trojanerkrieg). Anders als in den klassischen Artusromanen wird hier dem Tod eine spezifische Aufmerksamkeit gewidmet. Die enge Verzahnung der drei Komponenten Minne, Kampf und Tod hatte dafür schon Hinweise gegeben. Der Tod besitzt eine elementare Funktion aber nicht nur für die Gahmuret- und Sigûnehandlung.31 Der _____________ 25 26 27

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HAAS (Anm. 22), S. 146. HANS ROBERT JAUSS: Epos und Roman – Eine vergleichende Betrachtung an Texten des XII. Jahrhunderts. In: DERS.: Alterität und Modernität in der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze, München 1977, S. 76-92 (alte Zählung). JAUSS (Anm. 26). Deswegen insistiert WALTER HAUG so vehement einerseits auf der Geschichtlichkeit der Heldensage, andererseits auf der Fiktionalität des Artusromans. Beiden spricht er alternative Antworten auf die Provokation des Mythos – des Anderen, Bedrohlichen, des Todes - zu. Vgl. HAUG (Anm. 24); DERS.: Die Rolle des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens. Hrsg. von. MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 247-267. HAAS (Anm. 22), S. 221, nach HANS RUPP: Schmerz und Tod in der deutschen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts. In: Il dolore e la morte nella spiritualità dei secoli XII e XIII. Hrsg. von Centro di Studi sulla Spiritualità Medievale, Todi 1967, S. 203-232, hier S. 214f. HAAS (Anm. 22), S. 144. Zur Umsetzung der Situation in Wolframs Titurel vgl. WALTER HAUG: Erzählen vom Tod her. Sprachkrise, gebrochene Handlung und zerfallende Welt in Wolframs Titurel. In: Wolfram-Studien VI (1980), S. 8-24. JOACHIM BUMKE: Wolfram von Eschenbach, Stuttgart, Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36), S. 158-168; WALTER HAUG: Parzival ohne Illusionen. In: DERS.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 125-139, hier S. 125-127.

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Parzival beginnt nicht nur mit dem Tod des Vaters, des Anschevîn Gandîn, immer wieder begegnen die Protagonisten auf ihrem Weg der Todesproblematik: Isenhart, Gâlôes, Gahmuret, Schîânatulander, Ithêr, die Söhne des Gurnemanz, Cidegast, sowie eine Reihe von Frauen, die allein aufgrund von Trennungsschmerz dahinsterben (Gurnemanz’ Frau, Herzeloyde, Annôre, Sigûne u. a.). Das Todesthema scheint sogar geschlechtsspezifisch wohl austariert. Ausführlich hat sich HELMUT BRACKERT mit dem Todesthema beschäftigt und darauf verwiesen, dass Wolfram an signifikanten Stellen gerade über seine Vorlage hinaus Akzente setzt und das Todesthema bewusst in sein Werk einspielt.32 Wolfram etabliere eine Freud-Leid-Dialektik der Ritterschaft, die gerade von Seiten der leidenden Frauen aus akzentuiert werde. Dabei lässt sich das Thema in keine einfache Gut-Böse-Relation bringen: „Bei näherem Zusehen zeigt sich [...], daß der Riß, den der permanente Einbruch des Todes und der dadurch bedingten Leiderfahrung in die ritterliche Welt bringt, durch alle [...] Bereiche geht.“33 Wolfram führt das Todesthema auf rekurrente Weise (paradigmatisch) in die ritterliche Welt ein und weitet es sogar bis in heilsgeschichtliche Dimensionen aus. Wenn im Parzival die Todesthematik einen besonderen Stellenwert einnimmt, scheint sich das auch in diesem Punkt von den Gattungsvorgaben des höfischen Romans zu entfernen. Der Parzival enthält zahlreiche Darstellungsformen des Todes, die diesem dramatischen Gehalt zuschreiben. Mit dem Vorschalten der Gahmuretbücher und dem Entwurf einer heroischen Existenz gewinnt Wolfram nicht nur einen genealogischen Rahmen für seinen Haupthelden sowie ein Modell der Präfiguration.34 Er gewinnt aus dem heldenepischen Kontext zugleich das Todesthema und damit ein lebensweltliches, realistisches Moment, einen Kontrapunkt zum vorgegebenen Märchenglück des Artushelden. Wolfram gestaltet jedoch das Verhältnis von heldenepischer Tragik und arthurischem Heilsweg nicht als starre Opposition, sondern als spannungsreiche Synthese. Sichtbar wird diese Synthese einerseits an der Figur _____________ 32 33 34

HELMUT BRACKERT: der lac an riterschefte tôt. Parzival und das Leid der Frauen. In: Ist zwîvel herzen nâchgebûr. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag. Hrsg. von RÜDIGER KROHN/ JÜRGEN KÜHNEL/JOACHIM KUOLT, Stuttgart 1989 (Helfant-Studien 5), S. 143-163. Ebd., S. 151. CHRISTA ORTMANN: Ritterschaft. Zur Frage nach der Bedeutung der GahmuretGeschichte im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: DVjs 47 (1973), S. 664-710; HELMUT BRALL: Familie und Hofgesellschaft in Wolframs Parzival. In: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Hrsg. von GERT KAISER/JANDIRK MÜLLER, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 541-583; WOLFGANG HAUBRICHS: Memoria und Transfiguration. Die Erzählung des Meisterknappen vom Tode Gahmurets (Parzival 105,1-108,30). In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 125-154.

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Gahmuret, der Vorzeitheld, Söldner und Aventiureritter zugleich ist, selbst nicht tötet, wohl aber getötet wird. Sein Weg wird von Aventiure und Krieg gleichermaßen bestimmt. Andererseits scheint selbst der Exponent höfischer Gesinnung, Parzivals Erzieher Gurnemanz, eine gespaltene Figur zu sein. Auch dies hat Wolfram gegenüber Chrétien hinzugefügt: Auf der einen Seite predigt Gurnemanz den ritterlichen Pflichtenkanon, der Gegnertötung verbietet, auf der anderen Seite ist er wie kein anderer Opfer gnadenloser Ritterschaft. Beim Abschied von Parzival setzt er zu einer kleinen Erzählung an. Er hat alle drei Söhne im Dienst der Ritterschaft verloren. So erscheint er zwar als lebensmüde – ôwê daz ich niht sterben kan (178,8; „Ach, daß ich nicht sterben kann“), thematisiert auch die enge Verbindung von Ritterschaft und Tod: sus lônt iedoch diu ritterschaft: / ir zagel ist jâmerstricke haft. (177,25f.; „So aber belohnt die Ritterschaft gewöhnlich ihren Mann: / An ihrem Schwanz hat sie für ihn des Jammers Schlinge angebunden.“). Dennoch aber stellt er Ritterschaft nicht grundsätzlich infrage. Gahmurets Schicksal und Gurnemanz’ Erzählung machen den Tod als Telos der Ritterschaft sichtbar, doch in gegenläufiger Weise.35 Über die nachgetragene Erzählung erhält die Figur des Gurnemanz eine Geschichte, die die Spannung der beiden Formen von Kontingenzbewältigung, von Genealogie und Ruhm, nachdrücklich zum Ausdruck bringt: aber eben nicht aus der Perspektive der Sieger, sondern der Verlierer. Gurnemanz’ Erzählung stellt im Verhältnis zu Gahmurets Leben gewissermaßen die Antigenealogie dar. Aufzählen und Erzählen schrumpfen zum Fragment. Wie aber begegnet der Tod den Protagonisten? Selten in direkter Konfrontation wie im Fall Ithêrs oder Schîânatulanders, weitaus häufiger aber in der distanzierten Form von Erzählungen: Der Tod ist überwiegend in der Figurenerzählung präsent, aber nicht von Seiten des jeweils Sterbenden, sondern des betroffenen Umfelds. Es sind weitgehend die Überlebenden, die mit der Erfahrung des Todes fertig werden müssen: immer wieder kleine Erzählungen in der Erzählung. Wolfram spinnt um die Hauptgeschichte herum ein Netz von Erzählungen, die die ambivalente Sicht auf die Ritterschaft vor Augen führen: emphatisch noch Gahmurets Brief über die Mazadângenealogie (55,17ff.) und Orilus’ Bericht über Gâlôes und Schîânatulander (133,28ff.), klagend dagegen Belacânes Erzählung über Isenhart (29,9ff.), Gurnemanz’ Erinnerung an seine drei Söhne (177,14ff.), Sigûnes Klage über Schîânatulander (114,2ff.), _____________ 35

Schon bei Veldeke tritt dieses klassische Thema auf, wenn er den Tod von Pallas und Camilla in prächtigen Grabmalskonstruktionen auffängt. Totengedenken, memoria, gilt hier „exzeptioneller ritterschaft“. Vgl. JOACHIM HAMM: Camillas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 9-56, hier S. 45.

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Orgelûses über Cidegast (615,27ff.) und selbst die Rede des Erzählers über Ilinôt (585,29ff.). Gegen die selbstgewisse Feier des ritterlichen Ethos’ erhalten einzelne Figuren Raum, die Folgen des geltenden sozialen Gewaltethos zu beklagen, nicht aber dieses zu hinterfragen. Die Vernetzung der Erzählungen weist über den Weg der Hauptfiguren hinaus und konstituiert einen übergeordneten Erzählzusammenhang. Für die Heldenepik und für das Epos insgesamt ist das Phänomen der Koordination beschrieben worden, das den zyklischen Zusammenschluss der Sagen zu einer Art Gesamterzählung bezeichnet.36 Im Hintergrund eröffnet sich so ein epischer Zusammenhang. Auch die inserierten Todeserzählungen im Parzival dienen dem Zweck der Vernetzung, indem sie paradigmatisch einen epischen Erzählhintergrund stiften.37 Sie verknüpfen einerseits Episoden und bieten Einblick in die Vorgeschichten der Akteure, andererseits konstituieren sie für die Erzählung einen exemplarischen Zusammenhang: Es sind allesamt Exempel für den gleichen Sachverhalt. In vielfacher Variation wird immer die gleiche dramatische Konstellation von Minne, Kampf und Tod durchgespielt, führt die ‚Geschichte als Exemplum‘ die gleiche Wahrheit vor Augen: die Sinnstiftung von Gewalt über Frauendienst.38 Die erste tragische Geschichte, die erzählt wird, ist die von Isenhart. Der Erzähler resümiert sie gleich, als Gahmuret in Zazamanc ankommt: von dan fuor er gein Zazamanc in daz künecrîche. die klageten al gelîche Isenharten, der den lîp in dienste vlôs umbe ein wîp. des twang in Belacâne, diu süeze valsches âne. daz si im ir minne nie gebôt, des lager nâch ir minne tôt. (16,2-10) Fort zog er in das Königreich Zazamanc. Dort weinten sie alle um Isenhart, der im Dienst für eine Frau den Leib verloren hatte. Schuld daran war die süße Belacâne, die den Verrat nicht kannte. Die verweigerte ihm ihre Liebe, seine Sehnsucht nach ihrer Liebe brachte ihm den Tod.

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JOACHIM HEINZLE: Was ist Heldensage? In: Jahrbuch der Oswald von WolkensteinGesellschaft 14 (2003/04), S. 1-23, hier 12f. Zur Technik des epischen Hintergrundes vgl. WOLFGANG MOHR: Zu den epischen Hintergründen in Wolframs Parzival. In: Mediaeval German Studies. Presented to Frederick Norman, London 1965, S. 174-187. Vgl. KARLHEINZ STIERLE: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von REINHART KOSELLECK/WOLF-DIETER STEMPEL, München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5), S. 347-375.

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Die Minne wird zur Ursache für das Ende des Ritters, der Heldentod in den Minnetod überführt. Ein anwesender Fürst erzählt dann schon etwas ausführlicher, macht aber zugleich deutlich, dass der Angreifer Vridebrant unter derselben Konstellation leidet. In kürzester Form deutet sich eine Erzählung an, die den Kreislauf des ritterlichen Lebens demonstriert: wir solden vînde wênic sparn, sît Vridebrant ist hin gevarn. der lœset dort sîn eigen lant. ein künec, heizet Hernant, den er durh Herlinde sluoc, des mâge tuont im leit genuoc: sine wellent si’s niht mâzen. (25,1-7) Wir würden nicht viel Federlesens mit den Feinden machen, jetzt, da Vridebrant fortgefahren ist, sein eigenes Land zu befreien. Ein König, der heißt Hernant, den hat er erschlagen im Kampf um Herlinde. Mit den Verwandten dieses Königs hat er jetzt Krieg genug, sie sind voller Erbitterung.

Was sich vor Pâtelamunt ereignet, ist offenbar kein Einzelfall, es ist die Wiederholung einer Regel. Allein die Perspektive auf den Fall differiert. Die Ereignisse um Isenhart fächern sich in mehrere Erzählungen auf, die auf je eigene Art noch einmal die Interferenz von Minne, Ritterschaft und Tod betonen: Der Erzähler berichtet objektiv und bringt den Fall auf eine Regel, der unbekannte Fürst erklärt die militärische Lage und spielt mit der Geschichte Vridebrants eine Wiederholungsfigur ein, der Burggraf Lachfilirost schließlich entfaltet das Thema von einer anderen Figur aus, er erzählt seinem Gast ein maere über den kampfbegierigen Ritter Hiutegêr, das zumindest die potentielle Katastrophe imaginiert: op der sîn dienest dort verlür / an ir diu in sante her, / waz hulfe in dan sîn vrechiu gêr? (32,4ff.; „Und wenn seine galante Herrlichkeit der, die ihn hergeschickt hat, zu Ehren dort zugrunde ginge, was hätte ihm dann seine Kühnheit und sein Jagen nach Ruhm geholfen?“) Nur en passant blitzt aus der Perspektive der Nebenfigur die Brüchigkeit der Existenzform Minneritter auf. Schließlich präsentiert die subjektive Erinnerung Belacânes die Geschichte Isenharts als Minnetragödie. Ihre Erzählung zeichnet das Bild eines mustergültigen Ritters, dessen Dienst keinen Lohn gefunden hat, dessen Werbung zu immer weiterer Vollkommenheit getrieben wurde, bis sie schließlich in einer Art ‚Todestrieb‘ endete. Wie der Gedanke des Minnedienstes durch Belacânes Hinhalten invertiert wird, so auch der der Ritterschaft durch Ablegen der Rüstung. Halten die kollektiven Erinnerungsbemühungen auf Seiten der Verwandten den unglücklichen Toten durch Zeichen und Körper präsent, stiften ihm gewissermaßen mit Bahre, Amulett und Fahne ein Gedächtnisritual, wird er für Belacâne durch eine Erzählung in Erinnerung gehalten. Über kollektives Gedächtnis und über erzählendes Erinnern wird

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der Fall von den Beteiligten bewältigt. Aus übergeordneter Warte schließlich ist Isenhart ein Minnemärtyrer, ein Exempel, wie es wiederholt im Parzival auftritt. Auf ganz verschiedene Weise wird des toten Isenhart gedacht. Am Ende des zweiten Buchs steht dann der Tod des Gahmuret. Erneut greift Wolfram auf die Technik der Binnenerzählung zurück, die er hier an die Figur des Meisterknappen Tampanîs delegiert (105,1ff.) Aus dem Mund des Boten wird der Zuhörer über das Ende Gahmurets unterrichtet, gewissermaßen der Erlebnisbericht des Augenzeugen. Hitze habe ihn dazu gezwungen, seinen Kopfschutz abzulegen. Überdies habe heidnische List dazu geführt, dass Gahmurets unzerstörbarer Diamanthelm durch Bocksblut aufgeweicht worden sei, so dass es Ipomidôn geglückt sei, die tödliche Wunde beizubringen. Trotz der Verletzung sei es dem Sterbenden gelungen, seinen Kaplan zu erreichen und zu beichten. Tampanîs überbringt mit der Todesnachricht auch das blutige Hemd und die Lanzenspitze, die man in Gahmurets Kopf gefunden hat, zwei Zeichen, die selbst in Gahmurets Heldentod noch den Zusammenhang von Minnedienst, Ritterschaft und Tod sichtbar machen, gewissermaßen indizieren.39 Zwar kann man es selbst noch als einen metonymischen Verweis lesen, dass Gahmuret in Isenharts Rüstung stirbt, doch stirbt er weniger den Minne- als den Heldentod. Die Erzählung des Tampanîs ist zweigeteilt. Er bietet in der Folge eine Beschreibung der Beisetzung und insbesondere des monumentalen Grabmals. WOLFGANG HAUBRICHS hat die literarischen Vorlagen der Grabmalbeschreibung (Veldeke) und Analogien, ja z. T. dezidierte Parallelen, zu zeitgenössischen Grabmälern untersucht: Das Aufkommen extensiver Grabmalbeschreibungen in der höfischen Literatur fällt nach HAUBRICHS mit dem Aufkommen einer adeligen Memorialkultur zusammen, wie sie Begräbnisstätten in Klöstern und Kirchen um 1200 aufweisen.40 Tampanîs’ Erzählung legt sichtbar Wert auf eine christliche Rahmung des in heidnischen Diensten gestorbenen Gahmuret. An der Spitze des Sarkophags wird ein Kreuz aufgestellt, auf dem Gahmurets Diamanthelm angebracht wird. Auf diesem ist eine weitere Erzählung eingraviert, die Tampanîs zitiert und die das vorbildliche Heldenleben noch einmal resümiert. HAUBRICHS beschreibt die Dramaturgie der Erzählung folgendermaßen: „In raffinierter Erzählstrategie hat Wolfram Gahmurets Leben in den Tod und den Tod in sein ewiges Leben in beiderlei Gestalt, als Ruhm und fama einerseits, als künftige himmlische Verklärung andererseits überführt.“41 Die Panegyrik beginnt mit einer Inversion, mit dem Tod des Gahmuret, _____________ 39 40 41

BRUNO QUAST: Diu bluotes mâl. Ambiguisierung der Zeichen und literarische Programmatik in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: DVjs 77 (2003), S. 45-60. HAUBRICHS (Anm. 34), S. 125-154. Ebd., S. 130.

