Historische Gerechtigkeit 9783110927498, 9783110183306, 3110183307

[Historical Justice] Lukas H. Meyer develops a theory of historical justice, based on intergenerational duties. Accordin

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German Pages 470 [472] Year 2005

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Historische Gerechtigkeit
 9783110927498, 9783110183306, 3110183307

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Lukas Η. Meyer Historische Gerechtigkeit

W G DE

Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Lukas Η. Meyer

Historische Gerechtigkeit

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über H a l t b a r k e i t erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018330-6 ISBN-10: 3-11-018330-7 Bibliografische

Information

Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen u n d die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Umschlaggcstaltung: + malsy, k o m m u n i k a t i o n und gcstaltung, Bremen

In Erinnerung an Matthias Meyer, 1932-2005

Inhaltsverzeichnis Vorwort I. Einleitung II. Vergangenheit und Zukunft. Die Gründe für eine Schwellenwertskonzeption der Schädigung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Historische Ansprüche, Ansprüche gegenwärtig Lebender und Ansprüche zukünftig Lebender Die Relevanz von Rechtsüberlegungen bei der Wahl von langfristigen Politiken Epistemische Zweifel Zukünftige Menschen schädigen Ansprüche gegenwärtig Lebender auf Kompensation wegen des an ihren Vorfahren verübten Unrechts Unvereinbar mit dem üblichen Verständnis von Entschädigung? Derek Parfits Sichtweise Schlussbemerkung

III. Überlebende Pflichten und symbolische Kompensation 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Früher lebende Menschen waren Opfer von Unrecht... Annahmen über den ontologischen Status verstorbener Personen Die Schädigung heute toter Personen — eine Kritik Schädigung gegenwärtig lebender Personen durch posthume Ereignisse? Überlebende Pflichten Die Erfüllung oder Verletzung überlebender Pflichten als posthume Eigenschaften

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15 15 22 30 36 46 51 57 61 75 75 79 81 86 91 95

Inhaltsverzeichnis

Vlll

7. 8. 9. 10. 11. 12.

Überlebende Pflichten zu symbolischer Kompensation Die konsequentialistische Erklärung symbolischer Kompensation Die expressivistische Erklärung symbolischer Kompensation Vergangenheitsorientierter Konsequentialismus Überlebende Pflicht und posthumer Erfolg Schlussbemerkung

IV. Kollektives E r b e und der Wert der Gruppenmitgliedschaft 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Historisches Unrecht und ErinnerungsGemeinschaften Die Völker der Saami und Roma als Erinnerungsgemeinschaften D e r Wert von Gruppenmitgliedschaft Instrumenteller und intrinsischer Wert von Gruppenmitgliedschaft Aspekte kollektiven öffentlichen Erbes D e r öffentliche Charakter kollektiven Erbes

V. Kollektives Erbe. Interpretation seiner normativen Implikationen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Abwegige und unzureichende Interpretationen Die normative Bedeutung kollektiven Erbes. Die Asymmetriethesen Historische Pflichten des moralischen Respekts und der Dankbarkeit im Vergleich Normative Implikationen ererbter kollektiver Übel und Verbrechen im Vergleich Zur Begründung historischer Pflichten Zur Begründung der historischen Haftungspflichten v o n Staaten Die Ansprüche der Saami und Roma auf transnationale Autonomie Schlussbemerkung: Dankbarkeit und Gerechtigkeit....

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183 183 195 202 218 228 246 249 263

Inhaltsverzeichnis

VI. Gesetzliches Unrecht 1. 2. 3.

4. 5. 6. 7. 8. 9.

Relativismus und historisches Werturteil Historisches Werturteil und (straf-)rechtliche Maßnahmen der Transition to Democracy Von der richterlichen Pflicht zur Anwendung ungerechter Gesetze zu den Formeln vom gesetzlichen Unrecht und Nicht-Recht Moderater Skeptizismus — eine revisionistische Interpretation von Radbruchs Relativismus Nachträgliche rechtspositivistische Beurteilung eines vor-rechtsstaatlichen Regimes Nachträgliche rechtsstaatliche Auslegung Nachträgliche nicht-positivistische Beurteilung eines vor-rechtsstaatlichen Regimes Merkmale objektiver moralischer Urteile im Sinne Radbruchs Schlussbemerkung

VII. Wahrheit und Gerechtigkeit 1. 2.

Die Athenische Versöhnungsvereinbarung Wahrheitskommission versus kosmopolitischer Strafgerichtshof 3. Das Ersatz-und das Zahlenargument 4. Das restaurative Gerechtigkeitsargument 5. Wahrheitskommission und Strafverfolgung? 6. Wahrheitskommissionen in der Notsituation 7. Auf Strafverfolgung und Strafvollstreckung verzichten 8. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 9. Ein internationaler Strafgerichtshof mit beschränkter Autorität 10. Schlussbemerkung

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292 295 304 308 311 317 321 337 337 340 345 351 353 355 359 362 363 366

VIII. Schluss

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Anhang: Übersichtstabellen.

395

χ

Inhaltsverzeichnis

Literatur

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Namensregister

445

Sachregister

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Vorwort Entstanden ist der vorliegende Text während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InllS) der Universität Bremen. Grossen Dank schulde ich dem Sprecher des Instituts, Bernhard Peters, für die Betreuung und großzügige Unterstützung dieser Arbeit. Der Harvard Universität danke ich für das Faculty Fellowship in Ethics am Harvard Center for Ethics and the Professions (2000-01). Der Alexander von Humboldt Stiftung und meinen Gastgebern Christia Mercer und Thomas Pogge danke ich für ein Feodor-Lynen Forschungsstipendium für Politische und Rechtsphilosophie, das mir 2001-02 den Aufenthalt als Visiting Scholar an der Law School der Columbia Universität erlaubte. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und meinem Gastgeber Philip Pettit danke ich für die Unterstützung meines Kurzaufenthalts im März 2000 als Visiting Fellow an der Research School of Social Sciences der Australian National Universität, Canberra, sowie Janna Thompson und Duncan Ivision für die Einladungen zu Vorträgen an ihre Universitäten in Melbourne und Sidney. Die DFG ermöglichte die internationale Fachtagung „Historische Gerechtigkeit", und ich danke sowohl dem Direktorium des Einstein Forums in Potsdam für die Aufnahme in das Programm des Einstein Forums (Juli 2001, mit Chaim Gans) als auch den Referenten des Einstein Forums Matthias Kross und Martin Schaad für die Betreuung der Veranstaltung. Dem Direktorium des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld, danke ich für die Unterstützung des „Colloqium zum Werk von Joseph Raz" (Zentrum für Interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld, Juni 1999, mit Stanley L. Paulson und Thomas W. Pogge), und der Tagung „Rechtsphilosophie und Neukantianismus" (November 2000, mit den Robert Alexy, Stanley L. Paulson und Gerhard Sprenger). Dem European Consortium of Political Research schließlich schulde ich Dank für die Aufnahme des Workshops „Sub-Sovereign European Nations:

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I orwort

Accommodating Non-exclusive or Non-territorial Claims of Roma/ Sinti, Jewish and Saami Minorities" in das Pogramm der 26. Joint Sessions of Workshops (University of Warwick, März 1998, mit Andreas Follesdal). Einige der politik-, rechtstheoretischen und moralphilosophischen Überlegungen, denen ich im vorliegenden Text nachgehe, konnte ich mit Studierenden der Universität Bremen, des Instituts für Politik und des Studiengangs Philosophie, diskutieren. Stellvertretend für alle möchte ich Christiane Häßler, Thorsten Milenz und Urs Wahl für ihr Interesse und Engagement danken. Für Hinweise und Kritik an früheren Fassungen (von Teilen) der Arbeit möchte ich mich bedanken bei Joseph Raz, Arthur Applbaum, Brian Barry, Brian Bix, John Charvet, Jules Coleman, David Crocker, Tony Daniel, Cadierine Elgin, Andreas Follesdal, Axel Gosseries, David Heyd, Thorsten Hüller, Erin Kelly, Rahul Kumar, Walter Lesch, David Lyons, Jaime Malamud-Goti, Avishai Margalit, Larry May, Jeff McMahan, Matthias Meyer, Martha Minow, Georg Mohr, Stanley L. Paulson, Bernhard Peters, Thomas W. Pogge, Barbara Reiter, Tanjev Schultz, Gerhard Sprenger, Adam Swift, Jeremy Waldron und Andrew D. Williams sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der oben genannten Fachtagungen, Brian Barry und David Heyd für die Arbeitsgruppe (2001-02), in der wir auch mein work in progress diskutierten, den Kolleginnen und Kollegen am InllS, den Teilnehmern des InllS Kolloqiums wie des Kolloquiums der Graduate School for Social Studies, und nicht zuletzt den Mitgliedern des Faculty Seminar des Harvard University Center for Ethics and the Professions. Besonderen Dank schulde ich Wilfried Hinsch für Kritik, zahlreiche Hinweise und seine Ermunterungen, und ihm sowie Lutz Wingert für die Aufnahme des Texts in diese Reihe. Meine Eltern Gabriele und Matthias Meyer haben mich stets unterstützt, und mein Vater hat eine erste Fassung des deutschen Manuskripts gelesen und viele Korrekturliinweise gegeben. Tatiana Bezrodnaia hat mir sehr dabei geholfen, die Druckvorlage zu erstellen. Der Alexander von Humboldt-Stiftung danke ich für einen Druckkostenzuschuss. Meiner Frau Barbara Reiter gilt der größte Dank. Bremen, Juli 2005

I. Einleitung Die vorliegende Arbeit stellt eine philosophische Analyse und Interpretation der normativen Relevanz historischen Unrechts vor und unterbreitet Vorschläge für den rechtlichen und institutionellen Umgang mit historischem Unrecht im Lichte der internationalen Praxis. Gute normative Argumente müssen die örtlichen und besonderen Merkmale z.B. der von kollektiven Erfahrungen historischen Unrechts betroffenen Minderheitenkultur und ihre wahrscheinlichen Konsequenzen für institutionelle Regelungen, etwa besondere Repräsentationsrechte, reflektieren. Die philosophischen Probleme sind komplex und verweisen auf praktische und politische Fragen, deren plausible Beantwortung wiederum von rechts- und sozialwissenschaftlichen Überlegungen abhängen. Die Beantwortung substantiell moral- und sozialphilosophischer Fragen ist ihrerseits von begrifflichen Klärungen abhängig. Wir treffen, erstens, Entscheidungen darüber, welche Fragen die Untersuchung eines Gegenstandes charakterisieren. Historische Gerechtigkeit untersucht die moralischen Ansprüche, Rechte1 und Pflichten von Menschen aufgrund historischen Unrechts. Unter historischem Unrecht wird erstens verstanden: das an anderen Menschen als denen, die heute wegen der Unrechtshandlungen Ansprüche erheben, und von anderen als denen, die heute wegen der Unrechtshandlungen unter Pflichten stehen, in der Vergangenheit verübte Unrecht. Unter historischem Unrecht wird zweitens verstanden: Handlungen, die unter einem vor-rechtsstaatlichen Regime als rechtmäßig galten und womöglich positiv sozial sanktioniert wurden, aber im Sinne liberaler Überzeugungen2 als Unrechtshandlungen einzuschätzen sind und nach einer Transition zu einer rechtsstaatlichen Ordnung negativ sanktioniert werden können oder sollen. Historische Gerechtigkeit hat demnach Aspekte intergenerationeller Gerechtigkeit3 und der Gerechtigkeit bei der, um den Terminus technicus zu nennen, Transition to Democracy zum

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Einleitung

Gegenstand, nämlich die normative Bezugnahme gegenwärtig lebender Menschen auf das Handeln und das Leiden früher lebender Personen oder von Personen, die unter einem früheren, vor-rechtsstaatlichen Regime gelebt haben. Es handelt sich dabei um eine Bezugnahme aus Gründen der Gerechtigkeit,5 wenn von zukünftig und gegenwärtig lebenden Menschen gesagt werden kann, dass sie Rechte gegenüber gegenwärtig lebenden Menschen haben und wenn von gegenwärtig lebenden Menschen gesagt werden kann, dass sie unter den korrelativen Pflichten gegenüber diesen Menschen stehen. Wie die vorliegende Untersuchung zeigt, können gegenwärtig lebende Menschen unter Pflichten mit Blick auf früher und zukünftig lebende Menschen auch aus anderen normativen Gründen als denen der Gerechtigkeit stehen (Kap. II, III, V, und VI). Letzteres ist allerdings bereits eine substantiell moralphilosophische Behauptung. Begriffliche Klärungen allein beantworten substantiell moral- und sozialphilosophische Fragen nicht. Zugleich ist die Verwendung von Begriffen ihrerseits von den sonstigen für die Beantwortung substantieller Fragen relevanten Überlegungen und Argumenten abhängig. Dies sei hier einführend und an drei für das Argument dieser Arbeit wichtigen Zusammenhängen belegt. Im genannten Sinne zählt zu den begrifflichen Klärungen der vorliegenden Arbeit die in Kapitel II vorgestellte Schwellenwertskonzeption intergenerationeller Schädigung. Diese, nicht aber das übliche diachronische oder hypothetisch-historische Verständnis von Schädigung erlaubt zu sagen: Heute lebende Menschen, die nicht selbst Opfer der an anderen verübten Unrechtshandlungen sind, sind aufgrund der bleibenden Wirkung dieser Handlungen auf ihr Wohlbefinden geschädigt. Die in Kapitel III entwickelte Idee überlebender Pflichten und symbolischer Kompensation beruht unter anderem auf begrifflichen Klärungen des Verhältnisses von Rechten und Pflichten. Nach diesen können wir sagen, dass wir heute mit Blick auf früher lebende Menschen aufgrund von unter anderem deren früherer Ansprüche und Rechte unter Pflichten stehen, obgleich heute tote Menschen keine Rechte uns gegenüber haben können und wir ihr Wohlbefinden nicht beeinflussen können. Und ein weiteres Beispiel: Der Ausweis, dass Mitglieder andauernder Gesellschaften verpflichtet sein können, Kompensationsleistungen ihrer Gesellschaft an die überlebenden und indirekten Opfer von im Namen der Gesellschaft ver-

Einleitung

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übtem Unrecht zu unterstützen, obgleich die heutigen Mitglieder dieser Gesellschaften die Unrechtshandlungen in keiner Weise haben kontrollieren können, beruht unter anderem auf dem in Kapitel IV und V entwickelten Verständnis unterschiedlicher Aspekte der Tradition fortbestehender intergenerationeller Gesellschaften als ererbte Verdienste, Güter und Verbrechen sowie den Unterscheidungen zwischen den Begriffen der Restitution moralischer Beziehungen, der Restitution von Eigentum und der Kompensation für Schaden (Kapitel V, Abschnitt 4). Die genannten Zusammenhänge bezeichnen auch einige der philosophischen Probleme des intergenerationellen Verhältnisses und der historischen Gerechtigkeit im Besonderen. Die Beziehungen zwischen gegenwärtig lebenden und zukünftig lebenden Menschen sind durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert, die nicht für die Beziehungen unter Zeitgenossen gelten. Wieder andere Merkmale charakterisieren das Verhältnis von gegenwärtig lebenden zu früher lebenden Menschen. Aber das Kontingenzproblem, wie ich es nennen werde, stellt sich gleichermaßen für wichtige Aspekte beider Seiten der intergenerationellen Beziehungen: hinsichtlich der Pflichten gegenwärtiger Generationen, die Rechte zukünftiger Generationen nicht zu verletzen, und der Pflichten gegenwärtig lebender Generationen, die Schäden gegenwärtig lebender Menschen zu kompensieren, die ihnen durch die bleibende Wirkung von historischem Unrecht zugefügt wird. Das Kontingenzproblem beruht auf der Tatsache, dass die Existenz und Identität von zukünftig lebenden Menschen von den Entscheidungen und Handlungen gegenwärtig lebender Menschen abhängen kann. Dies gilt auch für Handlungen, die wir gemeinhin als schädigend auffassen. Wenn die schädigende Handlung zugleich notwendige Bedingung der Existenz und Identität von Menschen ist, wie können diese dann aufgrund dieser Handlung als geschädigt gelten? Die Schwellenwertskonzeption der Schädigung erlaubt uns, Handlungen als zukünftig lebende Menschen schädigende und ihre Rechte verletzende auszuweisen, auch wenn diese Handlungen selbst zu den notwendigen Bedingungen der Existenz und Identität dieser Menschen zählen. Entsprechend können gegenwärtig lebende Menschen Ansprüche auf Kompensationsleistungen geltend machen, wenn es stimmt, dass an ihren Vorfahren verübtes Unrecht bleibende Wirkungen hat, die diese Menschen im Sinne der Schwel-

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Einleitung

lenwertskonzeption schädigen, und eben auch, wenn die historischen Unrechtshandlungen selbst zu den notwendigen Bedingungen der Existenz und Identität dieser Menschen zählen. Der Ausweis der Legitimität derart begründeter Kompensationsansprüche der Nachfahren von Opfern historischen Unrechts ist Ausdruck der, wie ich sie nennen werde, zukunftsorientierten Interpretation der Signifikanz der Konsequenzen historischen Unrechts (Kap. II). Darin geht aber die Signifikanz historischen Unrechts nicht auf. Vielmehr sind das erlittene Unrecht früher lebender Menschen und die Unrechtshandlungen früher lebender Mitglieder unserer fortbestehenden Gesellschaft normativ relevant auch unabhängig von den Konsequenzen dieser Taten für das Wohlergehen gegenwärtig lebender Menschen. Denn wir können Gründe haben, uns auf den Umstand als solchen zu beziehen, dass früher lebende Menschen Opfer schlimmen Unrechts gewesen sind und dass früher lebende Menschen schlimmes Unrecht begangen haben. Interpretieren wir die Signifikanz des Todes nichtreligiös, dann stellt sich die Frage, ob wir solche Gründe haben können, wenn wir annehmen, dass heute tote Menschen von uns nicht affiziert werden können und dass der Wert keines Moments ihres Lebens durch posthume Ereignisse geändert werden kann. Die Idee überlebender Pflichten ist mit dieser Annahme vereinbar und auch damit, dass es unter anderem die Gründe für die zukunftsorientierten besonderen und generellen Ansprüche der Opfer, als sie noch lebten, sind, die uns heute mit Blick auf sie verpflichten können. Gemäß der in Kapitel III vorgestellten Interpretation können wir überlebende Pflichten der symbolischen Kompensation erfüllen, wenn wir an der Praxis des öffentlichen Gedenkens der Opfer von im Namen unserer andauernden Gesellschaft verübten Verbrechen teilhaben. Analog sind Pflichten des Respekts mit Blick auf heute tote Menschen, die ein moralisch gutes oder verdienstvolles Leben geführt haben, und Pflichten der Dankbarkeit mit Blick auf heute tote Menschen aufzufassen, die uns und womöglich auch weiter entfernt zukünftige Menschen begünstigt haben oder haben begünstigen wollen, wie ich in den Kapiteln IV und V erläutere. Die hier entwickelte Position vermittelt also eine zukunftsorientierte Interpretation der Signifikanz der bleibenden Wirkung vergangenen Unrechts (Kap. II) mit einer Interpretation, die sich auf frühere Zustände der Welt bezieht im Sinne der Implikationen des an

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früher lebenden Menschen begangenen Unrechts wie auch der guten und verdienstvollen Handlungen früher lebender Menschen für die Pflichten, unter denen gegenwärtig lebende Menschen stehen können (Kap. III, IV und V). So sie Pflichten beider Typen erfüllen, entsprechen gegenwärtig lebende Menschen sowohl ihren Pflichten historischer Gerechtigkeit gegenüber ihren Zeitgenossen und zukünftig lebenden Menschen als auch ihren anderen historischen Pflichten, nämlich mit Blick auf heute tote und zukünftig lebende Menschen. Die beiden unterschiedenen Dimensionen historischer Gerechtigkeit und historischer Pflichten haben unterschiedliche Voraussetzungen. Eine Differenz beleuchtet Kapitel VI. Wir müssen uns auf kein Urteil über die moralische Qualität früherer Handlungen berufen, um die Ansprüche gegenwärtig lebender Menschen auf Kompensation für Schäden auszuweisen aufgrund der andauernden Wirkungen von Ereignissen oder Handlungen, zu denen auch solche gehören können, die für historisches Unrecht gehalten werden. Hinsichtlich der Begründung historischer Ansprüche ist die angedeutete zukunftsorientierte Interpretation mit relativistischen Positionen der Geltung moralischer Urteile vereinbar und auch mit der Position des normativen Relativismus/' Für die Begründung der Ansprüche kommt es darauf an, dass Menschen nach heutiger Beurteilung sich im Sinne der Schwellenwertskonzeption in einem Zustand der Schädigung befinden (womöglich aufgrund von Handlungen oder Ereignissen, die auch notwendige Bedingung ihrer Existenz sind)7. Dass diese Opfer und andere die Ursache für diesen Zustand in früheren Unrechtshandlungen erkennen und das entsprechende negative Urteil über die Täter für berechtigt halten, ist dafür wichtig, Menschen als Mitgliedern fortbestehender Gesellschaften die entsprechenden Pflichten zuzuschreiben, und ist auch wichtig für die Beurteilung der Angemessenheit spezifischer Kompensationsmaßnahmen. Für die Begründung überlebender Pflichten sind historische Urteile über das Handeln und Leiden früher lebender Menschen zentral. Nähmen wir nicht an, dass früher lebende Menschen schlimmes Unrecht erlitten haben, dann stünden wir auch nicht unter der überlebenden Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass sie als Opfer solchen Unrechts posthum anerkannt werden. Und entsprechend für die überlebenden Pflichten des Respekts und der Dankbarkeit. Auch diese können uns nur dann verpflichten, wenn wir historische Urteile

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TLinleitung

über die (moralische) Qualität von Personen und deren Handlungen für gültig halten. Hinsichtlich der Implikationen dieser Annahme für die Geltung rechtlicher Bestimmungen divergieren rechtspositivistische und naturrechtliche Auffassungen. Dies wird deutlich, vergleichen wir die Positionen zur Rechtmäßigkeit von Handlungen, die gemäß der zur Tatzeit positiv-rechtlich geltenden gesetzlichen Bestimmungen eines vor-rechtsstaatlichen Vorgängerregimes rechtens waren, nach liberalen Überzeugungen und den Bestimmungen der nachfolgenden rechtsstaatlichen Ordnung aber unrechtmäßig sind. Während die naturrechtliche Auffassung der ex nunc Nichtigkeit der früheren gesetzlichen Bestimmungen sich auf das historische Urteil beruft, diese Bestimmungen genügten bestimmten substantiellen normativen Standards nicht, kommt die rechtspositivistische Auffassung der möglichen ex tunc Unerheblichkeit dieser Bestimmungen für die heutige rechtliche Beurteilung ohne ein solches historisches Urteil aus. Diese Divergenz kann einen praktischen Unterschied machen für die Rechtmäßigkeit der strafrechtlichen Verfolgung von Handlungen, die unter dem Vorgängerregime rechtlich geschützt waren, nämlich abhängig von den Entscheidungen des rechtsstaatlichen Gesetzgebers, wie ich in Kapitel VI zeige. Die Analyse der philosophischen Probleme verweist also auf praktische und politische Fragen. Deren plausible Beantwortung hängt auch von rechts- und sozialwissenschaftlichen Überlegungen ab. Was die strafrechtliche Reaktion auf unter einem Vorgängerregime für rechtens geltenden Handlungen betrifft, so wäre nicht nur zu fragen, ob eine Einschränkung oder Aufhebung der Nullum cnmen, nulla poena sine lege-Regel vertretbar ist und, falls ja, auf Grundlage welchen Rechtsverständnisses, sondern auch, sollte die nachträgliche strafrechtliche Verfolgung solcher Handlungen rechtens sein können, welche Institutionen nach einer Transition to Democracy für die Feststellung zuständig sind, dass die Rechtsbestimmungen, welche die Handlungen als rechtmäßig schützten, nichtig oder für die heutige rechtliche Bewertung unbeachtlich sind (Kap. VI). Die gerechtigkeitstheoretische Prüfung der für den Zweck des Arguments unterstellt rechtmäßigen Option strafrechtlicher Verfolgung solcher Handlungen kann zu dem Ergebnis fuhren, auf solche unter ungünstigen Bedingungen der Transition to Democracy verzichten zu

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sollen, nämlich weil die Arbeit einer Wahrheitskommission in Verbindung mit einer bedingten Teilamnestie die Gerechtigkeitsansprüche der Opfer und anderer gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen besser erfüllt und uns erlaubt, unseren überlebenden Pflichten mit Blick insbesondere auf die heute toten Opfer zu genügen (Kap. VII). Diese These ist sehr vorraussetzungsreich. Sie setzt voraus, dass der Verzicht auf Bestrafung seinerseits rechtens und eine politische Option sein kann. Die These ist abhängig von einer Interpretation der Leistungen von Strafgerichten und Wahrheitskommissionen für die Erfüllung unterschiedlicher Gerechtigkeitsansprüche der Opfer schlimmen Unrechts, das während oder im Namen eines Vorgängerregimes verübt wurde. Die These ist außerdem abhängig von der Einschätzung des relativen gerechtigkeitstheoretischen Werts der Bestrafung der Täter — nicht zuletzt für die Opfer — und der Anerkennung der Opfer durch die offizielle Feststellung der Wahrheit über das an ihnen verübte Unrecht, wie es die Arbeit einer Wahrheitskommission leisten kann. Diese Leistung von Wahrheitskommissionen kann auch die Erfüllung unserer überlebenden Pflichten mit Blick auf tote Opfer ermöglichen helfen. Die These erweist sich ferner als abhängig von der Zulässigkeit der Gewichtung der Erfüllung von Gerechtigkeitsansprüchen gemäß auch der Zahl der betroffenen Personen. Nicht zuletzt aber hängt sie ab von hypothetischen Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen, je nachdem, ob die eine oder andere Option gewählt wird: Hypothetisch zu vergleichen sind die Wirkungen der Policy-Entscheidung zugunsten strafrechtlicher Verfolgung und der alternativen Entscheidung für eine Wahrheitskommission mit bedingter Teilamnestie nicht nur für die Gerechtigkeits- und anderen Ansprüche der Opfer, sondern auch der legitimen Ansprüche aller anderen betroffenen Personen. Nicht weniger schwierig können die Abwägungen sein, die für die Einschätzung anderer Ansprüche aufgrund historischen Unrechts erforderlich sind. Zu den institutionellen Möglichkeiten der Reaktion auf historisches Unrecht zählen auch Maßnahmen, welche die Interessen von Menschen als Mitgliedern historisch diskriminierter Gruppen stützen sollen, insbesondere durch die Anerkennung des Rechts auf politische Selbstbestimmung oder die institutionelle Beförderung kultureller und politischer Autonomie. Im Sinne letzterer Maßnahmen ist man vielerorts um sub-souveräne Lösungen histo-

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Einleitung

risch gewachsener, konfligierender Gruppenansprüche bemüht. Dabei geht es häufig um Ansprüche auf Territorium, etwa dem Anspruch indigener Völker auf Kontrolle über ihr Heimatland, aus dem sie zurückgedrängt oder vertrieben wurden.8 Sub-souveräne Lösungen für Gruppenansprüche untersuche ich mit Blick auf die Saami (auch Lappen genannt), das einzige europäische indigene Volk, und mit Blick auf die in vielen Ländern residierende kulturelle und ethnische Minderheit der Roma (auch Gypsies genannt). Beide Gruppen gehören zu den Erinnerungsgemeinschaften, für deren Identität historische Diskriminierung und die Verletzung der Rechte früher lebender Mitglieder der Gruppe von großer Bedeutung ist. Allerdings unterscheiden sich die Leidensgeschichten der Roma und Saami erheblich: Die Roma sind immer wieder Opfer schlimmster Verfolgungen gewesen und eines rassistisch motivierten Genozidversuchs unter den Nazis; bei der kolonialen Vertreibung und Zurückdrängung der Saami und bei den Bemühungen, sie an die neuen Umgebungsgesellschaften zu assimilieren und in diese zu integrieren, sind gewaltsame oder kriegerische Mittel nie verwandt worden, jedenfalls nicht im erheblichen Umfang oder systematisch. Die Ansprüche von Menschen als Mitgliedern beider transgenerationeller Gruppen beziehen sich auf den Erhalt der jeweiligen Gruppenidentität. Während für die Saami Kontrolle über ihr Heimadand, das heute zum Territorium der skandinavischen Staaten und Russlands gehört, von besonderer Bedeutung ist — die traditionell extensive Nutzung des Landes als Nomaden und Rentierzüchter ist zentral für das geteilte Selbstverständnis der Saami —, haben die Roma weder einen besonderen Bezug zu einem Heimatland noch, jedenfalls wenn wir diese ethnische und kulturelle Gruppe als Ganze nehmen, zu einem der vielen Staaten, deren Bürgerinnen und Bürger Roma sind oder in welchen sie sich als Flüchtlinge und Asylsuchende aufhalten. Die Identität beider Gruppen ist eine transnationale, im Falle der Saami eine territoriale, im Falle der Roma eine nicht-territoriale. In beiden Fällen erscheint Sezession kein angemessenes Mittel für die Erfüllung der Ansprüche der Mitglieder auf Erhalt ihrer jeweiligen Gruppenidentität zu sein, wohl aber scheinen Maßnahmen erforderlich, die auf die Stärkung und Institutionalisierung der kulturellen und politischen Autonomie der Gruppen zielen — das jedenfalls ist die praktisch-politische Behauptung, auf welche sich die Ana-

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lysen und Interpretationen der Kapitel IV und V beziehen. Was aber kann philosophische Analyse und Interpretation zum Verständnis und zur Begründung der genannten Behauptung beitragen und inwiefern sind die Ansprüche heute lebender Mitglieder dieser Gruppen historische Ansprüche? Hier werden einige der in den genannten Kapiteln entwickelten Analyse- und Interpretationsbausteine zur Deutung dieser Ansprüche genannt. Unterbreitet wird erstens eine Interpretation des intrinsischen Werts der Mitgliedschaft in transgenerationellen Erinnerungsgemeinschaften, die mit dem die liberale Position kennzeichnenden normativen Individualismus vereinbar ist (Kap. IV.4). Der gemeinte nicht-instrumentelle Wert solcher Mitgliedschaft bezieht sich unter anderem auf die besonderen historischen Merkmale der Gruppenkultur und die Weise, wie Menschen Mitglieder solcher Gruppen werden. Der Wert der Mitgliedschaft in solchen Gemeinschaften ist für die Mitglieder in der kollektiven Partizipation an einem geteilten Leben und der Realisierung von spezifischen Projekten zu verstehen. Den Wert solch geteilten Lebens und der spezifischen Projekte, die ihnen offen stehen, können Mitglieder dieser Gruppen nicht verstehen, ohne die Bemühungen der Vorfahren um Förderung, Erhalt und Tradierang der Gruppenkultur anzuerkennen. Häufig ist die Bedeutung dieser Projekte auch ohne ihre starke Zukunftsorientierang nicht oder nicht vollständig zu verstehen: sie zielen auf intergenerationelle Kooperation mit zukünftig lebenden Mitgliedern der Gruppe oder auf deren Begünstigung. Zweitens, die Signifikanz der historischen Diskriminierung der Gruppe und das an früheren Mitgliedern verübte Unrecht wird im Sinne der zukunftsorientierten Interpretation (Kap. II) gedeutet. In ihren bleibenden Wirkungen unterminieren sie den Wert der Mitgliedschaft in den betroffenen Gruppen für gegenwärtig und zukünftig lebende Menschen. Maßnahmen der Kompensation wegen der bleibenden Wirkung solchen Unrechts zielen darauf, den Wert der Mitgliedschaft in diesen Gruppen zu fördern und zu schützen. Solche Maßnahmen zu unterstützen können gegenwärtig lebende Menschen als Mitglieder andauernder Gesellschaften verpflichtet sein, in deren Namen das Unrecht begangen wurde. Solche andauernden Gesellschaften haften für Verletzungen genereller Pflichten, deren Erfüllung zu den minimalen Bedingungen der Legitimität die-

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Einleitung

ser Gesellschaften zählen. Würden sie diese Pflichten (und bei Verletzung der Pflichten die Pflichten zu Kompensation und Restitution) nicht als bindend anerkennen, könnten solche Entitäten die Rechte, die ihnen unter Bedingung ihrer Legitimität zukommen, nicht beanspruchen, und insbesondere auch nicht das Recht zur langfristigen vertraglichen Bindung. Die Mitglieder andauernder Gesellschaften, insbesondere die Bürger demokratisch organisierter Staaten, sind ihrerseits verpflichtet, die Erfüllung dieser Pflichten und gegebenenfalls die Kompensations- und Restitutionsmaßnahmen ihres Gemeinwesens zu unterstützen. Dies setzt weder voraus, dass sie als Personen für die Unrechtshandlungen verantwortlich sind oder hätten verantwortlich sein können, noch dass sie aufgrund des im Namen ihrer andauernden Gesellschaft verübten Unrechts begünstigt sind oder wurden. Die Gründe für die Zuschreibung solcher Pflichten sind umstritten, können aber vereinbar sein mit liberalen Überzeugungen hinsichtlich der besten Handlungsgründe von Individuen und des (womöglich bloß instrumentellen und kontingenten) Werts spezifischer, nämlich staatlicher oder staatsähnlicher Institutionalisierung menschlichen Zusammenlebens. Drittens, einige Pflichten gegenwärtiger Mitglieder transgenerationeller Gruppen werden im Sinne der in Kapitel III entwickelten Position als überlebende Pflichten gedeutet, also als Implikationen des Handelns früher lebender Menschen als Mitglieder dieser Gruppen. Welche normativen Implikationen das Handeln früher lebender Menschen hat, hängt von der besonderen Qualität ihres Handelns ab. Unterschieden werden moralisch gutes, verdienstvolles, später lebende Menschen begünstigendes oder schädigendes und verbrecherisches Handeln früher lebender Menschen und die Implikationen für gegenwärtig und zukünftig lebende Menschen als die ererbter öffentlicher Güter, Verdienste, Übel und Verbrechen. Ein Vergleich der normativen Implikationen dieser Aspekte kollektiven Erbes ergibt, dass sie sich unterscheiden, erstens hinsichtlich der Menschen, denen oder mit Blick auf welche gegenwärtig lebende Menschen etwas schulden können und zweitens hinsichtlich der Gründe, die dafür sprechen, dass sie unter bestimmten Pflichten stehen. Die Unterschiede können als asymmetrische Implikationen kollektiven Erbes beschrieben werden (Kap. V).

Einleitung

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Im Falle ererbter öffentlicher Güter können die Erben zu Dankbarkeit verpflichtet sein. Haben beispielsweise früher lebende Mitglieder der Gruppe auch unter schwierigsten Umständen sich um den Erhalt der Gruppenkultur bemüht und hatten damit Erfolg — was sowohl für die Saami als auch die Roma gilt - , dann können gegenwärtig lebende Menschen als Mitglieder dieser Gruppen unter überlebenden Pflichten der Dankbarkeit mit Blick auf diese früher lebenden Menschen stehen. Solche Dankbarkeit kann die Mitglieder der Gruppe auch mit Blick auf zukünftig lebende Mitglieder verpflichten, insofern generelle Gründe dafür sprechen können, die überlebenden Pflichten zu erfüllen, indem den Intentionen der früheren Mitglieder, durch ihre Bemühungen auch weiter entfernt zukünftig lebenden Menschen begünstigen zu wollen, entsprochen wird. Für die gegenwärtigen Mitglieder der Gruppe spezifiziert die überlebende Pflicht zur Dankbarkeit also Gründe, zum Erhalt der Gruppenkultur beitragen zu sollen. Eine solche Interpretation des Anspruchs auf Erhalt der Gruppenkultur und der Pflicht anderer, die Erfüllung dieses Anspruchs zu befördern, beruht demnach auf der Vermittlung der oben unterschiedenen Dimensionen der normativen Signifikanz des Handelns früher lebender Menschen. Beide Dimensionen weisen Handlungsgründe aus, die konsequentialistisch deutbar und mit Grundannahmen liberaler politischer Philosophie vereinbar sind. Auch die Gründe für überlebende Pflichten sind einer konsequentialistischen Interpretation zugänglich, wenn sich das konsequentialistische Kriterium richtigen Handelns auf vollständige Ereignisse bezieht, die frühere (und deshalb unveränderliche) Zustände der Welt berücksichtigen, und in dem starken Sinne vergangenheitsorientiert ist, dass das Handeln gegenwärtig lebender Menschen danach bewertet wird, wie es sich auf frühere Zustände bezieht. Entsprechend weist die Idee überlebender Pflichten Handlungsgründe für gegenwärtig lebende Menschen aus, die von den Pflichtverletzungen sowie generellen und besonderen zukunftsorientierten Ansprüchen früher lebender Menschen impliziert sind. Nach liberaler Überzeugung haben überlebende Pflichten wie auch die Pflichten zur Kompensation aufgrund der bleibenden Wirkung historischen Unrechts dann keine Geltung, wenn sie mit den dringendsten, für alle gleichermaßen gültigen Handlungsgründen konfligieren, zu denen insbesondere zählt, die Verlet-

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Einleitung

zung fundamentaler Rechte von Menschen zu vermeiden. Die Möglichkeit solcher Konflikte wird in dieser Arbeit für überlebende Pflichten mit Blick auf heute tote Opfer und Pflichten gegenüber überlebenden und indirekten Opfern ausdrücklich anerkannt.9 Philosophische Analysen und Interpretationen können zwar die Behauptung nicht ausweisen, im Falle der Roma und Saami seien spezifische Maßnahmen erforderlich, um den Wert der Mitgliedschaft in diesen Gruppen zu erhalten und zu fördern. Trotz der Unterschiede zwischen diesen Minderheitenkulturen und auch in ihren Beziehungen zu den sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften erweist sich aber erstens für beide Gruppen die Forderung plausibel, die sub-souveräne kulturelle und politische Autonomie der Gruppen so zu stärken, dass sie Entscheidungen beeinflussen können, welche die Gruppenkultur und den Wert derselben für ihre Mitglieder betreffen, und es ist zweitens plausibel, dieses Ziel durch fortschreitende transnationale Institutionalisierung der Gruppen, insbesondere mittels der Etablierung entsprechender demokratischer Repräsentanz fördern zu wollen. Um dies zu begründen, müssen die jeweiligen besonderen Merkmale der Minderheitenkulturen berücksichtigt werden, z.B.: Konsens und Dissens unter ihren Mitgliedern hinsichtlich der vorrangig zu befördernden Interessen und Ziele, die tatsächlich im Namen der Gruppe jeweils erhobenen historischen Ansprüche und ihre Legitimität, die Qualität der Gruppenkulturen mit Blick auf den Schutz fundamentaler Interessen der Mitglieder und betroffener Nicht-Mitglieder, die wahrscheinlichen Konsequenzen der genannten Maßnahmen und die Chance ihrer Durchsetzung sowie die Vereinbarkeit dieser mit anderen Maßnahmen, die wünschenswerte Ergebnisse versprechen.

Anmerkungen

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Anmerkungen 1

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Im Folgenden verwende ich moralische Rechte und legitime Ansprüche gleichbedeutend. Das scheint unproblematisch, solange wir annehmen, dass auch einen legitimen Anspruch zu haben impliziert, dass eine andere Person oder andere Personen unter (der) korrelativen Pflicht(en) stehen, dem Anspruch zu entsprechen. Gemeint ist: Gemäß Grundannahmen liberaler politischer Philosophie. Zwar ist die Begründung dieser Annahmen liberaler politischer Philosophie nicht Gegenstand dieses Buches. Aber die entwickelten Argumente und Überlegungen beanspruchen mit diesen Annahmen kompatibel zu sein und leisten insofern einen Beitrag zu diesem Verständnis. Zur Charakterisierung dieser Position siehe Kap. IV.4 und VI.8. Siehe Meyer 2003. Siehe Kritz, 1995. Für dieses Verständnis von Gerechtigkeitsansprüchen und Pflichten der Gerechtigkeit siehe Mill 1969, Kap. 5. Siehe Kap. VI, N. 4. Letztere Bedingung kann relevant sein für die relative Stärke der Ansprüche. Siehe Kap. II.7 und 8. Siehe auch die Bemühungen um eine sub-souveräne Lösung der konfligierenden Ansprüche der Israelis und Palästinenser auf Kontrolle über Jerusalem, die in Ilirsch, I lousen-Couriel, Lapidoth 1995 dokumentiert sind. Siehe Kap. III.8 und 9, und Kap. VII.4 und 5.

II. Vergangenheit und Zukunft. Die Gründe für eine Schwellenwertkonzeption der Schädigung /. Historische Ansprüche, Ansprüche gegenwärtig liebender und Ansprüche zukünftig liebender Die Ansprüche von Menschen, und insbesondere auch von Menschen in der so genannten dritten und vierten Welt beziehen sich häufig auf historische Ungerechtigkeiten, die ihre Vorfahren erlitten haben. Wie schon im Einleitungskapitel betont lassen sich die Aufgaben, die Grundbedingungen für das Wohlbefinden von gegenwärtig wie auch zukünftig lebenden Menschen sicher zu stellen, in der Praxis nicht einfach separieren. Wir sind aber mit mehreren und verschiedenen Aufgaben konfrontiert, wenn wir eine normative Interpretation der Beziehungen unter gegenwärtig Lebenden einerseits und den Beziehungen zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftig lebenden Menschen andererseits entwickeln wollen. In diesem Kapitel diskutiere ich die Relevanz der so genannten Kontingenz zukünftig lebender Menschen sowohl für die Pflichten gegenwärtig lebender Menschen ihnen gegenüber als auch für die Ansprüche gegenwärtig lebender Menschen auf Entschädigung wegen historischen Unrechts. Unter Kontingenz zukünftig lebender Menschen versteht man, dass die Komposition (das ist, die Identität und Zahl), ja sogar die Existenz zukünftiger Menschen von den Entscheidungen und Handlungen gegenwärtig lebender Menschen abhängen können. Zeitgenossen sind nicht in diesem Sinn kontingent: Ihre Existenz, Zahl und Identität stehen zu jedem Zeitpunkt fest. Und wir können auch die Komposition und Existenz der Menge unserer Vorfahren nicht ändern. Der Kontingenz zukünftig lebender Menschen von den Entscheidungen und Handlungen gegenwärtig lebender Menschen wird von vielen Theoretikern entscheidende Bedeutung für den moralischen

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Status zukünftig lebender Menschen zugeschrieben. Denn diese Theoretiker behaupten, dass gegenwärtig lebende Menschen Rechte zukünftig lebender Menschen nicht berücksichtigen können, wenn sie Entscheidungen treffen, von deren Ausführung die Existenz und Komposition der zukünftig lebenden Menschen abhängen. Das gilt, wie ich zeigen werde, mit Blick auf Rechte, deren Verletzung die Schädigung des Wohlbefindens der Rechtsträger voraussetzt, und wenn wir das weithin übliche1 hypothetisch-historische Verständnis von Schädigung unterstellen. Gemäß dem hypothetisch-historischen Verständnis von Schädigung wird eine Person durch eine Handlung dann geschädigt, grob gesagt, wenn sie besser gestellt wäre, wäre die Handlung unterblieben. Dieses Verständnis von Schädigung setzt voraus, wie ich in Kapitel II.4 erklären werde, dass die geschädigte Person unabhängig von der sie schädigenden Handlung existiert — weshalb das hypothetisch-historische Verständnis von Schädigung im intergenerationellen Zusammenhang auch das identitätsabhängige Verständnis und das hier vorgestellte Problem das Nicht-Identitätsproblem genannt werden. Meine Diskussion unterstellt nicht, dass Schädigung hinreichende Bedingung für die schuldhafte Verletzung von Rechten ist. Zum Beispiel wird man von gegenwärtig lebenden Menschen nicht sagen wollen, dass früher lebende Menschen sie durch Treibhausgasemissionen schuldhaft in ihren Rechten verletzt haben, wenn die früher lebenden Menschen, die diese Emissionen verursacht haben, die Wirkung ihrer Handlungen und Politiken auf das Wohlbefinden zukünftig lebender Menschen weder gekannt haben noch hätten kennen können. 2 Intuitiv haben die Erwägungen, die für die moralische Bewertung des Verhaltens einer Person relevant sind, mit der Qualität des Verhaltens selbst zu tun, ganz unabhängig von seinen Konsequenzen. 3 Dafür, dass das Handeln einer Person wegen seines Ergebnisses moralisch fehlerhaft ist, müsste die Person in einer Position sein, dieses Ergebnis ihres Handelns wenigstens für möglich zu halten. Dass mit Blick auf Treibhausgasemissionen früher lebende Menschen zwar das Wohlergehen gegenwärtig lebender Menschen durch ihr Handeln beeinträchtigt haben, ohne sich aber moralisch falsch verhalten zu haben, ist normativ signifikant, weil, wie ich in den Kapiteln III-V zeige, gegenwärtig lebende Menschen, zum Beispiel

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als Mitglieder fortbestehender politischer Gesellschaften auf historisches Unrecht in besonderer Weise reagieren sollten. Die normative Signifikanz historischen Unrechts geht nicht auf in den Konsequenzen der Unrechtshandlungen für das Wohlergehen gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen. In Kapitel IV und V werde ich die lang anhaltenden Wirkungen von Übeln und von Verbrechen unterscheiden. Mit Verbrechen verweise ich auf schlimmstes Unrecht. Die normative Signifikanz von Übeln geht auf in ihren schädigenden Konsequenzen für das Wohlergehen gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen, nicht aber die Signifikanz von historischem Unrecht. Ich unterstelle auch nicht, dass Schädigung generell notwendige Bedingung für die Verletzung von Rechten ist.4 Vielmehr nehme ich an, dass für viele Ansprüche und Rechte gilt, dass eine notwendige Bedingung ihrer Verletzung die Schädigung von Interessen ist, deren Schutz oder Beförderung Gegenstand des jeweiligen Rechts ist. Für meine Diskussion in diesem Kapitel ist wichtig, dass dies typischerweise für die Ansprüche und Rechte auf (die Voraussetzungen von menschlichem) Wohlergehen gilt. Deshalb stimmt mit Blick auf diese Rechte, dass, so früher lebende Menschen die Interessen gegenwärtig Lebender nicht beschädigen konnten und gegenwärtig lebende Menschen die Interessen zukünftig Lebender nicht beschädigen können, sie deren Rechte auf den Schutz oder die Förderung ihres Wohlergehens nicht verletzen konnten oder können. Das Nicht-Identitätsproblem beruht also auf der Behauptung, dass gegenwärtig lebende Menschen zukünftig lebende Menschen im hypothetisch-historischen Sinne nicht schädigen können, wenn die Komposition und Existenz letzterer von den (vermeintlich) schädigenden Handlungen abhängen, und dass zukünftig lebende Menschen deshalb und dann keine Ansprüche auf Nicht-Schädigung gegenüber gegenwärtig lebenden Menschen haben können. Das Nicht-Identitätsproblem tritt analog auf bei der Deutung von Entschädigungsansprüchen wegen historischen Unrechts: Erheben gegenwärtig lebende Menschen Ansprüche auf Entschädigung wegen historischen Unrechts und sind die Unrechtshandlungen ihrerseits Bedingungen der Existenz (Identität und Zahl) der Anspruchsträger, dann ergeben deren Ansprüche auf Entschädigung keinen Sinn wenn wir im hypothetisch-historischen Sinn voraussetzen müssen,

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dass sie aufgrund der Unrechtshandlungen schlechter gestellt sind, als sie es wären, wären die Handlungen unterblieben. Denn unter dieser Voraussetzung existierten die Anspruchsträger nicht, wäre die (vermeintlich) schädigende Handlung ausgeblieben. Ich werde in diesem Kapitel eine Lösung der Probleme unterbreiten, die darauf beruht, einen Begriff der Schädigung zu unterscheiden und zu erklären, den das Nicht-Identitätsproblem nicht betrifft, nämlich die Schwellenwertkonzeption der Schädigung. Demnach schädigt die Handlung eine Person dann, wenn die Person aufgrund der Handlung unter einen normativ definierten Schwellenwert fällt — wobei dies, wie ich in den Kapitel II.6 und 7 zeige, lediglich als eine hinreichende Bedingung für Schädigung aufzufassen ist. Die-ses Verständnis von Schädigung ist vom genannten Problem deshalb unberührt, weil zur Feststellung des Vorliegens der Schädigung kein hypothetischer Vergleich mit der Situation nötig ist, die vorläge, wäre die schädigende Handlung ausgeblieben. Entsprechend können Ansprüche auf Entschädigung wegen der bleibenden Wirkung historischen Unrechts sich auf die Schwellenwertkonzeption der Schädigung berufen. Die Kontingenz zukünftig lebender Menschen von unseren Entscheidungen ist nur eine Hinsicht, in welcher die Beziehungen zwischen gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen sich unterscheiden von den Beziehungen, die zwischen gegenwärtig lebenden Menschen bestehen. Jedoch ist dieses Merkmal intergenerationeller Beziehungen verschieden von anderen Merkmalen intergenerationeller Beziehungen. Zu diesen Merkmalen zählen: Es gibt keine reziproken Beziehungen zwischen NichtZeitgenossen; die Machtbeziehungen zwischen gegenwärtig lebenden Menschen und Menschen, die in der weiter entfernten Zukunft leben, sind asymmetrisch und unabänderlich so;5 oder die Tatsache, dass wir zwar die besondere Identität unserer Zeitgenossen und unserer Vorfahren kennen, uns jedoch gewöhnlich nicht auf zukünftig lebende Menschen als Individuen beziehen können. Für einige Philosophen sind diese Merkmale intergenerationeller Beziehungen oder auch schon der Umstand, dass zukünftig lebende Menschen erst in der Zukunft leben werden, Anlass für Zweifel daran, dass zukünftig lebende Menschen uns gegenüber Rechte haben können. Diese Zweifel erweisen sich als

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unbegründet, wie ich mit Blick auf die beiden letztgenannten Merkmale in Kap. II.2 und 3 zeige. Die Einschätzung der normativen Signifikanz der Kontingenz zukünftig lebender Menschen von unseren Entscheidungen und Handlungen ist aber unabhängig von der Einschätzung der Signifikanz dieser anderen Merkmale intergenerationeller Beziehungen. Mit anderen Worten: man kann der Auffassung sein, dass die besonderen Machtbeziehungen und epistemischen Bedingungen6 sowie das Fehlen der Möglichkeit reziproker Beziehungen unter NichtZeitgenossen der Zuschreibung von Rechten an zukünftig lebende Menschen uns gegenüber nicht im Wege steht. Jedoch kann man außerdem die Auffassung vertreten, gegenwärtig lebende Menschen könnten sich in Entscheidungs Situationen, in denen die Existenz oder die Identität und Zahl zukünftig lebender Menschen von ihren Entscheidungen abhängen, nicht auf Überlegungen stützen, welche die Rechte zukünftig lebender Menschen betreffen. Letzteres wird aber deutlich, wenn wir die Behauptung untersuchen, gegenwärtig lebende Menschen seien verpflichtet, Mitmenschen Entschädigung für Schädigungen zu leisten, die ihnen durch die fortdauernde Wirkung des Unrechts zugefügt wird, das an ihren Vorfahren verübt wurde. Diese Behauptung betrifft Zeitgenossen, die in reziproken Beziehungen zueinander stehen können; die Machtbeziehungen zwischen ihnen können sehr unterschiedlich sein und sich ändern; und wir können sichere Kenntnis davon haben, welche Wirkung das an den Vorfahren verübte Unrecht für das Wohlbefinden gegenwärtig lebender Menschen hat. Dass jedoch die personale Identität der Anspruchsträger tatsächlich unter anderem davon abhängt, dass an ihren Vorfahren Verbrechen verübt wurden, kann Grund dafür sein, die Legitimität der Ansprüche in Abrede zu stellen. Denn wir können uns nicht auf das übliche Verständnis von Schädigung, nämlich das hypothetisch-historische oder identitätsabhängige Verständnis berufen, um die entsprechende Behauptung zu erklären. Demnach stellt das Kapitel heraus, inwiefern die Analyse historischer Ansprüche - hier also Ansprüche von Menschen auf Entschädigung, weil ihre Vorfahren auf schlimmste Weise in der Vergangenheit geschädigt wurden — eng verbunden ist mit der Analyse des normativen Status zukünftig lebender Menschen. Der Status toter

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Menschen ist vom Status zukünftiger Menschen verschieden.7 Für die Vorfahren waren aber gegenwärtig lebende Menschen zukünftig lebende Menschen. Die, die heute leben, waren zu einem früheren Zeitpunkt Menschen, die in der Zukunft leben würden und deren Existenz, Zahl und Identität von den Entscheidungen früher lebender Menschen abhingen. Im Ergebnis unterstützen meine Überlegungen in diesem Kapitel zentrale Auffassungen der liberalen Kosmopoliten8 zur Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Liberale Kosmopoliten vertreten häufig die Auffassung, erstens, dass gegenwärtig lebende Menschen, wo immer sie auch leben mögen, und zukünftig lebende Menschen, wann immer sie leben werden, denselben moralischen Status als Menschen genießen.9 Insofern es um die Zuschreibung dieses moralischen Status an zukünftig lebende Menschen geht, vertreten Kosmopoliten die Auffassung, dass die besonderen Merkmale unserer Beziehungen zu zukünftig lebenden Menschen irrelevant sind. Dieser Uberzeugung kann Ausdruck verliehen werden, indem wir sagen, dass sowohl gegenwärtig als auch zukünftig lebende Menschen uns gegenüber grundlegende Rechte oder Menschenrechte genießen.1" Zweitens vertreten liberale Kosmopoliten häufig die Auffassung, gegenwärtig lebende Menschen könnten Ansprüche auf Entschädigung nicht schon alleine deswegen erheben, weil ihre Vorfahren schlimmes Unrecht in der Vergangenheit erlitten haben. Stattdessen behaupten sie, Geschichte sei relevant wegen der Konsequenzen vergangener Ereignisse für das Wohlbefinden gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen. Kurz gesagt: Die Vergangenheit ist von kausaler Signifikanz. Ich werde mich auf dieses Verständnis als die zukunftsorientierte Interpretation der Signifikanz vergangenen Unrechts beziehen.11 Die angedeutete Lösung des Nicht-Identitätsproblems erlaubt nun den Nachweis, dass diese Auffassungen der Kosmopoliten systematisch miteinander verknüpft sind. Ich werde also zwischen zwei Interpretationen des Rechts, nicht geschädigt zu werden, unterscheiden: zwischen einer Interpretation im Sinne eines Schwellenwerts und einer hypothetisch-historischen Interpretation des Rechts. Außerdem unterscheide ich zwischen (i) den Pflichten gegenwärtiger Generationen, die Rechte zukünftiger Generationen nicht zu verletzen, und (ii) den Pflichten gegenwärtig lebender Generationen, die

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Schäden gegenwärtig lebender Menschen zu kompensieren, die ihnen durch die bleibende Wirkung von Ungerechtigkeiten zugefügt werden, die an ihren Vorfahren verübt wurden. Ich vertrete die These, dass wir, so wir uns auf einen Begriff der Schädigung im Sinne eines Schwellenwerts stützen, Schlussfolgerungen mit Blick auf beide Typen von Pflichten gegenwärtig lebender Generationen rechtfertigen können — Schlussfolgerungen, die nur an Überlegungen appellieren, die sich auf Rechte beziehen, und die für Kosmopoliten akzeptabel sind. Ich beginne hier, indem ich den auf dem Nicht-Identitätsproblem beruhenden Einwand gegen die kosmopolitische Sicht des Status zukünftiger Menschen untersuche (Kapitel II.2 und 3): Die Kontingenz zukünftiger Menschen von unseren Entscheidungen, die Tatsache also, dass die Komposition (das ist, die Identität und Zahl), ja sogar die Existenz zukünftiger Menschen von unseren Entscheidungen abhängen können, stellt in Frage, dass zukünftige Menschen Rechte haben können, die korrespondierende Pflichten begründen, die wir ihnen schulden.12 Die Verteidigung der kosmopolitischen Sicht des Status zukünftiger Menschen hängt ab von der Berufung auf einen identitätsunabhängigen Begriff der Schädigung (Kapitel II.4). Auf der Grundlage eines solchen Begriffs der Schädigung entwickle ich, zweitens, die folgende Analyse historischer Ansprüche (Kapitel II.5): Die normative Relevanz vergangenen Unrechts heute hängt ab von ihrer kausalen Relevanz für das Wohlbefinden gegenwärtig (und zukünftig) lebender Menschen. Auf diese Weise können wir die kosmopolitische Analyse der moralischen Relevanz historischen Unrechts verstehen. Anschließend verteidige und qualifiziere ich diese Interpretation unserer Pflichten gegenüber Vergangenheit und Zukunft, indem ich verschiedene Einwände untersuche (Kapitel II.6 und 7).

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Relevant von

Kechtsüberlegunge

2. Die Helevan^ von Rechtsüberlegungen bei der Wahl von langfristigen Politiken Einige Philosophen bestreiten, dass zukünftig lebende Menschen Rechte haben,13 indem sie darauf hinweisen, dass diese Menschen in der Zukunft leben. So findet man etwa die folgende Behauptung: Definitionsgemäß existieren zukünftige Generationen heute nicht. Sie können deshalb auch keine Träger oder Subjekte von irgendetwas sein, auch nicht von Rechten. 14

Die Behauptung, wir können die Rechte zukünftig lebender Menschen verletzen, impliziert aber nicht, dass zukünftig lebende Menschen heute Rechte haben.15 Diese Implikation wäre nur dann gegeben, wollte man behaupten, einzig gegenwärtig existierende Rechte können gegenwärtiges Handeln normieren. Es ist aber unproblematisch anzunehmen, dass zukünftig lebende Menschen Träger von Rechten in der Zukunft sein können, zweitens, dass jedenfalls einige Rechte, die sie dann haben werden, von den Interessen, die sie dann haben, bestimmt sein werden, und drittens, dass unsere gegenwärtigen Handlungen und Politiken ihre Interessen betreffen können. Wenn wir die Interessen zukünftiger Menschen verletzen oder sie daran hindern können, ihre Interessen zu realisieren, können wir deshalb auch ihre zukünftigen Rechte verletzen — insofern es sich um Rechte handelt, für deren Verletzung eine notwendige Bedingung die Schädigung von Interessen ist, deren Schutz oder Beförderung Gegenstand des jeweiligen Rechts ist. Dies gilt typischerweise für die Ansprüche und Rechte auf (die Voraussetzungen von menschlichem) Wohlergehen. So können wir ganz unabhängig davon, welchen moralischen Status wir Embryonen zuschreiben, die Interessen einer zukünftigen Person schädigen und ihre Rechte verletzen, indem wir heute einem Embryo Schaden zufügen, wenn dieser Schaden zu schweren Erkrankungen der zukünftigen Person führt. Entsprechend können wir die Interessen zukünftiger Menschen beschädigen und ihre Rechte verletzen, indem wir heute der Umwelt Schaden zufügen, der zu schweren Erkrankungen zukünftiger Menschen führt.16 (Siehe Anhang, Tabelle II. 2) Demnach können die Handlungen gegenwärtig lebender Menschen die Rechte zukünftig lebender Menschen verletzen. Ein gewichtiger Einwand dagegen, und dies ist der zentrale Gegenstand

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dieses Kapitels, beruht auf der Kontingenz zukünftiger Menschen von unseren Entscheidungen und dem damit verbundenen NichtIdentitätsproblem: Insofern die Existenz und Komposition (Identität und Zahl) zukünftig lebender Menschen von den Entscheidungen und Handlungen gegenwärtig lebender Menschen abhängig sind, 17 können, so der Einwand, gegenwärtig lebende Menschen in ihren Entscheidungen die Rechte zukünftiger Menschen nicht berücksichtigen. Die Diskussion der normativen Signifikanz der Kontingenz zukünftig lebender Menschen bereite ich vor, indem ich zunächst untersuche, ob die Behauptung, die Rechte zukünftig lebender Menschen seien zu berücksichtigen, impliziert, dass sie ein Recht auf Existenz haben. Hierzu wird von vielen auch intuitiv eine Asymmetrie unserer Pflichten im Bereich der Prokreation vertreten: Einerseits stehen Menschen unter keiner Pflicht zur Prokreation, die begründet wäre in den Interessen möglicher zukünftiger Menschen beziehungsweise deren vermeintlichem Recht zur Existenz. Andererseits stehen Menschen unter der Pflicht, auf Prokreation zu verzichten, wenn es ihren Kindern äußerst schlecht ginge und zwar aufgrund der Verletzung von deren Interessen, kämen sie unter solchen Bedingungen zur Existenz, beziehungsweise wegen deren Recht auf Nicht-Existenz. 18 Wie wir diese Asymmetrie verteidigen, hängt unter anderem davon ab, auf wen beziehungsweise auf was wir uns richtig verstanden moralisch beziehen können und sollen. Zwei alternative werttheoretische Grundansätze lassen sich unterscheiden, im Englischen "person-affecting" und "impersonal" genannt. 19 Gemäß ersterem, dem personenbezogenen Ansatz, ist die moralische Qualität einer Handlung daran zu messen, ob und inwiefern sie tatsächliche Personen betreffen. Gemäß letzterem, dem unpersönlichen Ansatz, ist der Wert der Zustände der Welt nicht reduzierbar auf deren Auswirkungen auf tatsächliche Personen. Seit der Publikation des einflussreichen Aufsatzes von Jan Narveson, "Utilitarianism and New Generations", 20 wurde viel diskutiert, 21 ob die behauptete Asymmetrie unserer Pflichten im Bereich der Prokreation mit dem personenbezogenen Ansatz vereinbar ist. Das hat viele Philosophen unter anderem deshalb beschäftigt, weil wir auf der Grundlage des unpersönlichen Ansatzes eine solche Asymmetrie der Pflichten im Bereich der Prokreation nicht plausibel

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oder nur mit großen Schwierigkeiten erklären können. Der unpersönliche Ansatz hebt ab auf den Zustand der Welt, dessen moralische Qualitäten als auch unabhängig davon aufgefasst werden, wie tatsächliche Menschen vom jeweiligen Zustand der Welt negativ oder positiv betroffen sind. Der Ansatz erlaubt den Vergleich alternativer zukünftiger Zustände der Welt, in denen je andere und, aus Sicht der heute Lebenden, nur mögliche Menschen leben würden. Er weist ein Kriterium richtigen Handelns aus, das aufgrund eines solchen Vergleichs die Realisierung eines, nämlich des bestmöglichen zukünftigen Zustande der Welt gebietet oder erlaubt. Den Aufweis der paradoxen Implikationen dieser Auffassung verdanken wir Derek Parfit, dessen Untersuchungen in Reasons and Persons entscheidend zum Verständnis und zur Definition der Probleme des Forschungsfeldes intergenerationeller Gerechtigkeit beigetragen haben.22 Wollen wir auf Grundlage des unpersönlichen Ansatzes eine Asymmetrie der Prokreationspflichten erklären, würde man nicht behaupten, dass mögliche Eltern um der Kinder willen, die sie haben würden, also um genau dieser als Individuen identifizierbaren Personen willen, auf die Prokreation unter bestimmten Bedingungen verzichten sollten. Vielmehr ginge es darum zu zeigen, dass gegenwärtig lebende Menschen und auch Eltern verpflichtet sind, den bestmöglichen Zustand der Welt zu realisieren, und dass dies bedeuten kann, zukünftige Zustände der Welt zu vermeiden, in denen Menschen unter solchen Bedingungen lebten. Man könnte eine Version des negativen Konsequentialismus vertreten und behaupten, die Zustände der Welt wären bessere, orientierten sich gegenwärtig lebende Generationen an einem Kriterium moralisch richtigen Handelns, welches die Beförderung von Glück und Freude nur erlaubt, wenn Schaden und Schmerz vermieden werden — ein negatives Kriterium, das mit anderen Worten der Vermeidung von Zuständen der Welt Priorität gibt, in der Menschen Schaden oder Schmerz erleiden. Gegen den negativen Konsequentialismus lässt sich zumindest dies einwenden: Entweder scheint diese Position die schmerzlose Selbstzerstörung der Menschheit durch kollektiven Selbstmord aller tatsächlich lebenden Menschen oder Verzicht auf Prokreation einer Generation zu empfehlen. Oder der negative Konsequentialismus empfiehlt wegen der epistemischen Unsicherheit der jeweiligen Eltern, wie es dem möglichen Kind ergehen wird, und angesichts der

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vorrangigen Pflicht, Schaden vermeiden zu sollen, regelmäßig den Verzicht auf Prokreation. 23 Eine alternative schwächere Interpretation eines negativen Konsequentialismus legte nahe, wir sollten die Geltung einer prima fade Pflicht annehmen, den Zustand der Welt durch die Schaffung von Menschen, denen es gut geht, zu verbessern, wobei diese Pflicht aber eher aufgehoben werden kann als die Pflicht, Schädigungen zu vermeiden. Diese Interpretation hat aber die paradoxen Implikationen einer auf die Realisierung des bestmöglichen Zustands der Welt zielenden konsequentialistischen Position. Darauf hat Parfit hingewiesen. 24 In diesem Buch interpretiere ich intergenerationelle Pflichten auf der Grundlage eines personenbezogenen Ansatzes. Dass eine personenbezogene Erklärung der Pflicht, um unserer Kinder willen unter bestimmten Bedingungen auf ihre Erzeugung zu verzichten, möglich ist, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht. 25 Hier geht es mir lediglich um die zweite, die Asymmetrie ausmachende Behauptung: Eine Pflicht zur Prokreation um des möglichen zukünftigen Kindes willen erscheint auf der Grundlage eines personenbezogenen Ansatzes sinnlos. Für den personenbezogenen Ansatz ist wichtig, tatsächliche Personen, auf die es ankommt, von anderen Entitäten unterscheiden zu können, auf die es nicht ankommt. Im genannten Sinne sind tatsächlich zukünftige Menschen und mögliche zukünftige Menschen zu unterscheiden, wollen wir die Frage beantworten, ob möglicherweise in der Zukunft lebende Menschen ein Recht auf Existenz haben. Die Unterscheidung kann wie folgt erklärt werden: Wie wir uns auf zukünftig lebende Menschen beziehen, hängt vom Entscheidungskontext ab. Wenn wir vor einer Entscheidung über eine Handlung oder eine politische Maßnahme stehen, und die Wahrscheinlichkeit der Existenz bestimmter zukünftiger Menschen ist (ziemlich) unabhängig davon, ob wir die in Frage stehende Handlung oder Maßnahme ausführen, dann sind diese zukünftigen Menschen in diesem Entscheidungskontext tatsächliche zukünftige Menschen für uns. Wenn wir dagegen vor einer solchen Entscheidung stehen, und die Wahrscheinlichkeit der Existenz bestimmter zukünftiger Menschen ist (in hohem Maße) abhängig davon, wie wir uns entscheiden, dann sind diese zukünftigen Menschen in diesem Entscheidungskontext mögliche zukünftige Menschen für uns. Mit anderen Worten: mit den Entschei-

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dungskontexten ändern sich auch unsere Bezugsweisen auf zukünftige Menschen.26 Es ist eine Sache, jemandes gegenwärtiges oder voraussichtliches Interesse an den Mitteln der Selbsterhaltung zu schädigen. Etwas anderes ist es zu verhindern, dass ein solches Interesse überhaupt zur Existenz kommt. Das erwartete Interesse einer Person, über die Mittel zur Selbsterhaltung zu verfügen, können wir nur dann schädigen, wenn das Interesse unabhängig von der in Frage stehenden Handlung existiert. Mit anderen Worten: wir können das Interesse tatsächlicher zukünftiger Personen, über die Mittel zur Selbsterhaltung zu verfugen, beschädigen. Wenn wir andererseits eine Entscheidung darüber treffen, ob wir uns biologisch reproduzieren oder nicht, dann hängt die Existenz des möglichen Kindes wie auch sein Interesse an den Mitteln der Selbsterhaltung in starkem Maße davon ab, wie wir uns entscheiden. Wenn wir verhindern, dass ein Träger eines Interesses an Selbsterhaltung zur Existenz kommt, schädigen wir nicht ein solches Interesse des Trägers, der existieren könnte, aber nicht existieren wird. Mit Sicherheit wissen wir: Wenn wir die Existenz eines Trägers eines Interesses verhindern, dann schließt das die Möglichkeit der Existenz eines Interesses eines Trägers aus, der nicht existieren wird. Deshalb können die Existenz der Person und seiner entsprechenden Interessen nicht als Faktor in die Entscheidung eingehen, ob wir die Person zur Existenz bringen sollen oder nicht. Bloß mögliche zukünftige Menschen können wir nicht schädigen. Zu behaupten, unser Handeln heute könne die Rechte zukünftig lebender Menschen verletzen, verpflichtet uns nicht zu der Behauptung, mögliche zukünftige Menschen hätten ein Recht auf Existenz. Einige Philosophen haben behauptet, mehr oder weniger alle zukünftig lebenden Menschen seien lediglich mögliche zukünftige Menschen. Denn die besondere genetische Identität zukünftiger Menschen sei in aller Regel abhängig von unseren Entscheidungen. Dies hätte die dramatische Implikation, dass wir bei unseren die Zukunft betreffenden Entscheidungen Rechte zukünftiger Personen nicht berücksichtigen könnten. Denn, wenn wir erstens annehmen, von möglichen zukünftigen Menschen könne nicht gesagt werden, dass sie ein Recht auf Existenz haben, zweitens, dass die Rechte zukünftiger Menschen uns gegenüber davon abhängig sind, dass sie tatsächliche

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zukünftige Menschen für uns sind, und wir außerdem annähmen, dass alle zukünftigen Menschen bloß mögliche zukünftige Menschen für uns sind, dann kann keine zukünftige Person Rechte uns gegenüber haben. Erstens werde ich die genannte Behauptung, alle zukünftigen Menschen seien für uns bloß mögliche zukünftige Menschen, qualifizieren, zweitens bestreiten, dass die Kontingenz der Komposition (Identität und Zahl) zukünftig lebender Menschen von unseren Entscheidungen die Implikation hat, dass wir in unseren Entscheidungen die Rechte zukünftiger Menschen nicht berücksichtigen können. Ist die Behauptung, alle zukünftigen Menschen seien für uns lediglich mögliche zukünftige Menschen, begründet? Thomas Schwartz27 und andere haben diese Behauptung mit folgender Überlegung begründet. Nehmen wir an, wir treffen eine Entscheidung zugunsten bestimmter sozialer und ökonomischer Politiken — zum Beispiel zugunsten einer bestimmten Energiepolitik. Es ist eine Tatsache, dass solche Politiken den Zeitpunkt, zu dem Kinder gezeugt werden, und deshalb zumindest auf lange Sicht die Identität aller zukünftigen Menschen mittelbar beeinflussen können. Eine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Politik kann auch die Zahl der zukünftig lebenden Menschen beeinflussen. Nicht nur langfristige Politiken können diese Auswirkungen auf die Zahl und spezifische genetische Identität zukünftiger Menschen haben. Vielmehr gilt dies für viele unserer Handlungen. Unsere Handlungen können eine Wirkung auf die genetische Identität zukünftig lebender Menschen haben, insofern sie mittelbar das Reproduktionsverhalten von Menschen beeinflussen können, deshalb den Zeitpunkt der Konzeption und deshalb sehr wahrscheinlich beeinflussen, aus welchen besonderen Zellpaaren zukünftige Menschen erwachsen werden.28 Diese Tatsachenbehauptung erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass wir keine Verpflichtungen zukünftigen Menschen gegenüber haben. Denn erstens haben viele unserer Handlungen Auswirkungen auf tatsächlich lebende Menschen, also Menschen, deren Existenz und Identität höchst wahrscheinlich ganz unabhängig von diesen Handlungen sind. Nehmen wir an, wir stünden vor der Wahl, eine Zeitbombe zu zünden, die Menschen, die in der Zukunft leben, Schaden zufügen würde, oder die Bombe nicht zu zünden. Entschieden wir uns, die Bombe zu zünden, würde dies die körperliche Integ-

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rität zukünftiger Menschen verletzen, von denen gilt, dass sie höchst wahrscheinlich ganz unabhängig davon leben werden, dass wir diese Handlung ausführen. Jedenfalls können wir uns Umstände vorstellen, unter denen das Zünden der Bombe höchst wahrscheinlich keine relevanten Auswirkungen auf das Reproduktionsverhalten unserer Mitmenschen und kommender Generationen hat. In einer solchen Entscheidungssituation sind diese Menschen tatsächliche zukünftige Menschen für uns. Es darf deshalb auch nicht wundern, dass sich viele Beiträge zur Frage, was wir zukünftigen Menschen schulden, vorrangig oder ausschließlich mit solchen Entscheidungssituationen befassen, in welchen wir annehmen, dass die Existenz, Identität und Zahl zukünftig lebender Menschen nicht von unseren Entscheidungen abhängig sind.29 Zweitens kann die Unterscheidung zwischen tatsächlichen zukünftigen Menschen und möglichen zukünftigen Menschen relativiert werden und zwar auf vielfältige Weise. 30 In einigen Entscheidungskontexten sind zukünftige Menschen mögliche zukünftige Menschen in einigen Hinsichten, in anderen hingegen tatsächliche zukünftige Menschen. Ein Beispiel ist die Entscheidung zugunsten einer Politik zum Schutz der natürlichen Umwelt. Wie Derek Parfit 31 und andere gezeigt haben, wird die spezifische genetische Identität und die Zahl zukünftiger Menschen in hohem Maße davon abhängen, dass wir diese Politik durchgeführt haben. Wenn es aber richtig ist, dass solche Entscheidungen über langfristige Politiken gewöhnlich nur geringfügige Auswirkungen auf unsere Lebensbedingungen haben, dann müssen wir letztere Behauptung relativieren, nämlich hinsichtlich der Generationen zukünftiger Menschen, auf die wir uns beziehen. Mit Blick auf die nächste Generation oder die ersten nachfolgenden Generationen könnte die Identität und Zahl zukünftiger Menschen ziemlich unabhängig davon sein, dass wir diese Politik ausführen, aber mit Blick auf weiter entfernt lebende zukünftige Menschen werden die Identität und Zahl zukünftiger Menschen in hohem Maß davon abhängen, dass wir die Politik ausführen. Jedenfalls aber treffen wir keine Entscheidung über die Existenz zukünftiger Menschen als solche, wenn wir uns zugunsten der einen oder anderen Politik zum Schutz der Umwelt entscheiden. Vielmehr nehmen wir an, dass, wenn wir eine umweltpolitische Entscheidung treffen, es höchst wahrscheinlich ist, dass es zukünftige Menschen

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geben wird und zwar ganz unabhängig von der gewählten Umweltpolitik. Im Kontext der Entscheidungsfindung über die Umweltpolitik sind deshalb (weit entfernt in der Zukunft lebende) zukünftige Menschen mögliche Menschen hinsichtlich ihrer Identität und Zahl, aber tatsächliche zukünftige Menschen hinsichtlich ihrer Existenz. Wie schon erwähnt können sich die Handlungen gegenwärtig lebender Menschen negativ auf die Interessen tatsächlicher zukünftiger Menschen auswirken und deshalb ihre Rechte verletzen. Nehmen wir nun erstens an, wir können Rechte möglicher zukünftiger Menschen nicht verletzen, und zweitens, dass wir die Unterscheidung zwischen tatsächlichen und möglichen zukünftigen Menschen relativieren können, nämlich hinsichtlich der Existenz, Identität und Zahl zukünftig lebender Menschen, dann stellt sich die Frage, ob wir die Zuschreibung von Rechten entsprechend relativieren können. Können wir im Kontext der Entscheidungsfindung über eine Umweltpolitik behaupten, wir seien verpflichtet, die Rechte zukünftiger Menschen zu beachten, insofern unsere Entscheidung tatsächliche zukünftige Menschen betrifft, während solche Überlegungen keine Rolle spielen, insofern wir uns auf mögliche zukünftige Menschen beziehen? Genau dies wird hier vertreten, auch wenn diese Behauptung mit Schwierigkeiten verbunden ist. Wenn wir eine umweltpolitische Entscheidung treffen, müssen wir davon ausgehen, dass sie höchstwahrscheinlich Auswirkungen auf die genetische Identität zukünftiger Menschen und auch auf ihre Anzahl haben wird. Zugleich wissen wir, dass unsere Entscheidung die Existenz zukünftiger Menschen als solche nicht gefährdet. Unsere Entscheidung betrifft die tatsächlichen zukünftigen Menschen, insofern es sehr wahrscheinlich und (ziemlich) unabhängig von unserer Entscheidungsfindung ist, dass es zukünftige Menschen geben wird. Kann eine Entscheidung, die zumindest auf mittelbare Weise die Identität und Zahl zukünftiger Menschen beeinflusst, wenigstens teilweise von den Rechten zukünftiger Menschen bestimmt sein? Das ist nur dann möglich, wenn wir Menschen zu einem Zeitpunkt Rechte zuschreiben können, zu dem die Merkmale, die sie als Individuen auszeichnen, nicht feststehen.

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3. Epistemische Zweifel Einmal angenommen, dass wir Individuen generelle und universelle Rechte auf der Grundlage davon zuschreiben, dass sie Menschen sind, erscheint es dann sinnvoll, zukünftigen Personen Rechte zuzuschreiben, ohne dass wir in der Lage sind, uns auf sie als Individuen zu beziehen? Wenn wir eine Entscheidung treffen, die den Bezug auf zukünftige Menschen notwendig macht, sind wir nie in der Lage, genetisch gesprochen bestimmte zukünftige Menschen zu identifizieren: wir können die genetischen Identitäten zukünftiger Individuen nicht kennen. Selbst wenn wir in der Lage wären, die genetischen Identitäten unserer Nachfahren zu bestimmen, könnten wir doch die Reproduktionsentscheidungen zukünftiger Personen nicht kontrollieren und wir sollten sie auch nicht in dem Sinne zu kontrollieren hoffen, dass wir die genetischen Identitäten ihrer Nachfahren bestimmen. Wir schulden den Reproduktionsentscheidungen zukünftiger Menschen Respekt, weil diese Entscheidungen zentral für ihre autonome Lebensführung sind. So wir deren Autonomie respektieren, können wir nicht vorhersagen, wer genetisch gesprochen in der Zukunft existieren wird. Wenn es darum geht, wer mit wem zusammenkommt, gibt es ein unbestreitbares Element des Zufalls, und eine Vielzahl von Faktoren wird in jeder zukünftigen Entscheidung über Reproduktion eine Rolle spielen - und das sind Faktoren, die größtenteils jenseits unserer Kontrolle liegen und aus dem genannten Grund bleiben sollen. Lassen wir abstoßende Science-Fiction-Szenarien unberücksichtigt, dann können wir uns auf zukünftige Personen als solche Personen beziehen, die in aller Wahrscheinlichkeit nach uns existieren werden, und zwar ohne in der Lage zu sein, uns genetisch auf die ein oder andere spezifische, von anderen solchen Personen verschiedene, voraussichtliche Person zu beziehen. Überdies sind wir nicht in einer Position, die uns erlaubte, die Möglichkeit auszuschließen, dass es keine zukünftigen Menschen geben wird, oder die uns erlaubte, die Zahl zukünftiger Menschen und ihre genauen Lebensbedingungen vorherzusagen. Bestärken diese Umstände, wie wir uns auf zukünftige Menschen beziehen, nicht die Position derer, die bestreiten, dass es Sinn ergibt, ihnen Rechte zuzuschreiben? Ich glaube nicht. Obwohl unsere beschränkten Fähigkeiten, die Zukunft vorherzusagen, dafür relevant

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sind, welche Arten von Rechten uns gegenüber wir zukünftigen Menschen zuschreiben können, schließen diese epistemischen Bedingungen unserer Bezugnahme auf zukünftige Menschen die Möglichkeit nicht aus, ihnen Rechte zuzuschreiben. Diese Bedingungen charakterisieren, wie wir uns auf zukünftige Menschen beziehen können. In bestimmten Situationen sind diese Bedingungen auch charakteristisch dafür, wie wir uns auf gegenwärtig lebende Menschen beziehen. Wie können wir uns auf zukünftige Menschen in einem solchen Entscheidungskontext beziehen? Indem wir uns auf sie als Menschen beziehen, schreiben wir ihnen eine gewisse Identität zu. Wir schreiben Menschen generelle und universelle Rechte für das zu, was sie sind: Menschen. Dafür ist es unerheblich, um welche besonderen Menschen es sich handelt oder wann und wo sie leben. Wenn wir uns in einem solchen Entscheidungskontext legitimerweise auf zukünftige Menschen als Menschen beziehen — wer auch immer sie als Individuen sein werden und wie viele auch von ihnen leben werden —, dann beziehen wir uns auf sie unter der Beschreibung, die wir voraussetzen müssen, um uns moralisch auf sie als Menschen zu beziehen. Wenn Personen qua Menschen Ansprüche uns gegenüber haben, dann haben zukünftige Menschen, die hinsichtlich ihrer Existenz tatsächliche Menschen für uns sind, Ansprüche uns gegenüber. 32 Nehmen wir an, eine Person, die in Oxford entlang dem Fluss Cherwell nachts spazieren geht, bemerkt, dass ein unbeleuchtetes Hausboot ganz in der Nähe abzusinken beginnt. Weil unserem Spaziergänger die Gegend nicht bekannt ist, weiß er nicht, ob sich Menschen auf dem Hausboot befinden, und er weiß nicht, falls Menschen auf dem Boot sind, wie viele es sind oder wer sie sind. Unter diesen Umständen hat die Person dennoch Grund anzunehmen, dass es gut möglich ist, dass sich jemand auf dem Hausboot befindet. Die meisten würden darin übereinstimmen, dass, so keine anderen relevanten vorrangigen Überlegungen vorliegen, die Person unter der Pflicht steht, festzustellen, ob sich jemand auf dem Boot befindet, und, sollte dies der Fall sein, diese Person über die Situation zu informieren, oder, wenn die Zeit für eine solche Untersuchung nicht ausreicht, Menschen, die sich auf dem Boot befinden könnten, vor der drohenden Katastrophe wenigstens zu warnen. Warum sind wir überzeugt, der Spaziergänger steht unter einer solchen Pflicht? Weil wir gewöhnlich der Auffassung sind, dass jeder, dem eine

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schwerwiegende Schädigung droht, ohne dass ihm das bewusst ist, ein Recht hat, gewarnt zu werden; entsprechend sind wir überzeugt, dass jeder, der die drohende Gefahr bemerkt, unter der Pflicht steht, die Person, die in Gefahr ist, zu warnen. Wenn die drohende Gefahr groß ist, dann ist die entsprechende Verpflichtung so stark, dass sie uns zu handeln verpflichtet und zwar auch dann, wenn wir unter den epistemischen Bedingungen der Situation nicht mit Sicherheit wissen können, ob jemand in Gefahr ist, wie viele Personen es sind oder wer diese Personen sind.33 In einigen Entscheidungskontexten ist unsere Beziehung zu gegenwärtig lebenden Personen in relevanten Hinsichten der Beziehung ähnlich, in welcher wir zu tatsächlichen zukünftigen Personen stehen, wenn wir entscheiden, die eine oder andere Umweltpolitik durchzuführen. In diesen Kontexten treffen wir Entscheidungen, die für die Lebensqualität gegenwärtig lebender Personen und tatsächlich zukünftiger Personen relevant sind, und in beiden Kontexten haben wir Grund anzunehmen, dass Menschen existieren oder existieren werden, die von unseren Entscheidungen betroffen sein werden. Außerdem wissen wir in beiden Entscheidungskontexten nicht, wie viele Menschen existieren oder existieren werden, und wir wissen nicht, wer sie sind. Die Entscheidungskontexte sind aber auch in einigen Hinsichten verschieden. Jemand, der die Gegend kennt, z.B. eine Person, die auf dem 50 Meter entfernten Nachbarboot lebt, würde im Hausbootbeispiel wissen können, ob Menschen auf dem Hausboot leben und könnte gegebenenfalls feststellen, ob sich zur Zeit Menschen auf dem Boot befinden und wer sie sind. Aber niemand kann wissen, wie viele Menschen in der weit entfernten Zukunft leben werden und wer diese Menschen sein werden. Zweitens, ganz unabhängig davon, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt über unsere Zeitgenossen wissen oder nicht wissen, wissen wir, wenn wir Handlungen erwägen, die Auswirkungen auf ihre Lebensbedingungen haben werden, doch mit Sicherheit, dass die Zahl und Identität dieser Personen feststeht. Wenn wir hingegen etwas unternehmen, das die Lebensbedingungen zukünftiger Menschen ändern wird, z.B. indem wir eine bestimmte Umweltpolitik durchführen, wird davon die Identität und Zahl zukünftiger Menschen höchstwahrscheinlich betroffen sein.

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Diese Unterschiede sind jedoch von keiner normativen Signifikanz, wenn es darum geht, gegenwärtig lebenden und tatsächlich zukünftig lebenden Menschen in diesen Entscheidungskontexten Rechte zuzuschreiben. Was den ersten Unterschied angeht, so genügt es festzustellen, dass die Verpflichtung zu helfen im Hausbootbeispiel nicht auf sicherem Wissen darüber beruht, wer sich auf dem Boot in Gefahr befindet; vielmehr beruht die Verpflichtung darauf, dass der mit der Gegend nicht vertraute Spaziergänger annehmen muss, dass Menschen wahrscheinlich gefährdet sind. Ergänzen wir das Beispiel durch die Annahme, unser Spaziergänger habe keine Kenntnis davon, dass der Wasserstand des Flusses Cherwell so niedrig ist, dass das Boot nicht tiefer als einen Meter sinken kann und dass die Taue, mit denen das Boot am Ufer befestigt ist, das Boot gerade halten, wenn das Boot auf das weiche Flussbett stößt. Hätte der Spaziergänger Kenntnis dieser Fakten, so wüsste er, dass, so Menschen auf dem Hausboot schlafen, diese mit aller Wahrscheinlichkeit durch das Sinken des Bootes nicht gefährdet sind. Dennoch würden die meisten darin übereinstimmen, dass dies keinen Unterschied macht für die Pflichten, die unser Spaziergänger unter den genannten Umständen hat. Denn Personen sind dafür verantwortlich, auf die bedeutsamen Möglichkeiten, die sich für sie angesichts ihres beschränkten Wissens über die Situation, in der sie sich befinden, ergeben, zu reagieren. Zumindest unter den besonderen Umständen scheint es keinen Unterschied zu machen, dass eine andere, ortskundige Person es hätte besser wissen können und sie selbst deshalb nicht unter der Pflicht gestanden hätte, etwas zu unternehmen. Mit Blick auf tatsächliche zukünftige Menschen gilt dasselbe Prinzip: Wir stehen unter der Pflicht, auf die bedeutsamen Möglichkeiten zu reagieren, die sich für uns angesichts beschränkten Wissens ergeben. Zugegebenermaßen sind hier die Beschränkungen unseres Wissens von besonderer Art: Keiner unserer Zeitgenossen kann sichere Kenntnis der Identität und Zahl zukünftiger Menschen haben. Dies erschüttert jedoch unsere Pflichten zukünftigen Menschen gegenüber nicht, wenn wir gute Gründe für die Annahme haben, dass diese Menschen existieren werden. Es bedeutet einfach, dass die epistemischen Bedingungen, unter denen wir uns mit Blick auf unsere Pflichten gegenwärtig lebenden Menschen gegenüber nur ausnahms-

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weise befinden, normal sind im Falle unserer Pflichten zukünftig lebenden Menschen gegenüber, wenn wir gute Gründe haben anzunehmen, dass sie existieren werden. Was diesen zweiten Unterschied angeht, reicht es hin festzustellen, dass die Zuschreibung von Rechten an tatsächliche zukünftige Menschen ohne Kenntnis ihrer Identität und Zahl vollständig vereinbar mit der oben vorgestellten Interpretation ist, wie wir die Rechte zukünftiger Menschen verletzen können. Gemäß dieser Interpretation verletzen wir die Rechte spezifischer Personen, wenn immer wir die Rechte zukünftiger Menschen verletzen. Nehmen wir an, wir verfolgten eine Politik, die die natürlichen Ressourcen erheblich verringert und die es sehr wahrscheinlich macht, dass Konflikte über Ressourcen in der Zukunft in zunehmendem Masse gewaltsam ausgetragen werden. Verfolgten wir eine solche Politik, würden die Rechte zukünftiger Menschen auf Verfügung über die Mittel zur Selbsterhaltung mit größerer Wahrscheinlichkeit verletzt. Eine solche Behauptung stützt sich auf die folgenden Annahmen: Erstens, welche besonderen Interessen zukünftige Menschen auch haben mögen, sie werden ein Interesse an der Verfügung über die Mittel zur Selbsterhaltung haben. Zweitens, zukünftige Menschen können Träger von Rechten in der Zukunft sein. Drittens, wenigstens einige Rechte, die sie haben werden, werden von den Interessen bestimmt, die sie zum Zeitpunkt ihrer Existenz haben. Viertens, unsere gegenwärtigen Handlungen und Politiken können die Interessen zukünftiger Personen an Verfügung über die Mittel zur Selbsterhaltung negativ betreffen. Sollten diese Annahmen zutreffen, dann ist der Schluss gerechtfertigt, dass wir die Rechte zukünftiger Menschen auf Verfügung über die Mittel zur Selbsterhaltung verletzen können. Wir wissen, dass, wenn immer das Recht einer zukünftigen Person in der Zukunft verletzt wird, es sich dann um ein Recht einer Person mit einer spezifischen Identität handeln wird, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer spezifischen Zahl anderer Personen zusammenlebt. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Rechte von sowohl zukünftigen als auch gegenwärtig lebenden Menschen verletzt werden, stehen deren Identität und Zahl fest. Normativ gesprochen spielt es keine Rolle, dass die Zahl und die Identität gegenwärtig lebender Personen heute

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feststehen, während die Zahl und die Identität zukünftig lebender Menschen erst zu einem späteren Zeitpunkt feststehen. Wie können dann Überlegungen, die sich auf Rechte beziehen, bei Entscheidungen über Umweltpolitiken zum Tragen kommen? Bei einer solchen Entscheidung schließt die Kontingenz zukünftiger Personen von unseren Entscheidungen die Möglichkeit aus, dass wir Pflichten gegenüber spezifischen zukünftigen Personen haben. Wenn wir überlegen, für welche Umweltpolitik wir uns entscheiden sollen, dann können wir uns nicht von Pflichten gegenüber (weit entfernt) zukünftigen Personen qua Individuen — also genetisch identifizierbaren Personen — leiten lassen. Deren jeweilige genetische Identität ist bei einer solchen Entscheidung von der von uns zu treffenden Entscheidung höchst wahrscheinlich abhängig. Diese Tatsache erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass Pflichten gegenüber zukünftigen Personen uns in diesem Entscheidungsfindungskontext nicht leiten können. In diesem Kontext sind wir nicht Individuen wegen ihrer besonderen Merkmale verpflichtet; vielmehr haben wir Pflichten ihnen gegenüber, weil sie Menschen sind, also weil sie die Eigenschaften von Menschen aufweisen, die uns erlauben und von uns moralisch verlangen, dass wir uns auf sie als Mitmenschen beziehen. Wenn wir eine Umweltpolitik bewerten, dann können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es zukünftige Menschen geben wird, denen wir Pflichten als Menschen schulden — zum Beispiel die Pflicht, ihr Interesse an Verfügung über die Mittel ihrer Selbsterhaltung zu schützen. Wenn wir verschiedene Umweltpolitiken bewerten, dann können wir womöglich ihre jeweiligen wahrscheinlichen Konsequenzen für die Verletzungen des Rechts auf Selbsterhaltung voraussehen — Rechtsverletzungen, die auf die jeweiligen bewerteten Politiken zurückzuführen wären. Wenn wir also entscheiden, statt natürliche Ressourcen zu erhalten, sie aufzubrauchen ohne für adäquaten Ersatz zu sorgen, dann dürfte dies die Gefahr erhöhen, dass zukünftig lebende Menschen nicht über die Mittel zur Selbsterhaltung verfügen. Diese Menschen werden mit großer Wahrscheinlichkeit existieren und werden dann in ihren Rechten auf Verfügung über die Mittel ihrer Selbsterhaltung verletzt werden. Und das ist eine auf Rechte abhebende Überlegung, weshalb wir eine Politik der Ressourcenzerstörung nicht wählen sollten.34

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Ich vertrete also die Auffassung, dass uns Überlegungen, die sich auf die Rechte (weit entfernt lebender) zukünftiger Personen beziehen, in beiden Entscheidungsfindungskontexten leiten können, die ich zuvor unterschieden hatte. Sie können uns in den Entscheidungsfindungskontexten anleiten, in denen die Existenz, Zahl und spezifische Identität zukünftiger Personen (ziemlich) unabhängig davon sind, wie wir uns entscheiden. Und sie können uns auch in den Entscheidungsfindungskontexten anleiten, in denen zukünftige Menschen für uns mögliche zukünftige Menschen hinsichtlich ihrer Zahl und Identität sind.

4. Zukünftige Menschen schädigen Meine These ist nun, dass Rechte uns bei der Wahl langfristiger Politiken anleiten sollen, und zwar auch bei Entscheidungen, die die Komposition der Gruppe zukünftig lebender Menschen betreffen. Uns geht es dabei um Rechte zukünftig lebender Menschen, deren Verletzung die Schädigung ihrer Interessen voraussetzt, um Wohlfahrtsrechte. Wir wissen, dass stets spezifische Personen geschädigt werden. Aber die Entscheidung, die wir treffen, kann eine notwendige Bedingung sein für die Existenz genau dieses genetisch und numerisch spezifischen Sets zukünftiger Personen. In der weiteren Diskussion untersuche ich den Fall, in dem unsere Entscheidung tatsächlich notwendige Bedingung der Identität (und Zahl) zukünftig lebender Menschen ist. In diesem Abschnitt zeige ich, dass die genannte These mit dem üblichen hypothetisch-historischen Verständnis von Schädigung unvereinbar ist, nach welchem eine Person durch eine Handlung dann geschädigt ist, grob gesagt, wenn sie besser gestellt wäre, wäre die Handlung unterblieben. Zur Verteidigung meiner These untersuche und erkläre ich eine alternative Schädigungskonzeption, die Schwellenwertkonzeption, gemäß welcher eine Handlung eine Person dann schädigt, wenn die Person aufgrund der Handlung unter einen normativ definierten Schwellenwert fällt. Eine Interpretation der Schädigung im Sinne eines hypothetischen Schwellenwerts kann in der folgenden Formel ausgedrückt werden:

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(I) (hypothetisch-Schwellenwert) Haben wir zu einem Zeitpunkt ti in einer bestimmten Weise gehandelt (oder es unterlassen, so zu handeln)35, dann fügen wir einer Person dadurch nur dann Schaden zu, wenn die Lebensqualität dieser Person aufgrund unserer Handlung (Unterlassung) unter ein bestimmtes Niveau fällt.36 Dieses Verständnis der Schädigung unterscheidet sich sowohl von einem diachronischen als auch von einem Verständnis, das einen hypodiedschen Vergleich mit einer historischen Ausgangsposition zieht (das hypothetisch-historische Verständnis).37 Beide, sowohl das diachronische als auch das hypothetisch-historische Verständnis verlangen, dass die Existenz der geschädigten Person oder Personen als Individuen von der schädigenden Handlung oder Politik unabhängig ist. Das diachronische Verständnis kann in der folgenden Formel ausgedrückt werden: (II) (diachronisch) Haben wir zu einem Zeitpunkt ti in einer bestimmten Weise gehandelt (oder es unterlassen, so zu handeln), dann fügen wir einer Person dadurch nur dann Schaden zu, wenn unsere Handlung Ursache dafür ist, dass es der Person zu einem späteren Zeitpunkt t238 schlechter geht als es der Person ging, bevor wir auf diese Weise gehandelt haben, also, vor ti. Das hypothetisch-historische Verständnis der Schädigung kann in der folgenden Formel ausgedrückt werden: (III) (hypothetisch-historisch) Haben wir zu einem Zeitpunkt ti in einer bestimmten Weise gehandelt (oder es unterlassen, so zu handeln), dann fügen wir einer Person dadurch nur dann Schaden zu, wenn unsere Handlung Ursache dafür ist, dass es der Person zu einem späteren Zeitpunkt tz schlechter geht, als es der Person zum Zeitpunkt ti gegangen wäre, hätten wir mit dieser Person überhaupt nicht interagiert.39 Treffen wir Entscheidungen, die ihrerseits notwendige Bedingung der Identität und Zahl zukünftig lebender Menschen sind, werden die diachronische und die hypothetisch-historischen Interpretationen der Schädigung die Möglichkeit ausschließen, dass wir zukünftige Menschen schädigen. Bei solchen Entscheidungen können gegenwärtig lebende Menschen weder behaupten, dass es Menschen, deren Interessen und Rechte wir achten sollen, zu dem Zeitpunkt, zu welchem wir unsere Entscheidung treffen, so oder so geht, noch dass es spezifischen zukünftigen Menschen besser oder schlechter gehen wird,

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abhängig davon, welche Entscheidung wir treffen. Die erste Behauptung ist durch das Verständnis der diachronischen Schädigung (II) impliziert, die zweite durch das Verständnis der hypothetisch-historischen Schädigung (III)· Folgen wir dem Verständnis (II), gilt: Nur dann, wenn wir behaupten können, die Person befindet sich in einem spezifischen Zustand zu dem Zeitpunkt, zu dem wir unsere Entscheidung treffen, also zum Zeitpunkt ti, können wir sagen, die Person ist zum Zeitpunkt ti aufgrund unserer früheren Entscheidung schlechter gestellt. Folgen wir dem Verständnis (III), gilt: Nur dann, wenn wir behaupten können, es gebe eine spezifische Person, die zu einem Zeitpunkt t2 besser gestellt wäre, hätten wir nicht tatsächlich in dieser bestimmten Weise zum Zeitpunkt ti gehandelt, erscheint dieser Begriff der Schädigung sinnvoll. Vertreten wir also entweder das diachronische oder das hypothetisch-historische Verständnis der Schädigung, schließt dies die Möglichkeit der Schädigung zukünftiger Personen aus, wenn wir zwischen langfristigen Politiken wählen, die sich auf die Identität und Zahl zukünftig lebender Menschen auswirken und die sich in ihren Konsequenzen für zukünftige Menschen auf bedeutsame Weise unterscheiden. Vertreten wir aber ein Verständnis der Schädigung im Sinne eines hypothetischen Schwellenwerts, wie in (I) formuliert, können wir von zukünftigen Menschen sagen, ihnen werde durch unsere Entscheidungen Unrecht getan, obwohl diese Entscheidungen womöglich zu den notwendigen Bedingungen der Existenz eben der Personen zählen, von denen wir sagen, sie würden durch unsere Entscheidungen geschädigt. Das ist der Grund, weshalb dieser Typ von Schadensbegriff auch „identitätsunabhängig" genannt wird. 40 Dieses Verständnis der Schädigung zukünftig lebender Menschen setzt voraus, dass wir das Niveau der Lebensqualität angeben können, das uns erlaubte, eine langfristige Politik aufgrund ihrer wahrscheinlichen Konsequenzen als zukünftige Menschen schädigend zu beurteilen. Das identitätsunabhängige Verständnis der Schädigung setzt voraus, dass wir ein Niveau der Lebensqualität auf eine solche Weise positiv bestimmen können, dass wir ein Recht einer Person verletzen, wenn wir unserer negativen Pflicht nicht entsprechen, Handlungen zu unterlassen, die ihre Lebensqualität unter das Niveau des Schwellenwerts drückt. Zudem können wir gemäß der Schwellenwertkonzeption auch positiv verpflichtet sein, nämlich dafür Sorge zu

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tragen, dass Menschen ein Lebensniveau oberhalb des Schwellenwerts erreichen. Insofern die Festlegung eines solchen Niveaus die Idee widerspiegelt, dass Personen qua Menschen Rechte uns gegenüber haben, markiert der Schwellenwert das Schutzniveau, das zukünftigen Menschen geschuldet ist, weil sie Träger genereller (Menschen-)Rechte sind. Diese Interpretation legte nahe, den Schwellenwert als einen Suffizienzstandard aufzufassen und ihn im Sinne absoluter und nichtkomparativer Bedingungen zu definieren. 41 Man könnte ein unitarisches Verständnis des Schwellenwerts vertreten wollen, nach welchem ein und derselbe Schwellenwert für alle Entscheidungen einschlägig wäre. 42 Selbst wenn wir im Sinne des unitarischen Verständnisses allen Menschen, gleich wo und wann sie leben, dieselben Rechte zuschreiben, etwa die, welche menschliche Grundfähigkeiten und deren Entwicklung schützen, wird deren genauere Bestimmung von den jeweiligen sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen abhängen. 43 Insofern wir aber die besonderen Umstände, unter denen Menschen in der Zukunft leben werden, nicht voraussagen können, können wir auch die Pflichten gegenwärtig lebender Menschen ihnen gegenüber nicht immer mit großer Genauigkeit bestimmen. 44 Die Spezifikation des Schwellenwerts durch Zuschreibung gleicher minimaler Rechte ist nur eine mögliche egalitäre Deutung des Schwellenwerts. Egalitäre Überlegungen können auch auf die relativen Unterschiede im Wohlbefinden von Menschen abheben und als solche auf wenigstens zweifache Weise in die Spezifikation eines Schwellenwerts eingehen. Wir können die Auffassung vertreten, dass die relativen Unterscheide zwischen Zeitgenossen (extrinsisch oder intrinsisch) 45 wichtig sind und dass die Schwellenwertkonzeption der Schädigung das durchschnittlich erreichte Niveau an Wohlbefinden berücksichtigen sollte, oder genauer das in Zukunft wahrscheinlich erreichte durchschnittliche Niveau: Je höher das erreichte durchschnittliche Niveau, desto höher sollte der Schwellenwert gesetzt werden. Gemäß dieser Auffassung würden gegenwärtig lebende Menschen zukünftigen Menschen dann Schaden zufügen, wenn sie ursächlich dafür sind, dass diese Menschen ein (deutlich) niedrigeres Niveau an Wohlbefinden realisieren als deren Zeitgenossen durchschnittlich 46 Alternativ oder auch zusätzlich könnten wir die Auf-

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fassung vertreten, für die Spezifikation des Schwellenwerts und der Pflichten gegenüber zukünftig lebenden Menschen sei das durchschnittlich erreichte Niveau an Wohlbefinden der gegenwärtig Lebenden zu berücksichtigen. Gemäß einer solchen Auffassung schädigten gegenwärtig lebende Menschen zukünftig Lebende, wenn sie ursächlich dafür sind, dass letztere durchschnittlich ein (deutlich) niedrigeres Niveau an Wohlbefinden realisieren als sie selbst.47 Folgen wir John Rawls48, kommt es für die Spezifikation der Gerechtigkeitspflichten gegenüber zukünftigen Generationen auf relative Unterschiede im Wohlbefinden zwischen den Generationen oder den jeweiligen Zeitgenossen nicht an, sondern auf die Etablierung und Bewahrung der Bedingungen einer gerechten gesellschaftlichen Grundstruktur. Im Sinne einer Schwellenwertkonzeption der Schädigung vertritt Rawls einen nicht-komparativen egalitären intergenerationellen Suffizienzstandard, der allein auf den Wert abhebt, in einer gerecht verfassten Gesellschaft zu leben. Rawls vertritt also die Auffassung, dass gegenwärtig und zukünftig lebende Menschen gleichermaßen das vorrangige Interesse haben, unter gerechten Institutionen zu leben. Was distributiv künftigen Generationen geschuldet ist, erörtert John Rawls als die Frage nach der gerechten Sparquote, wobei unter Ersparnissen jedwede Ressource zu verstehen ist, die zukünftigen Generationen zur Verfügung steht, gleich ob die gegenwärtig Lebenden sie bewusst beiseite gelegt haben oder nicht. Rawls unterscheidet zwei Stufen gesellschaftlicher Entwicklung für die Anwendung seines intergenerationellen distributiven Prinzips gerechten Sparens. Gegenwärtige Generationen haben nur dann Grund, für zukünftig lebende Menschen positiv zu sparen, so dass sie mehr Ressourcen zur Verfügung haben werden als sie selbst, wenn solches Sparen die Bedingungen ermöglicht, „die nötig sind, um eine gerechte Grundstruktur zu etablieren und langfristig zu bewahren"49— in der so genannten Akkumulationsphase. Wenn erst gerechte Institutionen eingerichtet sind, ist positives Sparen nicht mehr erforderlich. Sparen dient jetzt dem Erhalt gerechter Institutionen. Die gegenwärtige Generation soll nachhaltig sparen, das heißt, an die Nachfahren wenigstens das Äquivalent dessen weitergeben, was sie von der vorangehenden Generation erhalten hat.

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Rawls nimmt hier an, dass die gerechte Sparquote auch von den früheren Generationen strikt befolgt wurde. Aber selbst wenn wir im Sinne idealer Theorie das Problem ausklammern, dass frühere Generationen nicht gemäß der Sparquote gehandelt haben,50 muss bei der Festlegung der Sparquote berücksichtigt werden, wie viele Menschen zukünftig leben werden.51 Eine wachsende Bevölkerungszahl kann bedeuten, dass trotz nachhaltigen Sparens zukünftige Generationen gerechte Institutionen nicht bewahren können. Es könnte jedenfalls dann an hinreichenden Ressourcen für den Erhalt gerechter Institutionen fehlen, wenn — bei erwartet höherer Bevölkerungszahl und deshalb höherem zukünftigen Ressourcenverbrauch — unter Nachhaltigkeit verstanden wird, dass die gegenwärtige Generation Ressourcen genau in dem Maße aufbraucht, wie sie diese (durch Äquivalente) ersetzt, oder dass die gegenwärtige Generation nachkommenden Generationen erlaubt, dieselbe Menge vergleichbarer Konsum- und anderer Güter zum Nutzen ihrer Mitglieder herzustellen.52 Ich habe die Auffassung vertreten, dass die Abhängigkeit der Zahl wie auch der spezifischen Identität zukünftiger Personen von unseren Entscheidungen nicht dagegen spricht, dass wir durch ebensolche Entscheidungen die Interessen zukünftiger Personen schädigen und ihre Rechte verletzen. Bemühen wir einen identitätsunabhängigen Begriff der Schädigung, können wir Pflichten gegenwärtiger Menschen begründen, die Rechte zukünftiger Generationen auf den Schutz ihrer Interessen nicht zu verletzen. Auf Rechte bezogene Überlegungen betreffen deshalb nicht nur Entscheidungen ohne Einfluss auf die Identität zukünftig lebender Menschen (Derek Parfits Same Veople Choices). Sie sind auch für die beiden Typen von Entscheidungen relevant, die sich auf die Identität zukünftig lebender Menschen auswirken (Parfits Different People Choices), einschließlich der Entscheidungen, die sich auf Identität und Zahl zukünftiger Menschen auswirken (und die Parfit Different Number Choices nennt).53 Nehmen wir an, zukünftige Menschen haben (Menschen-)Rechte uns gegenüber, so beschreiben die ihnen korrelierenden Pflichten einen Rahmen für die meisten unserer Entscheidungen zukünftige Menschen betreffend. (Siehe Anhang, Tabelle 4 in Verbindung mit Tabellen 3. a. 2 und 3. b. 1)

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Ein solcher Rahmen steckt jedoch keine vollständige Theorie intergenerationeller Beziehungen ab. Dies wird erstens deutlich, wenn wir Entscheidungen treffen, von denen abhängt, welche Personen in Zukunft leben werden. Nehmen wir an, keine der uns offen stehenden Entscheidungen schädigt zukünftig lebende Menschen im Sinne der Schwellenwertkonzeption; sie haben aber Auswirkungen auf das Wohlbefinden zukünftig lebender Menschen. Dann kann die Schwellenwertkonzeption der Schädigung nicht begründen, dass wir unter der Verpflichtung stehen, so zu handeln, dass eine Person zur Existenz kommt, der es im Vergleich zu anderen möglichen Personen (wahrscheinlich) besser geht. Dies gilt für individuelle Entscheidungen über Prokreation ebenso wie für kollektive Entscheidungen. Unter der genannten Bedingung haben gegenwärtige Generationen keine Verpflichtung, nur die Personen zur Existenz zu bringen, deren Leben im Vergleich zu dem anderer möglicher zukünftiger Personen optimal ist, oder auch nur die Verpflichtung, Personen zur Existenz zu bringen, denen es vergleichsweise besser geht. Dies sei an einem Beispiel illustriert:54 Nehmen wir an, eine Frau wisse, dass ein Baby, das sie heute empfangen kann, aufgrund einer bestimmten Erkrankung, unter der die Frau leidet, eine bestimmte leichte Behinderung haben, aber ein Leben oberhalb des Schwellenwerts genießen wird, wie auch immer dieser Wert im Besonderen zu spezifizieren ist. Glücklicherweise gibt es aber eine Behandlung für diese Erkrankung, so dass die Frau nach erfolgreicher Behandlung ein gesundes Kind wird empfangen können. Die Behandlung dauert drei Monate. Deshalb ist es unmöglich, dass genau dieses Kind aber ohne diese Behinderung zur Welt kommt. Schuldet die Frau es ihrem Kind, die Konzeption eines Kindes zu verschieben bis nach der Behandlung ihrer Erkrankung? Gemäß der Schwellenwertkonzeption von Schädigung kann man nicht sagen, dass die Frau unter einer solchen Pflicht ihrem Kind gegenüber steht, nämlich, um dem Kind keinen Schaden zuzufügen. 55 Sie könnte aber gute Gründe haben, sich behandeln zu lassen und die Konzeption eines Kindes zu verschieben. Diese Gründe werden ihre Interessen und möglicherweise die ihres Partners und die Interessen anderer gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen reflektieren. Möglicherweise sind diese Interessen stark genug, um die Frau zu verpflichten, die Konzeption bis auf nach die Behandlung zu verschieben. Dann könnten wir unter

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Pflichten stehen, Personen nicht zur Existenz zu bringen, auch wenn die Qualität von deren Leben deutlich über dem Schwellenwert liegt, nämlich dann, wenn das Leben anderer, die wir unter anderen Umständen zur Existenz bringen könnten, noch besser wäre. Aber solche Pflichten hätten ihren Grund nicht in einem Recht der Kinder, nicht geschädigt zu werden. Wollte man behaupten, Eltern stünden unter einer Pflicht, genau das Kind zur Existenz zu bringen, das unter den ihnen offen stehenden Optionen dasjenige mit dem höchsten Niveau an Wohlergehen ist, müssten wir auf ein anderes Verständnis von Schädigung zurückgreifen — nämlich auf ein Verständnis, das auf dem Vergleich des Zustande einer Person beruht mit dem kontrafaktischen Zustand einer anderen Person, die anstelle ihrer hätte zur Existenz gebracht werden können: (IV) (hypothetisch-verschiedene-Person) Hat ein Handelnder zu einem Zeitpunkt ti die Existenz einer Person verursacht, dann fügt er der Person dadurch nur dann Schaden zu, wenn der Handelnde Ursache dafür ist, dass es der Person zu einem späteren Zeitpunkt ti schlechter geht, als es einer anderen Person, deren Existenz der Handelnde statt der Existenz ersterer Person hätte verursachen können, zum Zeitpunkt t2 gegangen wäre, hätte er anders gehandelt.56 Entscheidungen über langfristige Politiken können sich auf die Zahl zukünftig lebender Menschen auswirken. Wollten wir analog zu der eben vorgestellten Behauptung, was Eltern ihren prospektiven Kindern schulden, für diese kollektiven Entscheidungen die Behauptung begründen, wir schuldeten es möglichen zukünftigen Menschen, diejenigen zur Existenz zu bringen, denen es bestmöglich geht, müssen wir dem Umstand Rechnung tragen, dass die Zahl zukünftig lebender Menschen abhängig von unseren Entscheidungen variieren kann:57 (V) (hypothetisch-verschiedene-Personi?«) Hat ein Handelnder zu einem Zeitpunkt ti die Existenz einer Person verursacht, dann fügt er der Person dadurch nur dann Schaden zu, wenn der Handelnde Ursache dafür ist, dass es der Person zu einem späteren Zeitpunkt t2 schlechter geht, als es anderen Person?«, deren Existenz der Handelnde statt der Existenz ersterer Person hätte verursachen können, zum Zeitpunkt tz gegangen wäre, hätte er anders gehandelt.

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Falls wir dem Verständnis von Schädigung in den Formeln (IV) und (V) folgen, würde eine Person, deren Lebensqualität über dem Schwellenwert liegt, als geschädigt gelten, wenn es einen möglichen Zustand der Welt gäbe, in welchem diese Person nicht existiert hätte, aber eine andere Person oder andere Personen existierten und wenn diese Person oder Personen eine höhere Lebensqualität realisierten. Gemäß dem personenbezogenen Ansatz und aus der Sicht der vermeintlich geschädigten Person erscheint ein solcher Vergleich sinnlos. Es sind einfach keine vernünftigen intrapersonalen Vergleiche zwischen den Werten der Nichtexistenz im Sinne des niemals Existierens58 und dem Leben einer Person möglich. Dies zeigen zwei Überlegungen: (a) die Wertlosigkeit der Nichtexistenz als solcher und (b) dass ihr vermeintlicher Wert einzelnen Personen nicht zuschreibbar ist.59 Eine Person kann rückblickend behaupten, sie wäre lieber gar nicht zur Existenz gebracht worden. Dies impliziert aber nicht, dass es dieser Person besser ginge, hätte sie niemals existiert/'11 Auch können wir einer existierenden Person den Zustand „Nichtexistenz vor Zeugung" zuschreiben, und ebenso einer verstorbenen Person den Zustand „existiert nicht mehr". Aber das bedeutet nicht, dass niemals zu existieren für diese Person zuträglich oder abträglich sein könnte. In dieser Hinsicht ist der Tod einer Person etwas anderes als niemals existiert zu haben. Das Leben einer Person kann als ein laufendes Projekt verstanden werden, das aus besonderen Einzelprojekten besteht, die zum Teil durch ihre Ziele definiert sind und deren (vorläufiger) Abschluss Zeit benötigt.61 Wird das Leben einer Person vorzeitig abgebrochen, dann kann dies den Interessen dieser Person zuwiderlaufen. Durch ihren Tod wird die Person daran gehindert, ihre Projekte zu verwirklichen. Es ist sehr gut möglich, dass niemand anders anstelle dieser Person diese Projekte abschließen kann. Die Behauptung, der frühzeitige Tod einer Person kann ihr aus den genannten Gründen abträglich sein, beruht nicht auf dem intrapersonalen Vergleich des Werts des Zustands, tot zu sein, mit dem Wert, weiter zu existieren. Die relevante Frage ist vielmehr, ob, wäre eine Person nicht gestorben, hätte sie also weitergelebt, ihr Überleben für sie gut gewesen wäre.62 Andererseits, auch wenn bestimmte Projekte zu verfolgen für mich den Wert meines Lebens mitbestimmt, so folgt daraus doch nicht, dass es für mich abträglich gewesen wäre, nie eine Chance bekommen zu haben, auch nur in Berührung mit einem

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bedeutsamen Projekt zu kommen, nämlich weil ich niemals existiert hätte. „Niemals zu existieren" ist für niemanden zuträglich oder abträglich.63 Es ist deshalb sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, zu verstehen, warum eine Person als geschädigt gelten sollte, wenn sie weder im Sinne des hypothetisch-historischen (III) noch des diachronen (II) Verständnisses von Schädigung noch im Sinne der Schwellenwertkonzeption (I) als geschädigt gelten kann.64 Das bedeutet nicht, dass wir keine personenbezogenen Gründe haben können, eine Zukunft vorzuziehen, in der Menschen leben, die eine Lebensqualität weit und nicht nur knapp oberhalb des Schwellenwerts genießen. Diese Gründe beziehen sich aber auf tatsächlich lebende Personen: Es gibt Formen der sorgenden Bezugnahme auf zukünftige Personen, die nicht auf interessenbegründeten Rechtsüberlegungen beruhen: 65 Viele von uns glauben, zukünftig lebende Personen sollten ein Leben genießen, das deutlich oberhalb dessen liegt, was nötig ist, um den Lebenserhalt zu sichern, oder dass zukünftige Menschen eine bestimmte Lebensform mit uns teilen können sollten.66 Viele von uns glauben auch, dass es wichtig ist, dass es in der Zukunft Menschen geben wird. Auf der Grundlage von Überlegungen zu den Rechten zukünftiger Menschen können wir jedoch einer Zukunft mit Menschen, die alle ein Leben weit oberhalb des Niveaus bloßer Akzeptabilität genießen, nicht einer Zukunft ohne Menschen den Vorzug geben. Mögliche Menschen haben kein Recht, zur Existenz gebracht zu werden (und wir stehen nicht unter den korrelierenden Pflichten zur Prokreation). 67 Die weit verbreitete Besorgnis über die Fortexistenz menschlichen Lebens auf einem hohen Niveau lässt sich zumindest teilweise mit einer (unvollkommenen) Pflicht mit Blick auf zukünftige Menschen erklären, der aber keine Rechte zukünftiger Menschen entsprechen. Elemente dieser Idee erläutere ich in den nachfolgenden Kapiteln.68 Die gemeinte Pflicht kann sehr knapp folgendermaßen beschrieben werden:69 Den wertvollen Gütern, die unsere Vorfahren sowohl uns als auch weiter entfernt zukünftigen Menschen vererbt haben, schulden wir Achtung, und wir schulden auch den sehr wertvollen zukunftsorientierten Projekten der heute lebenden Menschen Achtung. Dass wir solche Achtung schulden, begründet eine generelle Pflicht, die ererbten Güter wie die Bedingungen, die für die Fähigkeit von Menschen konstitutiv sind, zukunftsorientierte Projekte zu verfolgen,

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nicht vorsätzlich zu zerstören. Mit anderen Worten ist die so geschuldete Achtung Grund für eine generelle Pflicht, nicht vorsätzlich die sozialen Praktiken zu zerstören, von deren Existenz die Möglichkeit abhängt, dass Menschen zukunftsorientierte Projekte verfolgen. Diese Pflicht mit Blick auf zukünftige Menschen hat kein Korrelativ in Rechten zukünftiger Personen uns gegenüber. Unsere und die zukunftsorientierten Projekte früher lebender Menschen zu ererben liegt jenseits dessen, von dem gesagt werden kann: darauf haben zukünftig lebende Menschen ein Recht. (Siehe Anhang, Tabelle 3. a. I. 3)

5. Ansprüche gegenwärtig lebender Menschen auf Entschädigung wegen an ihren Vorfahren verübten Unrechts Ich wende mich jetzt der Frage zu, ob man von gegenwärtig lebenden Personen sagen kann, sie haben gerechtfertigte Ansprüche auf Entschädigung, weil ihren Vorfahren schlimmes Unrecht angetan wurde. Betrachten wir den Fall der Amerikaner afrikanischer Abstammung, deren Vorfahren mit Gewalt aus Afrika entführt und dann versklavt wurden. Haben ihre Nachfahren einen gerechtfertigten Anspruch auf Entschädigung?70 Ich werde hier eine Reihe spezifisch rechtlicher Fragen außer Acht lassen, etwa Verjährungsbestimmungen und Fragen der persönlichen Haftbarkeit. Ich werde auch annehmen, dass in dem besonderen Fall, der eine bestimmte Person betrifft, nennen wir ihn Robert, seine Herkunft geklärt ist. Er stammt von Menschen ab, die unter Zwang als Sklaven nach Amerika verbracht wurden.71 Menschen können Ansprüche auf Kompensation für Schädigungen erheben, die sie erlitten haben. Wurde Robert als Nachfahre von Sklaven geschädigt aufgrund der Ungerechtigkeiten, die seine Vorfahren erlitten haben? Zunächst möchte ich kurz die hypothetischhistorische Interpretation der Schädigung betrachten, wie sie die Formel (III) ausdrückt. Ihr entspricht das folgende Verständnis von Kompensation eines entstandenen Schadens: Eine Person ist dann vollständig für eine Handlung oder Politik (oder ein Ereignis72) entschädigt, wenn es ihr so gut geht, wie es ihr ginge, wäre die Handlung

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nicht ausgeführt worden. Gemäß dieser Interpretation von Schädigung ist es nicht der Fall, dass Robert geschädigt wurde, weil seine Vorfahren entführt und versklavt wurden. Wären seine Vorfahren nicht entführt und versklavt worden, würde Robert heute (höchst wahrscheinlich) 73 nicht existieren. Seine Existenz hängt von der Tatsache ab, dass die genealogische Kette an keiner Stelle unterbrochen wurde. Deshalb dürften die anfängliche Entführung in Afrika, der Transport nach Amerika und die Versklavung seiner Vorfahren notwendige Bedingungen dafür sein, dass Robert überhaupt zur Existenz gekommen ist. Wenn dies der Fall ist, wie ich für den Zweck des Arguments unterstellen werde, ginge es ihm nicht besser, hätten seine Vorfahren kein schlimmes Unrecht erlitten. Wir können deshalb diese Interpretation der Schädigung und die entsprechende Interpretation von Entschädigung nicht bemühen; der von dieser Interpretation verlangte Zustand impliziert die Nicht-Existenz des Anspruchsträgers auf Entschädigung. 74 Zweitens möchte ich kurz die Schwellenwertinterpretation von Schädigung untersuchen, wie sie in Formel (I) ausgedrückt ist. Gemäß dieser Interpretation von Schädigung wird eine Person dann vollständig für eine Handlung oder Politik (oder ein Ereignis) entschädigt, wenn es dieser Person so gut geht, wie es der Person zu einem bestimmten Zeitpunkt gehen sollte. Robert kann geschädigt sein, weil seine Vorfahren entführt und versklavt wurden. Ob Robert geschädigt wurde, hängt davon ab, ob der Umstand, dass seinen Vorfahren schlimmes Unrecht angetan wurde, dazu geführt hat, dass Robert unter das durch diesen Begriff der Schädigung bestimmte Niveau an Lebensqualität gefallen ist. Ob dies bei Robert der Fall ist, wird von seiner gegenwärtigen Lebensqualität abhängen. Allerdings schließt der Umstand, dass die historische Unrechtshandlung eine notwendige Bedingung der Existenz und Identität der Nachfahren ist, nicht aus, dass diese als mittelbare Opfer Entschädigungsansprüche im Sinne des hypothetisch-historischen Verständnisses von Schädigung haben. Diese Ansprüche beruhen aber nicht auf dem ursprünglichen, an den Vorfahren verübten Unrecht und sie dürften mit dem zeitlichen Abstand zur ursprünglichen Unrechtstat abnehmen. Betrachten wir zum Beispiel die Entschädigungsansprüche der Palästinenser in den Flüchtlingslagern.75 Unter den heute in den Flüchtlingslagern lebenden Palästinensern sind, erstens, nicht

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Ansprüche

auf

Entschädigung

wenige, die von den israelischen Kampftruppen gewaltsam und planmäßig vertrieben wurden. 76 Der Schaden, den sie erlitten haben, kann gemäß des hypothetisch-historischen Verständnisses aufgefasst werden: Die israelischen Maßnahmen haben diese Menschen schlechter gestellt als es ihnen ginge, wären sie nicht Opfer dieser Maßnahmen geworden. Sie könnten auch einen Anspruch auf Entschädigung gemäß der Schwellenwertkonzeption haben, dann nämlich, wenn ihr Wohlbefinden sich unterhalb des relevanten Schwellenwerts befindet. Für die ebenfalls in den Flüchtlingslagern lebenden Kinder und Enkel der Vertriebenen mag es stimmen, dass sie nicht existierten, wären ihre (Groß-)Eltern nicht vertrieben worden. Die Ansprüche der mittelbaren Opfer können, erstens, gemäß der Schwellenwertkonzeption aufgefasst werden, sofern sich ihr Wohlbefinden unterhalb des relevanten Schwellenwerts befindet. Aber, zweitens, können auch mittelbare Opfer als Nachfahren der direkten Opfer Ansprüche gemäß des hypothetisch-historischen Verständnisses haben, insofern sie seit ihrer Konzeption dadurch geschädigt wurden, dass ihre (Groß-)Eltern nicht hinreichend entschädigt wurden: Weil sie die erste Generation der palästinensischen Flüchtlinge nicht hinreichend entschädigt haben, haben die, die solche Entschädigung schulden, deren Nachfahren geschädigt, wenn es stimmt, dass es ihnen deshalb schlechter geht, als es ihnen erginge, wären ihre Eltern hinreichend entschädigt worden. Und entsprechend für die Enkel der direkten Opfer: Weil deren Eltern nicht hinreichend entschädigt wurden, nämlich auch im hypothetisch-historischen Sinn für den ihnen entstandenen Schaden aufgrund mangelnder Entschädigung ihrer Eltern, haben auch die Mitglieder der dritten Generation der Flüchtlinge Entschädigungsansprüche, wenn es stimmt, dass sie dadurch seit ihrer Konzeption geschädigt wurden, dass ihre Eltern und Großeltern nicht hinreichend entschädigt wurden. In diesem zweiten Sinn ist die Geltung der Entschädigungsansprüche der späteren Generationen vom Nicht-Identitätsproblem unbetroffen. 77 Allerdings dürfte der Schaden, der den mittelbaren Opfern aufgrund der mangelhaften oder ausgebliebenen Entschädigung der direkten Opfer (und der ihnen vorangehenden Generationen mittelbarer Opfer) zugefügt wurde, nicht nur deutlich geringer sein als der den eigentlichen Opfern zugefügte Schaden, sondern die Entschädigungsansprüche der mittelbaren Opfer dürften auch von

Ansprüche

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Generation zu Generation abnehmen. Denn deren jeweiligen legitimen Ansprüche auf Entschädigung hängen auch von ihren Handlungen und Unterlassungen (und der Handlungen und Unterlassungen der ihnen vorangehenden Generationen mittelbarer Opfer) ab und davon, welche Wirkung diese auf ihr Wohlbefinden haben. Personen werden Handlungen normativ zugeschrieben, insofern sie selbst dafür verantwortlich sind, wie sie handeln. Dann dürfte die Stärke der Entschädigungsansprüche späterer Generationen - gemäß hypothetisch-historischem Verständnis von Entschädigung und sofern sie sich auf die unzureichende Entschädigung der direkten Opfer und vorangehenden mittelbaren Opfergenerationen gründen — mit der Zeit abnehmen. Je mehr das Wohlbefinden der Nachfahren den Handlungen oder Unterlassungen zuzuschreiben ist, für welche sie selbst oder früher lebende mittelbare Opfer verantwortlich sind, desto weniger ist für die Bestimmung der Ansprüche der heutigen mittelbaren Opfer relevant, wie die Welt beschaffen wäre, 78 wären die direkten Opfer (oder eine der vorangehenden Generationen mittelbarer Opfer) hinreichend entschädigt worden. 79 Diese Einsicht ist von geringer praktischer Relevanz für die Einschätzung der Ansprüche der Nachfahren der Palästinenser, die aus ihrem Heimatland vertrieben wurden. Die meisten von ihnen sind die Kinder oder Enkelkinder der direkten Opfer. Die Ansprüche dieser mittelbaren Opfer wegen des Schadens, der ihnen aufgrund mangelnder Entschädigung entstanden ist, dürften stark sein. Auch gegenwärtig lebende Amerikaner schwarzafrikanischer oder anderer Herkunft, die Nachfahren von Sklaven sind, könnten gemäß dem hypothetisch-historischen Verständnis von Schädigung gerechte Ansprüche auf Entschädigung haben. Aufgrund der historischen Distanz dürften aber derartige Ansprüche der heute lebenden Nachfahren schwach sein, sofern sie sich auf die mangelhafte oder ausgebliebene Entschädigung der ursprünglichen Opfer gründen, also der Menschen, die als Sklaven in den USA lebten, und derartige auf das ursprüngliche Unrecht bezogenen Ansprüche der vorangehenden Generationen von Nachfahren und mittelbaren Opfern. Andererseits können die heute lebenden Nachfahren von Sklaven in den USA Ansprüche im Sinne des historisch-hypothetischen Verständnisses aufgrund des Schadens haben, der ihnen oder - dann wieder als mittelbarer Ansprach - ihren jüngsten Vorfahren zugefügt wurde,

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Ansprüche

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Entschädigung

sofern auch die jüngste Geschichte der USA von massiven Diskriminierungen gegen unter anderen Amerikaner schwarzafrikanischer Herkunft gekennzeichnet ist.80 Wir werden uns also für Entschädigungsansprüche wegen weit zurückliegendem Unrecht wenigstens auch auf die Schwellenwertkonzeption der Schädigung berufen wollen. Gemäß diesem Verständnis von Entschädigung erfordert die Interpretation der Entschädigungsansprüche eine zukunftsorientierte Betrachtung: Wenn wir historische Ansprüche auf der Grundlage einer solchen Schwellenwertinterpretation von Schädigung analysieren, dann hängt die normative Relevanz von vergangenem Unrecht von ihrer kausalen Relevanz für das Wohlbefinden heute (und zukünftig) lebender Menschen ab. Unsere Pflichten gegenwärtig (und zukünftig) lebenden Menschen gegenüber zu erfüllen, mag durchaus erforderlich machen, dass wir den Konsequenzen entgegenwirken, die auf den Umstand zurückzuführen sind, dass ihren Vorfahren schlimmes Unrecht angetan wurde. Jedoch reicht der Umstand, dass ihren Vorfahren Unrecht getan wurde, nicht hin, um gerechtfertigte Ansprüche auf Entschädigung auf Seiten der Nachfahren heute zu begründen. Eine so verstandene zukunftsorientierte Analyse der moralischen Relevanz historischer Ungerechtigkeiten wird von liberalen Kosmopoliten gut geheißen. Wie gezeigt beruht diese Analyse auf einem identitätsunabhängigen Begriff der Schädigung. Liberale Kosmopoliten behaupten auch, dass zukünftige Menschen generelle (Menschen-)Rechte uns gegenüber haben. Nach der von mir vorgeschlagenen Interpretation beruht auch diese Behauptung auf einem Schwellenwertbegriff der Schädigung. Es wird dabei nicht in Abrede gestellt, dass beide der hier untersuchten Typen von Verpflichtungen - nämlich erstens unsere Pflicht, die grundlegenden Interessen zukünftig lebender Menschen nicht zu schädigen und zweitens unsere Pflicht, gegenwärtig lebenden Menschen Entschädigung zu leisten wegen der andauernden negativen Wirkung des an früher lebenden Menschen verübten Unrechts — zahlreiche und je verschiedene besondere Fragen aufwerfen. Ein Problem stellt sich jedoch für das Verständnis jeder dieser Behauptungen. Dies verdankt sich einem besonderen Merkmal intergenerationeller Beziehungen, der Kontingenz zukünftig lebender Menschen von unseren Entschei-

Übliehes

Verständnis

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düngen in Verbindung mit dem üblichen, nämlich identitäts-abhängigen Verständnis der Schädigung (II und III). Mithilfe der identitätsunabhängigen Interpretation der Schädigung wird das zukunftsorientierte Verständnis der Relevanz historischer Ungerechtigkeiten mit der kosmopolitischen Unterstützung der generellen (Menschen-) Rechte zukünftig lebender Menschen verknüpft. (Siehe Tabelle 4 in Verbindung mit Tabellen 3. a. I. 2 und 3. b. II. 1)

6. Unvereinbar mit dem üblichen Verständnis von

Entschädigung

Zunächst soll hier das Schwellenwertverständnis der Schädigung weiter untersucht werden, indem wir fragen, in welchem Verhältnis dieses Verständnis zum hypothetisch-historischen Verständnis der Schädigung steht. Ich werde zwei alternative Lesarten der Beziehung zwischen Schwellenwertkonzeption der Schädigung und dem hypothetisch-historischen Verständnis vorstellen. Gemäß der ersten Lesart schließen sich die Interpretation der Schädigung im Sinne eines hypothetischen Schwellenwerts und die hypothetisch-historische Interpretation wechselseitig aus. Dies werde ich das exklusive Schwellenwertbzw. exklusiv hypothetisch-historische Verständnis der Schädigung nennen. Das exklusive Verständnis lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Erstens nehmen wir an, dass von Rechten ausgehende Überlegungen uns sowohl bei der Wahl zwischen langfristigen Politiken anleiten können als auch begründen können, dass wir Menschen Entschädigung schulden wegen der andauernden Auswirkungen vergangenen Unrechts. Zweitens nehmen wir an, dass wir die Schwellenwert- und die hypothetisch-historische Interpretation von Schädigung so auffassen müssen, dass sie alternative notwendige Bedingungen für Schädigung benennen. Drittens, wählen wir eine dieser Bedingungen, so müssen wir gemäß dem exklusiven Verständnis bestreiten, dass die andere Interpretation notwendige (oder hinreichende) Bedingungen der Schädigung nennt. Gemäß der zweiten Lesart, dem kombinierten Verständnis der Schädigung, können die Schwellenwert- und die hypothetisch-historische Interpretation kombiniert werden: die notwendige Bedingung der Schädigung ist die Disjunktion der Bedingungen der Schädigung, wie sie die Begriffe der Schädigung (I) und (III) spezifizieren.81

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Eine Gruppe von Einwänden zielt nun darauf, zu zeigen, dass die Schwellenwertinterpretation der Schädigung sowohl zu viele als auch zu wenige Fälle als schädigende Fälle ausweist. Einerseits scheint die identitätsunabhängige Interpretation der Schädigung nicht zu erlauben, Handlungen als schädigend auszuweisen, die die meisten von uns als eindeutig schädigend beschreiben. Andererseits gelten gemäß dieser Interpretation Handlungen als schädigend, die es eindeutig nicht sind. Zunächst soll hier die Schwellenwertinterpretation der Schädigung verteidigt werden und zwar im Sinne des exklusiven Verständnisses. Ich werde dann zeigen, dass das kombinierte Verständnis nicht offen ist für die genannten Einwände, aber eigene Schwierigkeiten der Interpretation mit sich bringt. Diese verdeutliche ich, indem ich untersuche, ob das kombinierte Verständnis vereinbar ist mit der Sichtweise, die Derek Parfit die No-Difference View nennt. Der erste Einwand lautet: Gemäß dem exklusiven Verständnis von Schädigung könnte ich mich in einer Position befinden, in welcher ich, was immer ich zu einem bestimmten Zeitpunkt ti unternehme, eine Person schädige, indem ich Ursache dafür bin, dass es dieser Person zu einem späteren Zeitpunkt t2 schlechter geht als es ihr dann gehen sollte, oder aber in welcher ich zulasse, dass es der Person schlechter geht, als es ihr dann gehen sollte. Zum Beispiel könnte ein Arzt in einer Situation sein, in der er zwei Handlungsoptionen hat: entweder den Patienten sterben zu lassen oder zu intervenieren und dadurch den Zustand des Patienten zu verbessern, ohne ihn aber auf das Schwellenniveau heben zu können, weil die Intervention einen den Patienten entstellenden medizinischen Eingriff verlangt.82 Die Idee, dass ich, was immer ich zu einem bestimmten Zeitpunkt ti tue, Schaden verursache oder zulasse und das Recht einer Person darauf, nicht geschädigt zu werden, verletze, ist kontraintuitiv und mit Sicherheit falsch. In der beschriebenen Situation können wir es nicht vermeiden, auf eine Weise zu handeln, die anderen Personen Schaden zufugt in dem Sinne, dass diese unter den Schwellenwert fallen. In einer solchen Situation einer Person die Pflicht zuzuschreiben, solchen Schaden nicht zu verursachen, erscheint nicht sinnvoll. Eine solche Zuschreibung würde das Erfordernis von „Sollen impliziert Können" verletzen: Es ergibt keinen Sinn, von Menschen zu fordern, was ihnen unmöglich ist.83 Diese Kritik erfordert nicht,

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dass wir die Interpretation von Schädigung, wie in Formel (I) ausgedrückt, aufgeben. Selbst in einer Situation jedoch, in der wir nicht auf eine Weise handeln können, die gemäß diesem Verständnis von Schaden keinen Schaden verursacht oder erlaubt, könnten wir in einer Position sein, die es zulässt, dass wir zwischen alternativen Handlungen wählen, die sich mit Blick auf das Ausmaß des Schadens, den wir verursachen, unterscheiden. Wir sollten verhindern, dass eine Person in einen schlechteren Zustand unterhalb des Schwellenwerts fällt, wenn wir in einer Position sind, in der wir bewirken können, dass sich die Person in einem anderen und besseren Zustand befindet, wenn sie sich auch noch immer unterhalb des Schwellenwerts befindet. Weil die Schwellenwertkonzeption der Schädigung dies nicht impliziert, werden wir sie um die Forderung ergänzen wollen, dass Menschen Schaden minimieren sollen. Wenn wir uns in einer Position befinden, in welcher wir, was immer wir auch zu einem Zeitpunkt ti tun, einer Person Schaden zufügen, indem wir ursächlich dafür sind, dass es dieser Person zu einem späteren Zeitpunkt t2 schlechter geht, als es ihr dann gehen sollte, dann schädigen wir diese Person nicht, wenn wir der Pflicht entsprechen, den Schaden zu minimieren. Treffen Menschen Entscheidungen darüber, Kinder zu haben, können sie in einer Situation sein, in der sie sich nicht auf die Erfüllung der Pflicht berufen können, den Schaden minimiert zu haben, um ihre Entscheidung zu rechtfertigen, eine Person zur Existenz gebracht zu haben: Wenn wir, was immer wir auch tun, eine Person dadurch schädigen, dass wir sie zur Existenz bringen, wenn ihr Zustand unter dem des Schwellenwerts liegt, können wir es nicht rechtfertigen, diese Person zur Existenz zu bringen. In einer solchen Entscheidungssituation ist es einfach nicht wahr, dass wir, wie auch immer wir uns zu einem Zeitpunkt t] verhalten, eine Person schädigen, indem wir ursächlich dafür sind, dass es der Person zu einem späteren Zeitpunkt tz schlechter ergeht, als es ihr dann gehen sollte. Wenn wir von der Fortpflanzung absehen, schädigen wir niemanden.84 Wir können also unsere Entscheidung nicht auf der Grundlage dessen rechtfertigen, dass es der Person, deren Existenz wir verursachen, wenigstens so gut geht, wie anderen möglichen Personen, deren Existenz wir verursachen könnten.85

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Jedoch kann die Pflicht, identitätsunabhängigen Schaden zu minimieren, relevant sein, wenn wir Entscheidungen treffen, die sich auf die Identität oder auf die Identität wie die Zahl zukünftig lebender Menschen auswirken (Parfits Different People Choices und Offerent Number Choices).86 Wir können uns in einer Entscheidungssituation befinden, in der wir weder verhindern können, dass eine zukünftige Person oder zukünftig lebende Menschen leben werden, noch, dass ihre Lebensqualität unter dem Schwellenwert liegen wird. Aber wir mögen beeinflussen können oder womöglich bestimmen können, wie weit die Person oder Personen unter den Schwellenwert fallen. Dann sind wir verpflichtet, den identitätsunabhängigen Schaden an diesen Menschen zu minimieren. Zum zweiten Einwand: Das Schwellenwertverständnis von Schaden weist nicht alle Fälle als Fälle von Schädigung aus, die wir für schädigend erachten. Auch in diesen Fällen werden wir uns auf die Pflicht berufen müssen, Schaden zu minimieren. Denn die Schwellenwertkonzeption ist für sich genommen unzureichend, weil sie diese Handlungen nicht als Handlungen ausweist, welche moralisch inakzeptablen Schaden verursachen. Bei dem ersten Typ von Fällen befindet sich die Person in einem Zustand unterhalb des ausgewiesenen Schwellenwerts, und wir können nichts tun, um die Lebensqualität der Person so zu verbessern, dass sie ein Leben von einer Qualität oberhalb des Schwellenwerts realisiert. Wenn jemand unter diesen Umständen auf eine Weise handelte, die die Lebensqualität dieser Person noch weiter senkte, dann erlaubte uns die Schwellenwertinterpretation nicht, diese Handlung als eine Handlung zu beschreiben, die an dieser Person Schaden verursacht. Das ist jedoch kontraintuitiv. Zum Beispiel schädigen wir eindeutig eine schwerstbehinderte Person, wenn wir ihr Schmerzen zufügen. Unter Berufung auf die Pflicht, den Schaden für andere Personen zu minimieren, können wir argumentieren, dass es verboten ist, ursächlich dafür zu sein, dass eine Person eine Lebensqualität realisiert, die gemessen am ausgewiesenen Schwellenwert noch niedriger ist. Im zweiten Typ von Fällen realisiert die Person eine Lebensqualität oberhalb des ausgewiesenen Schwellenwerts, und wir können auf eine Weise handeln, welche die Lebensqualität der Person verringert, aber auf ein Niveau, das noch immer oberhalb des Schwellenwerts liegt. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand bricht in die Garage

Übliches

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eines Landhauses ein und stiehlt das neue Cabriolet, während der reiche Eigentümer sich in seiner Stadtvilla aufhält. Wie sehr auch immer der Eigentümer an seinem neuen Wagen hängen mag, der Diebstahl dürfte das Wohlbefinden dieser reichen Person nicht unter das Niveau eines plausibel ausgewiesenen Schwellenwerts drücken; gemäß der Schwellenwertkonzeption von Schädigung, wie sie die Formel (I) ausdrückt, können wir also nicht sagen, die Handlung des Diebes schädigt diese Person. Wir können uns wiederum auf eine Pflicht berufen, Schaden an anderen Personen zu minimieren. Die Verpflichtung verlangt von uns, nicht Ursache davon zu sein, dass eine andere Person ein niedrigeres Niveau von Lebensqualität realisiert, und zwar ganz unabhängig davon, welches Niveau die Person bereits verwirklicht. Was als niedrigeres Niveau von Lebensqualität gilt, kann anhand des Schwellenwerts festgestellt werden. Während der erste Einwand zu zeigen beansprucht, dass die Schwellenwertkonzeption der Schädigung Fälle als schädigend ausweist, die nicht plausibel als solche verstanden werden können, will der zweite Einwand zeigen, dass die Schwellenwertkonzeption Fälle nicht als schädigend ausweist, die plausibel als schädigend aufgefasst werden. Soweit ich bisher die Schwellenwertkonzeption von Schädigung gegen diese Einwände verteidigt habe, habe ich angenommen, dass dieses Verständnis von Schädigung eine notwendige Bedingung für Schädigung ausweist (und dass das hypothetisch-historische Verständnis (III) weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung ausweist). Dieses, das exklusive Schwellenwertverständnis von Schädigung, habe ich erstens unter Hinweis auf die Idee verteidigt, dass wir verpflichtet sind, Schaden zu minimieren, wenn wir verpflichtet sind, Schaden zu vermeiden, und zweitens in Antwort auf den ersten Einwand unter Hinweis auf die Idee, dass, wenn eine Person es nicht vermeiden kann, identitätsunabhängigen Schaden an Dritten zu verursachen, sie dann auch keinen Schaden verursacht, nämlich dann nicht, wenn sie die Pflicht erfüllt, den Schaden zu minimieren. Diese Hinweise halte ich für ausreichend, jedenfalls als Antworten auf die genannten Einwände. Die zweite Kritik — nämlich, dass das identitätsunabhängige Verständnis von Schädigung Fälle, die plausibel als schädigende Fälle aufgefasst werden, nicht als solche ausweist — trifft jedoch das, wie ich es oben genannt habe, kombinierte Ver-

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Übliches

Verständnis

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ständnis von Schädigung nicht. Der Vorschlag lautet: Statt das Verständnis von Schädigung, wie in Formel (I) ausgedrückt, und das Verständnis, wie in Formel (III) ausgedrückt, so aufzufassen,87 dass sie alternative notwendige Bedingungen für Schädigung ausweisen, können wir die Auffassungen von Schädigung nach (I) und (III) als jeweils hinreichende Bedingungen spezifizierend interpretieren; die notwendige Bedingung für Schädigung ist dann die Disjunktion der Bedingungen für Schädigung, wie sie die Auffassungen von Schädigung nach (I) und (III) benennen. Das ist, was jemandem Schaden zufügen gemäß dem kombinierten Verständnis von Schädigung (kV) bedeutet: (kV) Haben wir zu einem Zeitpunkt ti in einer bestimmten Weise gehandelt (oder es unterlassen, so zu handeln), dann fügen wir einer Person dadurch nur dann Schaden zu, wenn wir entweder (I) Ursache dafür sind, dass die Lebensqualität dieser Person unter ein bestimmtes Niveau fällt und, wenn wir nicht vermeiden können, in diesem Sinn Schaden zu verursachen, den Schaden nicht minimieren; oder (III) Ursache dafür sind, dass es der Person zu einem späteren Zeitpunkt t2 schlechter geht, als es der Person zum Zeitpunkt t2 gegangen wäre, hätten wir nicht auf diese Weise gehandelt. Das kombinierte Verständnis ist dem exklusiven hypothetischhistorischen Verständnis klar vorzuziehen: Gemäß letzterem spezifiziert die hypothetisch-historische Lesart von Schädigung notwendige Bedingungen von Schädigung (und das Schwellenwertverständnis (I) weist weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung aus). Das kombinierte Verständnis ist mit der These dieses Kapitels vereinbar, die davon abhängt, dass wir uns auf eine Schwellenwertkonzeption von Schädigung berufen, wenn wir uns auf das hypothetisch-historische und das diachrone Verständnis zum Ausweis der genannten Pflichten gegenüber Vergangenheit und Zukunft nicht berufen können.88 Sollten wir das kombinierte Verständnis der exklusiven Schwellenwertkonzeption vorziehen? Einmal angenommen, meine Antwort auf den ersten Einwand genüge für die Fälle, in denen wir uns nicht auf das hypothetisch-historische Verständnis der Schädigung berufen können (wenn die Identität oder die Identität und Zahl der im Sinne der Schwellenwertkonzeption geschädigten zukünftig Lebenden von unserer Entscheidung abhängt),89 dann liegt der Vorteil des kom-

Derek Parfits

Sicbtweise

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binierten Verständnisses von Schädigung darin, dass dieses Verständnis von Schädigung uns erlaubt, uns auf die hypothetisch-historische Interpretation der Schädigung berufen zu können, wenn sie einschlägig ist, also dann, wenn wir eine bereits existierende Person schädigten. In diesen Fällen liefert uns die hypothetisch-historische Lesart von Schädigung, wie sie in Formel (III) ausgedrückt ist, eine klare Interpretation der verursachten Schädigung. Wir müssen uns nicht auf die Pflicht berufen, Schaden zu minimieren: Auf der Grundlage einer hypothetisch-historischen Lesart von Schädigung, wie sie in Formel (III) ausgedrückt ist, kann eine Person nicht in einer Position sein, in welcher sie, wie auch immer sie sich zum Zeitpunkt ti verhält, eine andere schon existierende Person schädigt: Letzterer würde es zu einem späteren Zeitpunkt t2 nicht schlechter gehen, als es ihr zu diesem Zeitpunkt t2 gegangen wäre, hätten wir nicht in der am wenigsten Schaden zufügenden Weise gehandelt, die uns offen stand. Wenn wir uns also so verhalten, dass wir den geringfügigsten möglichen Schaden verursachen, dann schädigen wir die Person nicht. Auch der zweite Einwand präsentiert Fälle, in denen die betroffene Person eindeutig geschädigt ist — nämlich wenn wir eine schon existierende Person schädigen und die Bedingungen der hypothetisch-historischen Lesart von Schädigung (III) erfüllt sind: Wenn wir so wie in diesen Fällen vorgestellt zu einem Zeitpunkt ti handeln, dann schädigen wir diese Person dadurch, dass wir ursächlich dafür sind, dass es dieser Person zu einem späteren Zeitpunkt t2 schlechter geht als es der Person gegangen wäre (III).

7. Derek Parfits Sichtweise Das exklusiv identitätsunabhängige Verständnis von Schädigung ist kompatibel mit der Auffassung, die Parfit die No-Difference View nennt. In einer Lesart besagt die No-Dijference View. Für alle praktischen Angelegenheiten macht es keinen Unterschied, dass die Zahl und Identität zukünftiger Personen von unseren Entscheidungen abhängig sein können. Parfit verdeutlicht diese Auffassung, indem er zwei medizinische Programme untersucht.90 Das eine beruht auf der Untersuchung von Schwangerschaften. Wenn der Test positiv ausfällt, werden die Fetusse an einem seltenen Leiden

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Derek Parfits

Sichtweise

behandelt, das unbehandelt zu einer Behinderung des Kindes führte. Das andere Programm beruht auf der Untersuchung von Frauen vor der Empfängnis. Die Frauen werden auf ein seltenes Leiden hin untersucht, das bei den Kindern, die diese Frauen haben könnten, zu derselben spezifischen Behinderung führte. Den Frauen, bei denen dieses Leiden festgestellt wird, wird gesagt, sie sollen die Empfängnis für wenigstens zwei Monate verschieben, weil sie dann sicher sein können, nicht mehr unter dieser Erkrankung zu leiden. Die zur Verfügung stehenden Mittel können für das eine oder das andere Untersuchungsprogramm verwandt werden. Wenn wir weiter annehmen, dass beide Programme ähnliche Auswirkungen auf die Eltern haben, und ferner, dass die beiden Programme Erfolge in ebenso vielen Fällen erzielen, dann unterscheiden sich die Programme lediglich darin, dass das eine, nämlich das auf der Untersuchung von Schwangerschaften beruht, tatsächliche Menschen betrifft, während das andere, das auf der Untersuchung von Frauen vor der Empfängnis beruht, mögliche Menschen betrifft. Die No-Difference View in ihrer praktischen Lesart besagt nun: Der Einwand dagegen, die Schädigung möglicher zukünftiger Personen nicht zu verhindern,91 ist so stark wie der Einwand dagegen, ganz ähnliche Schädigung tatsächlicher Menschen nicht zu verhindern. Die beiden medizinischen Programme im Beispiel Parfits sind gleichermaßen unterstützenswert, und es ist moralisch gleichgültig, welches Programm gestrichen wird. Ist das kombinierte Verständnis von Schädigung mit der NoDifference View in dieser Lesart vereinbar? Ich kann hier die Implikationen des kombinierten Verständnisses nicht im Detail diskutieren. Es lohnt vielleicht zunächst festzuhalten, dass sowohl die hypothetisch-historische wie die Schwellenwertlesart von Schädigung zur Interpretation vieler der Kernfälle von Schädigung verwandt werden kann. Beide Sets von Bedingungen, wie von den beiden Lesarten von Schädigung spezifiziert, werden in vielen Fällen erfüllt, welche weithin als Fälle von Schädigung erachtet werden — wenigstens stimmt dies für plausible Lesarten von Schädigung. Zweitens können wir gemäß des kombinierten Verständnisses feststellen, dass in den Fällen, in denen nicht alle Sets von Bedingungen erfüllt sind, ein Schaden verursacht wurde, nämlich dann, wenn wenigstens eines der Sets von Bedingungen erfüllt wird. Wenn die Bedingungen der Schwellenwertlesart von Schädigung erfüllt sind, dann stellen wir fest,

Derek Parfits

Sichtweise

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dass ein Schaden verursacht wurde. Gemäß dem kombinierten Verständnis verursacht die Streichung jedes der beiden Testprogramme Schaden. Das kombinierte Verständnis impliziert aber nicht, dass es moralisch gleichgültig ist, welches Programm wir streichen. Eine plausible Interpretation des kombinierten Verständnisses könnte folgendermaßen lauten: Jedes Set von Bedingungen (wie jeweils von der einen oder anderen Lesart der Schädigung spezifiziert), das erfüllt ist, liefert einen Grund, um gegen den verursachten Schaden einen Einwand zu erheben; wenn zwei Sets von Bedingungen erfüllt sind, haben wir zwei Gründe, um einen Einwand zu erheben, und deshalb ist der Einwand vermutlich stärker, als wenn nur ein Set von Bedingungen erfüllt ist.92 Gemäß dieser Interpretation des kombinierten Verständnisses und wenn wir annehmen, dass die Kinder in Parfits Beispiel der zwei medizinischen Programme unter einer schweren Behinderung leiden, wenn ihre Mütter nicht behandelt werden, dann ist der Einwand dagegen, das Schwangerschaftsprogramm zu streichen, stärker als der Einwand dagegen, das Programm für Frauen vor der Empfängnis zu streichen. Weil die Behinderung schwer ist, werden die Kinder unter den Schwellenwert fallen, und der identitätsunabhängige Begriff der Schädigung liefert denselben Grund, um gegen die Streichung jedes der beiden Programme zu protestieren. Falls das Schwangerschaftsprogramm gestrichen wird, werden die Kinder schlechter gestellt, die nicht behandelt werden. Die Bedingungen des identitätsabhängigen Begriffs der Schädigung sind erfüllt. Das Programm zu streichen bedeutet zuzulassen, dass diese Kinder unter der besonderen Behinderung leiden. Andererseits liefert der identitätsabhängige Begriff keinen Grund dafür, einen Einwand zu erheben, wenn das Programm für Frauen vor der Empfängnis gestrichen wird. Die Kinder, die mit der Behinderung geboren werden, hätten nicht existiert, hätte es das Programm zur Untersuchung der Frauen vor der Empfängnis gegeben.'-13 Gemäß dieser Interpretation ist das kombinierte Verständnis nicht kompatibel mit der No-Difference View. Mögliche zukünftige Menschen zu schädigen gibt weniger Anlass zum Einwand als tatsächlich lebende Menschen zu schädigen — selbst wenn wir ursächlich dafür sind, dass die Menschen die gleiche Schädigung erleiden. Tatsächlich lebende Menschen zu schädigen gibt mehr Anlass zum Einwand, weil die Bedingungen des hypothe-

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Derek Parfits

Sichtweise

tisch-historischen Begriffs der Schädigung erfüllt sind. Dies ist zumindest eine plausible Lesart des kombinierten Verständnisses. Eine alternative Lesart würde bestreiten, dass, wenn beide Begriffe der Schädigung zutreffen, dies den Einwand gegen die schädigende Handlung stärkte. Das exklusive Schwellenwertverständnis von Schädigung ist auch mit einer strengeren Lesart der No-Difference View kompatibel: Gemäß dieser Lesart gibt es keinen theoretischen Unterschied zwischen der Schädigung möglicher zukünftiger Menschen und tatsächlich lebender Menschen, weil wir genau dieselben Gründe haben für einen Einwand gegen die Schädigung möglicher zukünftiger Menschen und tatsächlich lebender Menschen.94 Das ist nur dann richtig, wenn wir uns bei der Identifikation aller Fälle schädigender Handlungen auf ein und dieselbe Lesart von Schädigung beziehen. Das kombinierte Verständnis ist eindeutig unvereinbar mit der theoretischen Interpretation der No-Difference View. Gemäß dem kombinierten Verständnis wäre es oft nicht der Fall, dass wir dieselben Gründe haben, um Einwand gegen die Schädigung möglicher zukünftiger Menschen und tatsächlich lebender Menschen zu erheben. Wenn wir Einwand gegen die Schädigung tatsächlich lebender Menschen erheben, werden wir häufig zusätzliche Gründe haben, die den Umstand reflektieren, dass die Bedingungen der hypothetisch-historischen Lesart von Schädigung erfüllt sind.95 Jedoch ist die These dieses Kapitels mit dem kombinierten Verständnis von Schädigung kompatibel und ist auch unabhängig von der No-Difference View in beiden Lesarten.90 Gegenwärtige Generationen sind verpflichtet, die Rechte von zukünftigen Menschen vor Schädigung zu schützen, selbst dann, wenn — wie vom kombinierten Verständnis impliziert - die Gründe dafür, dass wir Einwände gegen die Schädigung möglicher zukünftiger Menschen haben, andere sind (und sie möglicherweise weniger Gewicht haben) als die Gründe für Einwände gegen Handlungen, die tatsächlich lebenden Menschen Schaden verursachen. Entsprechend sind gegenwärtige Generationen verpflichtet, Schädigungen gegenwärtig lebender Menschen zu kompensieren, die bei ihnen auftreten wegen des an ihren Vorfahren verübten Unrechts, selbst wenn die Gründe dafür, sie zu kompensieren, andere (und möglicherweise weniger gewichtige) sind als die Gründe dafür, Menschen Entschädigung zukommen zu lassen, deren

Schlussbemerkung

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Identität nicht durch die schädigenden Handlungen selbst verursacht werden.

8. Schlussbemerkung Zwei für die kosmopolitische Position charakteristische Behauptungen, die nicht unwichtig sind für die Einschätzung der Rechte und Pflichten gegenwärtig lebender Menschen, wo immer sie auch leben mögen, sind, so habe ich zu zeigen versucht, systematisch miteinander verknüpft. Typischerweise behaupten Kosmopoliten, dass zukünftige Menschen generelle (Menschen-)Rechte uns gegenüber haben. Und sie behaupten auch, Geschichte sei relevant und zwar wegen der Konsequenzen vergangener Ereignisse für das Wohlbefinden gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen. Ich habe eine Interpretation vorgelegt, nach welcher beide Behauptungen auf einer Schwellenwertkonzeption der Schädigung beruhen. Stimmen wir entweder dem exklusiven Schwellenwertverständnis von Schädigung oder dem kombinierten Verständnis zu, dann lässt sich von zukünftig lebenden Menschen sagen, dass ihnen Unrecht zugefügt wird, wenn wir eine Politik wählen, die ihnen schadet, selbst wenn die Existenz der spezifischen Personen, denen Schaden zugefügt wird, durch die von uns gewählte Politik selbst verursacht wird. Zweitens kann man von gegenwärtig (und zukünftig) lebenden Menschen sagen, dass sie geschädigt werden, weil das an ihren Vorfahren verübte Unrecht ursächlich dafür ist, dass sie unter einen ausgewiesenen Standard des Wohlbefindens gedrückt werden. Solch ein zukunftsorientiertes Verständnis der Gründe dafür, wie wir uns sowohl auf Vergangenheit und Zukunft beziehen, entspricht den konsequentialistischen, wertindividualistischen und universalistischen theoretischen Grundannahmen des (liberalen) Kosmopoliten. 97

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Anmerkungen

Anmerkungen 1 Üblich, weil dieses Verständnis von Schädigung im Zivilrecht beziehungsweise im Tort Law zur Bestimmung des relevanten Standards für Restitution und Kompensation generell unterstellt wird. Siehe auch The Commonwealth of Australia v. Amann Aviation ΡΓ1992; Alberta Law Reform Institute 1998. 2 Wenn und insofern das stimmt. Für eine Diskussion, bis wann früher lebende Menschen die Treibhausgasemissionen als Nebeneffekte ihrer Handlungen und Politiken und deren Wirkungen auf das Wohlergehen zukünftig lebender Menschen im relevanten Sinn nicht kennen konnten, siehe Gosseries 2004, S. 359-61. Siehe auch Meyer, 2004a. 3 Kumar 2003, S. 104. 4 Siehe meine Diskussion in Kap. III.3. Siehe insbesondere auch Feinberg, 1990; Kumar 2003. 5 Barry, 1977, S. 283-84; ders. 1989, S. 189. 6 Cowen und Parfit 1992. 7 Siehe Kap. III. 8 Der liberale Kosmopolitismus ist in einem weiten Sinne konsequentialistisch, ist der Position des Wertindividualismus verpflichtet und der Auffassung, dass der Wertindividualismus universelle Geltung hat. Es gibt so viele Varianten des liberalen Kosmopolitismus wie es Werttheorien gibt, die diese Merkmale aufweisen. Für diese Charakterisierung siehe Pogge 1992. Siehe auch Meyer 2000, S. 98-102. Zur Charakterisierung der liberalen Position siehe Kap. IV.4 und Kap. VI. 8. 9 Siehe z.B. Barry 1989, S. 347; Barry 1995, S. 195-97; O'Neill 1996, S. 115. 10 In diesem Kap. diskutiere ich, was wir zukünftig lebenden Menschen schulden und zwar im Sinne von deren Rechten uns gegenüber und unseren korrelativen Pflichten. Henry Shue hat eine kosmopolitische Interpretation davon, was wir einander im Sinne der Menschenrechte schulden, vorgelegt: dass die Grundrechte keiner Person verletzt werden und dass jede Person Schutz genießt, sollte unsere Sorge sein. Siehe Shue 1980. Einige Bezugnahmen auf zukünftig lebende Menschen werden jedoch am besten im Sinne von Pflichten mit Blick auf diese Menschen aufgefasst, denen keine Rechte zukünftiger Menschen korrelieren - so argumentiere ich jedenfalls in Meyer 1997. Siehe Kap. II. 4 unten und Kap. VI. 2. 11 Die Wichtigkeit der zukunftsorientierten Bewertung der Bedeutung vergangenen Unrechts haben z.B. hervorgehoben: Lyons 1977; Waldron 1992; Ackerman 1992, S. 72 f. Für eine Theorie der Gerechtigkeit, die unsere Pflichten in vergangenheitsorientierter Überlegung gründet, siehe Nozick 1974, S. 152 f. Wegen epistemischer Probleme bei der Feststellung, was Menschen heute besäßen, hätte es die Ungerechtigkeiten (verübt an früher lebenden Menschen) nicht gegeben, schlägt Nozick vor, Rawls' Differenzprinzip - ein zukunftsorientiertes Prinzip, das Aussagen darüber erlaubt, wie die Zukunft aussehen soll - als eine "rough rule of thumb for rectifying"

Anmerkungen

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historische Ungerechtigkeit zu verwenden (ebd., S. 231). Damit ist noch nichts gesagt zum Problem der Nichtanwendbarkeit eines identitätsabhängigen Begriffs der Schädigung wie unten in Kap. II.4 und 5 diskutiert. Siehe auch Sher 1992. Dass Kosmopoliten eine zukunftsorientierte Analyse gut zu heißen geneigt sind, mag dem konsequentialistischen Charakter kosmopolitischen Denkens geschuldet sein, obgleich es von der Werttheorie abhängt, die der Kosmopolit vertritt, wie er sich auf die Vergangenheit beziehen kann: Der Konsequentialismus als solcher ist neutral mit Blick auf die Frage, welche Theorie des Guten wir für die Bewertung von Ergebnissen verwenden. Jedenfalls vom formalen Standpunkt betrachtet sollten wir letztendlich Weltzustände oder Weltverläufe bewerten. Siehe Feldman 1986; ders. 1997, Kap. 1 und 4, und Vallentyne 1988. Gemäß einigen Theorien des Guten wird die Vergangenheit keine praktische Wirkung dafür haben, was wir tun sollten. Der Hedonismus ist eine solche Theorie, weil wir keine vergangenen Freudoder Leidempfindungen beeinflussen können. Aber gemäß anderer Theorien des Guten wird die Vergangenheit relevant sein. Vertritt zum Beispiel jemand eine Präferenztheorie des Wohlergehens, dann kann er auch die Auffassung vertreten, dass frühere Präferenzen (von z.B. den Zeitgenossen oder eben auch heute Toten) berücksichtigt werden müssen, weil und insofern ein früherer Wunsch oder ein früheres Verlangen sich auf einen zukünftigen Gegenstand beziehen kann, so dass wir heute etwas tun können, um den Wunsch zu erfüllen oder das Verlangen zu befriedigen. Siehe Fehige und Wessels 1998, xix-xliii, xxv, xxxv-vii. Oder vertritt man die Auffassung, es sei ein Faktor der Realisierung des Guten, ob verdienstvolles Handeln angemessen belohnt wird, dann kann die heutige Bestrafung oder Belohnung einer früheren Tat zur Realisierung des Guten beitragen. Zu letzterer Position siehe Feldman 1997, Kap. 8 und 10, und Vallentyne 1995. Und siehe Kap. II.6 unten sowie Kap. III.10. 12 Siehe Kavka 1982; Parfit 1984, Teil IV; und Schwartz 1978. 13 In diesem Abschnitt untersuche ich Argumente, die darauf zielen zu zeigen, dass zukünftig lebende Menschen keine Rechte gegenüber gegenwärtig lebenden Menschen haben können. Wäre dies der Fall, dann könnten wir ausschließen, dass sie solche Rechte haben. Aber selbst wenn sie Rechte uns gegenüber haben können, wäre es möglich, dass sie keine haben, und jedenfalls ist die substantielle Frage, welche Rechte sie uns gegenüber haben, weiter offen. 14 De George 1981, S. 161; siehe also Macklin 1981, S. 151 f. 15 Elliot und Partridge haben argumentiert, dass "the claim is intelligible", "that persons in the future can have rights in the present" (Partridge 1990, S. 54 f.) oder dass "it does not seem impossible", "that there can be present rights which do not have present bearers" (Elliot 1989, S. 161 f.). M.E. ist durch solche Behauptungen nichts gewonnen; ihre Glaubwürdigkeit hängt von der Glaubwürdigkeit merkwürdiger Konstruktionen ab, die z.B.