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um dann in einer Apotheose seines Rittertums zu enden. Auch hier spielt Wolfram mit paradoxen Konstellationen. Das Grabmal vereinigt damit die beiden zentralen Formen ‚kulturellen Gedächtnisses‘, die ‚religiöse memoria‘ und die ‚weltliche fama‘, gewissermaßen die institutionalisierten Formen des Gedächtnisses.42 Die Waffe legt das letzte Zeugnis vom Ruhm des toten Ritters ab. Grabmal und Epitaph erinnern zwar an eine typische Heldenbiographie, doch gedenken sie des einen Helden. Grabmal und Epitaph dienen der Memoria des außerordentlichen Helden: niemen reichet an sîn zil. (108,13; „daß dahin keiner reichen konnte“)43 Das kulturelle Gedächtnis, in das Gahmuret überführt wird, entspricht auf säkularer Ebene jener Form, die Überbietung (Rekord) und kollektive Erinnerung (recordari) aneinander koppelt und die im geistlichen Bereich wiederholt im Heiligen manifest wird.44 Darin unterscheidet sich Gahmuret aber signifikant von der Serie exemplarischer Minnetoter. III. Erzählen und Erinnern Über die intrinsische Verbindung von Erzählen und Tod reflektiert WALTER BENJAMIN in seinem Essay Der Erzähler.45 Erzählen ist für BENJAMIN kein wissenschaftlich-analytischer, kein narratologischer Begriff, sondern eine Form der Erfahrung. Ähnlich aber wie in der Narratologie erhält bei BENJAMIN die Erzählung vom Ende her ihren Sinn. Von daher ist der Tod die letzte und höchste Autorität, der der Erzähler verpflichtet ist, am eindringlichsten im finalen Rückblick auf das Leben im Angesicht des Todes (z. B. Roland).46 BENJAMIN entwirft ein anthropologisches Modell des Erzählens, das auf Erfahrung gründet und nicht wie in der Historiographie auf Wissen. Nicht in Erklärung bestehe das Geschäft des Erzählers, sondern in Sinnstiftung und Einordnung des Erzählten in den Lauf der Welt. Der wahre Erzähler sei derjenige, der Exemplarisches zu verkünden hat. Erin_____________ 42 43

44 45 46

Zur kulturellen Funktion des Gedächtnisses vgl. ALEIDA ASSMANN: Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 (C.-H.-BeckKulturwissenschaft), S. 27-62, hier S. 38. BARBARA HAUPT zitiert FRIEDRICH OHLY: „Setzt der Dichter seinem Romanhelden selbst ein in Diamant gegrabenes Epitaphium, besiegelt diese episierte Metapher einen Hauptsinn seiner Kunst, eine Memoria zu begründen.“ (= FRIEDRICH OHLY: Bemerkungen eines Philologen zur Memoria. Münstersche Abschiedsvorlesung vom 10. Februar 1982, München o. J.); vgl. BARBARA HAUPT: Literarische Memoria im Hochmittelalter. Chrestien de Troyes und der Discours de la Méthode. In: LiLi 27 (1997), S. 39-61, hier S. 43. Zur Verbindung von säkularem Rekord, Erinnerung (recordari) und Legende vgl. JOLLES (Anm. 9), S. 60f. BENJAMIN (Anm. 18), S. 438-465. Ebd.

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nerung zu sichern ist daher die ursprüngliche Leistung des Erzählers: „Mnemosyne ist bei den Griechen die Muse des Epischen.“47 Der epische Erzähler aber ist der Erinnerung auf andere Art verpflichtet als der Historiograph und auch als der Romancier, d. h. pragmatisch gesehen findet je nach institutionalisierter Sprachhandlung (Gattung) eine andere Form von Erinnerung statt. Während der Historiograph Vergangenheit im Archiv ablegt und systematisiert, ordnen Epiker und Romancier die Erinnerung nach Maßgabe der Erfahrung. Das kulturelle Gedächtnis, paradigmatisch vertreten im Totengedenken, artikuliert sich mithin in ganz unterschiedlichen Formen.48 BENJAMIN reflektiert im Anschluss an GEORG LUKÁCS das unterschiedliche Zeitverständnis, das den Epiker und den Romancier auszeichnet: Einordnung des Todes in einen übergeordneten Zusammenhang, sei es ein heils- oder ein naturgeschichtlicher, beim Epiker; demgegenüber stehe der Romancier schutzlos vor der harten Kontingenz des menschlichen Daseins.49 Im Epos nun sieht BENJAMIN eine Konstellation von zwei Erinnerungsformen, die das Epische und das Romanhafte noch verbinden. Der Erzähler, der Erinnerung sichern will, steht vor zwei elementaren Aufgaben: Zum einen ermöglicht die Erinnerung, den Lauf der Dinge zu erfassen, d. h. die Komplexität der Welt auf eine Erfahrungsform zu reduzieren. Zum andern steht er vor der Aufgabe, mit dem Hinschwinden der Zeit, mit der Gewalt des Todes, seinen Frieden zu machen. BENJAMIN postuliert damit zwei elementare anthropologische Funktionen, denen das Erzählen verpflichtet ist: Sinnstiftung als Komplexitätsreduktion und als Bewältigung von Zeitlichkeit. Er arbeitet entsprechend zwei Arten der Erinnerung heraus: zum einen das epische Gedächtnis, das sich über die Kette der Traditionen, die Wiederholung, in einem Netz von endlosen exemplarischen Geschichten artikuliert. BENJAMIN fasst es in die Worte: „die Moral von der Geschicht“. Zum andern das verewigende Gedächtnis des Romanciers, das schon im Epos in der Heldenerinnerung, im außergewöhnlichen Schicksal sich artikuliert.50 Steht das epische Gedächtnis für die immer gleichen Wahrheiten des Laufs der Welt und ihre Vergegenwärtigung, gewissermaßen für das Exemplarische, so das romanhafte Gedächtnis für das Außerordentliche, das Inkommensurable; das Erinnern des Exemplarischen also als Form der Komplexitätsreduktion, die Erinnerung an das Außerordentliche als Bewältigungsform der Zeitlichkeit: ein anthropologisches Modell. _____________ 47 48 49 50

Ebd., S. 453. ASSMANN (Anm. 42), S. 27-62. Vgl. ASSMANN (Anm. 20), S. 66-86. BENJAMIN (Anm. 18), S. 454-457. Zur Famaproduktion als Faktor kultureller Erinnerung vgl. ASSMANN (Anm. 42), S. 38-48.

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Was hat das mit dem Parzival zu tun, speziell mit dem Erzählen vom Tod im Parzival? Wir haben gesehen, dass Wolfram in den höfischen Roman deutlicher als seine Zeitgenossen die Todesthematik einführt: ein Element der Heldenepik. Doch inszeniert Wolfram den Tod nicht aus der Perspektive einer eschatologischen Betroffenheit des Helden, sondern er verändert die Perspektive und überführt den Tod in einen anderen Sinnzusammenhang: den Minnetod. An die Stelle der Heilsgeschichte und des heroischen Todes treten Minne als Sinnerfüllungsmodell und Krise als Gravitationspunkt ritterlicher Bewährung. Wolfram gewinnt ein lebensweltliches Problem als Kontrapunkt zum Heilsweg des Helden, doch bleibt der Sinn anders als in der heilsgeschichtlichen Rahmung wiederholt problematisch, der Trost prekär. Dieser Minnetoten wird auf unterschiedliche Weise gedacht. In ihrer Serie sind sie Exempel für die fatale, aber unvermeidliche Verbindung von Minne und Kampf. Sie sind damit kein Einzelfall, sondern Beispiele für den Lauf der – ritterlichen – Welt.51 Wolfram zieht bekanntlich noch weitergehende Ringe um seine Minnetoten. Sie sind wiederholt auch Exempel für heilsgeschichtliche Konstellationen. Evident ist das bei Sigûne und Schîânatulander; aber auch die Konflikte um Isenhart und um Vridebrant lassen sich über die reine Minnethematik hinaus zum heilsgeschichtlichen Exempel perspektivieren. Aus einer übergeordneten Warte gewinnen der tragische Zweikampf zwischen Isenhart und Prôtyzilas und seine sozialen Folgen durchaus einen exemplarischen Sinn: Totschlag führt zu Feindschaft, führt zum Krieg, das ist die Lehre Trevrizents im neunten Buch, die er auf den ersten Brudermord zwischen Kain und Abel zurückführt: dô huop sich êrst der menschen nît: / alsô wert er immer sît. (464,21f.; „Erst jetzt wurde die Bosheit unter den Menschen groß, und sie dauert immer seitdem fort.“)52 Auch die Theodizee besitzt offenbar einen mythischen Ursprung und hat ein offenes Ende, mithin eine genealogische Struktur. Entsprechend eskaliert der unglückliche Zweikampf zwischen Isenhart und Prôtyzilas, den einander Nahestehenden, zum Krieg. Obwohl die Erzählung Belacânes vom Tod des Isenhart die Komplexität der Verantwortung und der Schuldfrage darlegt, entspricht die Eskalation der Gewalt letztlich dem Lauf der Dinge, einer alten Weisheit: alsô wert er immer sît (464,22; „und sie dauert immer seitdem fort“). Der besondere und der allgemeine Fall fallen zusammen. Und noch im Heldentod Gahmurets fallen beide Formen der Erinnerung zusammen. Die Erinnerung an Gahmuret, wie sie im gewaltigen _____________ 51 52

In Anlehnung an Aristoteles (Metaphysik 1) ließe sich formulieren: Aus der Vielzahl der einander ähnlichen Erzählungen formiert sich Erinnerung und aus vielen Erinnerungen eine Erfahrung. ALEXANDRA STEIN: wort und werc. Studien zum narrativen Diskurs im Parzival Wolframs von Eschenbach, Frankfurt a. M. 1993 (Mikrokosmos 31), S. 39.

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Grabmal zum Ausdruck kommt, ist die an den außerordentlichen Helden, den einzigartigen Heros. Der Erzähler verortet aber auch diesen Tod noch auf einer allgemeineren Ebene als auf der der Heldenbiographie: Auch das Schicksal Gahmurets wird gleich zu Beginn vom Erzähler als Exempel für den Lauf der Welt angedeutet. Auf dem Höhepunkt seines und Herzeloydes Ruhms kündigt der Erzähler en passant den Umschlag in die Katastrophe an und greift dafür auf eine Allerweltsweisheit, aber eine Weisheit zurück: alsus vert diu mennischeit, / hiute freude, morgen leit. (103,23f.; „Aber so geht es den Menschen: Heute Freude, morgen Leid.“) Die Erzählung von Gahmurets Tod verbindet also epische Exemplarik und das romanhaft Inkommensurable: Gedenken an den Lauf der Welt, das Immer-Gleiche, und Eingedenken des außerordentlichen Falles. Zwei zentrale Funktionen des Erzählens werden selbst hier enggeführt. Sinn erfahren die Tode auch als Erfüllung der Heilsgeschichte (Kain/Abel) und als naturgeschichtliche Erfahrung (Freude/Leid). Das Verhältnis von Exemplarik und Einzigartigkeit, von erzählendem Gedenken und Eingedenken, die das Epos als die privilegierte Gattung der Erinnerung bewahrt, kehrt auf der Ebene der Heldenfiguren wieder. Beide Formen der Erinnerung entsprechen dem, was CLAUDE LÉVISTRAUSS als kalte und heiße Erinnerung beschrieben und JAN ASSMANN als Basisfunktion des kulturellen Gedächtnisses reformuliert hat: Während das kalte Gedächtnis Geschichte im ewig gleichen Wechsel stillstellt, stiftet heiße Erinnerung über das Einbrechen des Ereignisses und seine Fixierung ein institutionelles Gedächtnis (z.B. Grabmal).53 Wie das Exempel so spaltet sich die Geschichte untrennbar in zwei Formen auf: in die Serie des Immergleichen und in das Vorbild des Außerordentlichen. IV. Epos und Roman Die Frage nach Epos und Roman, ihren Darstellungsformen von Welt und ihrem Verhältnis zueinander, ist wohl eine der ältesten der Literaturwissenschaften, und sie durchzieht offenbar die gesamte Literaturgeschichte: antikes Epos und Antikenroman; Heldenepik und höfischer Roman im Mittelalter, im Barock die Opposition von heroischem Gedicht und hohem Roman; im 18. und 19. Jahrhundert schließlich die Verdrängung des Epos durch den Roman und das Aufkommen des modernen epischen Romans. Offenbar laufen alternative Erzählmöglichkeiten für das menschliche Leben und für das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft parallel, ehe sie im modernen Roman zusammenlaufen. Seit dem _____________ 53 ASSMANN (Anm. 20), S. 68-70.

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Aufkommen des modernen Romans im 18. Jahrhundert wird die Debatte von Romanciers und Theoretikern unterschiedlichster Couleur geführt. Ihr Ausgangspunkt war zum einen die scheinbar zeitlose Idealität der antiken Epen, ihr ästhetischer Maßstab, zum anderen aber auch ihre Alterität, die etwa darin sichtbar wird, dass die Moderne offensichtlich keine Epen, zumindest keine von nennenswertem Rang, mehr hervorbringt und dass in Weltanschauung und Erzählweise gravierende Differenzen konstatiert wurden. Entsprechend hatte HEGEL in idealistischer Manier das Epos über den Begriff der Totalität definiert und einen verlorenen ‚epischen Weltzustand‘ postuliert, in dem heroisches Subjekt und Gesellschaft zusammenfallen.54 LUKÁCS und BENJAMIN haben das Epos durch sein Zeitmodell vom Roman unterschieden und dieses als eine anthropologische Kategorie eingeführt: Sinn und Totalität versus Sinnsuche in der transzendentalen Obdachlosigkeit.55 BACHTIN hat dann Epos und Roman vor allem in politischer Hinsicht voneinander abgehoben, indem er von den in ihnen artikulierten Stimmen oder Erzählinstanzen ausging: demokratische Dialogizität der Freiheit gegen despotische Monologizität der Tradition.56 Offenheit und Geschlossenheit scheinen offenbar gegenläufig für Epos und Roman zugleich in Anspruch genommen zu werden. Der weltanschaulichen Geschlossenheit (Totalität) des Epos korrespondiert formal eine offene Struktur: die Serialität der Episoden, die über das genealogische Prinzip auch substantiell hinausweist.57 Der weltanschaulichen Offenheit des Romans korrespondiert, wenn man vom Subjekt aus denkt, eine geschlossene Form. Gerade weil es keine Jenseitsversicherung gibt, auch Genealogie dem Einzelnen nurmehr bedingten Trost bietet, steht das Leben ratlos vor seinem unausweichlichen Ende. Vor dem anthropologi_____________ 54

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GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL: Vorlesungen über Ästhetik. Hrsg. von EVA MOLDENHAUER/KARL MARKUS MICHEL, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1970, S. 339-393; vgl. HILDEGARD BARTEL: Epos – die Gattung in der Geschichte. Eine Begriffsbestimmung vor dem Hintergrund der Hegelschen ‚Ästhetik‘ anhand von Nibelungenlied und Chanson de Roland, Heidelberg 1982. GEORG LUKÁCS: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt, Neuwied 1977; BENJAMIN (Anm. 18). MICHAIL BACHTIN (Anm. 21), S. 210-255; vgl. INGRID KASTEN: Bachtin und der höfische Roman. In: bickelwort und wildiu mare. Festschrift Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg von DOROTHEA LINDEMANN/BERNDT VOLKMANN/KLAUS-PETER WEGERA, Göppingen 1995 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 618), S. 51-70. „Darum ist die Abenteuermasse einer Epopöe immer gegliedert und niemals streng geschlossen. [...] Das In-der-Mitte-Anfangen und Nicht-mit-dem-Ende-Schließen [...] hat seinen Grund in der begründeten Gleichgültigkeit der wahrhaft epischen Gesinnung gegen jeden architektonischen Aufbau.“ Vgl. LUKÁCS (Anm. 55), S. 58; auch: STEPHAN FUCHS: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen Mittelalter, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31), S. 49, zitiert die Stelle.

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schen Hintergrund der Finalität des Lebens kann der Roman nur noch Surrogate sozialer Sinnbildung anbieten: Familie, Politik, Wissenschaft. Darin liegt die unaufhebbare Spannung von sozialem und anthropologischem Gehalt im Roman.58 Nur wenn man den Roman primär als eine soziale Institution versteht, d. h. wenn man die Definitionsebene verschiebt, erhält er wieder eine offene Form. Auch über den Ursprung des Romans im Mittelalter ist viel geschrieben worden. Für die Germanistik sind hier exemplarisch HELMUT DE BOOR, MAX WEHRLI und WALTER HAUG zu nennen. Während HUGO KUHN noch vorsichtig vom „höfischen Epos“ als „Gerüstepik“ spricht, plädieren andere dezidiert für denn Romanbegriff und die Romanform.59 Das Plädoyer für den Roman vollzieht sich vor dem Hintergrund inhaltlicher und formaler Argumentation. Nicht der Verlust weltanschaulicher (christlicher) Totalität macht hier den Einzelnen orientierungslos und bringt mit dem Roman eine neue Form der Lebensbewältigung hervor, sondern im Gegenteil: Erst durch den Einbruch des Christentums wird der Blick auf das Leben des Einzelnen gelenkt. Der Einbruch der Zeitlichkeit in die Figur mag eine Modernitätsschwelle sein, für die Suche nach dem Roman im Mittelalter wird er suspendiert. Die Grenzen zwischen Heldenepik und höfischem Roman liegen hier auf anderer Ebene als der der Zeitlichkeit.60 Sichtbar eröffnet sich mit dem Aufkommen des höfischen Romans eine Alternative des Erzählens sowohl über das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft als auch von Subjekt und Sinn. Je nach methodischem Ansatz ergeben sich allerdings _____________ 58

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Zuletzt hat HAIKO CHRISTIANS aus pragmatischer Perspektive die Frage nach dem Epos geradezu aufzulösen versucht, indem er sie als eine Projektion des 19. Jahrhunderts entlarvt: HEGELs und LUKÁCS’ Idealisierungen des Epos wären mithin Effekt einer sozialund mediengeschichtlichen Umbruchsituation. Das Epos erscheint dann als Kunstprodukt einer Zeit, die gegen die Erfahrung sozialer Differenzierung und gegen veränderte Lesehaltungen, wie der vom Roman beförderten intensiven, auf Imagination ausgerichteten Lektüre, das Ideal einer kollektiven Dichtung setzt, die aus einer fernen Vergangenheit hervorgeholt wird. Die Umstellung der Fragerichtung auf die pragmatische Funktion, auf Einbettung in sozial- und mediengeschichtliche Kontexte, wie sie die politische Poetik vornimmt, eliminiert aber nicht die Frage nach dem Unterschied von Epos und Roman, auch wenn eine Kongruenz von Gattungs- und Gesellschaftssystem nicht mehr vorausgesetzt werden kann. HAIKO CHRISTIANS: Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750-2000), Freiburg i. Br. 2004, S. 29-88, hier S. 53. HUGO KUHN: Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur. In: DERS.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 41-61, hier S. 59; WEHRLI (Anm. 23), S. 25-50; vgl. FRITZ PETER KNAPP: Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des Willehalms Wolframs von Eschenbach, Wien 1970. Dabei leiten HEGELs und LUKÁCS’ Kategorien weiter die Orientierung: ‚Identität der Erzählwelt mit sich selbst‘ und ‚tragischer Untergang‘ im Epos versus ‚versteckter Sinn‘ und ‚ideelle Synthese‘ im höfischen Roman (WEHRLI), ‚Repräsentation‘ versus ‚Exemplarität‘ (FUCHS); Sage versus Märchen (JAUSS).