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implizieren, dass Rechte und die Träger von Rechten nicht unabhängig von einander existieren können, aber für verschiedene Zeiträume existieren, dass letztere erst nach ersteren zur Existenz kommen. Diese Konstruktionen scheinen mir bestenfalls als ad hoc Hilfsmittel rechtfertigbar und werden, wie ich unten ausführe, zur Verteidigung der in Frage stehenden substantiellen moralischen Behauptung nicht benötigt. Siehe aber Routley 1978, S. 157 f. (die Autoren schlagen vor, dass sowohl Meinongische und Platonistischc Metaphysik Theorien sind, welche die Annahme stützen, dass zukünftige Menschen Rechte in der Gegenwart haben können). Siehe Hörster 1991, S. 9 8 4 02. Es versteht sich, dass die Existenz und Komposition zukünftig lebender Menschen von Faktoren abhängig sein können, die jenseits menschlicher Kontrolle Hegen. Siehe Govier 1979, S. 106, Ileyd 1992, S. 97-103. Siehe Heyd 1992, Kap. 1 und 4. Ob man von zukünftigen Menschen sagen kann, dass sie unter bestimmten Umständen ein Recht auf Nicht-Existenz haben, ist die zentrale Frage der im angelsächsischen Sprachbereich "wrongful life" genannten Fälle, bei denen es um widerrechtliche Konzeption geht und nicht um "wrongful birth" und "wrongful pregnancy". Die letzteren beiden betreffen die Interessen von Eltern daran, dass sie ein behindertes Kind nicht zur Welt bringen beziehungsweise, dass sie keine ungewollte Schwangerschaft haben. "Wrongful life"-Fälle betreffen hingegen die Interessen von Kindern daran, unter bestimmten Umständen nicht zur Existenz gebracht zu werden. Der locus classicus dieser Diskussion ist die Auseinandersetzung zwischen Moore und Sidgwick. Siehe Moore 1989, Abschnitt 50; und Sidgwick 1907, Buch I, Kap. IX, Abschnitt 4. Siehe Narveson 1967; ders., 1973; siehe auch Parfit 1976. Siehe zuletzt Arrhenius 2003. Parfit, 1984, Teil IV. Siehe I leyd 1992, S. 59-60. Parfit 1984, Kap. 17. Demnach kann man von Kindern sagen, sie haben ein generelles Recht, dass ihre Filtern nicht in einer Weise handeln, die zu ihrer Geburt unter solchen Umständen führt, unter denen die prospektiven Eltern wissen konnten, dass das Leben, das das Kind haben wird, wenn es zur Welt kommt, sehr schlecht ist. Die Existenz eines solchen Rechts kann jedenfalls nicht bestritten werden, indem wir auf die Tatsache verweisen, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem die prospektiven Eltern die Sache erörtern, nicht feststeht, ob es den Rechtsträger gibt, oder, indem wir sagen, dass die Eltern an das mögliche Kind nur als mögliches und nicht als ein tatsächliches denken. Siehe Meyer 1999; ausführlicher und mit Applikationen in ders. 2000b. In der Charakterisierung dieser wichtigen Unterscheidung folge ich der Interpretation Goviers 1979, S. 106, und insbesondere der Interpretation Ileyds 1992, S. 97-103. Jedoch unterscheidet sich meine Wortwahl von

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beiden. Govier unterscheidet zwischen "epistemically possible people" und "volitionally possible people". Sie möchte betonen, dass alle zukünftigen Menschen in einem epistemischen Sinn mögliche Menschen sind: Wir können lediglich behaupten, gute Gründe zu haben für die Behauptung, dass es zukünftig lebende Menschen sehr wahrscheinlich geben wird. Auch wenn diese Tatsache womöglich von Bedeutung für die Typen von Rechten ist, die wir zukünftig lebenden Menschen zuschreiben können wie auch für das Gewicht, dass wir diesen Rechten zuschreiben, möchte ich annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es Menschen in der vorhersehbaren Zukunft geben wird, so hoch ist, dass es nicht irreführend ist, von tatsächlichen zukünftigen Menschen zu sprechen, so lange wir dabei berücksichtigen, dass wir, was wir über zukünftig lebende Menschen wissen können, nur in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken können. Ileyd unterscheidet zwischen "actual future people" und "potential future people". In bestimmten Kontexten sind Fetusse potentiell zukünftige Menschen genannt worden, wobei man sich auf einen aristotelischen Begriff der Entwicklung von etwas zu etwas anderem unter normalen Umständen bezieht. Hier geht es mir aber nicht um Fragen, die die Kriterien des Personseins betreffen. 27 Schwartz 1978. 28 Wird eine Eizelle von einem anderen Spermatozoon befruchtet, dann wird eine andere Person entstehen - genetisch gesprochen. Jedoch bestimmt der Zeitpunkt der Konzeption nicht notwendig die genetische Identität eines Kindes. Mehr als eine direkt reproduktive Handlung kann zur Entstehung ein- und desselben Kindes führen. Ein Paar, das mehrmals Geschlechtsverkehr hat, kann ein- und dasselbe Kind verursachen, solange das Ovum dasselbe ist, das heißt, innerhalb einer Periode. Selbst innerhalb derselben Periode wird ein Paar, das mehrfach Geschlechtsverkehr hat, wahrscheinlich verschiedene Menschen verursachen angesichts der großen Menge an Spermatozoa und der hohen Wahrscheinlichkeit, dass das Ovum von einem anderen Spermatozoon befruchtet wird. Nichtreproduktive alternative Handlungen, die das Reproduktionsverhalten von Menschen beeinflussen und deshalb den Zeitpunkt der Konzeption, führen also nicht notwendig zu genetisch verschiedenen Menschen. Im Laboratorium kann ein Techniker in der Lage sein, die Entstehung der genetisch identischen Person jetzt oder zu einem anderen Zeitpunkt herbeizuführen, indem er dasselbe Spermatozoon und dasselbe Ovum verwendet. Siehe Parfit 1984, S. 351 f. Simmons 1995, S. 178 f. beruft sich auf die Tatsache, dass genetisch identische Personen durch unterschiedliche Handlungen und unter verschiedenen Bedingungen zur Existenz gebracht werden können. Siehe auch Roberts 1998, Abschnitte 3.4 und 3.5. Roberts schlägt vor, es sei moralisch irrelevant, ob dieselbe Person existiert haben würde, es sei aber moralisch relevant, dass dieselbe Person existiert haben könnte. In vielen Fällen können wir jedoch letztere Möglichkeit ausschließen. Sollte eine intervenierende Handlung die Konzeption für mehr als einen Monat verschieben (und deshalb die

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Möglichkeit ausschließen, dass dasselbe Ovum durch dasselbe Spermatozoon befruchtet wird), dann könnte dieselbe Person nicht existiert haben. Nehmen wir z.B. an, eine Frau weiß, dass das Baby, das sie jetzt empfangen kann, taub sein wird, weil sie unter einer bestimmte Erkrankung leidet. Glücklicherweise gibt es eine Behandlung für die Erkrankung, so dass die Frau nach der Behandlung ein völlig normales Kind wird empfangen können. Die Behandlung dauert drei Monate. Unter diesen Umständen könnte ersteres Kind nicht anders als taub gezeugt werden. Siehe Parfit 1984, S. 357 f. Viele Beiträge zur Frage, was wir zukünftigen Menschen schulden, befassen sich vorrangig oder ausschließlich mit, was Parfit 1984, S. 355 f. "Same People Choices" nennt, das heißt solchen Entscheidungssituationen, in welchen wir annehmen, dass die Existenz, Identität und Zahl zukünftig lebender Menschen nicht von unseren Entscheidungen abhängig sind. Zu diesen Beiträgen zählt auch die erste systematische Diskussion unserer Pflichten gegenüber zukünftig lebenden Menschen, nämlich die von Rawls 1971, siehe auch ders. 1993, S. 274, und ders. 2001, insbesondere §§ 49.2 und 3. Hierzu siehe Meyer 2003, Abschnitt 3. 3. Darauf hat schon Govier 1979, S. 110, hingewiesen; Ileyd 1992, S. 99-103 präsentiert eine Interpretation der Idee, diese Unterscheidung zu relativieren und ihre Implikationen. Parfit 1984, S. 355 f., 361-64. Um einer zukünftig lebenden Person (oder zukünftig lebenden Personen) bestimmte Rechte zuzuschreiben, muss man unter anderem entscheiden, was die relevante Beschreibung der Identität der Person ist, und dies wird davon abhängen, was der besondere Entscheidungskontext ist. Die generelle Pflicht, Menschen vor drohenden ernsten und von ihnen nicht erkannten Gefahren zu warnen, kann ich hier nicht verteidigen. Mit Sicherheit kann eine solche Pflicht mehrfach qualifiziert werden, kann die Erfüllung anderer Pflichten wichtiger sein, und Menschen können auf das korrespondierende Recht, gewarnt zu werden, verzichten. Für den Fall, den ich im Text beschreibe, sollen wir die Pflicht zu warnen erfüllen, insofern andere Handlungsgründe nicht wichtiger sind, und angenommen, dass wir nicht wissen können, ob die Person oder die Personen, die in Gefahr sein könnten, auf ihr Recht, gewarnt zu werden, verzichtet haben. Für eine Analyse der Pflicht, vor drohender Gefahr zu warnen, und anderen positiven Pflichten, siehe Feinberg 1984, Bd. 1, Kap. 4 "Failures to Prevent Harm", S. 126-86.

34 Können wir je wissen, ob eine Politik als eine Politik aufgefasst werden sollte, die die Ressourcen erschöpft? Was als Ressourcenerschöpfung definiert werden sollte, ist begrifflich von der Zahl der Menschen abhängig, unter denen die Ressourcen zu verteilen sind. Wir können die Zahl zukünftiger Menschen nicht mit Sicherheit vorhersagen. Bedeutet dies, dass, so wir heute eine Politik des hohen Verbrauchs von beschränkten Ressourcen verfolgen, dies nicht als eine Politik der Ressourcenerschöpfung aufgefasst werden

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kann? Das wäre falsch. Wenn wir heute eine Politik des hohen Verbrauchs von beschränkten Ressourcen verfolgen, dann ist diese Politik als eine wahrscheinlich Ressourcen erschöpfende Politik aufzufassen, wenn es wahrscheinlich ist, dass die Zahl zukünftig lebender Menschen so hoch ist, dass zukünftig lebende Menschen aufgrund unseres hohen Verbrauchs von Ressourcen (und dem hohen Verbrauch späterer Generationen) nicht die Ressourcen erhalten, die sie benötigen, um ein wenigstens annehmbares Leben führen zu können. 35 Zur Verteidigung der Auffassung, dass bestimmte Typen von NichtHandlungen, nämlich Unterlassungen, schädigend sein können, siehe Feinberg 1984, Kap. 4. 36 Wie Raz 1986, S. 414, schreibt: "Roughly speaking, one harms another when one's action makes the other person worse off than he was, or is entitled to be, in a way which affects his future well-being. So much is a matter of meaning." (Hervorhebung LHM) 37 Für die Unterscheidungen siehe Parfit 1984, S. 487-90; Woodward 1986, S. 818; Morreim 1988, S. 23; Fishkin 1991; ders. 1992, S. 63 f.; Shiffrin 1999. Fur die Bezeichnung der Schadcnsbegriffe siehe Pogge 2004a. 38 Die Formulierung könnte missverständlich sein, weil sie nahe legt, dass wir uns mit t2 auf einen Moment des Lebens einer Person beziehen. Vielmehr sollen die Schädigungsbegriffe, die hier diskutiert werden, so aufgefasst werden, dass sie unterschiedliche Interpretationen der relevanten Einheiten des Wohlergehens erlauben, sie sich also z.B. auf das Leben einer betroffenen Person als Ganzes oder zukünftige Lebensabschnitte dieser Person beziehen. Für Diskussionen, wie Wohlergehen zu interpretieren und zu messen ist, siehe Griffin 1986, Teil ι; Hurka 1993, Kap. 6; Scanion 1998, Kap. 3. 39 Ich ziehe „hätten wir mit dieser Person überhaupt nicht interagiert" der Formulierung Gauthiers 1986, S. 203-05 "in our absence" (in unserer Abwesenheit) vor. Beide Formulierungen sind mit Problemen behaftet. Hier können diese Probleme nicht ausführlich diskutiert werden. Gauthier weist selbst darauf hin, dass seine Formulierung mit Blick auf Situationen unzureichend ist, in welchen eine Person eine bestimmte soziale Rolle übernommen hat, z.B. die eines Rettungsschwimmers, die ζ. T. durch anderen geschuldete positive Pflichten definiert ist. Wenn eine Person eine solche Rolle übernimmt, kann ihre „Abwesenheit" in einer Situation, in der sie zu einer Intervention verpflichtet ist, die Situation anderer verschlechtern (Gauthicr 1986, S. 205). Die von mir vorgezogene Formulierung legt plausiblcrwcisc nahe, dass eine solche Rolle anzunehmen eine „Interaktion" konstituiert, nämlich zwischen der dann verpflichteten Person mit denen, welchen sie die Erfüllung ihrer Rollenpflichten schuldet. 40 Siehe Fishkin 1992, S. 63-4. 41 Siehe Shiffrin 1999, S. 123 f.; McMahan 1998, S. 223-29; und Meyer 1997. 42 Manches spricht sicherlich dafür, dass sich Entscheidungen, bei denen die Existenz zukünftig lebender Menschen von unseren Entscheidungen abhängt,

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und also die in diesem Kap. unterstellte Pflicht möglicher Kitern, auf Prokreation um ihrer möglichen Kinder willen verzichten zu sollen, an einem anderen und strikteren Schwellenwert orientiert als Entscheidungen, bei denen die Existenz zukünftiger Menschen feststeht und die Identität und Zahl zukünftiger Menschen von unseren Entscheidungen abhängen. Ob wir einer Person unrechtmäßig nicht-komparativen Schaden dadurch zufügen, dass wir die Existenz dieser Person verursachen, hängt, so der Vorschlag verschiedener Autoren und Autorinnen, von bestimmten Aspekten ihrer Identität ab: Wir fügen solchen Schaden zu, wenn das postnatale Entwicklungspotential der Person und ihre Lebensfrist drastisch reduziert sind (Kavka 1982, S. 105-06) und insbesondere wenn die Person zusätzlich erhebliche Schmerzen erleidet (Harris 1991, S. 65 f.; Schöne-Seifert und Krüger 1993, S. 257 f., anders Shiffrin 1999, die die Auffassung vertritt, die Existenz von Personen zu verursachen sei prima fade moralisch falsch ganz unabhängig von der besonderen Identität der Person. Weil jemandes Existenz zu verursachen immer mit sich bringt, dass diese Person Interessen hat, die frustriert werden und weil die Frustration wenigstens einiger dieser Interessen der Handlung zuzuschreiben sind, welche die Existenz dieser Person verursacht hat, wird einiger nicht-komparativer Schaden dadurch zugefügt, dass Menschen zur Existenz gebracht werden. Folgen wir Shiffrin, ist dies schon deshalb moralisch falsch, weil die betroffene Person nicht hat zustimmen können und weil der zugefügte Schaden nicht notwendig ist, um größeren Schaden abzuwenden. Bedeutet dies, ein Recht der Person zu verletzen und kann dies nicht durch Güter ausgeglichen oder gerechtfertigt werden, die mit der Existenz der Person auch zukommen, dann ist nach dieser Auffassung die Person zur Existenz gebracht zu haben moralisch falsch. 43 Siehe Sen 1984. 44 Darauf hat Barry 1977, S. 284 aufmerksam gemacht. Siehe ders. 1989, S. 347; ders. 1995, S. 195. 45 Dazu siehe zuletzt die Debatte zwischen Marmor 2003, Steiner 2003 und llaz 2003, S. 264 f. 46 Sher 1979, S. 389. 47 Siehe Barry 1999, S. 109. 48 Wir verdanken Rawls 1971, Paragraph 44, die erste systematische Diskussion von distributiven Gerechtigkeitspflichten gegenüber zukünftigen Generationen. 49 Siehe Rawls 2001, S. 159; 2003, S. 246. 50 Siehe Rawls 1993, S. 274. 51 Siehe Heyd 1992, S. 47. 52 Letztere Interpretation ist die von Barry 1989, S. 263. Bleibt zu betonen, dass auch auf das Wohlbefinden abhebende komparative Interpretationen eines intergenerationellen Schwellenwerts der Nachhaltigkeit Probleme mit einer wachsenden Bevölkerungszahl haben. Bezieht sich Nachhaltigkeit auf

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den Erhalt der Wohlfahrt für zukünftige Generationen, lassen sich das Gesamtwohlfahrts- (Ng 1989; Broome 1992) und das Durchschnittswohlfahrtsvcrständnis (Solow 1991) unterscheiden. Weil beide Verständnisse weder den Erhalt eines Wohlfahrtsniveaus noch Verteilung als solche berücksichtigen, kann insbesondere bei steigender Bevölkerungszahl die Wohlfahrt nachhaltig und zugleich extrem niedrig oder ungleich verteilt sein (vgl. auch Parfit 1992, S. 381-441; Birnbacher 1988, S. 101-39). Andere Probleme der Spezifikation von Nachhaltigkeit betreffen die Grenzen der Ersetzbarkeit von Gütern (Norton, 1999) und was, wenn Güter ersetzt werden können, als adäquates Äquivalent gelten kann. Heyd 1992, S. 177-90 macht darauf aufmerksam, dass letzteres von den Präferenzen zukünftig lebender Menschen abhängt und dass gegenwärtig lebende Menschen die Präferenzen zukünftig Lebender beeinflussen nicht nur durch Erziehung, sondern auch durch das, was sie zukünftigen Generationen (nicht) hinterlassen. 53 Parfit 1992, S. 355 f. 54 Dieses ist eine Variation des Beispiels von Parfit "The 14-Year-Old Girl." Siehe Parfit 1992, S. 358, 364. 55 Siehe Woodward 1986, S. 815; ders. 1987, S. 808-09. Siehe Kavka 1982; Parfit 1984, Teil IV; und Schwartz 1978. 56 Siehe Parfits "same number quality claim" (Prinzip Q) in Parfit 1992, S. 360; Kavka 1982, S. 98 f. 57 Das kann auch schon für Entscheidungen über Prokreation gelten, insofern Eltern abhängig von ihren Entscheidungen mehr oder weniger Kinder (ein Kind, Zwillinge, Drillinge usw.) zur Existenz bringen können. 58 Ich nehme hier an, dass der Vergleich des Zustands einer existierenden Person mit dem Zustand der Person, wäre die Person nicht gezeugt worden, bedeutet, den Zustand der existierenden Person mit dem Zustand zu vergleichen, hätte die Person niemals existiert. 59 Siehe Heyd 1992, S. 37 und 113. 60 Anders Roberts 1998, S. 151 (die dem „Niemals Existieren" den Wert Null zuschreibt). 61 Siehe Nagel 1979, S. 8 f. 62 Siehe Raz 2001, S. 85. 63 Eine andere Frage ist, wie für eine einmal existierende Person der Wert ihrer pränatalen Nicht-Existenz mit dem Tod der Person zu vergleichen ist. Dazu siehe Kamm 1993, S. 36, und Raz 2001, S. 90-92. 64 Selbst wenn wir uns auf (IV) für Fälle berufen könnten, in denen die Zahl zukünftig lebender Personen konstant ist, wäre dies, wie Parfit 1984, Teil IV, zeigt, keine Lösung für Fälle, in denen die Zahl zukünftig lebender Personen variiert. 65 Siehe Meyer 1997, Kap. V, Abschnitt 3. 66 Siehe Meyer 1997, Abschnitt 1.3.

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67 Ebd., Abschnitte 1.1 und 1.2, und siehe Moore 1989, Abschnitt 50; und Sidgwick 1907, Buch I, Kap. IX, Abschnitt 4. 68 Siehe insbesondere unten Kap. V, Abschnitt 3. 69 Siehe Meyer 1997, Abschnitt 2. 70 Siehe z.B. Hughes 1968; Harrington und Kaufman 1969; Lccky und Wright 1969; Schuchter 1970; Bedau 1972; Bittker 1973;. Boxill 1992; Wcstlcy 1998, S. 459-76; Brooks 1999, Teil 6 "Slavery", Teil 7 "Jim Crow"; Soyinka 1999; Fullinwider 2000; und Lyons 2004. 71 Diese Annahmen macht auch Fishkin in seiner Diskussion, ob USAmerikanern afrikanischer Abstammung wegen der Versklavung ihrer Vorfahren Entschädigung gcschuldct ist. Siehe Fishkin 1991, S. 91-93. 72 Menschen können durch Ereignisse geschädigt werden, etwa durch eine Naturkatastrophe. Die folgende Überlegung ist dann relevant, wenn ein solches Ereignis eintritt, bevor die Existenz der Person, die den Anspruch auf Fjntschädigung geltend macht, verursacht wurde. 73 Siehe N. 28 oben. 74 Man kann sich auch auf den diachronischen Begriff (II) nicht berufen. Dieser Begriff setzt voraus, dass wir dem Nachfahren einen Zustand des Wohlbefindens zuschreiben können und zwar zu dem Zeitpunkt, zu welchem ihren Vorfahren Unrecht angetan wird. 75 Siehe Mcycr 2004. 76 Siehe auch Marmor 2004. 77 Siehe Sher 2001. 78 Angenommen, wir könnten diesen hypothetischen Zustand der Welt bestimmen. 79 Siehe, z.B., Sher 1992. 80 Siehe Lyons 2004. 81 Erwähnenswert ist, dass es bei der Diskussion des kombinierten Verständnisses überflüssig ist, den Begriff der Schädigung (II) zu untersuchen: Wenn wir uns auf den Begriff (II) berufen können, dann können wir uns auch auf Begriff (III) berufen; Begriff (II) ist am besten als ein besonderer Fall von Begriff (III) aufzufassen; wir können uns auf Begriff (II) berufen, wenn hypothetische Überlegungen keine Rolle bei der Berufung auf den Begriff (III) spielen. 82 Dieses Beispiel findet sich in McMahan 1998, S. 221 f. So wie ich das Beispiel benutze, setzt das Beispiel voraus, dass es für die Person besser gewesen wäre, wäre sie nicht gestorben, auch wenn die Person entstellt gewesen wäre. Dies impliziert nicht, dass wir den Wert des Zustande, tot zu sein mit dem Wert der weiteren Existenz für die betroffene Person vergleichen. Siehe oben N. 59-63 und dazu gehörender Text. 83 Im Gegensatz zu dem, was Menschen sehr wohl könnten, wenn sie sich nur dazu entschlössen und eine ernsthafte Anstrengung unternähmen. Siehe Meyer 2000a. 84 Siehe Meyer 1997.

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85 In McMahan 1998, S. 226-29, vertritt auch er die Auffassung, dass es moralisch schlecht ist, eine Person zur Existenz zu bringen, deren Wohlbefinden unter den Schwellenwert fiele. McMahan bewertet aber als moralisch schlechter, eine Person zur Existenz zu bringen, deren Wohlbefinden unter den Schwellenwert fallt, wenn wir eine Person hätten zur Existenz bringen können, deren Wohlbefinden wenigstens den Schwellenwert erreicht. McMahan schlägt vor, wir sollten uns auf den niedrigeren Schwellenwert eines objektiv nicht, subjektiv aber doch lebenswerten Lebens berufen für Entscheidungssituationen, in denen jede Entscheidung zugunsten der Prokreation die Existenz einer Person verursacht, deren Wohlbefinden unter den objektiven Schwellenwert fällt. McMahan möchte auf diese Weise dem Wunsch von Eltern, ein Kind zu haben, moralisches Gewicht zuschreiben. Ich teile jedoch McMahans skeptische Einschätzung der Möglichkeit, zwischen den Fällen zu unterscheiden, in welchen das Leben der betroffenen Person zwar objektiv nicht, wohl aber subjektiv lebenswert ist, und solchen Fällen, in denen das Leben einer Person sowohl objektiv als auch subjektiv nicht lebenswert ist - und zwar in einem Sinne, der uns bei Entscheidungen über Prokreation anleiten könnte. Bisher ist mir auch die intuitive Überzeugungskraft des Einwandes von McMahan entgangen. Dem Wunsch von Menschen, Kinder zu haben, kann auf viele Weisen moralisches Gewicht gegeben werden, die keiner solcher moralischen Feineinstellung bedürfen. Zum Beispiel kann eine Gesellschaft das Großziehen von Kindern finanziell unterstützen. 86 Siehe N. 53 oben und den entsprechenden Text. 87 Siehe N. 81 oben. 88 Nicht nur mein (kV), wie im Text spezifiziert, erfüllt diese Forderung. Jedes kombinierte Verständnis, das die Schwellenwert-Konzcption der Schädigung (I) als eine hinreichende Bedingung für die Verursachung von Schaden enthält, erfüllt diese Forderung. Pogge hat mir gegenüber die folgende Variante des kombinierten Verständnisses erwähnt, die der hypothetischhistorischen Idee der Schädigung Vorrang einräumt: (kV*) Haben wir zu einem Zeitpunkt ti in einer bestimmten Weise gehandelt (oder es unterlassen, so zu handeln), dann fügen wir einer Person dadurch nur dann Schaden zu, wenn wir entweder (III) Ursache dafür sind, dass es der Person zu einem späteren Zeitpunkt t2 schlechter geht als es der Person zum Zeitpunkt gegangen wäre, hätten wir nicht auf diese Weise gehandelt; oder, sollten wir uns auf diesen Test nicht berufen können, wenn wir (I) Ursache dafür sind, dass die Lebensqualität dieser Person unter ein bestimmtes Niveau fällt und, wenn wir nicht vermeiden können, in diesem Sinn Schaden zu verursachen, den Schaden nicht minimieren. Siehe auch unten N. 92 und 95. 89 Siehe N. 28 oben und den entsprechenden Text. 90 Parfit 1984, S. 367.

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Anmerkungen

91 Wir setzen hier voraus, dass die Schwellenwertkonzeption der Schädigung die Pflicht zu begründen erlaubt, um unserer Kinder willen auf die Hervorbringung ihrer Existenz unter bestimmten Bedingungen verzichten zu sollen. Siehe oben N. 42. 92 Gemäß (kV*) (siehe N. 88 oben) kann nur ein Set von Bedingungen (wie von jeder Interpretation der Schädigung spezifiziert) erfüllt sein. (kV*) könnte auch implizieren, dass es moralisch nicht gleichgültig ist, welches Testprogramm wir streichen: Es könnte einen moralischen Unterschied machen, welchen besonderen Einwand wir gegen die Streichung des jeweiligen Programms haben. (kV*) gibt uns aber nicht zwei Gründe, um gegen die Streichung des Testprogramms für Schwangere zu protestieren. Wir könnten daher den vermeintlichen Unterschied nicht in dem Sinne interpretieren, dass gegen die Streichung des Testprogramms für Schwangere zwei Gründe sprechen, während gegen die Streichung des präkonzeptuellen Testprogramms nur ein Grund spricht. 93 Ich nehme hier an, dass im Kontext der Entscheidung, ob Fetusse behandelt werden oder nicht, die Fetusse tatsächlich zukünftige Menschen sind und zwar sowohl mit Blick auf ihre Existenz als auch ihre Identität. Siehe Kap. II.2 oben. Anders gesagt wird die Behandlung der Fetusse keine kompositionalen Auswirkungen, d.h. Auswirkungen auf die Zahl und Identität zukünftig lebender Menschen haben, wie dies der Fall sein könnte bei postkonzcptuellen genetischen Interventionen. Für die Durchführbarkeit von postkonzeptueller genetischer Therapie und Eingriffen dieser Art und ihre Implikationen für die Interpretation der Ansprüche wegen Wrongful Life, siehe Buchanan, Brock, Daniels, und Wikler 2000, Kap. 6. Sollten Schwangerschaftstcsts zu postkonzeptucllcn Eingriffen führen, die kompositionale Auswirkungen haben, werden Parfits medizinische Programme ununterscheidbar - jedenfalls was die Möglichkeit angeht, sich auf einen identitäts-abhängigen Begriff der Schädigung zu berufen. 94 F'ür die Unterscheidung und eine Diskussion dieser zwei Lesarten der NoDifference View, siehe Parfit 1986, S. 856-59. 95 Das (kV*) (siehe N. 88 oben) ist ebenfalls mit der theoretischen Lesart der No-Difference View unvereinbar: Gemäß (kV*) haben wir verschiedene (wenn auch nicht zusätzliche) Gründe, gegen die Schädigung tatsächlicher Personen Einspruch zu erheben. 96 Es gibt noch andere Gründe, das kombinierte dem exklusiven Verständnis der Schädigung vorzuziehen. Das kombinierte Verständnis ist mit der hauptsächlichen Bedeutung von Schädigung, Kompensation und Restitution vereinbar, so wie diese Begriffe im Zivilrecht normalerwcise verstanden werden. In Fallen, in denen das Identitätsproblem keine Rolle spielt und in welchen die schädigende Handlung das Wohlbefinden des Opfers auf ein Niveau reduziert, das noch oberhalb des Schwellenwerts liegt, bietet der hypothetisch-historische Begriff der Schädigung den relevanten Standard für Restitution und Kompensation. In Fällen, in denen das Identitätsproblem

Anmerkungen

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keine Rolle spielt und in welchen die schädigende Handlung das Wohlbefinden des Opfers auf ein Niveau reduziert, das noch oberhalb des Schwellenwerts liegt, bietet der hypothetisch-historische Begriff der Schädigung den relevanten Standard für Restitution und Kompensation. Für eine Diskussion, wie der Standard aufzufassen ist, wenn hypothetische Überlegungen eine wichtige Rolle spielen, siehe The Commonwealth of Australia v. Amann Aviation PT 1992; Alberta Law Reform Institute 1998. 97 Siehe N. 8-10 oben.

III. Überlebende Pflichten und symbolische Kompensation 1. Früher lebende Menschen waren Opfer von Unrecht Ganz unabhängig davon, ob wir nun dem exklusiv identitätsunabhängigen oder dem kombinierten Verständnis von Schädigung zustimmen, ergibt sich für mein Verständnis der moralischen Bedeutung vergangenen Unrechts im vorangegangenen Kapitel folgendes Problem: Jede ausschließlich zukunftsorientierte Interpretation historischer Ungerechtigkeit erscheint irreführend oder mindestens unvollständig, weil sie zu bestreiten scheint, was viele von uns für intuitiv plausibel halten, dass nämlich Lebende Pflichten gegenüber Toten haben können, und zwar aufgrund eines Unrechts, das andere in der Vergangenheit an ihnen verübt haben. Die in Kapitel II vorgestellte Konzeption der Schädigung und der moralischen Bedeutsamkeit historischen Unrechts erscheint deshalb dem Einwand ausgesetzt, dass wenigstens einige Aspekte historischen Unrechts nicht von einem Ansatz erklärt werden können, der sich ausschließlich mit der Interpretation der Beziehungen unter gegenwärtig (und zwischen gegenwärtig und zukünftig) Lebenden befasst. Vergangenes Unrecht, so die Gegenthese, sei nicht erst wegen seiner Auswirkungen auf die Lebensqualität gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen moralisch bedeutsam, sondern schon aufgrund der Tatsache, dass früher lebende Menschen Opfer von Ungerechtigkeiten waren. Worauf es deswegen primär ankomme, sei zu untersuchen, was wir den toten Opfern vergangenen öffentlichen Unrechts schulden; und die hier vorgelegte Interpretation sei irreführend, weil sie nahe legt, dass wir ihnen selbst nichts schulden - in den Worten von Max Horkheimer:

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Früher

lebende

Menschen

waren

Opfer

von

Unrecht

Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. 1

Um auf diesen Einwand einzugehen, müssen wir den moralischen Status von Toten klären und insbesondere von Toten, die zu Lebzeiten Unrecht erlitten haben. In diesem Kapitel werde ich einige Argumente zugunsten der Position „überlebende Pflichten" vorstellen: Zwar können Tote keine Träger von Rechten sein, und wir können deshalb ihnen gegenüber auch keine Pflichten haben. Das schließt aber nicht aus, dass wir Pflichten haben können, die sich aus den Rechten von heute Toten ergeben, als sie noch lebten. 2 Denn ein Recht kann Verpflichtungen implizieren, die bestehen bleiben, auch wenn der Rechtsträger nicht mehr existiert. Einer Person ein Recht zuzuschreiben setzt voraus, dass es „hinreichende Gründe gibt, eine oder mehr als eine andere Person unter eine Pflicht zu stellen". 3 Wollen wir die Gründe dafür angeben, dass eine Person ein moralisches Recht hat, dann müssen wir nachweisen, dass die Person in der Lage ist, Rechte zu haben, und die Gründe dafür angeben, dass wir der Person dieses Recht zuschreiben. 4 Durch den Tod entfällt eine notwendige Bedingung dafür, Rechte zu haben. Tote werden von den Handlungen und Unterlassungen Lebender nicht länger positiv oder negativ betroffen und sie haben keinen Einfluss mehr darauf, was in der Welt passiert. Der Tod eines Rechtsträgers beseitigt aber nicht notwendigerweise auch die moralischen Gründe dafür, anderen bestimmte Pflichten aufzuerlegen. Solche Gründe mögen weiterhin bestehen und überlebende Pflichten rechtfertigen, wenn wir angeben können, wer unter den gegenwärtig oder zukünftig Lebenden diese Verpflichtungen hat. Diese Position nimmt in der Debatte um den moralischen Status von Toten eine Mittelstellung ein. Grob lassen sich zwei Positionen unterscheiden. Einige Theoretiker verstehen historische Ungerechtigkeit in Analogie zu Fällen von Ungerechtigkeit im Verhältnis zwischen Zeitgenossen. Sie vertreten zum Beispiel die Auffassung, die moralische Relevanz vergangener Unrechtstaten ergebe sich aus deren Konsequenzen für heute oder zukünftig Lebende. Im Sinne der in Kapitel II vorgestellten zukunftsorientierten Interpretation beruht die moralische Bedeutung historischen Unrechts dann allein

Früher

lebende

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auf dessen kausalen Wirkungen für das Wohlbefinden gegenwärtig oder zukünftig lebender Menschen. Diese Position wird von anderen als eine unzulässige Reduktion des moralischen Problems historischer Ungerechtigkeit kritisiert. Denn es lasse sich zeigen, so die Vertreter der zweiten Position, dass wir Pflichten haben können gegenüber Toten, denen zu Lebzeiten schweres Unrecht angetan wurde, und dass diese Pflichten in den legitimen moralischen Ansprüchen Toter uns gegenüber begründet liegen. Dabei werden die Ansprüche Toter als Rechte gedeutet, denen Pflichten auf Seiten der Lebenden korrelieren. Diese Position impliziert, dass wir den Toten selbst Unrecht antun können, wenn wir nämlich unsere Pflichten ihnen gegenüber nicht erfüllen und dadurch die diesen Pflichten korrelierenden Rechte verletzen.5 Wären Menschen auch nach ihrem Ableben noch Träger von Interessen und Rechten, könnten sie geschädigt werden und Unrecht erleiden.6 Lebende könnten Toten dann etwas schulden, aufgrund eines Unrechts, das andere in der Vergangenheit an den Toten verübt haben. Ich werde demgegenüber die Position vertreten, dass gegenwärtig lebende Menschen überlebende Pflichten mit Blick auf Verstorbene haben können aufgrund von Rechten, die diese zu ihren Lebzeiten hatten, und aufgrund des Unrechts, das sie zu Lebzeiten erlitten haben. Die Vorstellung dagegen, dass Verstorbene auch nach ihrem Ableben noch Interessen oder Rechte haben können und dass sie durch Lebende geschädigt werden oder Unrecht erleiden können, werde ich zurückweisen. Ein Beispiel kann die Diskussion erleichtern. Nehmen wir an, eine Person möchte einen Preis für herausragende Leistungen in den Wissenschaften stiften. Der Preis soll nach ihrem Tod jährlich vergeben werden. Alfred Nobel verdanken wir den Nobelpreis. Ich werde die Person meiner Beispiele frei nach ihm benennen.7 Zunächst untersuche ich, ob gegenwärtig lebende Personen dem verstorbenen Nobel Schaden zufügen oder ihm Unrecht tun können. Dann entwickle ich zweitens die Position, dass gegenwärtig lebende Menschen unter überlebenden Pflichten mit Blick auf Nobel stehen können. Alfred Nobel entscheidet also, einen Teil seines Erbes für die Einrichtung eines Preises vorzusehen, mit dem nach seinem Tod Wissenschaftler und Wissenschafderinnen für herausragende Leistungen ausgezeichnet werden sollen. Der entsprechende Preis wird einge-

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Früher

lebende

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von

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richtet, und, wie erhofft, dient die jährliche Verleihung der Preise den Wissenschaften insgesamt. Nobel war vom ausgezeichneten Wert hervorragender wissenschaftlicher Forschung überzeugt. Er hielt die Verfolgung wissenschaftlicher Wahrheit für intrinsisch wertvoll und Gesellschaften, in denen dieser Wert realisiert wird und Anerkennung Endet, darum für besser. Sollen die Erben Nobels dem Testament Nobels entsprechend handeln? Nehmen wir an, die Erben teilten Alfred Nobels besondere Wertschätzung der Wissenschaften nicht und entschieden, das Vermögen Nobels für humanitäre Zwecke zu verwenden, zum Beispiel für die Einrichtung oder die Ausstattung von Waisenhäusern. Handelten sie in dieser Weise, dann handelten sie entgegen dem ausdrücklichen Willen Alfred Nobels. Soviel ist klar. Doch hätte ihre Nichtbeachtung seines Testaments irgendeine Bedeutung für Nobel selbst? Gemäß der Konzeption überlebender Pflichten, die ich in diesem Kapitel vorstellen und erklären werde, könnte der Umstand, dass das Testament Nobels nicht erfüllt wird, den Wert keines Moments seines Lebens mindern, weil er von Dingen, die nach seinem Tod geschehen, nicht betroffen werden kann. Ob sein Testament erfüllt wird oder nicht hat deshalb in diesem Sinne keine Bedeutung für ihn. Er kann durch die Nichterfüllung seines Testaments weder Unrecht erleiden noch geschädigt werden. Mindestens drei Positionen lassen sich angeben, denen zufolge Alfred Nobel entweder geschädigt worden wäre oder Unrecht erlitten hätte, wäre sein Testament nicht erfüllt worden: (PI) Wir können unter Pflichten gegenüber heute toten Menschen stehen, die sich in den Rechten gründen, die tote Menschen uns gegenüber haben. (P2) Wir können unter der Pflicht stehen, die posthumen Interessen früher lebender Menschen nicht zu verletzen, auch wenn der Träger des Interesses (und des Rechts) nicht mehr existiert. (P3) Gegenwärtig lebende Menschen können aufgrund posthumer Ereignisse in einem geschädigten Zustand sein; wir können unter der Pflicht stehen, solche Schädigung zu vermeiden. PI zufolge kann man vom toten Nobel sagen, dass er heute Rechte hat, und gegenwärtig lebende Menschen können diese Rechte verletzen und damit Nobel Unrecht tun. P2 zufolge überleben einige

Zum onto logische

η Status

versterbe

ner Personen

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Interessen Alfred Nobels seinen Tod, und gegenwärtig lebende Menschen können diese Interessen als solche schädigen (und können deshalb Interessen schädigen, die Alfred Nobel zu seinen Lebzeiten hatte). PI erweist sich bei näherer Betrachtung, wie ich in Kapitel III.3 zeige, als unvereinbar mit einem nichtreligiösen Verständnis des Todes. P2 ist unvereinbar mit der Auffassung, dass es bei moralischen Beurteilungen auf Individuen und ihr Wohlergehen ankommt und nicht auf Interessen als solche (Kap. III.3). P3 zufolge kann man über Alfred Nobel sagen, dass er aufgrund posthumer Ereignisse schon zu Lebzeiten geschädigt wird oder dass er durch solche Ereignisse schon zu Lebzeiten Unrecht erleidet. P3 kann jedoch streng-genommen nicht als eine Interpretation posthumer Schädigung gelten, sondern ist vielmehr eine Interpretation der Schädigung lebender Personen aufgrund posthumer Ereignisse. P3 lässt sich zwar mit einem nichtreligiösen Verständnis des Todes vereinbaren, widerspricht aber unserem üblichen Verständnis der Bedeutung posthumer Ereignisse (Kap. III.4).

2. Annahmen über den ontologischen Status verstorbener Personen Verwendeten die Erben Nobels dessen Vermögen entgegen den Bestimmungen seines Testaments, würden sie, PI zufolge, die Rechte Alfred Nobels verletzen. Für viele ist dies eine intuitiv plausible Auffassung. Aber wie könnte man Tote als mögliche Rechtsträger verstehen, ohne religiöse oder metaphysische Annahmen zu machen, die generell die Bedeutung des physischen Todes für die Fortexistenz der Person bestreiten? Es mag kein besonderes Problem sein, Toten Rechte zuzuschreiben, wenn wir annehmen, dass Personen nach ihrem physischen Tod weiterexistieren, und zwar als Personen, die von den Ereignissen dieser Welt betroffen werden und womöglich selbst auf Weisen handeln können, die einen Einfluss auf die Zustände dieser Welt nach ihrem Tod haben. Viele Menschen vertreten entsprechende Uberzeugungen über die Fortexistenz der Person nach dem Tod. 8 Einige religiöse Auffassungen gehen davon aus, dass Tote durch das Handeln heute lebender Personen begünstigt oder geschädigt werden können (Tote als passive Subjekte). Einige gehen so weit anzunehmen, dass Tote mit heute lebenden Menschen intera-

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Zum ontologischen

Status

verstorbener

Personen

gieren können (Tote als aktive Subjekte). 9 Solche Annahmen über die Fortexistenz von Personen nach ihrem Tod finden sich auch in philosophischen Traditionen. Eine platonische oder cartesianische Konzeption der Person als Seele nimmt an, dass die Seele nur temporär mit einem Körper versehen ist. Besitzt das „Selbst" jedoch essentiell dieselbe Seinsweise während seiner irdischen Existenz und nach dem Tod, könnte das verstorbene „Selbst" auch seine Fähigkeit behalten, Rechtsträger zu sein.10 Solche Annahmen über den ontologischen Status früher lebender Menschen sind wenigstens so kontrovers wie die gegenteilige Annahme, dass tote Personen nicht als Personen existieren. Was könnte als ein geeigneter Ausgangspunkt für eine philosophische Untersuchung der Frage gelten, ob wir unter Pflichten gegenüber früher lebenden Menschen stehen können? Unser Ausgangspunkt sollte mit wenigstens einigen der kontroversen Annahmen über den ontologischen Status von Toten gleichermaßen vereinbar sein.11 Mein Ausgangspunkt (A) ist, dass (al) tote Menschen entweder nicht existieren oder (a2), so sie doch existieren, dass keine Verbindung zwischen ihnen und gegenwärtig lebenden Personen besteht. (a2) soll bedeuten, dass für gegenwärtig lebende Menschen früher lebende Personen weder passive noch aktive Subjekte sind. (A) zufolge ist das Ende der physischen Existenz eines Menschen oder der Tod dieses Menschen 12 für diesen das Ende der Möglichkeit, auf die Welt, wie wir sie kennen, einzuwirken und von Ereignissen dieser Welt oder dem Handeln gegenwärtig lebender Menschen affiziert beziehungsweise betroffen zu werden. Ist (A) mit der Behauptung vereinbar, dass wir Pflichten gegenüber Toten haben können, die in den Rechten Toter uns gegenüber begründet liegen? Diese Frage betrifft generell das Problem, inwiefern eine Ethik ohne religiöse Annahmen plausibel unser Verständnis unserer Pflichten gegenüber Toten explizieren kann. Man denke an die Pflicht, Versprechen gegenüber heute Toten zu erfüllen, und das besondere Gewicht, das wir diesen Pflichten wie im Falle der sogenannten Todesbettversprechen auch dann geben, wenn sie nicht durch die Institution der testamentarischen Verfügung und Testamentsvollstreckung sanktioniert sind. Man denke auch an den Respekt, den wir Leichnamen zu schulden glauben, die Pflicht zur Wahrung der Erinnerung vergangenen Unrechts, oder auch die Pflicht zu

Die Schädigung

heute

toter

Personen

- eine Kritik

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symbolischen Kompensationsleistungen mit Blick auf heute tote Menschen, die Opfer von Unrecht gewesen sind. Diese Pflichten und Überzeugungen verdanken sich vermutlich — genetisch betrachtet religiösen Kontexten. Auch der gegenwärtige Diskurs über diese Pflichten und Institutionen ist oftmals religiös imprägniert und widerspricht häufig (A).

3. Die Schädigung heute toter Personen — eine Kritik Gegenwärtig wie zukünftig lebende Menschen können geschädigt werden, wobei wir uns im Falle zukünftig lebender Menschen, so sie mögliche Menschen sind, auf ein identitätsunabhängiges Kriterium der Schädigung berufen (siehe Kap. II). Tote können jedoch nicht geschädigt werden. So jedenfalls werde ich liier argumentieren. Dass Tote geschädigt werden können gilt üblicherweise als Voraussetzung für die Zuschreibung von Rechten an Tote (siehe die oben unterschiedene PI). Indem ich bestreite, dass Tote geschädigt werden können, weise ich also zugleich diese Ansätze zur Begründung der Rechte Toter zurück.13 Das Argument lässt sich so zusammenfassen: Weil eine Person nur geschädigt werden kann, wenn sie existiert, tote Personen aber nicht existieren, oder, so sie existieren, von den Handlungen lebender Personen in keiner Weise betroffen werden können, können tote Personen nicht geschädigt werden. Zur Begründung der Behauptung, eine Person könne nur geschädigt werden, wenn sie existiert, könnte vorgebracht werden: Eine Person kann nur geschädigt werden, wenn sie den Schaden auch erfährt. Erfahrungen kann sie aber nur machen, wenn sie existiert. Also kann eine Person nur geschädigt werden, wenn sie existiert. Gegen die Behauptung, jemand könne nur geschädigt werden, wenn er den Schaden auch erfährt,14 sind eine ganze Reihe von Einwänden erhoben worden. Diese Einwände zielen nicht direkt auf den Nachweis, Tote könnten geschädigt werden, sondern sollen zeigen, dass gegenwärtig lebende Menschen geschädigt werden können, ohne dass sie den Schaden subjektiv erfahren. Einen Hinweis verdanken wir einem Gedankenexperiment von Robert Nozick.15 Entschieden wir uns dafür, auf Dauer an eine Maschi-

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Die Schädigung

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toter

Personen

— eine

Kritik

ne angeschlossen zu werden, wenn wir dadurch verlässlich äußerst angenehme Erfahrungen machten? Sobald wir an die Maschine angeschlossen sind, haben wir keinen Grund, unsere Entscheidung zu bedauern, weil wir subjektiv so glücklich sind, wie wir nur sein können. Was immer die für unser subjektives Glücksempfinden entscheidenden Erfahrungen sind, die Maschine sorgt verlässlich für genau diese Erfahrungen. Ließen wir uns nicht an die Maschine anschließen, so nicht deshalb, weil wir die subjektiven Empfindungen, die wir mit Hilfe der Maschine machten, nicht schätzen. Solche Erfahrungen aufgrund tatsächlicher Gegebenheiten zu haben mag wertvoller sein als die entsprechenden Erfahrungen aufgrund der Wirkungen einer Maschine. Im ersteren Fall beruhen diese Erfahrungen auf Zuständen der Welt, die unabhängig von der subjektiven Glückserfahrung wertvoll sind. Aber die Maschine könnte der Person, die an sie angeschlossen ist, den Eindruck vermitteln, die subjektive Glückserfahrung beruhe auf für sich genommen wertvollen Zuständen der Welt. Sonst dürfte die Maschine kaum erfolgreich sein. Nehmen wir also an, dass wir mittels der Maschine Erfahrungen machen, die so positiv sind, wie sie nur sein können. Warum wollen wir dann nicht an die Maschine angeschlossen werden? Ein Einwand lautet: Die Qualität unseres Lebens hängt auch davon ab, was wir tun, wie wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten, ob wir in unseren Bemühungen Erfolg haben. Die mit unseren Aktivitäten einhergehenden subjektiven Erfahrungen sind nicht konstitutiv für diese Aktivitäten und entscheiden nicht über die Qualität unserer Aktivitäten. Wenn das richtig ist, dann sind die Erfahrungen, die wir mittels der Maschine machen, wenigstens unzureichend dafür, ein im Vollsinne gutes Leben zu realisieren. Das heißt nicht, dass schlechte subjektive Erfahrungen nicht hinreichend für ein schlechtes Leben sein können — und zwar unabhängig davon, ob wir diese Erfahrungen aufgrund schlechter Zustände der Welt haben oder weil wir den Zustand der Welt falsch deuten. Aber wir müssen keine schlechten Erfahrungen machen, um ein im Vollsinne gutes Leben zu verfehlen. Nehmen wir an, Emma hat ihr Bestes für die Beziehung mit ihrem Lebenspartner Frank gegeben. Emma erlebt diese Beziehung als gut und hat allen Grund zu glauben, dass Frank und sie eine wertvolle

Die Schädigung

heute toter Personen

— eine Kritik

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Beziehung realisieren. Emma bemüht sich um die Pflege dieser Beziehung. Tatsächlich ist Emma aber ihr ganzes Leben lang betrogen worden und sie stirbt, ohne dies entdeckt zu haben. Frank hat die Beziehung nie als solche wertgeschätzt, hat Emma immer wieder betrogen und es vermocht, dies vor ihr zu verheimlichen, ja ihr den Eindruck zu vermitteln, dass ihm ebenso wie ihr an der Beziehung gelegen ist. Einige vermeintliche Freunde Emmas hatten Kenntnis von dem Betrug, haben es aber unterlassen, ihr die Augen zu öffnen, oder haben gar Frank darin unterstützt, den Betrug geheimzuhalten. Trotz Emmas subjektiv positiver Erfahrungen, die auf dem Glauben beruhen, ein gutes Leben zu führen, für welches die Beziehung mit Frank konstitutiv ist, ist ihr Leben deshalb schlechter gewesen, weil sie sich hat täuschen lassen. Wenn das stimmt, kann die Güte eines Lebens von Faktoren abhängig sein, die keinen Niederschlag in subjektiven Erfahrungen der Person finden, um deren Leben es geht. Emmas Täuschung ist ein Beispiel für einen objektiven Schaden an einer Person, die diesen selbst nicht erfährt. Man könnte von nichterfahrenem Schaden sprechen (im Englischen: unaffecting harm, unexperienced harm). Andere Beispiele für solchen Schaden sind: wenn über Personen unverdienterweise schlecht gesprochen wird, auch wenn sie nicht davon erfahren und wenn dies keine Auswirkungen darauf hat, wie ihr Leben verläuft; wenn ein Versprechen gebrochen wird, ohne dass dies denen bekannt wird, denen das Versprechen gegeben wurde, und diese auch sonst nicht negativ betroffen sind. Analog kann man auch von nichterfahrenem Guten sprechen: Die Qualität des Lebens von Menschen hängt unter anderem davon ab, ob sie bei der Verfolgung ihrer Projekte Erfolg haben. Ein Wissenschafder kann der Überzeugung sein, dass seine Bemühungen, ein wissenschaftliches Projekt voranzubringen, ein einziger Fehlschlag gewesen sind. Tatsächlich aber hat er einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines der schwierigsten Probleme in seinem Forschungsgebiet geleistet. Objektiv betrachtet waren seine Forschungen ein großer Erfolg, und insofern die Qualität seines Lebens vom Erfolg seiner Projekte abhängt, ist sein Leben ein besseres, auch wenn er unter der subjektiv schlechten Erfahrung gelitten hat, dass seine Bemühungen erfolglos gewesen sind.10 Zum Verständnis trägt hier die Unterscheidung zwischen der Erfüllung eines Wunsches und der Befriedigung einer Person bei.17 Der

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Die Schädigung

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toter

Personen

— eine

Kritik

Wunsch einer Person kann objektiv erfüllt werden. In unserem Beispiel ist das der Fall, wenn die Forschungen des Wissenschafders zur Lösung der mit dem Projekt verbundenen Aufgaben oder Probleme beitragen. Die subjektive Befriedigung des Wunsches einer Person ist jedoch etwas Zusätzliches, nämlich „die angenehme Erfahrung der Zufriedenheit und Befriedigung, die der Begehrende normalerweise erfährt, wenn er glaubt, sein Wunsch sei erfüllt worden."18 Die Erfüllung eines Wunsches kann unabhängig von der Befriedigung der Person sein. Eine Person kann fälschlicherweise annehmen, ihr Wunsch sei erfüllt, und deshalb das Gefühl der Befriedigung haben, und sie kann, wie das Beispiel zeigt, fälschlicherweise annehmen, ihr Wunsch sei nicht erfüllt und deshalb unbefriedigt sein. Die objektive Erfüllung ist weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die subjektive Befriedigung der Person. Diese Überlegungen sprechen gegen die Behauptung, eine Person könne nur geschädigt werden, wenn sie den Schaden auch erfährt. Gibt es nichterfahrenen Schaden, dann, so scheint es, können Menschen durch nichterfahrenen Schaden auch nach ihrem Tod geschädigt werden. Wäre das der Fall, dann könnte eine Person zum Beispiel dadurch geschädigt werden, dass ein ihr gegebenes Versprechen nach ihrem Tod gebrochen wird. Alfred Nobel könnte dadurch geschädigt werden, dass seine legitime Erwartung auf Testamentserfüllung nicht erfüllt wird. Wir können uns auf die eben eingeführte Unterscheidung zwischen Erfüllung und Befriedigung eines Wunsches berufen: Wenn auch die Nichtexistenz der Person die Möglichkeit der Befriedigung seiner Wünsche ausschließt, Tote also nicht befriedigt werden können, so könnten ihre Wünsche womöglich doch erfüllt werden. Im Weiteren argumentiere ich, dass Tote nicht geschädigt werden können, obgleich es nichterfahrenen Schaden gibt. In seinen frühen Arbeiten zu posthumer Schädigung behauptet Joel Feinberg, der Nachweis der Schädigung Toter verlange lediglich den Nachweis der Schädigung posthumer Interessen im Sinne ihrer Nichterfüllung. Es wäre also lediglich zu zeigen, dass es posthume Interessen gibt, die nicht erfüllt werden.19 In der Tat haben Menschen Interessen und Wünsche mit Blick auf posthume Zustände. Diese Wünsche können das Wohlergehen der Kinder und Enkelkinder betreffen, den Erfolg langfristiger politischer Projekte (zum Beispiel die Abschaffung der Sklaverei) oder

Die S chädigung

heute

toter

Personen

— eine Kritik

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eines wissenschaftlichen Projekts (zum Beispiel eine kritische Ausgabe der Werke des Aristoteles). Solche Wünsche können posthum erfüllt werden oder nicht. Heute wissen wir, dass Alfred Nobels Wunsch nach seinem Tod entsprochen wurde. Den Nobelpreis gäbe es nicht, hätte Nobel nicht entsprechend testamentarisch verfügt. Hätten die Testamentsvollstrecker das Testament Nobels gefälscht, wäre sein Wunsch, einen Preis einzurichten, unerfüllt geblieben. Soviel ist klar. Aber bedeutete die posthume Nichterfüllung des Wunsches der heute toten Person schon, dass sie geschädigt wurde? Dagegen spricht, dass die Person zum Zeitpunkt der Nichterfüllung des Wunsches nicht existiert. Die Tatsache, dass Alfred Nobel die Person gewesen ist, die einen Preis durch entsprechende testamentarische Festlegung etablieren wollte, impliziert nicht, dass der tote Nobel geschädigt worden wäre, hätten die Testamentsvollstrecker entgegen seinem Willen gehandelt. Zwei Fälle sind zu unterscheiden. Einerseits können wir von der Person, die zu ihren Lebzeiten betrogen wird und es nicht feststellt, sagen, sie habe das Interesse, nicht betrogen zu werden. Andererseits ist Alfred Nobel nach seinem Tod nicht mehr länger die Person, die ein Interesse daran hat, dass ihr Testament erfüllt wird. Wenn seine Erwartungen, die er legitimerweise zu Lebzeiten hatte, nach seinem Tod nicht erfüllt werden, kann er nicht in dem für Schädigung relevanten Sinne affiziert sein. Der Fall der zu Lebzeiten betrogenen Person ist anders: Hätte sie den Betrug festgestellt, wäre sie auch subjektiv geschädigt gewesen. In diesem Sinne können wir von nichterfahrenem Schaden mit Blick auf eine Person zu ihren Lebzeiten sprechen.20 Der Nachweis der posthumen Schädigung verlangt demnach eine Antwort auf die Frage, wer geschädigt wird. Schon in seinen frühen Arbeiten zu posthumer Schädigung hat Feinberg dieses Problem erkannt. Deshalb schlägt er vor, Interessen als solche, also Interessen, die keinen Träger haben, können geschädigt werden. Was damit gemeint sein könnte, ist mindestens unklar. Selbst wenn es Interessen ohne Träger gibt und diese geschädigt werden können, so hätten wir keinen Grund, uns um diese losgelösten Interessen zu kümmern. Es sind Personen und andere Entitäten mit Interessen und Wünschen, etwa Tiere, die Ansprüche uns gegenüber haben können, und wir haben Gründe, diesen Ansprüchen zu entsprechen. Wir haben keinen Grund, uns um Interessen als solche zu kümmern.

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Schädigung

durch posthume

Ereignisse?

Die oben unterschiedene Position PI, nach welcher wir unter Pflichten gegenüber Toten stehen, die sich in den Rechten Toter uns gegenüber gründen, ist also mindestens zweifelhaft, jedenfalls insofern PI voraussetzt, dass verstorbene Menschen geschädigt werden können. Weil wir keine Pflichten gegenüber Interessen als solchen haben, können wir auch P2 nicht vertreten.

4. Schädigung gegenwärtig lebender Personen durch posthume Ereignisse? Feinberg hat in seinen späteren Arbeiten einen zweiten Vorschlag unterbreitet, die oben unterschiedene Position P3. Posthume Eigenschaften von Personen — zum Beispiel die Eigenschaft Nobels „Die Testamentsvollstrecker haben sein Testament gefälscht" — gelten als bedeutsam, weil Personen sich aufgrund posthumer Eigenschaften in einem geschädigten Zustand befinden können. Gemäß dieser Position ist der relevante Träger des (beschädigten) Interesses oder (nicht erfüllten) Wunsches die betroffene Person zu ihren Lebzeiten. Die eben untersuchten Einwände gegen PI und P2 sind also irrelevant. Mit anderen Worten vertritt Feinberg nun (in Anlehnung an die Position George Pitchers) die Auffassung, dass das Subjekt der Schädigung die toten Personen als ante-mortem Personen sind.21 Feinberg unterscheidet ante-mortem Personen von post-mortem Personen: Auf einen Verstorbenen können wir uns erstens beziehen, indem wir uns den jetzigen post-mortem Zustand dieser Person vorstellen. Wir können uns auf den Leichnam oder sonstige Uberreste der physischen Existenz der nicht mehr existierenden Person beziehen oder im Sinne unserer Annahme (a2) auf Personen, die heute weder von unseren Handlungen affiziert werden noch auf die Zustände der Welt einen Einfluss haben können. Wir können uns aber auch zweitens auf die ante-mortem Person beziehen, also die Person, wie sie existiert hat. Dann beziehen wir uns auf die Person, wie wir sie zu ihren Lebzeiten gekannt haben oder hätten kennen können. P3 zufolge können ante-mortem Personen durch posthume Ereignisse geschädigt werden. Schaden kann es demnach zwar ohne ein

Schädigung

durch posthume

Ereignisse?

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geschädigtes Subjekt nicht geben - aber es ist unerheblich, ob dieses Subjekt zu dem Zeitpunkt existiert, an dem der Schaden eintritt. Nach P3 kann sich die ante-mortem Person in einem geschädigten Zustand befinden aufgrund der posthumen Schädigung ihrer auf posthume Zustände bezogenen Interessen. Feinbergs und Pitchers Analyse ist hilfreich, untersuchen wir Fälle, bei denen das schädigende Ereignis zu Lebzeiten der geschädigten Person eintritt. Eine Person, die unvermeidlich ins Desaster rennt, befindet sich bereits in einem geschädigten Zustand. Variieren wir das Beispiel Alfred Nobels ein weiteres Mal. Nehmen wir an, Nobel hat all seine Arbeitskraft und die meisten seiner emotionalen Energien in das Projekt investiert, ein Vermögen zu erwerben, dass es ihm erlaubt, einen Preis für die Wissenschaften zu stiften. Er investiert sein Geld in die Baufirma „Nobel bauen", die aufgrund weltwirtschaftlicher Entwicklungen bankrott macht, was Nobel nicht hat vorhersehen können. In der Konsequenz scheitert Nobel in seiner Bemühung, den Preis einzurichten. Er empfindet dies zu Recht als Niederlage und ist sehr deprimiert. Wir wollen weiter annehmen, Fuchs konnte schon zu dem Zeitpunkt, zu dem Nobel entschied, in die Firma „Nobel bauen" zu investieren, wissen, dass eine Änderung der weltwirtschaftlichen Lage zum Bankrott der Firma und also auch zum Scheitern von Nobels Bemühungen führen würde. Fuchs hätte sagen können: Nobels Bemühungen, ein Vermögen zu erwerben, das es ihm ermöglichte, einen Preis zu stiften, sind zum Scheitern verurteilt. Folgen wir Feinberg, hätte Fuchs auch sagen können: Nobel befindet sich in einem geschädigten Zustand. Der Umstand, dass „Nobel bauen" zu einem späteren Zeitpunkt bankrott machen wird, also das zukünftige Ereignis der Zerstörung des Vermögens von Nobel wird nur wahr machen, was schon wahr gewesen ist, seit Nobel das Interesse geformt hat, einen Preis zu etablieren, und zur Realisierung seines Zieles in „Nobel bauen" investiert hat: Seitdem ist sein Projekt zum Scheitern verurteilt und wahr gewesen, dass Nobel sich in einem geschädigten Zustand befand. Das trifft auch auf Fälle zu, bei denen das schädigende Ereignis nach dem Tod eintritt. Variieren wir unser Beispiel erneut. Nehmen wir an, die Baufirma „Nobel bauen" macht bald nach Nobels Tod bankrott. Wegen mangelnder Ressourcen kann sein testamentarisch verfügter Wunsch deshalb nicht erfüllt werden. Folgen wir Feinbergs

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S chädigung

durch postbume

Ereignisse?

Interpretation, dann befindet sich der ante-mortem Nobel in einem geschädigten Zustand, auch wenn Nobel das Scheitern seines Projekts nicht erfahren hat (und nicht erfahren konnte). Nobel ist in einem geschädigten Zustand, weil seine Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind. Offenbar ändert Nobels Tod nichts daran, dass er zu seinen Lebzeiten der Träger von Interessen gewesen ist, Wünsche hatte und Projekte verfolgte. Sein Tod ändert auch nichts daran, dass er sich zu Lebzeiten in einem geschädigten Zustand befand, weil sein Projekt zum Scheitern verurteilt war — selbst wenn das Ereignis, das seine Bemühungen zerstörte, ein posthumes Ereignis ist. Dass ein für Nobel posthumes Ereignis wahr macht, dass seine Bemühungen gescheitert sind, ist in eben dem Sinne relevant, indem ein Ereignis zu seinen Lebzeiten dies wahr machte. In beiden Fällen befindet sich Nobel im geschädigten Zustand von dem Zeitpunkt an, zu welchem er das Interesse gebildet hat und in das Projekt genau so investiert hat. So der Schaden für ihn nicht vorhersehbar war, kann er ihn subjektiv nur erfahren, wenn das Schadensereignis noch zu seinen Lebzeiten eintritt. Allerdings ist die so verstandene Schädigung keine posthume Schädigung, sondern Schädigung von heute toten Personen zu deren Lebzeiten. Lässt sich diese Position dennoch als eine plausible Interpretation der Relevanz posthumer Ereignisse auffassen? Ich denke nicht. Eine weitere Variante unseres Beispiels kann die Schwierigkeit verdeutlichen. Eine Reihe posthumer Ereignisse kann konfligierende Implikationen für posthume Eigenschaften einer Person haben.22 Nehmen wir an, Nobel hat ein Vermögen zusammengebracht, das es ihm erlaubt, den Preis zu stiften, und er hat dies entsprechend in seinem Testament verfügt. Dem Testamentsvollstrecker Martin gelingt es, das Testament zu fälschen. Statt das Geld für die Einrichtung eines Preises zu verwenden, verwendet Martin das Geld darauf, Obdachlose medizinisch zu versorgen. Die Bemühungen Nobels, die Grundlage für die Einrichtung eines Preises zu schaffen, scheinen gescheitert. Kurze Zeit später aber deckt Robert den Schwindel auf. Martin, der über ein großes Privatvermögen verfügt, wird gezwungen, die für die Einrichtung des Preises nötige Summe selbst zur Verfügung zu stellen. Seitdem erfüllt die jährliche Verleihung des Preises mit großem Erfolg ihre Zwecke wie von Nobel gewünscht und erhofft.

Schädigung

durch posthume

Ereignisse?

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Feinberg zufolge müssten wir über Nobel zu seinen Lebzeiten erstens sagen, dass er sich in einem geschädigten Zustand befand, weil Martin sein Testament fälscht, und zweitens, dass sich der antemortem Nobel mit Blick auf sein Projekt, einen Preis einzurichten, nicht in einem geschädigten Zustand befindet, weil Robert nur kurze Zeit später den Schwindel aufdeckt und der Preis dann genau so eingerichtet wird, wie Nobel es testamentarisch verfügt hatte. Beides zu behaupten ergibt keinen Sinn. Nun spricht manches dafür, dass der ante-mortem Nobel durch die vorgestellte Reihe posthumer Ereignisse nicht beschädigt wird — einmal vorausgesetzt, dass Nobel durch posthume Ereignisse beschädigt werden kann. Martins ursprüngliche Fälschung des Testaments schmälert den Erfolg der jährlichen Preisverleihung nicht. Bleibende Konsequenz der Fälschung dürfte sein, dass Personen, die davon Kenntnis haben, Martin nicht länger vertrauen, ihn moralisch verurteilen und sozial sanktionieren. Plädierten wir also angesichts dieser Reihe posthumer Ereignisse dafür, dass Nobel zu seinen Lebzeiten nicht beschädigt ist, dann hieße das, dass die Handlung von Martin keinen „posthumen" Schaden verursacht. Denn nach der Auffassung von Pitcher und Feinberg kann ja nur die ante-mortem Person Nobel geschädigt sein und nicht der tote Nobel. Schädigt aber Martin Nobel nicht, dann kann auch die Aufdeckung des Schwindels durch Robert für den ante-mortem Nobel nicht die Wirkung haben, dass sein Testament wiederhergestellt wird. Die Relevanz der Handlungen Roberts für den ante-mortem Nobel hängt von der Relevanz der Handlung Martins für Nobel ab. Ist Martins Handlung von keiner Bedeutung, so auch Roberts. Feinbergs Vorschlag soll aber ja zeigen, dass Handlungen wie die von Martin und Robert für Nobel relevant sind und zwar zu dessen Lebzeiten. Eine normative Theorie, die beansprucht, die Relevanz posthumer Ereignisse zu erweisen, wird nicht überzeugen, es sei denn, sie kann zeigen, dass (und warum) solche Handlungen für Nobel von Bedeutung sind. Die Idee, dass verstorbene Personen geschädigt werden können, hat sich als äußerst problematisch erwiesen. Sofern Schädigung notwendige Bedingung für die Verletzung von Rechten ist,23 gibt dies Anlass zu Zweifeln, dass wir Toten Unrecht zufügen, sie in ihren Rechten verletzen können. Hängen Rechte von Interessen ab,24 und muss eine natürliche Person, um Rechtsträger zu sein, auch Träger

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Ereignisse?

von Interessen sein, die erfüllt oder nicht erfüllt werden können, dann bedeutet die Verletzung von Rechten die Nichterfüllung der ihnen zugrunde liegenden Interessen, was dem Wohl des Rechtsträgers wenigstens potentiell abträglich ist. Demnach und gemäß unserer Annahme (A) können post-mortem Personen in ihren Rechten nicht verletzt werden. Denn entweder existieren sie nicht oder sie können von Änderungen der Welt nicht affiziert werden. (Siehe Anhang, Tabelle 1) Außerdem trifft der schon vorgestellte Einwand gegen die oben unterschiedene Position P3 auch dann, wollten wir behaupten, die ante-mortem Person befinde sich aufgrund posthumer Ereignisse zwar nicht in einem geschädigten, aber in dem Zustand des Opfers von Unrecht. Es kann nicht der Fall sein, dass das Recht einer ante-mortem Person zugleich sowohl verletzt als auch restituiert wird. Der antemortem Nobel kann in unserem früheren Beispiel nicht zugleich durch Martins Fälschung Unrecht erleiden und durch Roberts schnelle Bloßstellung des Betrugs und der Vollstreckung seines Testaments in seinen Rechten restituiert sein. An dieser Stelle sei meine Kritik der alternativen PI, P2 und P3 kurz zusammengefasst, bevor ich im nächsten Abschnitt konstruktiv für die Position überlebender Pflichten eintrete. Verstorbenen Rechte zuzuschreiben mag dann unproblematisch erscheinen, nehmen wir an, dass Menschen nach ihrem physischen Tod fortfahren zu existieren, sei es als Personen, die von den Ereignissen dieser Welt betroffen sein können, oder gar als Personen, die zudem imstande sind, auf die Ereignisse dieser Welt einzuwirken. Solche Annahmen wie auch die gegenteilige, es gebe keine personale Fortexistenz nach dem Tod, sind nicht nur strittig, sondern wohl auch unentscheidbar. Sie eignen sich nicht als Ausgangspunkt für eine philosophische Untersuchung der Frage, ob wir unter Pflichten mit Blick auf früher lebende Personen stehen können. Stattdessen gehe ich von (A) aus. Demnach ist das Ende der physischen Existenz eines Menschen, das ist sein Tod, für diesen Menschen auch das Ende der Möglichkeit, von Ereignissen oder Handlungen der Welt, wie wir sie kennen, affiziert beziehungsweise betroffen zu werden — eine Annahme, die offen lässt, ob verstorbene Personen zu existieren fortfahren. Für gegenwärtig lebende Menschen sind verstorbene Personen weder passive noch aktive Subjekte.

Überlebende

Pflichte

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Joel Feinberg und andere Theoretiker haben insbesondere zwei Positionen posthumer Schädigung vertreten. Gemäß beider können verstorbene Personen keine Träger von Interessen oder Rechten sein, und deshalb können gegenwärtig lebende Menschen verstorbene Personen weder schädigen noch ihnen Unrecht zufügen. Wenn auch beide Positionen mit (A) vereinbar sind, so bietet uns doch keine von beiden eine plausible Interpretation posthumer Schädigung oder posthumen Unrechts. Nach P2 können gegenwärtig lebende Menschen überlebenden Interessen als solchen — das heißt, Interessen, die früher lebende Personen zu ihren Lebzeiten mit Blick auf posthume Zustände der Welt gehabt haben — etwas schulden. Der wichtigste Einwand gegen diese Position lautet: Während wir Gründe haben, uns um Personen und deren Interessen und Wünsche zu kümmern, haben wir keinen Grund, uns um Interessen als solche zu kümmern. Nach P3 können ante-mortem Personen, also Personen zu ihren Lebzeiten sich aufgrund posthumer Ereignisse in einem geschädigten Zustand befinden oder in einem Zustand, in welchem ihre Rechte verletzt sind. Diese Position bietet keine Interpretation posthumer Schädigung, sondern der Schädigung von Personen zu ihren Lebzeiten durch posthume Ereignisse. Wie gezeigt kann aber diese Interpretation unser übliches Verständnis der Bedeutung posthumer Ereignisse nicht erfassen.

5. Oberlebende Pflichten Die Idee überlebender Pflichten 25 ist mit (A) kompatibel und beruht auf keiner der kritisierten Behauptungen, nämlich weder auf der Behauptung, dass verstorbene Menschen geschädigt werden können, noch dass tote Personen Rechte haben, noch dass wir überlebenden Interessen als solchen etwas schulden können, und auch nicht auf der Behauptung, dass die normative Bedeutung posthumer Ereignisse darin aufgeht, dass diese Ereignisse es wahr machen können, dass die ante-mortem Person sich in einem geschädigten Zustand befindet (oder in einem Zustand, in welchem ihre Rechte verletzt sind). Vielmehr beruht die Idee überlebender Pflichten auf der Überlegung, dass Pflichten den Tod des Rechtsträgers 26 überleben können. Während der Rechtsträger nicht länger existiert, können heute

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und zukünftig lebende Personen unter den korrelativen Pflichten stehen. Die Gründe für das Recht einer Person können Gründe für eine Pflicht enthalten, unter welcher andere Personen nach dem Tod des Rechtsträgers stehen. Die besonderen Gründe dafür, dass eine bestimmte Person den entsprechenden zukunftsorientierten Anspruch hatte, sind zugleich Gründe für die Zuschreibung der überlebenden Pflicht.27 So es sich um einen moralischen Ansprach und eine moralische Pflicht handelt, gehören zu ihren Gründen auch generelle moralische Handlungsgründe, die nicht nur für den Träger des zukunftsorientierten Anspruchs relevant waren, sondern auch für die Träger der überlebenden Pflicht und ihre Zeitgenossen sowie zukünftig lebende Menschen relevant sind. Zum Beispiel ist für uns alle wichtig, das Vertrauen darin zu schützen, dass Versprechen gehalten werden und dass Menschen den Ruf genießen, den sie verdienen. (Siehe Anhang, Tabelle 2. 1) Die Behauptungen sind also im Einzelnen: (A*) Tote Personen haben keine Interessen, Ansprüche oder Rechte mit Blick auf die Welt, wie wir sie kennen. (B) Gegenwärtig lebende Personen können unter Pflichten stehen. (Cl) Einige Rechte sind zukunftsorientiert in dem Sinne, dass sie in der Zukunft Pflichten nach sich ziehen. (C2) Solche Rechte können überlebende Pflichten nach sich ziehen: Die Rechte lebender Personen implizieren Pflichten, die, wenn ein geeigneter Pflichtenträger identifiziert werden kann, (auch) Geltung nach dem Tod der Person haben, die Träger des Rechts oder Anspruchs gewesen ist. (B) ist unproblematisch. Könnten gegenwärtig lebende Menschen nicht unter Pflichten stehen, ergäbe die Rede von Pflichten keinen Sinn. (A*) ist bereits in (A) enthalten. Für die Position überlebender Pflichten sind (Cl) und (C2) entscheidend. Diese Annahmen werde ich erläutern, indem ich die Gründe für überlebende Pflichten untersuche und zwar anhand unseres Beispiels Alfred Nobel. Dass ein Recht eine Pflicht nach sich zieht oder impliziert bedeutet, dass eine Behauptung über dieses Recht die Behauptung enthält, dass die entsprechende Pflicht besteht. Eine solche Implikation beruht darauf, dass die Gründe für das Recht jedenfalls einige der Gründe für die implizierte Pflicht enthalten. Im Falle zukunftsorientierter Rechte können die Gründe für deren Zuschreibung an

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Personen dafür hinreichen, nach dem Tod der Rechtsträger heute lebenden Personen Pflichten zuzuschreiben, also überlebende Pflichten. Handelt es sich um moralische Rechte, zählen zu den Gründen generelle moralische Handlungsgründe. Solche Gründe beziehen sich auf den Schutz der Bedingungen des guten Zusammenlebens von Menschen. Nehmen wir an, Nobel hat seinen Wunsch, posthum einen Preis für die Wissenschaften einzurichten zu lassen, für sich behalten. Zwar verfügt er über das für diesen Zweck nötige Vermögen, hat aber bisher kein entsprechendes Testament geschrieben. Mit seinem Freund Robert unternimmt Nobel eine Wanderung in einer einsamen Berglandschaft. Nobel stürzt ab, und sowohl er als auch sein Freund nehmen an, dass er sterben wird, bevor sie jemanden zu Hilfe holen können. Nobel bittet seinen Freund, ihm zu versprechen, dafür zu sorgen, dass sein Vermögen zur Einrichtung eines Preises für die Wissenschaften verwandt wird und dass diesem seinem Willen ganz genau so entsprochen wird, als hätte er dies testamentarisch festgelegt. Warum sollte Robert sein Versprechen halten? Die Position überlebender Pflichten bindet die Geltung von Roberts Pflicht, sein Versprechen zu halten, sowohl an das frühere Recht der heute toten Person Nobel als auch an generelle moralische Handlungsgründe, die für den Ρ fliehten träger Robert wie auch seine Zeitgenossen relevant sind. Erstens implizieren die besonderen Gründe, die das frühere Recht der heute toten Person ausweisen, Gründe für die Geltung der überlebenden Pflicht der heute lebenden Person: diese stünde nicht unter der überlebenden Pflicht, hätte nicht eine Person existiert, die der Träger des zukunftsorientierten Rechts gewesen ist. In diesem Sinne ist die überlebende Pflicht mit Blick auf die heute tote Person geschuldet. So hat die überlebende Pflicht Roberts, sein Versprechen zu halten, unter anderem deshalb Geltung, weil er das Versprechen dem verstorbenen Nobel gegeben hat, weshalb Nobel zu Lebzeiten einen Anspruch daraufhatte, dass Robert das ihm gegebene Versprechen hält. Wäre die Geltung der Pflicht nicht daran gebunden, dass die verstorbene Person ein zukunftsorientiertes Recht hatte, ließe sich die Position überlebender Pflichten nicht von anderen unterscheiden, denen zufolge die Pflicht allein den Zeitgenossen sowie unter Um-

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ständen zukünftig lebenden Menschen geschuldet ist. Anders als einige konsequentialistische Interpretationen insistiert die Position überlebender Pflichten darauf, dass die Pflicht, ein Todesbettversprechen zu halten, notwendigerweise unter anderen auf den Gründen für das zukunftsorientierte Recht beruht und dass diese Gründe die spezifischen Gründe für die Zuschreibung des früheren Rechts an die verstorbene Person enthalten.28 Neben diesen spezifischen Gründen gibt es aber auch generelle moralische Handlungsgründe für die Geltung überlebender Pflichten. Sie betreffen den Schutz von Werten, deren Realisierung für das gute Zusammenleben von Menschen wichtig ist. Im Falle des Todesbettversprechens geht es um den Wert des Vertrauens darin, dass Verabredungen und insbesondere Versprechen gehalten werden.29 Insofern Menschen ein Interesse an posthumen Zuständen der Welt haben und diese Interessen zu verfolgen für die Güte ihres Lebens von Bedeutung ist,30 ist es für Menschen zu ihren Lebzeiten wichtig, dass sich andere ihnen durch Versprechen verpflichten können, nach ihrem Tod in bestimmter Weise zu handeln, und dass sie darauf vertrauen können, dass solche Versprechen auch gehalten werden. Für die Praxis der Todesbettversprechen ist der Schutz des Werts des Vertrauens in ihre Einhaltung besonders wichtig. Die Person, der das Versprechen geschuldet ist, wird weder feststellen können, ob das Versprechen gehalten wurde, noch den Bruch des Versprechens sanktionieren können.31 Werden Todesbettversprechen (häufig) gebrochen, so dürfte dies nicht nur das Vertrauen in die Einhaltung solcher Versprechen, sondern in die Einhaltung von Versprechen überhaupt unterminieren. Das Recht der verstorbenen Person auf Einhaltung der ihr gegebenen Versprechen beruht auf diesen beiden Typen von Gründen. Obgleich das Recht wie auch der Rechtsträger nicht mehr existieren, können die spezifischen Gründe für das frühere Recht und generelle moralische Gründe die Geltung der korrelierenden Pflicht implizieren. Die Pflicht der Person, die das Versprechen gegeben hat, behält ihre Gültigkeit. Der Tod des Rechtsträgers lässt die besonderen moralischen Gründe für die Zuschreibung der Pflichten an die überlebenden Pflichtträger unberührt. Diese Gründe sind in den Gründen für die Zuschreibung des früheren Rechts der verstorbenen

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Person enthalten. Auch die generellen Gründe bestehen fort. Sie gelten nicht nur für den einzelnen Rechtsträger, sondern auch für den überlebenden Träger der korrelativen Pflicht und dessen Zeitgenossen. Deshalb haben die Zeitgenossen einer Person, die unter einer überlebenden Pflicht steht, Gründe, die Person sozial zu sanktionieren, sollte sie ihr Versprechen nicht halten. (Siehe Tabelle 3. b. 3. a.)

6. Die Erfüllung oder Verletzung überlebender Pflichten als posthume Eigenschaften Ist diese Interpretation überlebender Pflichten als Pflichten gegenwärtig lebender Menschen mit Blick auf verstorbene Personen wirklich mit der Annahme vereinbar, dass verstorbene Personen Träger weder von Interessen noch Rechten sind und dass sie von den Handlungen gegenwärtig lebender Menschen nicht betroffen werden können? Die Position überlebender Pflichten setzt voraus, dass posthume Eigenschaften zugeschrieben werden und sich ändern können. Sollte Robert sein Versprechen nicht halten, so hätte Nobel die posthume Eigenschaft, die Person zu sein, mit Blick auf welche Robert die Pflicht verletzt hat, das Versprechen zu halten, das er gab. Eine derartige posthume Prädikation ist unvereinbar mit folgender Behauptung: (D) Wenn X die Eigenschaft Ρ zu einem bestimmten Zeitpunkt t hat, dann existiert X zum Zeitpunkt t.32 Denn unsere Interpretation posthumer Pflichten soll ja mit der Annahme vereinbar sein (al), dass tote Personen nicht existieren. Die Idee überlebender Pflichten setzt die Möglichkeit posthumer Prädikation von Eigenschaften an nicht-mehr-existente Personen voraus, also die Zurückweisung von (D). Im Besonderen setzt die Idee überlebender Pflichten die Möglichkeit voraus, dass die Eigenschaften früher lebender Personen sich nach ihrem Tod ändern. Kann eine Eigenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt einem Gegenstand zugeschrieben werden und wies der Gegenstand diese Eigenschaft zuvor nicht auf, dann verändert sich der Gegenstand. Kommen wir auf das Beispiel der Fälschung des Testaments von

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Nobel zurück. Martin fälscht das Testament von Nobel. Deshalb wird das Vermögen Nobels anders als testamentarisch festgelegt verwandt. Kurze Zeit später deckt Robert den Schwindel auf und sorgt dafür, dass das Testament erfüllt wird. Zunächst weist also der verstorbene Nobel die Eigenschaft auf, betrogen, und etwas später die Eigenschaft, restituiert worden zu sein. Aber wie ist eine solche Veränderung Nobels möglich, wenn er nicht existiert? Zur Erklärung posthumer Prädikation bemüht David-Hillel Ruben zwei Unterscheidungen, erstens die zwischen tatsächlichen und nichttatsächlichen Veränderungen (auch scheinbare oder „Cambridge-Veränderungen" genannt),33 und zweitens die zwischen Beziehungsveränderungen und Nicht-Beziehungsveränderungen.34 Erstens sollen wir zwischen Veränderungen, wie sie gewöhnlich aufgefasst werden, und nur scheinbaren Veränderungen unterscheiden: Die Veränderung des Schülers, wenn er beginnt, Sokrates zu bewundern, den er zuvor nicht bewunderte, ist ein Beispiel tatsächlicher Veränderung, während die Veränderung des Sokrates, wenn der Schüler ihn zu bewundern beginnt, ein Beispiel für nicht-tatsächliche Veränderung ist. Zweitens kann man einem Gegenstand eine Nicht-Beziehungseigenschaft zuschreiben, ohne irgendetwas darüber hinaus über andere Gegenstände zu wissen.35 Das stimmt nicht für Beziehungseigenschaften. Ändert ein Gegenstand seine Farbe, mag dies ein Beispiel für eine Nicht-Beziehungseigenschaft sein. Die Eigenschaft, die lang verstorbene Vorfahren jedes Mal dann haben, wenn sie einen neuen Nachfahren bekommen, nämlich Ur-Ur-usw.-Großväter dieses Kindes zu sein, ist ein Beispiel für eine Beziehungseigenschaft.36 In unserem Beispiel fälscht Martin das Testament von Nobel. Dies ist ein Ereignis, eine Veränderung des Zustands der Welt, welche auf Nicht-Beziehungsveränderungen von Martin beruht. Martin handelt entgegen der Gründe, die für ihn gelten, und weist nun die NichtBeziehungseigenschaft auf, eine Pflicht verletzt zu haben. Dies ist, nehmen wir an, Ursache von Scham- und Schuldgefühlen — auch eine Nicht-Beziehungsveränderung von Martin. Seine Pflichtverletzung kann weitere Konsequenzen haben, und das ist in unserem Beispiel auch der Fall: Als der Betrug auffliegt, belegen Martins Zeitgenossen ihn mit sozialen Sanktionen. Das erfordert von ihnen, in bestimmter Weise zu handeln. Alle diese Nicht-Beziehungsveränderungen sind tatsächliche Veränderungen in der Welt.

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Dass Martin seine überlebende Pflicht verletzt, zieht aber auch Beziehungsveränderungen nach sich. Erstens ändert sich die Beziehung zwischen Martin und Nobel. Nobel hat jetzt die posthume Eigenschaft, dass mit Blick auf ihn Martin seine Pflicht verletzt hat — nämlich eine Pflicht, unter der Martin nicht stünde, wäre Nobel nicht der Träger des korrelierenden zukunftsorientierten Rechts gewesen. Zweitens ändert sich Martins Beziehung zu seinen Zeitgenossen. Wegen seiner Pflichtverletzung halten andere Martin nun für eine Person, die mit Sanktionen zu belegen ist. Denn gemäß unserer Interpretation überlebender Pflichten hat Martin auch generellen moralischen Handlungsgründen zuwider gehandelt. Dies geht alle Moralpersonen an. Demnach kann der tote Nobel zwar nicht Gegenstand einer NichtBeziehungsveränderung sein, wohl aber das relatum einer Beziehungsveränderung. Ruben zufolge gibt es für jede Beziehungsveränderung eine gleichzeitige oder frühere Nicht-Beziehungsveränderung, der sich die Beziehungsveränderung verdankt oder von der sie abhängt.37 Zugleich lassen sich verschiedene Typen des Verhältnises von Beziehungs- und Nicht-Beziehungsveränderungen unterscheiden.38 Der erste Typ ist dadurch charakterisiert, dass keines der relata, das eine Beziehungsveränderung erfährt, Gegenstand einer Nicht-Beziehungsveränderung ist. Zum Beispiel sind Bettina und Rolf verwandt, seit der und aufgrund der Heirat von Bettinas Bruder mit Rolfs Schwester. Dafür, dass Bettina und Rolf verwandt sind, bedarf es keiner Handlung von Bettina und Rolf. Bettina und Rolf müssen nicht einmal Kenntnis von der Heirat haben. Sie müssen sich nicht tatsächlich ändern, um durch die Heirat des Bruders und der Schwester miteinander verwandt zu sein. Die Veränderung der Beziehung zwischen Bettina und Rolf ist keine tatsächliche, sondern eine nicht-tatsächliche oder scheinbare. Ruben vertritt die generelle These, dass alle nicht-tatsächlichen Veränderungen Beziehungsveränderungen sind. Beim zweiten Typ unterliegen beide relata, die eine Beziehungsveränderung erfahren, auch eine Nicht-Beziehungsveränderung. Das ist der Fall für den Bruder von Bettina und die Schwester von Rolf. Sie ändern sich, indem sie heiraten. Dass sie heiraten, hängt von ihren Handlungen ab. Aufgrund ihrer jeweiligen Handlungen erfahren beide Personen und jede für sich eine tatsächliche Veränderung in der

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Welt. Zudem sind sie aufgrund dieser Handlungen nicht mehr ledig, geschieden oder verwitwet, sondern miteinander verheiratet — eine Beziehungsveränderung. Für die Interpretation überlebender Pflichten relevant ist der dritte Typ. Verletzt eine gegenwärtig lebende Person ihre überlebende Pflicht, dann ist nur eines der relata, das eine Beziehungsveränderung erfährt, Gegenstand einer Nicht-Beziehungsveränderung, also einer tatsächlichen Veränderung, nämlich die gegenwärtig lebende Person. Das andere relatum, die verstorbene Person, erfährt eine nicht-tatsächliche Veränderung, nämlich eine Beziehungsveränderung, nicht aber eine tatsächliche Veränderung. In unserem Beispiel verletzt Martin seine überlebende Pflicht mit Blick auf Nobel. Aufgrund seiner Handlung erfährt Martin sowohl eine tatsächliche als auch eine ΒeziehungsVeränderung, nämlich in seiner Beziehung zum verstorbenen Nobel. Dieser ist tot und kann deshalb keine tatsächliche Veränderung erfahren, sondern nur nicht-tatsächliche Veränderungen. Demnach können wir die eingangs als unvereinbar mit der Idee überlebender Pflichten vorgestellte Behauptung (D) qualifizieren. (D) trifft zu, handelt es sich um die Eigenschaft, eine tatsächliche Veränderung zu erfahren. (D) entsprechend qualifiziert lautet: (D*) Wenn X die Eigenschaft Ρ zu einem bestimmten Zeitpunkt t hat und es sich um die Eigenschaft handelt, eine tatsächliche Veränderung zu erfahren, dann existiert X zum Zeitpunkt t.39 Nur existierende Träger von Eigenschaften können Eigenschaften haben, die anzeigen, dass der Träger eine tatsächliche Veränderung erfährt; nicht-existierende Träger von Eigenschaften können Eigenschaften haben, die eine Veränderung ihrer Beziehungen zu anderen Entitäten anzeigen, nämlich wegen der tatsächlichen Veränderungen letzterer. Es stimmt also, dass tatsächliche Veränderungen zu einem bestimmten Zeitpunkt t die Existenz zum Zeitpunkt t voraussetzen. Das bedeutet aber nicht, dass Gegenstände keine nicht-tatsächlichen Veränderungen erfahren können, wenn sie nicht existieren. Demnach ist die posthume Zuschreibung von nicht-tatsächlicher Veränderung möglich. Die Verletzung überlebender Pflichten setzt dies voraus: der heute toten Person wird die posthume Eigenschaft zugeschrieben, die Person zu sein, deren früheres zukunftsorientiertes Recht heute von einer anderen Person verletzt wird, welche aufgrund ihrer Pflichtverletzung, einer tatsächlichen Veränderung, zu der heute to-

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ten Person in einer anderen Beziehung steht, ohne dass die tote Person eine tatsächliche Veränderung erfährt. Die Idee überlebender Pflichten setzt nicht die Möglichkeit tatsächlicher Veränderung der heute toten Person voraus. Vielmehr beruht die Idee auf der Überlegung, dass die Gründe für ein früheres zukunftsorientiertes Recht einer verstorbenen Person Gründe für überlebende Pflichten gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen enthalten können. Die Idee posthumer Schädigung setzt hingegen eine tatsächliche Veränderung der toten Person voraus. Jemanden zu schädigen bedeutet, das Wohlbefinden der Person negativ zu beeinflussen. Wenn heute tote Personen keine tatsächlichen Veränderungen erfahren können, so können sie auch nicht posthum geschädigt werden. Sofern die Schädigung einer Person notwendige Bedingung der Verletzung ihrer Rechte ist, setzt auch die Idee posthumer Rechtsverletzung voraus, dass die verstorbene Person eine tatsächliche Veränderung erfahren kann.40

7. Uberlebende Pflichten

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Kompensation

Das allein zukunftsorientierte Verständnis historischen Unrechts ist dem Einwand ausgesetzt, wenigstens unvollständig zu sein, weil es unberücksichtigt lässt, dass Lebende Pflichten mit Blick auf Tote haben können, insbesondere auch wegen des in der Vergangenheit an ihnen verübten Unrechts. Die Position überlebender Pflichten kann diese Lücke schließen und ist mit dem zukunftsorientierten Verständnis vereinbar. Zwar können wir nach dem üblichen Verständnis von Kompensation in Verbindung mit (A) nicht unter der Pflicht stehen, heute toten Unrechtsopfern Kompensation zu leisten: 41 Eine Kompensationshandlung zielt normalerweise entweder darauf, ein (materielles) Substitut für das bereitzustellen, was das Opfer des Unrechts eingebüßt hat, oder darauf, das Wohlbefinden der betroffenen Person auf ein bestimmtes Niveau zu heben.42 Das setzt voraus, dass die Person, der Kompensation geschuldet ist, von einer Kompensationsleistung affiziert werden kann. (A) zufolge können aber verstorbene Menschen von unseren Handlungen nicht affiziert werden.43 Auch die Restitution heute toter Opfer ist nicht möglich,

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wird unter Restitution verstanden, die normative Position, in welcher sich die Person befand, bevor sie die Rechtsverletzung erlitt, wiederherzustellen — nämlich sofern die Verletzung der Rechte die Schädigung des Opfers voraussetzt und die Restitution seine Besserstellung meint. So verstanden können wir weder Kompensation noch Restitution an heute toten Menschen leisten. Wir können aber unter der überlebenden Pflicht stehen, symbolisch Kompensation und Restitution mit Blick auf heute tote Menschen zu leisten. 44 Die bisher diskutierten Beispiele überlebender Pflichten verdanken sich testamentarischen Verpflichtungen oder quasi-testamentarischen Versprechen. Wir stehen unter bestimmten überlebenden Pflichten mit Blick auf früher lebende Personen wegen deren zukunftsorientierter Projekte, den Versprechen, die wir ihnen gegeben haben, und der vertraglichen Verpflichtungen, die wir ihnen gegenüber eingegangen sind. Solche Pflichten sind nicht unmittelbar relevant, wollen wir Pflichten aufgrund vergangenen Unrechts verstehen. Nicht alle Opfer historischen Unrechts verfolgten Projekte, die im relevanten Sinne zukunftsorientiert sind, oder haben andere dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass bestimmte, für sie selbst posthume Zustände eintreten. Früher lebende Menschen haben ihnen Unrecht getan, und deshalb wird von gegenwärtig lebenden Menschen gesagt, sie stünden unter Pflichten mit Blick auf sie. Die Diskussion des Beispiels Alfred Nobel enthält aber wichtige Hinweise dafür, wie wir unsere überlebenden Pflichten aufgrund früheren Unrechts verstehen können. Um zeigen zu können, dass gegenwärtig lebende Menschen unter solchen Pflichten stehen können, müssen wir annehmen, dass Menschen generell Interessen mit Blick auf posthume Zustände haben. (Siehe Tabelle 2. 1. b) Nicht alle Menschen sind in der Lage oder willens, posthume Zustände zu beeinflussen, so wie Alfred Nobel es tat, als er einen Preis für herausragende Leistungen in den Wissenschaften einrichtete. Jedoch kann man generell von Menschen annehmen, dass sie ein Interesse daran haben, einen guten posthumen Ruf zu genießen. Werden Menschen auf schlimme Weise in ihren Rechten verletzt, dann hängt ihr posthumer Ruf davon ab, dass sie als Opfer dieses Unrechts Anerkennung finden — und andere als Täter identifiziert werden. Solche Anerkennung verlangt wenigstens die öffentliche Feststellung, dass diese Menschen Opfer von Unrecht gewesen sind.

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Das ist dann besonders wichtig, wenn die Täter behaupten, es sei gerechtfertigt gewesen, die Menschen so zu behandeln, wie sie sie behandelt haben - und noch wichtiger dann, wenn andere diese Behauptung unterstützen. 45 Wird eine solche Behauptung von vielen für wahr gehalten, ist dies direkt rufschädigend für das Opfer. Es bedeutet, dass das Opfer eine Person gewesen ist, die es verdient, in ihren grundlegendsten Rechten verletzt zu werden. Die Behauptung, eine Person verdiene es, so behandelt zu werden, gehört zu den bösesten Verleumdungen einer Person 46 — gerade wenn wir der Auffassung sind, dies könne für niemanden je wahr sein. (Siehe Tabelle 3. b. 3. c) Indem wir früher lebende Menschen als Opfer schlimmsten Unrechts anerkennen, können wir ihr Wohlbefinden nicht positiv beeinflussen. Solche Anerkennung kann auch den toten Opfern gegenüber nicht ausgedrückt werden, sondern nur gegenüber gegenwärtig lebenden Menschen im Lichte des Unrechts, das früher lebende Menschen erlitten haben. Stehen wir aber unter überlebenden Pflichten mit Blick auf verstorbene Opfer vergangenen Unrechts wegen der von ihnen erlittenen Rechtsverletzungen, dann wird die Erfüllung unserer Pflicht, also die öffentliche Anerkennung des von ihnen erlittenen Unrechts, die Beziehung zwischen uns und den toten Opfern historischen Unrechts ändern. Die früher lebenden Opfer dieser Unrechtstaten werden dann die posthume Eigenschaft haben, dass wir unsere überlebende Pflicht mit Blick auf sie erfüllt haben. Bleibt erneut zu betonen: Die Veränderung der Beziehung zwischen einer gegenwärtig lebenden und einer toten Person bewirkt keine tatsächliche Veränderung letzterer. Vielmehr beruht die Beziehungsveränderung auf einer tatsächlichen Veränderung der Person, die die Handlung ausführt. Früher lebende Menschen als Opfer historischen Unrechts anzuerkennen kann von uns je nach den Umständen ganz Unterschiedliches erfordern. Gegenwärtig lebende Menschen können solche Anerkennung auf indirekte Weise zum Ausdruck bringen, nämlich indem sie denen tatsächliche Kompensation leisten, die heute schlechter gestellt sind als sie sein sollten, nämlich wegen der Konsequenzen des an ihren Vorfahren verübten Unrechts. Teil der Botschaft solcher Kompensation kann die Anerkennung früher lebender Menschen als Op-

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fer sein. Das öffentliche Gedenken an heute tote Opfer ist direkter Ausdruck der Bemühung um deren posthume Anerkennung. Mit einem Denkmal können wir den symbolischen Wert realisieren wollen, Kompensation für nicht mehr lebende Opfer zu leisten. Man denke an eine öffentliche Rede, einen Tag im offiziellen Kalender, eine Konferenz, einen öffentlichen Ort oder ein Monument — zum Beispiel eine Skulptur oder eine Installation. Häufig zielen solche Denkmale darauf, an Verbrechen zu erinnern, die im Namen der politischen Gesellschaft von früheren Mitgliedern begangen wurden.47 Die gegenwärtigen Mitglieder der Gesellschaft möchten für diese Verbrechen mit Blick auf deren Opfer und ihre Nachfahren öffentlich symbolische Kompensation oder Restitution leisten. Noch gibt es keine etablierte Praxis für solche Bemühungen um öffentliche symbolische Kompensation. In Deutschland finden sich die entsprechenden Denkmale seit den 1970er Jahren,48 und die Anfänge einer internationalen Praxis symbolischer Kompensation werden beschrieben.49 Wie ist die Praxis symbolischer Kompensation zu verstehen? Leisten wir symbolische Kompensation, dann schreiben wir diesen Handlungen zumindest teilweise den Wert tatsächlicher Kompensation zu, welchen wir realisierten, wäre es nur möglich. Demzufolge entspräche der Wert symbolischer Kompensationshandlungen jedenfalls zum Teil dem Wert tatsächlicher Kompensationshandlungen, die wir ausführten, wäre es denn möglich.50 Symbolische Kompensationshandlungen sind inhärent mit der Restitution einer posthumen Reputation verknüpft, die durch den Mangel öffentlicher Anerkennung der vergangenen Unrechtstaten oder gar durch das öffentliche Leugnen des unrechtmäßigen Charakters dieser Handlungen beschädigt ist. Handlungen symbolischer Kompensation zielen darauf, den Ruf wiederherzustellen, der Menschen zusteht, nachdem sie Unrecht erlitten haben. Könnten wir mehr tun, könnten wir im Sinne tatsächlicher Kompensation das Wohlbefinden der Opfer positiv beeinflussen oder einen Zustand realisieren, der dem Wert des status quo ante crimen entspricht, dann würden wir dies tun - das ist die Botschaft symbolischer Kompensationshandlungen gemäß der hier vorgeschlagenen Interpretation. Gelingt es uns, diese Botschaft auszudrücken, indem wir eine Handlung symbolischer Kompensation ausführen, dann wird der Wert

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tatsächlicher Kompensation unseren symbolischen Kompensationshandlungen jedenfalls zum Teil zugeschrieben. Unsere symbolischen Kompensationshandlungen stehen für Handlungen, die wir ausführten, wäre es uns denn möglich. Die symbolischen Handlungen sind im Lichte der Werte zu verstehen, die wir realisierten, könnten wir tatsächlich Kompensation leisten. Tatsächliche Kompensation wird nicht zuletzt an ihren Konsequenzen gemessen. Zwar haben symbolische Kompensationshandlungen keine Konsequenzen für das Wohlbefinden Verstorbener. Erstens aber sind auch diese Handlungen an ihren Konsequenzen zu messen — nämlich an den Konsequenzen für die überlebenden Opfer, für die Nachkommen der Opfer, für die Gruppe, deren frühere Mitglieder durch das an ihnen begangene Unrecht verletzt wurden, für die, die diese Handlungen ausführen, für die Täter und ihre Nachfahren und für die Gesellschaft als Ganze. Einige der Konsequenzen, auf die wir durch symbolische Kompensationshandlungen zielen, entsprechen denen tatsächlicher Kompensation. Zweitens sind andere Konsequenzen symbolischer Kompensation an den spezifisch symbolischen Charakter der Handlungen gebunden. Handlungen symbolischer Kompensation erlauben uns, ein bestimmtes Selbstverständnis auszudrücken, nämlich das Selbstverständnis von Menschen, die tatsächliche Kompensation zu leisten wünschen und leisten, wenn es geboten und ihnen möglich ist. Wie können wir die Zuschreibung des Werts tatsächlicher Kompensation zu Handlungen symbolischer Kompensation erklären? Eine Erklärung wird hier sowohl kausale als auch normative Faktoren berücksichtigen. Kausale Erklärungen benennen die Faktoren, die kausal relevant sind für die Konstitution der Option, in einer bestimmten Weise zu handeln, und auch die Faktoren, die kausal für die Wahl und die Ausführung solcher Handlungen relevant sind. Normative Erklärungen zielen auf den Nachweis, dass die besten Handlungsgründe dafür sprechen, die Option zu haben, in einer bestimmten Weise zu handeln, und dass Menschen gute Gründe haben können, solche Handlungen unter bestimmten Bedingungen auszuführen. Im Folgenden werde ich mich auf zwei Erklärungstypen stützen, den konsequentialistischen und den expressivistischen. Beide können sowohl kausal als auch normativ verstanden werden. Die konsequentialistische Erklärung hilft, sowohl die Konstitution der

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Option als auch die tatsächlichen Konsequenzen symbolischer Kompensationshandlungen zu verstehen. Die expressivistische Erklärung hilft, den Wert zu verstehen, den Menschen realisieren, wenn sie Handlungen symbolischer Kompensation ausführen.

8. Die konsequentialistische "Erklärung symbolischer

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Die Praxis symbolischer Kompensation für historisches Unrecht und die einzelnen Handlungen, die die Praxis konstituieren, wären irrational, könnte nicht gezeigt werden, dass Menschen gute Gründe haben, unter bestimmten Umständen symbolische Kompensationshandlungen auszuführen. Ist es irrational, den Maßnahmen symbolischer Kompensation Wert zuzuschreiben, indem wir diese Maßnahmen als wertvoll erachten, ihnen Wert analog zum Wert dessen zuschreiben, wofür sie stehen, nämlich tatsächliche Kompensation? Selbst wenn symbolische Kompensationshandlungen auszuführen positiven Wert für die hätte, die die Handlungen ausführen, könnte so zu handeln negative Konsequenzen haben, die uns zwängen, den Wert solcher Handlungen insgesamt negativ zu bewerten. Für die Beurteilung solcher Handlungen kommt es nicht allein auf die Gründe derer an, die symbolische Kompensationshandlungen mit Blick auf die auszuführen, die als Opfer von Unrecht umgekommen sind. Könnten wir bestimmen, welchen Wert diese Gründe reflektieren sollen, könnten wir zudem die Umstände benennen, unter denen dieser Wert ohne erhebliche negative Konsequenzen realisiert werden kann, dann würde dies helfen, eine Praxis symbolischer Kompensation als rational auszuweisen. Dieser Praxis entsprechend zu handeln wäre angemessen und womöglich sogar geboten, ist tatsächliche Kompensation unmöglich. Die konsequentialistische Erklärung hilft die Umstände zu verstehen, unter denen symbolische Kompensationshandlungen angemessen sind. Warum wir den Wert tatsächlicher Kompensation einer symbolischen Kompensation zuschreiben, kann konsequentialistisch erklärt werden. Solche symbolische Bedeutung gewissen Handlungen zuzuschreiben gilt als kausal optimal, können diese Handlungen die Realisierung des Werts unter bestimmten Bedingungen optimal sicherstellen. Der in Frage stehende Wert ist der der Kompensation

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von Menschen, denen schlimmstes Unrecht zugefügt wurde. Die relevante Bedingung ist, dass wir das Wohlbefinden früher lebender Unrechtsopfer nicht affizieren können, was immer wir tun. Die Zuschreibung des Werts tatsächlicher Kompensation zu Handlungen symbolischer Kompensation macht es uns möglich, trotzdem wenigstens einige Aspekte des Werts tatsächlicher Kompensation zu realisieren: Personen werden öffentlich als Opfer von früher an ihnen begangenen Verbrechen anerkannt; durch solche Anerkennung etablieren wir die posthume Reputation, die ihnen zusteht, und wir bringen zum Ausdruck, wir wünschten, ihnen gegenüber in einer Position zu sein, die es uns erlaubte, ihnen tatsächliche Kompensation zu leisten. Dadurch verändern wir die Beziehung zwischen uns und den toten Opfern der früheren Unrechtstaten. Wären sie am Leben, würden wir ihren gerechtfertigten Ansprüchen auf Kompensation entsprechen. Der Ausführung bestimmter Handlungen die Bedeutung zuzuschreiben, dass sie den Wert der Kompensation symbolisch realisieren, ist für uns kausal optimal, sollen wir die Option haben, unter diesen Bedingungen den Wert der Kompensation zu realisieren. Aber selbst wenn die Zuschreibung des Werts tatsächlicher Kompensation an symbolische Kompensationshandlungen kausal optimal ist, damit der in Frage stehende Wert unter den genannten Bedingungen realisiert werden kann, so könnte es keine gute Option sein, symbolische Kompensationshandlungen auszuführen. Gemäß der zweiten, der normativen Lesart handelt es sich dann um eine schlechte Option, wenn die Konsequenzen einer symbolischen Kompensationshandlung insgesamt negativ einzuschätzen sind. Nur wenn das nicht der Fall ist, können symbolische Kompensationshandlungen nach normativ konsequentialistischem Verständnis als rational gelten. Symbolische Kompensationshandlungen haben Konsequenzen für die, die die Handlungen ausführen, für ihre Zeitgenossen und womöglich auch für zukünftig lebende Menschen. Dabei handelt es sich jeweils um tatsächliche Veränderungen. Die öffentliche Anerkennung des Leidens früher lebender Menschen, zum Beispiele der Opfer eines Genozids, schließt die Anerkennung des Leids der überlebenden und der indirekten Opfer des Genozids ein. Angesichts heute toter Opfer früheren Unrechts ist die Botschaft symbolischer Kompensation nicht zuletzt: Die gerechtfertigten Ansprüche der Opfer auf Kompensation würden erfüllt, wäre es nur möglich. Dann werden

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diejenigen, die symbolische Kompensationshandlungen ausführen, denen tatsächliche Kompensation leisten wollen, die heute unter den Konsequenzen eben dieser Unrechtstaten leiden. Die Gründe für symbolische Kompensation schließen die Gründe ein, tatsächliche Kompensation zu leisten, wenn es möglich ist. Maßnahmen symbolischer Kompensation können überlebende Opfer darin unterstützen, wieder vollwertige Mitglieder ihrer jeweiligen Gesellschaften zu werden. Insofern Menschen Unrecht als Mitglieder einer fortbestehenden Gruppe getan wurde, schließt die öffentliche Anerkennung des Unrechts an heute toten Opfern die Anerkennung der Gruppe ein, deren Mitglieder sie waren.51 Der Hinweis auf deren positive Konsequenzen kann dazu beitragen, symbolische Kompensationshandlungen gegen die Kritik zu verteidigen, es sei irrational, durch entsprechende Zuschreibung den Wert von Maßnahmen symbolischer Kompensation analog zu dem Wert zu erachten, für den sie symbolisch stehen, also zum Wert tatsächlicher Kompensation. Noch ist aber zudem zu zeigen, dass solche Handlungen auszuführen keine negativen Konsequenzen hat, die uns nötigen, den Wert solcher Handlungen insgesamt negativ zu bewerten. Symbolische Kompensationshandlungen können in Konkurrenz zu anderen Handlungen stehen, die nichtsymbolische Werte zu realisieren erlaubten. Nichtsymbolische Werte zu realisieren kann durchaus wichtiger sein als die Realisierung symbolischer Werte. Dass wir nicht beides tun können, kann den hohen materiellen Kosten symbolischer Kompensationshandlungen geschuldet sein. Das öffentliche Gedenken der Opfer früheren Unrechts kann teuer sein — man denke etwa an die Einrichtung eines Museums.52 Im Falle eines Konflikts mit einem anderen wertvollen Projekt, etwa dem, Obdachlose medizinisch zu versorgen, haben wir allerdings häufig weniger teure Alternativen, den Wert symbolischer Kompensation zu realisieren. Zum Beispiel kann die Einrichtung eines Gedenktages im offiziellen Kalender geringere Kosten verursachen als die Einrichtung eines Denkmals oder eines Museums. Ob uns eine angemessene und weniger kostspielige Alternative offen steht, hängt unter anderem davon ab, welche Denkmale schon gebaut oder etabliert sind. Jedenfalls scheint es keine generelle Korrelation zu geben zwischen der Höhe der materiellen Ausgaben für symbolische Kompensationshandlun-

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gen und deren Erfolg, den in Frage stehenden Wert symbolisch zu realisieren. Andere Konflikte dürften schwieriger aufzulösen sein. Die Konsequenzen symbolischer Kompensationshandlungen können mit der Realisierung anderer symbolischer Werte konfligieren. Symbolische Handlungen können das Selbstverständnis von Gruppen in Frage stellen. Von öffentlicher symbolischer Kompensation wird gesagt, sie erschwere es, ein kollektives, geeintes und positives Selbstverständnis, wie es notwendig für die Einrichtung und den Erhalt einer stabilen politischen Ordnung sei, zu entwickeln und zu pflegen. Diese Behauptung schreibt symbolischen Handlungen Konsequenzen einer Größenordnung zu, die ihre Wirkungen bei weitem übersteigen dürften. Zum Beispiel sollen Denkmale in Deutschland als ein Fokus des öffentlichen und offiziellen Gedenkens der Verbrechen dienen, die unter dem nationalsozialistischen Regime verübt wurden. Es fällt auf, dass bei Einrichtung eines solchen Denkmals kaum je Konsens über auch nur einen wichtigen Aspekt erzielt wird.53 Das kann nicht überraschen. Wie betont gibt es noch keine etablierte Praxis für solche Bemühungen um öffentliche symbolische Kompensation. Natürlich haben Sieger immer schon Monumente ihres Triumphs errichtet, und die Kriegsopfer Mahnmale ihres Martyriums. Auch sind die Denkmale für die je eigenen gefallenen Soldaten sehr verbreitet. Aber all dies ist sehr verschieden von Denkmalen, die der Verbrechen gedenken sollen, die im Namen einer politischen Gesellschaft verübt wurden, deren gegenwärtig lebende Mitglieder sich heute mit Blick auf die Opfer und ihre Nachfahren um öffentliche symbolische Kompensation für diese Verbrechen bemühen. Insofern lang etablierte Formen öffentlichen Gedenkens sich allein auf die je eigenen im Krieg getöteten Soldaten beziehen, wird weder Unrecht erinnert, noch gar Unrecht, das im Namen der politischen Gemeinschaft derer verübt wurde, die der gefallenen Soldaten gedenken. Ist dieses Gedenken Ausdruck einer Bemühung um Kompensation, so in einem ganz anderen Sinn als die Bemühungen um symbolische Kompensation von Opfern historischen Unrechts, begangen von Mitgliedern der eigenen politischen Gemeinschaft. Das Gedenken der je eigenen getöteten Soldaten ist nicht Gedenken an Opfer historischen Unrechts, weil nach klassischem Völkerrecht „jeder Krieg, zu dem ein Souverän (bzw. ein souveräner Staat)

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Die konsequentialistische

Erklärung

sich entschloss, ... rechtens"54 war. Zwar kannte das klassische Völkerrecht schon Bestimmungen zur Kriegsführung (jus in hello), aber erst nach dem Ersten Weltkrieg und erstmals im Kriegsverhütungsrecht der Völkerbundsatzung wurde die Entscheidung für den Krieg „ausdrücklich zur Angelegenheit der organisierten Völkerrechtsgemeinschaft erklärt" und damit „der Grundpfeiler des klassischen Völkerrechts, nämlich die Souveränität und das aus ihr fließende Recht der souveränen Staaten zum Krieg (ius ad bellum) zum Einsturz gebracht"55. Zudem bleiben die Gründe für den Kriegsausbruch sowie die politische Verantwortung für den Krieg und seinen Verlauf unter den jeweiligen Kriegsparteien auch nach Beendigung der Kampfhandlungen häufig umstritten. Die gefallenen Soldaten aller Kriegsparteien können daher jeweils als Kämpfer der gerechten Sache und als Helden geehrt und erinnert werden. Solch öffentliches Erinnern mag unter anderem auch darauf zielen, den vom Tod des jeweiligen Menschen besonders Betroffenen zu helfen, indem ihre Trauer um die im Krieg getötete Person und ihre Erinnerung an diese Person durch deren öffentliche Würdigung positiv unterstützt wird: Dass die getöteten Soldaten sich im besonderen Maße um ihre politische Gemeinschaft verdient gemacht haben, findet öffentliche Anerkennung.56 Wenn also heute mit Blick auf die Opfer der Shoa und des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik Deutschland nach angemessenen Formen des öffentlichen Gedenkens und der symbolischen Kompensation gesucht wird, kann der Umstand nicht überraschen, dass die Debatte höchst kontrovers verläuft. Denn die hier gesuchte Form öffentlicher symbolischer Kompensation für historisches Unrecht soll ja für gegenwärtig lebende MitgEeder eben der politischen Gesellschaft angemessen sein, in deren Namen früher lebende Mitglieder das Unrecht verübt haben. Ein Denkmal zu errichten, das einen Fokus für das Gedenken dieser Art bereitstellt, konstituiert in den Worten von James E. Young „einen Bruch mit dem konventionellen 'Erinnerungskode'".57 Solche Denkmale setzen aber kein weithin geteiltes Verständnis der Praxis symbolischer Kompensation für historisches Unrecht voraus. Vielmehr können solche Denkmale wohl bestenfalls einen geteilten öffentlichen Raum für das Gedenken schaffen, in welchem sich die meisten, die es angeht, repräsentiert finden. Auch dürfte die Praxis

Die konsequentialistische

Erklärung

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symbolischer Kompensation für historisches Unrecht nicht den identitätsstiftenden Kern des Verständnisses geteilter Werte und Ideale einer politischen Gesellschaft ausmachen. Andererseits erwerben Menschen hauptsächlich durch Mitgliedschaft, etwa in religiösen oder nationalen Gruppen Erinnerungen und vermögen sich zu erinnern, worauf Maurice Halbwachs und andere nachdrücklich hinweisen. Sowohl die Gründe für Erinnerung und die Formen der Erinnerung sind sozial sanktioniert — sie sind stets Teil eines Sozialsystems, mittels welchem zum Beispiel die Mitglieder einer politischen Gesellschaft ein geteiltes Verständnis der Geschichte durch stellvertretende Erinnerung der Erfahrungen ihrer Vorfahren gewinnen.58 Erinnerungsarbeit können wir nicht jeder und jede für sich selbst leisten. Auch angemessene Formen des Gedenkens von Unrecht können wir nur als Mitglieder von Gruppen finden. Zur öffentlichen Auseinandersetzung über diese Fragen gibt es keine Alternative. Öffentliche symbolische Kompensation für im Namen der politischen Gesellschaft verübtes Unrecht kann spezifisch negative Konsequenzen haben. Es ist durchaus denkbar, dass die mit solchen Maßnahmen verbundene öffentliche Zuschreibung von Verantwortung für Regimeverbrechen die Stabilität bestimmter Einrichtungen, etwa des Militärs untergräbt. Das wird man vermeiden wollen, zum Beispiel wenn die Transition zu einer stabilen rechtsstaatlichen Ordnung nicht abgeschlossen ist und es dafür der loyalen Kooperation des Militärs bedarf.59 Die Beurteilung des Einzelfalls hängt unter anderem davon ab, wie wir die durch öffentliche symbolische Kompensation bedrohten Selbstverständnisse der jeweiligen Gruppen und Institutionen bewerten, sowie davon, wer aufgrund von Maßnahmen symbolischer Kompensation wie negativ betroffen wäre. Gerade unter Bedingungen der Transition ist zu berücksichtigen, dass erhoffte positive Konsequenzen symbolischer Kompensation, etwa die Reintegration indirekter Opfer und deren Nachfahren in die politische Gesellschaft, einen hohen Grad gesellschaftlicher Stabilität voraussetzen.

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Die expressivistische

Erklärung

9. Die expressivistische Erklärung symbolischer

Kompensation

Demnach hilft die konsequentialistische Erklärung die Konstitution der Option symbolische Kompensation zu verstehen und die Umstände zu bestimmen, unter denen es angesichts der Konsequenzen symbolischer Kompensation angezeigt sein kann, symbolische Kompensationshandlungen auszuführen oder auf sie zu verzichten. Auch die zweite, die expressivistische Erklärung trägt zum Verständnis symbolischer Kompensation bei. Die Zuschreibung des Werts tatsächlicher Kompensation an Handlungen symbolischer Kompensation beruht zum Teil auf dem expressiven Wert der symbolischen Kompensationshandlungen. Personen, die solche Handlungen ausführen, drücken eine Einstellung den Opfern gegenüber aus. Sie bringen zum Ausdruck, dass es ihnen ein Anliegen ist, gerechtfertigte Kompensationsansprüche zu unterstützen. Symbolische Kompensationshandlungen erlauben diese Einstellung mit Blick auf heute tote Opfer auszudrücken. Wir erfüllen unsere überlebenden Pflichten mit Blick auf heute tote Opfer und ändern unsere Beziehung zu ihnen, gelingt es uns überzeugend zum Ausdruck zu bringen, dass wir tatsächliche Kompensation ihnen gegenüber zu leisten wünschen und auch leisteten, wäre es uns möglich. Dieses Selbstverständnis erlaubt uns symbolische Kompensationshandlungen auszudrücken. Sie stehen dafür, eine Person dieser Identität zu sein, belegen dies in den Augen anderer und können das Selbstverständnis, eine solche Person zu sein, stützen helfen. Letzteres ist eine tatsächliche Konsequenz solcher Handlungen und kann für die Person wichtig sein, die die Handlung ausführt. Allerdings können sich Personen so nicht sehen, wenn sie symbolische Kompensationshandlungen als Mittel zu diesem Zweck ausführen.6" Dies würde den Charakter der Handlung und deshalb auch die Gründe ändern, die dafür sprechen, so zu handeln.61 Eine Person bestimmter Identität werden wir nicht, einfach indem wir wie eine Person dieser Identität handeln. Sich an symbolischen Kompensationsmaßnahmen zu beteiligen reicht nicht hin, um eine Person zu werden, die wegen der im Namen ihrer Gesellschaft verübten Ungerechtigkeiten Kompensation zu leisten bemüht ist und zu einer Gesellschaft beitragen möchte, in der sich Unrecht dieser Art nicht wiederholt. Auch wenn symbolische Kompensationshandlungen das

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"Erklärung

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Selbstverständnis, eine Person dieser bestimmten Identität zu sein, stützen helfen, können wir diese Konsequenz als solche nicht anstreben. Demnach ist der symbolische Wert von Handlungen mit dem expressiven Wert dieser Handlungen eng verknüpft: so zu handeln gelingt dem, der auszudrücken vermag, eine Person dieser Identität zu sein. Die hier unterschiedenen Erklärungstypen, der konsequentialistische und der expressivistische, erlauben zwei Gründe für symbolische Kompensation zu unterscheiden: Erstens und gemäß der expressivistischen Erklärung kann Menschen, die symbolisch Kompensation leisten, gelingen, eine Verbindung zwischen sich selbst und Werten von großer Wichtigkeit für ihr Selbstverständnis herzustellen. Indem sie in Antwort auf an früher lebenden Personen verübtes Unrecht symbolisch Kompensation leisten, kann es ihnen gelingen, eine überlebende Pflicht mit Blick auf diese Personen zu erfüllen: Es kann ihnen gelingen, die Beziehung zwischen ihnen und diesen früher lebenden Opfern von Unrecht zu ändern. Zweitens kann symbolische Kompensation positive Konsequenzen für das Wohlergehen anderer haben, insbesondere, wie hervorgehoben, auch für das der indirekten Opfer. Bei der Bewertung symbolischer Kompensation dürfen wir keine genauen Ergebnisse erwarten. Die Bedeutung öffentlicher symbolischer Kompensation ist häufig in hohem Masse umstritten. Und nicht selten werden wir auch mit Problemen zu tun haben, die relative Bedeutung von Werten einzuschätzen. Kritik an symbolischer Kompensation kann sich erstens auf deren Authentizität beziehen. Authentisch sind symbolische Kompensationshandlungen, drücken sie adäquat, also nicht bloss instrumentell das ethisch relevante Selbstverständnis aus. Zweitens können Kritiker auf die hohen Kosten symbolischer Kompensation verweisen, auf die Konkurrenz zur Realisierung anderer nichtsymbolischer Werte oder aber auch auf Konkurrenz zu anderen symbolischen Werten. Mit Blick auf die Kosten habe ich angemerkt, dass es keine generelle Korrelation geben dürfte zwischen der Höhe der materiellen Aufwendungen für symbolische Kompensationshandlungen und deren Erfolg, den in Frage stehenden Wert symbolisch zu realisieren. Was den Konflikt mit anderen symbolischen Werten angeht: diese anderen Werte können moralisch gesprochen von geringerem Gewicht sein. Häufig

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Vergangenheitsorientierter

Konsequentialismus

werden wir den Konflikt mit anderen symbolischen Werten vermeiden können. Mit Sicherheit können wir aber angesichts eines öffentlichen Erbes 62 nicht vermeiden, zu dem Prozess beizutragen, durch welchen die Gründe für Erinnerung und die Formen unseres Gedenkens historischen Unrechts bestimmt und geformt werden.

10. 1'ergangenheitsorientierter

Konsequentialismus

Abschließend untersuche ich, ob die Idee überlebender Pflichten erstens mit einem konsequentialistischen Verständnis richtigen Handelns und, zweitens, mit der schon von Aristoteles vertretenen Position vereinbar ist, dass die Qualität eines Lebens von posthumen Ereignissen abhängig sein kann. Dem klassischen Konsequentialismus zufolge 63 ist das Richtige gänzlich abhängig von Überlegungen, die das Gute betreffen. Handlungen sind erlaubt abhängig davon, ob sie die Güte der objektiven Ergebnisse unseres Handelns maximieren, wenn sie von einem Standpunkt aus beurteilt werden, der mit Blick auf die handelnde Person neutral ist, also von allen kompetent Urteilenden geteilt werden kann. 64 Kann nur eine Handlung das Gute im genannten Sinn maximieren, dann ist diese Handlung nicht nur erlaubt, sondern geboten. Wollen wir also zeigen, dass die Erfüllung überlebender Pflichten erlaubt oder gar geboten ist, so müssen wir den Nachweis führen, dass die Erfüllung überlebender Pflichten die Güte der objektiven Resultate maximiert. 65 Dafür müssten die zentralen Elemente der Idee überlebender Pflichten als Merkmale des zu maximierenden Guts ausgewiesen werden können. Das erfordert, bestimmte Aspekte der Vergangenheit als Teil des zu maxrmierenden Guts auszuweisen. Überlebende Pflichten können ohne Bezug auf die Vergangenheit nicht verstanden werden, insofern die Gründe für das zukunftsorientierte Recht wichtige Gründe für die korrelierende überlebende Pflicht enthalten. Soll die Erfüllung überlebender Pflichten im konsequentialistischen Sinne richtig sein, müssten also die Aspekte der Vergangenheit relevant sein, die für die Geltung des zukunftsorientierten Rechts wichtig sind. Diese Aspekte der Vergangenheit müssten als relevant für die Maximierung des Guten

Vergangenheitsorientierter

Konsequentialismus

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ausgewiesen werden. Insofern die Vergangenheit und die hier wichtigen Elemente der Vergangenheit, nämlich die zukunftsorientierten Rechte früher lebender Personen sowie die Gründe für diese feststehen und unveränderlich sind,66 wäre zu zeigen, dass diese unveränderlichen Elemente für die Beurteilung der Ergebnisse unseres Handelns aus konsequentialistischer Sicht relevant sind. Dass die Ergebnisse von Handlungen, die eine konsequentialistische Theorie bewertet, solche unveränderlichen Elemente enthalten, ist eine notwendige, wenn auch, wie ich weiter unten zeige, keine hinreichende Bedingung dafür, dass eine konsequentialistische Theorie vergangenheitsorientiert ist.67 Enthalten Ergebnisse solche unveränderlichen Elemente der Vergangenheit, dann ist ihre Bewertung davon abhängig, wie die Welt zu früheren Zeitpunkten beschaffen war. Ein Beispiel für ein solches Ergebnis ist die Erfüllung oder Verletzung einer überlebenden Pflicht. Dieses Handlungsergebnis bezieht sich auf das frühere zukunftsorientierte Recht. Wird zum Beispiel der Ruf einer Person posthum und mutwillig beschädigt, wird eine überlebende Pflicht verletzt. Das hat einen Zustand der Welt zum Ergebnis, der nur mit Bezug auf das frühere zukunftsorientierte Recht der heute toten Person, nämlich deren Anspruch, vor übler Nachrede auch posthum geschützt zu sein, normativ verstanden werden kann. Demnach werden von einer vergangenheitsorientierten konsequentialistischen Theorie nicht Konsequenzen im strikten Sinne bewertet, sondern vollständige Ergebnisse.68 Wie die Vergangenheit sind auch einige Aspekte von Gegenwart und Zukunft für den Handelnden unveränderlich. Der Handelnde kann die Vergangenheit nicht ändern; und er mag auch nicht imstande sein, zum Beispiel den Ausbruch eines Vulkans zu verhindern. Unter Konsequenzen im strikten Sinne können die — abhängig von unserem Handeln - vermeidbaren zukünftigen Elemente des Zustands der Welt verstanden werden. Unter dem vollständigen Ergebnis unseres Handelns kann der Zustand der Welt verstanden werden, einschließlich der Vergangenheit und sowohl der veränderlichen als auch der nicht veränderlichen Elemente von Gegenwart und Zukunft. Im Sinne eines vollständigen Ergebnisses ist im Falle von Todesbettversprechen für den Verpflichteten das frühere zukunftsorientierte Recht der heute toten Person die relevante (unveränderliche) Vergangenheit. Das Versprechen heu-

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Vergange

nheitsorientierter

Konsequentialismus

te brechen oder halten zu können ist aus der Sicht des Handelnden die Gegenwart, über die er selbst bestimmt, also die veränderliche Gegenwart. Und die Konsequenz seines Handelns, nämlich unter anderem, dass es stimmen wird, dass er das Versprechen gehalten oder gebrochen hat, ist die veränderliche Zukunft. Soll eine konsequentialistische Theorie vergangenheitsorientiert sein, reicht es aber nicht hin, dass sie vollständige Ergebnisse bewertet. Das ist lediglich eine notwendige Bedingung. Die vergangenen Zustände der Welt könnten für die Bewertung der Ergebnisse unseres Handelns gleichgültig sein. Die Berücksichtigung der Vergangenheit in den vollständigen Ergebnissen ist dann für die Bewertung irrelevant. Ein Beispiel ist eine Theorie des Guten, für die alleine die Maximierung des subjektiven Wohlergehens von Personen zählt. Derzufolge können die vergangenen Zustände der Welt keinen Unterschied machen, weil der Grad des subjektiven Wohlergehens von Menschen in der Vergangenheit fest steht und unveränderlich ist. Soll eine konsequentialistische Theorie vergangenheitsorientiert sein, dann muss sie um eine Theorie des Guten ergänzt werden, für dessen Realisierung die Vergangenheit auch relevant ist.69 G. E. Moore hat auf die Möglichkeit einer solchen Theorie des Guten hingewiesen. Er nennt sie „organische Theorie des Guten". Dieser Theorie zufolge kann die Qualität von Ergebnissen, die bestimmte „Teile" gemeinsam haben, davon abhängen, in welchem Verhältnis diese Teile zu anderen stehen.70 Um vergangenheitsorientiert zu sein, müsste eine konsequentialistische Theorie um eine Theorie des Guten ergänzt werden, welche die Bewertung der Ergebnisse davon abhängig macht, in welchem Verhältnis die vergangenen zu anderen Teilen stehen. Bei vergangenen Teilen handelt es sich um die unvermeidbaren Teile der Vergangenheit, die alle Ergebnisse notwendigerweise gemeinsam haben. Eine Theorie, die verlangt, Glück temporal gewichtet zu verteilen, ist ein Beispiel für eine solche Theorie des Guten. Können wir eine bisher stets unglückliche Person glücklich machen oder eine bisher stets glückliche noch glücklicher, entsprächen wir der Forderung, die Glücksverteilung über die Zeit zu berücksichtigen, wenn wir ersteres tun. Allerdings verlangt eine solche Theorie des Guten nicht die Maximierung des Guten. Eine glücksmaximierende konsequentialistische Theorie kann aber die Idee enthalten, Glück im genannten Sinn zu gewichten. Zum Beispiel

V ergange nheitsorientierter

Konsequentialismus

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könnte eine Theorie zwei lexikalisch geordnete Prinzipien ausweisen. Ersteres verlangt die Maximierung, das zweite die temporale Gewichtung des Guten. Sind zwei Handlungsoptionen gleichermaßen glücksmaximierend, verlangte das zweite Prinzip ihre Gewichtung danach, wie die Glücksgeschichte der betroffenen Personen aussieht. Diese ist unveränderlich und der gemäß einer solchen Theorie relevante Teil der Vergangenheit.71 Für die Analyse überlebender Pflichten wegen historischen Unrechts ist Moores Untersuchung von „gemischten Gütern" (mixed goods) als organischen Gütern besonders relevant. Gemischte Güter enthalten „schlechte Teile" (evil parts) und „gute Teile" (good parts)?2 Im Falle historischen Unrechts gehört der schlechte Teil, nämlich das in der Vergangenheit verübte Unrecht, zugleich zu den vergangenen und unvermeidbaren Teilen. Wir können es nicht ändern, dass dieses Unrecht verübt wurde, können aber auf vergangenes Unrecht reagieren: die Wahrheit über das Unrecht festzustellen sowie den Opfern Kompensation und Restitution zu leisten, gehören zu unseren Handlungsoptionen. Handeln wir entsprechend, dann bilden unsere Reaktion und deren Konsequenzen den guten Teil eines gemischten Gutes — so verstanden, ein besonderer Typ eines vollständigen Handlungsergebnisses. Moore behauptet, solche gemischten Güter seien „gut als Ganzes" (good as a whole), aber nicht „gut im Ganzen" (good on the whole).73 Diese werttheoretische Unterscheidung erlaubt uns einerseits zu sagen, dass das vergangene Unrecht moralisch so schlecht ist, dass unsere Reaktion, wie gut sie auch als solche sein mag, den Zustand der Welt nicht als solchen gut machen kann, also nicht gut im Ganzen. Das vollständige Ergebnis unseres Handelns wäre gut im Ganzen, könnte unsere Reaktion das vergangene Übel aufwiegen. Darunter versteht Moore, dass das vollständige Ergebnis, also das resultierende gemischte Gut, so wir diesem einen Wert zuschreiben können, wenigstens so gut ist, dass der Wert dieses gemischten Guts und die Summe des Werts des vergangenen Übels und unserer Reaktion auf dieses zusammen genommen Null oder besser ist, also kein schlechter Zustand der Welt. Auch wenn, wie Moore annimmt, die organische Einheit des gemischten Guts besser sein kann als die Summe des Werts des Übels und unserer Reaktion auf dieses, so ist es umso wahrscheinlicher, je schlechter das vergangene Übel ist, dass

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Vergangenkeitsorientierter

Konsequentialismus

das vollständige Ergebnis gut im Ganzen ist: Wenn das vergangene Übel sehr schlecht ist, wird die Summe des Werts des Zustands der Welt mit diesem Übel und des Werts unserer Reaktion auf diesen Zustand negativ sein, und, ist der Wert unserer Reaktion konstant, um so negativer je schlechter das vergangene Übel. Wenn das Übel sehr schlecht ist, dann müsste das organische gemischte Gut besonders gut sein, damit der resultierende Zustand der Welt gut im Ganzen ist. Auch wenn, wie Moore behauptet, die Qualität eines gemischten Guts nicht als bloße Summe ihrer Teile aufzufassen ist, wird häufig auch eine angemessene Reaktion auf vergangenes Unrecht den Zustand der Welt nicht zu einem guten als solchen oder gut im Ganzen machen können. Zugleich kann unsere Reaktion den Zustand der Welt aber verbessern: das vollständige Ergebnis, also das resultierende gemischte Gut ist besser, als hätten wir nicht reagiert. Ist das der Fall, dann ist das vollständige Ergebnis unseres Handelns gut als Ganzes. Ich teile Moores retributivistische Auffassung von Strafe nicht, derzufolge ein weiteres Übel zuzufügen den Zustand der Welt verbessern kann.74 Jedoch ist es plausibel, dass eine für sich genommen gute Reaktion auf ein vergangenes Übel den Zustand der Welt verbessert, und Moore weist zurecht darauf hin, dass die Qualität des resultierenden Zustands der Welt von der Angemessenheit der Reaktion abhängt. Nicht alle überlebenden Pflichten beziehen sich auf früheres Unrecht oder vergangene Übel. Todesbettversprechen oder die Pflicht, den Ruf einer verstorbenen Person nicht willentlich zu schädigen, beziehen sich auf frühere Rechte heute toter Personen. Wird die überlebende Pflicht erfüllt, ist der resultierende Zustand der Welt kein gemischtes Gut. Es handelt sich um ein vollständiges Ergebnis, weil der resultierende Zustand der Welt nur unter Berücksichtigung des früheren Rechts der heute toten Person normativ verstanden werden kann — nämlich als der Zustand, in welchem das gegebene Versprechen erfüllt ist. Andere überlebende Pflichten beziehen sich auf historisches Unrecht. Früher lebende Menschen sind in ihren Rechten verletzt worden und dies kann Pflichten gegenwärtig lebender Menschen mit Blick auf sie nach sich ziehen. So verstanden können die historischen Rechtsverletzungen im Sinne Moores als Teil eines gemischten Guts, nämlich als das unvermeidbare vergangene Übel aufgefasst werden.75

Posthumer

Erfolg

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Erfüllen gegenwärtig lebende Menschen ihre Pflicht mit Blick auf das an heute toten Menschen verübte Unrecht, dann resultiert daraus ein vollständiges Ergebnis, nämlich ein gemischtes Gut, das aus dem Übel der früheren Rechtsverletzungen und dem Gut der Erfüllung überlebender Pflichten besteht. Demnach ist meine Interpretation überlebender Pflichten mit einem konsequentialistischen Kriterium richtigen Handelns vereinbar. Das Kriterium bezieht sich auf vollständige Ergebnisse und ist in dem starken Sinne vergangenheitsorientiert, dass das Handeln gegenwärtig lebender Menschen unter anderem danach bewertet wird, wie sie sich auf bestimmte frühere Ereignisse und vergangene Zustände beziehen.

/ /. Überlebende Pflicht und posthumer Εφ lg Die Reichweite und Substanz überlebender Pflichten sind beschränkt. Das hat verschiedene Gründe. Erstens ist die Position überlebender Pflichten mit Blick auf den (on to logischen) Status heute toter Menschen minimalistisch (siehe Kap. III.2). Das hat Konsequenzen für die Substanz überlebender Pflichten. Die Substanz von Pflichten mit Blick auf Tote oder gegenüber Toten ist davon abhängig, welchen Status wir Verstorbenen zuschreiben.76 Vergleichen wir die Position überlebender Pflichten mit der Auffassung, gemäß welcher tote Menschen existieren (Immortalitätsthese) und von Ereignissen dieser Welt negativ affiziert werden können. Demnach könnten wir heute toten Personen gegenüber unter der Pflicht stehen, sie nicht zu schädigen. Die hier vertretene Position überlebender Pflichten beruht jedoch auf den gegenteiligen Annahmen: tote Menschen können von unseren Handlungen nicht affiziert werden, sie können keine tatsächlichen Veränderungen erfahren, weshalb sie auch durch unsere Handlungen nicht geschädigt werden können. Ferner stehen gegenwärtig Lebende auch unter keinen Pflichten mit Blick auf überlebende Interessen als solche, was die Reichweite der Eigenschaften weiter einschränkt, die wir heute toten Menschen sinnvoll zuschreiben und von welchen wir sagen können, sie seien für die Spezifikation unserer Pflichten mit Blick auf heute tote Menschen moralisch signifikant.

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Posthumer

Erfolg

Zweitens können sich zukunftsorientierte Rechte und überlebende Pflichten nur auf Gegenstände beziehen, deren Realisierung oder Schutz Gegenstand der Pflicht anderer sein kann. Sonst kann es keinen geeigneten Träger der Pflicht geben. Das Wohlbefinden der Kinder und Enkelkinder einer heute toten Person eignet sich zum Beispiel als Gegenstand einer überlebenden Pflicht nur insofern, als deren Wohlbefinden davon abhängt, dass andere pflichtgemäß mit Blick auf die heute tote Person handeln. Das kann der Fall sein, wenn sich heute lebende Personen dem Toten gegenüber verpflichtet haben, für dessen Kinder oder Enkelkinder zu sorgen. Drittens können sich überlebende Pflichten nicht auf Werte beziehen, deren Realisierung oder Schutz davon abhängen, dass der Träger des korrelierenden Rechts (und das Recht) existieren. Geht es darum, das Wohlbefinden des Rechtsträgers zu fördern oder zu schützen, ist dies trivialerweise der Fall. Zum Beispiel werden Menschen in ihrem Wohlbefinden negativ betroffen, normalerweise erleiden sie Schmerzen, wird ihr Ansprach auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Die individuelle Freiheit einer Person ist schützenswert, weil ihre Verletzung die Autonomie der betroffenen Person unterminiert. Die Position überlebender Pflichten bestreitet aber ja, dass man von einem Wohlbefinden Verstorbener sprechen kann, für welches die Erfüllung oder gar die Befriedigung posthumer Interessen konstitutiv ist. Letzteres setzte voraus, dass Verstorbene Träger von Interessen sind und als solche betroffen werden können. Ersteres setzte voraus, dass es posthume Interessen heute toter Menschen gibt, die erfüllt oder verletzt werden können, und dass dies eine tatsächliche Änderung der Verstorbenen bewirkt. Beide Annahmen sind mit der hier vertretenen Position unvereinbar. Viertens gehören zu den Gründen für eine überlebende Pflicht auch generelle moralische Handlungsgründe. Selbst wenn wir unschwer den möglichen Träger der überlebenden Pflicht ausmachen können — z.B. die Person, die das Todesbettversprechen gegeben hat - , können generelle Handlungsgründe dagegen sprechen, die Pflicht zu erfüllen. Das ist zum Beispiel der Fall, legt eine Person testamentarisch fest, ihr wertvoller van Gogh sei nach ihrem Tod zu zerstören oder ihr Hund einzuschläfern, auch wenn sich das Tier nach dem Tod seines Besitzers guter Gesundheit erfreut und seine angemessene Versorgung gewährleistet werden kann. Der Respekt vor intrinsisch

Postbumer

Erfolg

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wertvollen Gütern verlangt deren Erhalt. Respekt vor dem Leben und dem Wunsch des Tieres, weiter zu leben, sprechen dagegen, ein hochentwickeltes Lebewesen zu töten. In diesen Fällen wäre es also mindestens zweifelhaft, ob die Erben unter der überlebenden Pflicht stehen, das Testament zu erfüllen. Generelle moralische Handlungsgründe sprechen dagegen. Jedenfalls dürfte eine plausible substantielle moralische Theorie die Verbindlichkeit testamentarischer Verfügungen daran knüpfen, dass wichtige Interessen und Rechte gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen und anderer Lebewesen angemessen berücksichtigt werden.77 Demnach können für die Spezifikation überlebender Pflichten nur solche Zustände relevant sein, die sich als Erfüllung oder Verletzung von Pflichten deuten lassen, unter denen gegenwärtig lebende Menschen aufgrund zukunftsorientierter Rechte Verstorbener stehen. Die Position überlebender Pflichten kann für Praktiken und auch einige rechtlich geschützte Praktiken Gründe ausweisen. Zu diesen gehören die Geltung von Todesbettversprechen und genereller von Versprechen, die heute toten Menschen gegeben wurden und sich auf aus deren Sicht posthume Zustände beziehen. Wie gezeigt können wir auch unter der überlebenden Pflicht mit Blick auf heute tote Menschen stehen, ihren Ruf zu restituieren. Analog können wir heute toten Menschen besonderen Respekt oder Dankbarkeit schulden: Mit Blick auf sie stehen wir dann unter der überlebenden Pflicht zu Respekt oder Dankbarkeit.78 Aus den genannten Gründen sind Reichweite und Substanz überlebender Pflichten beschränkt. Dass heute lebende Personen unter überlebenden Pflichten stehen beruht nicht auf der Annahme, dass die Erfüllung überlebender Pflichten für die Qualität des Lebens des heute toten Trägers des zukunftsorientierten Anspruchs relevant ist. Wollten wir das behaupten, müssten wir annehmen, dass posthume Zustände für die Qualität des Lebens der heute toten Person relevant sind, ohne dass Eintreten oder Ausbleiben dieser Zustände das Wohlergehen des früheren Rechtsträgers berühren. Die Konzeption überlebender Pflichten setzt ein solch objektives Verständnis der Qualität eines Lebens nicht voraus. Darin kann man eine ihrer Stärken erkennen. Ich möchte hier ein solches Verständnis der Qualität des Lebens einer Person auch nicht entwickeln,79 aber auf zweierlei hinweisen. Erstens, die Konzeption überlebende Pflichten ist mit

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Fosthumer

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einem solchen Verständnis vereinbar. Zweitens, wer ein solches Verständnis vertritt, kann der Auffassung sein, posthume Zustände und Ereignisse seien für die Qualität des Lebens einer Person relevant, ohne behaupten zu müssen, heute lebende Personen stünden unter der überlebenden Pflicht, diese Zustände zu befördern oder zu realisieren oder das Eintreten dieser Ereignisse zu verhindern. Zu den für die Qualität des Lebens einer Person relevanten posthumen Zuständen und Ereignissen könnten zum Beispiel das Schicksal der Kinder und Enkelkinder oder auch der Erfolg langfristiger Projekte zählen.80 Nehmen wir an, Müller stellt in seiner ersten Veröffentlichung eine Entdeckung vor, die ihm eine gewisse Anerkennung in der Fachwissenschaft einbringt, die aber weder er noch seine Kollegen für einen Durchbruch halten. Seine späteren Entdeckungen auf einem anderen Gebiet machen ihn berühmt und werden allgemein und auch von ihm selbst für einen Durchbruch im Verständnis der Grundlagen der Fachwissenschaft gehalten. Nach seinem Tod aber wird von Schmidt nachgewiesen, dass die Grundlagenforschung von Müller auf falschen Prämissen beruht, weshalb sie für weitere Forschungen von keinem Wert sein kann. Einige Jahre später und ebenfalls posthum weist ein weiterer Wissenschaftler namens Kunz nach, dass die in der ersten Veröffentlichung Müllers vorgestellte Entdeckung, die Grundlage für wichtige künftige Grundlagenforschung ist. Mit Blick auf die Forschungen von Müller ist dies die Einschätzung, die dann allgemein Anerkennung findet: Entgegen seiner eigenen und der Einschätzung seiner Kollegen zu seinen Lebzeiten besteht Müllers einziger und äußerst wichtiger Beitrag in seiner ersten Entdeckung.81 Wir dürfen annehmen, dass das Projekt, einen Beitrag zu seiner Wissenschaft zu leisten, einen hohen Stellenwert für Müller hat. Für ihn hängt der Erfolg wichtiger Aspekte seines Lebens vom Erfolg dieses Projekts ab. Erfolg wird hier daran gemessen, ob ein wichtiger Beitrag zum Erfolg des zukunftsorientierten und auf transgenerationeller Kooperation beruhenden Projekts der Fachwissenschaft geleistet wird. Das misst sich nicht zuletzt daran, ob der Beitrag späteren Generationen von Wissenschaftlern dienlich ist.82 Was Müller und seine Kollegen zu dessen Lebzeiten für einen wichtigen Beitrag halten, nämlich Müllers spätere Arbeiten, stellt sich, so unser Beispiel, als eine Fehleinschätzung heraus: die Ergebnisse der For-

Vosthumer

Erfolg

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schung sind falsch, weil sie auf falschen Prämissen beruhen, und können daher der Wahrheitsfindung nicht dienen. Wäre das das letzte Wort über Müllers wissenschaftliche Bemühungen, wäre sein Leben, sofern er es der Wissenschaft gewidmet hat, kein oder jedenfalls kein großer Erfolg. Aufgrund der Entdeckung von Kunz einige Jahre später erweist sich aber auch diese Einschätzung als falsch: Müllers weder von ihm noch von anderen zu seinen Lebzeiten sonderlich geschätzte — erste Entdeckung ist Grundlage eines Durchbruchs. Seine Bemühungen als Wissenschafder waren erfolgreich und daher auch dieser für Müller so wichtige Aspekt seines Lebens. Können wir all dies behaupten, ohne zu implizieren, Müller könne posthum geschädigt werden? Ich denke ja, denn die Urteile über den Erfolg des Lebens von Müller sind Urteile über die objektive Qualität seiner Bemühungen um Fortschritte in seiner Fachwissenschaft im Sinne der geltenden Standards der Wahrheitsfindung. Die Qualität dieser Bemühungen ist weder abhängig von der subjektiven Einschätzung Müllers oder anderer, noch von der subjektiven Erfahrung des Erfolgs durch Müller oder andere, sondern davon, ob Müllers Bemühungen tatsächlich einen wichtigen Beitrag für die Forschungsziele der relevanten Fachwissenschaft darstellen. Wenn es richtig ist, dass wir den Erfolg des Projekts von Müller abhängig von posthumen Ereignissen in diesem Sinne objektiv beurteilen können, dann macht ein derartiger Erfolg einen Unterschied für Müller, unterstellen wir ein Verständnis der Qualität des Lebens, nach welchem wenigstens einige, seine physische Existenz transzendierenden Aspekte seines Lebens für die objektive Qualität seines Lebens relevant sind, auch wenn sie sein Wohlergehen nicht berühren. Für das Verständnis dieser Auffassung der Qualität eines Lebens ist ein Ausgangspunkt die schon diskutierte Unterscheidung zwischen ΒeziehungsVeränderung und tatsächlicher Veränderung. Der posthume Erfolg seiner Bemühungen kann für Müller nicht in dem Sinne einen Unterschied machen, dass die heute tote Person Müller eine tatsächliche Veränderung erfährt. Das ist ausgeschlossen, wenn wir die Nichtexistenz heute toter Personen annehmen oder die schwächere Annahme machen, dass heute tote Personen jedenfalls von Ereignissen dieser Welt nicht betroffen werden können. Jedoch können heute tote Personen Beziehungsveränderungen aufgrund posthumer Ereignisse erfahren. Die angedeutete objektive Auffassung der

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Postbumer

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Qualität eines Lebens beruht auf der weitergehenden Behauptung, dass solche posthumen Beziehungsveränderungen für die Qualität des Lebens einer Person relevant sein können. Müller hat ein Forschungsprojekt verfolgt, dessen Erfolg unter anderem davon abhängt, ob es Grundlage für weitere Forschung durch andere, einschließlich zukünftig lebender Fachkollegen sein kann. Müller ist durch seine Arbeit mit dem Projekt und deshalb auch mit der Weise, wie andere sich auf das Projekt beziehen, verbunden, und das stimmt, weil das Projekt im genannten Sinn auf die Zukunft bezogen ist, auch für den Bezug zukünftig Lebender auf seine Leistung. Erweisen sich seine Bemühungen posthum als ein Misserfolg und werden auch so eingeschätzt, dann hat Müller die posthume Eigenschaft, dass die ihn überlebenden Fachkollegen seine Bemühungen als Misserfolg werten, und die Beziehung zwischen diesen und ihm ist davon geprägt. Werden aber seine Bemühungen im Gegenteil als eine objektiv wichtige Leistung im Dienste der Fachwissenschaft und ihres zukünftigen Erfolgs posthum anerkannt, dann hat Müller die posthume Eigenschaft, dass die ihn überlebenden Fachkollegen seine Bemühungen als Erfolg werten, und die Beziehung zwischen diesen Fachkollegen und ihm ist dann davon geprägt. Kann das Leben einer Person die physische Existenz der Person transzendieren und so verstanden die posthumen Bezugnahmen anderer einschließen, dann, so wäre zu zeigen, kann die Bewertung des Lebens auch abhängen von diesen posthumen Bezugnahmen und Beziehungsveränderungen. Demnach könnte die (objektive) Qualität unseres Lebens unter anderem vom posthumen Erfolg unserer Bemühungen abhängig sein. Solcher Erfolg drückt sich in den Beurteilungen anderer über das Verdienst unserer Bemühungen aus. Entsprechend kann die Qualität unseres Lebens als mittelbar von den Bezugnahmen anderer abhängig verstanden werden: auch wenn diese Bezugnahmen keine tatsächlichen Veränderungen der heute toten Personen bewirken können, so können sie doch Beziehungsveränderungen nach sich ziehen und diese könnten relevant sein, insofern diese Bezugnahmen unseren Projekten, Bemühungen und Anstrengungen objektiv angemessen sind. Demnach ist die vorgestellte Position überlebender Pflichten durchaus kompatibel mit Ansätzen, die die objektive Qualität des Lebens eines Menschen von posthumen Ereignissen und den

Schlussbemerkung

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posthumen Bezugnahmen anderer auf dieses Leben abhängig machen. Die Position überlebender Pflichten setzt aber die Geltung eines solchen Ansatzes nicht voraus.

12. Schlussbemerkung Die vorgestellte Interpretation symbolischer Kompensation will eine Antwort sein auf die Kritik am zukunftsorientierten Verständnis historischen Unrechts. Diesem Verständnis zufolge ist früheres Unrecht allein und nur insofern von Bedeutung, als es Konsequenzen hat für das Wohlbefinden gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen: Menschen können gerechtfertigte Ansprüche aufgrund des in der Vergangenheit begangenen Unrechts haben, lässt sich zeigen, dass sie wegen der Konsequenzen früheren Unrechts unter den kritischen Schwellenwert fallen. Demnach ginge die Bedeutung früheren Unrechts in einer Theorie der Gerechtigkeit auf, deren Subjekte gegenwärtig und zukünftig lebende Menschen andauernder Gesellschaften sind. Der untersuchte Einwand macht geltend, die Bedeutung vergangenen Unrechts beruhe auch auf der Tatsache, dass früher lebende Menschen Opfer dieses Unrechts waren. Das ist richtig. Allerdings ist die normative Bedeutung der Tatsache, dass Verstorbene Opfer historischen Unrechts waren, nicht leicht zu fassen. Die Position überlebender Pflichten und die auf ihr beruhende Interpretation symbolischer Kompensation erlaubt uns, die Grenzen des zukunftsorientierten Verständnisses zu beschreiben, und ist mit diesem Verständnis vereinbar. Der Position überlebender Pflichten zufolge können wir uns auf früher lebende Menschen als Opfer von Unrecht beziehen: dafür bedarf es nicht der Annahme, dass früher lebende Menschen Träger von Interessen oder Rechten heute sein können. Symbolische Kompensationshandlungen ändern, so sie erfolgreich sind, unsere Beziehungen zu früher lebenden Opfern von Unrecht, ohne den Wert eines Moments des Lebens dieser früher lebenden Menschen zu beeinflussen. Eine derartige Änderung unserer Beziehung zu heute toten Opfern setzt keine tatsächliche Änderung dieser früher lebenden Menschen voraus. Vielmehr beruht die ΒeziehungsVeränderung auf einer tatsächlichen Änderung der Person, die die Handlung ausführt. Die Änderung ihrer

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S

chlussbemerkung

Beziehung zu den Opfern kann für das Selbstverständnis der Personen, die die Handlungen ausführen, wichtig sein. Zudem können symbolische Kompensationshandlungen das Wohlergehen anderer Menschen befördern, insbesondere das der indirekten Opfer historischen Unrechts. Überlebende Pflichten können konsequentialistisch begründet werden, sofern wir einen vergangenheitsorientierten Konsequentialismus vertreten, der eine Theorie des Guten enthält, nach welcher die unveränderliche Vergangenheit und insbesondere das historische Unrecht für die Bewertung der Handlungen heute lebender Menschen relevant sein kann. Menschen haben generell einen gerechtfertigten Anspruch darauf, den Ruf zu genießen, den sie verdienen. Die Gründe dafür können uns verpflichten, selbst nachdem der Träger des gerechtfertigten Anspruchs nicht mehr existiert. Heute lebende Personen können den verdienten posthumen Ruf heute toter Menschen, denen in der Vergangenheit Unrecht angetan wurde, (wiederherstellen, nämlich durch symbolische Kompensationshandlungen in Erfüllung ihrer überlebenden Pflicht mit Blick auf die heute toten Opfer. Mit Blick auf Menschen, die ein moralisch gutes oder akzeptables Leben geführt haben, gebietet der Respekt vor der Qualität ihres Lebens, sie posthum als solche zu erinnern. Mit Blick auf sie stehen wir unter der überlebenden Pflicht, sie als Moralpersonen zu erinnern. Ähnlich, wenn Menschen anderen Gutes getan haben und über das hinaus, was sie ihnen schuldeten — Menschen also, die supererogatorisch und zum Nutzen anderer gehandelt haben. Mit Blick auf sie gebietet der Respekt vor der ausgezeichneten Qualität ihrer Handlungen, dass wir die entsprechende überlebende Pflicht erfüllen, diese Menschen also oder ihre Handlungen als moralisch ausgezeichnet posthum erinnern. Analog zu den vorgestellten symbolischen Kompensationspflichten könnten wir die überlebenden Pflichten hier als symbolische Pflichten des Respekts interpretieren.83 Wir können also unter überlebenden moralischen Pflichten mit Blick auf tote Menschen stehen, und einige dieser moralischen Pflichten sind generell: unter generellen überlebenden Pflichten stehen wir, ganz unabhängig davon, ob wir unter besonderen Pflichten mit Blick auf heute tote Personen stehen. (Siehe Anhang, Tabelle 3. b. 3. b. und c) Von den generellen überlebenden Pflichten zu unterscheiden sind die besonderen. Diese verdanken sich einer besonderen Beziehung zu

Schlussbemerkung

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früher lebenden Menschen. Eine solche Beziehung kann, wie im Fall von Todesbettversprechen, darauf beruhen, dass heute lebende Menschen sich dem Toten gegenüber verpflichtet haben. In einer besonderen Beziehung zu früher lebenden Menschen stehen wir auch dann, wenn diese uns begünstigt haben. Mit Blick auf unsere Wohltäter sind wir zu Dankbarkeit verpflichtet und stehen unter der überlebenden Pflicht, sie als Wohltäter zu erinnern. Die entsprechenden symbolischen Dankbarkeitspflichten sind analog zu den symbolischen Kompensationspflichten zu deuten. In der Tat sind diese Pflichten für das intergenerationelle Verhältnis besonders dann wichtig, wenn früher lebende Menschen uns und aber auch später zukünftig lebende Menschen haben begünstigen wollen. Dann schulden wir es unseren Wohltätern, so dem nicht wichtige Gründe entgegenstehen, ihre guten Intentionen zu respektieren. 84 (Siehe Anhang, Tabelle 3. b. 3. a. und d) Das zukunftsorientierte Verständnis historischen Unrechts bestimmt die Bedeutung historischen Unrechts im Sinne der Spezifikation unserer Pflichten mit korrelativen Rechten. Aber, wie die Konzeption überlebender Pflichten zeigt, sind nicht alleine Pflichten mit korrelativen aktuellen Rechten für die normative Interpretation intergenerationeller Beziehungen wichtig. Zugleich ist die Idee, dass wir unter Pflichten mit Blick auf tote Personen stehen können, mit dem zukunftsorientierten Verständnis der Bedeutung historischen Unrechts durchaus vereinbar. Auch die Interpretation unserer Beziehungen zu zukünftig lebenden Menschen wird nicht ausschließlich durch Überlegungen bestimmt, welche die Rechte zukünftig lebender Menschen reflektieren. Allerdings — und dies ist im Falle früher lebender Menschen anders - können zukünftig lebende Menschen uns gegenüber Rechte haben. 85

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Anmerkungen

Anmerkungen 1

In einem Brief an Walter Benjamin aus dem Jahre 1937, zitiert in Tiedcmann 1983, S. 107. 2 Solche Pflichten könnten als imperfektc Pflichten aufgefasst werden, weil tote Menschen nicht Träger der korrelativen Rechte sein können. Diese sind jedoch imperfekte Pflichten einer besonderen Art. Der Punkt ist nicht, dass Überlegungen, die auf Rechten beruhen, sich erschöpfen. Wenn es um unsere Bezugnahmen auf zukünftig lebende Menschen geht, können auf Rechte beruhende Überlegungen keine Interpretation wichtiger Sorgen anbieten, die die meisten von uns mit Blick auf zukünftig lebende Menschen teilen. Einige unserer Sorgen mit Blick auf zukünftig lebende Menschen können wir interpretieren im Sinne von Pflichten, unter denen wir mit Blick auf zukünftig lebende Menschen stehen, denen aber keine Rechte zukünftiger Menschen korrespondieren. Siehe Kap. II.4 und Kap. V.3 3 Raz 1986, S. 166: "sufficient reason for holding some other person(s) to be under a duty". 4 Ebd. 5 Für ein säkulares Argument zugunsten dieser These siehe Wingert 1991. Aus christlich-theologischer Sicht vertritt eben diese These Peukert 1978, insbesondere Teil iii „Handlungsthcoric und fundamentale Theologie", Abschnitt „C. 10. Die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft und die Aporie anamnetischer Solidarität", Kap. D. „Der Ansatz und der Status einer fundamentalen Theologie". 6 Und könnten Verstorbene begünstigt werden oder ihre Rechte restituiert werden. 7 Zum historischen Nobel siehe z.B. Vögde 1983 und Fant 1995. 8 Siehe Mulgan 1999, S. 54 f. 9 Siehe z.B. Küng 1982, Kap. III; zu den christlichen Auffassungen siehe z.B. Vorgrimler, 1999; und Rahner 1972. 10 Siehe Piaton 1995a, 64 a-7 d, 71 d-e, 105 d-f; ders. 2003, 614 a-15 d; Descartes 1972, 2., 5. und 6. Meditation; ders. 1996, Art. 5 und 6. 11 Dieser Ausgangspunkt beansprucht aber nicht liberale Neutralität mit Blick auf die konkurrierenden metaphysischen und religiösen Denkbilder im Sinne von Rawls. Siehe z.B. Rawls 2003, § 47. Die Probleme einer in diesem Sinne neutralen Auffassung des Status der Verstorbenen diskutiert Mulgan 1999. 12 Es ist alles andere als klar, wann genau im Prozess des Sterbens der Tod einer Person eintritt. Diese theoretisch schwierige und für praktische Belange wichtige Frage nach der rechtlich einwandfreien Definition des Todes und den empirischen Kriterien für die Bestimmung des Eintritts des Todes, die in der medizinischen Praxis verwandt werden sollten, kann hier unbeantwortet bleiben, weil wir allein der Frage nachgehen wollen, ob und inwiefern es möglich ist, dass offensichtlich Tote Träger von Rechten sein können.