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andere Befunde. Die geistesgeschichtliche Perspektive deutet die neue Wegstruktur des höfischen Romans metaphorisch: „zum christlichen Leben gehört, unterwegs, auf der Suche, in Gefahr zu sein, […].“61 Solcher Lebensweg aber führt im Mittelalter trotz aller Irritationen immer zu einem vorgegebenen Ziel, zur Gabelung von Erlösung und Verdammnis. Kappt man das Ziel, wie die moderne Reflexion auf die Zeitlichkeit es tut, verändert sich auch die Teleologie der Wegmetaphorik und verlagert den Sinnhorizont in die Immanenz.62 Wenn für den höfischen Roman die Wegstruktur und „die Suche nach der Totalität des Lebens“ als „handlungsbestimmende Momente“ ausgemacht werden, sind diese zwar weiterhin LUKÁCS Parametern verpflichtet, sie sollen aber von ihren geschichtsphilosophischen, auch christlichen, Implikationen gelöst und in formgeschichtliche Bestimmungen überführt werden.63 Die strukturalistische Deutung geht diesen Weg. Wenn dem höfischen Roman aber trotz seiner ‚geschlossenen‘ Symbolstruktur auch formal in der lockeren Fügung der Episoden eine spezifische Unabgeschlossenheit und dem Helden ein ‚prinzipielles Unterwegs‘ attestiert wird, rückt der Befund schon verdächtig nahe an die moderne Konzeption des Romans.64 Von der transzendentalen Heimatlosigkeit des modernen Romans unterscheidet den höfischen Roman aber prinzipiell die fehlende subjektphilosophische Problematik, sei es als individueller Weg zu Gott oder sich selbst, sei es als Programm der Individualisierung. Das Subjekt verliert weder seinen metaphysischen noch seinen sozialen Sinnhorizont, letzterer ist allenfalls vorübergehend irritiert und wird in der Regel im Verlauf der Handlung wieder restituiert. Nicht das Leben selbst, sondern die Vergesellschaftung wird zum Problem, kann aber über den Einsatz des Helden wieder gefügt werden. Das Problem erweist sich eben nicht als eines der Psychologie der Zeitlichkeit, sondern der sozialen Werte und Rollen, deshalb dominiert auch eine finale und nicht kausale Motivationskette:65 Der Held des höfischen Romans fragt ebenso wenig ‚wa_____________ 61 62 63 64

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MAX WEHRLI: Iweins Erwachen. In: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge. Dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Hrsg. von MARIA BINDSCHEDLER/PAUL ZINSLI, Bern 1969, S. 64-78, hier S. 72. Vgl. ODO MARQUARD: Finalisierung und Mortalität. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von KARLHEINZ STIERLE/RAINER WARNING, München 1996, S. 467-475; HANS BLUMENBERG: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986. FUCHS (Anm. 57), S. 48f. WALTER HAUG sieht denn auch hier seinen Ursprung: das Ende des Romans, das höfische Fest als nur vorläufiger Abschluss, als stets bedrohter idealer Zustand der Gesellschaft, der einen neuen Angriff oder Aufbruch nach sich zieht. WALTER HAUG: Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers Ring. In: Das Fest. Hrsg. von WALTER HAUG/RAINER WARNING, München 1989 (Poetik und Hermeneutik 14), S. 157-179. FUCHS (Anm. 57), S. 47-81, hier S. 53.

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rum‘ wie der des Epos. Wie im Bildungsroman, doch nicht auf die Perspektive des Subjekts bezogen, wird der soziale Rahmen als verbindlicher Maßstab der Orientierung vorgegeben. Mittelalterliches Erzählen ist nicht auf den Begriff des Lebens bezogen, gerade weil Zeitlichkeit kein Problem ist. Die so genannten heroischen und höfischen Verhaltensmuster bilden soziale Entwürfe, sie führen aber gegenüber dem klassischen Epos immerhin schon die Konkurrenz sozialer Werte vor Augen. Koppelt die Heldensage von Gilgamesch an über Achill und Beowulf bis hin zum Hildebrandslied das Heldenleben schon an den Gedanken der Finalität des Daseins, fängt diese aber entweder christlich durch Transzendenz (Roland) oder sozial durch kulturelles Gedächtnis (Pallas, Camilla) auf, so bringt der klassische Artusroman die Wegstruktur und die Frage nach dem sozialen Sinn auf, ohne sie mit dem Lebens- und dem Todesthema in Verbindung zu bringen. Erst über die Verbindung des heldenepischen Todesthemas mit der arthurischen Wegstruktur nähert sich die Konstellation der Zeitproblematik, ohne in ihrer modernen Konfiguration aufzugehen. Im Parzival erhält immerhin am Rande die Problematik des Todes Einzug in die Märchenstruktur. Der Parzival stellt in den verschiedenen Heldenentwürfen beide Modelle nebeneinander, rückt sie paradigmatisch aneinander, ohne sie syntagmatisch zu verbinden: die Wege Gahmurets, Parzivals und Gâwâns folgen unterschiedlichen sozialen Logiken. STEPHAN FUCHS’ Opposition von Repräsentanz und Exorbitanz einerseits und Exemplarität und Individualität andererseits für alternative Heldentypen von Heldenepos und höfischem Roman zielt auf einen zentralen Aspekt: der Held als Repräsentant des Kollektivs im Epos und der Held als Vorbild für das Kollektiv im Roman. Beide Heldentypen unterscheiden sich vom modernen Romanhelden darin, dass ihnen noch eine eminent gesellschaftliche Funktion für religiöse und soziale Gruppen zukommt.66 Beide konstituieren sich aber zugleich als inkommensurable Instanzen, die über das Kollektiv hinausweisen. In beiden treten nicht nur alternative soziale Identifikationskonzepte zutage, sie sind auch je für sich gespalten. Heros und Ritter realisieren bereits aufgrund ihres unterschiedlichen Referenzraumes ein anderes Verhältnis zum Kollektiv: ‚tatsächliche Gegebenheiten in der Geschichte‘ versus ‚imaginäre Möglichkeiten in einer Märchenwelt‘; ‚tragische Geschichtserinnerung‘ gegen ‚fiktive Erwartungshaltung‘;67 die Ablösung eines erinnerungswürdigen Ereignisses (‚Tat‘) durch den paradigmatischen Weg (‚Weltverhalten‘) des Vorbilds. In diesen Oppositionen deutet sich die Entgegensetzung eines historisch _____________ 66 67

Ebd., S. 71. „Heroische Grenzerfahrung ist Erfahrung in der Geschichte und an der Geschichte.“, so HAUG (Anm. 24), S. 148. FUCHS (Anm. 57), S. 71f.

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gewachsenen politischen Ethos und einer neu aufkommenden Verantwortungsethik an. Während das Heldenepos eine historisch eindringliche Erfahrung (Katastrophe) über eine Erzählform in Erinnerung überführt und sinnhaft modelliert, eine Erfahrung, die Held und Kollektiv untrennbar aneinander bindet, reduziert sich das fiktive Erzählmodell des höfischen Romans, die Symbolstruktur, auf den Weg des Einzelnen und den Appell zur Nachahmung.68 An die Stelle des Allgemeinen, das sich über historische Erfahrung induktiv aufbaut, tritt die abstrakte Verbindlichkeit der Allgemeinheit, die sich deduktiv über Normierung konstituiert. Wie der blutleere Musterritter Gawein wird der ritterliche Märchenheld zum generalisierten Ich sozialer Existenz hochgerüstet. Sowohl das Heldenepos wie der höfische Roman verhandeln das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft auf unterschiedliche Art, aber noch nicht als konstitutiven Bruch, wie er mit dem Bewusstsein der Zeitlichkeit eintritt. Die Spannung von Held und Kollektiv bildet nur eine historische Ausprägung der grundsätzlichen Spannung von Individuum und Gesellschaft. Konstituiert sich die Identität eines Menschen über die Relation zur Gemeinschaft oder außerhalb derselben? Das ist systemtheoretisch mit Inklusions- und Exklusionsidentität beschrieben und auf die Differenz vormoderner und moderner Gesellschaften bezogen worden.69 Die Opposition ist aber hilfreich, um selbst die besonderen Spannungen sozialer Identitätsbildung im Mittelalter jenseits aller modernen Identitätsproblematik zu beschreiben. Zwar sind im Mittelalter Stand und Genealogie unabdingbare Indikatoren einer substantiell und relational verankerten Inklusionsidentität, doch weisen die Heldenmodelle des heroischen und höfischen Erzählens darüber hinaus. Der Gedanke, dass soziale Identität sich aus einem Zugehörigkeits- und einem Unterscheidungsfaktor zusammensetzt, lässt auch die innere Spannung höfischer und heroischer Identitätskonzepte in einem anderen Licht erscheinen:70 Repräsentanz und Exorbitanz hier, Exemplarität und Individualität dort. Zur sozialen Identität des Heros wie des Ritters gehört es auch, sich von allen anderen zu _____________ 68 69

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Schon nach Aristoteles’ Bestimmung zielt Dichtung auf das Allgemeine, Geschichte auf das Konkrete. Poetik I,9. Vgl. JAN DIRK MÜLLER: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von ALBRECHT HAUSMANN, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 47-64, hier S. 49f.; CORNELIA BOHN/ALOIS HAHN: Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung. Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft. In: Identität und Moderne. Hrsg. von HERBERT WILLEMS/ALOIS HAHN, Frankfurt a. M. 1999, S. 33-61; ALOIS HAHN: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt a. M. 2000. ODO MARQUARD: Identität: Schwundtelos und Miniessenz. Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion. In: Identität. Hrsg. von ODO MARQUARD/KARLHEINZ STIERLE, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 347, S. 369, S. 362; vgl. KOCH (Anm. 14), S. 70.

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unterscheiden.71 Das soziale Medium dieser ‚individuellen‘ Profilierung ist im Mittelalter oder besser in den mittelalterlichen Epen die Gewalt: Sozial wird nur der Stärkste prämiert. Vergesellschaftung erfolgt nach dem Prinzip der Unterwerfung, die immer eine Hierarchie impliziert.72 Der Heros wird erst dann zum Helden, wenn er die Grenzen des Kollektivs selbstmächtig überschreitet, noch im spektakulären Ende: „Daß der Tod heroisch ist, heißt, daß man ihn als Untergang eines Siegers stilisiert. Siegen und Sterben gehören hierbei in eigentümlicher Weise zusammen.“73 Analog impliziert auch die Ethik des höfischen Ritters ein plus ultra, das erst an der Spitze der sozialen Geltungspyramide zum Stillstand kommt. Das feudale Wertesystem basiert auf der unaufhebbaren Spannung von überlegener Gewaltdemonstration und der Notwendigkeit sozialer Integration. Das symbolische Feld, auf dem dieser Konflikt – real und narrativ – ausgetragen wird, ist die Ehre. Soziale Identität konstituiert sich über Ehre, die zum einen die Integration einer elitären Gruppe stabilisiert und ‚Distanz und Exklusivität‘ als Unterscheidungsmerkmal gegenüber niederen sozialen Gruppen etabliert.74 Zum andern reguliert sie über Ehrenkämpfe (Aventiure, Turnier, Jagd etc.), die soziale Sinnfiguren anschaulich machen, aber auch eine Hierarchie, d. h. Exklusivität und Distanz, untereinander. Der höfische Roman verdoppelt nur die Aktionsfelder, wenn er die zentrale Sinnfigur der Ehrenkämpfe – Gewaltüberlegenheit – um die Instanz der Moral ergänzt: der Stärkste auch als der Gute, ein narrativiertes Herrschaftsideal, das diskursiv auch in den Fürstenspiegeln verhandelt wird. Man kann die Gegenläufigkeit von Heldenepik und höfischem Roman nicht allein aus den Erzählmodellen ableiten. Die diesen inhärenten Spannungen in Bezug auf das Heldenbild sind solche der Adelskultur selbst. Indem die Feudalgesellschaft sich über Rivalität konstituiert und eine Dynamik von Gewalthandeln in Gang setzt und hält, gerät sie sozial in die permanente Spannung von Regelbefolgung und Regelüberschreitung. Die Taten des Heros und der Weg des höfischen Ritters zielen zwar auf verschiedene Identitätskonzepte, doch ist beiden gemein, dass sie Exklusion im Sinne von Überbietung (Rekord/recordari) nur innerhalb der _____________ 71 72

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Zum Heros vgl. die Diskussion bei FUCHS (Anm. 57), S. 69-81, hier S. 74. UDO FRIEDRICH: Unterwerfung. Das Dispositiv der Gewalt im Mittelalter. In: Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault. Hrsg. von KLAUS-MICHAEL BOGDAL/ACHIM GEISENHANSLÜKE, Heidelberg 2006 (Diskursivitäten 10), S. 141-165; RÜDIGER SCHNELL: Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 103-133. HAUG (Anm. 24), S. 149. Zur Logik der Ehre vgl. LUDGERA VOGT: Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Differenzierung. Macht. Integration, Frankfurt a. M. 1997 (Suhrkamp-Taschenbuch 1306), S. 104-115.

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Inklusion realisieren: als Opfer oder als Vorbild für das Kollektiv, d. h. als Personifikationen eines sozial anerkannten Grenzwertes. Weder hermeneutisch noch strukturell stehen Held (Teil) und Kollektiv (Ganzes) in einem Verhältnis wechselseitiger Dynamisierung, wie es in der Moderne sich einstellt. Es bezeichnet geradezu die vormoderne Signatur mittelalterlicher Heldenerzählungen, seien es heroische oder höfische, dass es zu keinem wirklichen hermeneutischen oder ‚strukturalen‘ Zirkel kommt: Das soziale System und seine Werte sind geschlossen, so dass der Einzelne sich nur innerhalb des Ganzen bewegen, es aber nicht als System dynamisieren oder verändern kann.75 ROLAND BARTHES hatte das Epos von der Erzählform her bestimmt und auf seine mangelnde Konzeptionalität hingewiesen: als „Gesamtheit mannigfaltiger Fabeln“, als „eine auf funktioneller Ebene gebrochene, aber auf der Aktantenebene einheitliche Erzählung“.76 Gegenüber dem Epos mit seiner seriellen Anordnung der Episoden zieht der höfische Roman historisch eine andere Form von Erzählordnung ein: ‚Gerüstepik‘ nennt sie HUGO KUHN, ‚Symbolstruktur‘ WALTER HAUG. Im höfischen Roman wird die Serie der Episoden in einem ‚programmatischen Zusammenhang‘ aufgefangen.77 Die Gegenüberstellung von ‚Episode‘ und ‚Ereignis‘ einerseits, ‚Geschehenszusammenhang‘ und ‚Ganzes von Welt und Weltverhalten‘ andererseits zeigt, dass die alternativen Heldenentwürfe ihnen entsprechende Erzählordnungen finden: ‚aggregative Rekonstruktion‘ versus ‚Konstruktion‘, ‚Erfahrung‘ versus conjointure, historia versus argumentum (Fiktion). Dass der neue Erzählzusammenhang des höfischen Romans auch ein moralischer ist, konstatiert FUCHS, dass er sich im literaturgeschichtlichen Prozess an heilsgeschichtlichen Mustern ausrichtet, haben HUGO KUHN, MAX WEHRLI, RAINER WARNING und zuletzt BRUNO QUAST betont: der Weg als Heilsweg.78 Paradigmatik dominiert dort, wo imitatio zum Gebot, wo ein Gesetz des Handelns angeboten wird, _____________ 75 76 77 78

Der Habitus der Figuren, d. h. die „im Prozeß der Sozialisation erworbenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster“, sind durch und durch soziale. Vgl. VOGT (Anm. 74), S. 118. ROLAND BARTHES: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: DERS.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988 (edition suhrkamp N.F. 441), S. 102-143, hier S. 121. KUHN (Anm. 59), S. 59. KUHN (Anm. 59), S. 58f., rekonstruiert einen „literaturgeschichtlichen Zusammenhang“ von Ezzos Gesang über das Annolied, die Kaiserchronik, Lamprechts Alexander und Veldekes Eneasroman, der über die dynamische Struktur der ‚Gerüstepik‘ zusammengehalten wird; WEHRLI (Anm. 23), S. 25-50; WARNING (Anm. 7), S. 25-59; BRUNO QUAST: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von BEATE KELLNER/LUDGER LIEB/PETER STROHSCHNEIDER, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 111-128.

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exemplarisch vorgeführt an einem Vorbild, in dessen Spur man sich begeben soll: ‚Ich soll ein anderer werden‘: ein Substitutionsvorgang.79 Wie das Heldenepos auch den mitleidenden Helden der Legende in sich aufnehmen kann, so zehrt auch der programmatische Zusammenhang, die Gerüststruktur des neuen Romans, vom Narrativ der Legende, das syntagmatisch die Wegstruktur eines Lebens, paradigmatisch das Vorbild und damit pragmatisch den Appell zur imitatio vorgibt. Die Legende ist die exemplarische Form der imitatio, und sie stiftet nicht nur das Syntagma des Weges und damit die Perspektive des Subjekts, von der aus das Geschehen organisiert wird, sondern auch das Paradigma des Vorbilds: Christus werden.80 Es wären somit Erzählfigurationen religiöser Art – narrative Muster der Legende (z. B. conversio, incognito, Liminalität) oder Paradigmen wie das Figuralschema -, die im Übergang vom Epos zum Roman wirksam werden und dem Erzählen vom Helden neue Möglichkeiten einschreiben.81 Über die Wegstruktur rücken Lebensmomente und Moral in die Erzählung vom Helden ein, nicht aber das Leben selbst, dessen Problematik an die Erfahrung von Zeitlichkeit gebunden ist. Wie ist nun der Befund zu deuten? Schon BACHTIN sieht den Roman in Antike und Mittelalter beginnen, und er bezeichnet Wolframs Parzival _____________ 79 80

81

„Das Vorbild ist das lebende und zum Leben wiedererweckte Gesetz; es ermöglicht, die Gegenwart zu beurteilen und sie einem Gesetz zu unterwerfen, das stärker ist als sie selbst“; MICHEL FOUCAULT: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2001, S. 85. JOLLES (Anm. 9), S. 23-59. Nur auf den ersten Blick klingt in einem Satz des Wilhelm Peraldus ein modernes Subjekt an: Qui vult navem regere, ponit se in fine navis; sic sapiens consideratione finis regit se in his quae sunt ad finem. (Wer ein Schiff lenken will, stellt sich an das hintere Ende des Schiffs; so lenkt der Weise das Schiff seines Lebens, indem er sich durch Betrachtung des Todes dahin stellt, wo das Ende seines Lebens ist.) WILHELM PERALDUS: De instructione filiorum nobilium III,9, in: THOMAE AQUINATIS […] opera omnia. Hrsg. von S. EDUARD FRETTÉ, Paris 1875, Bd. 27, S. 597; dt.: Die Pflichten des Adels, übers. von EMMANUEL VON KETTELER, Mainz 1868, S. 184. Der christliche Weg ist aber immer schon auf ein vorgegebenes Ziel fixiert: Quam purgationem quasi ambulationem quandam et quasi navigationem ad patriam esse arbitremur. Non enim ad eum, qui ubique praesens est, locis mouemur, sed bono studio bonisque moribus. SANCTI AVRELII AUGUSTINI De doctrina Christiana (CCSL XXX, 4,1) Tvrnholti 1962, I,X,10. („Wir wollen annehmen, daß diese Reinigung sozusagen eine Wanderung und gleichsam eine Schifffahrt in die Heimat ist. Denn zu ihm, der überall gegenwärtig ist, bewegen wir uns nicht durch räumliche Dimensionen, sondern durch gutes Bemühen und gute Sitten.“ AUGUSTINUS: Die christliche Bildung, übers. von KARLA POLLMANN, Stuttgart 2002, Erstes Buch, X,10, 22. Für MAX WEHRLI liegt der Übergang vom Epos zum Roman in den Auswirkungen des Christentums begründet, das im Artusroman die Vita der Heiligenlegende und die Idealität des Märchens verbindet. Die Mehrschichtigkeit des Sinns entstamme der Allegorese, die Symbolik der Märchenwelt der doppelten Wirklichkeit des Christentums, die gegenüber der epischen Episodenserie dominante Episodenstruktur ist in religiöser Dichtung vorgeprägt; die Traditionsverpflichtung (‚Wiedererzählen‘) weist Analogien mit der christlichen Exegese auf. Hinzu treten zahlreiche direkte oder angespielte christliche Motivreihen. WEHRLI (Anm. 23), S. 25-50.