Anmerkungen

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13 Ridge 2003, S. 44, setzt für seine Diskussion von Reparationspflichten gegenüber verstorbenen Opfern historischen Unrechts einfach voraus, dass sie Rechte haben können und "that we can benefit the dead". 14 Siehe Silverstein 1980, S. 414, der die "Values Connect with Feelings"Auffassung vertritt, gemäß welcher cine "conceptual connection" besteht "between x's having a certain value for A (e.g., x's being an evil for Λ) and A's having an appropriate experience or feeling (e.g., A's suffering) as a result of x; but A's having an appropriate feeling from, or as a result of, χ seems to require that A coexists either with χ or with x's causal effects". Siehe auch ders. 2000, S. 122-24. 15 Nozick, 1974, S. 42-45. 16 Siehe dazu ausführlicher unten Kap.III.ll. 17 Siehe Ross 1939, S. 300. 18 Feinberg 1977, S. 302 (meine Übersetzung). Siehe auch ders. 1990, S. 84 f. 19 Siehe Feinberg 1981, S. 153; ders. 1976, S. 349; ders. 1977, S. 301 f. Ähnlich Se rafini 1989, S. 330 f. (schlägt vor, dass Eigenschaften, nicht Interessen posthum geschädigt werden können, ohne aber zu zeigen, wie ein solcher Schaden als Schaden Verstorbener aufgefasst werden könnte). 20 Die Behauptung, gegenwärtig lebende Menschen, nicht aber Verstorbene sind Subjekte, die nicht-erfahrenen Schaden erfahren könnten, bedarf der Qualifikation. Komatös sterbenskranke Menschen können womöglich in diesem Sinne nicht als Subjekte gelten, obgleich sie gemäß der üblichen Kriterien gerade noch nicht zu den Verstorbenen zählen. 21 Siehe Feinberg 1990, S. 80, 89 und 91. Diese Interpretation entspricht weitgehend der von Pitcher 1984. Sic findet sich auch bei Lomasky 1987, S. 213. 22 Siehe Waluchow 1986, S. 733. 23 Siehe schon Kap. II, N. 4 und Text. 24 Raz 1986, S. 166; ders. 1984, wieder abgedruckt in ders. 1994. Siehe auch MacCormick 1977. 25 Meines Wissens hat Wcllman den Begriff "surviving duties" eingeführt. Siehe WeUman 1995, S. 155-57. 26 Oder den Tod des Trägers des legitimen Anspruchs. Im Weiteren spreche ich meistens von moralischen Rechten und nicht von Ansprüchen, aber davon hängt nichts ab: wir dürfen annehmen, dass Menschen unter einer Pflicht stehen, den legitimen Ansprüchen anderer zu entsprechen. 27 Siehe WeUman 1995, S. 155. 28 Ernest Partridge diskutiert das Beispiel Alfred Nobel und verteidigt eine regclutilitaristische Interpretation von Todesbettversprechen in 1981, S. 259-61. Für eine konsequentialistische Interpretation der Position "überlebende Pflichten" siehe Kap. III.9 unten. 29 Zur Bedeutung von Vertrauen siehe die Arbeiten von Baier, z.B. 1994. 30 Siehe Kap. V.3. 31 Allerdings kann ein Erbe testamentarisch an Bedingungen geknüpft sein und deren Erfüllung effektiver sozialer und rechtlicher Kontrolle unterliegen.

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Anmerkungen

32 Siehe auch Waluchow 1986, S. 734. 33 Siehe Ruben 1988, S. 223-31. Die Unterscheidung geht auf Geach 1981, S. 318-23 zurück, der sie als Differenz zwischen tatsächlicher und Cambridge Veränderung diskutiert, und ders. 1969, S. 66 f., 70-3, 98 f.; Dummett 1973, Kap. 14 diskutiert "phoney changes". 34 Siehe Ruben 1988, S. 223-31. 35 Ruben 1988, S. 217, hält dies für eine hinreichende Bedingung. 36 Ruben 1988, S. 216 f., 223. Im Folgenden spreche ich von Beziehungsund Nichtbeziehungsveränderungen. Erstere Veränderung bewirkt, dass ein Gegenstand eine Bezichungseigenschaft hat, die er zuvor nicht hatte, l.etztere bewirkt, dass ein Gegenstand eine Nicht-Beziehungseigenschaft aufweist, die der Gegenstand zuvor nicht hatte. 37 Siehe Ruben 1988, S. 230. 38 Siehe Ruben 1988, S. 224, 231. 39 Das entspricht Rubens Behauptung (4'). Siehe Ruben 1988, S. 232. Und vergleiche Ruben 1988, S. 236. 40 Siehe N. 23 oben. Die objektive Qualität (wenigstens bestimmter Aspekte) des Lebens einer Person kann aber von posthumen Ereignissen abhängen (siehe unten Kap. III.9). 41 Etwas anderes ist es, Uberlebenden Kompensation zu leisten für den Schaden, den sie wegen des Tods des Opfers erlitten haben. Siehe für das USamerikanische Deliktrecht American Law Institute 1979, Abteilung 13 "Remedies", Kap. 47 "Damages", §§ 925 f. Gemäß gesetzlichen Bestimmungen zu unrechtmäßigem Tod sollen Kompensationsleistungen den Verlust an Unterstützung und geteiltem Leben ausgleichen helfen. Siehe ebd. und David W. Lecbron 1989, S. 260 f. Einige (siehe Leibson 1977) haben auch argumentiert, dass Kompensationsansprüche bestehen, leiden wir emotional aufgrund des Tods einer anderen Person oder aufgrund physischer Verletzungen, die eine andere Person erlitten hat. US-amerikanische gesetzliche Bestimmungen sehen auch vor, dass bestimmte Handlungen und I Iandlungsoptionen eines Verstorbenen dessen Tod überleben und gegebenenfalls als Erbansprüche Geltung haben, die der persönliche Repräsentant des Verstorbenen verfolgen kann. Hat der Verstorbene vor seinem Tod Schmerzen erlitten, können dessen Schadensersatzansprüche von Überlebenden geltend gemacht werden. Zu diesen zählen Ansprüche (Lecbron, 1989, S. 261) aufgrund von "medical expenses resulting from the injur)', lost income, pain and suffering prior to death, and, in some jurisdictions, loss of enjoyment of life." Angesichts unterschiedlicher Rechtfertigungen für Ansprüche aufgrund von vor dem Tod erlittener Schmerzen und Einbussen an Lebensqualität ist nicht leicht auszumachen, ob der Gesetzgeber diese Ansprüche so versteht, dass sie die Idee beinhalten, verstorbenen Personen Kompensation zu leisten. Siehe Leebron, 1989, S. 278-88. 42 Siehe Kap. II.

Anmerkungen

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43 Auch im Falle überlebender Opfer kann es schwierig sein, Kompensation zu leisten. Traumatisierten Opfern können häufig nicht im Sinne eines identitätsabhängigen Begriffs der Schädigung Kompensationsleistungen erbracht werden. Womöglich können sie aber im Sinne einer Schwellenkonzeption entschädigt werden. Allerdings ist es im Falle traumatisierter Opfer schwierig, wenn nicht unmöglich, den relevanten Standard der Kompensation zu bestimmen, der mit monetären Kompensationsleistungen erfüllbar ist. Wird der relevante Standard bestimmt als der Zustand, der seinem Wert nach dem Zustand entspricht, den das Opfer vor dem Schaden oder Verbrechen (im status quo ante) genoss, dann wird letzterer Zustand als inkommensurabel mit dem Zustand gelten, der durch monetäre Kompensationsleistungen gleich welchen Umfangs nach der Schädigung oder nach dem Verbrechen (im status post crimen) realisierbar ist. Für Diskussion dieses Verständnisses von Kompensation und seine Implikationen für die schwierigen Fälle der Entschädigung von traumatisierten Opfern und Opfern persönlichen Unrechts siehe die nächste N. Für den hier relevanten, den sogenannten schwachen Begriff der Inkommensurabilität, der den Vergleich der für inkommensurabel gehaltenen Werte zulässt, aber einen der Werte so stark als möglich über den anderen stellt, siehe Griffin 1986, S. 83. Waldron 1994, S. 816, hat diesen Begriff der Inkommensurabilität schwache Inkommensurabilität genannt: "[W]eak incommensurability is usually expressed in terms of a simple and straightforward priority rule." Für cine Diskussion dieses Begriffs der Inkommensurabilität und die Analyse verschiedener Auffassungen schwacher Inkommensurabilität, siehe Griffin 1989, S. 83-92; Waldron 1994, S. 816-17; Sunstein 1994, S. 795-99 und 805-12; Berlin und Williams 1994, S. 306 f.; Chang 1997, S. 2 f.; Alexander 1998, S. 1644. Raz hat einen strengen Begriff der Inkommensurabilität vorgeschlagen, nach welchem inkommensurable Werte nicht Gegenstand eines Vergleichs sein können. Inkommensurabilität im strengen Sinn bedeutet Inkomparabilität. Siehe Raz 1986, Kap. 13. Siehe auch Raz 1991 und Griffins Antwort auf diesen Aufsatz ebd., S. 101-18; sowie Raz 1998. 44 Ich untersuche die Rolle von Maßnahmen symbolischer Kompensation für unsere Bezugnahme auf Verstorbene, denen Unrecht angetan wurde und die in ihrem Wohlbefinden keinesfalls durch unser Handeln berührt werden können. Andere haben den symbolischen Charakter von Kompcnsationsleistungen angesichts der praktischen Grenzen dessen hervorgehoben, was für die getan werden kann, deren Wohlbefinden wir durch Kompensationsleistungen verbessern können. Weil in Fällen persönlichen Unrechts Kompensation im Vollsinne, nämlich im Sinne der Realisierung eines Zustands, dessen Wert dem des status quo ante crimen entspricht, häufig unmöglich ist, kann offizielle und öffentliche Anerkennung sowohl des erlittenen Unrechts als auch der Unmöglichkeit von Kompensation und Restitution im Vollsinne als eine symbolische Kompensationsmaßnahme gedeutet werden, die sich positiv auf die betrof-

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Anmerkungen

fenen Individuen wie die Gesellschaft auswirkt. Für eine Analyse von Kompensation für persönliches Unrecht in diesem Sinne siehe Restatement (Second) of Torts 1979, § 903, S. 453 f.; Radin 1993, S. 60 f., Kap. 13 "Compensation"; Lomasky 1987, S. 142; ders. 1991, S. 28; und Sher 1979. Für eine Analyse öffentlicher Kompensationsleistungen für indirekte Opfer früherer Verbrcchcn, als auch symbolisch in ihrem Charakter, siehe z.B. Jedlicki 1990, S. 60 f., 72 f.; Heller 1993, S. 248 f., 172 f.; Irwin-Zarecka 1994, S. 94 f.; und Waldron 1992, S. 7. Für eine Interpretation jüngster Bemühungen, materielle und symbolische Kompensationsmaßnahmen zu kombinieren, siehe z.B. Kimminich 1996, S. 36 f.; Kren 1996, S. 26 (die Autoren beschreiben Maßnahmen der bundesrepublikanischen und tschechischen Regierungen, Kompensation zu leisten sowohl für die Opfer des nationalsozialistischen Regimes als auch die deutschen Opfer von Zwangsausweisungen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg); Shriver, Jr. 1995, S. 155-69 (beschreibt Maßnahmen der US-Regierung aus den Jahren 1987 und 1988, Kompcnsationslcistungen für die Überlebenden der Japanisch-Amerikanischen Familien zu erbringen, die von 1941-45 entwurzelt, interniert und in Konzentrationslagern gefangen gehalten wurden); Pak 1996 (der auf die Notwendigkeit auch symbolischer Kompensation hinweist im Rahmen der Beilegung der Ansprüche der während des Zweiten Weltkriegs zur Prostitution gezwungenen koreanischen Frauen gegen Japan) und siehe Yoshimi 2000. 45 Für eine eingehende Interpretation der Missachtung einer Person durch Verletzung und Aberkennung ihrer grundlegenden Rechte siehe Flonneth 1992, Kap. 6, insbesondere S. 214-16. Wenn die Opfer historischen Unrechts erinnert werden, sind sie häufig Opfer der Missachtung in den drei von Ilonneth unterschiedenen Schichten gewesen: praktische Misshandlung, Entrechtung und Tintwürdigung. Siehe auch Honneth 1997, S. 33 f.; ders 1997, Abschnitte V und VI. - Zu den andauernden Auseinandersetzungen über die öffentliche Anerkennung der Wahrheit historischen Unrechts, siehe z.B. Kulka 1991; Vidal-Naquet 1992; Smith, Markusen und Lifton 1995; Douglas 1996; Stannard 1996. Zur Bedeutung der öffentlichen Anerkennung der Wahrheit über historisches Unrecht für die Restitution der Opfer vergangenen Unrechts, siehe auch Kap. V.4 und Kap. VII. 46 Noch schlimmer womöglich die entsprechende Behauptung über die Täter, wenn sie verleumderisch ist: sie haben die Rechte anderer auf schlimme Weise verletzt und geglaubt, darin gerechtfertigt zu sein. Leider (siehe Orizio 2003) ist dies nicht selten wahr. 47 Es kann sich um Mitglieder einer bestimmten Institution handeln - z.B. einer Spezialeinheit der Polizei oder Armee der in Frage stehenden politischen Gesellschaft. Die Notwendigkeit für gegenwärtig lebende Mitglieder der Gesellschaft, sich von diesen Unrechtstaten zu distanzieren, wird unter anderem davon abhängen, wie und in welchem Maße die

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Unrechtstäter durch die Gesellschaft als Ganzer Unterstützung erfuhren. Zu Fragen kollektiver Mitverantwortung siehe Kap. V, N. 4 und Text. 48 Mit Ausnahme der Erhaltung der historischen Stätten der Naziverbrechen wurden die meisten der Denkmale für die Opfer der Shoa in der Bundesrepublik Deutschland nicht vor den 1970ern eingerichtet. Siehe dazu Faulenbach 1997, S. 604. 49 Für einen Vergleich der Denkmale für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten in Japan und den Denkmalen für die Opfer der Shoa und des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, siehe Buruma 1994, S. 272-88. Für einen Vergleich der Denkmale für die Opfer der Shoa in Polen, Deutschland und Israel siehe Young 1988. 50 Meine Diskussion symbolischer Kompensation ist der Analyse symbolischen Werts verpflichtet, die Nozick 1993 in Kap. 1 und 2 vorgelegt hat. Eine solche Interpretation, die nach den besten Gründen für symbolisches Handeln aus der Sicht der Akteure fragt, steht im Gegensatz zu objektivistischen Analysen des Symbolischen. Zur Kritik letzterer siehe Peters 1993, S. 381-89, insbesondere S. 383. 51 Man könnte vermuten, dass Handlungen symbolischer Kompensation die Versöhnung zwischen einerseits den Opfern und ihren Nachfahren und andererseits denen, die die Verbrechen begangen haben sowie den Menschen, die mit den Verbrechern eng assoziiert sind, befördern. Ebenso spekulativ ist die Annahme, weiter entfernt zukünftig lebende Menschen seien besser gestellt, weil auch durch Maßnahmen symbolischer Kompensation potentielle Unrechtstäter abgeschreckt werden. 52 Rund 50 Millionen Mark (25,5 Mio Euro) soll der vom amerikanischen Architekten Peter Eisenman entworfene Erinnerungskomplex zwischen Brandenburger Tor und dem Potsdamer Platz (das sog. Holocaust Mahnmal) kosten. Siehe Engel 2002. 53 Siehe oben N. 48 f.; Reichel 1995; ders. „Politik mit Erinnerung. Über sieben Streitfragen in der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit", Frankfurter Allgemeine Zeitung (27. Januar 1999), S. 11; Cullen 1999; Fleimrod, Schlusche und Seferens 1999; Haardt 2001; zur Frage der Erinnerung(sermöglichung) historischen Unrechts durch Kunst siehe Ilemken 1996; Schaffner und Winzen 1997; insbesondere die Arbeiten von Boltanski in ebd., S. 78-81, und das Interview mit Boltanski durch von Drathen, S. 228-52, sowie die Arbeiten von Gerz und Shalcv-Gerz in Hapkemeycr 1999, S. 142-45; siehe auch die Arbeit von Schein und Reiter 2002 und darin Meyer, S. 42-44. 54 Kimminich 1987, S. 72. 55 Ebd., S. 85; siehe auch Chen 1989, S. 121; den Einfluss der Lehre des gerechten Kriegs auch für das klassische Völkerrecht betonen Verdross und Simma 1984, S. 61-68. 56 Wie immer auch das Urteil über den einzelnen Soldaten ausfallen mag, so fällt doch auf, dass an der Verehrwürdigkeit der je eigenen gefallenen Soldaten mit

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Anmerkungen

Hartnäckigkeit festgehalten wird. Siehe z.B. das umstrittene Museum des Yasukuni-Schreins in Tokio, das der Erinnerung der gefallenen Soldaten als Helden und freiwillige Opfer für die Nation dient. Siehe Buruma 1994, S. 272-84, insbesondere S. 277 und S. 279 f. Zu den menschenverachtenden Methoden der japanischen Kriegsführung siehe Shriver, Jr. 1998, Kap. 5, insbesondere S. 125 f.; Tanaka 1996; Hicks 1997; Linderman 1997, insbesondere Kap. 4; und siehe auch Piccigallo 1979. Auch für den Protest gegen die „Wehrmachtsausstellung" (siehe Hamburger Institut für Sozialforschung 1996) dürfte der Schutz der Ehre insbesondere der gefallenen deutschen Soldaten ein wichtiges Motiv sein. Siehe z.B. Roth 1997, S. 67. Young 1993, S. 21 f.. Halbwachs 1966; ders. 1967. Zu den verschiedenen Ansätzen, Inhalte, Formen und Entwicklungen kollektiven Erinnerns zu verstehen, siehe z.B. Assmann und Harth 1991; Irwin-Zarecka 1994; Middleton und Edwards 1990; Lowcnthal 1985. Siehe auch Assmann 1997 (eine komparative Analyse der Formen und Entwicklungen kultureller Erinnerung im antiken Ägypten, Israel und Griechenland); Connerton 1989 (analysiert Körpersprache und Rituale als Formen und Mittel der kollektiven Erinnerung); Fentress und Wickham 1992) (betonen die Rolle der narrativen Genres für die Strukturierung der Überlieferung von Erinnerung). Siehe auch Confino 1997. Dass Menschen, die eine Transition von einer vorrechtsstaatlichen zu einer rechtsstaatlichen Ordnung erreichen wollen, gezwungen sein können, auf die Interessen der Repräsentanten des vorrechtsstaatlichen Regimes Rücksicht zu nehmen, ist eine traurige Realität. Siehe die Diskussion der Notsituation und ihrer moralischen Implikationen in Kap. VII. Siehe Anderson 1993. Raz kritisiert die Idee, dass "[t]he only reasons for or against the performance of any action are the consequences that its performance or nonperformance will or may have", weil eine solche Annahme zu einer "distortion of] our conception of agency" führe. Raz 1986, S. 268, S. 269. Siehe Kap. IV und V, insbesondere Kap.IV.6. Seinen neuzeitlichen Ausdruck findet dieser im Utilitarismus von Bentham und Mill. Für eine deutschsprachige Einführung und Tcxtsammlung siehe Höffe 1992. Für Darstellungen moderner Ausarbeitungen und ihrer Kritik siehe Brock 1973; Griffm 1982; Sen und Williams 1982; Nida-Rümelin 1995; Shaw 1998. Siehe Kap. VI.8 und Kap. VII, N. 73. Siehe Stocker 1973; Sher 1983; Vallentyne 1987. Siehe Sobel 1970, S. 398-403. Diese Überlegungen setzen voraus, dass wir das konsequentialistische Maximierungsgebot auf unterschiedliche Charakterisierungen des zu maximierenden Guten beziehen können. Siehe z.B. Ilurka 1992.

Anmerkungen

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67 Zum Thema vergangenheitsorientierter Konsequentialismus generell siehe die Hinweise in Kap. II, N. 11, und insbesondere Feldman 1986; Hurka 1993, Kap. 6, 8-10; Kagan 1997, S. 26-28. 68 Siehe Sobel 1970, S. 398-403. 69 Siehe Vallentyne 1988, S. 97. 70 Gemäß Moores organischer Theorie des Guten (1989, S. 28) "the value of a whole must not be assumed to be the sum of the values of its parts." Moore verwendet den Begriff „organisch" "to denote the fact that a whole has an intrinsic value different in amount from the sum of the values of its parts." Ebd., S. 36. Sein „Prinzip der organischen Einheiten" lautet: "the intrinsic value of a whole is neither identical nor proportional to the sum of the values of its parts." Ebd., S. 184. 71 Ein weiteres Beispiel für eine solche Theorie wäre eine konsequentialistische Straftheorie und Theorie des Verdiensts, die dem Prinzip, gemäß welchem wir das Gute maximieren müssen, lexikalisch untergeordnet ein Prinzip enthält, das die Gewichtung von Handlungsoptionen danach verlangt, ob und inwiefern Menschen, die Gutes getan haben, belohnt und Menschen, die Schlechtes getan haben, bestraft werden. Für die Diskussion um eine vergangenheitsorientierte, konsequentialistische Theorie des Verdiensts siehe insbesondere Feldman 1995; ders. 1995a; Vallentyne 1995; Carlson 1997. 72 Moore 1993, S. 208. 73 Ebd., S. 214 f. 74 Moore glaubt zeigen zu können, dass das vollständige Ergebnis unseres Handelns „gut als Ganzes" sein kann, wenn die Handlung, mit welcher wir auf früheres Übel reagieren, für sich genommen schlecht ist. Moore interpretiert die Bestrafung eines Übeltäters als für sich genommen ein Übel, weil nicht anders als die willentliche Zufügung von Schmerz und Schaden aufzufassen, der aber den Zustand der Welt verbessert, wenn es sich um eine Handlung retributiver Bestrafung handelt. Der resultierende Zustand (Siehe ebd., S. 214 f.), auch wenn er nicht gut „im Ganzen" sei, sei doch gut „als Ganzer", d.h. besser als der Zustand vor der Bestrafung. Zur Straftheorie siehe Kap. VII, insbesondere N. 64-70 und Text. 75 Darauf weist auch Hill 1990/91, S. 124, hin. 76 Siehe Mulgan 1999, S. 55, 59-62. 77 Zumindest können Personen nicht verpflichtet sein, überlebende Pflichten zu erfüllen, sollte dies unvereinbar damit sein, so zu handeln, wie die im Sinne der liberalen Position dringendsten Handlungsgründc gebieten. Siehe Kap. IV.4 und Kap. VI.8. 78 Siehe N. 64 und 65 oben. 79 Für die These, dass die Beurteilung des Wohlergehens einer Person nicht hinreichend ist für die Beurteilung der Qualität des Lebens einer Person, siehe Nagel 1979, S. 1-10, und insbesondere Kagan 1994, S. 319. 80 Aristoteles 1983. Für Rekonstruktionen der aristotelischen Position siehe Solomon 1976; Goldstick 1988. Für die Diskussion der Frage, in welchem

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Anmerkungen

Sinne und inwiefern posthume Zustände und Ereignisse die Qualität des Lebens einer Person betreffen können, siehe Silverstein 1980, S. 413-24; Lamont 1998; Feldman 1992; Bigclow, Campbell, Pargeter 1990. Für die Diskussion eines solchen Beispiels siehe O'Neill 1993, S. 36-43. (O'Neill vertritt die Auffassung, dass gegenwärtig lebende Menschen heute tote Menschen schädigen können.) Zur Charkterisierung solcher und anderer zukunftsorientierter Projekte siehe auch Kap. V.3. Für eine Interpretation dieser überlebenden Pflichten siehe Kap. V.2-4. Wir verzichten darauf, den symbolischen Charakter dieser Pflichten auszubuchstabieren - die Interpretation symbolischer Kompensationspflichten diente uns als Folie. Siehe Kap. V.3 und 7. Siehe Kap. II 2.

IV. Kollektives Erbe und der Wert der Grupp enmitglieds chaft Ansprüche aufgrund historischen Unrechts werden häufig von gegenwärtig lebenden Mitgliedern transgenerationeller Gruppen erhoben wegen des an früheren Mitgliedern verübten Unrechts, so auch im Falle der Roma/Sinti (Gypsies) und der Saami (Lappen) (Kap. IV.l und Kap. V.4 und 7). Die korrespondierenden Pflichten werden transgenerationellen Gruppen bzw. deren gegenwärtig lebenden Mitgliedern zugeschrieben wegen des von früheren Mitgliedern verübten Unrechts (Kap. V.l-3 und 5). In diesem und dem folgenden Kapitel untersuche ich solche historischen Ansprüche und Pflichten. Dabei wird deutlich werden, dass die Zuschreibung von historischen Pflichten eigene Probleme aufwirft. Die liberale Position ist unter anderem durch die Annahme des normativen Individualismus charakterisiert.1 Wollen wir die genannten im Namen von Gruppen erhobenen Ansprüche im Sinn der liberalen Position deuten, dann sind sie als Ansprüche von Individuen zu deuten. Denn Gruppen als solche können keine Träger von moralischen Ansprüchen sein. Andererseits können ererbte Pflichten und Ansprüche nicht als Ansprüche und Pflichten von Individuen unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in Gruppen aufgefasst werden. Die hier vertretene Position behauptet, der die liberale Auffassung kennzeichnende normative Individualismus erlaube die Annahme besonderer historischer Ansprüche und Pflichten von Menschen aufgrund nicht zuletzt des Werts der Mitgliedschaft in transgenerationellen Gruppen (Kap. IV.2-4). Wären transgenerationelle Gruppen als solche Träger von moralischen Ansprüchen, so könnte das in Kapitel II diskutierte Kontingenzproblem mit Blick jedenfalls auf einige Ansprüche von Gruppen aufgrund historischen Unrechts irrelevant sein: In diesen Fällen jedenfalls berühren die früheren Unrechtshandlungen die Existenz und Identität der Gruppe nicht. Die Ansprüche der Gruppe wären so zu

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Einführung

behandeln wie die Ansprüche überlebender Opfer. Analog entfiele das Problem der Begründung historischer Pflichten aufgrund kollektiven Erbes weitgehend, nähmen wir an, dass die Träger solcher Pflichten die Gruppen als solche sind, nämlich als Rechtspersonen mit transgenerationeller Identität, die für ihr früheres Handeln haften können. Ich werde untersuchen, welche moralischen Gründe für die Annahme einer solchen Haftungspflicht sprechen und inwiefern die Annahme einer solchen Haftungspflicht der Rechtsperson mit transgenerationeller Identität Pflichten der gegenwärtigen Mitglieder nach sich zieht (Kap. V.l und 6). Dabei ist herauszustellen, inwiefern kollektive ererbte Pflichten sich von Pflichten aufgrund kollektiver Verantwortung unterscheiden (Kap. V, 1 und 5). Die Gründe, die wir dafür haben mögen, einer Gruppe aufgrund des Handelns oder Unterlassens ihrer Mitglieder kollektive Verantwortung und distributiv den Mitgliedern der Gruppe moralische Pflichten zuzuschreiben, reichen nicht hin, um Menschen als Mitgliedern transgenerationeller Gruppen kollektive historische Pflichten aufgrund des Handelns früherer Mitglieder der Gruppe zuzuschreiben. Die Begründung historischer Pflichten von Mitgliedern transgenerationeller Gruppen aufgrund des kollektiven Erbes ist eigener Art: Weder können gegenwärtig lebende Menschen Schuld am Handeln früher lebender Menschen haben. Noch können gegenwärtig lebende Menschen ursächlich verantwortlich sein für die von früher lebenden Personen verursachte Schädigung. Außerdem lassen sich historische Pflichten auch nicht voluntaristisch verstehen, weil Menschen typischerweise nicht wählen, Mitglied in einer transgenerationellen Gruppe zu werden. Diese soziale Identität, die sie intrinsisch wertschätzen können, haben sie nicht gewählt. Auf einem solchen geteilten Selbstverständnis der Mitglieder beruht aber eine Begründung historischer Pflichten aufgrund kollektiven Erbes. Insofern sind historische Pflichten auch unterschieden von Gefährdungshaftung, die wenn nicht ursächliche Verantwortung so doch typischerweise voraussetzt, dass der Träger in einem wenigstens schwachen Sinne die Haftungspflicht freiwillig eingegangen ist. Ferner sind historische Pflichten aufgrund kollektiven Erbes in der Regel nicht allein zukunftsorientiert zu begründen (Kap. IV.3-5, und Kap. V. 24), sondern vielmehr auch vergangenheitsorientiert im Sinne der Begründung überlebender Pflichten (siehe Kap. III). Zur Be-

Historisches

Unrecht

und Urinnerungsgemeinschaften

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gründung kollektiver historischer Pflichten müssen wir ferner die Auffassung zurückweisen, jedwedes kollektive Erbe sei illegitim.2 Eine plausible Begründung historischer Pflichten kann die Auffassung stützen, kollektives Erbe für unter Umständen zulässig zu halten.

1. Historisches Unrecht und

Urinnerungsgemeinschaften

In der Tat scheinen Erfahrungen historischen Unrechts nicht wenige Gruppenkonflikte zu motivieren. Kultursoziologen bemühen sich um eine Erklärung, wie Akteure dazu kommen, die Grenzen des Gedenkens zu ziehen, und welche Rolle solches kollektive Gedenken in Gruppenkonflikten spielt. Ich werde hier Elemente einer solchen Interpretation nennen, bevor ich untersuche, inwiefern uns (liberale) politische Philosophie helfen kann, besser zu verstehen, was in diesen Konflikten auf dem Spiel steht. Die Diskussion zielt darauf, zur Deutung des Werts von Mitgliedschaft in transgenerationellen kulturellen Gruppen sowie des Werts von kulturellem Erbe aus der Sicht liberaler politischer Philosophie beizutragen. Die Analyse des Werts der Mitgliedschaft in transgenerationellen kulturellen Gruppen erweist sich als eine Voraussetzung für die Begründung von sowohl Ansprüchen als auch Pflichten aufgrund kollektiven Erbes. Solche Ansprüche untersuchen wir insbesondere mit Blick auf die Saami und Roma. Unter Hinweis auf die andauernde Wirkung des von den Vorfahren erlittenen Unrechts beanspruchen die Saami Anerkennung als indigenes Volk mit transnationaler Autonomie und die Roma und Sinti Anerkennung als transnationale ethnische und kulturelle Minderheit mit einem Recht, ihre Identität zu bewahren. Zur Leidensgeschichte der Roma und Sinti gehört herausragend auch, dass sie Opfer eines von den Nationalsozialisten verübten rassistisch motivierten Genozids waren. Die Frage, wem und warum heute Pflichten aufgrund historischen Erbes zuzuschreiben sind, wird deshalb nicht zuletzt mit Blick auf heute lebende Nachfahren der Nationalsozialisten und heute lebende Deutsche untersucht. Heute lebende Mitglieder transgenerationeller Gruppen erheben Ansprüche als Nachfahren von Opfern historischen Unrechts. Indirekte Opfer zu sein wird für relevant gehalten für die Begründung

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Historisches

Unrecht

und

Erinnerungsgemeinschaften

spezifischer Ansprüche auf Restitution und Kompensation. Darauf weisen auch Ergebnisse kultursoziologischer Forschung hin, die sich auf die entsprechenden Ansprüche und das Selbstverständnis der Saami und der Roma beziehen lassen. Die soziologische Interpretation, an die ich denke, mag folgendermaßen skizziert werden:3 Menschen können ein Zusammengehörigkeitsgefühl haben aufgrund geteilter Erfahrung. Wenn dies der Fall ist, dann ist die Erfahrung häufig von außergewöhnlicher, wenn nicht traumatischer Qualität. Es ist nun wichtig, dass es die dem Ereignis gegebene Bedeutung und nicht das Ereignis selbst ist, die eine Erinnerungsgemeinschaft zu schaffen vermag. Kollektive Erinnerung ist nicht als eine Ansammlung individueller Erinnerungen aufzufassen, sondern vielmehr als eine soziale Praxis der Artikulation und Aufrechterhaltung der „Realität der Vergangenheit". Häufig ist es das Erzählen selbst, die andauernde Artikulation der behaupteten „Realität der Vergangenheit", die eine Gemeinschaft formt und prägt. Aktives, gemeinschaftlich geteiltes und als wichtig für die Selbstdefinition der Gemeinschaft erachtetes Gedenken ist nötig. Diese Gemeinschaft wird durch die persönliche Bedeutung der Erinnerung und nicht durch das persönliche Zeugnis des Geschehenen definiert. Die relevante kollektive Erinnerung bezieht sich auf das geteilte Verständnis des als bindend erachteten Erbes. Wenn auch Erinnerungsgemeinschaften sich nicht auf eine Leidensgeschichte gründen müssen, gibt es doch einige sehr überzeugende Beispiele für die unterstützende Kraft, die einer geteilten Erinnerung an Unterdrückung innewohnt.4 Wie kaum etwas anderes schafft die lebendige Erinnerung an Leiden Solidarität. Die Erinnerung an Unterdrückung und Leiden dient der Einheit der Gemeinschaft wegen ihrer besonderen emotionalen Stärke und weil eine Selbstdefinition als Opfer die Grenze zwischen „uns" und „den anderen" klar zu markieren erlaubt. Überdies verspricht solche Erinnerung die Sympathien anderer Individuen und Gruppen zu gewinnen, die der Ungerechtigkeiten nicht beschuldigt werden, unter deren Konsequenzen die Gruppe der (indirekten) Opfer leidet. In der Tat ist kollektive Erinnerung eine wertvolle Ressource, um soziale Bindungen aufrechtzuerhalten und Autorität geltend zu machen, um Unterstützung für Aktionen zu mobilisieren und zu legitimieren. Durchdrungen, wie es häufig der Fall ist, mit quasi heiliger Bedeutung

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Unrecht

und Erinnerungsgemeinschaften

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und in der Lage, sehr starke Emotionen evozieren zu können, ist es eine der mächtigsten symbolischen Ressourcen. Was manchmal höflich historische Beschwerden oder Klagen (im Englischen "historical grievances") genannt wird, hat gewaltige Kraft, die sich in Gruppenkonflikten manifestiert. Obgleich historische Beschwerden die Liste der Meinungsverschiedenheiten zwischen den sich bekämpfenden Parteien nicht erschöpft, verlangt die Tatsache, dass sie häufig und prominent auf solchen Listen auftauchen, ernsthafte Anerkennung. Es ist schon wahr: wenn das Leiden weiter in die Vergangenheit rückt und jenseits der unmittelbaren Erfahrung der Mitglieder der Gemeinschaft liegt, dann erhöht dies mit Sicherheit die Notwendigkeit, die vergangenen Ereignisse zu erinnern. Jedoch verweist die Effektivität solcher Appelle an die Erinnerung der Angehörigen der Gruppe auf die tief empfundenen Emotionen, die hier mitschwingen. Wir müssen fragen: Was lässt Menschen sich so sehr um „ihre" Vergangenheit kümmern? Das, was in der Vergangenheit passiert ist, Geschichte allein, kann diese beharrliche Relevanz der Vergangenheit nicht erklären. Für jedes Beispiel eines erinnerten Kampfes könnten wir ein Beispiel eines Kampfes geben, der nicht erinnert wird oder werden soll. 5 Kollektive Erinnerung ordnet ihre Prioritäten nicht chronologisch; die umstrittenen Elemente können mehr oder weniger weit von der Gegenwart entfernt sein. Weil etwas, das weit in der Vergangenheit zurückliegt, jenseits des Erfahrungsraums gegenwärtig lebender Menschen liegt, führt es nicht unmittelbar zu den Leidenschaften, die uns in ErinnerungsStreitigkeiten begegnen. Es ist schwierig, generell etwas über Konflikte zu sagen, die auf konfligierenden Sichtweisen der Vergangenheit beruhen. In kulturellen, sozialen und politischen Begriffen scheint solche Beharrlichkeit außerordentlich stark kontextspezifisch zu sein. Ansprüche, die mit Blick auf eine weit zurückliegende Vergangenheit erhoben werden, erlangen in gegenwärtigen Konflikten insbesondere dann Bedeutung, wenn sie die Identifikation mit kommunalen Grenzen fördern. 6 Vergangenheitsorientierte kollektive Selbstverständnisse dürften dann Signifikanz gewinnen, weil das erlittene historische Unrecht das kulturelle Erbe der Gruppe unterminiert und deshalb mit den größeren Fragen kollektiver Identität verknüpft ist. Kollektive Erfahrungen historischen Unrechts werden besonders

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Historisches

Unrecht

und

Erinnerungsgemeinschaften

dann als bedrohlich für die kollektive Identität der (indirekten) Opfer empfunden, wenn die Ungerechtigkeit keine Anerkennung findet. Was zählt ist, wie Menschen die Konsequenzen historischen Unrechts wahrnehmen, hauptsächlich mit Blick darauf, ob der Gerechtigkeit genügt wurde, aber auch darauf, ob überhaupt ein Versuch dazu unternommen wurde. Wurden, mit anderen Worten, die historisch-moralischen Ansprüche nicht realisiert, die korrelierenden Pflichten nicht erfüllt, dann kann es durchaus sein, dass die zeitliche Distanz zur Unrechtstat keine Rolle spielt. Immer geht es um die Erfüllung historischer Pflichten und die Realisierung der entsprechenden Ansprüche. Manchmal hat für die (indirekten) Opfer symbolische Gerechtigkeit Priorität, etwa dass die nach wie vor dominierende Gruppe ihre Schuld eingesteht. In anderen Fällen geht es um die Neuverteilung der Macht und um materielle Kompensationsleistungen. In wieder anderen Fällen werden die (indirekten) Opfer die Konsequenzen des erlittenen historischen Unrechts in ihrem geringen Status als besondere ethnische und kulturelle Gruppe erkennen und in ihrem Verhältnis zu der sie umgebenden und dominierenden Bevölkerung. Sie können fordern, dass ihr gerechter Anspruch auf Autonomie und besondere Rechte auf Repräsentation in Entscheidungs- und Beratungseinrichtungen Anerkennung findet.7 Außerdem kann sich die Gruppe am Zugang zu dem historischen Territorium der Gruppe illegitim gehindert sehen oder darin, politische Souveränität über das historische Territorium der Gruppe auszuüben. Die Mitglieder der Gruppe können territoriale Zugeständnisse fordern, kulturelle und politische Autonomie oder auch ein Recht auf Selbstbestimmung durch Sezession.8 In der Tat scheinen die Ansprüche, die auf kollektiven Erfahrungen historischen Unrechts beruhen, in Verbindung mit Ansprüchen auf historisches Land eine besonders starke motivationelle Basis für kollektive Handlungen bereitzustellen, die darauf zielen, historisches Unrecht wieder gut zu machen. Eine Hypothese, die im Sinne einer Erklärung und nicht einer Rechtfertigung für dieses Phänomen angeboten wird, ist die folgende:9 Hier verschmilzt die unterstützende Kraft, die der Leidenserinnerung innewohnt, mit der Berufung auf den Vorrang des Gruppenanspruchs auf das historische Land. Priorität evoziert Stolz. Die ersten gewesen zu sein beweist oder stützt, so wird häufig angenommen, Besitzansprüche. Nicht nur

Historisches

Unrecht

und Erinnerungsgemeinschaften

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in diesem Sinn wird das Erbe derer, die ihre Wurzeln noch immer dort haben, wo ihre Vorfahren einmal begonnen hatten, in besonderer Weise gefeiert. In der Tat kann man eine neue und weithin geteilte Bewunderung für das indigene Erbe und die Ansprüche indigener Völker auf Territorium feststellen. Historisches Land zu beanspruchen bedeutet, einen Anspruch auf die bleibende Existenz der Gruppe zu erheben. Der Wert der Existenz einer Gruppe findet in der Dauerhaftigkeit und im Bestand ihres Erbes eine Bestätigung. Auf diese Weise wird der Anspruch auf historisches Land der Brennpunkt eines Gruppenanspruchs, der darauf zielt, die Traditionen der Gruppe, ihre besonderen Merkmale und Institutionen gerade angesichts des erlittenen historischen Unrechts zu erhalten. Eine der hauptsächlichen Funktionen des Gruppenerbes ist es, den Mitgliedern der Gruppe zu erlauben, die traditionellen Perspektiven zu erhalten in Anerkenntnis der Autonomie jeder Generation.10 Wie ich im nächsten Abschnitt erläutere, sind die Ansprüche der Saami auf Erhalt des Gruppenerbes eng mit dem Anspruch auf exklusive Nutzung ihres traditionellen Siedlungsgebiet verknüpft, während die Roma ihre entsprechenden Ansprüche nicht mit einem Anspruch auf Land verbinden. Ansprüche, die auf kollektiven Erfahrungen historischer Ungerechtigkeit beruhen, können die kollektive Identität der Gruppe der (indirekten) Opfer mit der Gruppe derer, denen die korrelierenden historischen Pflichten zugeschrieben werden, verwickeln und zwar in grundlegender Weise. Die Forderungen der Opfergruppe richten sich gewöhnlich auch gegen das kulturelle Erbe der Gruppe derer, die in historische Verantwortung genommen werden, und deren Verständnis der Vergangenheit. Die Gruppe der Täter historischen Unrechts, ihre Nachfahren und Repräsentanten werden herausgefordert: Sie sollen die Verantwortung für das vergangene Unrecht übernehmen. Ob sie diesen Herausforderungen werden entsprechen können, wird unter anderem davon abhängen, wie die Mitglieder der Gruppe ihre soziale Identität verstehen, sowie insbesondere davon, inwiefern der Wert dieser geteilten Identität Gegenstand der Kritik in der Öffentlichkeit sein kann. Häufig genug präsentiert sich die Gruppe, der historische Pflichten zugeschrieben werden, selbst als Opfer der umstrittenen Geschichte. Die Herausforderung, Verantwortung für das frühere Unrecht zu übernehmen, wird dann eine Umstruk-

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Saami

und Roma

als Erinnerungsgemeinschafte

η

turierung der kollektiven Erinnerung erfordern, zumindest mit Blick auf die in Frage gestellten Vergangenheiten. Offenbar wirft eine solche Interpretation der Bedeutung kollektiver Erfahrungen historischen Unrechts für gegenwärtige Gruppenkonflikte zahlreiche empirische Fragen auf, die einer eingehenden Beschäftigung durchaus wert sind. Hier sollen die Berechtigung von Ansprüchen aufgrund kollektiven Erbes und insbesondere die Gründe für die Zuschreibung von Pflichten aufgrund solchen Erbes untersucht werden. Ich werde untersuchen, welchen Wert Gruppenmitgliedschaft für Menschen hat, die einer Erinnerungsgemeinschaft angehören, und dann fragen, welche moralische Bedeutung und normative Implikationen kollektives Erbe haben.

2. Die Völker der Saami und Roma als

Erinnerungsgemeinschaften

Ansprüche aufgrund kollektiven Erbes erheben gegenwärtig lebende Saami und Roma, wie die Mitglieder vieler anderer transgenerationeller ethnischer und kultureller Gruppen. Das Selbstverständnis der Saami und auch der Roma reflektiert die historische Einzigartigkeit der besonderen Merkmale ihrer Kultur wie auch eine lange Geschichte erlittenen Unrechts. Die Saami sind das einzige europäische indigene Volk11 und leben auf dem Territorium von vier Staaten, nämlich Schweden, Norwegen, Finnland und Russland.12 Anders als die Saami sind die Roma kein indigenes Volk. Die Roma haben ihre Ursprungsregion in Nordindien vor etwa tausend Jahren verlassen. Heute leben sie weit zerstreut und sind in ganz Europa und darüber hinaus verbreitet und leben überall als Minderheit.13 Als ein indigenes Volk teilen die Saami eine Erinnerungsgemeinschaft, für welche die kulturelle Affinität mit dem Land und die historische Kontinuität aufgrund von Abstammung mit den vorherigen Bewohnern des Landes in der Region, in der sie leben, von größter Wichtigkeit ist.14 Die Saami verstehen sich als eine besondere ethnische Gruppe und wünschen, ihre Identität zu erhalten. Als Gruppe haben sie bestimmte objektive Merkmale, nämlich ihre eigene Sprache, geteilte Abstammung und eine geteilte materielle sowie geistige Kultur. Ihre traditionelle Lebensweise ist verschieden von der der Umgebungsbevölkerung in sozioökonomischen und soziokulturellen

Saami

und Roma

als

Erinnerungsgemeinschaften

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Hinsichten. Die Saami haben Erfahrung mit und sind bedroht von erheblicher Diskriminierung und Politiken, die ihre traditionellen Lebensweisen unterminieren. Im Ergebnis haben sich die Saami stets in einer ökonomisch und sozial untergeordneten Position befunden, nämlich als eine mchtdominierende Minderheit in den jeweiligen Nationalgesellschaften, in denen sie leben. Die Saami werden von der Umgebungsbevölkerung als indigen betrachtet und als solche in rechtlichen und administrativen Zusammenhängen behandelt. Zumindest im Vergleich zu anderen indigenen Völkern waren die Saami jüngst recht erfolgreich darin, ein gewisses Maß an interner Selbstbestimmung oder Autonomie zu erreichen. Sie haben in Finnland, Norwegen und Schweden gewählte Repräsentationsorgane einrichten können, die Saami Parlamente. Sie streben an, ein Repräsentationsorgan für alle Saami einzurichten, ein pan-Saami Parlament.15 Die Mehrheit der Roma Bevölkerung in Europa lebt in Zentralund Osteuropa und auf dem Balkan. Mit der Ausnahme Spaniens haben die Roma in Westeuropa nie einen bedeutenden Teil der Population ausgemacht. Sie gelten jedoch als eine signifikante Minderheit in den meisten Ländern Zentral- und Osteuropas.16 In Westeuropa haben die Roma und Sinti17 eine Form des Dienstleistungsnomadentums als eine Lebens- und Überlebensform entwickelt. In Zentral- und Osteuropa wurden die Roma häufig in den lokalen Arbeitsmarkt inkorporiert, was zur Aufgabe des Nomadentums und zu großen Roma-Gettos geführt hat.18 Die Roma beanspruchen weder eine sonderlich enge kulturelle Affinität zu einem Territorium noch eine historische Kontinuität aufgrund von Abstammung mit den vorherigen Bewohnern der Länder, in denen sie sich aufhalten. Mit Sicherheit erheben die Roma keine territorialen Ansprüche. Die Roma unterscheiden sich von anderen Minderheiten und nationalen Minderheiten dadurch, dass sie kein Heimadand oder einen „Mutterstaat" haben. Die Tatsache, dass es ihnen an einem „Romanestan" fehlt, hat häufig dazu geführt, dass die Roma vom Status, ein „Volk", eine „Nation" oder auch nur eine „Minderheit" zu sein, ausgeschlossen wurden und werden. Die Begriffe „Volk" und „Nation" sind eng mit dem des Heimatlands verbunden. Selbst der Begriff „Minderheit" ist so verstanden worden, dass er die Verknüpfung zu einem bestimmten Territorium oder

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Oer Wert

von

Gruppenmitgliedschaft

Mutterstaat erfordert.19 Erst vor kurzem haben eine Reihe europäischer Staaten die Roma als eine legitime Minderheit anerkannt.20 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Roma als eine kulturelle und ethnische Minderheit gelten können.21 Die Roma verstehen sich selbst als eine besondere ethnische und kulturelle Gruppe. Als Gruppe haben sie bestimmte objektive Merkmale. Sie teilen Abstammung und auch eine Kultur. Die Roma haben ihre eigene Sprache, eine besondere Organisationsstruktur, ein eigenes Rechtssystem, eine eigene Literatur, Musik und besondere Gebräuche 22 Das RomaVerständnis ihrer eigenen Identität ist in hohem Maße beeinflusst durch die historische Erfahrung schlimmster Formen von Ausbeutung, Diskriminierungspolitiken und erzwungener Assimilation und die fortdauernde Schutzlosigkeit gegen solche und andere Verletzungen ihrer Rechte. Die Roma waren Opfer eines von den Nationalsozialisten verübten rassistisch motivierten Genozids — was lange Zeit bestritten wurde23 mit dem Ergebnis, dass die meisten überlebenden Opfer wie auch die Nachfahren der Ermordeten von Kompensation und Restitution ausgeschlossen wurden.24 Dass die Roma sich in einer mchtdominierenden Position befinden, liegt auf der Hand. Bis vor kurzem waren die Roma nicht einmal als eine legitime Minderheit in den meisten Staaten anerkannt.25 Dass die Roma ihre Gruppenidentität durch Jahrhunderte der Verfolgung bewahrt haben,26 ist auch Beleg ihres Wunsches, ihre Identität zu erhalten.

3. Der Wert von

Gruppenmitgliedschaft

Bei allen Unterschieden ist ein gemeinsames Merkmal von Erinnerungsgemeinschaften und auch von den Saami und Roma, dass ihr Selbstverständnis die historische Einzigartigkeit der besonderen Merkmale ihrer Kultur reflektiert. Die Berechtigung von Ansprüchen aufgrund kollektiven Erbes und insbesondere die Berechtigung, heute lebenden Mitgliedern transgenerationeller Gruppen Pflichten aufgrund kollektiven Erbes zuzuschreiben, hängt, wie ich zeigen werde, von der Interpretation des Werts der Mitgliedschaft in historisch gewachsenen transgenerationellen Gemeinschaften ab. Sofern gemäß dem Selbstverständnis der Mitglieder der intrinsische Wert der Mit-

Oer

Wert

von

Gruppenmitgliedschaft

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gliedschaft in solchen Gruppen von den historisch einzigartigen Merkmalen der Gruppenkultur abhängt, sind die Mitglieder genötigt, sich auf die Geschichte ihres Gemeinwesens als Ganze zu beziehen, nämlich auf alle normativ relevanten Aspekte ihres kollektiven Erbes. Denn die besonderen historischen Merkmale, die den intrinsischen Wert ausmachen, lassen sich weder in ihrer Entstehung und Entwicklung noch in ihrer Wirkung von anderen Aspekten der Geschichte der Gruppe trennen. Entsprechend können die historischen Ansprüche der Mitglieder und die Begünstigungen, die sich dem kollektiven Erbe verdanken, nicht von deren historischen Pflichten und Belastungen aufgrund eben dieses Erbes getrennt werden. Gegen solche Ansprüche und die Zuschreibung dieser Pflichten kann eine ganze Reihe von Einwänden erhoben werden. An dieser Stelle seien zwei genannt. Erstens könnte eingewandt werden, alle Ansprüche und Pflichten seien alleine zukunftsorientiert zu begründen. Der Bezug auf vergangenes Unrecht als solches hätte dann keine rechtfertigende Bedeutung. Richtig verstanden sind, wie ich zeigen werde, die Pflichten aufgrund kollektiven Erbes sowohl zukunfts- als auch vergangenheitsorientiert begründet, also sowohl im Sinne der in Kapitel II vorgestellten Analyse zukunftsorientierter Pflichten als auch im Sinne der in Kapitel III vorgestellten Analyse vergangenheitsorientierter überlebender Pflichten begründet. Zugleich muss die Erfüllung derartiger Ansprüche und Pflichten mindestens vereinbar sein mit der Erfüllung der vorrangigen zukunftsorientierten generellen und universellen Ansprüche und Pflichten, also mit der Erfüllung der dringendsten Ansprüche von Menschen als Menschen. Zweitens könnte eingewandt werden, Menschen seien nur zu solchen Handlungen und Leistungen verpflichtet, auf die sie sich eigens willentlich verpflichtet haben. Eine solche voluntaristische Auffassung ist aber gemäß dem Selbstverständnis vieler ihrer Mitglieder schwerlich vereinbar mit den Gründen für den intrinsischen Wert der Mitgliedschaft in historisch gewachsenen Gemeinschaften. In einem ersten Schritt möchte ich die Auffassung begründen, dass der intrinsische Wert der Mitgliedschaft in Gruppen von deren einzigartigen historischen Merkmalen abhängen kann und dass der so verstandene Wert zwar Ansprüche der Mitglieder dieser Gruppen begründen kann, aber keine, die nicht wenigstens vereinbar mit den generellen und universellen legitimen Ansprüchen und Pflichten sind,

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Der Wert von

Gruppenmitgliedschaft

die für alle Menschen gleichermaßen gelten. In einem zweiten Schritt versuche ich den Nachweis, dass der so verstandene Wert der Mitgliedschaft in einer transgenerationellen Gruppe historische Ansprüche wie auch Pflichten nach sich zieht. Warum ist es für Menschen so wichtig, Mitglieder in Gruppen mit besonderen Merkmalen zu sein, etwa einer Gruppe mit einer langen Geschichte anzugehören, von deren Mitgliedern viele auf einem bestimmten Territorium zusammengelebt haben? Dem gemeinschaftlichen Leben bloß instrumenteilen Wert zuzuschreiben, kann die starken Gruppenloyalitäten nicht erklären, die Menschen als Mitglieder von Erinnerungsgemeinschaften motiviert. Vielmehr werden Mitglieder solcher Gemeinschaften behaupten, dass das Gut einer Gemeinschaft ein intrinsisch wertvolles Gut für ihre einzelnen Mitglieder ist und auch ein intrinsisch wertvolles kollektives Gut. Liberale Theoretiker schreiben intrinsischen (individuellen wie kollektiven) Wert Gesellschaften zu, die bestimmte generelle Qualitäten aufweisen, etwa toleranten oder gerechten Gesellschaften. Insofern ist es aus deren Sicht durchaus möglich, gemeinschaftlichem Leben als solchem intrinsischen Wert zuzuschreiben. Allerdings schreiben im Falle einer Erinnerungsgemeinschaft, wie der der Roma und Saami, die Mitglieder ihrer Mitgliedschaft aufgrund der besonderen Merkmale der Gruppe intrinsischen Wert zu. Um die besondere Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit für die Mitglieder von Erinnerungsgemeinschaften zu verstehen, gilt es die Gründe für die Zuschreibung solchen Werts zu analysieren und zu prüfen, ob solchem Wert eine plausible liberale Interpretation gegeben werden kann. Die gemeinte liberale Position ist gekennzeichnet durch die Merkmale des universelle Geltung beanspruchenden Wertindividualismus und ein für alle Handelnden gleichermaßen geltendes Kriterium richtigen Handelns. 27 Gegen diese liberale Position wird eingewandt, dass sie aus unakzeptablen Gründen auf Veränderung von Gruppenkulturen drängt,28 weil sie es nämlich nicht versteht, gewissen Merkmalen menschlichen Zusammenlebens positiven Wert zuzuschreiben; es handele sich dabei um gerade die Merkmale, die von vielen der Mitglieder der Gruppen für besonders wertvoll erachtet werden und konstitutiv sind für individuelle und kollektive Lebensweisen. Der Einwand lautet: Die liberale Position schreibt den Zugehörigkeiten, die für die Lebensweise der meisten, wenn nicht

Der Wert von

Gruppenmitgliedschaft

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aller Menschen konstitutiv sind, nur instrumentellen Wert zu. Auf diese Weise missversteht der Liberale aber vollständig die in diesen Beziehungen realisierten Werte, jedenfalls gemessen daran, wie sie von den Menschen, die an diesen Beziehungen teilhaben, verstanden werden. Insbesondere gilt dies auch für den wertenden Bezug der Mitglieder auf die jeweilige Geschichte ihrer transgenerationellen Gruppe und die Erwartungen ihrer zukünftigen Entwicklung. Die Begründung historischer Ansprüche und der Zuschreibung historischer Pflichten der Mitglieder transgenerationeller Gruppen hängen aber von der Analyse des Werts dieses Bezugs auf Vergangenheit und Zukunft ab. In der Tat ist Liberalen häufig unter anderem vorgeworfen worden, es sei ihnen unmöglich, eine plausible Interpretation der moralischen Bedeutung unseres besonderen Bezugs auf unsere Verpflichtungen aufgrund von persönlichen Beziehungen und Projekten, die wir verfolgen, wie auch der Zugehörigkeit zu (nationalen) Gemeinschaften zu geben.29 Der Vorwurf scheint in der Uberzeugung zu wurzeln, dass Menschen sich auf ihre besonderen Zugehörigkeiten berufen können und sich auf der Grundlage einer Bewertung dieser Zugehörigkeiten den von den Liberalen typischerweise geforderten Änderungen der Institutionen internationaler und nationaler Gesellschaften30 und anderer Gruppen wie auch Änderungen der Gruppenkulturen und Lebensweisen mit Grund widersetzen können. Zugespitzt formuliert vertreten die Gegner der Liberalen, die Loyalisten, wie ich sie nennen möchte, die Auffassung, dass die besonderen Zugehörigkeiten von Menschen ihnen Handlungsgründe geben, die größeres Gewicht haben als die Handlungsgründe, auf die sich die Liberalen berufen, wenn sie argumentieren, dass das liberale Kriterium richtigen Handelns Änderungen in den kommunalen Lebensweisen fordert.31 Liberale pflegen darauf zu antworten, indem sie ihren Gegnern vorwerfen, sie verteidigten einen status quo, der parochial oder nationalistisch ist und der einer moralischen Uberprüfung nicht standhält. Die liberale Position lässt sich meines Erachtens durch den Ausweis erheblich stärken, dass sie bestimmte Lebensweisen und die Bezüge, die Menschen zu ihnen entwickelt haben, nicht nur instrumenteil, sondern auch intrinsisch, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv, nicht nur aufgrund ihrer generellen, sondern auch aufgrund

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Der Wert von

Gruppenmitgliedschaft

ihrer einzigartigen, historischen Charakteristika für wertvoll erachten kann. Es stellt sich dann heraus, dass der Loyalist, um seinen Widerstand gegen liberale Vorschläge zur Änderung kommunaler Lebensweisen begründen zu können, das Folgende behaupten müsste:32 Nicht nur kann der Wert einer besonderen Gesellschaft oder kommunalen Lebensform nur unter Berufung auf die Merkmale verstanden werden, die sie alleine aufweist; sondern wir haben zweitens Handlungsgründe, die sich auf den so verstandenen Wert unserer kommunalen Lebensform gründen und die größeres Gewicht besitzen als die Handlungsgründe, welche die liberale Position als die dringendsten und für alle gleichermaßen gültig auszuweisen vorgibt, wenn den liberalen Handlungsgründen zu entsprechen erhebliche Änderungen der kommunalen Lebensweisen nach sich zöge. Meines Erachtens wäre es ein Missverständnis zu glauben, dass die Auseinandersetzung zwischen Loyalisten und Liberalen, wie ich sie hier verstehe, den Wert staatlicher Organisationen und den Wert betrifft, der Bürgern daraus erwächst, dass sie ihnen angehören. Beide Positionen können diese Werte für instrumentell halten, und sie sind nicht auf eine bestimmte rechtliche Struktur der internationalen Gesellschaft festgelegt. Im Besonderen sind Liberale nicht etwa auf eine Form der Weltregierung festgelegt.33 Spezifische rechtliche Formen des liberalen Kosmopolitismus sollten von der moralischen Position des Liberalen unterschieden werden.34 In der Tat haben wir gute Gründe anzunehmen, dass ein Weltstaat die minimalen Grundfunktionen nicht erfüllen könnte, von deren Erfüllung abhängt, dass wir Staaten einen gewissen Grad an Legitimität zubilligen.35 Die Auseinandersetzung zwischen den Liberalen und den Loyalisten betrifft also die Existenz einer Pluralität von politischen Grandeinheiten nicht.36 Es wäre deshalb ein Fehler, die Auseinandersetzung als eine aufzufassen, die primär die Frage betrifft, welche rechtliche Struktur wir für die internationale Gesellschaft anstreben sollten.37 Bei der Auseinandersetzung, wie ich sie verstehe, handelt es sich vielmehr um eine Auseinandersetzung über den Wert der Lebensweisen kultureller Gruppen, ob sie nun staatlich organisiert sind oder nicht, und der normativen Implikationen des Werts solcher Lebensweisen. Auch Mitglieder nicht staatlich organisierter Gruppen können historische Ansprüche erheben und es können ihnen entsprechende Pflichten zugeschrieben werden. Zu unterscheiden sind die Rechts-

Wert

von

Gruppenmitgliedschaft

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pflichten staatlich verfasster andauernder Gesellschaften und die moralischen Pflichten von Individuen aufgrund der von ihnen wertgeschätzten sozialen Identität als Mitglieder transgenerationeller Gruppen.38

4. Instrumenteller und intrinsischer Wert von

Gruppenmitgliedschaft

Liberale haben der Organisation von Menschen in kulturellen Gruppen und grundlegenden politischen Einheiten, deren Mitglieder besondere Lebensweisen realisieren, häufig instrumentellen Wert zugeschrieben. Das Argument kann ein indirekt-konsequentialistisches sein.39 Der Wert solcher Einheiten wird dann als eine Funktion ihres positiven Beitrags zur Realisierung der liberalen, also der im genannten Sinne liberal gedeuteten individualistischen Werte aufgefasst. Schreiben wir derartiger Organisadon von Menschen in kulturellen und politischen Einheiten nur instrumentellen Wert zu, dann wird man diese Einheiten neu organisieren wollen und die Lebensweisen ändern wollen, wenn dies die Realisierung der liberalen Werte beförderte. Zum Beispiel können Menschen ihre Gesellschaft einfach als eine Umwelt schätzen, in der sie ihre privaten Ziele verfolgen können. So verstanden bewerten Menschen ihre Gesellschaft alleine nach dem, was sie zur Realisierung ihrer privaten Unternehmungen beiträgt. Diese privaten Unternehmungen werden in keinem anderen Sinn als abhängig von der in Frage stehenden Gesellschaft aufgefasst. Insbesondere ist für diese Menschen, an ihrer Gesellschaft teilzuhaben, kein ihre Ziele konstituierendes Element; vielmehr dient solche Teilhabe einfach der Verfolgung ihrer privaten Ziele. Die Verfolgung privater Ziele ist jedoch für sich genommen nicht wertvoll. Unterstützt der Liberale ein indirekt-konsequentialistisches Argument, wird er die von einer solchen Gesellschaft gebotene Teilhabe am modus vivendi nur insofern für wertvoll erachten, als sie zur Realisierung der liberalen Werte beiträgt. Änderungen solcher Gesellschaften und der in ihnen realisierten kommunalen Lebensweisen sind angezeigt, wenn immer der Nachweis gelingt, dass die kommunale Lebensweise nach ihrer Änderung zur Realisierung der liberalen Werte besser beiträgt. Insbesondere dann, wenn gezeigt werden kann,

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Wert

von

Gruppenmitgliedschaft

dass eine Änderung den dringendsten liberalen Handlungsgründen entspricht, spricht wenig gegen die Änderung, wenn kommunalen Lebensweisen nur instrumenteller Wert zugeschrieben wird. Könnte zum Beispiel gezeigt werden, dass die dringendsten liberalen Handlungsgründe eine Redistribution der Mittel zur Verfolgung privater Ziele erforderlich macht, dann kann man sich einer solchen Redistribution nicht unter Hinweis darauf widersetzen, dass eine solche Änderung die Chancen minderte, seine eigenen privaten Ziele erfolgreich zu verfolgen. Allenfalls wäre zu zeigen, dass die Änderung für die Betroffenen zumutbar ist, was davon abhängen kann, wie sie durchgesetzt wird. Dem gemeinschaftlichen Leben bloß instrumentellen Wert zuzuschreiben, kann die Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit für Menschen, die Mitglieder von Erinnerungsgemeinschaften sind, nicht erklären. Vielmehr werden die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft behaupten, dass das in Frage stehende Gut ein intrinsisch wertvolles Gut ist. Liberale Theoretiker schreiben intrinsischen (individuellen wie kollektiven) Wert Gesellschaften zu, die bestimmte Quaktäten aufweisen, wie z.B. Toleranz oder Gerechtigkeit.40 Gibt es einen Dissens über den intrinsischen Wert von Erinnerungsgemeinschaften und der Handlungsgründe, die Menschen aufgrund ihrer Mitgliedschaft in solchen Gemeinschaften haben, dann ist dieser Dissens in den Gründen für die Zuschreibung von intrinsischem Wert an die jeweilige Gemeinschaft zu suchen. Menschen können ihre Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft als einen Zweck schätzen, weil ihnen unter, sagen wir, gerechten Institutionen zu leben als ein für sich genommen erstrebenswertes Ziel gilt. Man kann eine gerechte politische Gesellschaft für ein intrinsisches Gut für Personen als Individuen halten, weil in einer gerechten Gesellschaft zu leben zu den „grundlegendsten Zielen (zählt), mit Bezug auf welche die Bürger ausdrücken, wer sie wirklich sein möchten"41. Mit anderen Worten kann, in einer Gesellschaft von einer bestimmten Qualität zu leben, konstitutiv sein für das Wohlergehen von Individuen, die in dieser Gesellschaft leben. Wenn wir in einer Gesellschaft einer bestimmten Qualität zu leben intrinsischen Wert zuschreiben, dann schließt das nicht aus, dass wir dieser Qualität der Gesellschaft auch instrumentellen Wert zuschreiben. Wenn es intrinsisch wertvoll ist, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, so

Wert von Gruppe

nmitgliedschaft

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kann diese Qualität einer Gesellschaft unter modernen Bedingungen in hohem Maße ihrer Stabilität dienlich sein. Stabilität dient der Wahrung der persönlichen Sicherheit des einzelnen, etwa dem Schutz vor vorsätzlich zugefügtem Schaden. 42 Wenn wir als Mitglieder unsere Gesellschaft in diesem Sinn für intrinsisch wertvoll erachten, haben wir dann Grund, uns einer Veränderung zu widersetzen, wenn diese durch die dringendsten liberalen Handlungsgründe angezeigt sind? Insbesondere durchgreifende Veränderungen ihrer kommunalen Lebensweise können sich auf das auswirken, was konstitutiv für das Wohlergehen von Menschen ist, wenn sie Mitgliedschaft in ihrer Gemeinschaft an und für sich schätzen. Dann sind Menschen nicht einfach negativ betroffen, weil sie eine Minderung der Mittel erleiden, die für die Verfolgung ihrer privaten Ziele notwendig sind, sondern vielmehr in der Verfolgung dessen, was sie für ein individuelles und kollektives intrinsisches Gut halten. Deshalb könnten Mitglieder einer solchen Gesellschaft gute Gründe dafür haben, sich der Veränderung zu widersetzen. Wie gesagt erkennt der Liberale die in Frage stehenden intrinsischen Werte an. Jedoch interpretiert er sie auf liberale Weise. Liberale schreiben nicht einfach jeder Gesellschaft intrinsischen Wert zu, sondern nur Gesellschaften einer bestimmten Qualität, nämlich solchen Gesellschaften, die ihren Mitgliedern die Realisierung bestimmter Werte erlauben — zum Beispiel, in einer gerechten oder toleranten Gesellschaft zu leben. In einer solchen Gesellschaft zu leben ist erstens deshalb wertvoll, weil es den Interessen der einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft dient. Ihnen ist es möglich, ein für sie intrinsisch wertvolles Gut zu realisieren. In einer solchen Gesellschaft zu leben ist außerdem zweitens deshalb wertvoll, weil es den Interessen der Mitglieder der Gesellschaft zusammengenommen dient. Ihnen ist es möglich, das kollektive intrinsische Gut zu realisieren, nämlich indem sie die für die Einrichtung und den Erhalt einer Gesellschaft dieser Qualität angemessenen Handlungen in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander ausführen. Für unsere Einschätzung des Werts, in einer gerechten oder toleranten Gesellschaft zu leben, ist es nach liberaler Auffassung irrelevant, ob wir Mitglieder einer solchen Gesellschaft sind oder nicht. Unsere Einschätzung wird nicht variieren, je nachdem ob wir Mitglieder einer solchen Gesellschaft sind oder nicht. Überdies können die in

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Wert

von

Gruppenmitgliedscbaft

Frage stehenden Werte in mehr als einer Gesellschaft realisiert werden. Idealiter sollten sie in allen Gesellschaften realisiert werden. Auf diese Weise kann also der Liberale den intrinsischen Wert von Gesellschaften einer gewissen Qualität anerkennen. Zweitens wird der Liberale die Auswirkung von Veränderungen auf besondere Lebensweisen einer Gesellschaft bewerten wollen, indem er untersucht, welche Auswirkungen solche Änderungen für die Möglichkeit der Mitglieder der Gesellschaft haben, die in Frage stehenden intrinsischen Güter zu realisieren. Viele Veränderungen aber, einschließlich derer, die häufig für radikal gehalten werden, verringern die Chance nicht, die Werte, in einer gerechten oder toleranten Gesellschaft zu leben, zu realisieren. Nehmen wir an, die liberale Position ließe sich durch einen Ansatz konkretisieren, der auf die Fähigkeiten zu autonomer Lebensführung abstellt.43 Auf der Grundlage eines solchen Ansatzes könnte der Liberale argumentieren, dass die dringendsten liberalen Handlungsgründe darauf zielen, dass wir Menschen, die sich nicht selber helfen können, zuallererst mit den Fähigkeiten ausstatten, die dafür nötig sind, dass sie als Mitglieder ihrer Gesellschaften Projekte wählen und durchführen können. Um ihnen in diesem Sinn zu helfen, werden Menschen, die zu anderen Gesellschaften gehören, nicht nur einige ihrer materiellen Güter aufgeben müssen, sondern sie werden, so die Annahme, ihre kommunale Lebensweise ändern müssen, und das hat erhebliche Auswirkungen auf die Aussichten wenigstens einiger ihrer Mitglieder, mit den Projekten Erfolg zu haben, denen sie sich verschrieben haben. Aber selbst wenn diese Kosten für Individuen erheblich sind, wird der Liberale häufig behaupten können, dass, wenn die entsprechende Änderung erst einmal durchgesetzt ist, die Transition erst abgeschlossen ist, mehr Menschen in der Lage sein werden, an der Realisierung von Werten einer Gesellschaft mit bestimmten normativ ausgezeichneten Qualitäten, etwa Gerechtigkeit oder Toleranz, beteiligt zu sein. Menschen, die heute keine Chance haben, sich an der Realisierung solcher gesellschaftlichen Werte zu beteiligen, werden in einer Position sein, das nun tun zu können, während die, die ihnen geholfen haben, diese Fähigkeiten zu entwickeln, weiterhin in der Lage sein werden, die in Frage stehenden Güter zu realisieren, wenn auch unter anderen Bedingungen. Diese Überlegung legt den Schluss nahe, dass es, wenn die dringendsten

Wert von

Gruppenmitgliedschaft

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liberalen Handlungsgründe eine Änderung des kommunalen Lebens fordern, unwahrscheinlich ist, dass die Kosten für die davon Betroffenen selbst dann, wenn sie beträchtlich sind, die erwarteten Vorteile überwiegen werden. Genereller gesagt darf man vermuten: sollten Menschen eine von den stärksten liberalen Gründen unterstützte Politik ausführen, werden sie weiterhin, wenn auch unter veränderten Bedingungen, bestimmte normativ ausgezeichnete gesellschaftliche Werte realisieren können. Es ist durchaus plausibel, die intrinsischen Werte einer Gesellschaft innerhalb eines wertpluralistischen Verständnisses der liberalen Position gut zu heißen und zugleich die Position zu vertreten, dass die dringendsten und vorrangigen Handlungsgründe, die wir haben, darauf zielen, den schlimmsten menschlichen Entbehrungen entgegenzuwirken und sie zu vermeiden. 44 Was sind die besonderen Gründe, die erklären oder rechtfertigen können, dass Mitglieder einer Erinnerungsgemeinschaft der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe intrinsischen Wert zuschreiben? Die oben bereits angedeutete Interpretation legt nahe, dass Gruppenmitglieder der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft auf der Basis ihrer besonderen Merkmale intrinsischen Wert zuschreiben und dass der Wert, an dem so verstandenen Gut einer Gesellschaft teilzuhaben, ihnen Grund gibt, den negativen Konsequenzen des an früheren Mitgliedern der Gruppe verübten Unrechts entgegenzuwirken. Das Ziel ist, den Wert der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft in dem unter den gegebenen Bedingungen möglichen Maße wiederherzustellen und zu bewahren. Menschen können ihre Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft als einen Zweck schätzen aufgrund der einzigartigen Möglichkeiten, die diese Gemeinschaft ihnen bietet. Sie verstehen, dass die ihnen offenstehenden Optionen in hohem Maße von Praktiken abhängen, die in der Gesellschaft etabliert sind, deren Mitglieder sie sind. Das lässt sich anhand der Saami-Praxis, Rentiere zu halten, verdeutlichen. Diese Praxis ist ein Fokus ihrer geteilten Identität, obgleich die Saami zahlreiche traditionelle Lebensweisen entwickelt haben, um ihr Überleben zu sichern, und die meisten von ihnen ihren Lebensunterhalt heute auf nicht-traditionelle Weise verdienen: Zwar kann man es nicht für gegeben erachten, dass in Finnland, Norwegen und Schweden alle Rentierbesitzer auch Rentierhüter sind,

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Gruppenmitgliedschaft

dass alle Hüter auch Besitzer der Tiere sind, oder dass alle Hüter Saami sind ... Jedoch ist es für die Saami charakteristisch, ob sie Hüter sind oder nicht, dass sie das Rentier für einen wesentlichen Wächter ihrer Kultur, Sprache und ihrer Identität erachten ... Aktive Hüter genießen das freie Leben, das ihnen ihre Arbeit in einer der schönsten Regionen der Welt bereitet. Es ist ein schwieriges Leben mit häufigen Ortswechseln, physischen Risiken (gemäß Schwedischer Statistiken ist Rentiere zu hüten einer der gefährlichsten Berufe in Schweden) und langen Trennungen von der Familie ... (D)ie meisten Hüter haben gerade einmal soviel, wie sie unbedingt brauchen, wenn das Familieneinkommen durch andere Teilzeitjobs unterstützt wird. Jedoch bedeutet Rentiere zu hüten gerade das: ein Leben innerhalb der Saami Gemeinschaft zu leben, als ein Saami, und nicht einfach, einen Job zu haben. 45

Optionen wie die, ein Rentierhüter zu sein, sind, wenn man so möchte, Produkte der Kultur einer spezifischen Gesellschaft, und diese Kultur ist einzigartig. Sie hat sich unter bestimmten klimatischen und geographischen Bedingungen entwickelt. Genereller gesprochen können Güter, die auf einer öffentlichen Grundlage zugänglich sind — wie zum Beispiel Techniken des Landanbaus, aber ebenso Möglichkeiten der Ausbildung und Zugang zu den Künsten -, häufig nur unter Berücksichtigung der besonderen Geschichte einer Gesellschaft verstanden werden. Es wird hier also vorgeschlagen, dass Menschen ihre Gemeinschaft wegen ihrer besonderen Merkmale für intrinsisch wertvoll erachten, und überdies, dass eine Gesellschaft als eine Gesellschaft mit besonderen Merkmalen kollektiv wertvoll sein kann. Menschen verstehen dann, dass die Vielfalt der Optionen, die ihnen in ihrer Gesellschaft offen steht, entstanden ist und nur bewahrt werden kann durch das kollektive Handeln der Mitglieder dieser Gesellschaft. In dieser besonderen Gesellschaft zu leben ist dann ein kollektives Gut, für dessen Realisierung die Mitglieder der Gesellschaft wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Ihre Handlungen müssen dem Erhalt und der erfolgreichen Entwicklung einer Gesellschaft mit diesen Merkmalen angemessen sein. Wenn Menschen ihre Gruppenmitgliedschaft aufgrund der historisch einzigartigen Merkmale ihrer Gesellschaft für intrinsisch wertvoll erachten, dann können sie gute Gründe dafür haben, den Zustand dieser Gesellschaft in dem Maße, in dem das möglich ist, zu

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erhalten. Im besonderen können sie gute Gründe dafür haben, eine politische und ökonomische Ordnung einzurichten, unter welcher sie sich an der kollektiven Bemühung um den Erhalt und die Entwicklung ihrer Gruppenkultur beteiligen können und unter der es für sie wertvoll ist, sich mit Projekten zu befassen, die sie nur im Rahmen ihrer Kultur realisieren können. Die Zuschreibung von intrinsischem Wert zu gemeinschaftlichen Lebensformen aufgrund der besonderen Merkmale einer Gesellschaft ist aus Sicht liberaler politischer Philosophie nicht problematisch: Mitglied einer Gesellschaft zu sein kann intrinsisch wertvoll sein zum Teil wegen der besonderen Merkmale dieser Gesellschaft. In der Tat können wir anerkennen, dass Mitglied einer Gesellschaft zu sein für dich und für mich von intrinsischem Wert sein kann zum Teil wegen unserer Mitgliedschaft in dieser spezifischen Gesellschaft. Dass wir Mitglieder in grundlegenden politischen und kulturellen Einheiten sind, ist normalerweise nicht darauf zurückzuführen, dass wir zum Beispiel auf der Grundlage einer vergleichenden Bewertung des relativen Werts von Mitgliedschaft in solchen Gruppen entschieden haben, zu dieser oder jener gehören zu wollen. Vielmehr werden wir typischerweise diesen Gruppen angehören, weil wir in sie hineingeboren wurden. Gewöhnlich überlegen wir nicht erst, welcher der grundlegenden Einrichtungen angehören zu wollen wir Grund haben, und entwickeln dann die Talente, Fähigkeiten, Geschmäcker und so weiter, die für Mitglieder dieser Gesellschaft typisch sind und die es ihnen erlauben, wertvolle Projekte innerhalb der sozialen Rahmenordnung dieser Gesellschaft zu wählen und zu verfolgen. Unsere Mitgliedschaft ist auch gewöhnlich nicht darauf zurückzuführen, wie andere Menschen unsere Qualifikationen dafür beurteilen, Mitglieder in solch einer Gruppe zu werden. Vielmehr sind wir es einfach. Wir sind Mitglieder einer Gesellschaft, und da wir uns in dieser Gesellschaft befinden, sind wir bereits von all dem, was Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft bedeutet, beeinflusst worden. Kurz gesagt kann der Umstand, dass wir Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft sind, üblicherweise weder als unsere Leistung verstanden werden, noch ist sie auf eine Entscheidung unsererseits zurückführbar. Aber dieser Umstand untergräbt gewöhnlich nicht den Wert, Mitglied dieser Gesellschaft zu sein, für seine Mitglieder. Im Gegenteil, macht für viele Menschen der Umstand, dass

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dies Gruppen sind, in denen Mitglied zu werden eine Frage der Angehörigkeit und nicht der Leistung ist, diese Gruppen geeignet fur ihre Rolle als grundlegende Zentren der Identifikation. Die Identifikation ist sicherer und weniger in Gefahr, bedroht zu werden, wenn sie nicht von Leistung abhängt. Obgleich erbrachte Leistungen eine Rolle spielen fur den Sinn der eigenen Identität von Menschen, scheint auf der grundlegendsten Ebene unser Sinn unserer eigenen Identität von Kriterien der Angehörigkeit und nicht der Leistung abzuhängen. 46

In der Tat ist für viele Menschen ihre Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft von intrinsischem Wert wegen der Art und Weise, wie sie, ohne es zu wollen, Mitglieder dieser besonderen Gemeinschaft geworden sind, und sich auf der Grundlage dieser Genese auf sich selbst als Mitglieder dieser besonderen Gemeinschaft beziehen. Das bedeutet auch, dass für sie der intrinsische Wert, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, zum Teil von den einzigartigen Merkmalen der Gemeinschaft abhängt, in der sie Mitglieder sind. Allerdings kann eine Erklärung des intrinsischen Werts von Gruppenmitgliedschaft wegen der historisch einzigartigen Merkmale der Gruppe illiberal sein. Das lässt sich verdeutlichen, indem wir betrachten, wie der Schriftsteller Breyten Breytenbach sich auf sein Land Südafrika bezogen hat. Breytenbach wurde als Afrikaner in Südafrikas Capeprovinz geboren und wuchs dort auch auf. 1959, im Alter von zwanzig Jahren, verließ er das Land, um in Europa zu leben. Nachdem er eine Vietnamesin geheiratet hatte, war es ihm aufgrund der Apartheids-Gesetze zum Verbot von Mischehen verboten, Südafrika zu besuchen. Im Auftrag einer Widerstandsgruppe im Untergrund unternahm Breytenbach im Jahre 1975 einen heimlichen Besuch seines Heimadands, wurde festgenommen und zu neun Jahren Gefängnis wegen „Terrorismus" verurteilt.47 Sieben Jahre hat er im Gefängnis verbracht, zwei davon in Einzelhaft. Seit seiner Freilassung aus dem Gefängnis hat Breytenbach das Leben eines Nomaden gelebt. Nachdem im Jahre 1993 das Apartheidregime gestürzt war, wurde er gefragt, ob er jemals nach Südafrika zurückkehren wolle, um dort zu leben. Unter anderem antwortete er: Wir haben dort einen Ausdruck: Der Vogel singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Dort, wo du aufgewachsen bist, gibt es Klänge und Rhythmen, dort gibt es Töne, Gerüche und Orte, eine besondere Weise, die Welt zu sehen, dich und andere wahrzunehmen, die auf nonverbale

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Weise erlernt sind. Es ist vielleicht der einzige Ort, an dem ich mir erlauben könnte, blind zu sein, ohne dass ich deshalb verloren wäre. 48

Breytenbach erkennt also ohne weiteres an, dass für ihn der Wert, ein Mitglied der südafrikanischen Gesellschaft zu sein, zum Teil davon abhängt, wie er sich auf deren besondere Merkmale bezieht, nachdem er dort geboren wurde und aufgewachsen ist. Für die meisten Menschen mag es zutreffen, dass sie auch aus diesen Gründen der Mitgliedschaft in ihrer Gesellschaft intrinsischen Wert zumessen. Ist diese Interpretation aus liberaler Sicht akzeptabel, so fragt sich erneut, warum sie den Loyalisten nicht genügt. Der Loyalist könnte darauf insistieren wollen, dass der Gesellschaft intrinsischer Wert zugeschrieben wird allein wegen ihrer besonderen Merkmale. Eine Veränderung dieser Merkmale der Gesellschaft wird dann immer den intrinsischen Wert der Gesellschaft und den Wert der Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft verletzen, es sei denn, die Veränderung dieser Merkmale ist im Sinne von deren Fortentwicklung ihrerseits ein Merkmal, das die Identität der in Frage stehenden Gesellschaft konstituiert. Ist der Loyalist zudem der Auffassung, dass die so verstandenen intrinsisch wertvollen Merkmale der Gesellschaft die stärksten Handlungsgründe ausweisen, dass gegen den so verstandenen intrinsischen Wert der Gesellschaft nicht nur nicht verstoßen werden darf, sondern dass er zu befördern ist, was immer das für Nicht-Mitglieder bedeuten mag, dann wird er sich den Änderungen wider-setzen, die der Liberale aufgrund der durch seine Rahmentheorie ausgewiesenen dringlichsten und vorrangigen Handlungsgründe für geboten hält. Wie schon mehrfach betont, erkennt der Liberale zwar an, dass der intrinsische Wert, Mitglied in einer Gesellschaft zu sein, zum Teil davon abhängt, wie wir uns auf deren besonderen Merk-male beziehen; das gilt jedoch nicht unbedingt. Soll eine Gesellschaft intrinsischen Wert haben, wird sie vielmehr gewissen Minimalbedingungen genügen müssen. Diese Bedingungen handeln davon, wie Gruppenmitglieder und andere Menschen behandelt und wie die Interessen sowohl der Gruppenmitglieder wie anderer Menschen bei der Verfolgung der Ansprüche der Gruppe berücksichtigt werden.49 Die Position des Loyalisten ist unplausibel. Wäre Breytenbach als Junggeselle und junger Kunststudent in Paris der 1960er gefragt worden, ob er nach Südafrika zurückkehren wolle, um dort zu leben,

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und hätte er diese Frage dann genau so beantwortet, wie er sie tatsächlich 1993 beantwortet hat, hätte er bestenfalls eine unvollständige Antwort gegeben. Denn der Wert, Mitglied einer bestimmten Gesellschaft zu sein, hängt nicht alleine davon ab, wie wir uns in besonderer Weise auf deren einzigartigen Merkmale beziehen. Der Liberale kann eine Pluralität kultureller Gruppen und grundlegender politischer Einheiten mit ihren je eigenen besonderen Lebensweisen gutheißen, verlangt zugleich aber, dass Menschen, ob sie nun als Individuen oder als Repräsentanten der Gruppen handeln, den dringendsten liberalen Handlungsgründen genügen. Diese Handlungsgründe helfen zu spezifizieren, was der Liberale für minimale Bedingungen moralischer Akzeptabilität der Beziehungen innerhalb solcher Gruppen und von deren Außenbeziehungen hält. Wie immer diese Bedingungen ausbuchstabiert werden, das frühere Apartheidregime Südafrikas dürfte aus liberaler Sicht die offensichtlichsten und im höchsten Grade objektiven normativen Bedingungen interner Organisation und externer Beziehungen verletzt haben. Sollte es überhaupt wertvoll gewesen sein, der Gesellschaft angehört zu haben, dann war der Wert, der südafrikanischen Gesellschaft unter dem Apartheidregime anzugehören, für jeden erheblich gemindert. 50

5. Aspekte kollektiven öffentlichen Erbes Den historisch einzigartigen Merkmalen der Gruppenkultur kann der intrinsische Wert der Mitgliedschaft in historisch gewachsenen transgenerationellen Gruppen geschuldet sein. Diesem Selbstverständnis vieler Mitglieder transgenerationeller Gruppen kann, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, eine liberale Interpretation gegeben werden, wenn die Zuschreibung solchen Werts an die genannten Bedingungen geknüpft wird. Hier soll der relevante Bezug auf die Geschichte und Zukunft der Gruppe weiter untersucht werden. Die in Abschnitt 1 skizzierte soziologische Interpretation von Erinnerungsgemeinschaften legt nahe, dass für die Mitglieder die Geschichte der Gruppe relevant ist, sofern sie sie kollektiv erinnern und diese geteilte Erinnerung auf ein für die Gruppe verbindliches Erbe verweist. Eine Hauptfunktion solchen Erbes dürfte darin zu erkennen sein, dass es traditionelle Perspektiven aufrechterhält und mit den Ansprüchen jeder

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Generation auf autonome kollektive Entscheidungen vermittelt. Wie ist der verbindliche Charakter solchen Erbes zu verstehen, und wie können wir den vergangenheits- wie zukunftsorientierten Charakter solchen Erbes verstehen? Im Folgenden unterscheide ich zunächst zwischen vier Aspekten solchen Erbes: Güter, Übel, Verdienste und Verbrechen. Sofern es sich dabei um Aspekte eines kollektiven Erbes handelt, haben sie öffentlichen Charakter. Im Ergebnis charakterisiere ich das relevante Erbe transgenerationeller Gruppen als durch ererbte öffentliche Güter, Übel, Verdienste und Verbrechen konstituiert. (Siehe Anhang, Tabelle 5) Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass, wenn Mitglieder einer andauernden Gesellschaft den intrinsischen Wert der Mitgliedschaft in ihrer Gesellschaft an die historisch einzigartigen Merkmale binden, die Mitglieder sich der Geschichte in allen ihren normativ relevanten Aspekten stellen müssen. Die jeweiligen normativen Implikationen der unterschiedenen Aspekte kollektiven Erbes sind Gegenstand meiner Untersuchung in Kapitel V.2-4. Eine generelle Begründung dieser historischen Pflichten und Ansprüche stelle ich in Kapitel V.5, vor. Dem Selbstverständnis von Menschen, die ihre Mitgliedschaft in andauernden Gesellschaften im genannten Sinn für intrinsisch wertvoll halten, entspricht es, die diese Gesellschaften auszeichnende einzigartige Gruppenkultur als ein kollektives Gut zu begreifen, das sie als Mitglieder dieser Gesellschaft ererbt haben. Zur Interpretation eines solchen geteilten Selbstverständnisses habe ich mich bisher auf die Saami und Roma bezogen. Im Weiteren werde ich mich auch auf andere Gruppen und Gesellschaften beziehen, um die verschiedenen Aspekte der historisch gewachsenen Situation transgenerationeller Gesellschaften in den Blick nehmen zu können. Insofern diese Situation eine ist, die sich dem Handeln und Leiden der Vorfahren verdankt, 51 können wir folgende Aspekte des kollektiven Erbes der Mitglieder andauernder Gesellschaften unterscheiden. Sie haben öffentliche Güter und öffentliche Übel ererbt, ihre Vorfahren haben sich moralische Verdienste erworben, und sie sind mit den Konsequenzen der von oder an ihren Vorfahren als Mitglieder ihrer Gesellschaft verübten Verbrechen konfrontiert. Im Zusammenhang dieser Untersuchung interessiert, ob und inwiefern sich aufgrund des Handelns früherer Mitglieder besondere Pflichten für heute lebende Menschen

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als gegenwärtig lebende Mitglieder einer transgenerationellen oder andauernden Gesellschaft ergeben. Zunächst erläutere ich die genannten Aspekte der historischen Situation. Nach einer beschreibenden Interpretation verschiedener Aspekte kollektiven Erbes stelle ich Asymmetriethesen vor, die die normativ signifikanten Unterschiede von Typen kollektiven Erbes benennen und in Beziehung setzen. Im Weiteren geht es um die Erklärung der unterschiedenen normativen Implikationen dieser Typen kollektiven Erbes. Gegenwärtig lebende Menschen haben von früher lebenden Menschen Güter ererbt. Einige Güter wurden an uns alle übertragen, also an alle Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft oder an alle gegenwärtig lebenden Menschen. Wir alle ererben eine soziale Ordnung, eine kulturelle Tradition, Techniken der landwirtschaftlichen Nutzung und vieles mehr nicht als Erben von privaten Testamenten, sondern als Mitglieder einer transgenerationellen oder andauernden Gesellschaft. Gegenwärtig lebende Menschen können auch als einzelne Personen geerbt haben. Als rechtmäßige Erben bestimmter früher lebender Personen haben wir ein Recht auf das, was diese Personen uns hinterlassen wollten. Zugleich stehen die privaten Erben einer Person gegebenenfalls auch unter Pflichten der Restitution sowie Kompensation denen gegenüber, die durch diese Person Schaden erlitten haben. Dafür spricht zunächst, dass Erben moralisch gesprochen das Erbe nicht verdient haben, es ihnen vielmehr zufällt. Sofern es hinreichenden moralischen Grund gibt, das umstrittene Recht, privates Eigentum zu übertragen und zu ererben, anzuerkennen,52 können sich die Erben jedenfalls nicht beschweren, wenn dieses Erbe um den Teil reduziert wird, der für solche Restitution und Kompensation benötigt wird.53 Meine weiteren Überlegungen setzen voraus, dass kollektives Erbe, so es rechtfertigbar ist, analog zu privatem Erbe auch Pflichten nach sich ziehen kann. Gäbe es kein legitimes kollektives Erbe, sondern wären alle ererbten Ressourcen als Gemeineigentum zu behandeln, das unter allen Menschen gerecht aufzuteilen ist,54 dann stellte sich die Frage nicht, ob gegenwärtig lebende Mitglieder einer fortdauernden Gesellschaft aufgrund ihres kollektiven Erbes unter historischen Pflichten etwa der Restitution und Kompensation gegenüber anderen stehen können. Die Annahme, dass solche Pflichten gelten, ist für viele ein Grund, daran festzuhalten, dass kollektives Erbe zulässig sein kann.

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Gegenwärtig lebende Menschen finden aber auch öffentliche Übel vor, z.B. die Folgen der Klimaerwärmung, 55 eine verschandelte Berglandschaft oder ein instabiles politisches System. Ihnen erwachsen daraus Nachteile, die erheblich sein können. Das muss aber nicht die Absicht der Vorfahren gewesen sein. Womöglich konnten diese die Wirkungen ihrer Handlungen nicht kennen oder haben sie unverschuldet falsch eingeschätzt. Einige dieser Übel, wie z.B. das der Klimaerwärmung, wurden an uns alle weitergegeben, einfach weil wir Nachfahren dieser früher lebenden Personen sind, andere, z.B. ein instabiles politisches System, wurden an Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft weitergegeben. Ferner können Vorfahren sich durch öffentliches Handeln moralische Verdienste erworben haben. Diese Vorfahren haben Menschen über das hinaus, was sie ihnen schuldeten, also supererogatorisch,56 begünstigt. Das könnte zum Beispiel der Fall sein für die USA und deren Entscheidung, Nazideutschland den Krieg zu erklären und gegen die Achsenmächte Krieg zu führen — unterstellen wir, dass die USA wenigstens auch das Ziel verfolgten, andere als die eigenen Staatsbürger vor den Nationalsozialisten zu schützen,57 und sie dazu auch moralisch nicht verpflichtet waren. Insbesondere die Soldaten, die für diesen Zweck ihr Leben riskierten, hätten supererogatorisch gehandelt. In einigen Gesellschaften stellen gegenwärtig lebende Menschen fest, dass frühere Mitglieder ihrer andauernden Gesellschaft schlimme und schlimmste Verbrechen begangen haben.58 Opfer dieser Verbrechen können andere frühere Mitglieder ihrer Gesellschaft sein oder Nicht-Mitglieder. Die früheren Mitglieder der Gesellschaft schädigten diese Menschen, indem sie deren Rechte aufs Gröbste und Schlimmste verletzten. Zu denken ist insbesondere an die von den Nationalsozialisten verübten Verbrechen an den europäischen Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Mitgliedern der Opposition und des Widerstands und an den Menschen, deren Länder sie unrechtmäßig angriffen, überfielen, okkupierten und zerstörten. Zu denken ist auch an die zahlreichen diktatorischen Regime, die ihre Herrschaft mittels politischer Verfolgung und Terror aufrechterhalten haben. Als Mitglieder einer bestimmten transgenerationellen oder andauernden Gesellschaft können wir ein politisches Regime ererbt haben, z.B. eine Militärdiktatur. Das diktatorische Re-

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gime hat Menschenrechtsverletzungen in großem Umfang institutionalisiert oder eine kulturelle Tradition der systematischen Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe, Ethnizität etc. aufrechterhalten. Auch wenn das verbrecherische Regime abgelöst wurde, können sich gegenwärtig lebende Mitglieder der andauernden Gesellschaft mit der anhaltenden Wirkung des verbrecherischen Regimes konfrontiert finden. Hier sind verschiedene Typen angemessener Reaktion zu unterscheiden, wie ich sie in Kapitel V.4 und Kapitel VII diskutiere.

6. Oer öffentliche Charakter kollektiven Erbes Haben wir als Mitglieder fortbestehender Gesellschaften Güter oder Übel ererbt, haben sich unsere Vorfahren als Mitglieder einer solchen Gesellschaft moralische Verdienste erworben oder finden wir uns mit den Verbrechen unserer Vorfahren konfrontiert, die sie als frühere Mitglieder der fortbestehenden Gesellschaft verübt haben, dann haben diese Handlungen und Maßnahmen und ihre fortdauernden Wirkungen für die gegenwärtige Gesellschaft öffentlichen Charakter. Diese Behauptung sei hier erläutert. Der Begriff der öffentlichen Güter ist bekannt. 59 Vergleichend werde ich hier zunächst den Begriff des öffentlichen Verbrechens erläutern. Dann erörtere ich den gemeinten öffentlichen Charakter ererbter Verdienste und Übel. Vieles kann als öffentliches Gut gelten: Verfassungen, bürgerliche Freiheiten, Universitäten, Parks, Wasser, Techniken der Ressourcengewinnung und anderes mehr. Ich betrachte einen Ausschnitt der Güter, die zu den öffentlichen zählen können: Öffentliche Güter, wie ich sie hier verstehe, haben einen die sozialen Strukturen einer Gesellschaft durchdringenden Einfluss oder einen solchen Einfluss auf wichtige Teilbereiche der Gesellschaft; sie sind mit anderen Worten konstitutive Elemente der öffentlichen Ordnung einer Gesellschaft. Entsprechend verwende ich den Ausdruck öffentliche Verbrechen. Beim Vergleich öffentlicher Güter und öffentlicher Verbrechen berücksichtige ich drei Merkmale, von denen angenommen wird, dass sie öffentliche Güter zu definieren erlauben. 60

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Gemeinschaftliche Verfügung: 61 Steht ein öffentliches Gut einem Mitglied der Gruppe, für welche es ein öffentliches Gut ist, zur Verfügung, dann steht es auch jedem anderen Mitglied zur Verfugung, ohne dass dies dem ersten Mitglied Kosten verursacht. Nichtausschließbarkeit: 62 Genießt jemand das Gut, so kann kein anderes Mitglied der Gruppe, für welche es ein öffentliches Gut ist, vom Genuss ausgeschlossen werden, ohne dass dies erhebliche Kosten denen verursacht, die einen solchen Ausschluss verfolgen. Gemeinschaftlicher Genuss:63 Der Genuss des Gutes durch eine Person vermindert die Menge des Guts nicht, die zum Genuss durch andere Personen zur Verfügung steht. Zum Beispiel kann eine Gesellschaft allen Mitgliedern gleichen Zugang zu tertiärer oder höherer Ausbildung gewähren. Mit Blick auf das erste Merkmal ist festzuhalten, dass die Bereitstellung dieses Guts zwar Kosten verursacht und diese Kosten in der Tat erheblich sein können. Wenn das Gut aber zur Verfügung gestellt wird, dann für alle Mitglieder dieser Gruppe. Sollte dies der Fall sein, dann ergibt es keinen Sinn zu sagen, dass einem Mitglied der Gruppe besondere Kosten dadurch entstehen, dass auch anderen das Gut zur Verfügung gestellt wird. Letzteres ist vielmehr die Bedingung dafür, dass das Gut den einzelnen Mitgliedern zur Verfügung steht. Mit Blick auf das zweite Merkmal gilt, dass jedenfalls dann, wenn der gleiche Zugang zu tertiärer Ausbildung ein für die öffentliche Ordnung dieser Gesellschaft konstitutives Element ist, Mitglieder der Gesellschaft nur unter erheblichen Kosten vom Genuss dieses Guts ausgeschlossen werden können. 64 Andererseits unterliegt es der willentlichen Kontrolle der potentiell Begünstigten bis zu einem gewissen Grade, ob und inwiefern sie durch das öffentliche Gut begünstigt werden: Menschen können entscheiden, ob sie am öffentlichen Gut tertiärer Ausbildung teilhaben möchten, sofern sie die dafür nötigen Mindestqualifikationen erfüllen und ihr Charakter, ihre Interessen und Einstellungen ihnen die Teilhabe erlauben. Über letztere Faktoren haben sie allerdings nur beschränkte Kontrolle. Vergleichen wir mit einem solchen öffentlichen Gut den Zustand einer Gesellschaft, deren Ordnung durch ein öffentliches Verbrechen gekennzeichnet ist. Nehmen wir an, es handelt sich um eine diktatorische Ordnung, deren Polizeikräfte Menschenrechte in schwerwiegender Weise verletzen oder die doch Menschenrechtsverletzun-

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gen nicht-staatlicher Einheiten nicht unterbindet, sondern womöglich fördert. Solange jedenfalls ein öffentliches Verbrechen aufrechterhalten wird, weist es die genannten Merkmale öffentlicher Güter gerade nicht auf. Auch wenn häufig von keiner Person, die in einer solchen Gesellschaft lebt, gesagt werden kann, sie sei vor Schädigung sicher, so werden doch Menschen in der Regel auf unterschiedliche Weise und zu einem unterschiedlichen Grad dadurch geschädigt, dass sie unter einer Diktatur leben. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einer repressiven Diktatur Mitglieder der Gesellschaft zu Opfern werden, dürfte häufig mit Faktoren wie ihrer Rasse, ihrem Geschlecht, Charakter, ihren Interessen und Neigungen korrelieren. Während die Opfer keine, oder jedenfalls keine perfekte Kontrolle über diese Faktoren haben, haben die Unterdrücker direkte oder indirekte Kontrolle, wenn es darum geht, ihre Opfer auszuwählen. Zugleich ist der Terror dann am effektivsten, wenn die meisten Mitglieder der Gesellschaft nicht wissen können, wer das nächste Opfer sein wird. Scheinbar willkürliche Gewalt macht es möglich, mit dem Einsatz von nur beschränkter Macht zu kontrollieren, was andernfalls nicht kontrollierbar wäre. Indem sie in eine von Ignoranz und Konfusion geprägte Gruppe gezwungen werden, erfahren sich die meisten Mitglieder der Gesellschaft, die unter einem Terrorregime leiden, als potentielle Opfer, als ebenso wahrscheinliche nächste Opfer des Regimes wie jeder ihrer Nachbarn. Angesichts der beschränkten Ressourcen eines Terrorregimes ist es auch wahr, dass, wenn ein anderer zur Zielscheibe des Terrors wurde, es weniger wahrscheinlich ist, dass ich zur Zielscheibe werde.65 Dies unterminiert die Solidarität unter den potentiellen Opfern. Öffentliche Verbrechen, solange sie aktiv aufrechterhalten werden, unterscheiden sich also in bemerkenswerter Weise von öffentlichen Gütern. In einer Diktatur, die massive Menschenrechtsverletzungen unterstützt, ist die Gesellschaft häufig tief gespalten: Man findet eine große Zahl von Menschen, die terrorisiert wird und die Gefahr erlebt, zum Opfer zu werden, und man findet eine kleine Minderheit, die den Terror organisiert und die Verbrechen begeht. Ich beziehe mich auf dieses Verbrechen als ein öffentliches Verbrechen, weil es die sozialen Strukturen einer Gesellschaft durchdringt mit erheblich negativen Konsequenzen für wichtige Teilbereiche der Gesellschaft und viele Menschen.

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Das kann insbesondere auch der Fall sein, wenn Mitglieder einer Minderheit unter einem Regime leben, die wegen ihrer Rasse, Sprache, ethnischen Zugehörigkeit oder ihren Gebräuchen diskriminiert und verfolgt werden. Die Roma waren Opfer eines rassistischen Genozids unter den Nationalsozialisten, die nach konservativen Schätzungen zwischen 220 000 und 500 000 Roma ermordeten, das heißt, zwischen einem Viertel und der Hälfte aller, die im Vorkriegseuropa lebten.66 Erinnern wir aber auch die Verfolgung der Roma über die Jahrhunderte: Die Roma sind Opfer unzähliger diskriminierender Bestimmungen und staatlicher Politiken. Sie wurden in Rumänien seit 1350 und für fünfhundert Jahre versklavt. Häufig wurde ihnen verboten, sich in Westeuropa niederzulassen. In England wird unter der Herrschaft von Königin Elisabeth I für illegal erklärt, ein Roma zu sein (auf der Grundlage eines Erlasses, der bis 1783 nicht aufgehoben wurde). In den deutschen Ländern ist es um 1500 erlaubt, Roma straffrei zu töten. In Böhmen werden um die Wende zum achtzehnten Jahrhundert die staatlichen Grenzen mit toten, an Bäumen aufgehängten Roma gesäumt, vermutlich auch um Roma davor abzuschrecken, das Land zu betreten.67 Offenbar haben die meisten Opfer in diesen und ähnlichen Fällen keine Kontrolle darüber, dass sie als Mitglieder der Minderheit verfolgt werden und auf schlimmste Weise in ihren Rechten verletzt und geschädigt werden. Der Einfluss eines Terrorregimes auf die Gesellschaft kann nicht einfach dadurch unterbunden werden, dass das Regime als solches abgelöst wird. Vielmehr wird das vergangene öffentliche Verbrechen, wenn es nicht länger aufrechterhalten wird, mit großer Wahrscheinlichkeit einen erheblichen und bleibenden Einfluss auf die Gesellschaft haben. Zwei Aspekte sind hervorzuheben. Erstens hat das Unrecht Auswirkungen auf die Opfer und indirekten Opfer. Einige der normativen Implikationen habe ich bereits in Kapitel II und III erörtert.68 Zweitens dürften Unrechtstaten, die das öffentliche Verbrechen ausmachen, das konstitutives Element der Ordnung des nun abgelösten Regimes gewesen ist, ihre Wurzeln in einem Netz moralischer und kultureller Normen und Einstellungen haben.69 Deren jedenfalls indirekte und vermittelte Wirkung auch auf nachfolgende Generationen lässt sich durch einen Regimewechsel allein nicht abstellen.70 Ich werde mich auf den Einfluss früher einmal aufrechter-

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haltener öffentlicher Verbrechen auf Mitglieder andauernder Gesellschaften als ererbte öffentliche Verbrechen beziehen. Alle Mitglieder einer andauernden Gesellschaft, einschließlich der schuldlosen, sind mit der Geschichte der politischen Gemeinschaft oder Gesellschaft konfrontiert, der sie angehören. Es ist möglich, dass die Mitglieder einer andauernden Gesellschaft, die ein öffentliches Verbrechen ererben, zugleich Nutznießer dieser Verbrechen sind. Heutige Mitglieder der andauernden Gesellschaft können aufgrund des ererbten Verbrechens im Besitz von durch ihre Vorfahren illegitim erworbenen Gütern sein. Diese sind zu restituieren.71 Auch kann sich der Reichtum heute lebender Mitglieder der verbrecherischen Ausbeutung anderer durch die Vorfahren verdanken, was Kompensationspflichten nach sich zieht. Allerdings scheinen für viele Fälle gerade des schlimmsten historischen Unrechts Forderangen der Kompensation wegen illegitimer Bereicherung und Ausbeutung zwar gegenüber bestimmten Personen und Institutionen plausibel, wenn auch die Begründung solcher Forderungen heute äußerst schwierig ist,72 die Annahme aber, gegenwärtig lebende Mitglieder der andauernden Gesellschaft, die das Verbrechen ererbt hat, hätten als solche Vorteile, scheint wenig plausibel. Das ererbte Verbrechen der Diskriminierung und Verfolgung der Roma und Sinti ist hierfür nur ein Beispiel.73 Im Weiteren sehe ich von den Problemen illegitimer Bereicherang und Ausbeutung durch historisches Unrecht ab und untersuche, wie historische Pflichten gegenwärtig lebender Mitglieder andauernder Gesellschaften aufgrund ererbter kollektiver Verbrechen zu interpretieren und begründen sind, wenn sie aufgrund dieses Erbes keine illegitimen Vorteile genießen. Ererbte öffentliche Verbrechen, also die Konsequenzen früherer öffentlicher Verbrechen, sind in anderer Weise öffentlich als diese selbst. Alle Mitglieder der Gesellschaft sind von dem schlechten kollektiven Erbe negativ betroffen, ohne dass sie normalerweise in einem starken Maße Kontrolle darüber hätten, wie und in welchem Ausmaß sie durch dieses Erbe betroffen sind.74 Das gilt jedenfalls mit Blick auf einige der Konsequenzen früherer öffentlicher Verbrechen. Nach der Beschreibung zweier führender Roma Intellektuellen gilt dies etwa für die Konsequenzen der jahrhundertelangen Verfolgung und Diskriminierung der Roma für sowohl die Roma-Gemeinschaften als auch die Gesellschaften, in denen sie heute leben:

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Da sie als ein mehr oder weniger deviantes Segment der Gesellschaft wahrgenommen werden, sind sie hartnäckigem Vorurteil und Diskriminierung ausgesetzt. Diese tief eingewurzelten negativen Stereotypen haben dazu beigetragen, die verallgemeinerte Feindlichkeit der Gesellschaft ihnen gegenüber zu erhalten und zu rechtfertigen. Mangelnde Reziprozität und soziale Abweisung auf der einen und eine defensive Reaktion in der Form, an einer exklusiven und traditionellen Identität zu hängen, auf der anderen Seite, haben zu Absonderung und Marginalisierung der Roma-Gemeinschaft geführt. Ihre Mitglieder verbleiben in einer unterprivilegierten, untergeordneten und minderwertigen Position in der Gesellschaft, wie durch ihre demütigenden sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen belegt.75

Wenn es richtig ist, dass wir als Mitglieder andauernder Gesellschaften unter der Pflicht stehen können, wegen früherer öffentlicher Verbrechen, die im Namen unserer andauernden Gesellschaft begangen wurden, den Opfern und indirekten Opfern Kompensation zu leisten, dann sind die Konsequenzen des früheren öffentlichen Verbrechens eine Belastung für alle gegenwärtigen Mitglieder der andauernden Gesellschaft. Anders ist es im Falle ererbter öffentlicher Güter. Normalerweise haben wir gute Gründe, öffentliche Güter aufrecht zu erhalten. Der Umstand, dass wir öffentliche Güter ererbt haben, wie auch diese Güter selbst, gelten häufig als extrem wertvoll für uns, und solches Erbe kann auch für das Wohlbefinden zukünftiger Menschen wichtig sein. Ich beziehe mich auf den Einfluss öffentlicher Güter, die unsere Vorfahren etabliert und aufrechterhalten und dann an uns wie auch an weiter entfernt zukünftig lebende Menschen weitergereicht haben, als ererbte öffentliche Güter. Solange wir nicht entscheiden, sie aufzugeben oder zu ersetzen — und dafür kann es legitime Gründe geben -, 1 6 sondern an ihnen festhalten, behalten ererbte öffentliche Güter dieselben Merkmale, die sie hatten, als unsere Vorfahren sie zum ersten Mal etabliert und aufrechterhalten haben. Hierfür kann der Erhalt der Roma und Saami Kulturen Beispiel sein. Viele Saami schreiben ihrer Mitgliedschaft in den Saami-Gemeinschaften hohen intrinsischen Wert zu, und das stimmt entsprechend für die Roma. Viele Mitglieder beider Gruppen haben sich dafür eingesetzt — und nicht wenige unter hohen persönlichen Kosten dafür gekämpft - , die Bedingungen zu verbessern, unter denen Mitglieder ihrer Gruppe als Individuen und im Kollektiv die besonderen Werte ihrer Gruppe

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realisieren können. Trotz zahlreicher Verletzungen der materiellen Basis ihrer Kulturen, öffentlicher Missachtung ihrer Sprache und vieler Assimilierungsversuche haben die Saami ihre Gruppenkultur erhalten. Durch Jahrhunderte der Verfolgung haben die Roma ihre Gruppenidentität bewahrt. Auch der öffentliche Charakter ererbter Verdienste und Übel besteht darin, dass sie konstitutive Elemente der öffentlichen Ordnung einer Gesellschaft sind. Das hier hypothetisch unterstellte Verdienst der USA,77 andere als die eigenen Staatsbürger vor den Nazis geschützt zu haben, ist in diesem Sinn ein öffentliches. Die Entscheidung der USA, Krieg gegen Nazideutschland und seine Verbündeten zu führen, sowie die Kriegsmaßnahmen hatten und haben positive Auswirkungen auf die Menschen, die durch diese Maßnahmen geschützt wurden, und ihre Nachfahren. Sie waren mitentscheidend für die Zukunft von Gesellschaften und Staaten in West-, Zentral- und Osteuropa wie im asiatischen Raum.78 Die Außen- und Interventionspolitik der USA während des Zweiten Weltkriegs hatte einen erheblichen Einfluss auf die US-amerikanische Gesellschaft als Ganzes und auf wichtige Teilbereiche der öffentlichen Ordnung der USA.79 Während des Krieges waren die Kriegsmaßnahmen und -handlungen sowie ihre Konsequenzen konstitutive Elemente der öffentlichen Ordnung der US-amerikanischen Gesellschaft. Der Einfluss der USamerikanischen Interventionspolitik ist mit der Kapitulation Nazideutschlands nicht einfach zu Ende. Vielmehr bleibt die USamerikanische Interventionspolitik konstitutiv für die öffentliche Ordnung der USA.80 Ererbte öffentliche Verdienste können also als öffentlich in dem Sinn verstanden werden, wie wir auch ererbte öffentliche Güter und Verbrechen verstanden haben. Auch Übel können ererbt sein und öffentlichen Charakter haben. Übel unterscheiden sich von Verbrechen: Hier gibt es keine Opfer historischen Unrechts. Früher Lebende, die kausal verantwortlich sind für ein öffentliches Übel, das heute und zukünftig lebende Menschen schädigt, sind womöglich nicht moralisch zu kritisieren. Bei öffentlichen Übeln kann es sich um das Ergebnis vieler Handlungen handeln, die für sich genommen moralischen Vorwurf nicht verdienen. Öffentliche Übel sind typischerweise negativ analog zu öffentlichen Gütern. Wenn zum Beispiel die politische Verfassung einer Gesellschaft oder die Art und Weise, wie politische Probleme

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debattiert und Entscheidungen getroffen werden, häufig politische Krisen generieren und die Stabilität der Wirtschaftsordnung davon negativ betroffen ist, dann kann sich kein Mitglied der Gesellschaft dem negativen Einfluss des öffentlichen Übels entziehen, auch wenn das Ausmaß, in dem Mitglieder der Gesellschaft negativ betroffen sind, abhängig sein dürfte von ihren Interessen, Talenten und ihren Dispositionen. Für öffentliche Verbrechen ist es typisch, dass sie Ausdruck extremer Machtunterschiede innerhalb einer Gesellschaft sind, die tief gespalten ist. Das muss für öffentliche Übel nicht gelten.

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Anmerkungen

Anmerkungen 1 Siehe unten Kap.IV.4 und Kap. VI.8. 2 Siehe z.B. Barry 1991, S. 196-203. 3 Siehe z.B. Irwin-Zarecka 1994 und Lowenthal 1996. Siehe auch Ignatieff 1994 und Peters 2003. 4 Neben den Ansprüchen der Saami gibt es eine große Zahl anderer indigener Gruppen, die Ansprüche auf die autonome Kontrolle ihres Landes erheben, siehe z.B. Wiessner, S. 57-128, 93, 98, 116-20; Kingsbury 1998, S. 437-39. Und siehe N. 6 unten. 5 Das Vergessenmachenwollcn bzw. die Verbannung aus dem Gedächtnis hat lange Tradition und Maßnahmen dieser Art lassen sich schon für das alte Ägypten nachweisen. Römische Kaiser, die vom Senat posthum zum Staatsfeind erklärt wurden, verfielen der Aamnatio memonae (der Verbannung aus dem Gedächtnis). Zu deren wichtigsten Folgen zählten die Zerstörung der Bildnisse und Statuen des Kaisers sowie die Tilgung seines Names aus Inschriften und Münzen. Nero, Julian und Maximin wurden nach ihrem Tod durch einen senatorischen Strafprozess zum Landesfeind erklärt und fielen der Aamnatio memonae anheim. Auch durch Anordnung des neuen Kaisers konnte das Gedenken an seinen Vorgänger gelöscht werden. Dies traf Caligula, Domitian, Commodus und Geta. Siehe insbesondere Vittinghoff 1936. Geta wurde 212 im Auftrag seines Bruders Caracalla ermordet, der anschließend mehrere Tausend seiner Freunde und Anhänger umbringen ließ. Als dann allein herrschender Kaiser hat Caracalla seinen ermordeten Bruder mit einer damnatio memonae belegt. Die Konsequenzen sind auch heute noch gut sichtbar. Getas Name und Bildnis wurden weggemeißelt, z.B. aus einer Inschrift am Scverus-Bogen und noch auffälliger aus einem plastischen Bildnis am Argentarierbogen (beide in Rom). Siehe Coarelli 1975, S. 289-291; Kähler 1958 und 1960, Tafel 232, Erläuterungen, S. 334-36. Diese Beispiele und zahlreiche Portrait-Beispiele (Skulpturen, Relief- und Münzdarstcllungen) sind dokumentiert in Varner 2000. - Während die erwähnten Entfernungen auch heute noch auffallen, muss man in der Kirche Sant' Apollinare Nuovo (Ravenna) schon genauer hinschauen, um die nachträglichen Veränderungen des Mosaiks als solche zu erkennen. Nach der Eroberung der Stadt durch die kaiserlichen Truppen um 540 wurde auf den Mosaiken das Bildnis des zu diesem Zeitpunkt schon vierzehn Jahre toten früheren Ostgotenkönigs und dann kaiserlichen Regenten Theoderich getilgt und sein ursprünglich dargestelltes zahlreiches Gefolge durch eine Prozession von Märtyrern ersetzt. Theoderich hatte sich mit dem Kaiser politisch überworfen und stand zudem als prominenter Vertreter des Arianismus in religiösem Gegensatz zu den orthodoxen Byzantinern. Siehe Deichmann 1969, Bd. I, S. 171-200 (San Apollinare Nuovo), insbesondere S. 175 f. (der Bildschmuck der Theoderichzeit) und S. 199 f. (die Mosaiken der Agnellus-Zcit); ders. 1974, Bd. II, S. 125-187 (San Apollinare Nuovo), insbesondere S. 141-154 (untere

Anmerkungen

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Mosaiken); Grabar 1967, S. 148-153; und Kahler 1958 u. 1960, Tafel 280, Erläuterungen S. 415 f.. Häufig beansprucht Fotografie, die Wirklichkeit zu dokumentieren. Zugleich ist die Fälschung von Fotos vergleichsweise einfach. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Entfernung von Trotzki und Kamenew aus den Aufnahmen zweier Fotografen, die beide noch im Original erhalten sind: Trotzki sitzt am 5. Mai 1920 auf den Stufen eines Podiums vor dem Bolschoi Theater in Moskau, auf welchem Lenin eine Rede hält. In der Sowjetunion wurde jedoch ab 1927 nur eine Fassung verbreitet, in der Trotzki und Kamenew durch ITolzstufen ersetzt sind - Trotzki wurde am 14. November 1927 aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Siehe King 1997, S. 67-73, 160, 161, 168 (das Buch dokumentiert zahlreiche weitere Beispiele von Fotoretuschen und deren Adaptation in der Propaganda durch Kunst). Angcsichts des späteren Schicksals Trotzkis (1961 im Exil ermordet) und Kamenews (Selbstmord 1937) unter Stalin hat deren Entfernung auf diesen Bildern aus der Anfangsphasc der russischen Revolution eine besondere Bedeutung erlangt. Schere und Retuschepinscl sind heute längst überholt. Die modernen Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung ermöglichen als solche unerkennbare Bildmanipulationen und Fälschungen von Film- und Fernsehbildern. Siehe Doelkcr 1996, S. 29-35; und die Beiträge in Knieper 2003. Die Mittel des Vcrgessenmachenwollens und der Verbannung aus dem Gedächtnis sind vielfältig. Sie betreffen nicht allein Bildmaterial, sondern Texte, insbesondere auch Geschichtsbücher. Siehe Lowenthal 1985, Teil III; ders. 1996, S. 156-62 (mit Beispielen auch aus der Neuzeit und jüngster Zeit). Anders als die damnatio memoriae, die eine (posthume) Strafe des aus dem öffentlichen Gedächtnis Geächteten sein möchte, wurde eine Pflicht zum Vergessen häufig auch vertraglich festgelegt, um nicht zuletzt durch den Verzicht auf Strafverfolgung noch lebender Täter eine Befriedung zu bewirken und einen Neuanfang ohne Hass und Vergeltung zu ermöglichen. Hierzu siehe Quaritsch 1992. Zu den unterschiedlichen Motiven des Vcrgessenmachenwollens siehe auch Lowenthal 1996, S. 157 f. 6 Man denke an die Ansprüche der Palästinenser, Kurden, Tamilen und Somali. Insbesondere die palästinensischen Flüchtlinge in den Lagern beanspruchen ein Rückkehrrccht nach Palästina und das heutige Israel, siehe Marmor, 2004 und Meyer 2004. Für die Kurden siehe z.B. Black 1993, für die Tamilen z.B. Seifert 2000, und für die Somali siehe z.B. Schlee 2001. 7 Zu letzteren Forderungen siehe insbesondere Williams 1998, die sich auf u.a. die folgenden früheren Studien beziehen kann: Young 1990; Guinier 1994 und Philipps 1995. 8 Das gilt für die in N. 6 oben und N. 10 unten genannten Gruppen. 9 Siehe Lowenthal 1996, Kap. 8 und 9. 10 Siehe Kymlickas Diskussion des "ongoing, even growing, threat of secession within some of the most flourishing Western democracies, from Quebec to

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Anmerkungen

Scotland, Handera and Catalonia" und seine Analyse der Fälle Nordirlands und Quebecs in Kymlicka und Opalski 2001, S. 14 (Zitat), 51, 67. Für eine normative Analyse und Kritik des Anspruchs auf Land wegen "first occupancy", siehe Gans 2001. 11 Für eine Diskussion, was unter indigenen Völkern zu verstehen ist, siehe Wiessner 1999, S. 110-15; Kingsbury 1998, S. 446-57, insbesondere 453-56. Die Saami erfüllen alle Kriterien und Anzeichen für indigene Völker, die Kingsbury unterbreitet. Die Saami sind auch eindeutig als indigenes Volk nach der von Wiessner vorgeschlagenen Definition zu identifizieren: "Indigenous communities are thus best conceived of as peoples traditionally regarded, and self-defined, as descendants of the original inhabitants of lands with which they share a strong, often spiritual bond. These peoples arc, and desire to be, culturally, socially and/or economically distinct from the dominant groups in society, at the hands of which they have suffered, in past or present, a pervasive pattern of subjugation, marginalization, dispossession, exclusion and discrimination." (Ebd., S. 115) 12 Die Saami Bevölkerung insgesamt wird auf eine Größe von zwischen 70.000 und 100.000 geschätzt (40.000-60.000 in Norwegen, 15.000-20.000 in Schweden, ca. 6.500 in Finnland, ca. 2.000 in Russland). Siehe Henriksen 1999, S. 24. 13 Fur eine gute Einleitung zu den Roma siehe die Roma Zeitschrift Patrin http://www.geocities.com/Paris/5121/about.htm (14. April 2005), die auch auf Hancock 1987 (http://www.geocities.com/Paris/5121/pariahcontents.htm) (25. März 2005) verweist; Rajko Djuric, „Die Roma in Nachschlagewerken. Ein Vorschlag zur Korrektur", http://www.kathzigeunerseclsorge.de (14. April 2005); Crowe 1995; und Crowe und Kolsti 1991. 14 Für eine gute Einführung zu Saami Kultur und Geschichte siehe Beach 1994, S. 147-205. Für eine Einführung in die institutionellen Aspekte der Saami Politik siehe Flenriksen 1999. Spezifischere Informationen zu den Saami finden sich in Kap. V, 7 f.. 15 Siehe Kap. V, 7. 16 Heute leben ca. 8.5 Millionen Roma in Europa. Sic verteilen sich wie folgt: Albanien 100.000; Bulgarien 15.000; Bosnien (vor dem letzten Balkankrieg) 300.000; Bulgarien 800.000; Dänemark 5.000; Deutschland 130.000; Estland 3.000; Finnland 12.000; Frankreich 600.000; Griechenland 350.000; Großbritannien 120.000; Italien 100.000; Irland 28.000; Jugoslawien 450.000; Kroatien 35.000; Lettland 4.000; Litauen 5.000; Luxemburg 600; Mazedonien 350.000; Moldau 60.000; Niederlande 35.000; Norwegen 2.5000; Österreich 35.000; Polen 45.000; Portugal 40.000; Rumänien 2.500.000; Slowakei 400.000; Slowenien 15.000; Schweden 20.000; Schweiz 35.000; Spanien 800.000; Türkei 600.000; Tschechische Republik 300.000; Ukraine 60.000; Ungarn 600.000; Weißrussland 20.000; Zypern 2.000. Siehe Djuric (N. 13), Abschnitt ii; für Schätzungen der Größe der Roma Populationen außerhalb Europas siehe Weyrauch und Bell 1993, S. 340, Fn. 52.

Anmerkungen

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17 Sinti ist der Name der in Deutschland, Frankreich, Italien, Kroatien, Osterreich und Slowenien lebenden Roma. Von den Sinti wird angenommen, dass sie ursprünglich in einer bestimmten Gegend Indiens wohnhaft waren. Siehe Djuric, 1998, Abschnitt i. 18 Andrzej Mirga und Nicolae Gheorghe, http://www.per-usa.org/21st_c.htm (14. April 2005) (14. Aprü 2005), S. 5 f. 19 Für eine Analyse, wie die Roma ohne Heimatland und Mutterstaat sich nicht als Nation, Volk oder als eine Minderheit qualifizierten, siehe Bertram 1997, S. 9-13. Keinen Mutterstaat zu haben hat das Ansehen und den Rang der Roma unterminiert, und sie wurden auch nicht oder jedenfalls nicht in dem Maße wie andere Opfergruppen als Opfer eines Nazigenozids anerkannt. Siehe Fisher 1999, S. 526-38, insbesondere S. 528 f , 536 f. 20 Siehe Kap. V, N. 164-66 und Text. 21 Sehen wir ab von der Bedingung "being nationals of the State", sind die Roma als Minderheit gemäß der einflußreichen Definition Capotortis qualifiziert: "A group numerically inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant position, whose members—being nationals of the State— possess ethnic, religious, or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population, and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion, or language." Zitiert nach Wolfrum 1993, S. 160. 22 Siehe z.B. Weyrauch und Bell 1993 (zu Sprache, sozialer Organisation, Rechtssystem und Gebr äuehen der Roma); Crowe 1994, S. 162-69 (zu den Traditionen der Roma Musik und ihren Anfangen in Russland im frühen 19. Jh.). Und siehe auch die anderen in N. 13 oben zitierten Werke. 23 Werden heute bedeutende Unterschiede zwischen dem sogenannten Holocaust und dem Nazigenozid gegen die Roma behauptet, dann wird nicht notwendigerweise bestritten, dass die Roma Opfer eines rassistisch motivierten Nazigenozids waren. Siehe z.B. Yehuda Bauer (http://www.blaetteronline.de/artikel.php?pr=238 (14. April, 2005); Hancock 1996 diskutiert verschiedene Interpretationen des an den Roma verübten Genozids. Siehe auch die in unten N. 66 f. genannte Literatur. 24 Siehe z.B. Fisher 1999; Wippermann 1996, S. 112-24; und Margalit 1997; Zülch 1979. 25 Siehe Kap. V, N. 162, 164-67 und Text. 26 Siehe unten N. 66-67 und Text. 27 Für eine Erläuterung dieser Merkmale siehe Kap. VI.8. 28 Siehe Meyer 2000. 29 Es kann nicht überraschen, dass Kosmopoliten diese Fragen stets diskutiert haben. Im späten 18. Jh. wurden im deutschsprachigen Raum so verschiedene wie die folgenden Positionen mit Blick auf die Frage vertreten, ob kosmopolitische Überzeugungen und unsere besonderen Bezugnahmen und Zugehörigkeiten kompatibel sind: Erstens Patriotismus und Kosmopolitismus sind synonym; zweitens sie sind unvereinbar; und drittens sie lassen sich nur

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Anmerkungen

in Abhängigkeit von einander verstehen. Die erste Position war unter deutschen und italienischen Republikanern in ihrem Kampf um nationale Selbstbestimmung und die Vereinigung des Landes populär (siehe Coulmas 1990, S. 354-56, 372-75). Wieland 1825, S. 455 f. tritt für die zweite Position ein. Bouterwek 1794, S. 11, 19, 61, ein Student Immanuel Kants, vertritt die dritte genannte Position. Ich selbst vertrete ebenfalls eine in vieler Hinsicht qualifizierte Version dieser dritten Position. 30 Und nicht zuletzt der Gesellschaften der sog. 1. Welt. Siehe Meyer 2000 für Diskussion. 31 Ganz bewusst konstruiere ich hier die loyalistischc Position als der kosmopolitischen Position, wie ich sie oben charakterisiert haben, entgegengesetzt. Ich möchte nicht behaupten, dass ein Autor die Position, die ich den Loyalisten zuschreibe, tatsächlich verteidigt hat, aber die folgenden Autoren kommen einer Verteidigung der loyalistischen Position, wie ich sie hier verstehe, nahe: Oldenquist 1982; Cottingham 1986; Fletcher 1993. Für eine Analyse und Interpretation des Werts der Loyalität, die nichts gemein hat mit der hier kritisierten Position, siehe Kleinig 2002. 32 Alternativ könnte der Loyalist sich auf die Behauptung Williams 1981 berufen wollen, nach welcher "ground projects" (Grundprojektc, die für das Gelingen eines Lebens entscheidend sind) LIandlungsgründe ausweisen, die für die Person, deren Projekt es ist, Geltung haben und die jedenfalls in einigen Situationen Priorität gegenüber auch den stärksten neutralen Mandlungsgründen haben. Maclntyre 1983, 1984 hat den Vorschlag unterbreitet, man könne Williams Begriff der Grundprojekte zur Verteidigung dessen nutzen, was Shue 1980, S. 131 f. die Prioritätsthese genannt hat nämlich die These, grob gesagt, dass, wenn die Interessen von Menschen konfligicrcn, die Interessen der eigenen Landsleute Priorität genießen. Nach meinem Dafürhalten hält dieses Argument einer Prüfung nicht stand. 33 Die meisten Argumente für und gegen einen Wcltstaat finden sich schon bei Kant 1968a und 1968b, der untersucht hat, ob ein Weltstaat eine adäquate Antwort auf das Problem des Krieges wäre. Der sogenannte Clark-Sohn Plan ist der bekannteste der Vorschläge zur Einrichtung eines Weltstaats, die nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurden. Siehe Clark und Sohn 1954; siehe außerdem Suganami 1989 (systematisiert und diskutiert die in Anlehnung an einzelstaatliche Entsprechungen gemachten alternativen Vorschläge für die Restrukturierung internationaler Gesellschaft). 34 Außerdem könnte man zwischen rechtlichen und politischen Formen des Kosmopolitismus unterscheiden. Dies ist insbesondere auch für das Verständnis der Grundbegriffe der Staatlichkeit wichtig. Während Souveränität rechtlich verstanden keine Grade zulässt, ist politische Souveränität gerade so aufzufassen, nämlich im Sinne spezifischer Grade von Souveränität. Fur eine generelle Diskussion der Funktionen der Zuschreibung von Souveränität an politische Einheiten siehe Krasner 1988-89. Der

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rechtliche Begriff der Souveränität ist äußerst wichtig bei der Staatenbildung. Die Wiederbelebung der Idee der rechtlichen Souveränität nach dem Ende des Kalten Krieges in Mittel- und Osteuropa dient der Aufarbeitung von Problemen der Zerstörung der Staatenordnung nach dem Zweiten Weltkrieg und ist in manchen Hinsichten vergleichbar mit der Konjunktur des Werts rechtlicher Souveränität in der postkolonialen so genannten Dritten Welt. Wie die Erfahrungen letzterer Phase nachdrücklich belegen, impliziert „volle" rechtliche Souveränität zu haben keinesfalls schon, über politische Souveränität in einem relevanten Sinne zu verfügen. Siehe Jackson 1990. Siehe auch Simma 1977 (er argumentiert, dass die Einhaltung der Menschcnrechtc als eine Minimalbedingung der Legitimität politischen Handelns mit der rechtlichen Souveränität von Staaten vereinbar ist). 35 Dies ist auch die Bewertung Rawls 1999, S. 36: "[A] world government would be either an oppressive global despotism or a fragile empire torn by frequent civil wars as separate regions and cultures tried to win their political freedom and autonomy." Rawls 1999, S. 36; siehe auch ders. 2001, S. 13; ders. 1993, S. 41-82, 220-30, 54 f. und die Anm. 12, 222; Nagel 1991, S. 170, 174-78 hat starke Argumente zugunsten dieser Schlussfolgerung entwickelt; und er formuliert den entscheidenden Punkt mit Schärfe: "It would be close to the truth to say that if a legitimate world government were possible, it would not be necessary." (Ebd., 174 f.) Selbst wenn man die tyrannische Natur eines Weltstaats akzeptierte, könnte man die Auffassung vertreten, dass ein effektiver Weltstaat, i. e. eine globale Tyrannei dennoch die beste aller möglichen Alternativen ist, weil, sagen wir, die Etablicrung eines solchen Staats das einzig effektive Mittel ist, eine Umweltkatastrophe zu vermeiden oder den Krieg abzuschaffen. Dies zu vertreten bedeutete auch, das Projekt liberaler Politik gänzlich aufzugeben. Für eine solche Position im Sinne einer Antwort auf die erwartete globale ökologische Katastrophe siehe Bahro 1987, Teil lv, S. 325-42. 36 Die kosmopolitische Strategie für den Ausweis der Legitimität einer Pluralität von grundlegenden politischen Einheiten bestand traditioncllerwcisc aus zwei Schritten, nämlich, erstens, die Idee eines Weltstaats zurückzuweisen und zweitens, die Bedingungen anzugeben, unter denen ein plurales System von grundlegenden politischen Einheiten legitim sein kann. Zu den klassischen Texten, die dieses Argument — wenn auch in verschiedenen Fassungen — vortragen, gehören Bentham 1843; die Texte Immanuel Kants (siehe N. 33 oben). Mill 1867 eignet sich diese Strategie an; siehe Miller 1961, S. 504-10; anders Walzers Interpretation 1977, Kap. 6 der Position Mills. Zu den modernen Vertretern verschiedener Versionen dieser Strategie gehören Lichtenberg 1981, insbesondere S. 92 f.; Birnbacher 1988, S. 16-23, 173-96, und insbesondere 219 f.; Goodin 1988, insbesondere S. 679, 682, 685; Nathanson 1989, insbesondere S. 542; Gewirth 1988, insbesondere S. 291 f., 298-301; O'Neill 1991.

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Anmerkungen

lH'ür kritische Diskussionen dieser Strategie siehe Beitz 1991, S. 246-54; Kymlicka 1989; Miller 1988, S. 651-53; ders. 1989, S. 235-41; ders. 1995. Für eine Diskussion von Millers nicht-kosmopolitischer Position siehe Barry 1996; ders. 1999, S. 30 f., 50 f., 56-60; Gans 1997; Freeman 2000; Caney 2000, S. 135-44. 37 Wollten wir den politischen Impetus des Kosmopolitismus beschreiben, dann könnten wir zwischen zwei Typen unterscheiden wollen. Der erste richtct sich in erster Linie gegen illegitime Beschränkungen der Freiheit von Individuen. Das Motiv ist hier häufig, das Recht des Einzelnen zu verteidigen, sich der Politik seiner Gesellschaft und seiner Zeit entziehen zu dürfen. Ks handelt sich also gewissermaßen um ein individualistisches Motiv. Dem zweiten Typ geht es darum, die Art und Weise, wie politische Macht auf der Ebene der Wcltgesellschaft ausgeübt wird, zu reorganisieren. Das Motiv hier ist im engen Sinne politisch. Argumente, wie sie von den Sophisten vorgetragen wurden, können den ersten Typ exemplifizieren. Indem sie das klassische Ideal einer Gemeinschaft von freien und gleichen Menschen als Bürgern einer Polis verteidigen, treten sie dafür ein, die Gesetze einer Polis als von Menschen gemacht und nicht von den Göttern auferlegt zu verstehen. ,,[D]as Gesetz [nomos] wird lediglich zu einer Vereinbarung und, wie der Sophist Lykophron bemerkte, 'zwischen den Menschen ein Garant ihrer Rechte'". (Aristoteles 1991, Bd. 9, S. 64 (Buch iii, 9, 1280b 10). Die lokalen Despoten, so behaupten die Sophisten, können ihre unterdrückerischen Regime nicht als von den Göttern gewollt legitimieren. Vielmehr ist die Geltung der lediglich von Menschen anderen Menschen auferlegten Konventionen und Gesetze durch die Gesetze der Natur zu überprüfen, welche als Gesetze der Natur zurecht universelle Geltung beanspruchen können. Die politische Freiheit, für welche die Sophisten gewöhnlich eintraten, war eine Freiheit, die an die Polis gebunden war, das heißt die Freiheit ihrer Bürger. Siehe aber |äger 1936, S. 412-18 (führt den Nachweis, dass einige der Argumente der Sophisten schon an die Idee der Weltbürgerschaft und den damit einhergehenden Rechten appellieren). Zu griechischen Poeten und Denkern der vorklassischen Periode, die kosmopolitische Ideen unterstützt haben, siehe Harris 1927, S. 2f., 5. Der zweite Typ, durch den politischen Impetus charakterisiert, wird manchmal für essentiell für den Kosmopolitismus gehalten und bemüht sich um eine politische Reorganisation der Menschheit durch die Einrichtung von so etwas wie einer Weltrcgierung oder einem Weltstaat. Die Unternehmungen Alexanders des Großen haben diesen Typ zunächst exemplifiziert. Von Alexander könnte man sagen wollen, er habe versucht, die Vorteile des Lebens in einer idealisierten Polis zu globalisieren oder man könnte auch sagen, er sei der erste Imperialist gewesen, der vorgegeben habe, Idealist zu sein. Jedenfalls reflektieren seine Aktivitäten nicht einfach die kosmopolitische Idee, jeder habe Pflichten (und Rechte) gegenüber jedem anderen,

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gleich ob sie Mitglieder ein- und derselben Polls sind oder nicht. Vielmehr zielten die Bemühungen Alexanders darauf, die Menschheit durch die Einrichtung von so etwas wie einer Weltregierung zu reorganisieren. Ein solcher politischer Impetus charakterisiert jedoch die kosmopolitische Position nicht. Obgleich Kosmopoliten sich mit Nachdruck für die Abschaffung von Praktiken eingesetzt haben, die ganz offensichtlich mit ihren wertindividualistischen Uberzeugungen im Konflikt stehen — wie z.B. Sklaverei, Folter, der Todesstrafe und Krieg - können nur sehr wenige genannt werden, die sich für die Einrichtung einer Weltregierung eingesetzt hätten. Als die kosmopolitischen Ideen im 18. Jh. wicderentdeckt wurden, war es nur Baron Cloots, der so etwas wie die Einrichtung eines Weltstaats vorgeschlagen hat (siehe Coulmas 1990, S. 366, und 29-32 oben). Typischerweise sind Kosmopoliten bemüht gewesen, die universellen Pflichten von Menschen mit den speziellen, die sich der Mitgliedschaft in besonderen, historisch gewachsenen Gesellschaften und den individuellen Zugehörigkeiten verdanken, zu vermitteln. Wenn sie sich auch nicht für einen Weltstaat ausgesprochen haben, so setzen sich Kosmopoliten häufig für supranationale (staatsähnliche) Einrichtungen ein, weil diese für die Beförderung kosmopolitischer Ideale für notwendig gehalten werden. Konkurrierende kosmopolitische Erklärungen des Werts supranationaler Einrichtungen können unterschieden werden. Barry 1998, S. 153-56; Beitz 1994, S. 129, 135; O'Neill 1996, S. 172-74; und Pogge 1992, S. 52-55 sehen solche Einrichtungen insbesondere durch instrumenteile Gründe gestützt. Held 1995, S. 145-56 und Kap. 5, 6; und Linklater 1996, S. 294-96; ders. 1998, S. 7, 101 hingegen setzen sich für demokratische supranationale Einrichtungen ein, weil Menschen ein Recht darauf haben, ihr Leben selbst zu bestimmen und die Mächte, die sich auf ihr Leben auswirken, zu kontrollieren. 38 Hierzu siehe Kap. V, 5 f.. 39 Siehe z.B. Goodin 1988, S. 685. Für eine Charakterisierung dieses Argumenttyps siehe Raz 1986, S. 280 f. 40 Siehe ebd., S. 199-202; ders. 1989, S. 1225-29; Rawls 1993, S. 201-04. 41 Ebd., S. 202. 42 Siehe Kap. V, 3 (wo ich in einer Gesellschaft, die offen für die Zukunft ist, als ein öffentliches Gut analysiere). 43 Gemeint ist hier eine liberale Interpretation des sogenannten Fähigkeitenansatzes (im Englischen capability approaeli). Siehe Sen 1984; Raz 1994; Crocker 1998. 44 Ich möchte hier offen lassen, ob diesen I Iandlungsgründen zu folgen je mit sich bringt, die Möglichkeit aufzugeben, am Gut einer Gesellschaft einer bestimmten Qualität teilzuhaben. Eine verwandte Frage diskutiert Ackerman 1980, S. 93-95 mit Blick auf die liberalen Grenzen gerechter Immigration (Ackerman vertritt die Auffassung, alleine die Berufung auf den Wert sicherzustellen, in einer liberalen Gemeinschaft zu leben — in seinen Worten,

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Anmerkungen

"the ongoing process of liberal conversation itself' (95) sicherzustellen - , könne rechtfertigen, dass wir Immigration in unsere liberale Gemeinschaft einschränken, nämlich unter Bedingungen, unter denen eine Einwanderungspolitik der einzig gangbare Weg ist, bedürftigen Menschen zu helfen, die nicht Bürger eines liberalen Staats sind). 45 Beach 1988, S. 152 und 154. Wenn auch die Saami das Rentier für den Hüter ihrer Kultur halten, ist der Riss zwischen den Interessen, die sich auf die Renticrhaltung beziehen, und anderen Interessen "evident in Norwegian and Swedish Saami politics". Finnland hat die Renticrhaltung nicht den Saami als Beruf vorbehalten. Siehe Korsmo 1996, S. 166-78, 171 (dort das Zitat). 46 Margalit und Raz 1990, S. 117. Und siehe Margalit 1996, Kap. 8, S. 135-43. 47 Für eine Untersuchung des bewaffneten Kampfes gegen das Apartheidregime und des Terrorismus in Südafrika siehe Asmal, Asmal, und Roberts 1996, S. 41-44, 97-110,120-25. 48 New York Times Book Review, 28. November 1993, 3 (Interviewerin: Lynn Karpen). Zu Breytenbachs Verständnis der „Gemeinschaft des Verstehens" siehe ders. 1999, S. 212-15. Die biographischen Informationen sind der Besprechung des Buches Breytenbachs (Breytenbach 1993) durch William Finnegan entnommen (New York Times Book Review, 28. November 1993, 3) entnommen; siehe auch den biographischen Essay von Weschler 1998. 49 Für eine Spezifikation dieser Bedingungen siehe z.B. Kymlicka 1995, Kap. 3; ders. 2002, S. 27f.; und Follesdal 2000. Siehe auch N. 75 unten (zu illiberalen Aspekten der Roma Kultur). 50 Dem dürfte auch Breytenbach zustimmen. Siehe ders. 1986, insbesondere die im Teil "Blind Bird" versammelten Essays, z.B. "The Fettered Spirit" 1967 und "Vulture Culture" 1971. Den erstcren Text schließt Breytenbach mit den Worten, S. 43: "As long as we have Apartheid - and the mutual fear, distrust and hate this inspires - it will be impossible for South Africa, or any of its ethnic groups, to develop a living culture." 51 Wenn nicht anders angegeben oder aus dem Kontext ersichtlich verwende ich „Vorfahr" als Kürzel für „früher lebende Mitglieder der andauernden Gesellschaft oder einfach früher lebende Menschen". Das Verhältnis eines „Nachfahren" zu seinem „Vorfahr" meint in diesem Text also nicht notwendig genetische Abstammung des ersten vom zweiten. 52 Für eine Diskussion von F^igentumsrechten im Kontext von Kompensationsbemühungen für historisches Unrecht siehe z.B. Waldron 1992. 53 Siehe Miller 2004, Abschnitt 3. 54 Siehe z.B. Barry 1991, S. 196-203. 55 Siehe z.B. Gosserics 2004. 56 Deren Handeln wäre also supererogatorisch gewesen. Siehe Heyd 1982 und ders. 2004a. 57 Ob und inwiefern dies der Fall war bleibt umstritten. Siehe Power 2002 und Brian Urquharts Besprechung des Buches in der New York Review of Books (25. 4. 2002). Siehe auch die Diskussion der Frage, ob mehr zur Verhinderung

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der Transporte in die nationalsozialistischen Vernichtungslager hätte unternommen oder die Ermordungen in den Todeslagern mit militärischen Mitteln hätten unterbunden werden können und sollen: Gilbert 1982; Wyman 1984, S. 288-305; Levy 1996 (Levy argumentiert, die Bahntransporte (von Ungarn nach Auschwitz) hätten durch alliierte Bombardierung nicht unterbrochen werden können, die Gaskammern in Birkenau und Auschwitz hätten nur von der US-amerikanischen Air Force ab August 1944 und nur bei Inkaufnahme tausender Toter unter den dort gefangen Gehaltenen zerstört werden können, und letzteres sei der entscheidende Grund gewesen, weshalb so gut wie alle jüdischen wie nicht-jüdischen Vertreter, die die Frage erörtert haben, den liinsatz der Air Force nicht unterstützt haben, und niemand Präsident Roosevelt den entsprechenden Vorschlag unterbreitet hat; Levy weist ferner darauf hin, dass die Nationalsozialisten auch nach einer Zerstörung der Gaskammern die Massentötungen mit anderen und ähnlich effektiven Mitteln hätten fortsetzen können). 58 Mit dem Begriff „öffentliche Verbrechen" beziehe ich mich nicht auf den Begriff des radikalen Bösen, den Arendt 1967, S. 236 verwendet. Siehe auch Nino 1996, S. 135; Arendt 1986, S. 54, 56 f., 66, 248 f., 271. Für Analysen des Gebrauchs des Bösen durch Arendt siehe Bernstein 1996; Kohn 1996; May 1996. Öffentliche Güter und öffentliche Verbrechen, wie ich sie hier verstehe, haben einen sozial durchgreifenden Einfluss auf die Gesellschaft als Ganze oder auf wichtige Teile der Gesellschaft; sie sind konstitutive Elemente der öffentlichen Ordnung einer Gesellschaft. Wenn unsere Vorfahren schlimm fehlgegangen sind in z.B. Angelegenheiten der Organisation von Gesellschaft oder bestimmten Aspekten ihres gemeinschaftlichen Lebens, dann haben sie sich auch darin getäuscht, dass sie uns haben nutzen können, indem sie ihre soziale Ordnung an uns weitergcreicht haben. Wenn wir uns auf ein solches Erbe als ein öffentliches Verbrechen beziehen, dann nehmen wir auch an, dass alle moralisch kompetenten zukünftig lebenden Menschen zustimmen werden, das Urteil sei historisch gerecht, dass weder sie noch wir durch ein solches Erbe Vorteile haben. Heller 1993 bezieht sich auf dieses Urteil zukünftig lebender Menschen bei der Erklärung des Begriffs des Bösen. Ein solches Urteil exemplifiziert ein objektiv moralisches Urteil im Sinne der in Kap. VI.4 und 8 vorgestellten moderat skeptischen Position. Für die zahlreichen Weisen, in denen der Begriff des Bösen jüngst in der Diskussion um die Deutung historischer Ungerechtigkeit verwandt wurde, siehe Adams und Robert Adams 1990; Gaita 1991; Peterson 1992; Sterba 1996; Neiman 2002. 59 Siehe z.B. Raz 1988, S. 198-203 (Raz analysiert in einer toleranten Gesellschaft zu leben, als öffentliches Gut); Peters 1991, S. 80-89 (Peters analysiert die Bedeutung öffentlicher Güter für das sozialstaatliche Rechtsmodell).

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60 In der Diskusaion hat sich bislang keine Definition öffentlicher Güter durchgesetzt. Die hier genannten Merkmale öffentlicher Güter werden haüfig für definierend gehalten. Für weitere Merkmale siehe Cullity 1995. 61 Im Englischen zumeist: jointness of supply. In der Literatur hat sich keine einheitliche Bezeichnung dieses und der anderen im Text genannten Merkmale durchsetzen können. Hierzu siehe die bibliographischen Notizen in Cullity 1995, S. 33 f. 62 Im Englischen zumeist: nonexcludability. 63 Im Englischen zumeist: jointness in consumption. 64 Individuen können vom Genuss öffentlicher Güter ausgeschlossen werden, indem sie von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen werden, in der diese Güter realisiert werden. 65 Für eine eindrucksvolle Interpretation der Erfahrung, unter einem Terrorregime zu leben, siehe Malamud-Goti 1996, Kap. 1-3. 66 See Fisher 1999, S. 525 f.; Zimmermann 1996, Teile v-viii; Tyrnauer 1994; Milton 1995. Für eine höhere Schätzung siehe Hancock 1996, S. 49 f. 67 Siehe Hancock 1987, Kap. iii, vi, vii, viii, und xi; Weyrauch und Bell 1993, S. 341 f.; Wippcrmann 1992, S. 2 f. 68 Und siehe unten Kap. V, 2-4. 69 Siehe Adorno 1977; Habermas 1981; ders. 1987, 1987a, 1995, 1995a, 1995b und 1995c. 70 Zum Nationalsozialismus siehe N. 69 oben z.B. Pereis 1996 und Winkicr 2004. Zu Argentinien siehe Malamud-Goti 1996. 71 Siehe oben N. 3 und Text. 72 Für einige der theoretischen Schwierigkeiten siehe die Diskussion um Reparationsforderungen der African Americans in Kap. II, N. 70 und Text oben, und für die rechtlichen Schwierigkeiten insbesondere den Beitrag von Hylton 2004 zum "Symposium on Jurisprudence of Reparations". 73 Ein weiteres Beispiel ist die zwangsweise Entfernung der Kinder der australischen indigenen Bevölkerung. Siehe Report of the National Inquiry into the Separation of Aboriginal and Torres Strait Islander Children from Their Families, Bringing them Home (Mai 1997), http://www.austlii. cdu.au/au/special rsjproject/rsjlibrary/hreoc/stolen/ (14. April 2005) 74 Für einen frühen Versuch, die bleibende Wirkung der ererbten Nazi Vergangenheit auf all die Menschen, die sich in der Nähe der Verbrechen befunden haben, ob sie nun als Individuen für die Verbrechen moralisch verantwortlich sind oder nicht, psychologisch zu erkären, siehe Jung 1946. 75 Mirga und Gheorghe (N. 18 oben) S. 5. Vgl. die Analyse der Hindernisse einer Integration der Roma in Bertram 1996, S. 19 f. Bertram weist daraufhin, dass viele Politiken, die zur Verbesserung der Lage der Roma durchgeführt werden, scheitern, weil sie das tief sitzende Misstrauen auf Seiten der Roma nicht hinreichend berücksichtigen (ebd., S. 25). Dieses Misstrauen gegenüber Nicht-Roma ist eine Quelle der Roma Kultur und auch die Rechtfertigung gemäß dem Roma Rechtssystem dafür, dass Nicht-Roma belogen und

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bestohlen werden, und genereller dafür, dass die Roma im Konfliktfall den eigenen Regeln Priorität über die der Umgebungsgesellschaft geben. Die Nicht-Roma werden als unsauber (marine) und gleicher Berücksichtigung nicht wert erachtet. Dieser Aspekt der andauernden Wirkung des an den Roma verübten Unrechts ist für die Chance, die Roma in eine Gesellschaft, die rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet ist, zu integrieren, höchst problematisch. Zudem ist die Roma Bewertung von Frauen als unsauber und sind die diskriminierenden Implikationen dieser Bewertung für die Behandlung von Frauen als Mitglieder der Roma Gemeinschaften mit den Menschenrechten von Frauen unverträglich. Der extreme Roma Isolationismus kann dazu führen, dass ihren Kindern die Chance genommen wird, die Roma Gemeinschaft zu verlassen. Siehe Weyrauch und Bell 1993, S. 341, 345-52, 360-67, 369, 395; Reisman 1993, S. 414-17. F'ür eine Bewertung letzterer Aspekte der Roma Kultur aus liberaler Sicht siehe generell Green 1995, und mit Blick insbesondere des Rechts der (Roma) Kinder auf eine Erziehung und Ausbildung, die es ihnen ermöglicht, die ethnisch-kulturelle Gruppe ihrer Herkunft verlassen zu können, siehe Barry 2001, S. 239-45. Siehe Kap. V.3. Siehe oben N. 57. Statt vieler siehe die Darstellung von Patterson 1996, Kap. 5, 8, 10, 17, 20 und 24. Für den Einfluss des Kriegs auf die US-amcrikanischc Gesellschaft siehe Wynn 1992; Kennedy 1999, Kap. 21. Zum Einfluss auf die US-amerikanische Nachkriegsordnung siehe Kap. .V, 1.

V. Kollektives Erbe. Interpretation seiner normativen Implikationen 1. Abwegige und unzureichende

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Sind diese Typen von Handlungen der früheren Mitglieder der andauernden Gesellschaft — also die unter den Titeln öffentliche Güter, öffentliche Übel, öffentliche Verdienste und öffentliche Verbrechen beschriebenen Handlungen — moralisch relevant für gegenwärtig lebende Menschen, und wenn ja, in welchem Sinne und warum sind sie dies? Das kollektive Erbe kann die Mitglieder andauernder Gesellschaften begünstigen, aber auch belasten. Um letzteres geht es vornehmlich in diesem Kapitel, also um historische Pflichten. Deren Zuschreibung ist besonders problematisch. Jedenfalls sind, wie ich in einem ersten Schritt zeigen möchte, gängige Begründungen solcher Pflichten entweder unplausibel oder unzureichend. Als unplausibel erweist sich erstens die Annahme, Handlungen früher lebender Menschen könnten historische Pflichten gegenwärtig lebender Menschen begründen, weil letztere moralische Verantwortung oder Schuld für die Handlungen der früheren Mitglieder ihrer andauernden Gesellschaft tragen. Darüber hinaus ist es zweitens unplausibel anzunehmen, gegenwärtig lebende Mitglieder andauernder Gesellschaften könnten mitverantwortlich für das Handeln früher lebender Menschen sein, nämlich im Sinne kollektiver moralischer Verantwortung. Als unzureichend erweist sich, drittens, eine Interpretation, nach welcher das kollektive Erbe in erster Linie rechtliche Haftungsfragen nach sich zieht und nur indirekt moralische Pflichten. Gemäß dieser Interpretation können transgenerationelle politische Entitäten als solche für das ihnen zuschreibbare Handeln rechtlich haften. Mitglieder solcher Entitäten können moralisch dafür verantwortlich sein, dass diese Entitäten ihren Rechtspflichten genügen.

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Unzureichend ist schließlich viertens die Auffassung, dass die historischen moralischen Pflichten aufgrund kollektiven Erbes sich allein gründen in der andauernden Wirkung der früheren Handlungen, also alleine zukunftsorientiert zu begründen sind. Neben einer plausiblen Interpretation der Haftung von Staaten für historisches Unrecht, das in ihrem Namen verübt wurde, bedarf es vielmehr einer moralischen Begründung historischer Pflichten. Ich unterscheide zwei. Erstens können wir unter besonderen zukunftsorientierten Gerechtigkeitspflichten wegen ererbter kollektiver Verbrechen stehen. Die zweite Begründung bezieht sich auf die Verantwortung von Individuen für ihre soziale Identität als Mitglieder transgenerationeller staatlicher und staatsähnlicher Entitäten wie aber auch andauernder kultureller Gruppen, die eine staatliche Struktur nicht oder noch nicht ausgebildet haben. So verstanden sind historische Pflichten sowohl zukunfts- als auch vergangenheitsorientiert begründet. Bevor ich diese Begründungen historischer Pflichten aufgrund kollektiven Erbes im Abschnitt 5 vorstelle, erläutere ich in den Abschnitten 2 - 4 die normativen Implikationen der schon in Kapitel FV.5 unterschiedenen Aspekte kollektiven Erbes genauer. Die generelle Begründung erlaubt die Unterscheidung dieser substantiellen historischen Pflichten, z.B. der Dankbarkeit und des Respekts, und historischen Ansprüche, z.B. auf Kompensation oder symbolische Restitution, nämlich als abhängig von der besonderen Qualität des jeweiligen kollektiven Erbes. Erstens kann niemand moralische Schuld für die Handlungen früher lebender Personen haben: Offenbar können gegenwärtig lebende Menschen nicht kausal verantwortlich sein für das Handeln früher lebender Menschen, die nicht ihre Zeitgenossen gewesen sind.1 Sie finden sich vielmehr mit den Auswirkungen von deren Handeln konfrontiert. Auch können ihnen mit Blick auf das Handeln früher lebender Menschen keine moralisch vorwerfbaren Absichten zugeschrieben werden.2 Insofern hat der US-amerikanische Kongressabgeordnete Henry J. Hyde Recht: Er trägt keine persönliche Schuld für das an den Vorfahren der African Americans verübte Unrecht. In diesem Sinne kann er für die Verbrechen der Sklaverei nicht verantwortlich sein und auch nicht für die andauernde Wirkung dieses historischen Unrechts, mit dem er und seine Mitmenschen sich konfrontiert finden.3

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Zweitens können aus eben diesen Gründen heute lebende Menschen auch nicht an der moralischen Schuld für die Unrechtstaten früher lebender Menschen teilhaben. Dass moralische Schuld eine individuelle Angelegenheit ist, ist mit der Idee kollektiver Verantwortung und Schuld durchaus vereinbar. Von solcher Verantwortung und Schuld kann man sprechen, wenn jedes Mitglied einer sozialen Gruppe zum Unrecht beiträgt oder beigetragen hat und dies ihm jeweils zuzuschreiben oder vorwerfbar ist. Es gibt Fälle, in denen viele Personen die moralische Schuld für Unrecht tragen, insofern sie für die Schädigung oder Rechtsverletzung kausal mitverantwortlich sind, weil sie durch ihr jeweiliges Handeln zu dieser beigetragen haben, ihnen das Ergebnis ihrer Handlungen moralisch zuschreibbar oder ihr Handeln moralisch vorzuwerfen ist. Die Zuschreibung von Kollektivschuld so verstanden schließt eine beispielsweise rollenabhängige Differenzierung der jeweiligen individuellen Verantwortung nicht aus, wohl aber die Idee einer moralischen Schuld der Gruppe, die sich nicht, wie auch immer nach Anteilen differenziert, den Mitgliedern der Gruppe zuschreiben lässt.4 Mit Blick auf das Unrecht früher lebender Menschen gilt aber, auch wenn es früher lebenden Menschen im genannten Sinne kollektiv zuschreibbar ist, dass dieses Unrecht heute lebenden Menschen nicht moralisch zuschreibbar ist, auch wenn sie Mitglieder derselben transgenerationellen Gruppe sind. Sie können keinen Anteil an der moralischen Verantwortung für dieses Unrecht haben. Denn hierfür müsste wenigstens gelten, dass sie sich als Individuen zum Unrecht hätten verhalten können, nämlich als das Unrecht geplant und verübt wurde — und entsprechend für die von ihnen vorgefundenen gegenwärtigen Konsequenzen des kollektiven historischen Unrechts früher lebender Menschen. 5 Drittens kann zwar rechtliche Verantwortung schuldunabhängig zugeschrieben werden. Das gilt für die Gefährdungshaftung. Stellvertretend haften können Rechtspersonen zudem unabhängig ihres kausalen Beitrags für rechtswidrigen Schaden.6 Beide Formen rechtlicher Haftung eignen sich aber nicht als Modelle zum Verständnis der Verantwortung für historisches Unrecht. 7 Personen können im Sinne der Gefährdungshaftung für die Konsequenzen ihres Handelns rechtlich verantwortlich sein, auch wenn ihnen ihr Handeln moralisch keineswegs vorzuwerfen ist. Es mag gute präg-

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matische Gründe für die Zuschreibung solcher verschuldensunabhängiger Haftung geben.8 Aus gefährlichen Unternehmungen entstandener Schaden, der auch bei sorgfältigster Ausführung auftreten kann, ist gerecht zu regeln. Aber solche Haftung setzt wenigstens eine schwache kausale Mitverantwortung für den eingetretenen Schaden voraus. Ergibt sich aus dem Betrieb einer Eisenbahn oder eines Kraftfahrzeugs (oder der Haltung eines Hundes) ein Schaden, ist im Sinne der Gefährdungshaftung die Person rechtlich verantwortlich, die das Fahrzeug in Betrieb hat (oder der Hundehalter ist), und auch dann, wenn der Betreiber oder Halter den Schaden nicht im Besonderen durch sein Handeln herbeigeführt hat. Die hier haftbar gemachte Person hat sich trotz der ihr aus dem Betrieb zugeschriebenen Gefährdungshaftung für den Betrieb entschieden und trägt deshalb das Risiko für rechtswidrigen Schaden aus dem Betrieb. Für das Handeln früher lebender Menschen aber können heute lebende Menschen in keinem noch so schwachen Sinne kausal verantwortlich sein. Ihre Entscheidungen gehören offenbar nicht zu den Voraussetzungen für die Handlungen früher lebender Menschen. Vielmehr sind sie mit deren Handeln als historische Tatsache und den andauernden Konsequenzen dieses Handelns als Gegebenheit ihres Lebens konfrontiert. Die Verantwortung gegenwärtig lebender Menschen für historisches Unrecht lässt sich auch nicht im Sinne stellvertretender rechtlicher Haftung einer Rechtsperson, z.B. eines Unternehmens für das Handeln der Angestellten verstehen.9 Für die Zuschreibung solcher rechtlicher Haftung mag es gute Gründe geben, etwa wenn das Handeln der Angestellten im Dienste des Unternehmens Schäden nach sich ziehen kann, die so groß sind, dass der einzelne Angestellte den Geschädigten keine effektive Kompensation leisten könnte. Die Zuschreibung solcher rechtlicher Verantwortung an das Unternehmen setzt z.B. voraus, dass der Angestellte im Auftrag seiner Vorgesetzten oder als Bevollmächtigter des Unternehmens handelt, aber weder, dass der Angestellte so handelt, wie man es von ihm angesichts seines Auftrags oder der ihm zugeschriebenen Kompetenz hätte erwarten dürfen, noch, dass seine Vorgesetzten den Schaden hätten abwenden können. Dem Unternehmen wird also unter Umständen rechtliche Verantwortung für rechtswidrige Schädigung zugeschrieben, ohne dass es im üblichen Sinne kausal oder moralisch

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für diese verantwortlich wäre. Allerdings setzt diese Zuschreibung ein Rechtsverhältnis zwischen Unternehmen und Angestellten voraus oder doch eine normative Beziehung, wie sie zwischen den Generationen nicht besteht: Nachfahren können ihre Vorfahren weder beauftragen noch ihnen Handlungsvollmachten erteilen. Eine Interpretation der moralischen Verantwortung für das Handeln früher lebender Menschen muss zeigen können, dass gegenwärtig lebende Menschen unter moralischer Verantwortung wegen des Handelns früher lebender Menschen und dessen Auswirkungen stehen können, obgleich sie in keinem noch so schwachen Sinne kausal mitverantwortlich für deren Handeln sein können oder moralische Mitschuld für deren Handeln tragen. Wie ich im Abschnitt 5 erläutere, ist der Gegenstand ihrer Verantwortung nicht, was sie getan haben, sondern wer sie sind und sein wollen. Die so verstandene moralische Verantwortung gegenwärtig lebender Menschen ergibt sich aus deren Identifizierung mit der transgenerationellen Gruppe, zu deren Mitgliedern auch die zählen, die für das historische Unrecht und seine andauernde Wirkung schuldhaft Verantwortung tragen. Oder sie stehen wegen der andauernden Wirkung des historischen Unrechts als Mitglieder transgenerationeller Gesellschaften unter besonderen Gerechtigkeitspflichten. Andere Pflichten und insbesondere die der Restitution der moralischen Beziehungen zu den Opfern, können Menschen, die keine Schuld für das Unrecht tragen, nicht erfüllen, wie ich in Abschnitt 4 erläutere. Wenn wir die Verantwortung für historisches Unrecht transgenerationell existenten Rechtspersonen zuschreiben und die Auffassung vertreten, die Verantwortung ginge in der Haftung dieser Personen auf, dann stellt sich die Frage einer moralischen Verantwortung heute lebender Individuen nicht oder jedenfalls nicht direkt. Insbesondere Staaten können solche Rechtspersonen sein: Sie sind formal konstituiert, hierarchisch strukturiert, und können ihre transgenerationelle Identität als Rechtspersonen mit wechselndem Personal und einer sich ändernden Bürgerschaft bewahren. Ein Staat mit solcher Identität haftet als Rechtsperson für Handlungen, die von früher lebenden Menschen in seinem Namen ausgeführt wurden, wie ein Individuum für seine früheren Handlungen verantwortlich ist. Eine solche Auffassung historisch ererbter Pflichten ist aber wenigstens unzureichend. Erstens ist die Reichweite dieser Auffassung

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beschränkt auf historisches Unrecht, für das transgenerationell fortbestehende Rechtspersonen haftbar gemacht werden können. Historisches Unrecht kann aber auch von Mitgliedern nicht staatlich strukturierter Gruppen begangen werden, womöglich bei der Bemühung um die Etablierung eines Staates.10 Zweitens beziehen sich im Falle von Staaten die Gründe für die Zuschreibung solcher Haftung auf eine intergenerationelle Praxis, deren Wert vorausgesetzt werden muss. Für die Zuschreibung solcher Haftung spricht zunächst, dass die Existenz andauernder Gesellschaften, wie ich sie oben in Kapitel IV.2-4 beschrieben habe, und damit der Wert der Mitgliedschaft in ihnen auch davon abhängt, dass sie intergenerationelle Projekte verfolgen können, nämlich die in Kap. IV.6 beschriebenen zukunftsorientierten Projekte, deren normativen Implikationen ich in Kapitel V.3 weiter nachgehe. So diese Gesellschaften rechtlich verfasst sind, sie auch Rechtspersonen sind, in der Regel also Staaten, können sie diese Projekte mit Rechtsmitteln schützen wollen. Mit anderen Worten können die gegenwärtigen Mitglieder die Gesellschaft als solche und auf lange Zeit vertraglich verpflichten und damit auch später lebende Mitglieder dieser Gesellschaft an die Verträge binden wollen. Die Vertragspartner, also in der Regel andere Staaten, erwerben den Rechtsanspruch, dass der Vertrag eingehalten wird. Sollte eine Partei den Verpflichtungen aus dem Vertrag nicht oder nicht vollständig entsprechen, dann hat die andere Partei Anspruch auf Restitution und Kompensation. Es mag gute instrumentelle Gründe geben, die Fortführung zukunftsorientierter Projekte solcher Gesellschaften auch mit den Mitteln des Rechts transgenerationell zu sichern. Allerdings ist es schwierig, die Bedingungen der Legitimität solcher rechtlicher Bindung zukünftiger Generationen zu bestimmen. Die rechtliche Auslegung der Bedingungen, unter denen langfristige völkerrechtlich eingegangene Verpflichtungen von Staaten ungültig, aufzuheben oder zu suspendieren sind, ist vielschichtig.11 Moralisch berechtigt ist jedenfalls zum Beispiel die Frage, unter welchen Bedingungen ein Staat langfristige Schulden machen darf, und insbesondere, ob das Kreditprivileg von Staaten von deren demokratischer Legitimität abhängen sollte. Nach herrschender Rechtsauffassung muss nach einer Transition to Democracy die neue demokratische Regierung die Schulden, die unter dem

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illegitimen Vorgängerregime zur Bereicherung der diktatorischen Clique gemacht wurden, übernehmen. 12 Nur sofern die Praxis solcher intergenerationeller Bindung rechtfertigbar und wertvoll ist, gibt es, moralisch gesprochen, gute Gründe für die Erfüllung von Verpflichtungen, die früher lebende Mitglieder im Namen einer andauernden Gesellschaft eingegangen sind. Selbst wenn die gegenwärtig lebenden Mitglieder der Gesellschaft das dieser Praxis entsprechende Recht, zukünftig lebende Mitglieder zu binden, nicht ausüben, so kann ihnen dieses Recht doch nur zugeschrieben werden, insofern sie ihrerseits verpflichtet sind, den moralisch akzeptablen Gebrauch des Rechts durch frühere Mitglieder ihrer Gesellschaft zu honorieren und die daraus resultierenden Verpflichtungen zu erfüllen. Das Argument zugunsten der Haftung von Staaten für in ihrem Namen verübten Unrecht kann nun folgendermaßen verstanden werden: Die Qualifikation von rechtlich gefassten andauernden Gesellschaften, an der genannten intergenerationellen Praxis teilzuhaben, ist auch davon abhängig, dass sie den für den Erhalt dieser Praxis relevanten generellen Normen entsprechen. Mit Blick auf Staaten lassen sich diese im Sinne minimaler Bedingungen ihrer Legitimität deuten. 13 Deren Legitimität hängt davon ab, dass sie ihre Staatsaufgaben erfüllen, ohne dass Menschen, seien es die eigenen Bürgerinnen und Bürger oder andere, unrechtmäßigen Schaden erleiden. Als Rechtspersonen und mit Blick auf ihre Staatsaufgaben sind Staaten stellvertretend dafür verantwortlich, was in ihrem Namen getan oder unterlassen wird. 14 Deren Haftung kann sich dann auch auf im Namen der Gesellschaft verübtes Unrecht beziehen, das nicht als Verletzung von völkerrechtlichen Verträgen zu deuten ist, die der jeweilige Staat eingegangen ist. Anders als bei der Kolonisierung des nordamerikanischen Kontinents und Neuseelands 15 sind bei der Kolonisierung Australiens keine Verträge mit den Ureinwohnern geschlossen worden, weil man den Aborigines die Völkerrechtsfähigkeit absprach und ihre Gebiete als terra nullius betrachtete. 16 Diese fundamentale Missachtung der indigenen Bevölkerung, die nach heutigem Verständnis als staatsähnlich strukturierte Gruppe mit Völkerrechtsfähigkeit aufzufassen war, kann als Verletzung von Bedingungen legitimer Teilhabe Australiens an der beschriebenen intergenerationellen Praxis andauernder staatlich gefasster Gesellschaften aufge-

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fasst werden. Denn diese Praxis setzt unter anderem die wechselseitige Anerkennung der legitimen Mitglieder derselben voraus. 17 Die skizzierte Auffassung der Gründe für die Haftung von Staaten für historisches Unrecht beruht auf der in Kapitel IV.4 vorgestellten Interpretation des Werts staatlicher Strukturen andauernder Gesellschaften als bloß instrumenteil. Der instrumentelle Wert staatlicher Strukturen hängt vom Wert der andauernden Gesellschaft ab, die sie befördern und schützen helfen. Die Haftungspflichten des Staates für in seinem Namen verübtes historisches Unrecht reflektieren Bedingungen des Erhalts der zu schützenden intergenerationellen Praxis andauernder Gesellschaften. Die rechtliche Haftung des Staates als Rechtsperson mit transgenerationeller Identität ist eine mittelbare. Die Rechtfertigung solcher Haftung bezieht sich auf den Wert und die Identität der transgenerationellen andauernden Gesellschaft und deshalb nach liberalem Verständnis auf das Selbstverständnis gegenwärtig lebender Menschen als Mitglieder einer solchen Gruppe. In Kapitel IV.4, habe ich zwischen zwei Modellen der Identifizierung mit der für intrinsisch wertvoll gehaltenen Mitgliedschaft in einer Gesellschaft unterschieden. Erstens können die Mitglieder ihre andauernde Gesellschaft als geeigneten Ort der Realisierung genereller Werte verstehen und insbesondere des Werts der Gerechtigkeit. Zweitens können sie ihre Mitgliedschaft in der je eigenen andauernden Gesellschaft für intrinsisch wertvoll halten nicht zuletzt wegen deren besonderen historischen Qualitäten. Wie ich in den Abschnitten 5 und 6 erläutere, entsprechen den beiden Bezugnahmen Begründungen historischer Pflichten, die jeweils geeignet sind, die Bürgerpflicht auszuweisen, die staatlichen Einrichtungen bei der Erfüllung ihrer Haftungspflichten wegen historischen Unrechts zu unterstützen. Zugleich ergeben sich aus moralischer Verantwortung für die soziale Identität aufgrund von Mitgliedschaft in andauernden Gesellschaften noch andere historische Pflichten, die sich auf die Qualität der Handlungen ihrer Vorfahren beziehen. Viertens geht die normative Signifikanz öffentlichen Erbes auch nicht auf in den Konsequenzen solchen Erbes für gegenwärtig und zukünftig lebende Menschen. Ein erster Vergleich der normativen Bedeutung ererbter öffentlicher Verbrechen und Verdienste kann dies verdeutlichen.