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explizit als „ersten zweistimmigen deutschen Roman“, den späteren Ritterroman aber ordnet er noch der monologischen Tradition zu.82 Es gibt gute Gründe, die neue höfische Erzählform schon als romanhaft zu beschreiben. CORNELIA SCHU hat auf BACHTINs Thesen ihre Dissertation über die Romanhaftigkeit des Parzival aufgebaut. Sie identifiziert sowohl auf der Diskurs- wie auf der Figurenebene so genannte ‚Mehrfachmotivierungen‘, sie konstatiert eine Ambivalenz der Figuren, etwa Gahmurets, die die Komplexität der ‚Charaktere‘ erhöhe.83 RUTH SASSENHAUSEN deutet den Parzival literaturpsychologisch als Entwicklungsroman. Indem Wolfram gegenüber Chrétien die psychologische Entwicklung seines Protagonisten profiliere, vollziehe er den Übergang vom höfischen Epos zum Roman.84 ANNETTE GEROK-REITER arbeitet historische Formen von ‚Individualität‘ aus den höfischen Romanen heraus. Sie unterscheidet ihre Individualitätsmodelle zwar sehr genau von modernen, indem sie aus der Überlagerung und Homogenisierung heterogener Erzähl- und Normenwelten ‚abnorme‘ Figuren mit potentiellen Freiräumen herausarbeitet, aber auch für sie sind damit Entwicklungsmöglichkeiten des romanhaften Erzählens indiziert.85 Die Romanhaftigkeit des neuen historischen Erzähltyps kann überdies in der Identität einer Erzählerrolle festgemacht werden, die die heterogenen Erzählschemata zur Einheit bündelt.86 KARLHEINZ STIERLE hat schließlich die Romanhaftigkeit der Werke Chrétiens am Phänomen der Erinnerung festgemacht. Der Roman habe nicht nur ein konstitutives Verhältnis zur Schriftlichkeit, sondern auch ein ästhetisches, er bestimme sich als „Ästhetisierung der Schriftlichkeit wie als Ästhetisierung des Gedächtnisses“.87 „Ästhetisierung der Schriftlichkeit heißt hier, daß das, was die Gedächtniskultur der Schrift ausgrenzt, die _____________ 82 83 84 85 86 87

MICHAIL M. BACHTIN: Die beiden stilistischen Linien des europäischen Romans. In: DERS.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von RAINER GRÜBEL, Frankfurt a. M. 1979 (Edition Suhrkamp 967), S. 251-300, hier S. 260. CORNELIA SCHU: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit des Parzival, Frankfurt a. M. 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 2), S. 439. RUTH SASSENHAUSEN: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung, Köln 2007; KASTEN (Anm. 56), S. 51-70. ANNETTE GEROK-REITER: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 51), S. 291-308. WARNING (Anm. 7), S. 25-59. Der Einsamkeit und Sinnsuche des Helden im Wald korrespondiere die Einsamkeit und Sinnsuche des Lesers im imaginären Raum seines Buches. KARLHEINZ STIERLE: Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift. Über den Ursprung des Romans bei Chrétien des Troyes. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hrsg. von ANSELM HAVERKAMP/RENATE LACHMANN, München 1993 (Poetik und Hermeneutik 15), S. 117-159, hier S. 118.

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Unverfügbarkeit der Erinnerung, selbst in die Schrift hereingeholt wird.“88 Diese dem Proustschen Erinnerungskonzept abgelesene Perspektive spürt spezifische Formen der Erinnerung in mittelalterlichen Erzählungen auf und wertet sie als Index von Modernität. KLAUS RIDDER hat in Bezug auf den Parzival daran angeknüpft: „Figurenerinnerung und Erinnerungsstruktur verweisen als Ausprägung von Subjektivität auf eine Poetik des Erinnerns und Vergessens, die ins Zentrum der Sinnvermittlung des Romans führt.“89 Aus dieser Perspektive ist „Parzivals Weg zu sich selbst ein Weg des Erinnerns.“90 * Fokalisierung, Dialogizität, Entwicklung, Emotionalität, Individualität, Unverfügbarkeit der Erinnerung: Es sind dezidiert moderne Begriffe, unter denen der Parzival gegenwärtig in den Blick gerät, wobei die Begriffe auf ihre historische Adäquatheit zugeschnitten werden. Indem Alterität gegenüber den modernen Semantiken postuliert, aber auch auf Differenz zum heldenepischen Typus insistiert wird, eröffnet sich ein Zwischenraum für die Beschreibung von historischen Formen des Erzählens. Die Versuche, moderne Konstellationen in mittelalterlichen Texten aufzudecken, haben viel zur genaueren Lektüre beigetragen. Sie bieten überdies eine Gelegenheit, gegenüber historischen Erzählungen Distanzen abzubauen. Mit der Historisierung der modernen Terminologie geht aber bisweilen auch ihre Semantik und deren spezifisch moderne Funktion verloren. Dass Wolframs Erzählkonzept des Changierens zwischen Oppositionen modernen Darstellungstechniken entgegenkommt, ist unbestritten und an seinem Metapherngebrauch eindrücklich demonstriert worden.91 Die Anwendung moderner Terminologien und Perspektiven sollte aber als Korrektiv die Vermittlung mit dem Tradierten und die spezifisch historischen Bedingungen der Textproduktion nicht aus dem Auge verlieren. Ansonsten droht ihr ein Schicksal, das CLAUDE LÉVI-STRAUSS den Bemühungen attestiert hat, die anthropologische Grenze zwischen Tier und Mensch aufzulösen, indem man immer dezidierter die Rationalität der Primaten _____________ 88 89 90 91

Ebd., S. 119. KLAUS RIDDER: Parzivals schmerzliche Erinnerung. In: LiLi 114 (1999), S. 21-41, hier S. 22. Ebd., S. 30. Vgl. STEPHAN FUCHS-JOLIE: al naz von roete (Tit. 115,1). Visualisierung und Metapher in Wolframs Epik. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas de Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hrsg. von JOHN GREENFIELD, Porto 2004, S. 243–278.

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nachzuweisen suchte. Je mehr man Material anhäufe, so LÉVI-STRAUSS’ Kritik, umso größer werde die Kluft.92 Erinnerung aus der Figurenperspektive ist als ein zentrales Thema Chrétiens und Wolframs beschrieben worden: ein Modernitätsphänomen. Wolfram setzt aber dagegen einen doppelten Diskurs des kulturellen Gedächtnisses, der als Gegendiskurs zur Märchenstruktur des höfischen Romans angelegt scheint. Wolfram pointiert dies gerade gegenüber Chrétien. Figuren und Inszenierungsformen des kulturellen Gedächtnisses lassen sich ausmachen, die über inserierte Erzählungen inszeniert werden, Figuren, die den einzelnen in Genealogien und Exemplarik auflösen und ihn doch wieder als Besonderen hervorheben. Wolfram hält offenbar auch hier die Spannung zwischen Oppositionen aufrecht, zwischen epischem und romanhaftem Gedächtnis. Am Beispiel der Todesthematik, der Erzählung vom Tod und der Erinnerung als Bewältigungsform, wird deutlich, dass es sich um eine spezifisch mittelalterliche Konstellation handelt, in der das epische und romanhafte Gedächtnis noch zusammenfallen, moderne Zeitlichkeit aber, transzendentale Obdachlosigkeit, findet sich noch nicht. Auch bei Wolfram bleibt der Mensch angesichts des Todes erlösungsbedürftig (Anfortas), und er rechnet weiter mit dem Eingriff höherer Mächte.

_____________ 92

„So wird der Graben, den man durch tausend einfallsreiche Beobachtungen zu füllen hoffte, in Wahrheit nur versetzt und erscheint noch unüberwindlicher“. CLAUDE LÉVISTRAUSS: Natur und Kultur. In: DERS.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 49.

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„Schreib nie einen Roman aus der Perspektive einer Türklinke!“ Möglichkeiten und Grenzen einer historischen Narratologie Hildegunst von Mythenmetz, ein junger Dichter von der Lindwurmveste, kommt in eine wunderbare, unterirdische Welt, in der ein merkwürdiges Volk lebt, die Schrecklichen Buchlinge. Sie lesen nicht nur gerne, sie tragen darüber hinaus die Namen berühmter Autoren, lernen deren Gesamtwerk auswendig und werden sozusagen eins mit ihnen. Bei ihrer Geburt sind sie „leere Blätter“1 ohne Persönlichkeit, mit dem Werk des Autors nehmen sie dessen Eigenschaften an, um so zu komplexen Persönlichkeiten zu werden. Der Lindwurm Mythenmetz ist für die Buchlinge eine willkommene Abwechslung, denn er ist ein junger Dichter, der noch nichts veröffentlicht hat und daher beeinflusst werden kann: „Sie [die Buchlinge; U. K.] begriffen ihre Chance, selber dazu beizutragen, einen Künstlercharakter zu formen, direkten Einfluß auf seine Entstehung zu haben.“2 Entsprechend überhäufen sie ihren Schützling mit einer Vielzahl von Ratschlägen, denn wer sollte besser Bescheid wissen, wo die Tücken und Fehler des Schreibens lauern als die Buchlinge, die gleichzeitig eins mit dem Autor und dennoch von ihm verschieden sind? Bereits der erste Ratschlag gibt Anlass zum Nachdenken: „Schreib nie einen Roman aus der Perspektive einer Türklinke!“3 Warum sollte man dergleichen eigentlich nicht tun? Erläutert werden die Ratschläge in Walter Moers Roman Die Stadt der träumenden Bücher leider nicht, anzunehmen ist allerdings, dass es nicht so sehr die Höhe ist, die die Türklinke nicht passend als Ausgangspunkt für das Erzählen werden lässt, sondern der unveränderliche Standort. Mit ihm bleibt der Blickwinkel auf das erzählte Geschehen immer derselbe und nur ein kleiner Ausschnitt eines Gesche_____________ 1 2 3

Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher, München 2004, S. 242. Moers (Anm. 1), S. 275. Ebd.

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hens kann geboten werden. Vor allem jedoch würde man einer Türklinke nicht zutrauen, die Innenperspektive einer Figur, von der sie erzählt, einzunehmen. Auch für FRANZ K. STANZEL wäre die Türklinke keine geeignete Erzählinstanz. Er unterscheidet zwischen Innen- und Außenperspektive sowie hinsichtlich des Modus zwischen Erzähler und Reflektor. In der Kombination der Oppositionen zu Typen der Erzählung wäre in diesem Fall die Außenperspektive verbunden mit einer Erzählerfigur, die kommentiert und von den Figuren klar zu trennen ist.4 Es besteht also eine auktoriale Erzählsituation, wie sie häufig vorkommt. Allerdings steht hier der Erzähler, die Türklinke, nicht über den Dingen, sondern befindet sich einfach in räumlicher Distanz zum Geschehen. Wenn sie im Nachhinein etwas erzählt, was sie zuvor ‚erlebt‘ hat, könnte sie als Erzählerin eine Innensicht auf agierende Figuren konstruieren; zugänglich ist diese ihr aber nicht. Das muss sie auch nicht sein, so könnte man einwenden, schließlich kann ein Erzähler alles erfinden – oder darf das nur der Autor? –, entscheidend ist nur, ob der Modus telling oder showing gewählt bzw. wie zwischen den Modi gewechselt wird. Damit wäre bewiesen, dass der Rat der Buchlinge, der einem im ersten Moment so vernünftig zu sein scheint, letztlich überflüssig ist. In einer auktorialen Erzählsituation kann problemlos in die Innenwelt auftretender Figuren eingedrungen werden. Wenn der Erzähler allwissend ist, müsste es doch auch für eine Türklinke möglich sein, die Gedanken der Figuren ihrer eigenen Erzählung zu kennen. Was also stört an der Idee der erzählenden Türklinke? Für GÉRARD GENETTE5 wäre der Fall klar: Der Begriff Perspektive war in den vorhergehenden Ausführungen zu weit gefasst. Es muss unterschieden werden zwischen der Frage, wer etwas sieht und wer spricht. Entsprechend trennt GENETTE Stimme und Modus und unterscheidet drei Formen der Fokalisierung: Nullfokalisierung, interne Fokalisierung und externe Fokalisierung. Bei der Türklinke war die bisherige Annahme, dass sie sowohl spricht als auch sieht. Sie erzählt die Geschichte und blickt dazu auf die Ereignisse. Um diesen Sachverhalt zu präzisieren, müsste nun eine Erzählung konstruiert werden. Denn GENETTEs Überlegungen dienen der Erarbeitung eines Instrumentariums zum Analysieren von Prosatexten, nicht vorrangig der Diskussion erzähltheoretischer Kategorien. Die Definition der Elemente eines Erzähltextes ergibt sich bei ihm folglich aus der Analyse der Texte. Gerade deshalb muss man bei der Überlegung, wie eine Historische Narratologie aussehen könnte, zunächst auf ein bestehendes _____________ 4 5

Vgl. FRANZ K. STANZEL: Theorie des Erzählens, Göttingen 61995 (UTB 904). GÉRARD GENETTE: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Vorwort hrsg. von JÜRGEN VOGT, München 1994 (UTB).

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und funktionierendes Werkzeug zurückgreifen. Das bietet GENETTEs Narratologie in jedem Fall, und bei aller Kritik, die man an ihm äußern kann: Es gibt bis heute kein besseres. Es mag inzwischen theoretische Positionen geben, die passender zu sein scheinen, niemand aber hat seit GENETTE den Versuch unternommen, ein vergleichbar umfassendes Analyseraster zu entwickeln. Narratologie, nicht nur die von GENETTE, vor allem aber die strukturale, tritt mit dem Anspruch auf, den Text in den Mittelpunkt zu stellen, ihn und nur ihn zu analysieren, wobei er in einzelne Teile zerlegt und hinsichtlich unterschiedlicher Ebenen und Elemente untersucht wird. Der Anspruch besteht, genauer formuliert, darin, die spezifische Kombination der Elemente in einem bestimmten Text herauszuarbeiten und so die Spezifik dieses Gebildes zu ermitteln. Auf diese Weise sollen induktiv allgemeine Erzählstrukturen sichtbar gemacht werden. Dabei geht die Narratologie davon aus, dass sie ein Instrumentarium bereitstellt, das universal und zeitlos ist. Die Narratologie wäre damit gewissermaßen ein Mittel zur Vermessung der Erzählwelt. Wenn man diese ‚Anmaßung‘ akzeptiert, wird man zwei weitere Annahmen für gerechtfertigt halten: Erstens ist das die Annahme, dass narratologische Kategorien nicht nur zeitunabhängig einsetzbar sind, sondern auch keinerlei Spuren ihrer eigenen Konstruktion aufweisen. Ansonsten würde den zu analysierenden Texten aufgrund der eigenen Beschaffenheit nämlich eine Struktur unterlegt, die nicht den Texten, sondern dem Analyseinstrument zuzuschreiben ist. Genau dieses Problem stellt sich, wie noch gezeigt wird, bei der Anwendung von GENETTEs Narratologie. Zweitens ist anzunehmen, dass die durch die Narratologie beschriebenen Elemente und Ebenen genau diejenigen sind, die bei Texten unterschiedlicher Zeiten und Kulturen als die entscheidenden zu betrachten sind, dass man also keine wesentlichen Details übersieht, weil sie einem Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts nicht (mehr) im Blick sind. Hierzu gehören Qualitätszuschreibungen: Sie wirken hinsichtlich des Erzählens stets objektiv, sind tatsächlich aber einem zeitabhängigen Geschmack geschuldet. Erzählerdominanz ist nicht besser oder schlechter als das moderne Verfahren, den Erzähler bei Erzähltexten möglichst auszublenden. Kommentare mögen nicht den bevorzugten Gepflogenheiten in Erzähltexten des 20. und 21. Jahrhunderts entsprechen, müssen aber dennoch nicht von einem ‚schlechteren‘ Text zeugen. Wohlgemerkt handelt es sich dabei nicht lediglich um das übliche Problem der Literaturwissenschaft, bei der sich der Rezipient der Distanz zwischen sich und dem Text bewusst sein muss. Es ist mehr als das. Denn zu dem üblichen hermeneutischen Problem kommen in diesem Fall handwerkliche, die zu systematischen werden. Zwei davon markieren die

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Grenzen einer Historischen Narratologie, da sie den Horizont betreffen, von dem aus Leser auf Texte zugehen. Grenzziehung 1: Analyse vs. Interpretation Die strukturale Narratologie tritt an mit der Überzeugung, dass man eine Erzählung unabhängig von jeder interpretativen Sicht auf den Gegenstand untersuchen kann. Genau genommen ist das ihr eigentlicher Sinn: Eine Methode bereitzustellen, die möglichst unabhängig von individuellen Betrachtungen und subjektiven Einflüssen (vor allem des Autors und seiner Intention) funktioniert. Die Interpretation sollte, so die Überzeugung des strukturalen Narratologen, bestenfalls auf der Basis der Analyseergebnisse erfolgen und ein Standardsatz des Lehrenden in narratologischen Seminaren lautet daher: „Interpretieren Sie nicht, ordnen Sie zunächst einfach systematisch zu.“ Tatsächlich aber begegnen einem bei der Analyse immer wieder Fälle, bei denen eine vorherige Interpretation stattfinden muss, um überhaupt eine Zuordnung treffen zu können.6 Ein einfaches Beispiel kann das eben Skizzierte verdeutlichen. In der Reitergeschichte Hugo von Hofmannsthals finden sich die beiden folgenden Sätze: Als der Wachtmeister mit dem schönen Beutepferd zurückritt, warf die in schwerem Dunst untergehende Sonne eine ungeheure Röte über die Hutweide. Auch an solchen Stellen, wo gar keine Hufspuren waren, schienen ganze Lachen von Blut zu stehen.7

Die Schwierigkeit steckt in dem Wort „schienen“. Denn dessen Semantik beinhaltet einen Wahrnehmungsprozess. Jemand, der die Szenerie sieht, verknüpft seine Wahrnehmung mit einer Konnotation, die über die Farbe Rot ermöglicht wird. Es fragt sich nur, wer hier sieht. Es könnte selbstverständlich der Erzähler sein, denn immerhin beginnt der erste Satz mit einer Beschreibung dessen, was die Figur, der Wachtmeister, macht. In diesem Fall würde (nach GENETTE) eine Nullfokalisierung vorliegen. Die Definition der Nullfokalisierung signalisiert jedoch das Problem in diesem Zusammenhang. Damit ist eine Situation gemeint, in der der Erzähler „mehr weiß als die Figur, oder genauer, wo er _____________ 6

7

Eben hier setzt die kognitive Erzähltheorie an, die stärker auf Rezeptionsprozesse abzielt. Die Leser von Texten, so die Grundannahme, bringen ein Vorwissen mit, das in Modellen fassbar ist. Vgl. vor allem MONIKA FLUDERNIK: Towards a ‚natural‘ Narratology, New York 1996. Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte. In: Dichterische Prosa um 1900. Hrsg. von WOLFDIETRICH RASCH, Tübingen 1970, S. 43–54, hier S. 43.

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mehr sagt, als irgendeine der Figuren weiß“.8 Was aber heißt hier „wissen“? Das Wissen des Erzählers und des Wachtmeisters spielt überhaupt keine Rolle. Entsprechend kritisiert dies auch WOLF SCHMID: Es bleibt unklar, was unter ‚Wissen‘ verstanden wird, das allgemeine Weltwissen, das Wissen um die Handlung, ihre Umstände und Vorgeschichte oder das Wissen um das, was in einem gegebenen Moment der Geschichte im Helden vorgeht.9

Genau dieser letzte Punkt könnte hier gegeben sein. Der Wachtmeister, der sich auf einem Schlachtfeld befindet und entsprechend viel Blut zu sehen bekommt, assoziiert nun alles mit Blut, was rot ist. In diesem Fall hätten wir es mit einer internen Fokalisierung zu tun, denn der Erzähler sagt nur das, was die betreffende Person weiß.10 Man könnte jetzt zwar behaupten, es handle sich lediglich um ein Benennungsproblem und es sei letztlich egal, ob man für diese eine Stelle eine interne Fokalisierung feststellte oder nicht. Die Auswirkungen können jedoch erheblich sein. Einerseits wird die Entscheidung für einen Fokalisierungstyp bereits auf der Grundlage von Interpretation gefällt, andererseits führt die Entscheidung unter Umständen zu einer unterschiedlichen Gesamtinterpretation. Wer weiß, ob sich an diesem Punkt der Erzählung nicht ein Trauma des Wachtmeisters abzuzeichnen beginnt?11 Die Interpretation spielt demnach immer in die Analyse hinein, weshalb die beiden Schritte nicht so deutlich voneinander zu trennen sind, wie das der Narratologe gerne hätte. Für eine Historische Narratologie ist damit jedoch ein klares Hindernis benannt, denn diese Interpretation sollte tunlichst der Entstehungszeit des Textes angemessen sein, wird aber immer auch durch die Zeit und das Wissen des Interpreten beeinflusst. Die eindeutige Zuschreibung einer narratologischen Komponente benötigt nicht selten eine Horizontbestimmung im JAUß’schen Sinn. Die reine Benennung des Phänomens reicht mitunter nicht aus. Wenn die narratologischen Kategorien nicht zweifelsfrei am Text erhoben werden können, ohne dass der Narratologe interpretiert, dann muss sich die Narratologie um kulturell-historische Verstehensprozesse Gedanken machen. Genau diesen Weg beschreitet die kognitive Narratologie seit einiger Zeit: _____________ 8 9 10 11

GENETTE (Anm. 5), S. 134. WOLF SCHMID: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2005 (Narratologia 8), S. 117. Vgl. GENETTE (Anm. 5), S. 134. Besonders gut lässt sich dieses Phänomen, dass zwei oder gar mehr Fokalisierungstypen gleichermaßen plausibel zu sein scheinen, anhand von Alfred Döblins Erzählung Die Ermordung einer Butterblume zeigen. Auf den ersten Blick scheint die Erzählung extern bzw. nicht fokalisiert zu sein, auf den zweiten handelt es sich jedoch um eine interne Fokalisierung und die Darstellung einer fortschreitenden Wahrnehmungsstörung des Protagonisten.

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Es geht somit um die Frage, wie sich die Bedeutung literarischer Phänomene im Prozeß der Rezeption konstituiert. Der zentrale Unterschied zwischen solch einer Fragestellung und den Schwerpunkten der strukturalistischen Narratologie liegt auf der Hand: Letztere ist nicht an der Rezeption und dem Zusammenspiel zwischen Text und Leser interessiert, sondern literarische Phänomene werden vorwiegend textimmanent beschrieben und erklärt.12

Demnach ist das Zusammenspiel zwischen Text und Leser stärker zu beachten. Es besitzt aber immer auch eine historische Dimension. Grenzziehung 2: Das Zusammenfallen getrennter Elemente im Analyseprozess Dass die Entscheidung für einen Fokalisierungstyp eine Angelegenheit der Interpretation ist, liegt, wie schnell zu erkennen ist, nicht an Hugo von Hofmannsthal, sondern an GENETTE, der für seine Typologie häufig kritisiert wurde und auf diese Gegenstimmen selbst reagiert hat.13 Besonders die Möglichkeit einer unfokalisierten Erzählung wurde von Theoretikern angezweifelt, unter anderem weil sie ein perspektivloses Erzählen behaupte: Ein solches Konstrukt erscheint wenig sinnvoll, ist Perspektive doch in jeglichem Erzählen impliziert. Auch ein allwissender Erzähler, dessen ‚Gesichtsfeld‘ im Sinne GENETTEs nicht im geringsten eingeschränkt ist, erzählt mit einer bestimmten Perspektive.14

GENETTE selbst hat seine Kategorie der Fokalisierung stets verteidigt und hinsichtlich der Unentscheidbarkeit von Fokalisierungstypen bemerkt: Hier wie anderswo ist die Wahl rein operativ. Diese Laxheit wird sicherlich einige schockieren, aber ich wüßte nicht, warum die Narratologie ein Katechismus werden sollte, der auf jede Frage mit einem ankreuzbaren Ja oder Nein zu antworten erlaubt, wo die richtige Antwort oft genug lautet: das hängt vom Tag, vom Zusammenhang und von der Windgeschwindigkeit ab.15

Ärgerlicherweise ist die Fokalisierung aber, und das ist das Entscheidende, mit der Zuordnung der Figur zum Erzähler verknüpft. Abgesehen von dem durchaus gerechtfertigten Hinweis, dass ein solches Verhältnis nicht _____________ 12

13 14 15

BRUNO ZERWECK: Der cognitive turn in der Erzähltheorie: kognitive und ‚natürliche‘ Narratologie. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von ANSGAR NÜNNING/VERA NÜNNING, Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), S. 219–242, hier S. 220. Vgl. den zweiten Teil der deutschen Übersetzung (Neuer Diskurs der Erzählung), GENETTE (Anm. 5). SCHMID (Anm. 9), S. 118. SCHMID fasst in diesem Kapitel die Haupteinwände gegen GENETTE bezüglich der Erzählperspektive zusammen. GENETTE (Anm. 5), S. 242

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besonders gut über die Bestimmung eines nicht weiter spezifizierten Grades an Wissen beschrieben werden kann, ist es auffällig, dass GENETTE Stimme und Modus ausdrücklich voneinander trennt, dann aber die Fokalisierung an den festen Punkt des Erzählers bindet, die beiden Bereiche also wieder miteinander verschränkt. Der Fokalisierungstyp bestimmt sich folglich allein durch den Bezug auf einen festen Punkt, eine Instanz, die über allem steht und die Informationen filtert, wie sich u. a. an der Erzählerdefinition BITIs sehr schön zeigt: „Im fiktionalen Erzählen ist der E. [Erzähler; U. K.] die Stimme, welche die Verantwortung für die narrative Äußerung übernimmt […].“16 Im narrativen Text herrscht eine klare Hierarchie, der Erzähler steht über allem, selbst wenn er unauffällig im Hintergrund bleibt. Die Tatsache, dass ein Fokalisierungstyp allein dadurch bestimmbar wird, wie sich das Wissen eines Erzählers zu seinen Figuren verhält, ob er mehr oder gleich viel wie seine Figuren weiß, rückt die Narrationsinstanz derart in den Mittelpunkt der Theorie, dass sie von einem Autor teilweise kaum noch zu trennen ist. Wenn beispielsweise entschieden werden muss, wie sich Ebenen zueinander verhalten oder wann Sequenzen als rückblendend (analeptisch) oder vorausdeutend (proleptisch) einzustufen sind, schwingt bei jeder Beobachtung die Voraussetzung mit, dass diese spezifische Gestaltung von einer Instanz ausgeht, die aus bestimmten Gründen – und hier lauert die verbannte Autorintention hinter jedem Satz auf ihre Rückkehr in maskierter Form – eine Geschichte so und nicht anders angeordnet, narrative Grenzüberschreitungen zwischen Erzähler- und Figurenebene (Metalepse) oder dergleichen als Hinweise für den Leser zugelassen hat oder hinter eine Figur zurückgetreten ist. Somit schaut der vom Strukturalismus einst für tot erklärte Autor, dem man herkömmlich Entscheidungen für Gattungen, Stil und Erzählweise zuspricht, hinter dem Rücken des Erzählers wieder hervor. Die saubere theoretische Trennung wird in der praktischen Analyse, und vor allem in der Beschreibung derselben, zu einem nicht unerheblichen Problem. Denn auf diese Weise hängen Elemente und Ebenen, die zunächst fein säuberlich getrennt und auseinander genommen wurden, wieder zusammen, und die Instrumente der Narratologie wirken weniger nützlich für trennscharfe Analysen. Damit liegt der Verdacht nahe, dass sich die Narratologie um den Erzähler als Mittelpunkt gruppiert und dass sich alle Elemente nur in Abgrenzung von der Erzählinstanz bestimmen lassen. Aufgrund der systematischen Trennung der Bereiche in GENETTEs theoretischer Darstellung fällt dies nicht sofort auf – die Zweifel entstehen bei _____________ 16

VLADIMIR BITI: Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe, Reinbek bei Hamburg 2001 (Rororo 55631), S. 202.

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mehrfacher Anwendung des Instrumentariums. Genau an dieser Stelle aber bieten andere erzähltheoretische Konzepte wenig Ausweichmöglichkeiten, denn auch sie stellen den Erzähler ins Zentrum der Betrachtung – was darauf hinweist, dass diese Kategorie den entscheidenden Ansatzpunkt bietet. Greifen wir wieder auf unsere Türklinke zurück. Vorhin wurde darauf verwiesen, dass man, um ihren Status bestimmen zu können, eine Erzählung konstruieren müsse. Bei dem Versuch, dies zu tun, wird vor allem eines auffallen: Wenn wir davon ausgehen, dass die Türklinke erzählt, müsste sie, damit wir überhaupt bemerken, dass eine Türklinke spricht, sich als Erzählerin vorstellen und daher – wenigstens kurzzeitig – in die Ich-Form wechseln. Dabei müsste es sich aber nicht um den Wechsel von einem hetero- zu einem homodiegetischen Erzähler handeln. Man könnte die Leseransprache der Türklinke ebenso gut als Wechsel der Ebene – von der Diegese zur Narration – begreifen. Insofern wäre die Situation noch zu retten. Damit der Erzähler aber glaubwürdig bleibt, müsste im Verhältnis zum Geschilderten einleuchten, dass eine Türklinke die Ereignisse tatsächlich wissen kann. Und hier erkennt man, dass das Problem gar nicht so sehr mit der Perspektive, sondern mit der Erzählinstanz zu tun hat. Für die Fokalisierungstypen ist nämlich nicht nur entscheidend, ob der Erzähler mehr, weniger oder ebensoviel weiß, es geht auch darum, ob wir Leser dem Erzähler zutrauen, mehr, weniger oder ebensoviel zu wissen. Daraus folgt zweierlei: Erstens ist ein Erzähltext nicht hinsichtlich seiner Struktur beschreibbar, wenn man nicht imstande ist einzuschätzen, wie der historische Blick auf die Erzählinstanz gewesen sein mag. Zweitens ist anzunehmen, dass die Elemente narratologischer Analyse in dieser Anordnung und in diesem Bezug aufeinander nicht überzeitlich auf Texte anwendbar sind, ohne dass das Ergebnis über die Instrumente vorweggenommen wird. Vermutlich nämlich sind die narratologischen Konstrukte der einzelnen Narratologen selbst Kinder ihrer Zeit und literaturwissenschaftlicher Gepflogenheiten. Daraufhin sollten meines Erachtens erzähltheoretische Positionen noch einmal gründlich geprüft werden. Nur so könnte herausgefunden werden, welche unterschiedlichen Konstellationen und Denkrichtungen möglich sind. Die Grenzen der Historischen Narratologie – der Narratologie überhaupt – liegen in der spezifischen Struktur der Theorie, die eine literaturwissenschaftliche Sicht auf Literatur zu einer bestimmten Zeit spiegelt. Diese gilt es genauer zu untersuchen, um auszuloten, wie sehr die Theorie die Analyse beeinflusst. Besonders zentral scheint in allen Theorien der Erzähler zu sein, der mal mehr, mal weniger deutlich mit dem Autor identisch wird.

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Selbst bei einer streng strukturalistischen Betrachtung eines Textes stellt sich in der analytischen Beschreibung (nicht in der Theorie!) früher oder später in allen Bereichen (selbst bei etwas scheinbar so Unverfänglichem wie der Sequenzeinteilung) die Frage, auf wen die Gestaltung der Geschichte als Erzählung zurückgeht. Die Erzählinstanz thront über allem, und die Tatsache, dass man gerne von ‚Instanz‘ spricht, um dem Erzähler ein wenig von seiner menschlichen Gestalt zu nehmen, ändert nichts daran, dass wir die Türklinke vor allem deshalb ungern als Erzählerin akzeptieren wollen, weil sie nun einmal ein lebloser Gegenstand mit eingeschränkten Fähigkeiten ist. Schließlich bekommen schon Autoren, die Kinder zu Protagonisten (oder gar Erzählern) ihrer Romane machen, Schwierigkeiten mit Kritikern, die permanent prüfen, ob man dem Erzähler seinen Kindheitsstatus glauben kann. Selbst ein Roman wie Tiertage von Henning Ahrens, in dem der Rammler Mr. Allyours und der Reiher Fledgling McFeather eine zentrale Rolle spielen, bedient sich eines heterodiegetischen Erzählers, um sich die Sicht in die Menschenwelt freizuhalten.17 Der Text Altwerck Aspirator von Georg Klein hingegen, den dieser am 9. Juli 2005 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte, wird zwar aus der Sicht eines Teppichs erzählt, die Perspektive aber an einigen Stellen gebrochen, um die Gedanken des Teppichbesitzers Thomas vermitteln zu können, was vermutlich an der Entscheidung für den Ich-Erzähler Teppich liegt. Die Grenzen einer Historischen Narratologie auf der Basis des strukturalen Analyseinstrumentariums sind damit beschrieben. Sie liegen dort, wo die Kategorien weniger überzeitlich anwendbar sind als gedacht. Damit gerät jede Textuntersuchung zu einer simplen Zuordnung von Textteilen zu den bereit gestellten narratologischen Schemata, ohne dass die historische Spezifik des Untersuchungsgegenstands getroffen werden kann. Daraus sollte nun aber nicht gefolgert werden, dass die Textanalyse an sich überflüssig ist. Es scheint vielmehr angebracht, die Kategorien der strukturalen Narratologie aufzugreifen und mit rezeptionstheoretischen Überlegungen zu verbinden. Die Möglichkeiten einer Historischen Narratologie Da offensichtlich die Erzählinstanz eine entscheidende Rolle spielt und sicherlich in einer Zeit vorherrschender Mündlichkeit gesondert zu analysieren wäre, müsste der erste Schritt hin zu einer Historischen Narratologie eine Klärung der Stellung und Funktion des Erzählers in der Diegese sein. Gemeint ist also nicht so sehr das Hervortreten eines Erzählers als _____________ 17

Henning Ahrens: Tiertage, Frankfurt a. M. 2004.

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Erzählender, das heißt auf der Ebene der Narration, sondern die Präsenz einer ordnenden Instanz im Text. Dabei müsste besonderes Augenmerk darauf zu richten sein, wie stark markiert diese Erzählerposition an denjenigen Stellen ist, an denen sie eben nicht ausdrücklich auf sich als Erzähler verweist. Dazu sind zahlreiche Analysen von Texten verschiedener Zeiten vonnöten, die eventuell auf der Basis vergleichbarer inhaltlicher Sequenzen Erzählbeschreibungen vornehmen. In dem Märe Der enttäuschte Liebhaber von Johann Werner von Zimmern aus dem 15. Jahrhundert beispielsweise berichtet ein Ich-Erzähler von seinem abendlichen Zusammentreffen mit einer jungen Frau auf einem Tanzfest bei Aachen.18 Er hat sie beobachtet und für einen Annäherungsversuch ausgewählt. Der aber geht gründlich schief, sie empfindet die Worte des Mannes als beleidigend und beschimpft ihn derart, dass er die Fassung verliert, kaum noch stehen kann und fast zu weinen beginnt. Die Gefühle, die der Werbende empfindet, werden nicht nur direkt benannt (ganz trurig was ich getan, V. 126), sondern über ihre Wirkung auf das Handeln des Erzählers mitgeteilt. Aufgrund der Tatsache aber, dass der Ich-Erzähler sich als nachträglicher Berichterstatter bereits zu Anfang einführt, ist klar, dass es eine Distanz zwischen dem erzählenden Ich (der Narrationsebene) und dem Ich, das die Hauptfigur der Diegese ist, gibt. Der Erzähler berichtet demnach von Effekten, die er zu erinnern behauptet und gibt Gedankengänge direkt wieder, die nachträglich konstruiert sind. Wie sie in Text umgesetzt werden, könnte für eine Historische Narratologie aufschlussreich sein. Ganz ähnlich sind Inhalt und Erzählsituation in Thomas Manns Erzählung Der Bajazzo.19 Der Ich-Erzähler präsentiert sich zu Beginn als Schreibender, der in einem Heft seine Geschichte niederschreibt. Auch in dem Vergleichstext also wird eine Distanz zwischen dem Ich der Narration und dem Ich, von dem berichtet wird, betont. Der Unterschied ist, dass der Erzähler bei Thomas Mann seine Erlebnisse niederschreibt, der der Erzählung des 15. Jahrhunderts im eigentlichen Sinn des Wortes e r z ä h l t . Hinsichtlich der Distanz zwischen Narration und Diegese scheint dies keinen Unterschied zu machen, sicherlich aber, was die Imagination des Rezipienten betrifft. Ebenso wie in dem Märe hat die Hauptfigur der modernen Erzählung ein Auge auf ein junges Mädchen geworfen. Anders als dort ist sie nicht verheiratet, steht jedoch kurz vor der Verlobung, ohne dass der Protagonist dies zu diesem Zeitpunkt weiß. Bei einer Veranstaltung, bei der sie _____________ 18 19

Vgl. Johann Werner von Zimmern: Der enttäuschte Liebhaber. In: Die deutsche Märendichtung. Hrsg. von HANNS FISCHER, Tübingen 1966, S. 300–329. Vgl. Thomas Mann: Der Bajazzo. In: DERS.: Erzählungen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983, S. 79–112.