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Die Auswirkungen eines früheren öffentlichen Verdienstes können sehr erheblich sein. Sie können konstitutiv für die gegenwärtige öffentliche Ordnung sein. Dann sprechen wir von einem ererbten öffentlichen Verdienst. Unterstellen wir, dass die Intervention der USA im Zweiten Weltkrieg ein solches Verdienst ist.18 Auch oder gerade nach Beendigung der Kriegshandlungen waren die Auswirkungen auf die US-amerikanische Gesellschaft vielfältig und stark. Hier seien nur einige dieser Konsequenzen genannt. Insgesamt dienten 16,4 Millionen US-Amerikaner als Soldaten, 405 399 wurden getötet, 670 849 erlitten nicht-tödliche Verletzungen. Im August 1945 waren noch fast zwei Drittel aller US-amerikanischer Männer im Alter von 18 bis 34 Jahren in Diensten der US-Armee, nämlich 12,1 Millionen.19 Auch in den USA änderte der Zweite Weltkrieg das Leben von Millionen von Frauen. Die doppelte Belastung, sowohl — und häufig alleinverantwortlich — für die Kinder zu sorgen und berufstätig zu sein, wird während des Kriegs zur Norm auch für Frauen aus den Mittelschichten. Frauen sind während des Kriegs in anderen als typischen Frauenberufen tätig, die häufig auch besser bezahlt sind. Dieser Trend setzt sich nach 1945 fort.20 Viele aus dem Krieg zurückkehrende Soldaten hatten Schwierigkeiten, sich in der Nachkriegsgesellschaft neu zu integrieren. Im besonderen Maße hat der Krieg auch das Leben vieler Amerikaner schwarzafrikanischer Herkunft verändert. Überproportional viele von ihnen dienten als Soldaten.21 Die Forderung nach ihrer Gleichstellung mit Soldaten weißer Hautfarbe in der US-Armee war deutlich hörbar, führte zu einer Lockerung der Rassentrennung und dem Einsatz von African Americans in Kampfeinheiten — Maßnahmen, die als notwendig für die erfolgreiche Kriegsführung gerechtfertigt wurden.22 Der Krieg brachte auch erhebliche Veränderungen für African Americans in den USA. Während im Süden Anfang der 1940er die Baumwollproduktion zunehmend mechanisiert wurde, hatte die vornehmlich im Norden angesiedelte Kriegsindustrie der USA einen hohen Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften. Während der 40er migrierten etwa 1 Million African Americans aus dem Süden in den Norden. In den 50ern folgten weitere 1,5 Millionen 23 So stieg die Zahl der African Americans in Chicago zwischen 1940 und 1950 um 80.5%. Dort, in New York und anderen Großstädten der USA kommt es erstmals — dank öffentlicher Wohnungsbauprogramme, die die Rassentrennung aufrecht-

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erhalten sollen — zur Bildung von Gettos. Im Falle etwa von New Yorks Harlem und Chicagos South Side sind dies jedenfalls für einige Jahre kulturell sowie politisch einflussreiche African American Communities, deren Lebensbedingungen sich positiv abheben von denen der African Americans im Süden der USA. Zugleich kommt es zur Bildung der Vorstädte, die auch heute noch das Bild vieler Städte in den USA prägen. Dorthin zieht fast ausschließlich und zunehmend die weiße Stadtbevölkerung.24 Zu den anhaltenden Wirkungen der Intervention der USA im Zweiten Weltkrieg zählt aber nicht zuletzt ihre gänzlich veränderte weltpolitische Rolle nach dem Krieg: einzige westliche und lange Zeit unumstritten ökonomisch, technologisch und militärisch25 führende Supermacht. Schon 1947 lässt sich in den USA eine breite öffentliche Akzeptanz für ein von der politischen Führung für notwendig erachtetes und gewolltes, weltweites USamerikanisches außenpolitisches Engagement erkennen.26 Jedenfalls sind die anhaltenden Wirkungen des öffentlichen Verdienstes der USA, zugunsten anderer militärisch interveniert zu haben, konstitutiv für die öffentliche Nachkriegsordnung der USA gewesen. Trotzdem ist dieses ererbte öffentliche Verdienst, andere vor den Nazis geschützt zu haben, für heute lebende US-Amerikaner nicht in dem Sinn moralisch relevant, in dem das ererbte öffentliche Verbrechen der Shoa für heute lebende Deutsche moralisch relevant ist. Warum ist das nicht der Fall? Ist der Grund in der Stärke oder dem Umfang der Konsequenzen zu finden — wenn wir einmal unterstellen, diese ließen sich für solche öffentlichen Maßnahmen vergleichend messen?27 Wohl kaum. Die genannten Auswirkungen prägen die Situation, in der sich die Nachfahren der USamerikanischen Kriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs befinden. Wie andere Einflüsse wirken sie sich unter anderem auch auf die Bedingungen aus, unter denen heute lebende US-Amerikaner ihre Gerechtigkeitspflichten erfüllen. Zum Beispiel war den in den Norden gezogenen African Americans anderes geschuldet als wären sie im Süden der USA geblieben, und auch für ihre Nachfahren gilt, dass ihre Gerechtigkeitsansprüche von ihren besonderen Lebensumständen abhängen. Womöglich sind die kausalen Wirkungen der genannten US-amerikanischen Kriegsintervention weniger relevant als die Wirkungen der Naziverbrechen für das, was Gerechtigkeit in den USA und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg fordert. Darauf

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allein kommt es nicht an. Für die Begründung überlebender Pflichten (Kap. III) kommt es nicht allein auf die Stärke der Wirkung des früheren Verdienstes und der früheren Verbrechen an. Sollten die Konsequenzen des öffentlichen Verdienstes „Schutz vor den Nazis" für die generellen Gerechtigkeitspflichten heute lebender USAmerikaner weniger relevant sein als die Konsequenzen des öffentlichen Verbrechens der Shoa für die Gerechtigkeitspflichten der Deutschen heute, dann könnte dies die Unterschiede in den normativen Implikationen für die gegenwärtig lebenden Mitglieder andauernder Gesellschaften nicht oder doch nicht vollständig erklären. Es Regt nahe, eine Erklärung der vermuteten unterschiedlichen Relevanz in der unterschiedlichen Qualität der Handlungen (und ihrer Konsequenzen) zu suchen: Pflichten aufgrund ererbter öffentlicher Verbrechen unterscheiden sich von Pflichten aufgrund ererbter öffentlicher Verdienste, weil die ihnen zugrunde liegenden historischen Handlungen früher lebender Menschen von höchst unterschiedlicher moralischer Qualität sind. Als Zwischenergebnis können wir festhalten: Zwar können staatliche oder staatsähnliche Entitäten für das ihnen zuschreibbare Handeln rechtlich haftbar sein, weshalb Bürger oder Mitglieder derart organisierter Gruppen unter Umständen, insbesondere aber ihre jeweiligen verantwortlichen Repräsentanten moralisch dafür verantwortlich sein können, dass solche Entitäten ihren Rechtspflichten genügen. Ein solcher Ansatz greift aber zu kurz. Er gibt keine Interpretation der Bedeutung der besonderen Identität von Menschen als Mitgliedern andauernder Gruppen, die ihre Mitgliedschaft nicht zuletzt wegen des partikularen kollektiven Erbes der Gruppe intrinsisch wertschätzen, mit der so verstandenen Mitgliedschaft Ansprüche verbinden und aufgrund solcher Pflichten akzeptieren. Aus diesem und den anderen genannten Gründen erlaubt uns die rechtliche Haftung transgenerationeller Entitäten keine vollständige Interpretation historischer Pflichten. Auf der Suche nach einer moralischen Begründung historischer Pflichten ist deutlich geworden, dass die Begründung dieser Pflichten weder gemäß der Begründung von Pflichten aufgrund moralisch vorwerfbaren Handelns verstanden werden kann noch gemäß der Begründung der Teilhabe an vorwerfbarem kollektivem Handeln. Das Handeln früherer Menschen ist heute lebenden Menschen moralisch nicht zuschreibbar. Die Behaup-

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tung, Individuen hätten Teil an kollektiver Verantwortung setzt wenigstens voraus, dass sie auf die vorwerfbaren Handlungen hätten kausal Einfluss nehmen können. Das ist für gegenwärtig lebende Menschen im Falle des Handelns früher lebender Menschen ausgeschlossen. Darüber hinaus belegt ein erster Versuch, die normativen Implikationen ererbten öffentlichen Verdiensts und Verbrechens zu vergleichen, dass diese Implikationen sich nicht alleine im Sinne des Ausweises zukunftsorientierter Pflichten verstehen lassen. Im Weiteren zeige ich, dass die Begründung der Pflichten aufgrund kollektiven Erbes sich vornehmlich auf die Analyse des intrinsischen Werts der Mitgliedschaft in transgenerationellen Gruppen stützt, aufgrund nämlich nicht zuletzt ihrer jeweiligen besonderen historischen Merkmale. So verstanden ist der Wert solcher Mitgliedschaft für die Mitglieder Ausdruck eines geteilten, auch historischen Selbstverständnisses. Weil sie Mitgliedschaft in ihrer Gruppe intrinsisch wert schätzen wollen können, sollen sie prüfen, ob diese Wertschätzung berechtigt ist. Eine solche Prüfung bezieht sich nicht darauf, ob sie sich moralisch falsch verhalten haben oder doch wenigstens schuldlos kausal zu einem Ergebnis beigetragen haben, das Grund zu rechtlichen oder moralischen Forderungen ihnen gegenüber gibt. Vielmehr ist Gegenstand der Prüfung ihr Selbstverständnis. Sie fragen, ob sie angesichts der Handlungen früherer Mitglieder der Gruppe und deren Konsequenzen für gegenwärtig und zukünftig lebende Menschen berechtigt sind, ihre Mitgliedschaft in dieser transgenerationellen Gruppe intrinsisch wert zu schätzen. Dabei gilt es, sich auf alle normativ relevanten Aspekte des kollektiven Erbes, also auch auf die belastenden Aspekte zu beziehen. Die Idee ist: Nur wer auch seinen historischen Pflichten genügt, kann berechtigt sein, sich auf die Mitgliedschaft in der transgenerationellen Gruppe als intrinsisch wertvoll zu beziehen. Diese Begründung historischer Pflichten aufgrund kollektiven Erbes, nämlich als Ergebnis konsistenter Prüfung der Verantwortung dafür, wer wir als Mitglieder transgenerationeller Gruppen sind, erläutere ich weiter in Abschnitt 5. Diese Begründung ist aber, wie wir sehen werden, nicht notwendig für den Ausweis aller Pflichten aufgrund kollektiven Erbes. Einige lassen sich als Spezifikation genereller Gerechtigkeitspflichten verstehen, nämlich im Sinne rein zukunftsorientierter Pflichten gemäß der in Kapitel II vorgestellten Analyse. Zu ihnen zählen insbesondere

Die

Asymmetriethesen

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auch die Pflichten zur (stellvertretenden) Kompensation aufgrund der andauernden Wirkung historischen Unrechts. Diese Auffassung kann sich auf die Idee der natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit stützen, wie ich in Abschnitt 5 erläutere, und ist insofern unabhängig von der besonderen Wertschätzung der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft. Die meisten normativen Implikationen kollektiven Erbes sind aber sowohl zukunfts- als auch vergangenheitsorientiert zu begründen, nämlich im Sinne der Analyse überlebender Pflichten, die ich in Kapitel III mit Blick auf die überlebende Pflicht zur symbolischen Kompensation entwickelt habe. Solche Pflichten setzen voraus, dass gegenwärtig lebende Menschen ihre Mitgliedschaft in transgenerationellen Gruppen intrinsisch wertschätzen. Alle spezifischen historischen Ansprüche und Pflichten stehen unter dem in Kapitel IV.4 begründeten Vorbehalt der Vereinbarkeit mit unseren generellen und universellen Handlungspflichten. Und: Auch wenn ich die hier vorzustellenden Interpretationen der normativen Implikationen kollektiven Erbes nicht gleichermaßen detailliert begründe, so beanspruchen diese Deutungen doch, dass ihre jeweilige Begründung mit den zukunfts- und vergangenheitsorientierten Typen von Begründungen zu leisten wäre, wie ich sie in Kapitel II und III entwickelt habe. Die tabellarische Übersicht 5 im Anhang mag dies verdeutlichen.

2. Die normative Bedeutung kollektiven Erbes. Die Asymmetriethesen Ich möchte nun zunächst zwei Thesen vorstellen: Die erste betrifft das Verhältnis von öffentlichen Gütern und öffentlichen Verbrechen, die zweite das Verhältnis von öffentlichen Verdiensten und öffentlichen Verbrechen. Beide Thesen beschreiben Asymmetrien. Durch weitere Vergleiche entwickle ich eine Interpretation auch der normativen Signifikanz ererbter öffentlicher Übel. Die genauere Analyse und Interpretation der normativen Implikationen ererbter öffentlicher Güter und Verbrechen sind jeweils Gegenstand eigener Abschnitte (3 und 5). Ererbte öffentliche Güter und Verbrechen gehö-

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ren, wie wir sehen werden, zu den wichtigsten Quellen eines geteilten Verständnisses von Menschen als Mitgliedern intergenerationeller Gruppen. Ererbte öffentliche Verbrechen ziehen andere Pflichten der Mitglieder andauernder Gesellschaften nach sich als ererbte öffentliche Güter. Diese lassen sich danach unterscheiden, wem bzw. mit Blick auf wen sie geschuldet sind und warum. Pflichten aufgrund ererbter öffentlicher Güter können, erstens, mit Blick auf die Vorfahren geschuldet sein, welche diese Güter an uns weitergegeben haben, zweitens den Mitmenschen als Miterben dieser Güter und drittens den zukünftigen Mitgliedern der andauernden Gesellschaft (oder generell zukünftigen Menschen), die ebenfalls von diesem Erbe begünstigt werden sollen. Pflichten aufgrund ererbter öffentlicher Verbrechen hingegen sind den Mitmenschen und zukünftig lebenden Menschen geschuldet, insofern den direkten und indirekten Opfern gerechterweise Kompensation zu leisten ist.28 Verstorbenen Opfern kann symbolische Kompensation geschuldet sein.29 Pflichten aufgrund ererbter öffentlicher Verbrechen sind jedoch nicht mit Blick auf die für die Verbrechen Verantwortlichen geschuldet.30 So sie noch lebten, hätten sie die Pflicht, den Opfern ihrer Unrechtstaten Kompensation und Restitution zu leisten. Aus den schon genannten Gründen ist es abwegig anzunehmen, andere stünden unter der Pflicht, Kompensation zu leisten, weil sie die Verantwortung und Schuld der Täter ererben.31 Das heißt nicht, dass wir mit Blick auf diese Menschen nicht auch unter überlebenden Pflichten stehen können. Auch sie haben einen legitimen Anspruch auf den posthumen Ruf, den sie verdienen. 32 Gegebenenfalls ist auch der Ruf von Verbrechern zu schützen. Wird z.B. posthum behauptet, eine Person habe ein Verbrechen allein zu verantworten, wenn in Wahrheit diese Person nur zum Verbrechen beigetragen hat, so stehen wir unter der überlebenden Pflicht mit Blick auf diese Person, diesen Sachverhalt richtig zu stellen. Zweitens lassen sich die Pflichten wegen ererbter öffentlicher Güter und Verbrechen mit Blick darauf unterscheiden, warum sie geschuldet sind. Die historische Tatsache, dass einige der früheren Mitglieder unserer Gesellschaft öffentliche Güter geschaffen und an uns wie auch später lebende Menschen weitergegeben haben, kann Pflichten der Dankbarkeit gegenüber den Bemühungen und Opfern

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dieser Vorfahren begründen. Diese Pflicht der Dankbarkeit mit Blick auf Vorfahren kann aber auch Pflichten gegenüber unseren Zeitgenossen sowie zukünftig lebenden Menschen begründen. Denn die Dankbarkeit kann den Respekt vor den Intentionen derer, die uns begünstigt haben, einschließen. Vorfahren, die uns begünstigt haben, haben womöglich auch andere unserer Mitmenschen und weiter entfernt zukünftig lebende Menschen begünstigen wollen. Gerade weil wir in Erfüllung unserer Dankbarkeitspflicht den früher lebenden Wohltätern keine Dienste erweisen können, sollten wir sie anderen erweisen.33 Es hegt nahe, der uns erbrachten Wohltat dadurch zu entsprechen, dass wir den Willen unserer Wohltäter befördern34 und also dafür mit Sorge tragen, dass auch andere und weiter entfernt zukünftig lebende Menschen den für sie bestimmten Nutzen erhalten. Wenigstens dürfen wir nicht verhindern, dass auch sie als Miterben aus den Bemühungen und möglicherweise Opfern ihrer Vorfahren Nutzen ziehen können.35 Anders verhält es sich im Fall der Rechtfertigung von Pflichten, die wir haben, weil wir öffentliche Verbrechen als Mitglieder fortbestehender Gesellschaften ererbt haben: Sie können auch zukunftsorientiert begründet werden. Wir schulden niemandem für seine moralisch verwerflichen Unternehmungen Respekt oder Dankbarkeit. Aber wir alle stehen unter generellen Gerechtigkeitspflichten mit Blick auf sowohl unsere Mitmenschen als auch zukünftig lebende Menschen. Wollen wir genauer angeben, was diese Pflichten von uns in der besonderen sozialen Situation verlangen, in der wir uns befinden, müssen wir die Konsequenzen vergangenen Unrechts für das Wohlbefinden gegenwärtig lebender Menschen berücksichtigen (wie auch die wahrscheinlichen Konsequenzen für das Wohlbefinden zukünftig lebender Menschen). Gemäß einer Interpretation der Pflichten aufgrund von Mitgliedschaft in andauernden Gesellschaften müssen Mitglieder andauernder Gesellschaften auf ererbte öffentliche Verbrechen reagieren, weil die Anerkennung ihrer bleibenden Wirkung zur Spezifikation genereller Pflichten führt, die sie gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen schulden. Die später Geborenen können wie jede Generation unter der Pflicht stehen, eine gerechte politische Ordnung zu etablieren und aufrechtzuerhalten.36 Die Asymmetriethese lässt sich also als aus zwei Teilen bestehend zusammenfassen. Erstens sind die in Frage stehenden Pflichten mit

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Blick auf unterschiedliche Menschen geschuldet: Einerseits impliziert das Erbe öffentlicher Güter, dass wir mit Pflichten hinsichtlich unserer Vorfahren und gegenüber unseren Mitmenschen und zukünftig lebenden Menschen belegt werden. Andererseits zieht das Erbe öffentlicher Verbrechen Pflichten gegenüber unseren Mitmenschen und zukünftig lebenden Menschen nach sich, nicht jedoch besondere Pflichten mit Blick auf unsere Vorfahren, insofern sie für diese Verbrechen verantwortlich sind. Mit Blick auf sie, wie mit Blick auf alle früher lebenden Menschen können wir unter der überlebenden Pflicht stehen, sie so zu erinnern, wie sie es verdienen. Zweitens ist die Rechtfertigung der normativen Implikationen ererbter öffentlicher Güter für die Erben sowohl zukunfts- als auch vergangenheitsorientiert. Die Begründung ist vergangenheitsorientiert, insofern sie mit Blick auf Verstorbene und deren frühere zukunftsorientierte Ansprüche und Rechte ausgewiesen wird. In diesem Sinne beziehen wir uns nicht auf die früher lebenden Unrechtstäter, wenn wir die normativen Implikationen ererbter öffentlicher Verbrechen für die Erben ausweisen. Im Falle ererbter öffentlicher Güter spezifiziert die Rechtfertigung der Pflichten der Erben Gründe dafür, dass sie für die Opfer und Bemühungen früher lebender Menschen dankbar sind, sowie Gründe dafür, dass sie sich darum bemühen, dass sowohl gegenwärtig wie zukünftig lebende Menschen von dem Erbe begünstigt werden.37 Pflichten zukünftig lebenden Menschen gegenüber sind darin begründet, dass die öffentlichen Güter, die an uns weitergegeben wurden, sowohl uns wie auch weiter entfernt zukünftig lebende Menschen begünstigen sollten. Andererseits spezifiziert im Falle ererbter öffentlicher Verbrechen die Rechtfertigung der Pflichten der Erben Gründe dafür, dass sie sich darum bemühen, den negativen Konsequenzen solchen Erbes für das Wohlbefinden von gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen entgegenzuwirken, sowie symbolische Kompensationsleistungen für die heute toten Opfer erbringen. (Siehe Anhang, Tabelle 5. 1 und 4) Ererbte öffentliche Verdienste haben gänzlich andere moralische Implikationen als die schon im ersten Vergleich untersuchten ererbten öffentlichen Verbrechen. Hier soll insbesondere im Sinne einer zweiten Asymmetrie betont werden, dass die Pflichten aufgrund solchen Erbes verschieden sind hinsichtlich derer, denen oder mit Blick auf welche sie geschuldet sind.

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Was früher lebende Mitglieder einer Gesellschaft für andere über das hinaus tun, was sie ihnen schulden, können sich andere nicht als Verdienst zuschreiben, und auch nicht die gegenwärtigen Mitglieder dieser Gesellschaft. Aufgrund dieses Erbes können die Nachfahren auch keine besonderen Pflichten haben, jedenfalls nicht gegenwärtig und zukünftig lebenden Personen gegenüber. Auch mit Blick auf früher lebende Wohltäter stehen wir unter der überlebenden Pflicht, sie so zu erinnern, wie sie es verdienen. Mit Blick auf sie und aufgrund ihres moralisch hervorragenden Verhaltens kann eine Erinnerung geschuldet sein, die moralischen Respekt ausdrückt. Solchen Respekt schulden gegenwärtig lebende Menschen nicht, weil die supererogatorischen Handlungen dieser Menschen sie begünstigt haben, sondern weil sie von ihnen Kenntnis haben und es ihnen möglich ist, ihren moralischen Respekt für diese Handlungen auszudrücken. Um in dieser Beziehung zu früher lebenden Wohltätern zu stehen, müssen wir nicht Mitglieder der andauernden Gesellschaft sein, der auch sie angehörten. (Siehe Anhang, Tabelle 5. 2) Um die These anhand der oben genannten Beispiele zu verdeutlichen: Einerseits haben heute lebende US-Amerikaner keine besonderen Pflichten Zeitgenossen und zukünftig lebenden Menschen gegenüber aufgrund der (hier angenommenen)38 moralischen Verdienste, die sich ihre Vorfahren erworben haben, indem sie, im Namen der USA handelnd, andere vor den Nationalsozialisten schützten. Heute lebende US-Amerikaner wie auch andere Menschen werden mit Blick auf diese Menschen ihren moralischen Respekt ausdrücken wollen. Entsprechende überlebende Pflichten teilen sie mit allen, die Kenntnis von dem supererogatorischen Handeln haben und in einer Beziehung zu diesen früher lebenden Menschen stehen, die es ihnen erlaubt, solchen Respekt auszudrücken. Andererseits haben heute lebende Deutsche besondere Pflichten aufgrund der Verbrechen, die früher lebende Mitglieder ihrer andauernden Gesellschaft während des Naziregimes an anderen verübt haben. Während die Verbrechen unserer Vorfahren uns heute mit Blick auf die Opfer verpflichten können, haben wir keine analogen Pflichten aufgrund der moralischen Verdienste unserer Vorfahren. Das supererogatorische Handeln unserer Vorfahren kann uns nicht verpflichten — jedenfalls nicht mit Blick auf andere Menschen.

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Dass sich dies so verhält, lässt sich wie folgt erklären. Wenn ich jemandem etwas Gutes tue, das positiv über das hinausgeht, was ich der Person schulde (was ich ihr gegenüber verpflichtet bin zu tun), dann ergibt sich daraus für mich nicht, dass ich der Person erneut etwas Gutes in dem genannten Sinn tun sollte oder gar dazu verpflichtet bin, und entsprechend für die begünstigte Person: sie kann keine Ansprüche oder Forderangen darauf gründen, dass ich ihr im genannten Sinn etwas Gutes getan habe. Dass ich supererogatorisch gehandelt habe, also in einer Weise, die über das von mir zu Erwartende weit hinausgeht,39 wird mir als mein moralisches Verdienst angerechnet. Aufgrund solcher Handlungen verdiene ich den moralischen Respekt meiner Mitmenschen (und den zukünftig lebender Menschen). Ganz anders, wenn ich jemandes moralische Rechte verletze. Dann bin ich verpflichtet, diese Person zu restituieren oder die Verletzung zu entschädigen, und diese Person hat die entsprechenden moralischen Ansprüche gegen mich. Wenn ich jemandes moralische Rechte verletze, dann lade ich Schuld auf mich. Diese Unterschiede zwischen „anderen Gutes tun" und „anderen Unrecht zufügen" sind konstitutiv für die Erklärung des qualitativen Unterschieds der moralischen Signifikanz ererbter öffentlicher Verdienste und öffentlicher Verbrechen für die Nachfahren der Handelnden. Ich nehme hier an, dass den Nachfahren keine stärkeren — und üblicherweise weit schwächere — Verpflichtungen aus dem Handeln ihrer Vorfahren erwachsen können als den Vorfahren selbst erwachsen sind, nämlich insofern sie die für die Handlungen verantwortlichen Personen sind und in der Lage waren, Verpflichtungen aufgrund ihres früheren Handelns zu entsprechen. Mit Blick auf die uns interessierenden Pflichten aufgrund öffentlichen Erbes ergibt sich folgende Überlegung: die moralische Konsequenz, Gutes getan zu haben, ist, sich moralisch verdient gemacht zu haben. Zu den moralischen Konsequenzen, die moralischen Rechte anderer Personen verletzt zu haben, zählen, sich schuldig gemacht zu haben und Pflichten der Restitution und Kompensation gegenüber diesen Personen, den Opfern, zu haben. Aus dem Umstand, dass Vorfahren anderen Gutes im genannten Sinn getan haben, könnte sich für die Nachfahren nur ergeben, das moralische Verdienst der Vorfahren zu teilen. Dagegen spricht aber das, was auch gegen die Übertragung der Schuld für Unrecht auf die Nachfahren spricht: moralisches Ver-

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dienst und Schuld sind an die Verantwortung für das Handeln gebunden, aus der das moralische Verdienst und die moralische Schuld erwachsen. Da Nachfahren nicht verantwortlich sein können für das Handeln ihrer Vorfahren, kann ihnen weder moralische Schuld noch Verdienst aus deren Handeln erwachsen. Mit Blick auf Vorfahren, die sich moralisch verdient gemacht haben, stehen wir unter der überlebenden Pflicht des Respekts. Wenn wir uns stark mit ihnen identifizieren, liegt es nahe, dass wir Stolz über die herausragende moralische Qualität ihres Handelns empfinden. Aber es gibt kein moralisches Verdienst aus Handeln, für das man nicht selbst (mitverantwortlich ist. Da andere signifikante Konsequenzen sich für die, die anderen im genannten Sinn Gutes tun, nicht ergeben, ergeben sich solche Konsequenzen auch nicht für deren Nachfahren. Der Umstand, dass meine Vorfahren anderen Personen etwas Gutes im genannten Sinn getan haben, hatte sie nicht verpflichtet, dies erneut zu tun, und mit Sicherheit verpflichtet es mich heute nicht, den von meinen Vorfahren Begünstigten oder ihren Nachfahren etwas Gutes im genannten Sinn zu tun. Auch im Fall von Verletzungen moralischer Rechte anderer durch frühere Mitglieder einer andauernden Gesellschaft haben die gegenwärtig lebenden Mitglieder nicht genau die Pflichten, die die Täter selbst aufgrund des von ihnen zu verantwortenden Handelns auf sich geladen haben. Wie ich in Abschnitt 4 näher erläutere, können nur die Täter bestimmte Pflichten erfüllen und die Pflichten gegenwärtig lebender Mitglieder aufgrund der andauernden Wirkung öffentlicher Verbrechen haben einen eigenen Charakter. Der Vergleich ererbter öffentlicher Verdienste und Verbrechen lässt sich im Sinne einer zweiten Asymmetriethese so zusammenfassen: Einerseits können wir — wie auch andere Menschen — aufgrund des Erbes öffentlicher Verdienste mit Blick auf unsere Vorfahren unter überlebenden Pflichten des moralischen Respekts stehen. Andererseits sind wir aufgrund des Erbes öffentlicher Verbrechen direkten und indirekten Opfern dieser Verbrechen verpflichtet und stehen unter der überlebenden Pflicht zu symbolischer Kompensation mit Blick auf die heute toten Opfer. Zudem ist die Begründung der Pflichten aufgrund öffentlicher Verdienste unserer Vorfahren in erster Linie vergangenheitsorientiert. Für deren Begründung sind die vergangenen supererogatorischen

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Handlungen selbst konstitutiv - nämlich in dem Sinn, in dem das vergangene Handeln für den Ausweis überlebender Pflichten konstitutiv ist.4" Die Begründung der Verpflichtungen aufgrund öffentlicher Verbrechen unserer Vorfahren ist in erster Linie zukunftsorientiert. Für die Begründung dieser Pflichten sind, wie ich bei der Vorstellung der ersten Asymmetriethese betont habe, die negativen Konsequenzen der Unrechtshandlungen früher lebender Mitglieder unserer andauernden Gesellschaft entscheidend. 41 Den Vergleich der normativen Relevanz öffentlicher Verdienste und Verbrechen fasst tabellarisch Tabelle 5. 2 und 4 zusammen.

3. Historische Pflichten des moralischen Respekts und der Dankbarkeit im Vergleich Die vorgestellten Asymmetriethesen betreffen den Vergleich der normativen Implikationen von ererbten öffentlichen Verdiensten und öffentlichen Verbrechen sowie den Vergleich solcher Implikationen von ererbten öffentlichen Verbrechen und öffentlichen Gütern. 42 Wenn sich unsere Vorfahren öffentliche Verdienste erworben haben, dann, so hatte ich den Begriff eingeführt, haben sie sich um andere als uns, die nach ihnen lebenden Mitglieder ihrer fortbestehenden Gesellschaft, verdient gemacht. Hingegen begünstigen ererbte öffentliche Güter unter anderen uns. Beim Vergleich ererbter öffentlicher Verdienste und Güter ist diesem Unterschied Rechnung zu tragen. Ich habe schon zwischen Dankbarkeitspflichten, Pflichten des moralischen Respekts und der allen Menschen geschuldeten Pflicht unterschieden, sie jeweils so zu erinnern, wie sie es verdienen. Hier erläutere ich diese Pflichten, bevor ich die Differenz der normativen Implikationen des Erbes öffentlicher Verdienste und Güter beschreibe. Menschen posthum moralischen Respekt zu bezeugen ist angemessen, wenn diese Menschen sich bemüht haben, ein moralisch gesprochen gutes Leben zu fuhren, mit Blick auf sie dankbar zu sein dann, wenn sie uns nahe stehende Menschen oder uns selbst über das von ihnen moralisch Geforderte hinaus zu begünstigen bemüht waren. Sie verdienen es, als Menschen moralischer Integrität oder als Wohltäter erinnert zu werden. Wir können also besondere Gründe

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haben, den posthumen Ruf einer Person nicht nur nicht zu schädigen, sondern positiv die Erinnerung an Personen zu wahren: aus Respekt und Dankbarkeit. Dankbarkeit schulde ich dem, der sich bemüht oder bemüht hat, entweder mich oder eine Person, die mir nahe steht, zu begünstigen. Der Grad der Verbindlichkeit und das Maß des aus Dankbarkeit Geschuldeten hängen insbesondere von der Qualität des Willens des Wohltäters ab. Hat die Wohltäterin aus (in hohem Maße) uneigennützlicher Motivation und womöglich unter (hohen) Kosten für sich selbst gehandelt, dann begründet dies nach Auffassung von Seneca, Thomas von Aquin und Kant die (oder einen hohen Grad der) Verbindlichkeit auf Seiten des oder der derart Beschenkten, sich dankbar zu erweisen. Umstritten ist, ob das Maß des aus der Wohltat bezogenen Nutzens ein Faktor bei der Bestimmung des aus Dankbarkeit Geschuldeten ist.43 Folgen wir Seneca, dann kann einer Person ganz unabhängig davon Dankbarkeit geschuldet sein, ob ihre Bemühungen um unser Wohl oder das Wohl uns nahe stehender Personen Erfolg hatten. Für Seneca ist demnach der (uneigennützige) Wille, das Wohl anderer zu befördern, notwendige und hinreichende Bedingung für Dankbarkeitspflichten.44 Diese Auffassung erlaubt, dass auch denen Dankbarkeit geschuldet ist, deren Handeln Konsequenzen hatte, die ihren wohlwollenden Intentionen konträr sind. Möglicherweise ergeben sich aber andere besondere Dankbarkeitspflichten je nachdem, ob der Handelnde Erfolg, Teil- oder Misserfolg hatte.45 Moralischer Respekt hingegen ist Menschen geschuldet unabhängig ihrer besonderen Intentionen gegenüber uns oder uns nahe stehender Personen. Zwei Typen von Pflichten aufgrund moralischen Respekts sind zu unterscheiden. Moralischen Respekt schulden wir Menschen, die bemüht sind, ein moralisch akzeptables Leben zu führen. Solange die handlungsleitenden Überzeugungen dieser Menschen nicht offensichtlich moralisch falsch sind, sind für solchen Respekt die jeweiligen eigenen Uberzeugungen dieser Menschen und die Glaubhaftigkeit ihrer Bemühungen entscheidend. Wir schulden diesen moralischen Respekt also auch denen, deren moralische Uberzeugungen wir nicht teilen. Besonderen moralischen Respekt schulden wir zweitens Menschen, die über das hinaus, was sie moralisch zu tun verpflichtet sind, bemüht sind oder waren, für andere Gutes zu

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tun. Auch dieser moralische Respekt könnte als unabhängig vom Erfolg, Teil- oder auch Misserfolg dieser Bemühungen geschuldet aufgefasst werden. Mit Blick auf die erste Art moralischen Respekts können verschiedene Pflichten unterschieden werden. Mindestens stehen wir mit Blick auf Menschen, die bemüht sind oder waren, ein moralisch akzeptables Leben zu führen, unter der überlebenden Pflicht, die Erinnerung an sie als Moralpersonen zu wahren.46 Negativ bedeutet dies, die Erinnerung an sie als Moralpersonen nicht zu beschädigen, sie davor zu schützen, anders als Moralpersonen erinnert zu werden. Z.B. werden wir ihren posthumen Ruf vor der moralischen Verurteilung im Lichte divergierender Uberzeugungen der jeweiligen Gegenwart schützen wollen. Wenn das Handeln der Personen unseren moralischen Uberzeugungen nicht entspricht, können wir sie doch als Moralpersonen verteidigen, die es nicht haben besser wissen können. Möglicherweise stehen wir auch unter einer positiven Pflicht des moralischen Respekts mit Blick auf diese Menschen, die wir erfüllen, indem wir das Andenken dieser Personen als Moralpersonen wahren. Besonderen moralischen Respekt schulden wir Menschen, die für andere supererogatorisch handeln. Mit Blick auf heute tote Menschen schließt dieser Respekt selbstverständlich die genannte negative Pflicht ein. Unter einer positiven Pflicht zu stehen, Handlungen solcher Personen positiv und öffentlich zu erinnern, scheint bei Personen, mit Blick auf welche wir diesen besonderen moralischen Respekt schulden, nahe liegend. Nur die Begünstigten oder durch die Begünstigung ihnen nahe stehender Personen indirekt Begünstigten können zu Dankbarkeit verpflichtet sein. Aber wir alle stehen unter der Pflicht, Personen Respekt zu bezeugen, die bemüht sind oder bemüht waren, ein moralisch akzeptables oder besonders gutes Leben zu füllten. Wenn die Pflichten verstanden werden als bestimmten Personen geschuldet, dann setzen sie allerdings die Kenntnis dieser Personen als Moralpersonen voraus. Nicht jeder hat solche Kenntnis mit Blick auf jede andere Person oder kann sie sich beschaffen.47 Üble Nachrede48 als solche erkennen kann nur, wer um die moralische Qualität des Lebens und der Handlungen der Betroffenen weiß. Die universelle Pflicht, anständige Menschen vor der üblen Nachrede, kein moralisch akzeptables Leben geführt zu haben, zu schützen, kann also mit Blick

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auf bestimmte Personen in der Regel nur von wenigen erfüllt werden. Andererseits können wir die Pflicht des öffentlichen Erinnerns, die dem ersten Typ moralischen Respekts entspricht, auch mit Blick auf die Gruppe der um ein moralisch akzeptables Leben bemühten Menschen ausdrücken, ohne dass jeder von uns jedes Mitglied dieser Gruppe kennt. Es reicht aus, Individuen zu kennen, die zu dieser Gruppe gehören.49 Wenn wir dieses Verständnis von Dankbarkeit und moralischem Respekt voraussetzen, wie sind dann die normativen Implikationen ererbter öffentlicher Verdienste zu verstehen? In unserem Zusammenhang verstehe ich unter öffentlichen Verdiensten supererogatorische Handlungen zugunsten von Menschen, die nicht Mitglieder der fortbestehenden Gesellschaft der Handelnden sind. Aufgrund ihres supererogatorischen Handelns bin ich mit Blick auf sie zum moralischen Respekt verpflichtet und kann zu Dankbarkeit verpflichtet sein. Sowohl die etwaigen Dankbarkeitspflichten wie die Pflichten zum moralischen Respekt können unabhängig von Erfolg, Teil- oder Misserfolg dieser Handlungen verstanden werden. Wenn wir von Verdiensten sprechen, meinen wir jedoch gewöhnlich, dass die Handlungen mit einem gewissen Erfolg gekrönt waren. Mit Blick auf die Menschen, die die entsprechenden Handlungen ausgeführt haben, bin ich zur Dankbarkeit nur dann verpflichtet, wenn ich in einem besonderen Verhältnis zu den Begünstigten stehe (bzw. zu denen, die durch ihr Handeln begünstigt werden sollten). Aufgrund solchen Handelns schulde ich, wie alle anderen, diesen Menschen besonderen moralischen Respekt unabhängig davon, in welchem Verhältnis ich zu denen stehe, die begünstigt wurden oder werden sollten. Diese überlebende Pflicht zum moralischen Respekt ist vergangenheitsorientiert: Die vergangenen Handlungen, ihre moralische Qualität, ist konstitutiv für die Begründung der Pflicht. Pflichten des Respekts aufgrund ererbter öffentlicher Verdienste sind nicht zukunftsorientiert begründet. Es sind nicht die Konsequenzen der moralisch verdienstvollen Handlungen, die die Pflichten zum moralischen Respekt begründen — wenn auch deren Konsequenzen für die Spezifikation anderer zukunftsorientierter Pflichten relevant sein können. Anders im Fall ererbter öffentlicher Güter. Hier können wir sowohl vergangenheits- als auch zukunftsorientiert zu begründende

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Pflichten haben: Ererbte öffentliche Güter können sich supererogatorischem Handeln unserer Vorfahren für uns, die gegenwärtig lebende Generation, verdanken. Wenn dies der Fall ist, sind wir zu Dankbarkeit verpflichtet. Zwar können Dankbarkeitspflichten als einem wohlwollend Handelnden unabhängig seines Erfolgs, Teil- oder Misserfolgs geschuldet aufgefasst werden. Aber wenn supererogatorisches Handeln öffentliche und tradierbare Güter nach sich zieht, dann war dieses Handeln erfolgreich. Wir stehen also mit Blick auf diese Vorfahren unter der überlebenden Pflicht zu Dankbarkeit für Anstrengungen, die in der Tradierung öffentlicher Güter an uns resultierten. Im Fall ererbter öffentlicher Güter können wir aber auch zukunftsorientiert begründete Pflichten des Erhalts und der Tradierung dieser Güter haben. Denn ererbte öffentliche Güter, aufgrund deren wir mit Blick auf unsere heute toten Wohltäter zu Dankbarkeit verpflichtet sind, können von diesen Wohltätern geschaffen und tradiert worden sein, um uns, aber nicht nur uns heute, sondern auch später zukünftig lebende Menschen zu begünstigen. Das letztere trifft auf ererbte öffentliche Güter fast immer zu. Wenn unsere Vorfahren nicht nur uns, sondern auch entfernter zukünftig lebende Menschen durch die Einrichtung und Tradierung öffentlicher Güter haben begünstigen wollen, dann stehen wir mit Blick auf sie unter der Pflicht, diese Güter zu erhalten und zu tradieren oder den Wert dieser Güter zu erhalten und zu tradieren. Andernfalls vereiteln wir die Intentionen unserer Vorfahren.50 Dieses Verhältnis zwischen früher, gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen ist von großer Bedeutung für das Verständnis der moralischen Dimension intergenerationeller Beziehungen jenseits der Erfüllung von Gerechtigkeitspflichten zwischen den Generationen. Ihrem Selbstverständnis gemäß transzendieren Menschen die Grenzen ihres Lebens in beide Richtungen: die Vergangenheit und die Zukunft. Sie verfolgen Projekte, die in der Tradition früherer Bemühungen heute toter Personen stehen.51 Die Projekte gehören zu Praktiken, die sich historisch ausgebildet haben und die ihrerseits von früheren Praktiken abhängen, deren Fortentwicklung nicht feststand. Der Wert der Projekte hängt zum Teil vom Wert der Praktiken ab, auf denen sie beruhen. Das Selbstverständnis von Menschen, wenn sie Projekte verfolgen, kann aber auch ihr Leben in die Zukunft

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transzendieren. Das ist nicht einfach dem Umstand geschuldet, dass Menschen sich dafür interessieren können, was zukünftig lebende Menschen von ihnen halten mögen, wie zukünftig lebende Menschen ihre Bemühungen beurteilen und wie sie ihren Erfolg bewerten. Vielmehr verfolgen viele, wenn nicht die meisten Menschen, Projekte, die für zukünftige Menschen wertvoll sein können, sollte es zukünftig lebende Menschen geben, die bestimmte Fähigkeiten und Einstellungen teilen. Zugleich sind diese Projekte in der Regel für die Menschen, die sie verfolgen, wertvoll und möglicherweise für einige ihrer Mitmenschen nützlich, unabhängig davon, ob sie für zukünftige Menschen wertvoll und nützlich sind. Es gibt jedoch auch Projekte, die in einem starken Sinn zukunftsorientiert sind. Aus Sicht derer, die solche Projekte als Individuen oder als Mitglieder von Gruppen verfolgen, ist es für die Bedeutung dieser Projekte konstitutiv, dass in der Hauptsache zukünftig lebende Menschen aus ihnen Nutzen ziehen oder dass zukünftig lebende Menschen sie wahrscheinlich weiterverfolgen werden. Das klassische Beispiel für ein Projekt der erstgenannten Art ist das Pflanzen von Bäumen, die für viele Jahre keine Frucht tragen. 52 Aber es gibt auch große Investitionen in die Einrichtung von z.B. öffentlichen Gebäuden und in die Urbarmachung von Land und Investitionen in die Erhaltung von Wissen und kultureller Errungenschaften. Viele Gesellschaften kommen für Bibliotheken und Museen auf und erhalten historische Denkmale. Diese großen Investitionen dürften nur rechtfertigbar sein, wenn angenommen wird, dass in der Hauptsache zukünftige Menschen aus ihnen Nutzen ziehen werden. 53 In einem ausschließlicheren Sinn geht es um die Wohlfahrt zukünftig lebender Menschen bei Forschungen, z.B. zu der Frage, wie die Meere effektiver als Ressource für Nahrungsmittel, etwa für den Anbau von Algen, genutzt werden können, oder bei Forschungen zu der Frage, wie Wüsten in fruchtbares Land verwandelt werden können. Investitionen in Projekte dieser Art können nur gerechtfertigt werden, wenn wir annehmen, dass eine große Zahl zukünftig lebender Menschen (und häufig von Generationen, die wir nicht kennen können) aus ihnen wahrscheinlich wird Nutzen ziehen können. Ohne diese Annahme zu machen, verlieren diese Investitionen ihren Sinn — zumindest teilweise. 54 (Siehe Anhang, Tabelle 4. 1. a. 2 und b. 2)

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Menschen verfolgen auch Projekte, von denen nicht nur in der Hauptsache zukünftig lebende Menschen Nutzen ziehen sollen, sondern die auch ihren Sinn einbüßten, würden zukünftig lebende Menschen sie nicht weiterverfolgen. Zum Beispiel können wir wissenschaftliche Projekte verfolgen, deren Erfolg von intergenerationeller Kooperation abhängt. Nicht nur viele Menschen, sondern Menschen vieler Generationen kooperieren, wenn es darum geht, eine anspruchsvolle Enzyklopädie zusammenzustellen, zu schreiben, zu edieren und neu zu edieren.55 Untersuchungen zur Nutzung alternativer Energien sollen die Wohlfahrt zukünftig lebender Menschen fördern; ihr Erfolg ist zugleich häufig abhängig von der Kooperation von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen vieler Generationen, wie die Forschungen zu nuklearer Fusion belegen. Die Existenz von Energie aus nuklearer Fusion und ihr enormes Potential wurden bereits in den 1920ern erkannt. Explorative Forschungen zur Möglichkeit, diese Energie freizusetzen, begannen in den Jahren zwischen 1946 und 1955. Um 1970 hatte die Forschung eine solche Entwicklungsstufe erreicht, dass es lohnend schien, eine großangelegte Infrastruktur zur Durchführung von Experimenten zu schaffen, deren Kapazitäten hinreichten, um die Bedingungen für sich selbst aufrechterhaltende thermonukleare Reaktionen zu erkunden. Die Fusionsforschungsprogramme der Länder Westeuropas wurden für diesen Zweck zusammengeführt, das Projekt erhielt den Namen Joint European Torus und wurde seit 1983 im Auftrag des Europäischen Ministerrats durchgeführt. Der 1987 initiierte internationale thermonukleare Versuchsreaktor (ITER) repräsentiert den ersten Schritt für eine weltweite Kollaboration zwischen der Europäischen Gemeinschaft, den USA, der Russischen Föderation und Japan und steht unter der Schirmherrschaft der internationalen Atomenergie-Kommission (IAEA). Optimistisch beurteilt könnten diese Bemühungen in fünfzig Jahren den Nachweis erbringen, dass es technisch machbar ist, Energie aus der Fusion zu gewinnen.56 Untersuchungen zu anderen alternativen Energieformen haben eine ähnliche Geschichte. Es ist richtig, dass man von solchen wissenschaftlichen Projekten oft erwartet, dass sie vorläufige Ergebnisse in der näheren Zukunft erbringen, und sie sind dann womöglich zum Teil dadurch rechtfertigbar, dass sie die Wohlfahrt gegenwärtig oder in der näheren Zukunft lebender Menschen fördern. Während in der Tat die Wissen-

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schaftler, die ihre Arbeitszeit, Kraft und Energie in einem frühen Stadium der Durchführung des Projekts investieren, nicht mit Sicherheit wissen können, ob das Projekt am Ende signifikante Ergebnisse erbringen wird, werden zukünftige Menschen das Projekt nur auf der Grundlage der vorläufigen Ergebnisse fortführen können, die die früheren Projektmitarbeiter an sie weitergereicht haben. Es besteht die starke Erwartung, dass Ergebnisse, welche die Wohlfahrt in einem Maße befördern können, die die heutigen Investitionen rechtfertigen könnten, nicht in der näheren Zukunft gewonnen werden. Nicht nur wissenschaftliche Projekte hängen für ihren Erfolg von intergenerationeller Kooperation ab. Auch Politiken können von solcher Kooperation abhängen. Eine wirksame Politik der Bewahrung biologischer Ressourcen z.B. könnte hauptsächlich die Lebensqualität entfernt zukünftig lebender Menschen befördern, aber belegte womöglich gegenwärtig lebende und die ihnen nachfolgenden Generationen mit hohen Belastungen. Ohne dass die nachfolgenden Generationen eine solche Politik mit den entsprechenden Kosten für sie selbst fortführen, können gegenwärtig lebende Generationen ihr Ziel nicht erreichen, die Ressourcen für entfernt zukünftig lebende Menschen zu erhalten. Das Ziel einer solchen Politik kann nur realisiert werden, wenn zukünftige Generationen gleichermaßen willens sind, die Kosten der Politik um der entfernt zukünftig Lebenden willen auf sich zu nehmen. Nur unter der Voraussetzung intergenerationeller Kooperation kann das Ziel einer solchen Politik realisiert werden. Erfolgreich in der Verfolgung wertvoller Projekte zu sein ist von höchster Wichtigkeit für die Lebensqualität von Menschen.57 Für die vielen gegenwärtig lebenden Menschen, die zukunftsorientierte Projekte des ein oder anderen Typs verfolgen, ist es wichtig, dass sie ihre Projekte in der Erwartung verfolgen können, dass menschliches Leben unter Bedingungen eine Fortsetzung findet, die es zukünftigen Menschen erlauben, den Sinn und den Wert der Projekte ihrer Vorfahren zu verstehen, guten Nutzen aus ihnen zu ziehen und gegebenenfalls entscheiden zu können, die Projekte weiterzuverfolgen. In der Lage zu sein, sich sinnvoll für ein Projekt zu entscheiden, dessen Erfolg jedenfalls zum Teil von intergenerationeller Kooperation abhängt, setzt voraus, in einer Gesellschaft von einer gewissen Qualität zu leben. Es setzt voraus, in einer Gesellschaft zu leben, die in

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hinreichendem Maße für die Zukunft offen ist — deren Zukunft erlaubt, dass zukünftig lebende Menschen in der Lage sein werden, sich dafür zu entscheiden, wertvolle Projekte ihrer Vorgänger fortzuführen. Eine ganze Anzahl von Bedingungen müssen erfüllt sein, sollen zukünftig lebende Menschen in der Lage sein, von unseren Bemühungen um die Wahrung des Wissens oder der an sie weitergereichten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse guten Gebrauch zu machen, und um in der Lage zu sein, sich dafür zu entscheiden, langfristige Projekte, deren Erfolg von intergenerationeller Kooperation abhängt, fortzuführen. Erstens werden zukünftig lebende Menschen nur dann in der Lage sein, wertvolle Aktivitäten und Projekte zu verfolgen, wenn gewisse materielle Bedingungen vorliegen. Welche das im Besonderen sind, hängt vom Projekt ab, wenigstens aber müssen diese Bedingungen einen gewissen Schwellenwert erreichen, so dass Menschen nicht tagaus, tagein um ihr Uberleben kämpfen; Menschen sollten sich nicht jeden Tag neu alleine um die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse kümmern müssen. Für die Verfolgung vieler der Projekte, die wir für besonders wertvoll erachten, z.B. die Verfolgung einer professionellen Karriere, etwa die eines Violinisten, ist es wesentlich, dass Menschen sich nicht ständig damit beschäftigen müssen, ihre Grundbedürfnisse erfüllt zu bekommen. Denn der Erfolg in solchen Projekten hängt davon ab, dass sie sich auf die Verfolgung ihres Projekts konzentrieren können. Gleichermaßen wichtig ist aber zweitens, dass sie sich dafür entscheiden können, diesen wertvollen Aktivitäten nachzugehen. Dafür müssen sie ihnen in einer Weise bekannt sein, dass sie das Ziel dieser Projekte erkennen und verfolgen können, wenn dies als erstrebenswert gelten kann.58 Wertvolle Projekte und Aktivitäten, die wir verfolgen wollen, können wir nicht ganz neu erfinden. Im Gegenteil sind wertvolle Aktivitäten typischerweise voller Details, was es zukünftigen Menschen unmöglich macht, sich mit ihnen zu beschäftigen, es sei denn, sie internalisieren als Teil eines Sozialisationsprozesses die Verhaltensformen, die diese Aktivitäten konstituieren und die Verfolgung solcher Aktivitäten erfolgreich sein lassen.59 Wollen zukünftig lebende Menschen in der Lage sein, wertvolle Aktivitäten und Praktiken fortzuführen, dann werden sie sich mit den sozialen Praktiken befassen, die auch unsere sind, und die es ihnen erlauben, das

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notwendige implizite Wissen zu erwerben. Dass zukünftig lebende Menschen die sozialen Praktiken mit uns teilen ist auch eine notwendige Bedingung dafür, dass sie entscheiden können, Projekte und Aktivitäten fortzufuhren, sie zurückzuweisen oder von ihnen abzuweichen. Sie müssen mit anderen Worten in einer Position sein zu wissen, was als Fortführung eines Projekts gelten kann. Das können sie aber nur vor dem Hintergrund sozialer Praktiken, die nicht nur die Fortführung dieser Projekte und Aktivitäten erlauben, sondern auch die Standards für ihre Beurteilung setzen — was für die Fortführung und das Abweichen von langetablierten Praktiken und Aktivitäten konstitutiv ist. Eine hinreichende Bandbreite von Optionen zu haben, unter denen wir wählen können, ist für ein autonomes Leben konstitutiv. Für uns ist es wichtig, dass (stark) zukunftsorientierte Optionen zu den wertvollen Optionen gehören, für die wir uns entscheiden können. Das bedeutet aber weder, dass Menschen kein autonomes Leben führen könnten, ohne Projekte dieser Art zu verfolgen, noch, dass die Bandbreite der Optionen, aus der sie wählen können, Optionen dieser Art enthalten muss, damit sie ein gutes Leben führen können. Es bedeutet jedoch, dass für uns und für unsere Mitmenschen, so wir und sie Projekte mit dieser Orientierung verfolgen, Erfolg in diesen Projekten für das Wohlbefinden wichtig ist und dass für diese Menschen die Fähigkeit, eine Wahl unter wertvollen Optionen zu treffen, die solche mit einer starken Zukunfts-Orientierung einschließen, konstitutiv für ein gutes Leben ist. Mit anderen Worten ist es eine kontingente Bedingung für ein gutes Leben, eine Entscheidung für die Verfolgung zukunftsorientierter Projekte sinnvoll treffen zu können. Diese Bedingung kann in einer Gesellschaft erfüllt sein, und das scheint der Fall zu sein für Gesellschaften wie unserer. Dass eine Gesellschaft offen für die Zukunft ist, ist eine Bedingung der Existenz von Optionen mit starker Orientierung für die Zukunft. Für die große Zahl unserer Zeitgenossen, die tatsächlich Projekte verfolgen, deren Bedeutung nur bei Berücksichtigung ihrer starken ZukunftsOrientierung richtig verstanden werden kann, ist es deshalb wichtig, dass sie in einer Gesellschaft leben, die diese Qualität aufweist. In einer solchen Gesellschaft zu leben, ist nicht nur für das Wohlbefinden derer wichtig, die tatsächlich solche Projekte ver-

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folgen. Vielmehr besteht der Wert, in einer solchen Gesellschaft zu leben, darin, dass Menschen sinnvoll unter wertvollen Optionen wählen können, unter welchen sich solche befinden, die zum Teil jedenfalls durch ihre starke Orientierung auf die Zukunft hin konstituiert sind. Damit diese Optionen für uns offenstehen, müssen wir die Erwartung haben können, dass zukünftig lebende Menschen sich dafür entscheiden können, guten Nutzen aus unserer Wahl zu ziehen oder unsere Projekte fortzuführen. Wir müssen mit anderen Worten die Erwartung haben können, dass die Bandbreite der zukünftig lebenden Menschen offenstehenden Optionen selbst zum Teil dadurch konstituiert ist, dass sie in der Lage sind, die Projekte ihrer Vorfahren weiterzuverfolgen oder doch guten Nutzen daraus zu ziehen, dass letztere zukunftsorientierte Projekte verfolgt haben. In einer Gesellschaft zu leben, die im genannten Sinn für die Zukunft offen ist, ist sowohl für gegenwärtig wie zukünftig lebende Menschen wertvoll. Gegenwärtig lebende Menschen sind also nicht die ersten Menschen, die zukunftsorientierte Projekte verfolgen. Zweitens erben wir öffentliche Güter typischerweise nicht als die einzigen Nutznießer, sondern als Personen, die diese Güter auch ihren Nachfahren zur Verfügung stellen können. Drittens kann aber letzteres unseren Vorfahren geschuldet sein, die diese Güter an uns vererbt haben. Denn es „war vermutlich nicht für diese Generation im Besonderen, dass Menschen früherer Generationen, die sich um öffentliche Belange gekümmert haben, gespart oder Opfer auf sich genommen haben."00 Ich möchte also vorschlagen, dass die Dankbarkeit, die wir unseren Vorfahren dafür schulden, dass sie öffentliche Güter in der Absicht an uns vererbt haben, dass diese nicht allein uns, sondern auch weiter entfernt zukünftig lebenden Menschen zugute kommen, eine generelle Pflicht begründen kann, über diese Güter nicht einfach nach Belieben zu verfügen und sie nicht für unsere privaten Interessen aufzubrauchen. Es wäre zum Beispiel falsch, würden wir ein hoch entwickeltes System tertiärer Ausbildung, das wir von unseren Vorfahren ererbt haben, zerstören, um ein Leben in größerem Luxus genießen zu können. Vielmehr können wir mit Blick auf die früheren Wohltäter unter der überlebenden Pflicht stehen, das ererbte Gut zu erhalten und an unsere Vorfahren weiterzureichen. Sofern diese Pflicht hinsichtlich ererbter öffentlicher Güter besteht, ist eine Ge-

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sellschaft, die im genannten Sinn offen für die Zukunft ist, genauer so zu bestimmen, dass sie es wenigstens erlaubt, diesen Dankbarkeitspflichten zu entsprechen. Unter solchen Dankbarkeitspflichten können auch Mitglieder von Erinnerungsgemeinschaften stehen. Das ist dann der Fall, wenn sie realisieren, dass es vermutlich nicht für diese Generation im besonderen gewesen ist, dass ihre Vorfahren darum gekämpft haben, ihre Gruppenkultur und die Lebensoptionen, die mit ihnen einhergehen, zu erhalten, und wenn sie zudem ihre Mitgliedschaft in diesen Gemeinschaften für intrinsisch wertvoll halten — auch wegen der einzigartigen Möglichkeiten, die ihnen aufgrund ihrer Mitgliedschaft offen stehen. 61 Ebendies gilt für gegenwärtig lebende Saami und Roma, wenn ihre soziale Identität in starker Weise davon abhängt, dass sie Mitglieder dieser Erinnerungsgemeinschaften sind. 62 Zwar haben zukünftig lebende Menschen weder ein Recht auf tertiäre Ausbildung noch ein Recht auf Mitgliedschaft in bestimmten ethnischen und kulturellen Gemeinschaften. Wie wir selbst haben sie kein Recht auf die Errungenschaft unserer Vorfahren, Universitäten gegründet und ein System tertiärer Ausbildung an uns weitergereicht zu haben, oder ein Recht darauf, die intrinsischen Werte einer Mitgliedschaft in der Saami- oder Roma-Kultur realisieren zu können. Gleichwohl stehen wir mit Blick auf die Bemühungen unserer Vorfahren, öffentliche Güter zu etablieren und an uns wie auch weiter entfernt zukünftig lebende Menschen zu vererben, unter Pflichten der Dankbarkeit — oder jedenfalls des Respekts. Zukünftig lebende Menschen hätten Grund, uns moralisch zu kritisieren, sollten wir entgegen der Absichten unserer Vorfahren, das öffentliche Gut nicht an sie weiterreichen, um in größerem Luxus zu leben. Denn auch sie sollten an dem Gut partizipieren dürfen. 63 Nicht Dankbarkeit, aber Respekt schulden wir auch dann, wenn wir nicht selber zu den Begünstigten des ererbten öffentlichen Guts zählen. Denn, wie oben angedeutet, können wir unter Pflichten des besonderen moralischen Respekts mit Blick auf Menschen stehen, die über das hinaus, was sie moralisch zu tun verpflichtet sind, bemüht waren, für andere Gutes zu tun. Eine solche Pflicht wegen der Bemühungen unserer Vorfahren kann sich auf ererbte öffentliche Güter beziehen, also darauf, dass es ihren Bemühungen geschuldet ist, dass Menschen heute die Möglichkeit haben, spezifische wertvolle Op-

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tionen zu realisieren.64 Optionen realisieren zu können ist davon abhängig, dass wir bestimmte Handlungen vollziehen können, was die Existenz von Praktiken erfordert. Den Bemühungen der Vorfahren, so sie erfolgreich waren, verdanken sich also die Bedingungen der Möglichkeit der Realisierung wertvoller Optionen und zu diesen zählt die Existenz sozialer Praktiken, ohne welche die Aktivitäten nicht möglich wären, durch welche Menschen die Option realisieren können. Respekt schulden wir aber auch schon den wertvollen Aktivitäten unserer Mitmenschen und deshalb auch den Bedingungen, die für sie konstitutiv sind, also den sozialen Praktiken, in welche diese Aktivitäten eingebettet sind und von deren Existenz die Möglichkeit abhängt, dass Menschen diese Aktivitäten verfolgen. Auch der unseren Mitmenschen geschuldete Respekt ist unabhängig davon, ob wir persönlich das Talent, den Charakter oder die Interessen haben, diesen wertvollen Aktivitäten nachzugehen. Wie betont dürfte die Möglichkeit, zukunftsorientierte Projekte zu wählen, lediglich eine kontingente Bedingung für die Realisierung eines autonomen Lebens sein. Deshalb dürfen wir aber diese Möglichkeit nicht einfach zerstören. Denn für Menschen, die solche Projekte tatsächlich verfolgen, kann dies äußerst wertvoll sein. Und für viele andere Menschen kann es wertvoll sein, in einer Gesellschaft zu leben, in der sie die Option haben, stark zukunftsorientierte Projekte zu verfolgen. Vielmehr kommen die mit Blick auf die Vorfahren angesichts ererbter öffentlicher Güter geschuldeten überlebenden Pflichten des Respekts und der Dankbarkeit sowie die den Mitmenschen geschuldeten Pflichten des Respekts wegen ihrer wertvollen Projekte, die sich unter anderem diesem Erbe verdanken, einer generellen Pflicht gleich (unter der Individuen wie Regierungen stehen können), nicht willkürlich über die Güter zu verfügen, ohne welche wir die zukunftsorientierten Projekte nicht verfolgen könnten, und sie nicht für unsere Privatinteressen aufzubrauchen, zum Beispiel, um ein Leben in größerem Luxus fuhren zu können. Mit anderen Worten haben wir generelle und personen-invariante Gründe dafür, diese Güter zu schützen, also Gründe, deren Geltung nicht von den kontingenten Wünschen der Menschen abhängen, die diese Gründe haben.65 Solche Handlungsgründe zu haben ist ein Merkmal dafür, unter Pflichten zu stehen. Dann ist es auch richtig zu sagen: Wir stehen unter einer Pflicht, den Erhalt dieser Güter zu schützen.

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Wem schulden wir diese Pflicht? Die Pflicht bezieht sich auf den Erhalt der Bedingungen für die Verfolgung stark zukunftsorientierter Projekte. Diese Bedingungen sind zugleich Bedingungen der öffentlichen Güter, ohne welche wir die Projekte nicht verfolgen können. Die mutmaßliche Pflicht, nicht willkürlich über sie zu verfügen, ist dann nicht einem Individuum geschuldet. Denn eine einzelne Person hat typischerweise kein Recht auf ein öffentliches Gut. Vielmehr sind diese Pflichten der Gesellschaft als ganzer geschuldet, nämlich in dem Sinne, dass die Pflichten auf dem von den Mitgliedern der Gemeinschaft geteiltem Interesse daran beruhen, dass diese Güter existieren. Im Besonderen beruhen sie auf dem Interesse von gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen daran, in einer andauernden Gesellschaft zu leben, die für die Zukunft offen ist. Früher lebende Menschen teilten dieses Interesse: Der Erfolg einiger ihrer Projekte hängt entscheidend von der Möglichkeit zukünftiger intergenerationeller Kooperation bei der Verfolgung der Projekte ab oder von der Möglichkeit, dass weiter entfernt zukünftig lebende Menschen zu denen gehören, die von ihren Bemühungen und Opfern profitieren. Mit Blick auf diese früher lebenden Menschen können wir unter überlebenden Pflichten des Respekts und der Dankbarkeit stehen. In einer andauernden Gesellschaft zu leben, die offen für die Zukunft ist, ist insbesondere im Interesse der gegenwärtig lebenden Mitglieder einer Gesellschaft, die Projekte verfolgen, deren Möglichkeit vom in Frage stehenden öffentlichen Gut abhängt. Es ist schließlich im Interesse derer, die aus dem Umstand, dass ihre Vorfahren diese Projekte verfolgt haben, Nutzen ziehen. Staatliche Einrichtungen haben mit Sicherheit eine Pflicht, öffentliche Güter zu schützen, an deren Existenz die Bürger ein starkes Interesse haben. Zu den Hauptaufgaben des Staates gehört es, den Bürgern durch die Sicherstellung der Bedingungen, zu dienen und wenn möglich die Gesellschaft durch die Schaffung neuer öffentlicher Güter zu verbessern. Mitglieder einer Gesellschaft, die Nutznießer solcher öffentlicher Güter sind, können unter einer Pflicht stehen, ihren Teil für die Bereitstellung und den Schutz öffentlicher Güter beizutragen. Zum Beispiel können sie sehr wohl unter der Pflicht stehen, durch entsprechende Abgaben zum Erhalt öffentlicher Parks beizutragen. Jedenfalls stehen sie unter der Pflicht,

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einen öffentlichen Park nicht zum Beispiel als ihre private Müllhalde zu missbrauchen.66 Wie ist diese Pflicht in dem größeren Kontext zu verstehen, wie wir uns als Individuen und als Kollektiv auf das beziehen, was an uns vererbt wurde? Es ist wichtig, dass die Pflicht mit der Idee kompatibel ist, dass die Erben von sowohl individuellen als auch öffentlichen Gütern dieses Erbe legitimerweise ablehnen können, selbst dann, wenn die Güter in hohem Maße für sie wertvoll sein könnten. Menschen können auch unter diesen Bedingungen gute Gründe dafür haben, ein Erbe abzulehnen. Was ein Gut für eine Person ist, ist nicht notwendigerweise auch ein Gut für eine andere Person. Zum Beispiel verfolgen Menschen Projekte, für die der Verzicht auf Einkommen und Wohlstand konstitutiv ist.67 Solche Menschen mögen Gründe haben, nicht in eine Position gebracht werden zu wollen, in welcher sie eine Entscheidung darüber treffen müßten, wie sie die ererbten materiellen Güter am besten wieder loswerden. Mit Sicherheit kann das Recht einer Person, ihr eigenes Leben zu führen, wichtiger sein als ihre etwaige Pflicht, sich dankbar für ein Erbe solcher früher lebenden Menschen zu erweisen, die sie durch Vererbung individueller Güter begünstigen wollen. Es kann aber zugleich auch der Fall sein, dass die Person eine Lebensform hätte wählen können, in der eben dieses Erbe für diese Person eine Bedingung für ein gutes Leben gewesen wäre. Ähnlich auch für öffentliche Güter: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt ein öffentliches Gut in einer Gesellschaft ist, mag kein Gut für Menschen zu einem zukünftigen Zeitpunkt sein. Um zu argumentieren, dass wir auf ein Gut gänzlich verzichten oder dass wir es durch ein anderes ersetzen sollten, das uns besser gefällt, müssen wir den Wert dieses öffentlichen Guts für unsere Vorfahren nicht in Frage stellen. Menschliche Angelegenheiten können kollektiv oft in unterschiedlichen Weisen organisiert werden, ohne dass man von einer sagen wollte, sie sei besser als die anderen. Wenn wir zum Beispiel die Art und Weise unserer Vorfahren, Kinder großzuziehen, ändern, dann kann die Änderung wichtig sein, weil die neue Art und Weise, Kinder großzuziehen, wirklich besser ist. Aber die Änderung kann auch deshalb und womöglich alleine deshalb für uns wertvoll sein, weil die Änderung eine autonome Wahl unsererseits reflektiert, nämlich die Entscheidung, wie wir unser gemeinsames Leben zu

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organisieren wünschen. Wir könnten uns sehr wohl dafür entschieden haben, bei dem zu bleiben, was unsere Vorfahren gemacht haben, und dann wären die entsprechenden Praktiken und Institutionen, welche sie an uns vererbt haben, äußerst wertvoll gewesen.68 Häufig wird eine solche Änderung nicht allein unser legitimes Interesse an einer kollektiven Wahl unserer Lebensweise widerspiegeln, sondern vielmehr die veränderten sozialen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen, in welchen wir uns befinden. In der Tat haben Menschen in den von einer generell schnellen sozialen und ökonomischen Entwicklung geprägten Gesellschaften häufig Anlass, ererbte öffentliche Güter zu verändern oder zu ersetzen. Weil unsere Vorfahren nicht oder jedenfalls nicht im Detail haben vollständig voraussehen können, wie die Gesellschaft sich entwickeln würde, ist es sehr wahrscheinlich, dass, wenn wir Respekt für das bezeugen, was an uns vererbt wurde, wir dieses Erbe auf eine Art und Weise gebrauchen, die unsere Vorfahren weder hätten beabsichtigen noch vorhersagen können. Entsprechendes dürfte für unsere Nachfahren gelten, selbst wenn es stimmen sollte, dass wir im Vergleich zu unseren Vorfahren über größere Macht verfügen, das Wohlbefinden zukünftiger Menschen zu beeinflussen, und auch über mehr Wissen, was die langfristigen Konsequenzen unserer Politiken angeht.69 Wir sind also mit Blick auf unsere Vorfahren, die sowohl uns als auch weiter entfernt zukünftig lebenden Menschen wertvolle Güter vererbt haben, zu Dank verpflichtet. Da wir in Erfüllung unserer Dankbarkeitspflicht den Vorfahren keine gleichen Dienste erweisen können, sollen wir sie anderen erbringen, und es liegt nahe, hierbei die Absicht der Vorfahren, auch weiter entfernt zukünftig lebende Menschen zu begünstigen, befördern zu wollen. Zugleich schulden wir unseren Vorfahren wegen ihrer wertvollen zukunftsorientierten Projekte Respekt — unabhängig davon, ob wir zu denen gehören, die aufgrund dieser Projekte begünstigt sind. Solcher Respekt zieht eine generelle Pflicht nach sich, nämlich die ererbten Güter und die Bedingungen, die für die Verfolgung zukunftsorientierter Projekte konstitutiv sind, zu schützen — anders gesagt, die Bedingungen für ein Leben in einer Gesellschaft, die offen für die Zukunft ist, zu bewahren. Die vorgestellte Pflicht verlangt weder von uns, dass wir von

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den Projekten unserer Vorfahren guten Gebrauch machen oder deren Projekte fortführen. Noch sind wir verpflichtet, alles zu tun, um sicher zu stellen, dass zukünftig lebende Menschen aus den Projekten, die wir und unsere Vorfahren verfolgt haben, Nutzen ziehen oder dass sie sie fortführen. Sowohl wir als auch zukünftig lebende Menschen können legitime Gründe dafür haben, das, was an uns vererbt wurde, nicht anzunehmen und die ererbten Güter zu ändern oder zu ersetzen, selbst wenn diese Güter für uns hätten äußerst wertvoll sein können. Haben wir aber solche Gründe nicht, dann sind wir verpflichtet, zukünftigen Menschen die Gelegenheit zu erhalten, aus den Bemühungen ihrer Vorfahren Nutzen zu ziehen und deren stark zukunftsorientierte Projekte fortzuführen.