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Wein verkauft, geht er auf sie zu. Bei ihr steht ein Mann von etwa 30 Jahren, den der Ich-Erzähler bereits mehrfach mit der jungen Dame gesehen hat. Kaum tritt der Ich-Erzähler zu den beiden, schweigen diese. Das Gefühl, das sich bei dem jungen Werbenden in Manns Erzählung nach der Ablehnung einstellt, ist dem des Liebenden im Märe des 15. Jahrhunderts höchst ähnlich.20 Anders ist nur der Vermittlungsweg, der dann auch zu einer anderen Rezeption führen muss. Im Märe bleiben die an der Sinnkonstitution beteiligten Instanzen sauber getrennt. Der Ich-Erzähler berichtet von den Gedanken, Gefühlen und Handlungsweisen des jungen Mannes, der er selbst ist. Dessen Zustand wird ausgelöst durch Worte der Angebeteten. Direkte Reden der Frau führen zu unmittelbaren Wirkungen bei dem Mann. Der Berichterstatter bei Thomas Mann zeigt in der Darstellung des Erlebten sehr viel weniger Distanz zu seinem früheren Ich – obwohl die Ebenen im beschriebenen Sinn systematisch in gleicher Weise getrennt bleiben. Dies liegt daran, dass er das Gefühl der Peinlichkeit und Unsicherheit nicht durch konkrete Worte oder Handlungen der jungen Dame begründet, sondern durch die Interpretation ihrer Blicke und die Antizipation ihrer Urteile über ihn. Es wird zwar die Sicht der jungen Frau auf die Hauptfigur geboten, aber nicht unabhängig von dessen Filterung. Der Blick geht sozusagen von dem Sprecher über die anderen Figuren auf sich zurück: Die Konversation brach ab, der Wohlbekannte trat einen Schritt zur Seite, indem er mit allen fünf Fingern sein rand- und bandloses Binokel erfaßte und mich zwischen diesen Fingern hindurch betrachtete, und die junge Dame ließ einen ruhigen und prüfenden Blick über mich hingleiten, – über meinen Anzug bis auf die Stiefel hinab. Dieser Anzug war keineswegs neu, und diese Stiefel waren vom Straßenkot besudelt, ich wußte das.21

Signalisiert wird auf diese Weise, dass die Frau nicht wirklich als Person für den Ich-Erzähler entscheidend ist. Er setzt sich nicht mir ihr, sondern mit sich selbst auseinander. Sie ist lediglich der Anstoß. In dem Märe dagegen steht das Verhalten des Mannes und seine Fähigkeit, in Kommunikationssituationen erfolgreich zu sein, auf dem Prüfstand. Der IchErzähler ist zwar ebenfalls in seiner Hilflosigkeit befangen, aber nicht grundsätzlich und dauerhaft. Das soll nun keinesfalls heißen, dass ein Märenautor des Spätmittelalters noch nicht in der Lage war, so wie ein Thomas Mann zu schreiben. Gerade um solche Urteile angeblicher Unfähigkeit zu widerlegen, ist es nötig, an einem elaborierten Analyseinstrumentarium zu arbeiten. Auch in mittelalterlichen Texten gibt es Stellen mit einer derartigen Blickumlen_____________ 20 21

Mann (Anm. 19), S. 102: „Unsicherheit, Hilflosigkeit, Haß und Jämmerlichkeit verwirrten mir den Blick [...].“ Mann (Anm. 19), S. 102.

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kung, die im Übrigen nicht an eine homodiegetische Erzählinstanz gebunden ist. Bevor Vermutungen über das Erzählrepertoire einzelner Epochen angestellt werden, sollte dieses Repertoire erst einmal umfassend ermittelt werden. Dazu jedoch muss das GENETTE’sche Instrumentarium im Sinne einer rezeptionsorientierten Narratologie verfeinert werden. Besonderes Augenmerk sollte dabei dem Erzähler als der für den Leser entscheidenden Instanz zukommen. An sich ist der Erzähler aber deutlich weniger wichtig, als man glaubt. Abgesehen davon, dass die Theorie ihm einen derart hohen Stellenwert zuweist, gibt es keine Notwendigkeit anzunehmen, dass er s y s t e m a t i s c h wichtiger ist als die Figuren – es sei denn, man setzt ihn heimlich mit dem Autor gleich. Der Erzähler ist ein Fixpunkt in einem Gebilde mit vielen Variablen, das unterscheidet ihn von anderen Elementen des Textes, hebt ihn aber deshalb noch lange nicht heraus. Wie sehr unsere Sicht auf den Erzähler durch eine alte Tradition geprägt ist, zeigt sich, wenn man sich einmal die Frage stellt, wer eigentlich in einem anderen Medium, dem Film, die Erzählerposition einnimmt. Man ist in diesem Fall versucht, sofort auf die Kamera als festen Punkt zu verweisen, bemerkt dann aber schnell, dass eine voice over narration und die Existenz vieler anderer Komponenten filmischen Erzählens gegen diese Annahme sprechen. Ebenso deutlich wird bei dieser Betrachtung außerdem, dass ein Film oder ein Prosatext zwar in ihre Einzelteile zerlegt werden können, das Zusammenspiel und die Bedeutung der einzelnen Teile aber die Angelegenheit des Rezipienten ist. Wie an dem Beispiel der Türklinke deutlich geworden sein müsste, hängt nicht alles davon ab, wie die Türklinke in den Text eingebunden ist, sondern fast ebenso viel davon, was wir als Leser ihr zuschreiben und zutrauen. Insofern sollte der inzwischen so beliebte unreliable narrator nicht als existent, sondern als notwendiges Konstrukt des Lesers behandelt werden. Ein Erzähler an sich ist niemals unzuverlässig, er wird bestenfalls als unzuverlässig empfunden. Ähnlich wie bei einer narratologischen Filmanalyse könnte man daher versuchen, ein narratologisches Analysemodell zu entwickeln, das den Erzähler als ein Element unter mehreren beschreibt, also eine hierarchische Abstufung vermeidet. Dass seine Funktionen andere als die der Figuren sind, bliebe dadurch unbestritten. Auf diese Weise ergäbe sich ein Konstrukt, das sich vor allem zwei Fragestellungen widmet: 1. Welche Funktion haben unterschiedliche Elemente innerhalb eines Erzähltextes? 2. Welchen Status schreibt ein Leser den Elementen aufgrund ihrer Funktionen und Positionierungen im Text zu? Das Problem, das in Verbindung mit dem zweiten Punkt auftritt, liegt auf der Hand und dürfte unabhängig vom Alter des Textes sein. Selbst

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wenn man einen Modell-Leser für einen Text konstruiert, muss man wissen, wie man diesen für eine bestimmte Zeit anzulegen hat. Eben dafür dienen die bereits angemahnten Analysen, die trotz aller Probleme mit dem narratologischen Instrumentarium den Blick auf den Textaufbau lenken könnten. Wenn man das ernst nimmt, kann man tatsächlich eine Art grundlegender Erzählstruktur ermitteln, die sich in einer Zeitspanne gegebenenfalls mehrfach finden lässt. Es sollte demnach bei einer Historischen Narratologie weniger darum gehen, wie Stellen in Erzählungen historisch ‚richtig‘ verstanden und interpretiert werden können, sondern wie sie präsentiert und gekennzeichnet werden. Dafür allerdings sind umfassende und vertiefte Analysen notwendig, die mit einer Verfeinerung der analytischen Mittel interagieren sollten. Die mittelalterliche Literatur bietet in dieser Hinsicht ein reiches und vielfältiges Material an.

HARALD HAFERLAND und MATTHIAS MEYER

Streitgespräch H. H.: Lieber Matthias, als wir uns das letzte Mal sahen, haben wir uns über die Reichweite des Begriffs der Erzählperspektive – und/oder der Fokalisierung (dieser Begriff bringt andere analytische Konnotationen ins Spiel, die wir einstweilen ausklammern sollten) – gestritten. Mir erschien es nämlich unvertretbar, ihn auf mittelalterliches Erzählen anzuwenden. Die Diskussion darüber lässt sich beispielhaft führen, denn das damit verbundene Problem stellt sich mehr oder weniger zugespitzt wohl für viele Begriffe der Narratologie, ja es stellt sich selbst für so grundlegende Begriffe wie ‚Roman‘, ‚Fiktion‘ und ‚Erzähler‘, auch wenn das Problembewusstsein dafür in den letzten Jahrzehnten vielfach abgebaut worden ist – abgebaut zuletzt wohl auch über einen weit reichenden Geltungsanspruch der Narratologie und ihrer kaum historisierten Beschreibungsbegriffe. Ich spiele darauf an, dass in der Roman- und Ästhetiktheorie von HEGEL bis LUKÁCS und darüber hinaus ein bestimmter Zusammenhang immer präsent gehalten wurde, der heute eine immer geringere Rolle spielen dürfte: der von Erzählform und Gesellschaft, und zwar einer Gesellschaft im besonderen Stand ihrer historischen Entwicklung und dann auch einer entsprechend verstandenen Erzählform. Dass man mit bestimmten Begriffen nicht einfach hinter eine bestimmte Linie zurück kann, hat doch seinen Grund darin, dass zwischen dem Mittelalter und der Moderne eine vielfach gestaffelte Modernitätsschwelle liegt. Vom wissenschaftlich-technischen Wandel bis zum Wandel mentaler Strukturen (hier hin zu einer Entzauberung der Welt, ja seit der Aufklärung zu einer Erlösung von Gott), vom sozioökonomischen Wandel bis zum Wandel kultureller Muster (hier hin zu einer Rationalisierung, ja auch Textualisierung der Welt bis zu den Dimensionen von Hypertext und Internet-Chat) stellen sich Lebensbedingungen und selbst gemachte Lebenswirklichkeit des Menschen fundamental um. Hiermit hängt es zusammen – auch wenn es sicher ein Problem bleibt, wie man den Zusammenhang formulieren und erklären will –, dass man das Epos ebenso ungern einen Roman nennen möchte wie die feudale Königsherrschaft einen Staat. Nun sind solche Verwendungsweisen allerdings längst eingerissen

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oder wurden ursprünglich naiv gebraucht und nicht weiter reflektiert. Trotzdem erscheint mir der Differenzierungsgewinn bei Verwendung zweier Begriffe günstiger und gewichtiger als der Vereinheitlichungsgewinn, wenn man den modernen Begriff rückwärts ausgreifen lässt. Wenn sich doch Herrschaftsformen und Erzählformen wandeln, sollte man dem auch ein begriffliches Gewicht geben. Die Modernitätsschwelle rückwärts immer weiter auszudellen, ist ein ebenso verbreitetes wie vordergründiges Verfahren, das gern auch für die Interpretation von mittelalterlichen Texten ausgenutzt wird. Das Verfahren bedient sich einer charakteristischen Begriffsstrategie: es exportiert die an der Beobachtung moderner Lebensverhältnisse und Texte gewonnenen Begriffe in die Vergangenheit. Die Modernitätsschwelle liegt freilich nicht vor dem 13., sondern zwischen dem 13. und 20. Jahrhundert. Wir sind bei dem methodisch-sachlichen Gesichtspunkt der Alterität, von dem aus ich unsere Diskussion noch einmal aufrollen möchte. Dass es Kontinuitäten gibt, ist dabei von vornherein unbestritten. Der Homo sapiens bleibt Homo sapiens, ob er unter einer Königsherrschaft oder in einer Parteiendemokratie lebt (oder in der Savanne). Wohl bleibt auch Erzählen Erzählen, ob im archaischen Mythos oder im modernen Roman. Ist es aber sinnvoll, das ganze deskriptive Instrumentarium weitestgehend konstant zu halten, als hätte man es mit einem durchgängig konstanten Gegenstand zu tun? Man hat es in der Tat, wenn man auf den Homo sapiens oder die anthropologische Konstante eines Homo narrans abhebt. Von hier aus kann man allgemeine Trivialitäten formulieren oder einfach Fehler begehen: Ein Epos – und schon gar ein Mythos – ist sowenig eine Romanfiktion wie die feudale Königsherrschaft ein konstitutioneller Staat. M. M.: Ich fange am Ende an: Ein Epos ist keine Romanfiktion – aber Du hast bislang die Begriffe einzig aus nicht-literarischen Kriterien heraus definiert, nämlich aus ihrer Zugehörigkeit zu Gesellschaftssystemen. Und Du hast die teleologische Ordnung der Literatur eines HEGEL und eines LUKÁCS bruchlos übernommen. Das kann man tun – besonders, wenn man eine ordentliche Geschichte schreiben will, eine Geschichte allerdings, die schon vor der Aufgabe, eine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, kapitulieren würde. Besonders schwierig scheint mir die Voraussetzung einer Teleologie zu sein. Wie Du weißt, wird in anderen Definitionen diese Teleologie der Formen aufgegeben, Epos und Roman in eine prinzipielle Gleichzeitigkeit gesetzt. Der Satz, dass ein Epos kein Roman ist, bleibt bestehen, wohl aber muss man fragen, welcher Text ein Epos und welcher ein Roman ist – eine Differenzierung, die mir sinnvoller, weil aussagekräftiger erscheint als die bloße Historisierung literarischer Phänomene ohne Rücksicht auf die Phänomene selbst. Dass

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in verschiedenen Diskursen Epochenschwellen auftreten, ist keine strittige Frage, aber es ist wohl auch deutlich, dass es nicht eine prinzipielle, sondern viele diskursspezifische Epochenschwellen gibt. Von der Idee einer Teleologie allerdings möchte ich mich verabschieden: Sie scheint mir eine romantische Fiktion zu sein, zumindest was die Entwicklung der Literatur betrifft. Dass es im Mittelalter (wie übrigens auch in der Moderne, nur sind sie dort vielleicht schwieriger zu finden) Texte gibt, die man nach verschiedenen Definitionen erfolgreich als Epos definieren würde, wird von mir nicht bestritten. Dass man den Begriff der Fiktion nicht einfach deckungsgleich mit Literatur setzen sollte, auch nicht. Doch gelten diese Vorbehalte ebenfalls genauso für moderne Texte. Gleiches gilt für Begriffe wie Fokalisierung, Perspektive etc. Es kann durchaus sein, dass es im Mittelalter – wie zu jeder anderen literarischen Epoche – Texte gibt, auf die man ein solches literaturwissenschaftliches Instrumentarium nicht sinnvoll anwenden kann, weil die Phänomene fehlen. Zu behaupten, es dürfe sie nicht geben, weil eine historische Epochengrenze dazwischen liegt, ist schlicht arbiträr. Interessant wäre nun aus meiner Perspektive besonders die Frage der Zwischenschritte: Du arbeitest mit distinkten Grenzen – im Grunde mit einer Opposition. Ich setze dagegen einen Prozess, der nicht durch eine unüberwindbare Alteritätsschwelle gekennzeichnet ist – eine Abfolge einzelner Schritte, die auch die Möglichkeit des – langsamen oder plötzlichen – Verlustes etwa von Ausdrucksweisen in literarischen Texten mit einschließt, der also nicht intrinsisch zielgerichtet verläuft. Ich gehe also nicht von einer teleologischen Entwicklung aus – oder nur in dem Sinne, als der Endpunkt der literarischen Entwicklung durch den momentanen Stand der Literatur festgelegt ist (und es muss vielleicht auch noch gesagt werden, dass dieser Stand ein gänzlich anderer ist, als ihn sich HEGEL oder LUKÁCS gedacht hätten). In der Darstellung eines solchen Prozesses der kleinen Schritte haben auch das Auftreten und Wiederverschwinden solcher Phänomene wie Fiktionalität oder ausgeprägt perspektivisches Erzählen ihren Platz. Übertragen auf eine andere Wissenschaft: Ich werde den Verdacht nicht los, dass eine Position, die eine strikte Alteritätsschwelle annimmt und das Mittelalter als das Andere konstruiert, dem gleichzusetzen ist, was man in der Biologie als kreationistisch bezeichnen würde. Ich wäre eher für einen Versuch einer deskriptiven evolutionistischen Literaturwissenschaft. H. H.: In einem bestimmten Sinn sind literarische Werke natürlich Kreationen, deshalb ist der Begriff des Kreationismus im Gegensatz zu seinem Gebrauch in der Biologie keineswegs ganz abwegig. Anders als für die

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organische Natur sollte man für die Literaturgeschichte sogar auch eine Art Saltationismus vertreten: Es muss keine graduellen, kontinuierlichen Übergänge von einer literarischen Gattung zur anderen, die gerade neu entsteht, geben – so wie im Zuge der Entstehung verschiedener biologischer Arten grundsätzlich Zwischenpopulationen anzusetzen sind –, sondern eine Gattung kann mit einem Werk aufgemacht werden, das über eine ‚Makromutation‘, einen Sprung, auftritt. Natürlich wird das Werk dabei auch ‚geschaffen‘. Der menschliche Geist macht es möglich, dass in seinem Reich Schöpfung spontan stattfindet und neue Arten bzw. Gattungen mehr oder weniger unvermittelt ins Spiel kommen. Warum dann nicht auch ein Sprung über eine strikte Alteritätsschwelle? Im Übrigen gibt es Alteritäten natürlich auch und gerade in der biologischen Evolution, und es gibt doch gute Gründe, zwischen Wirbellosen und Wirbeltieren sowie etwa zwischen Reptilien und Säugetieren im Sinne einer jeweils strikten Schwelle zu unterscheiden – auch wenn Zwischenpopulationen die Schwelle ursprünglich kontinuierlich überschritten haben. Evolution erhöht dabei die Unabhängigkeit von bzw. den Grad der Freiheit gegenüber der natürlichen Umwelt, wie denn etwa das Ausbreitungsgebiet der Säugetiere erheblich zunimmt: als Warmblüter können sie sich auch noch in kalten Landstrichen aufhalten. Evolution erzeugt also Eigenschaften, die es vorher noch nicht gab. Da die vorher existierenden Lebewesen sie noch nicht besaßen, waren sie anders (und in gewissem Sinn ‚einfacher‘). Wenn es nun aber in Gesellschaft und Literatur eine Entwicklung zu höherer Komplexität (neue Eigenschaften, mehr Unabhängigkeit bzw. größere Freiheiten) gibt – und moderne Literatur und Gesellschaft sind unbestreitbar komplexer als Mythos und Stammeskultur –, dann hat dies nichts mit Teleologie zu tun. Wo es notwendig werden sollte, von HEGEL und LUKÁCS abzurücken, kann das ja leicht geschehen. Aber auch wenn eine Zielgröße ausfällt, könnte der Begriff der Subjektivität im Sinne HEGELs bei der Bestimmung steigender Komplexität von Gesellschaft und Literatur immer noch eine Rolle spielen. Ich komme gleich darauf zurück. In der Literatur sind es insbesondere die Formen, die komplexer werden. Wo sie erhalten bleiben, produzieren sie leicht einmal Anachronismen – ich greife zu einer anschaulichen Analogie: Lange lebt das Trittbrett der Kutschen an den ersten Automodellen nach, obwohl es hier wegen der niedriger liegenden Radachsen gar nicht mehr gebraucht wird. Man kann sich offenbar nicht recht daran gewöhnen, auf die zu bloßem Dekor reduzierten Formelemente zu verzichten. Die Literaturgeschichte liefert vergleichbare Beispiele (z. B. Versepen im 18. Jahrhundert), und natürlich kann man ein Epos – was charakteristische Formelemente anbetrifft – noch verfassen, wenn es längst Romane gibt. Die Gleichzeitigkeit von

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Epos und Roman ist deshalb als Anachronismus möglich – nichts daran ist allerdings prinzipiell. Vermutlich versagen hier wiederum Parallelen zur Naturgeschichte: Die Wirbellosen sterben neben den Wirbeltieren und die Reptilien neben den Säugetieren nicht aus, aber der Mythos bleibt doch wie auch das Epos durch die Existenz des Romans nicht unberührt (wenn die Erzähler ihn kennen lernen). Beide können sich mit ihren eingespielten Formen nicht mehr in ihrem ursprünglichen Geist halten. Das ‚Reich des Geistes‘ ist eine mitwachsende, sich mit seinen Schöpfungen zugleich entwickelnde Umwelt, die dann Anachronismen deshalb auch kenntlich werden lässt. Ich habe nicht von Epochenschwellen gesprochen, sondern von der Modernitätsschwelle. Sie mag je nach Diskurs oder Kunstart versetzt und auch einmal lang gestreckt auftreten. Hat man es mit nur einer solchen Schwelle zu tun (man kann alles immer noch feiner einteilen), dann gibt es ein Vorher und ein Nachher. Die einfachste Weise, sich begrifflich hierauf einzustellen, besteht in der Einrichtung von Dichotomien zur Beschreibung dessen, was vorher war und nachher ist. Meine Behauptung ist nun, dass man vorher Dinge finden wird, die man nachher nicht mehr findet, und – gewichtiger: – dass man nachher Dinge findet, die man vorher noch nicht finden kann. Will man sich keiner Trivialisierung schuldig machen – so wenn man etwa für vielfach schon in Mythen begegnende Gedankenrede von Perspektive spricht oder für einen Satz wie „Als sie ihn von fern erblickten, erkannten sie ihn noch nicht“ (Hiob 2,12) –, dann wird man sich in the long run auf distinkte Phänomene einrichten und die Begriffe auseinander halten bzw. mit Rücksicht darauf verteilen. Es ist z. B. zu erwarten, dass die Darstellung von Subjektivität in einer unter Entwicklungsgesichtspunkten betrachteten Geschichte der Literatur an Komplexität entscheidend zunimmt. Was das Erzählen und seine Darstellungsformen anbetrifft, ist die Perspektive ein charakteristisches Mittel der Darstellung von Subjektivität. Was in Strether vorgeht (aus Henry James’ Gesandten), als er zu Beginn des Romans mit dem Schiff in Liverpool eintrifft, ist, was den gewählten Weltausschnitt und das Vergrößerungsformat für den erzählten Vorgang (viele Seiten für wenige und eher beiläufig-belanglose Ereignisse) in Verbindung mit der textgrammatischen Form der erlebten Rede („Immerhin würden sie [sc. Strether und sein Freund, H. H.] miteinander zu Abend essen [...]“) angeht, schwerlich in einem Text zu finden, der vor der Modernitätsschwelle liegt. Es war hilfreich, eine solche Darstellungsform mit dem Begriff der Perspektive zu bezeichnen. Es ist hilflos und fatal, den Begriff über die Modernitätsschwelle zu ziehen. Man kalkuliert schale Entdeckungen (das und das gab es da und da auch schon) und setzt zugleich die Spezifität des Begriffs und

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die adäquate Erkenntnis des durch ihn benannten Phänomens aufs Spiel. M. M.: Gerne gestehe ich zu, dass es neben Evolutionen auch Saltationen, Regressionen und (das würde wohl mit den Saltationen zusammenhängen) auch Kreationen in der Literaturgeschichte gibt. Dennoch sind diese Fälle keineswegs die Regelfälle und hängen weniger mit dem menschlichen Geist als mit dem anderen, eben nicht biologischen Paradigma zusammen, so dass der Hinweis auf die Evolution eben immer nur eine Übertragung, wie ich es genannt habe, und damit rein illustrativ sein kann. Ich würde diese Übertragung z. B. auch nicht, wie Du das getan hast (ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich richtig verstanden habe), auf die Gattungsgeschichte im engeren Sinne anwenden wollen. Epos und Roman sind allerdings keine Erscheinungen der Gattungsgeschichte, sondern Formen oder Sagweisen, die nicht nur akzidentell oder anachronistisch zur gleichen Zeit entstehen, sondern sehr wohl prinzipiell. Denn wir haben, wie an dieser Stelle deutlich wird, uns nicht darüber verständigt, auf welcher Basis wir einen Roman und ein Epos überhaupt definieren wollen. Das sollten wir nachholen. Es mag sein, dass es eine – kaum mehr rekonstruierbare – graue Vorzeit gegeben hat, in der es ein wie auch immer definiertes idealtypisches Epos gegeben haben mag, mit dem Eintritt in die Literaturgeschichte aber nähern wir uns sehr schnell der Zeit, in der beide Sagweisen parallel auftreten, im Mittelalter sind sie jedenfalls beide ausgeprägt. So jedenfalls würde ich mit BACHTIN argumentieren wollen (und in polemischer Zuspitzung hinzufügen, wenn es im Rahmen dieses Komplexes, der Frage nach der Dichotomie und Diachronie von Epos und Roman, einen Anachronismus gibt, dann ist es LUKÁCS’ Romantheorie). Wenn ich Epos und Roman eben als Formen und Sagweisen bezeichnet habe, dann meine ich damit nicht ‚Form‘ etwa im Sinne der Versform. Die Wielandschen Versromane sind Versromane (wie auch der Iwein ein Versroman ist) aufgrund der Form der Zeitkonzeption und wegen ihrer polyphonen Sprachstruktur. Um in dem Bild der Wirbellosen und der Wirbeltiere zu bleiben: Ich leugne nicht die Existenz des Epos im Mittelalter (oder zu irgendeiner anderen Zeit), wie ich auch nicht den Unterschied zwischen Wirbeltieren und den Wirbellosen leugne. Nur bestehen eben beide nebeneinander, sind durch Übergänge auseinander entstanden, und wenn man die Perspektive einnehmen möchte, dass der Roman (und die Wirbeltiere, oder der Mensch) die Krone der Schöpfung sind, dann kann man das ja tun; der Erkenntniswert allerdings ist gering, weil man nur die eigenen Voraussetzungen wieder herausbekommt. Wenn Du schreibst, dass „moderne Literatur und Gesellschaft unbestreitbar komplexer als Mythos und Stammeskultur“ sind, dann muss man Dir natürlich zustimmen – das hätte ich auch nie bestritten. Aber weder

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ist das Mittelalter eine Stammeskultur, noch ist der Artusroman ein Mythos, auch wenn er (wie auch postmoderne Literatur) mythische Elemente enthalten mag. Und ob ich die implizite Annahme, dass eine komplexere Gesellschaft auch immer notwendigerweise eine komplexe Literatur hervorbringt, so einfach teilen soll, weiß ich nicht – sie mag in einer sehr begrenzten und zeitlich eingeschränkten Höhenkammbetrachtung funktionieren, scheint mir aber an sich eine optimistisch-teleologische Konstruktion zu sein. (Das Problem, dass man Deine Perspektive sowieso nur einnehmen kann, wenn man eine solche Höhenkammbetrachtung betreibt, möchte ich allerdings momentan ausklammern.) Mein Problem mit Deiner Argumentation besteht nun darin, dass ich angesichts einer Vielzahl von einzelnen Epochenschwellen, von einzelnen Entwicklungsschritten, von denen ich nicht den Eindruck hatte, dass Du ihr Vorhandensein bestreitest, angesichts der Forderung einer prinzipiellen Modernitätsschwelle, die auch noch in verschiedenen Diskursen an unterschiedlicher Stelle und mit unterschiedlicher Breite konstruiert wird, Probleme habe, sie mir vorzustellen – und ebenfalls Probleme habe, mir vorzustellen, warum man ihrer zu bedürfen meint. Heißt das konkret: Die Modernitätsschwelle liegt in der Literatur zu einer anderen Zeit als in der Musik, in der erzählenden Literatur zu anderer Zeit als in der Lyrik, in der großformatigen Erzählung zu anderer Zeit als in der Kurzerzählung – oder im System Kunst (was immer das ist) zu anderer Zeit als in der Physik? Für all diese Beispiele ließen sich, denke ich, Argumente finden. Schon allein die Pluralität der Modernitätsschwellen, von denen es jeweils nur eine gibt, finde ich eine bedenkliche Konstruktion. Außerdem – das ist keine polemische, sondern eine wirklich ernst gemeinte Frage – ist mir nicht klar, was eigentlich inhaltlich genau um diese Modernitätsschwelle herum gruppiert, wie die Argumentation inhaltlich gefüllt wird. Denn Du hast ein Verfahren, die Bildung von Dichotomien, genannt, das ein einfaches und nachvollziehbares Vorgehen verspricht, inhaltlich aber sind wir bislang nicht über den Streit über die Konzeptualisierung von Entwicklung hinaus gekommen. Als ich mehr als aus der Luft gegriffenes Beispiel die Frage nach der Modernitätsschwelle in der Literatur und Musik genannt habe, hat sich bei mir die Frage angeschlossen, wann ich die Modernitätsschwelle in der Musik ansetzen sollte: Mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit? Mit der Entwicklung der Dur/Moll-Harmonik? Mit der enharmonischen Auflösung dieser Harmonik? Mit der Dodekaphonie? All das scheint mir sinnvoll, aber die Frage andererseits wenig relevant. Liegt das daran, dass die in der Literatur so relevante (und ja auch von uns als Ausgangspunkt gewählte Frage) der Subjektivität immer mit der Frage der Modernität zusammengedacht wird, diese Frage aber in der Musik – wenn überhaupt – gänzlich anders gestellt wird? Anders: Brauchen wir die Moder-

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nitätsschwelle eigentlich für die Beschreibung der Phänomene in der Literatur oder aber zur Abgrenzung unseres Selbstbildes, unserer modernen ‚Subjektivität‘, die wir so durch Errichten einer Modernitätsschwelle hilflos und fatal von ihrer Geschichte abschneiden, bzw. sie nur dadurch aufrecht erhalten können, dass wir setzen, dass früher alles anders war? Zu den drei von Dir genannten Beispielen zur Perspektive (Gedankenrede, das Hiob-Beispiel, Henry James), die für Dich klar gegliedert sind, würde mich dagegen gerade das vermutlich in der Mitte liegende Phänomen der Darstellung der Gedankenrede interessieren: Wenn es in einem Text (sei er prämodern, modern oder postmodern) längere, konsistente Passagen gibt, die in direkter Rede, Gedankenrede und Autorrede konsistent die Perspektive einer Figur in klarem Unterschied zur auktorialen Perspektive inszenieren, scheint mir das ein wichtigeres und interessanteres Phänomen zu sein als die grammatische Struktur einer streng perspektivischen Darstellung im Sinne eines Henry James. Ich komme wieder darauf zurück: Du willst mit dem Aufstellen von Dichotomien eine Schwelle konstruieren, ich will mit der Konstruktion von Kontinuitäten eine – und sei es eine ziellose – Geschichte der kleinen Schritte erzählen. Und Vorläufer, die sich im absoluten, nicht aber im relativen Umfangbereich von der Methode der ausschnitthaften Vergrößerung bei Henry James unterscheiden, findet man wohl schon bei Konrad von Würzburg. Dabei geht es mir nicht darum, zu rufen ‚Ick bün all do‘ und Modernität und Subjektivität immer früher zu entdecken. Ich will aber auch nicht ein romantisches Mittelalter der fingierten Alterität mit Dichotomien erfinden, die das Ebenenproblem des Strukturalismus perpetuieren, der sich seinen Gegenstand immer erst in die richtige Optik und Distanz legen muss, bevor er funktioniert. H. H.: Du verwechselst hartnäckig Teleologie mit Komplexitätssteigerung (oder setzt sie in eins). Es ist ja gewiss richtig, dass zur Komplexitätssteigerung eine Richtung gehört, aber damit ist noch kein Ziel angegeben. Nun scheust Du aber infolge der Verwechslung ganz zurück und besetzt Ziellosigkeit emphatisch. So lässt Du Dich hindern zuzugeben, dass – zum Beispiel – der herkömmliche Tonraum (Vierteltöne usw. ausgeschlossen) durch das Komponieren über einer Zwölftonreihe komplexer erschlossen wird als im Zuge des Verbleibens in einer Tonart. Es ist ja wiederum richtig, dass – hierbei wie anderswo – die konkrete Lokalisierung der Modernitätsschwelle strittig sein kann: Ist sie etwa auch noch auf den Punkt genau anzugeben oder nur als unscharfer Bereich? Aber das kann doch nicht bedeuten, sie gleich ganz zu vergessen. Es gibt einen Weg mit einer Richtung von den mittelalterlichen Tonarten über die Dur/MollHarmonik zum modernen Tonsystem, das jegliche Tonartbindung ver-

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lässt, vom mittelalterlichen zum modernen Komponieren, und dabei werden mehrere kleinere oder größere Schwellen überschritten, von denen Du wichtige genannt hast. Dieser Weg bedeutet kein richtungsloses Umherirren zwischen beliebigen Möglichkeiten, die man zu beliebigen Zeitpunkten entdeckt oder erschließt. Das gilt dann auch für die Geschichte, die kein zielgerichteter, aber eben doch ein gerichteter Prozess ist, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt von Entwicklung/Evolution betrachtet. Und es gilt für die kulturellen Artefakte, die Geschichte zeitigt. Zu überlegen wäre zweifellos, wie man für solche Artefakte synchrone Komplexitätsgefälle von diachronen Komplexitätssprüngen abgrenzt, und natürlich wäre Komplexität zu bestimmen: in der Literatur drückt sie sich zweifellos auch über die Grammatik – in weitestem Sinne – aus, besonders aber über neue, literarische, Formen, deren Zahl ebenso stiege wie die Möglichkeit ihrer Kombination. Du lässt Dich durch die unvermeidliche Vagheit vieler Begriffe verwirren oder beirren. Lass mich zur Verdeutlichung anstatt zu Tonarten, biologischen Arten oder literarischen Gattungen einfach zum Farbspektrum greifen: Man wird nicht verbindlich feststellen können, wo Rot aufhört und Gelb beginnt – und, wenn man kleiner absteckt, wo Braun beginnt – es wird immer ein Bereich übrig bleiben, für den die Urteile voneinander abweichen. Niemand würde deshalb auf die Idee kommen, die Ausdrücke ‚rot‘ und ‚gelb‘ abzuschaffen, und alle sind wir uns doch einig, dass Rot ganz anders aussieht als Gelb. Dies kann man für viele Gegenstandsbereiche durchexerzieren, auch für die Künste. Nur willst Du hier bestreiten, dass ein entsprechender Unterschied bestehen soll. Sicher könntest Du einwenden, dass wir anders als bei den Farben noch nicht das ganze Spektrum der Kunst überblicken (die Geschichte läuft ja immer weiter). Wenn man sich – in Anbetracht der Begriffsgeschichte von ‚modern‘ – schon im Mittelalter als modern betrachtet hat, könnte es sein, dass selbst wir es noch längst nicht sind, sondern erst künftige Generationen. In Deiner Welt ohne Ziel und ohne Richtung müsstest Du sogar den Begriff ganz abgeben oder ins Unendliche relativieren. Wir müssen uns aber nicht, da die Geschichte immer weiter läuft, derart ins Dunkel stellen. Wir haben ja zumindest Schwellen, Übergänge, Änderungen usw., und wir haben eine Richtung, und also können wir Rot und Gelb festlegen, auch wenn wir – um im Farbspektrum zu bleiben – Blau vielleicht noch nicht absehen können. Dich stört eine Pluralität der Modernitätsschwellen. Aber soll es denn so sein, dass – sagen wir – zum 01.01.1910 zugleich die Relativitätstheorie, die Dodekaphonie und die narrative Perspektive gemeinsam da sind? Beinahe ist es hier ja in der Tat der Fall. Warum aber soll der unscharfe Bereich sich nicht über einen längeren Zeitraum erstrecken können? Und in

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der Physik anders als in der Musik und Literatur? Das alte Projekt einer wechselseitigen Erhellung der Künste rechnete doch auch nur mit einer losen Kopplung der Künste, zeitlich wie inhaltlich. Vielleicht ist dann die gemeinsame Modernitätsschwelle für alle Diskurse und Künste über einen Zeitraum von zwei oder sogar mehr Jahrhunderten verschmiert, warum denn nicht? Das Projekt aber hätte ausfindig zu machen, an welchen Formen in den verschiedenen Künsten eine Steigerung von Komplexität angreift und wie die Steigerung sich jeweils auswirkt. Es hätte auch die Beziehung zur sozial-kulturellen Entwicklung zu beachten, also ungefähre Korrelationen wie ‚Stammeskultur-Mythos‘, ‚Adelsherrschaft-Epos‘ und ‚Flächenstaat-Roman‘ herzustellen, wobei das Epos gewissermaßen ein komplexerer Mythos wäre usw. Wenn die sozial-kulturelle Entwicklung zunehmende Unabhängigkeit von der Umwelt und höhere Naturbeherrschung erreicht, dann dürfte dies folgenreich sein auch für Freiheiten des Erzählens. Hier stellen sich definitorische und beschreibungstechnische Probleme – auch solche der möglichen Vergleichsebenen oder realen Beziehungspunkte –, die ich an dieser Stelle nicht lösen muss. Aber sie könnten doch wohl gelöst werden. Du fragst, ob wir die Modernitätsschwelle(n) eigentlich für die Beschreibung der Phänomene oder aber zur Abgrenzung unseres Selbstbildes brauchen. Es kann ja, wenn wir nicht Teil der gerichteten Bewegung der Diskurse und Künste selbst werden, nicht um die Abgrenzung unseres Selbstbildes gehen. Andernfalls, wenn wir nämlich Teil sein wollen, geht es sehr wohl darum. Da wir beide aber nur im Nachhinein beschreiben, würde ich Deine Formulierung etwas abändern und antworten: Natürlich ist beides immer gleichzeitig im Spiel. Das Selbstbild und die (Selbst-) Beschreibung der Moderne sind vorausgesetzt und vorauszusetzen, wenn wir historisch abgerückte Phänomene beschreiben. Das drückt sich ja in Dichotomien etwa auch aus. Die hermeneutischen Topoi zu diesem Problem will ich nicht weiter anführen. Erlaubt aber eine sauber abgegrenzte Selbstbeschreibung nicht überhaupt erst eine umsichtige Beschreibung der Phänomene? Ansonsten lassen sich doch unwillkürliche Projektionen schlecht kontrollieren. Du zwingst mich nun, für das Epos und den Roman Farbe zu bekennen, und schlägst selbst eine Differenzierung ohne Historisierung vor, da beides im Mittelalter parallel existiere. Immerhin scheinst Du auf diese Weise aus dem Nibelungenlied keinen Roman machen zu wollen. Ich habe meinerseits Hemmungen, mich festzulegen, aber ich bin doch sehr geneigt, dem Umstand, dass in der Regel einem anwesenden Publikum eine gereimte, sei es auch geschriebene, Dichtung zu Gehör gebracht wird (wobei der Dichtung ihre mediale Form, wenn sie nicht anachronistisch zur Schmuckform wird, ‚eingeschrieben‘ ist), größere Bedeutung beizumes-

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sen als irgendwelchen weiteren Eigenschaften dieser Dichtung. Ich wäre also geneigt, von Artusepik zu sprechen, und ich würde mich hier lieber zu HEGEL als zu HAUG stellen. Für mich beginnt der (moderne) Roman im 16. Jahrhundert. Ich kann hier nur differenzieren, indem ich historisiere, und dann sehe ich mich genötigt, die entscheidenden Schwellen zu beachten und sie nicht rückwärts auszudellen. Meine Historisierung fordert die historische Reihenfolge von Epos und Roman – auch übrigens von Spiel und Drama und von Lied und Lyrik –, die aber in der Tat einige Zeit nebeneinander herlaufen können (irgendwann dann anachronistisch) und in der Antike schon einmal nebeneinander herzulaufen begannen. Die temporäre, vielleicht auch andauernde Parallelexistenz zwingt aber nicht dazu zu übersehen, dass sie einander einmal abgelöst haben – im Sinne jenes genannten gerichteten Prozesses. Wenn Du nun das Errichten einer Modernitätsschwelle als ein Abschneiden von der Geschichte verstehst (müsstest Du nicht sagen ‚als ein Abschneiden von anderen ungerichtet zustande gekommenen historischen Zuständen und entsprechend angesammelten Spielarten von Artefakten‘? aber dann wäre solch ein Abschneiden doch auch ganz unerheblich, da eine ungerichtete Geschichte sich so beliebig zerschneiden lässt, wie sie sich beliebig aggregiert), dann scheint sich ein Missverständnis zu wiederholen. Ich greife auf meine Beispiele zurück: Die Wirbeltiere teilen einige Eigenschaften mit den Wirbellosen, die Säugetiere einige Eigenschaften mit den Reptilien, aber eben nicht entscheidende Eigenschaften und Vorteile des Skelettbaus und der konstanten Körpertemperatur, die ihre Vorgänder jeweils noch nicht besitzen. Du hast Recht, ich kann das biologische Paradigma nur illustrativ einsetzen, und manchmal ist es lästig: aber es erlaubt zu verdeutlichen, dass die Rede von einem Abschneiden nur Rhetorik ist. Es gibt bei jeder Entwicklung Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Herauszuarbeiten sind aber gerade die Diskontinuitäten. Sie sind es, die Entwicklung ausmachen. Sie sind es, die unkontrollierte Selbstprojektion vermeiden helfen. Im Kontinuum bleibt sich dagegen alles irgendwie gleich, und man findet sich immer schon wieder. Ein homo sapiens in der Savanne könnte – von seinen kognitiven Fähigkeiten her gesehen – den Ulysses geschrieben und ein Physiklehrbuch verstanden haben. Aber seine Kultur hätte ihm das eine wie das andere nicht erlaubt. Somit muss etwas geschehen sein, dass aus ihm ein Mensch des 20. Jahrhunderts wurde, dem seine Kultur beides erlaubte. Beschreibe ich, welche Schwellen überschritten wurden, so spreche ich dem Homo sapiens, der der Mensch des 20. Jahrhunderts auch noch ist, nicht gleich seine kognitiven Fähigkeiten ab. Ich kehre zu unserem Ausgangspunkt zurück und suche nach einem Beispiel für ein Erzählen, das Du im erklärten Gegensatz zu mir mit dem

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Begriff der Perspektive belegst. Was ist mit dem folgenden (ich entnehme es den von ALFRED KROEBER gesammelten Mythen der Yurok-Indianer; KROEBER hat übrigens seine Informanten/Erzähler möglichst genau charakterisiert, und nach seinen Angaben ist der Erzähler des folgenden, von mir knapp zusammengefassten Mythos mit der westlichen Zivilisation nicht näher in Berührung gekommen): Zwei Brüder berauben einen Kondor eines wertvollen Stiels, mit dem er Toten die Augen aussticht. Am Ende aber belohnt er die Brüder im Austausch für den Stiel mit einem magischen Geldbeutel, der sich immer wieder füllt. Um den Kondor für den geplanten Diebstahl anzulocken, stellt der ältere Bruder sich tot: so überlistet er ihn und kann sich in den Besitz des Stiels bringen. Der Kondor verfolgt daraufhin die Brüder, die den Stiel in einer Sauna verstecken. Er macht das Versteck ausfindig und hält sich davor auf. Nachdem der ältere Bruder Holz geholt hat, entdeckt er den Kondor vor der Sauna. Es heißt hier: „Als er zurückkam, sah er ihn außerhalb sitzen. Er dachte: ‚Ich werde ihn mit einem großen Feuer töten. Ich denke, ich kann es so schaffen.‘ Als er das Feuer entfachte, sah er ihn hereinkommen.“1 Ich schließe aus dem Beispiel (viele weitere finden sich allein schon im selben Band, wobei ich die Übersetzungsproblematik dahingestellt bleiben lassen muss), dass Wahrnehmungsverben, Verben der inneren Vorgänge und Gedankenzitate bereits zur Grundausstattung des Homo narrans gehören und nicht, wie KÄTE HAMBURGER und DORRIT COHN glaubten, Errungenschaften der modernen Romanfiktion sind. Und doch hätte KROEBERs Erzähler niemals zustande gebracht, was Henry James gelingt. Er kann erzählen, was ein Protagonist tut, sieht, fühlt und denkt. Das ist etwas anderes, als über eine neu gefundene grammatisch-literarische Form eine Perspektive zu erzählen. M. M.: Ich verwechsele nicht hartnäckig Teleologie mit Komplexitätssteigerung, beharre aber hartnäckig darauf, dass der Begriff der Komplexitätssteigerung nun einmal eine Teleologie (nämlich ein Anwachsen der Komplexität) in sich trägt. Gerade das Musikbeispiel zeigt doch, dass sich mit einer solchen Formel wenig erklären lässt. Natürlich kann man (aus der Perspektive der Zwölftonmusik) die Entwicklung von der mittelalterlichen zur modernen Musik so beschreiben, wie Du es getan hast (ob das hörbar ist, steht auf einem anderen Blatt). Doch ist die Richtung doch nur post festum als Komplexitätssteigerung definierbar, indem man einen Bereich privilegiert – hier den der Harmonik, und mit ihm genauer die Perspektive der Zwölftonmusik in der Ausdeutung ADORNOs. Damit sind andere Bereiche, die nicht unbedingt eine gleiche einheitliche Entwicklung der _____________ 1

ALFRED L. KROEBER: Yurok Myths, Berkeley, Los Angeles 1976, S. 171f.

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Komplexitätssteigerung nehmen, sondern entweder Höhen und Tiefen der Komplexität durchschreiten (Rhythmik, Kontrapunktik, Polyphonie) oder aber weitgehend eine empfindliche Komplexitätsreduktion erleben (Melodik) schlicht ausgeblendet. Ich leugne ja nicht, dass der Prozess, der ein Phänomen wie den jeweiligen Zustand einer Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft usw. bestimmt, aus einer Folge von Schritten zu erklären ist (und damit eine Richtung hat), ansonsten hätte ich kaum das Beispiel der Evolution angeführt. Es ist aber gerade dieses Beispiel, dass mich hartnäckig an der Modernitätsschwelle zweifeln lässt. Ich kann eben kleine Schritte angeben, in denen sich die Harmonik in der Musikgeschichte weiterentwickelt (und auch über die Zwölftonmusik hinaus), ich kann das für verschiedene Bereiche tun und komme nur dann auf Modernitätsschwellen, wenn ich – was man ja tun kann – bestimmte Paradigmen absolut setze (moderne Harmonik – ab dem Erreichen einer gewissen Komplexität, vielleicht mit dem Tristan-Akkord, der aber auch eher ein Mythos als eine musikgeschichtlich relevante Erscheinung ist? Moderne Melodik – nachdem die Komplexität der mittelalterlichen Monodie hinreichend reduziert wurde? Moderne Polyphonie, moderne Kontrapunktik ließen sich wohl eher schwer verordnen, da der Verlauf dieser Paradigmen ein relativ starkes Auf und Ab zu bieten hat. Welches Mischungsverhältnis erzeugt dann moderne Musik – und warum muss man sie so bezeichnen?). Das immerhin mag in anderen Künsten anders ein (was mich zu der Frage führt, wie weit die wechselseitige Erhellung der Künste geht, zumal wenn man die Musik hinzunimmt – eine Frage, der ich hier nicht weiter nachgehen will). Du hast im Sinne eines Vorwurfs an meine Position formuliert: Ich müsste den Begriff der Moderne eigentlich ganz abgeben – und ich kann, wie dieses Beispiel zeigt, dem nur aus ganzem Herzen zustimmen; er ist doch z. B. in der Musik nichts weiter als ein Verkaufsinstrument oder ein Mittel, bestimmte ideologische Burgen (wie die Zwölftonmusik – oder die Darmstädter Tage der Neuen Musik) einzumauern. In Deinem Farbenbeispiel – dem ich zustimme, denn es bringt sowohl mein Unbehagen an den Begriffen selbst als auch im Umgang mit ihnen auf den Punkt – illustrierst Du die Vagheit der Gegenstände und die Klarheit der Begriffe und ziehst daraus ein klares Plädoyer für eine prägnante Begriffsverwendung. Dem schließe ich mich für einen ersten Schritt an – nicht zuletzt aus sprachlicher Bequemlichkeit; doch wenn dann mit dem Worten Rot und Blau alles gesagt ist und damit die zahlreichen Übergänge zwar nicht geleugnet, aber als uninteressant vom Tisch gewischt werden, jedes durch einen hohen Blauanteil gekennzeichnete Rot immer nur als Rot firmiert, entstehen in meinen Augen Probleme. Ich möchte noch einmal festhalten, dass ich kein Interesse daran habe, Unterschiede zu leugnen, ich will sie aber nicht dogmatisieren. Das Wort ‚modern‘ aller-

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dings würde ich in der Tat gerne vermeiden, weil es mehr Verwirrung stiftet als Erklärung bringt – nicht nur, aber auch aus den bereits von Dir genannten Gründen. Als ein Beispiel aus unserer Diskussion: Der Begriff der Perspektive ist ein Kennzeichen des modernen Romans, der für Dich im 16. Jahrhundert beginnt, in dem man aber noch nicht die ‚moderne‘ Perspektive in der emphatischen Verwendung findet. Du hältst dagegen, dass es auch eine mehrhundertjährige Modernitätsschwelle geben könnte – und nimmst damit in einem zentralen Begriff Deiner Argumentation eine Schwammigkeit in Kauf, die mir gravierender zu sein scheint als eine auf prononcierte Darstellung der Innenwelt ausgerichtete Verwendung des Begriffs der Perspektive, die von einer grammatischen Realisierung als notwendiges Kriterium der Begriffsverwendung absieht. (Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, dass ich Dein Eingeständnis der Parallelität von Epos und Roman bereits in der Antike nicht verstehe – eine daraus resultierende Modernitätsschwelle von über 1000 Jahren wirkt auf mich unsinnig, oder man muss eben die dichotomische Ordnung der Begriffe um eine Modernitätsschwellenfiktion herum aufgeben.) Hier schließt sich für mich auch ein weitere Punkt Deiner Argumentation an, den Du aus dem Beispiel der Evolution von Wirbeltieren aus Wirbellosen ableitest: Wir sind uns ja einig darin, dass es in jeder Entwicklung Kontinuitäten und Diskontinuitäten gibt. Ich verstehe aber nicht, woher die Berechtigung für den folgenden Satz stammt: „Herauszuarbeiten sind aber gerade die Diskontinuitäten.“ Ein Satz, der setzt, der nicht begründet, der Deine Perspektive festlegt – eine Perspektive, die ja nicht nur die Deine, sondern weit verbreitet ist in der momentanen germanistischen und kulturwissenschaftlichen Diskussion. Dagegen kann ich vorerst nur sagen: Herauszuarbeiten sind aber gerade die Kontinuitäten. Gründe lassen sich für beide Positionen finden – nicht zuletzt institutionelle und wissenschaftsgeschichtliche. Ein wichtiger Grund für Deine Position, den Du an anderer Stelle in Deiner Argumentation genannt hast, könnte in der Frage nach der Beschreibung der Gegenstände liegen. Wir sind uns sicher einig darin, dass eine Selbstdefinition eine wichtige Voraussetzung für eine umsichtige Beschreibung der Gegenstände ist. Ich weiß aber nicht, ob der Modus der Abgrenzung ein sinnvoller Modus dieser Selbstdefinition ist. Denn gerade die Grundannahme einer Modernitätsschwelle fördert nicht unbedingt die umsichtige Beschreibung der Gegenstände, sie setzt nur den Kontinuitätsprojektionen Alteritätsprojektionen entgegen. Ich wollte nicht unbedingt Dich dazu zwingen, bei der Definition von Epos und Roman Farbe zu bekennen, sondern präsumptive Rezipienten. (Und somit will ich auch nicht darauf eingehen, dass ich zwar nicht aus dem Nibelungenlied einen Roman mache, Du aber vielleicht aus Flore und

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Blanscheflur ein Epos machen musst.) An der Gleichzeitigkeit der Phänomene Epos und Roman im Mittelalter halte ich allerdings fest – wobei es mir nicht um anachronistische Formen geht (wie die auch gerade wieder modernen Versromane, die eben Romane und nicht bloß wegen ihrer Form Epen sind), sondern, wie bereits erläutert, um Sagweisen im BACHTINschen Sinne (auf BACHTIN würde ich mich schon deswegen lieber als auf den zu HEGEL alliterierenden HAUG berufen, weil HAUG viel mehr Kreationist ist, als ich das je sein wollte, wenn für ihn Fiktion und Chrétien de Troyes quasi eins werden). Die Gleichzeitigkeit von Epos und Roman gilt auch unter der Perspektive der Produktion/Rezeption, die Du ansprichst. Denn dort lassen sich Unterschiede zwischen einer zunächst mündlich, dann semioral existierenden Dichtung wie dem Nibelungenlied und dem Artusroman, dessen Rezeption in ganz anderem Maße von der Schriftlichkeit gesteuert wurde (von der Produktion zu schweigen) festhalten. Die Mündlichkeit, die das idyllische Vorlesen im Familienkreise in der ‚Burg vom schlimmen Abenteuer‘ im Iwein generiert, ist als Grundlage einer Definition des ‚Epos‘ problematisch. Generell erscheint es mir sinnvoller, aus den Texten selbst heraus Kriterien zu entwickeln, zumal die Rezeption der erzählenden Literatur auch und gerade wegen des auffallenden Fehlens von nicht nur Lese-, sondern auch Hörsituationen im höfischen Roman jenseits von Rekonstruktionsfiktionen so schwer zu ermitteln ist. Um ein letztes Mal die Biologie zu bemühen: Die Frage nach dem systematischen Unterschied zwischen Wirbellosen (die noch heute die Mehrheit aller Tiere stellen – hier beginnen die Analogien auf allen Beinen zu hinken) und Wirbeltieren sollte man nicht verwechseln mit der Frage, wie sich die einen aus den anderen und mit welchen Zwischenformen entwickelt haben und der Frage, warum und mit welchen Funktionen sie heute beide noch existieren. Auch BACHTINs Definitionsversuch hat ja einen sozialgeschichtlichen und politischen Hintergrund. Man könnte ihn ernst nehmen (was bislang selten geschehen ist) und seine angedeutete sozialgeschichtliche Rückbindung von monologischem und dialogischen Sprechen einmal weiträumig ausprobieren – die Ergebnisse wären vermutlich divergierender als Dein Dreischritt der Vergesellschaftungs- und Narrationsformen. Um auf Dein Beispiel zurückzukommen: Ja, wie Du sehe ich, dass die Darstellung innerer Vorgänge zu den narrativen Grundkonstanten gehört. Ob man dieses Merkmal wirklich noch weiter ausschlachten kann, muss weiteren, auch quantifizierenden Untersuchungen vorbehalten bleiben (etwa zur Gattungsbildung – eine solche Annahme könnte ja eine Reduktionsform der Annahmen HAMBURGERs und COHNs sein). Das sprachliche Problem außer Acht lassend, würde ich auch vermuten, dass der Yurok-Indianer nicht wie Henry James eine Perspektive konstruiert hätte –

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und wie es auch in einem mittelalterlichen Text nicht der Fall sein wird. All das hatten wir bereits diskutiert. Dennoch: In dem Moment, in dem in einem narrativen Text die Möglichkeit der Darstellung des Innenlebens eines Protagonisten entfaltet und jenseits einer bloßen handlungslogischen Mitteilung ausgebaut wird, in dem Moment, in dem diese Darstellungsform Kontinuität erhält und den Text dominiert, halte ich es für unsinnig, für dieses Phänomen einen neuen Begriff zu suchen, nur weil ich den Begriff der Perspektive nur für eine bestimmte Darstellungsform verwenden soll, die eine Eigenart des Erzählens des späten 19. und des 20. Jahrhunderts ist (wie es mit ihr weitergeht, und ob sie sich als bleibende Errungenschaft oder als grammatikalische Aberration herausstellt, wird sich erweisen). Um unsere Diskussion zusammenzufassen: Der Hauptdissens liegt, wenn ich richtig sehe, in einer dogmatischen Vorentscheidung, es geht um den Satz: Es gilt, die Diskontinuitäten/Kontinuitäten herauszuarbeiten. Unsere biologischen, geschichtsphilosophischen, musikalischen und farblichen Beispiele lassen sich immer wieder auf diesen Punkt zurückführen, sie illustrieren unsere jeweilige Position. Sich dieser Frage immer wieder, von anderen Punkten, aus anderen Schulen und aus anderen Perspektiven zu nähern, ist sinnvoll, sinnvoll aber auch die Frage, wann man welche Perspektive und zu welchem hermeneutischen oder wissenschaftspolitischen Zweck einnimmt.