4. Normative Implikationen ererbter kollektiver Obel und 17erbrechen im Vergleich Ererbte kollektive Übel unterscheiden sich von ererbten öffentlichen Verbrechen dadurch, dass das Handeln früher lebender Menschen nicht deren Zeitgenossen, sondern gegenwärtig und zukünftig lebende Menschen negativ betrifft, nämlich entweder im Sinne nicht vorwerfbarer Schädigung oder einer Schädigung, die zudem die Rechte gegenwärtig oder zukünftig lebender Menschen verletzt. Sehen wir von Ausnahmen ab, so sind die normativen Implikationen ererbter öffentlicher Übel gewöhnlich in beiden Hinsichten — sowohl mit Blick auf vergangenheits- als auch zukunftsorientiert begründete Pflichten — verschieden von den Implikationen ererbter öffentlicher Güter. (Siehe Anhang, Tabelle 5. 1 und 3) Ererbte öffentliche Übel können sich unterschiedlich auf Mitglieder der Gesellschaft auswirken, die sie ererbt haben. Wie ererbte öffentliche Verbrechen Pflichten gegenüber den (indirekten) Opfern der (andauernden Wirkungen der) Rechtsverletzungen früher lebender Menschen nach sich ziehen, können wir auch Mitmenschen, die im besonderen Maße negativ von einem ererbten öffentlichen Übel betroffen sind, etwas im Besonderen schulden. Wenn ein Land durch einen Krieg, für den die früheren Mitglieder der andauernden Gesellschaft die Verantwortung tragen, zerstört ist, so können die daraus

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resultierenden Lasten für die derzeitigen Mitglieder höchst ungleich verteilt sein. Sind diese Lasten nicht unrechtmäßigem Handeln anderer, hier also der Kriegsgegner zuzuschreiben, liegt es nahe, eine gerechte (Um-)Verteilung der Lasten unter denen für erforderlich zu halten, die das öffentliche Übel ererbt haben. 70 Das kann verstanden werden im Sinne der Kompensation von entstandenem Schaden im historisch-hypothetischen Sinne von Schädigung oder der Schwellenwertskonzeption (Kap. II). Sind sehr viele gegenwärtige Mitglieder der andauernden Gesellschaft stark betroffen und können kompensatorische Maßnahmen keinen hinreichenden Ausgleich schaffen, sind die andauernden Wirkungen des ererbten Übels relevant für die Spezifizierung vieler, wenn nicht aller distributiven politischen Entscheidungen. Insofern unsere Vorfahren uns geschädigt haben, stehen wir mit Blick auf sie unter keinen besonderen Pflichten. Ausnahmen sind möglich, auch wenn es schwer fällt, plausible Beispiele anzuführen: Unsere Vorfahren könnten mit der Absicht, uns zu begünstigen, öffentliche Übel etabliert und tradiert haben. Folgen wir der Interpretation der Dankbarkeitspflichten, wie sie Seneca vorgelegt hat, für den die wohlwollende Absicht des „Wohltäters" notwendige und hinreichende Bedingung der Dankbarkeitspflicht der „begünstigten" Person ist,71 dann sind wir ihnen aufgrund ihrer wohlwollenden Intentionen zu Dank verpflichtet — jedenfalls, wenn sie es nicht haben besser wissen können. Man kann also unter den genannten Umständen und gemäß dieser (extrem intentionalistischen) Auffassung auch dem Handelnden, dessen Bemühungen de facto schädigend wirken, Dankbarkeit schulden. 72 Im Falle ererbter öffentlicher Verbrechen dürfte es so gut wie ausgeschlossen sein, mit Blick auf die Täter Dankbarkeit zu schulden. 73 Plausibler ist es anzunehmen, dass wir Vorfahren, die öffentliche Übel tradieren, moralischen Respekt schulden können. Hierfür müssen wir lediglich annehmen, dass diese Vorfahren glaubten, moralisch richtig zu handeln und es nicht haben besser wissen können. 74 Dass sie im Ergebnis schädigend gehandelt haben, ist ihnen dann nicht anzurechnen, oder jedenfalls nicht als Moralpersonen. Unter diesen Umständen schuldeten wir ihnen moralischen Respekt in dem schwächeren der beiden oben unterschiedenen Sinne. Sehr selten dürfte der Fall sein, dass Menschen, die die Rechte ihrer Mitmenschen aufs schlimmste verletzen, glaubten, mo-

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raiisch richtig zu handeln, und nicht haben wissen können, dass sie Unrecht tun.75 Trotz ihrer Taten könnten wir sie als dann moralisch anständige Menschen begreifen und mit Respekt in dem schwächeren Sinne erinnern. Ist das uns schädigende Verhalten früher lebender Menschen ihnen moralisch vorzuwerfen, dann ändert sich unser Urteil über sie. Haben unsere Vorfahren eine Berglandschaft zerstört, weil sie dort Ressourcen gewinnen wollten, um ihre schon beträchtliche Wohlfahrt noch weiter zu steigern, und mit dem Ergebnis, dass diese Landschaft als Ökosystem und ihre Naturschönheit unwiderruflich verloren sind, dann haben unsere Vorfahren uns als später lebende Mitglieder dieser Gesellschaft womöglich nicht nur geschädigt, sondern auch ihre moralischen Pflichten uns gegenüber verletzt. Dass wir mit Blick auf unsere Vorfahren nicht unter positiven Pflichten deswegen stehen, weil diese uns geschädigt haben, indem sie unsere Rechte verletzten oder ihre Pflichten uns gegenüber nicht erfüllt haben, liegt auf der Hand. Vielmehr enthält der posthume Ruf, den sie verdienen, das Urteil, dass sie, jedenfalls mit Blick auf uns und unser Wohlergehen, moralisch falsch gehandelt haben. Früher lebende Menschen können aber keine Kompensation oder Restitution leisten, und sie können auch nicht mit Sanktionen belegt werden, von denen sie negativ betroffen werden könnten. (Siehe Anhang, Tabelle 5. 3. b) Ein besonderer Fall ererbter öffentlicher Übel liegt vor, wenn die Handlungen der Vorfahren positive Auswirkungen auf die Wohlfahrt der nächsten nachfolgenden Generationen ihrer Nachfahren haben, jedoch negative Konsequenzen auf später zukünftig lebende Menschen. Politiken, die für gegenwärtig lebende Generationen und die ihnen nachfolgenden Generationen günstig sind, können negative Konsequenzen für weiter entfernt zukünftig lebende Generationen haben. Haben wir die Wahl zwischen alternativen Politiken, die das Wohlbefinden gegenwärtig lebender Menschen befördern sollen, dann können wir häufig zwischen solchen Politiken wählen, deren Kosten wir tragen, und solchen, deren Kosten auf weiter entfernt zukünftig lebende Menschen abgewälzt werden. 76 Das Problem, mit dem sich gegenwärtig lebende Menschen in dieser Entscheidungssituation konfrontiert finden, beruht zum Teil auf einer Tatsache, die Brian Barry als ein Merkmal einer „Form" einführt, die

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„die empirischen Beziehungen zwischen den Generationen" haben können: Es ist durchaus möglich ..., Beispiele für Handlungen zu finden, die insgesamt gesehen vorteilhaft sind für die nächste Generation und für die darauf folgende Generation oder ihnen jedenfalls nicht zum Schaden gereichen, aber dann fur die späteren Generationen zunehmend von Nachteil sind. 77

Was überlebende Pflichten aufgrund ererbter öffentlicher Übel angeht, ergibt sich nichts Neues, wenn zusätzlich oder ausschließlich später lebende Menschen negativ von den Übeln betroffen sein werden, die unsere Vorfahren an uns vererbt haben. Was hingegen die Spezifikation unserer Gerechtigkeitspflichten gegenüber zukünftig Lebenden angeht, kann die Tatsache relevant sein, dass diese geschädigt sein werden vom Handeln unserer Vorfahren. Wenn das Handeln unserer Vorfahren die Ausgangsbedingungen unserer Nachfahren für, sagen wir, die Chance zu einem Leben unter akzeptablen Bedingungen beeinträchtigt, dann können wir verpflichtet sein, dem entgegenzuwirken, nämlich um unserer Nachfahren willen. 78 Allerdings ist sehr die Frage, ob wir dazu in der Lage sind, wenn wir selbst von den ererbten Übeln negativ betroffen sind. In keinem Fall dürfen wir dazu beitragen, dass unsere Nachfahren durch die Handlungen unserer Vorfahren geschädigt werden. Dies ist auch der Gesichtspunkt, der für die Untersuchung der normativen Implikationen des besonderen Falls relevant ist. Unter den hier vorgestellten Umständen — die ererbten öffentlichen Übel treffen ausschließlich später zukünftig lebende Menschen negativ, unsere Wohlfahrt jedoch wird durch die Konsequenzen eben dieser Handlungen befördert —, haben gegenwärtig lebende Menschen andere substantielle Gerechtigkeitspflichten ihren Nachfahren gegenüber, als wenn diese besonderen Umstände nicht vorliegen. Weil die gegenwärtig Lebenden von den ererbten Übeln begünstigt sind, jedenfalls was ihre Wohlfahrt angeht, dürften sie eher im Stande sein, den für die später zukünftig Lebenden negativen Konsequenzen der ererbten öffentlichen Übel entgegenzuwirken. Die gegenwärtig Lebenden werden bemüht sein, die unfreiwillig erhaltenen Begünstigungen zu verwenden, um Schaden von den Nachfahren abzuwenden und die In-

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stitutionen zu beseitigen, die solche Konsequenzen hervorbringen können. Wie sollten wir auf ererbte öffentliche Verbrechen reagieren? Welche Pflichten haben wir aufgrund ererbter öffentlicher Verbrechen? Mit „wir" beziehe ich mich auf die schuldlosen Mitglieder andauernder Gesellschaften. Mit Blick auf bestimmte vergangene Ungerechtigkeiten, begangen unter einem Vorgängerregime und mit Blick auf bestimmte ererbte öffentliche Verbrechen wird man üblicherweise viele Menschen finden, die weder zu den Verbrechern noch zu denjenigen zählen, die vom unterdrückerischen Regime profitiert haben.79 Sie waren nicht daran beteiligt, das öffentliche Verbrechen einzurichten oder aufrechtzuerhalten, und sie haben auch keine Vergünstigungen aus seiner Aufrechterhaltung akzeptiert. Das sind die Menschen, auf die ich mich als die schuldlosen Mitglieder andauernder Gesellschaften beziehe, die öffentliche Verbrechen ererbt haben. Wenn die schuldlosen Mitglieder einer andauernden Gesellschaft mit Blick auf die ererbten Verbrechen, mit denen sie in ihrer Gesellschaft konfrontiert sind, Pflichten haben, dann sind diese Pflichten nicht in der Tatsache begründet, dass ihre Vorfahren diese öffentlichen Verbrechen an sie weitergereicht haben. Wie betont stehen wir generell unter der Pflicht, den Ruf unserer Vorfahren posthum zu schützen. Das gilt auch für die Vorfahren, die an öffentlichen Verbrechen beteiligt gewesen sind. Auch mit Blick auf sie stehen wir unter der überlebenden Pflicht, sie vor unfairer Nachrede zu schützen.80 Die in Abschnitt 2 eingeführte erste Asymmetriethese kann mit Blick auf das Verhältnis gegenwärtig lebender Mitglieder andauernder Gesellschaften zu denen, denen sie ererbte öffentliche Güter oder Verbrechen verdanken, wie folgt gefasst werden: Während öffentliche Güter zu ererben moralisch sowohl in einem vergangenheitswie einem zukunftsorientierten Sinn relevant ist, ist öffentliche Verbrechen zu ererben nur in einem zukunftsorientierten Sinn relevant, sehen wir von der generellen überlebenden Pflicht ab, einen Vorfahren vor übler Nachrede zu schützen. Wie ich in Abschnitt 3 gezeigt habe, können Pflichten mit Blick auf zukünftige Menschen darin begründet sein, dass öffentliche Güter an uns weitergereicht wurden, von denen sowohl wir wie auch weiter entfernt zukünftig lebende Menschen Nutzen ziehen sollten. Andererseits haben wir

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gute Gründe dafür - und wir können unter einer entsprechenden Pflicht stehen —, ererbte öffentliche Verbrechen wegen ihrer negativen Konsequenzen für das Wohlbefinden von sowohl gegenwärtig wie zukünftig lebenden Menschen zu beseitigen. Auch Edmund Burke bestreitet nicht, dass gesellschaftliche Veränderung dem Ziel dienen darf, schlechte Zustände zu beseitigen, die sich einer ererbten sozialen Ordnung verdanken.81 Eine angemessene Reaktion auf ererbte öffentliche Verbrechen hat viele Dimensionen, wie ich gleich erörtern werde. Sie kann Kompensationsleistungen82 und Bemühungen um symbolische Kompensation83 einschließen. Hier kommt es mir darauf an zu betonen, dass die Begründung von Pflichten, die bleibenden Wirkungen öffentlicher Verbrechen zu beseitigen, nicht in dem Sinn vergangenheitsorientiert ist, wie es die Begründung von Pflichten aufgrund ererbter öffentlicher Güter ist: Wenn die schuldlosen Mitglieder einer andauernden Gesellschaft verpflichtet sind, die ererbten öffentlichen Verbrechen zu beseitigen, mit denen sie sich in ihrer Gesellschaft konfrontiert finden, dann kann sich diese Pflicht zwar auf eine mit den früher lebenden Unrechtstätern geteilte soziale Identität gründen, nämlich als Mitglieder ein- und derselben transgenerationellen Gemeinschaft.84 Die Erfüllung der Pflicht ist aber nicht mit Blick auf die Unrechtstäter geschuldet. Ihnen schulden sie weder Respekt noch Dankbarkeit. Andererseits stehen überlebende Täter unter Pflichten aufgrund der Unrechtstaten, für die sie verantwortlich sind. Dazu zählen die Pflichten der Kompensation und Restitution gegenüber den überlebenden Opfern und auch den indirekten Opfern, die wegen des von ihren Vorfahren erlittenen Unrechts benachteiligt sind. Wollen Mitglieder andauernder Gesellschaften damit Erfolg haben, eine öffentliche Ordnung ihrer Wahl zu etablieren, müssen sie die langfristigen Konsequenzen ererbter öffentlicher Verbrechen überwinden und, in der Tat, beseitigen. Ein öffentliches Verbrechen zu beseitigen ist ein komplexes und möglicherweise kostspieliges Unterfangen. Allerwenigstens hat es die folgenden Dimensionen:85 erstens die Wahrheit über die historische Ungerechtigkeit und ihre Konsequenzen feststellen. Dies dient unter anderem der öffentlichen Anerkennung der Opfer historischer Ungerechtigkeit im Sinne der Erfüllung unserer überlebenden Pflichten ihnen gegenüber und ist zugleich eine Voraussetzung der Möglichkeit anderer Reaktionen auf

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das Unrecht.86 Zweitens die Dimension der Lustration und der Bestrafung87. Lustration oder Säuberung - z.B. die Entnazifizierung oder Entstalinisierung — bedeutet die Entfernung der Täter und der für die Verbrechen Verantwortlichen aus öffentlichen Amtern und einflussreichen Positionen.88 Drittens die Dimension der Kompensation: Gemeint sind tatsächliche Kompensationsleistungen für überlebende Opfer vergangenen Unrechts sowie gegenwärtig lebende Menschen, die wegen der anhaltenden Konsequenzen des früheren öffentlichen Verbrechens heute Nachteile erleiden. Häufig erleiden gegenwärtig lebende Menschen Nachteile als Mitglieder einer Gruppe, deren frühere Mitglieder Opfer der Verbrechen gewesen sind.89 Viertens die Dimension, Restitution der moralischen Beziehungen zwischen Opfern und Tätern zu ermöglichen.90 Fünftens die Dimension, eine neue öffentliche Ordnung zu etablieren, die dazu beiträgt, Verbrechen dieser Art für die Zukunft zu verhindern.91 Sechstens die Dimension, symbolische Kompensationsleistungen für die toten Opfer zu erbringen.92 Säuberung, Bestrafung, Kompensation und Restitution sind Reaktionen auf Fälle vorangegangener Schädigung.93 Säuberung und Bestrafung sind Reaktionen auf den Täter, und Kompensation ist eine Reaktion auf das Opfer. Schließlich soll Restitution hier als eine Reaktion auf die durch das Unrecht zerstörte moralische Beziehung von Täter und Opfer verstanden werden. Stellvertretende Bestrafung kann nicht gerechte Bestrafung sein. Selbst solche Theoretiker, die die Auffassung vertreten, dass Unschuldige zu „bestrafen" legitim sein kann, werden die Verteidigung dieser Position auf ganz bestimmte nicht-ideale Bedingungen, etwa solche unvollständigen Wissens, beschränkt sehen wollen.94 Fragen wir danach, welche Pflichten schuldlose Menschen Opfern vergangenen Unrechts gegenüber haben können, dann ist es wichtig festzuhalten, dass man gemäß dem hier vorgeschlagenen Verständnis von Restitution gewöhnlich nicht wird sagen können, schuldlose Menschen stünden unter einer Pflicht, den Opfern von durch andere begangenes Unrecht Restitution zu leisten. Andererseits kann man aber von ihnen sagen (und es mag sehr wohl der Fall sein), dass sie unter der Pflicht stehen, den Opfern Kompensation zu leisten. Gemäß dem hier vorgeschlagenen Verständnis unterscheiden sich Kompensation und Restitution in wichtigen Hinsichten. In Antwort

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auf die zerstörte moralische Beziehung von Täter und Opfer kann Restitution in aller Regel weder stellvertretend sein mit Blick auf die handelnden Personen noch mit Blick auf die Substanz der Restitutionshandlung: Das, was verloren gegangen ist, oder sein symbolisches Äquivalent muss von denen „wiederhergestellt" werden, die das Unrecht begangen haben, und an denen, die das Unrecht erlitten haben. Restitutionshandlungen zielen darauf, die Beziehungen der betroffenen Personen zu verändern. Niemand wird behaupten wollen, Entschuldigung, Verzeihung und ihre Annahme könnten Unrecht ungeschehen machen. Vielmehr wird solchem Handeln zugeschrieben, Unrecht zu „tilgen" — was hier wohl heißt, den betroffenen Personen einen Neuanfang ihrer Beziehungen zu ermöglichen. Es liegt nahe anzunehmen, dass Restitutionshandlungen in diesem Sinn mit Blick auf die handelnden Personen nicht stellvertretend sein können: Nur die jeweiligen Unrechtstäter können ihre Unrechtstaten eingestehen und die Personen um Vergebung bitten, denen sie Unrecht getan haben. Restitution wird nicht erzielt, wenn ein anderer als der Unrechtstäter „um Vergebung bittet" oder wenn ein anderer als das Opfer „verzeiht". Üblicherweise kann man von Menschen, die keine Verantwortung für das von anderen begangene Unrecht haben, nicht sagen, sie seien verpflichtet, den Opfern dieses Unrechts Restitution zu leisten. Schuldlose Menschen können nicht unter einer Pflicht stehen, die Beziehungen zwischen Opfern und Tätern direkt wiederherzustellen. Denn sie könnten eine solche Restitution der Beziehung gar nicht erreichen. Halten wir den Begriff der stellvertretenden Verantwortung bei Bemühungen um Restitution überhaupt für sinnvoll, dann doch nur für sehr spezifische Kontexte. Die Idee ist, dass die Erben oder ihre Repräsentanten den Opfern stellvertretend Restitution für das Unrecht leisten können, das ihre Vorfahren oder die, die sie repräsentieren, begangen haben, und auch dass an Stelle der direkten Opfer unter Umständen deren Erben und Repräsentanten Restitution für Unrecht erhalten können, das ihre Vorfahren oder die, die sie repräsentieren, erlitten haben.95 Einige Theoretiker haben sich für ein derart kollektives Verständnis von Restitution im genannten Sinne ausgesprochen. Sie meinen, stellvertretende Restitution sei mit Blick auf die Person, die Handlungen symbolischer Restitution ausführt, möglich, jeden-

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falls unter bestimmten Bedingungen. Die höchsten Repräsentanten einer institutionalisierten Gruppe, zum Beispiel der Vorstand einer Firma oder die höchsten Repräsentanten eines Staates, können demnach bemüht sein, Handlungen symbolischer Restitution mit Blick auf Menschen zu leisten, denen im Namen der durch sie repräsentierten Gruppe Unrecht getan wurde. Je nachdem, wie wir Verantwortung für im Namen der Gruppe verübtes Unrecht auffassen, etwa wenn solche Verantwortung diffus ist und gegenwärtig lebenden Individuen nicht zugeschrieben werden kann,96 mag jedenfalls niemand anderer als die höchsten Repräsentanten der Gruppe heute in der Lage sein, auf solche Weise den Opfern oder ihren Repräsentanten gegenüber zu handeln. Selbst wenn es prinzipiell möglich sein sollte, dass symbolische Restitutionsbemühungen von Repräsentanten gelingen können,97 wird der Erfolg der Bemühungen der Repräsentanten der Tätergruppe davon abhängen, ob es plausibel ist, dass die Opfer moralische Ansprüche auf Anerkennung als Opfer gegenüber der Gruppe geltend machen können und dass das Handeln der Repräsentanten tatsächlich als stellvertretend für die Mitglieder der Gruppe aufgefasst werden kann.98 Eine andere Frage ist jedoch, ob schuldlose Menschen die Restitution der Beziehungen zwischen Tätern und Opfern fördern können.99 Darauf hat die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission gezielt.100 Der Erfolg solcher Bemühungen um Restitution wird jedoch immer auch von den jeweiligen Tätern und Opfern abhängen. Den Tätern und Opfern kann die Bemühung um Restitution nicht abgenommen werden. Anders im Fall der Kompensation: Kompensation ist eine Reaktion auf das Opfer und kann stellvertretend erbracht werden mit Blick sowohl auf die handelnden Personen als auch die Kompensationshandlungen. Opfer können entschädigt werden, wenn jemand anderes als der Unrechtstäter (oder sein Erbe oder Repräsentant) den erlittenen Schaden ausgleicht.101 Auch für Schäden, die nicht auf eine Unrechtstat rückführbar sind, sondern natürliche Ursachen haben, kann Kompensation geleistet werden. Darüber hinaus wird Kompensation üblicherweise als stellvertretend mit Blick auf die Substanz des Guts verstanden, welches das Opfer durch die Kompensationshandlung erhält. Im Gegensatz zur Restitution zielt die Kompensation nicht darauf, das ursprüngliche Gut, das dem Opfer ge-

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nommen wurde, wiederherzustellen, sondern es zielt darauf, das Opfer durch ein stellvertretendes Gut für seinen Verlust zu entschädigen. Es ergibt Sinn zu sagen, dass schuldlose Menschen unter der Pflicht stehen können, die Opfer für Unrecht, das andere an ihnen verübt haben, zu entschädigen. Ob und wann schuldlose Menschen solche Verpflichtungen haben, wem sie gegebenenfalls die Erfüllung dieser Pflichten schulden und warum, ist damit allerdings längst noch nicht beantwortet. Die Unterscheidungen zwischen Kompensation und Restitution, wie ich sie getroffen habe, sind vereinbar mit dem üblichen Verständnis dieser Begriffe. Wenn Restitution die direkten Bemühungen meint, die zerstörten moralischen Beziehungen wiederherzustellen, dann kann Restitution im doppelten Sinne nicht stellvertretend sein, nämlich weder mit Blick auf die handelnden Personen noch auf die Substanz des Guts. Dies ist mit dem üblichen Verständnis von Kompensation und Restitution vereinbar, wenn es um Bemühungen zum Ausgleich von erlittenem Schaden geht. Geht es im Zivilrecht um materiellen Schaden, dann werden Restitution und Kompensation häufig lediglich mit Blick auf die Substanz des Guts unterschieden. Mit Blick auf dieses Gut kann zwar Kompensation, nicht aber Restitution stellvertretend sein. Wenn also Eigentum seinem rechtmäßigen Eigentümer entzogen wird, dann verlangt Restitution, dass wir dem Eigentümer das zurückgegeben, was ihm genommen wurde. Wer immer im Besitz der Sache ist oder wer immer in der Lage ist, die Sache zurückzugeben, muss sie dem Eigentümer zurückgeben. Anders bei der Kompensation: die Kompensationshandlung will ein materielles Substitut für das, was dem Eigentümer genommen wurde, bereitstellen. Ein anderes Verständnis von Restitution und Kompensation berücksichtigt sowohl die Substanz des Guts, das die geschädigte Person erhält, als auch wer die Handlung ausführt. Mit Blick auf die Person, die die wiederherstellende Handlung ausführt, geht man bei Kompensation davon aus, dass die Handlung stellvertretend sein kann. Geht es um materielle Verluste, dann wird dies häufig auch für Restitution angenommen. Und in der Tat ist dies mit Blick auf solche Verluste durchaus plausibel. Denn entscheidend ist, dass der rechtmäßige Eigentümer das zurückerhält, was ihm unrechtmäßig genommen wurde. Aus den oben genannten Gründen ist dieser Vor-

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schlag jedoch bei nicht-materiellen Verlusten viel weniger überzeugend, und er scheint falsch zu sein, geht es um die Wiederherstellung zerstörter moralischer Beziehungen. Restitution, verstanden als eine Reaktion auf die zerstörten moralischen Beziehungen von Täter und Opfer, ist demnach im doppelten Sinn nicht-stellvertretend: weder mit Blick auf die handelnden Personen noch mit Blick auf die Substanz des wiederherzustellenden Guts. Dieser Begriff hat sich als vereinbar mit dem üblichen Verständnis von Kompensation für sowohl materielle als auch nicht-materielle Schäden erwiesen und auch mit unserem Verständnis von Restitution materieller Schäden. Geht es um materielle wie nichtmaterielle Schäden, ist Kompensation stellvertretend mit Blick auf die Substanz des Guts und kann mit Blick auf die handelnde Person stellvertretend sein. Die Substanz einer Kompensationshandlung ist immer auch der Versuch, materielle Substitution fur das zu leisten, was dem Opfer unrechtmäßig genommen wurde. Der Begriff der Restitution ist davon wesentlich verschieden. Geht es um materielle Verluste, ist Restitution mit Blick auf die Substanz des Guts nicht stellvertretend, kann aber mit Blick auf die handelnde Person stellvertretend sein. Geht es um andere als materielle Verluste, dann kann Restitution gewöhnlich weder mit Blick auf die handelnden Personen noch mit Blick auf die Substanz der restitutiven Handlungen stellvertretend sein. Von schuldlosen Personen kann deshalb normalerweise nicht gesagt werden, sie stünden unter der Pflicht, den Opfern des von anderen verübten Unrechts Restitution zu leisten. Andererseits können schuldlose Mitglieder einer andauernden Gesellschaft sehr wohl unter einer Pflicht stehen, den Opfern ererbter öffentlicher Verbrechen Kompensation zu leisten.

5. Zur Begründung historischer Pflichten Im letzten Abschnitt habe ich kontrastierend normative Implikationen der unterschiedenen Aspekte kollektiven Erbes vorgestellt. Die vorgestellten historischen Pflichten sind moralische Pflichten von Individuen, nicht Rechtspflichten von Rechtspersonen (für letztere siehe Abschnitte 1 oben und 6 unten). Die angedeuteten vergangenheits- und zukunftsorientierten Begründungen der be-

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sonderen Pflichten aufgrund solchen Erbes entsprechen der in Kapitel III entwickelten Begründung für überlebende Pflichten sowie der in Kapitel II erläuterten Begründung der Pflichten zur Entschädigung auch gegebenenfalls gemäß der Schwellenwertskonzeption von Schaden. Die Träger der besonderen Pflichten aufgrund solchen Erbes können weder individuell moralische Schuld für das Handeln früher lebender Menschen haben noch an einer kollektiven Schuld für deren Handeln teilhaben (siehe oben 1). In diesem Abschnitt stelle ich zwei Begründungen solcher historischen Pflichten vor und stelle sie in Beziehung zu den Haftungspflichten des Staates für in seinem Namen verübtes historisches Unrecht. Einige der Pflichten oder Aspekte derselben können erstens als Spezifikationen genereller Gerechtigkeitspflichten aufgefasst werden, unter denen alle Menschen stehen. Dies gilt insbesondere für die zukunftsorientiert begründeten Pflichten kompensatorischer und (besonderer) distributiver Gerechtigkeit aufgrund ererbter Verbrechen und Übel. So verstanden verdanken sich historische Pflichten der natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit. Zweitens beruhen historische Pflichten auf der Verantwortung dafür, wer wir als Mitglieder andauernder Gesellschaften sind, die ihre Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft nicht zuletzt aufgrund deren besonderer historischer Merkmale intrinsisch wertschätzen. Die kritische Prüfung solcher Wertschätzung ergibt typischerweise, dass das kollektive Erbe die Mitglieder solcher Gesellschaften auch belastet und ihnen Pflichten auferlegt. Diese beiden Begründungen historischer Pflichten können einander ergänzen und, wie ich in Abschnitt 6 zeige, die Bürgerpflicht zur Unterstützung des Staates in Erfüllung seiner Haftungspflichten für historisches Unrecht begründen (siehe oben 1). Die beiden Begründungen setzen gleichermaßen die Kritik des voluntaristischen Verständnisses von Pflichten voraus. Voluntaristisch verstanden sind Pflichten aufgrund von Mitgliedschaft in Gruppen vertragstheoretisch oder quasi-vertragstheoretisch aufzufassen.102 Die natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit nimmt hingegen an, dass es generelle Pflichten der Gerechtigkeit gibt, und behauptet, dass diese für Mitglieder von Gruppen spezifische Pflichten ausweisen kann und für Nichtmitglieder andere.103 Der Grund der Zuschreibung der spezifischen Mitgliedspflichten Regt darin, dass Gruppen ihren Mitgliedern ermög-

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liehen können, der generellen Pflicht zu Gerechtigkeit in besonderem Maße und durch Erfüllung spezifischer Pflichten zu entsprechen. Wenn das der Fall ist, dann stehen die Mitglieder unter den so spezifizierten Pflichten. Gründen sich historische Pflichten auf der Verantwortung dafür, wer wir als Mitglieder transgenerationeller historischer Gruppen sind, dann beruhen sie auf dem Wert der besonderen Beziehungen zwischen Mitgliedern einer Gruppe, nämlich aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Gruppe.104 Dabei wird der Wert solcher Beziehungen weder als abhängig von willentlicher Zustimmung noch notwendig im Sinne der Spezifikation universeller Werte aufgefasst. Vielmehr sollen Beziehungen auch aufgrund ihrer historischen Einzigartigkeit Grund für spezifische Pflichten der Menschen sein, die in diesen Beziehungen zueinander stehen. Anliegen der Voluntaristen ist, das Individuum vor unzumutbarer Zuschreibung von Pflichten zu schützen. Für unzumutbar werden Mitgliedsp fliehten dann gehalten, wenn sie Individuen unabhängig jeglicher relevanter Zustimmung zugeschrieben werden, nämlich aufgrund bloßer Mitgliedschaft in einer Gruppe oder Beteiligung an einer Beziehung. Der Voluntarist bestreitet nicht, dass wir besondere Verpflichtungen den Mitgliedern der Gruppen gegenüber haben können, denen wir angehören, behauptet aber, dass wir unter solchen Pflichten nur stehen können, insofern wir sie willentlich eingegangen sind. Allerdings ist unter den Voluntaristen umstritten, welche Form die willentliche Annahme der oder Einwilligung in die Mitgliedspflichten nehmen kann. Muss es sich um eine vertragliche Einwilligung handeln, oder kann man aus der Annahme von Vorteilen aus der Gruppenmitgliedschaft auf eine willentliche Annahme auch der Mitgliedspflichten schließen, oder ist gar die Tatsache hinreichend, dass die Person ihre Mitgliedschaft nicht aufgekündigt hat, z.B. indem sie ausgewandert ist oder ihre Staatsbürgerschaft zurückgegeben hat, um ihr die aus Mitgliedschaft erwachsenden Pflichten als von ihr gewollt zuzuschreiben?105 Wie immer die Bedingung willlentlicher Zustimmung genau verstanden wird: der Voluntarist besteht darauf, dass man nicht einfach unter solchen Pflichten stehen kann, ohne etwas getan zu haben, um diese Pflichten auf sich zu laden. Die beiden unterschiedenen Begründungen historischer Pflichten bestreiten, dass deren Träger diese eigens willentlich eingegangen sein

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müssen. Die Begründung historischer Pflichten als Spezifikation genereller Gerechtigkeitspflichten setzt eine besondere willentliche Zustimmung zu historischen Pflichten nicht voraus. Sofern Menschen sich als Moralpersonen verstehen, für die die generellen Pflichten der Gerechtigkeit gelten,106 und sofern sie Mitglieder transgenerationeller Gesellschaften sind, können sie auch unter speziellen historischen Pflichten stehen. Auch die Begründung historischer Pflichten im Sinne der Verantwortung dafür, wer wir als Mitglieder transgenerationeller historischer Gruppen sind, setzt zwar für die Geltung historischer Pflichten ein spezifisches Selbstverständnis voraus, nämlich ein ethisches, nicht aber eine eigene willentliche Zustimmung zu diesen Pflichten. Die Diskussion der Pflichten von Mitgliedern von Erinnerungsgemeinschaften, insbesondere deren intergenerationelle Pflichten des Respekts und der Dankbarkeit, hat ergeben, dass diese Pflichten sich in dem Wert der Mitgliedschaft für die Mitglieder gründen. Betont wurde auch, dass Menschen häufig Mitglieder solcher Gemeinschaften werden, ohne dass sie im Sinne der Voluntaristen dem insbesondere zugestimmt hätten, und dass sich der besondere Wert der Mitgliedschaft in diesen Gruppen dieser Genese verdanken kann.107 Dann ist es unplausibel anzunehmen, dass Mitglieder solcher Gruppen den aus Gruppenmitgliedschaft erwachsenden Pflichten erst noch zustimmen müssen, bevor sie ihnen zugeschrieben werden können. Zustimmung im Sinne der voluntaristischen Position scheint nicht zu den notwendigen Bedingungen für die Zuschreibung der Pflichten aufgrund von Mitgliedschaft in solchen Gemeinschaften zu gehören.108 Jedoch können Menschen als Mitglieder solcher Gemeinschaften unter diesen Mitgliedspflichten nur dann stehen, wenn die derart begründeten Pflichten nicht mit den Rechten und Pflichten konfligieren, die alle Menschen gleichermaßen haben, weil sie Handlungsgründe reflektieren, die für alle Menschen gleichermaßen relevant sind, und die darüberhinaus Vorrang vor den Pflichten aufgrund von Gruppenmitgliedschaft genießen. Diese Rechte und Pflichten können als Rechte und Pflichten der Gerechtigkeit aufgefasst werden.109 Zu ihnen zählt, dass Menschen das Recht haben, ihre Mitgliedschaft in Gruppen aufzukündigen und sich damit von den entsprechenden Mitgliedspflichten zu befreien, und zwar unter für sie zumutbaren Bedingungen. Andere stehen unter den entsprechenden Pflichten,

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dafür zu sorgen, dass Menschen die Option, die Gruppe zu verlassen, realisieren können.110 Die Geltung dieser und anderer Pflichten der Gerechtigkeit kann nicht als abhängig von der besonderen Zustimmung derer, für die sie gelten, verstanden werden.111 Die Begründung historischer Pflichten als Spezifikationen genereller Pflichten bezieht sich auf transgenerationelle historische Gesellschaften, insofern sie besondere Orte der Realisierung von sozialer Gerechtigkeit sind, und auf ererbte öffentliche Verbrechen, insofern sie für diese Gesellschaften jeweils die Bedingungen mitbestimmen, unter denen Gerechtigkeit zu realisieren ist.112 Mitglieder einer solchen Gesellschaft sind verpflichtet, eine gerechte politische Ordnung einzurichten und aufrechtzuerhalten. In ihren entsprechenden Bemühungen sehen sie sich mit den Wirkungen ererbter öffentlicher Verbrechen auf das Wohlergehen gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen konfrontiert. Um nämlich bei ihrer Bemühung, eine gerechte politische Ordnung einzurichten, Erfolg zu haben, müssen sie unter anderem dem Einfluss früherer öffentlicher Verbrechen entgegenwirken. In Erfüllung ihrer Pflicht, eine gerechte öffentliche Ordnung einzurichten oder zu erhalten, können sie auch unter der Pflicht stehen, den Opfern und indirekten Opfern früheren Unrechts (stellvertretend) Kompensation zu leisten. Dies kann den Opfern gerechterweise geschuldet sein. Solche Pflichten anzuerkennen und zu erfüllen kann darüber hinaus von großer Bedeutung für die soziale wie auch kulturelle Entwicklung einer fortdauernden Gesellschaft sein. Es bezeugt, dass eine Veränderung in den Einstellungen stattgefunden hat. Eine derartige Veränderung kann dazu beitragen, die Kontinuität mit den Normen und der Mentalität zu beenden, die der Einrichtung und dem Erhalt der früheren öffentlichen Verbrechen förderlich waren oder sie mit konstituierten. Im Sinne dieser Begründung historischer Pflichten nehmen wir also erstens an, dass die Gerechtigkeitspflichten gegenwärtig lebender Menschen die Einrichtung und Förderung gerechter Gesellschaften auch angesichts deren je eigener Geschichte zum Gegenstand haben, und zweitens, dass mit Blick auf die Erfüllung dieser Pflichten ererbte öffentliche Verbrechen besonders relevant sein können. Das vorgestellte Verständnis der Pflichten schuldloser Mitglieder, Opfer vergangenen Unrechts stellvertretend zu entschädigen, ist dann nicht zuletzt deshalb plausibel, weil es Pflichten ausweist, unter denen

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Menschen als Mitglieder spezifischer andauernder Gesellschaften stehen. Das entspricht unserem üblichen Verständnis dieser Pflichten. Fragen wir heute, wer unter welchen Pflichten den Opfern früheren Unrechts gegenüber steht, wenn die Träger dieser Pflichten am historischen Unrecht schuldlos sind, dann unterscheiden wir gewöhnlich danach, welchen andauernden Gesellschaften gegenwärtig lebende Menschen angehören. Für den deutschen Kontext denkt man an die Opfer jüngster deutscher Vergangenheit, an die Juden, die Roma und Sinti, die Zwangsarbeiter, die Opfer politischer Verfolgung,113 und mit Blick auf ein anderes Kapitel deutscher Geschichte denkt man an die Opfer des unterdrückerischen Regimes der früheren DDR, im besonderen aber an die an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland von DDR-Grenzsoldaten getöteten sogenannten Republikflüchtlinge.114 Angesichts zum Beispiel der jüngsten Geschichte Argentiniens oder der Sowjetunion und ihrer Nachfolgerepubliken sind die Mitglieder dieser andauernden Gesellschaften je anderen Opfergruppen verpflichtet — im Fall Argentiniens den so genannten Verschwundenen115 und ihren Angehörigen, im Fall der Sowjetunion den Opfern des stalinistischen Gulags.116 Demnach sollen sich schuldlose Mitglieder einer andauernden Gesellschaft auf frühere öffentliche Verbrechen beziehen, was voraussetzt, dass sie die Besonderheiten der historischen Situation berücksichtigen, in der sie sich befinden: Insofern man zur Einrichtung oder dem Erhalt einer gerechten öffentlichen Ordnung beitragen möchte, sind nicht alle Aspekte der Vergangenheit von gleicher Bedeutung. Für verschiedene Menschen sind verschiedene Vergangenheiten und verschiedene frühere öffentliche Verbrechen wichtig. Die jeweilige Begründung solcher historischer Pflichten reflektiert die Relevanz des an bestimmten Menschen verübten früheren moralischen Unrechts für Mitglieder andauernder Gesellschaften, wenn sie ihre Gerechtigkeitspflichten heute erfüllen. Nach Auffassung der Vertreter der Position einer natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit stehen Menschen als Mitglieder von politischen Gesellschaften unter besonderen Gerechtigkeitspflichten: Erst wer Mitglied einer solchen Gesellschaft ist, kann der generellen Pflicht zur Gerechtigkeit in besonderem Maße entsprechen, nämlich der Erfüllung spezifischer Pflichten nachkommen. Mitgliedschaft ist

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Voraussetzung für die Erfüllung spezifischer Pflichten der Gerechtigkeit, und sie sind für die Mitglieder solcher Gesellschaften bindend.117 Für die Mitglieder dieser Gesellschaften ist die Zuschreibung dieser besonderen Pflichten an sie nicht von deren Zustimmung abhängig. Wenn die Pflichten zur Kompensation indirekter Opfer zu den Gerechtigkeitspflichten andauernder Gesellschafen zählen, die öffentliche Verbrechen ererbt haben, dann können die besonderen Pflichten der Mitglieder solcher Gesellschaften, nämlich staatliche Maßnahmen zur Kompensation der Opfer zu unterstützen, als Spezifikationen ihrer natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit aufgefasst werden. Demnach hängt auch die Zuschreibung dieser Pflichten nicht notwendig von der Einwilligung der Pflichtenträger ab. Die Position, es gebe eine natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit, beruht auf der Annahme, dass den Forderungen der Gerechtigkeit zu entsprechen ein moralischer Imperativ ist. Sofern Institutionen dafür notwendig sind, sollen solche Institutionen eingerichtet werden. Wir stehen nicht nur unter der Pflicht sicherzustellen, dass die Institutionen, unter denen wir leben, gerecht sind. Vielmehr sollen wir unseren Teil dafür tun, dass Institutionen eingerichtet werden, die es uns erlauben, den Forderungen der Gerechtigkeit zu entsprechen. Vertragstheoretisch und mit Kant gesprochen: Weil wir nicht im Naturzustand verharren dürfen, steht es uns auch nicht frei, unsere Bindung an Rechtsinstitutionen, die von der Gerechtigkeit gefordert sind, als abhängig von unserer Zustimmung zu erachten.118 Und sofern wir unter gerechten (oder jedenfalls halbwegs gerechten) Institutionen leben, sind wir verpflichtet, uns den Regeln dieser Institutionen gemäß zu verhalten und diese Institutionen zu unterstützen.119 Arbeitsmigranten, die nicht wie Touristen sich nur für kurze Zeit in einem anderen als ihrem Herkunftsland aufhalten,120 sondern mit der Absicht, auf Dauer im Gastland zu leben, können ihre Lebensumstände so verändert haben, dass sie deshalb unter andern spezifischen Pflichten der Gerechtigkeit stehen. Da die Bedingungen des Gastlandes nun die für den Arbeitsmigranten relevanten Bedingungen zur Realisierung von Gerechtigkeit sind, steht er unter der Pflicht, alle Institutionen und Politiken im Gastland zu unterstützen, die von der Gerechtigkeit gefordert sind. Z.B. wird ein solcher Arbeitsmigrant in den USA unter der Pflicht stehen, eine von der Gerechtigkeit geforderte und effektive Politik zur Lösung des Problems der schlimmen

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Lage von Obdachlosen insbesondere in den Großstädten zu unterstützen.121 So es von der Gerechtigkeit gefordert ist, steht er auch unter der Pflicht, staatliche Kompensationszahlungen an die Nachfahren der Sklaven oder der Ureinwohner des nordamerikanischen Kontinents zu unterstützen. Zwar hat der Migrant, der die Staatsbürgerschaft nicht oder noch nicht erworben hat, nicht die Möglichkeiten einer Bürgerin des Staates, diesen Pflichten zu entsprechen. Wenn er auch von den politischen Partizipationsrechten weitgehend ausgeschlossen ist, so wird er doch häufig die Möglichkeit haben, seine Auffassung davon, was die Gerechtigkeit fordert, zum Ausdruck zu bringen, und die entsprechenden Politiken oder auch Initiativen zu unterstützen. Selbstverständlich kann auch der Migrant die bestehenden gerechten Institutionen, sofern ihre Regeln auch sein Verhalten betreffen, durch seine bestimmte Einhaltung eben dieser Regeln unterstützen. Die Behauptung, Mitglieder von politischen Gesellschaften könnten unter spezifischen Pflichten zur Gerechtigkeit stehen, beruht auf der Annahme, dass es von den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen wir uns befinden, abhängen kann, was die Gerechtigkeit von uns fordert: Wir alle stehen unter der generellen Pflicht zur Gerechtigkeit, unter besonderen Pflichten der Gerechtigkeit aber abhängig davon, was von uns aufgrund der gesellschaftlichen Situation im Besonderen gefordert ist. Dass Unterschiedliches von uns je nach gesellschaftlicher Situation gefordert ist, dafür kann es verschiedene Gründe geben. Erstens könnte es der Fall sein, dass die Bedingungen der distributiven Gerechtigkeit auf globaler Ebene nicht vorliegen, so dass auf dieser Ebene nicht einmal die Forderung nach Einrichtung der entsprechenden Institutionen sinnvoll wäre. Oder die Bedingungen auf der globalen Ebene könnten so beschaffen sein, dass jedenfalls andere Forderungen der Gerechtigkeit sinnvoll sind als auf der Ebene weit entwickelter und verhältnismäßig wohlgeordneter nationaler oder regionaler Gesellschaften. 122 Zweitens ergeben sich spezifische Forderungen der Gerechtigkeit dann, wenn besondere Kooperationsbeziehungen zwischen Menschen bestehen, ohne dass es eine Pflicht der Gerechtigkeit dazu gäbe, dass Menschen solche Kooperationsbeziehungen eingehen.123 Drittens können alternative, sich wechselseitig ausschließende Regelungen gleichermaßen gerecht sein und verschiedene Gesellschaften können je andere

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Regelungen getroffen haben.124 Die Mitglieder dieser Gesellschaften werden verpflichtet sein, den für sie geltenden Regelungen zu folgen. Unter Hinweis darauf, dass die alternative Regelung ebenso gerecht wäre, kann man sich der Pflicht, den geltenden Regelungen entsprechend zu verhalten, nicht entziehen. Es kann darauf ankommen, dass eine der alternativen gerechten Regelungen gilt und wenn erst eine solche Regelung institutionalisiert ist, dann können die Kosten dafür, sie durch eine andere, ebenso gerechte Regelung zu ersetzen, erheblich sein. Jedenfalls wird die Präferenz einer Person zugunsten einer anderen gerechten Regelung nicht als Rechtfertigung dafür genügen, sich nicht der geltenden gerechten Regelung gemäß zu verhalten. Wenigstens die Geltung besonderer Mitgliedspflichten, wenn sie sich auf erstgenannte Überlegung stützt, könnte vorläufig sein. Wir könnten in einer Welt leben, in der die Forderungen der Gerechtigkeit für alle Menschen die gleichen sind. Die Behauptung der Position der natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit mit Blick auf die spezifischen Pflichten von Mitgliedern von Gesellschaften ist nicht, dass Menschen notwendig unter anderen Pflichten zur Gerechtigkeit stehen, nämlich abhängig davon, in welchen Gesellschaften sie Mitglied sind, sondern dass sie es wenigstens vorläufig sein können, gegeben die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens, die wir vorfinden. Andererseits betont diese Position, dass alle Menschen unter der generellen Pflicht zur Gerechtigkeit stehen. Das hat durchaus wichtige Implikationen. So stehen andere als die Mitglieder einer gerechten Gesellschaft (oder einer Gesellschaft, in der wenigstens wichtige Teilbereiche gerecht geregelt sind), unter der Pflicht, diese Institutionen jedenfalls nicht zu unterminieren.125 Diese Pflicht kann ihnen zugeschrieben werden unabhängig von ihrer besonderen Zustimmung. In der Tat wird der Voluntarist eine solche Pflicht für Nichtmitglieder, die sich außerhalb der entsprechenden Gesellschaft befinden, nicht behaupten können. Denn er hält für die Pflichtzuschreibung wenigstens eine spezifische Beziehung zur Gesellschaft für notwendig, die aber durch die Möglichkeit, von außen (schädigend) auf sie einzuwirken nicht schon konstituiert werden dürfte. So wir die generelle Pflicht, gerechte Institutionen wo auch immer nicht zu unterminieren, für plausibel halten, ist die

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Position der natürlichen Pflicht der voluntaristischen Auffassung darin überlegen, eben diese Pflicht ausweisen zu können. Bevor ich den zweiten und, wie ich meine, komplementären Ansatz zur Begründung historischer Pflichten vorstelle, sei ein Einwand gegen beide Begründungsversuche erwähnt. Beide Begründungen zielen auf den Ausweis von Pflichten schuldloser Mitglieder andauernder Gesellschaften. Die Pflichten überlebender Täter sind anders begründet. Sie stehen aufgrund ihrer früheren Taten gegenüber den Opfern unter Pflichten, weil sie ihnen Unrecht angetan haben. Unter eigens zu begründenden Pflichten, nämlich der Restitution und Kompensation, steht auch, wer sich illegitim bereichert hat sowie womöglich dessen Erben.126 Der Einwand bestreitet nicht, dass es moralisch wichtig ist, zwischen den schuldlosen Mitgliedern einer andauernden Gesellschaft, die frühere öffentliche Verbrechen ererbt haben, einerseits und solchen Personen andererseits zu unterscheiden, die diese Unrechtstaten in der Vergangenheit begangen haben. Jedoch sei es häufig schwierig, die Personen, die als schuldlos gelten können, von denen zu unterscheiden, die als Verbrecher zu identifizieren sind, sowie von denen, welche geholfen haben, das öffentliche Verbrechen zu etablieren und aufrechtzuerhalten, und denen, die sich illegitim bereichert oder aus dem Umstand Nutzen gezogen haben, das in Frage stehende öffentliche Verbrechen ererbt zu haben.127 Außerdem sei es eine Sache, diese Gruppen von Menschen zu unterscheiden, eine andere aber, dafür Sorge zu tragen, dass die schuldlosen Mitglieder andauernder Gesellschaften als solche anerkannt werden. Paradoxerweise mag dies besonders schwierig sein, wenn letztere akzeptieren, angesichts der besonderen Geschichte ihrer Gemeinschaft unter besonderen Pflichten zu stehen. Häufig werden sie die ersten gewesen sein, die in der Lage und willens waren, Pflichten angesichts der besonderen Geschichte ihrer Gemeinschaft zu akzeptieren, sowie die ersten, die auf die politischen Institutionen ihrer Gesellschaft Druck ausgeübt haben, diesen Pflichten entsprechende öffentliche Politiken zu implementieren, zum Beispiel, eine Politik der Entschädigung der Opfer. In der Tat schließt eine angemessene Antwort auf ererbte öffentliche Verbrechen normalerweise öffentliche Maßnahmen ein. Es ist schwierig, in einer Gesellschaft, die sich mit einem ererbten öffentlichen Verbrechen konfrontiert sieht, solche Maßnahmen durchzuführen, ohne den Ein-

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druck zu erwecken, man schreibe der Gesellschaft als solcher für die Verbrechen nicht-distributiv Schuld zu und halte alle Mitglieder für jedenfalls mitschuldig. Wenn sie solche Politiken unterstützen, riskieren die schuldlosen Mitglieder einer andauernden Gesellschaft, die als Mitglieder dieser Gesellschaft öffentliche Verbrechen ererbt haben, missverstanden zu werden, so als ob sie Schuldzuschreibungen für Ungerechtigkeiten akzeptierten, die sie nicht begangen haben. Sollte dies eine Implikation der Praxis sein, kollektiv unsere Pflichten als Mitglieder andauernder Gesellschaften, die öffentliche Verbrechen ererbt haben, zu erfüllen, dann dürfte dies den Respekt dafür untergraben, moralisch zwischen unschuldigen Personen und anderen unterscheiden zu sollen, die für die Einrichtung und den Erhalt des in Frage stehenden öffentlichen Verbrechens verantwortlich waren, und über kurz oder lang die Bereitschaft schuldloser Mitglieder, ihre Pflichten zu akzeptieren. Generell lässt sich auf den Einwand, die zu Recht vorgenommenen moralischen Unterscheidungen seien politisch naiv, wenig sagen. Ob es gelingen kann, dass eine öffentliche Politik der stellvertretenden Kompensation von Opfern früherer öffentlicher Verbrechen die moralisch gültige Unterscheidung zwischen denen, die Schuld für das Unrecht tragen, und denen, die es nicht tun, nicht nur reflektiert, sondern dass diese Politik als solche auch Anerkennung findet, dürfte je nach besonderer Situation eine Vielzahl von durchaus unterschiedlichen Voraussetzungen haben. Eine generelle Voraussetzung ist aber, dass die Unterscheidungen und deren normative Relevanz verstanden werden. Dazu trägt ebenfalls die zweite Begründung historischer Pflichten unschuldiger Mitglieder andauernder Gesellschaften bei. Wie ich oben in Kapitel IV.4 entwickelt habe, können Menschen ihre Mitgliedschaft in kulturellen Gruppen wegen deren besonderer historischer Merkmale für intrinsisch wertvoll erachten. Zudem verstehen sie, dass der Wert der Mitgliedschaft in solchen Gruppen nur kollektiv realisiert werden kann: Die Vielfalt der Optionen, die ihnen in ihrer Gesellschaft offen steht, kann nur durch das kollektive Handeln der Mitglieder dieser Gesellschaft bewahrt werden. In dieser Gesellschaft zu leben ist dann ein kollektives Gut, für dessen Realisierung die Mitglieder der Gesellschaft wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Von den Mitgliedern wird erwartet, dass ihre

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Handlungen dem Erhalt und der erfolgreichen Entwicklung einer Gesellschaft mit diesen Merkmalen angemessen sind. Transgenerationelle kulturelle Gruppen sind dadurch gekennzeichnet, dass zukunftsorientierte Projekte für das kollektive Gut der Gruppe konstitutiv sind. Zu diesen transgenerationellen Projekten haben schon früher lebende Mitglieder der Gruppe beigetragen. Deren kollektives Erbe erhalten, interpretieren und entwickeln gegenwärtig lebende Mitglieder mit Blick auf zukünftige. Menschen können unter speziellen Pflichten gegenüber den Mitgliedern ihrer sozialen Gruppe stehen. 128 Assoziative Pflichten können Menschen auch ihren Freunden gegenüber haben und anderen Menschen, zu denen sie in persönlicher Beziehung stehen. Persönliche Freunde haben einen wechselseitigen Anspruch auf bevorzugte Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse und Sorgen. Das ist für den Wert von Freundschaft entscheidend. Pflichten aufgrund von Mitgliedschaft in transgenerationellen kulturellen Gruppen mit historisch einzigartigen Merkmalen gründen sich im Wert der Mitgliedschaft: Wenn Menschen ihre Gruppenmitgliedschaft in solchen Gruppen für intrinsisch wertvoll erachten, dann können sie gute Gründe dafür haben, den Zustand dieser Gesellschaft in dem Maße, in dem das möglich ist, zu erhalten und deren Kultur unter veränderten Bedingungen fortzuentwickeln. Mitglieder solcher Gruppen schulden einander den Erhalt und die Entwicklung ihrer ererbten Gruppenkultur. Ob ein Mitglied seinen assoziativen Pflichten genügt, misst sich daran, was er für andere Mitglieder und den Erhalt und die Entwicklung der Gruppenkultur tut. Vorrang vor der Erfüllung solcher assoziativer Pflichten hat aber, so mein Argument in Kapitel IV.4, die Erfüllung der dringendsten generellen und universellen Pflichten. Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und insbesondere Mitgliedschaft in einer transgenerationellen historischen Gruppe kann aber auch anders begründete besondere Pflichten nach sich ziehen. Als Mitglieder solcher Gruppen teilen Menschen eine soziale Identität. Dieser verdanken sich kommunale Pflichten: Die Mitglieder der Gruppe sind dafür verantwortlich, wer sie aufgrund der Mitgliedschaft in der Gruppe sind. Die Verantwortung dafür, wer sie in diesem sozialen Sinne sind, bezieht sich nicht allein darauf, was sie selbst jeweils als Mitglieder der Gruppe tun, sondern auch darauf,

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was andere als Mit-glieder der Gruppe tun.129 Im Falle transgenerationeller historischer Gruppen, deren Wert unter anderem von der Fortführung stark zukunftsorientierter Projekte abhängt, kann sich solche Verantwortung auch auf das Handeln früher lebender Mitglieder der Gruppe beziehen. Denn für den Wert der Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe sind transgenerationelle Projekte konstitutiv, deren Pflege und Fortführung nur kollektiv geleistet werden kann. Ein schon mehrfach angeführtes Beispiel ist die Kultur der Saami. Die besonderen Optionen, die den Saami in ihrer Gesellschaft offen stehen, sind entstanden und können nur bewahrt werden durch das kollektive Handeln der Mitglieder dieser Gesellschaft. Zudem ist charakteristisch für derartige kulturelle Gruppen, dass das, was Mitgliedschaft in ihnen wertvoll sein lässt — also nicht zuletzt die besonderen Lebensformen und Optionen, die den Mitgliedern offen stehen —, nicht von Mitgliedern einer Generation geschaffen werden kann. Unter sich verändernden Bedingungen sind vielmehr Nicht-Zeitgenossen gemeinsam der Entwicklung, Interpretation und Pflege der Kultur und ihrer Voraussetzungen verpflichtet und tragen zur Realisierung des Projekts in Anerkennung ihrer transgenerationellen Abhängigkeit gemeinsam bei. Das Selbstverständnis von Mitgliedern solcher Gruppen beruht jedenfalls darauf, dass sie sich aufeinander und auch auf NichtZeitgenossen als Mitglieder derselben Gruppe beziehen. Sofern gegenwärtig lebende Menschen ihre soziale Identität in diesem Sinne verstehen, bezieht sich ihre Verantwortung dafür, wer sie als Mitglieder dieser Gruppe sind, nicht nur darauf, was sie selbst tun und getan haben, sondern auch darauf, was die anderen Mitglieder der Gruppe tun und getan haben, und dass schließt im Falle einer transgenerationellen historischen Gruppe auch das Handeln früher lebender Mitglieder der Gruppe mit ein. Voraussetzung für eine solche soziale Identität ist eine geteilte Erinnerung. Historische Kenntnis der Vergangenheit reicht nicht hin, um sich auf das Handeln früherer Mitglieder der Gruppe als Quelle gegenwärtiger Verantwortung beziehen zu können. Geschichtsschreibung, die dem wissenschaftlichen Ideal einer möglichst objektiven Beschreibung und Erklärung vergangenen Geschehens verpflichtet ist, kann das Handeln früherer Mitglieder einer transgenerationellen Gruppe nicht in diesem Sinne deuten. Die normative Interpretation

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verdankt sich vielmehr einer geteilten sozialen Erinnerung, die ein wesentliches Element der sozialen Identität von Mitgliedern transgenerationeller historischer Gruppen ist.130 Erinnerung kann für den Einzelnen und kollektiv für Mitglieder einer Gruppe den Zusammenhang zwischen heutiger Verantwortung und früherem Handeln herstellen. Weil auch soziale Erinnerung der historischen Wahrheit verpflichtet ist, ist Geschichtswissenschaft ein unerlässliches Korrektiv solcher Erinnerung. Geschichtswissenschaft als solche kann aber die sich geteilter Erinnerung verdankenden moralischen Forderungen nicht begründen. Die Verantwortung dafür, wer wir als Mitglieder einer solchen Gruppe sind, kann, sofern sie sich darauf bezieht, was früher lebende Mitglieder der Gruppe getan haben, nicht auf der Schuld für deren Handeln beruhen. Denn wir können für das Handeln anderer, das wir nicht haben beeinflussen können, nicht schuldig sein und auch nicht im Sinne der Teilhabe an einer Kollektivschuld. Uns kann deren Verhalten nicht moralisch vorgeworfen werden (siehe oben Abschnitt 1). Inwiefern können wir dann von Verantwortung für deren Verhalten sprechen? Der Verantwortung dafür, wer wir als Mitglieder einer solchen Gruppe sind, jedenfalls sofern sie sich darauf bezieht, was andere Mitglieder der Gruppe tun oder getan haben, entsprechen nicht Schuld- sondern Schamgefühle. Das Gefühl der Scham stellt sich ein, wenn wir nicht sind, wer wir sein wollen und glauben Grund zu haben, sein zu sollen. Unsere Identität ist eine soziale, sofern wir uns als Mitglieder einer Gruppe verstehen und glauben Grund zu haben, uns als solche verstehen können zu sollen, weil die Mitgliedschaft in der Gruppe für uns wertvoll sein kann. Dann können wir uns auch dafür schämen, was andere Mitglieder dieser Gruppe tun oder getan haben. Denn deren Handeln kann den Wert der Mitgliedschaft in dieser Gruppe mindern oder in Frage stellen.131 Das bedroht das Selbstverständnis der Mitglieder der Gruppe. Sie können nicht oder nicht vollständig die Personen sein, die sie glauben Grund zu haben, sein zu wollen. Sie sind gezwungen zu prüfen, ob sie angesichts der Handlungen anderer und deren Konsequenzen noch berechtigt sind, ihre Mitgliedschaft in dieser Gruppe intrinsisch wertzuschätzen. Mit Blick auf eine soziale Identität kann Scham Ausdruck der Diskrepanz sein zwischen dem, wer man als Mitglied einer Gruppe sein zu sollen

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glaubt, und dem, wer man aufgrund des eigenen Fehlverhaltens oder des anderer Mitglieder der Gruppe ist. 132 Das Handeln anderer kann eine solche Wirkung haben, wenn sie als Mitglieder der Gruppe handeln und durch ihr Fehlverhalten den Wert der für diese Gruppe konstitutiven Projekte mindern. Eine solche Wirkung auf alle Mitglieder der Gruppe setzt nicht voraus, dass diese Verständnis für das Fehlverhalten anderer Gruppenmitglieder haben oder sich gar mit deren Verhalten identifizieren. Im Gegenteil sind die Schamgefühle gegenwärtig lebender Mitglieder Ausdruck dafür, dass sie das Fehlverhalten als falsch erkennen und die Unrechtstäter verurteilen, weil sie Prinzipien verletzt haben, die für sie gerade auch als Mitglieder dieser Gruppe galten. Voraussetzung ist nicht Identifizierung mit dem Fehlverhalten anderer, sondern eine Identifikation mit den Unrechtstätern, insofern die gegenwärtigen Mitglieder ihrem Selbstverständnis nach mit den Unrechtstätern eine soziale Identität teilen, die durch das Verhalten letzterer beschädigt ist. Die heute lebenden schuldlosen Mitglieder schämen sich als gegenwärtig lebende Mitglieder einer transgenerationellen Gruppe, der die früher lebenden Unrechtstäter ebenfalls angehörten. Ist der Wert der besonderen sozialen Identität gemindert oder in Frage gestellt, werden die Mitglieder der Gruppe bemüht sein, den Wert dieser geteilten Identität wiederherzustellen. Wenn Mitglieder ihren assoziativen Pflichten nicht genügen, ihr eigenes Handeln dem sozialen Ideal der Gruppe nicht genügt, dann werden sie sich bessern wollen. 133 So ihr Fehlverhalten die Rechte anderer verletzt hat, können sie sich glaubwürdig nur bessern, wenn sie ihre Schuld eingestehen und die Personen, denen sie Unrecht getan haben, zu entschädigen bemüht sind, oder auch akzeptieren, Strafe zu verdienen. Wenn das Handeln anderer Mitglieder den Wert der geteilten Identität mindert, können die schuldlosen Mitglieder für deren Verhalten nicht bestraft werden, weil ihnen moralisch nichts vorzuwerfen ist. Ihre Bemühung um die Wiederherstellung des Werts der geteilten sozialen Identität wird sich auf andere richten. Im Falle des Fehlverhaltens früher lebender Mitglieder kann sie sich nicht auf die Besserung von deren Verhalten richten. Menschen können aber als Mitglieder anerkennen, dass anderen durch Mitglieder ihrer Gruppe Unrecht getan wurde, und bemüht sein, die Opfer und indirekten Opfer zu entschädigen. 134

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Da aber im eigentlichen Sinne nur überlebende Opfer historischen Unrechts und indirekte Opfer entschädigt werden können, bleibt den Mitgliedern einer transgenerationellen historischen Gruppe nur die Anerkennung des historischen Unrechts, wenn Entschädigung nicht mehr möglich ist. Handlungen symbolischer Kompensation, wie in Kapitel III erklärt, können gegenwärtigen Mitgliedern solcher Gruppen erlauben, solche Anerkennung unter diesen Umständen angemessen auszudrücken. Nur wer das Selbstverständnis teilt, Mitglied einer transgenerationellen historischen Gruppe zu sein, und seiner Mitgliedschaft in der Gruppe nicht zuletzt aufgrund deren historischer Merkmale und andauernder, Generationen übergreifender Projekte Wert zuschreibt, kann aufgrund auch des Fehlverhaltens anderer und früherer Mitglieder der Gruppe genötigt sein zu prüfen, ob die Wertschätzung seiner Mitgliedschaft in der Gruppe berechtigt ist. An der Wertschätzung der Mitgliedschaft trotz solchen Fehlverhaltens und seiner Konsequenzen festhalten zu wollen ist berechtigt, wer den historischen Pflichten aufgrund solchen belastenden kollektiven Erbes genügt und dadurch den Wert der Mitgliedschaft in der Gruppe wiederherzustellen hilft. Es ist ein Erfordernis praktischer Konsistenz, sich bei der Prüfung des Werts der Mtgliedschaft in einer transgenerationellen historischen Gruppe auf alle normativ relevanten Aspekte des kollektiven Erbes, also auch auf die belastenden Aspekte zu beziehen. Nur wer auch seinen historischen Pflichten genügt, kann berechtigt sein, sich auf die Mitgliedschaft in der transgenerationellen Gruppe als intrinsisch wertvoll zu beziehen. Die Begründung historischer Pflichten aufgrund kollektiven Erbes ist demnach Ergebnis konsistenter Prüfung der Verantwortung dafür, wer wir als Mitglieder transgenerationeller Gruppen sind. Einige Pflichten von Mitgliedern andauernder Gesellschaften können durch beide vorgestellten Ansätze begründet werden, nämlich sowohl als Spezifikationen genereller Gerechtigkeitspflichten als auch als Pflichten von Menschen in Verantwortung dafür, wer sie als Mitglieder solcher Gesellschaften sind. Dies gilt insbesondere für die Pflichten schuldloser Mitglieder andauernder Gesellschaften zu stellvertretender Kompensation überlebender und indirekter Opfer von Unrecht, das frühere Mtglieder der Gesellschaft verübt haben. Sol-

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che Kompensationspflichten lassen sich erstens mit Blick auf die andauernde Wirkung historischen Unrechts als Spezifikationen genereller Gerechtigkeitspflichten gemäß der in Kapitel II vorgestellten Analyse von Schädigung zukunftsorientiert ausweisen. Diese Begründung der Kompensationspflichten setzt wie erläutert voraus, dass die andauernde Gesellschaft als ein geeigneter Ort der Realisierung sozialer Gerechtigkeit verstanden wird, ist aber unabhängig von der besonderen Wertschätzung der Mitgliedschaft in einer transgenerationellen Gemeinschaft, der auch die Unrechtstäter angehören. Zweitens können sich solche Kompensationspflichten auch der Verantwortung gegenwärtig lebender Menschen dafür, wer sie als Mitglieder einer transgenerationallen Gemeinschaft sind, verdanken, weil die gegenwärtigen Mitglieder sich mit den früher lebenden Unrechtstätern als Mitgliedern derselben Gesellschaft identifizieren und wegen deren Fehlverhalten heute stellvertretend den Opfern Kompensation zu leisten verpflichtet sind. Die Begründung der Kompensationspflichten beruht dann auf dem moralischen Urteil, dass die früheren Mitglieder Unrecht getan haben, und ist insofern vergangenheitsorientiert. Auch so begründet ist die Kompensationspflicht aber nicht mit Blick auf die früher lebenden Unrechtstäter geschuldet. Die Erfüllung der Kompensationspflichten zielt auch darauf, den durch das Fehlverhalten der früheren Mitglieder der Gruppe geminderten Wert der Gruppenmitgliedschaft wiederherzustellen. Gemäß dem Ansatz, der auf das geteilte Selbstverständnis der Mitglieder transgenerationeller historischer Gruppen rekurriert, setzen die Kompensationspflichten voraus, dass gegenwärtig lebende Menschen ihre Mitgliedschaft in transgenerationellen Gruppen intrinsisch wertschätzen. Derartige Wertschätzung ist Voraussetzung der Begründung historischer Pflichten wegen des kollektiven Erbes einer andauernden Gesellschaft dann, wenn die Begründung sich nicht zuletzt auf die moralische Qualität der Handlungen früherer Mitglieder der Gesellschaft bezieht, insbesondere also auch dann, wenn, wie in Abschnitt 3 erläutert, gegenwärtig lebende Mitglieder ihren Vorfahren Respekt und Dankbarkeit schulden. Demnach unterscheiden sich die unterschiedenen Begründungen danach, welche historischen Pflichten sie Menschen als Mitgliedern andauernder Gesellschaften zuschreiben können. Für die zukunftsorientierte Spezifikation genereller Gerechtig-

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keitspflichten ist die Qualität des Handelns früherer Menschen nicht relevant. Wie die Pflichtzuschreibung begründet wird, ist auch für die Frage von Bedeutung, inwiefern das Selbstverständnis der Pflichtträger durch solche Zuschreibung tangiert ist. Gruppenmitgliedschaft und die damit einhergehenden Pflichten können je nach Selbstverständnis der Mitglieder unterschiedliche Schichten ihrer sozialen Identität betreffen. Sind für die Zuschreibung stellvertretender Kompensationspflichten für historisches Unrecht beide Begründungen hinreichend, betrifft die Zuschreibung gemäß der Position der natürlichen Pflicht zur Gerechtigkeit die Identität von Personen, insofern sie Menschen sein möchten, die ihren Gerechtigkeitspflichten nachkommen. Auch wenn sie sich als Moralpersonen dieser generellen Pflicht nicht entziehen können, können sie sich sehr wohl von den besonderen Pflichten der Gerechtigkeit, wie sie für eine Gesellschaft gelten, entbinden und besondere Pflichten einer anderen eingehen, nämlich, indem sie die Mitgliedschaft in der ersteren zugunsten der zweiten aufgeben. 135 Ihre Identität als Menschen, die der Pflicht zur Gerechtigkeit nachkommen möchten, wird dadurch nicht berührt. Die Identität von Personen ist aber anders betroffen, wenn die Erfüllung der Pflicht zu stellvertretender Kompensation sich der Verantwortung dafür verdankt, wer sie als Mitglieder einer Gesellschaft sind, die für sie aufgrund ihrer einzigartigen, auch historischen Merkmale intrinsisch wertvoll ist. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft kann so verstanden für eine Person angesichts ihrer Herkunft und Sozialisation die für sie relevanten Optionen für ein gutes Leben bereithalten. Dann bedeutete, die Gesellschaft zu verlassen für diese Person den Verlust des sozialen und kulturellen Kontexts, in welchem ihr Leben gelingen kann. Gehört zu den Pflichten so verstandener Mitgliedschaft die Pflicht zu stellvertretender Kompensation, dann ist die Erfüllung dieser Pflicht eine Bedingung dafür, den Wert der Gruppenmitgliedschaft im Vollsinn realisieren zu können. 136 Sind die Maßnahmen stellvertretender Kompensation der Opfer ererbter öffentlicher Verbrechen unzureichend, und ist dies der Verletzung von so verstandenen Mitgliedspflichten geschuldet, dann ist es verständlich, wenn gerade die Mitglieder sich schämen, die um die Erfüllung dieser Mitgliedspflichten bemüht sind. Denn die von ihnen so geschätzten und nur

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kollektiv zu realisierenden intrinsischen Werte der Mitgliedschaft in der Gruppe hängen nicht zuletzt davon ab, dass die Mitglieder den ihnen aus der Mitgliedschaft in der Gruppe erwachsenden Pflichten nachkommen. Wenn Mitglieder der Gruppe und deshalb die Gruppe insgesamt diesen Bedingungen nicht entspricht, die von der Gruppenmitgliedschaft abhängigen Werte aber für Personen als Mitglieder der Gruppe konstitutiv für das Gelingen ihres Lebens sind, dann werden sie sich auf ihre soziale Identität als Mitglieder dieser Gruppe nur mit Scham beziehen können. Scham mit Blick auf die Mitgliedschaft in einer Gruppe ist besonders plausibel, wenn Menschen ihre soziale Identität als abhängig von häufig nicht selbst gewählter Gruppenzugehörigkeit verstehen, und diese Identität gemäß ihrem Selbstverständnis dadurch beschädigt wird, dass andere Mitglieder der Gruppe und die Gruppe als solche ihren historischen Pflichten wegen des Fehlverhaltens früherer Mitglieder der Gruppe nicht nachkommen.

6. Zur Begründung der historischen Haftungspflichten von Staaten Die beiden unterschiedenen Begründungen können auch jeweils hinreichend sein für den Ausweis einer Pflicht von Mitgliedern staatlich gefasster andauernder Gesellschaften, öffentliche Maßnahmen der Kompensation im Sinne der Erfüllung der Haftungspflichten des Staates zu unterstützen. Zu den in Abschnitt 1 diskutierten unzureichenden Begründungen historischer Pflichten zählt auch die rechtliche Haftungspflicht von Staaten für in ihrem Namen verübtes Unrecht. Wie dort erläutert setzt die Rechtfertigung solcher Haftung voraus, dass die Erfüllung der Pflichten der Rechtsperson transgenerationeller Identität dem Schutz und Erhalt einer andauernden Gesellschaft dient, die für deren Mitglieder als solche wertvoll ist. Den hier unterschiedenen Begründungen entsprechen die schon in Kapitel IV.4 erläuterten Bezugnahmen auf die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft als intrinsisch wertvoll. Erstens können Menschen ihre Mitgliedschaft in andauernden Gesellschaften für intrinsisch wertvoll halten, weil solche Gesellschaften geeignete Orte für die Realisierung des generellen Werts der Gerechtigkeit unter den jeweils besonderen Um-

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ständen sind. Dem entspricht die Begründung historischer Pflichten im Sinne der Spezifikation genereller Gerechtigkeitspflichten. Zweitens können Menschen die Pflege und Fortführung des besonderen kollektiven Erbes ihrer jeweiligen Gesellschaft für intrinsisch wertvoll halten. Dem entspricht die Begründung historischer Pflichten als der Verantwortung dafür geschuldet, wer man als Mitglied einer transgenerationellen historischen Gruppe ist. Gemäß beider Selbstverständnisse kann die Unterstützung der Haftungspflichten des Staates wegen in seinem Namen verübten Unrechts zu den Pflichten der Mitglieder einer staatlich gefassten andauernden Gesellschaft zählen. Denn aus den in Abschnitt 2 genannten Gründen werden die Mitglieder die Erfüllung der Haftungspflichten der Staaten für eine Voraussetzung legitimer Teilhabe an der intergenerationellen Praxis andauernder staatlich gefasster Gesellschaften halten. Diese Praxis zielt darauf, die Voraussetzungen transgenerationeller Projekte und Identitäten mit Rechtsmitteln im staatlichen Rahmen zu schützen, gleich ob es sich um das Projekt der Realisierung von Gerechtigkeit unter den besonderen Umständen dieser Gesellschaft handelt oder um die Pflege und Fortführung des je besonderen kollektiven Erbes. Demnach können Menschen, die der staatlich gefassten Gesellschaft auf unterschiedliche Weise verbunden sind, gleichermaßen moralisch verpflichtet sein, die staatlichen Einrichtungen in der Erfüllung ihrer rechtlichen Haftungspflichten für im Namen des Staates in der Vergangenheit verübtes Unrecht zu unterstützen. Die Unterstützungspflicht kann zu den Pflichten gehören, die im Sinne der Spezifikation der generellen Pflicht zur Gerechtigkeit für Mitglieder dieser Gesellschaft gelten — jedenfalls pro term. Die Unterstützung der Haftungspflichten kann aber auch geschuldet sein, weil deren Erfüllung eine Bedingung dafür ist, dass die Mitglieder die für sie so wichtigen intrinsischen Werte eines geteilten Lebens in einer transgenerationellen historischen Gruppe realisieren können. Auch wenn diese beiden Begründungen der Unterstützungspflicht jeweils hinreichend sind, betreffen sie doch, wie schon betont, unterschiedliche Schichten der sozialen Identität von Mitgliedern solcher Gruppen. Für nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft sind beide Begründungen relevant, da Menschen sich nicht notwendig auf ihre Mitgliedschaft in einer Gesellschaft als im Sinne der zweiten Begründung intrinsisch wertvoll beziehen.

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Da jede der Begründungen fur sich hinreichend ist, um die Unterstützungspflicht der Mitglieder von Staaten für die Erfüllung von deren Haftungspflichten zu begründen, können eine solche Pflicht auch Mitglieder der Gesellschaft für gültig halten, die sich nicht auf ihre Mitgliedschaft als intrinsisch wertvoll aufgrund der partikularen Merkmale der Gesellschaft beziehen. Der Bezug auf die Gesellschaft als besonderer Ort der Realisierung genereller Gerechtigkeitspflichten kann, wie ich oben schon betont habe, auch für Einwanderer, Dauerbesucher und Gastarbeiter für die Spezifikation von deren besonderen Gerechtigkeitspflichten als relevant gelten. Solche Mitglieder können in der Unterstützung der Erfüllung der Haftungspflichten des Staates wegen historischen Unrechts mit Mitgliedern der Gesellschaft einig sein, die sich auf ihre Mitgliedschaft in einer staatlich gefassten Gesellschaft intrinsisch wertvoll beziehen. Hingegen kann das öffentliche Gedenken historischen Unrechts im Sinne der Erfüllung von Pflichten symbolischer Kompensation die Identifikation mit den Tätern voraussetzen. Der hierfür erforderliche ethische Bezug auf eine transgenerationelle historische Gesellschaft kann nicht auferlegt werden. Für das Selbstverständnis vieler Mitglieder der Gesellschaft und nicht nur für Einwanderer, Dauerbesucher oder Gastarbeiter mag ein solcher Bezug irrelevant sein. Sie werden dann manche von anderen in Erfüllung ihrer Mitgliedspflichten für relevant gehaltene Maßnahmen nicht mittragen können. Die unterschiedenen Bezugnahmen auf die Mitgliedschaft in ein- und derselben Gesellschaft haben also durchaus unterschiedliche normative Implikationen für die Mitglieder, für die sie jeweils gelten. Die beiden unterschiedenen Begründungen haben aber gemein, dass sie Personen als Mitgliedern von Gruppen Pflichten der stellvertretenden Kompensation von Opfern historischen Unrechts zuschreiben, ohne die Annahme zu machen, dass die Pflichtträger für das Unrecht schuldig oder mitschuldig sind — was, wie ich oben in Abschnitt 1 erläutert habe, eine unplausible Annahme ist. Darüber hinaus können beide Begründungen solche historischen Pflichten gegenwärtig lebender unschuldiger Mitglieder andauernder Gesellschaften auch ausweisen, wenn es sich nicht um staatlich gefasste Gesellschaften handelt oder das historische Unrecht nicht im Namen des Staates als der transgenerationell fortbestehenden Rechtsperson

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verübt wurde. Eine solche Einschränkung wäre, wie schon betont, unplausibel. Denn die auf der Spezifikation genereller Gerechtigkeitspflichten beruhende Begründung bezieht sich auf historisches Unrecht, sofern solches Auswirkungen hat für den Ausweis der besonderen Gerechtigkeitspflichten von Mitgliedern transgenerationeller historischer Gesellschaften als Orten der Realisierung von Gerechtigkeit. Es wäre aber offenbar willkürlich, würde die Begründung sich allein auf die Auswirkungen von Unrecht beziehen, das im Namen eines schon bestehenden Staates verübt wurde. Die Begründung kann sich also auf historisches Unrecht beziehen, das von Mitgliedern nicht staatlich strukturierter Gruppen begangen wurde, womöglich bei der Bemühung um die Etablierung eines Staates. Das gilt auch für die zweite Begründung, die voraussetzt, dass die Mitglieder der Gruppe ihrem Selbstverständnis nach ihre Mitgliedschaft als intrinsisch wertvoll aufgrund der partikularen historischen Merkmale der Gruppe halten. Unsere Beispiele für Gruppen, in denen die Mitgliedschaft so wertgeschätzt wird, schließen das indigene Volk der Saami und die ethnisch-kulturelle Gruppe der Roma ein — beides Gruppen, die weder staatlich organisiert sind noch, wie ich im nächsten Abschnitt erläutern werde, plausiblerweise anstreben, sich als Staaten zu organisieren. Die Untersuchung von deren Ansprüchen auf transnadonale Autonomie erlaubt uns zugleich noch einmal herauszuarbeiten, dass die Bedeutung kollektiven Erbes für Mitglieder von Gruppen, die ein solches Selbstverständnis teilen, nicht in den historischen Pflichten für von früheren Mitgliedern der Gruppe verübtes Unrecht aufgeht.

7. Die Ansprüche der Saami und Koma auf transnationale Autonomie Sowohl die Roma als auch die Saami streben eine subsouveräne Form der politischen und kulturellen Autonomie an. Ohne rechtliche Souveränität über ein Territorium zu beanspruchen verfolgen sie das Ziel, die Entscheidungen zu beeinflussen, die ihre jeweilige transgenerationelle kulturelle Gruppe betreffen, deren Mitglieder in nicht nur einem Land wohnhaft sind.

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Mit der Ausnahme der Saami, die in Russland leben, haben die Saami innerhalb der Strukturen der Nationalstaaten, in welchen sie leben, einen gewissen Grad kultureller und politischer Autonomie realisiert. Sie haben auch begonnen, eine transnationale Form der Autonomie in Skandinavien zu realisieren.137 Wie sie zu institutionalisieren ist — ob durch ein pan-Saami-Parlament oder ein Repräsentativorgan, in welchem Vertreter der existierenden nationalen Saami-Parlamente zusammenarbeiten — wird noch diskutiert, ohne dass eine Vorentscheidung schon getroffen wäre. Die Saami haben um Anerkennung spezieller Rechte auf ihr Heimatland gekämpft. Dies war die bisher umstrittenste Frage, und sie dürfte auch in Zukunft umstritten bleiben. Die Situation der Roma ist eine andere. Die Roma, die überhaupt keine territorialen Ansprüche erheben, befinden sich auf einer vergleichsweise niedrigen Stufe der Institutionalisierung als eine ethnische und kulturelle Gruppe in den Ländern, in denen sie wohnhaft sind, sowie auf internationaler Ebene. Zu den schwierigen Fragen, mit denen die Roma als Gruppe befasst sind, gehört, ob sie anstreben sollten, als eine transnationale Minderheit oder jeweils als eine nationale Minderheit in den Ländern, in denen sie leben, Anerkennung zu finden.138 Die Autonomiebestrebungen sowohl der Roma als auch der Saami zielen auf den Erhalt des Gruppenerbes. Für beide Gruppen gilt, dass ihnen in der Vergangenheit erhebliches Unrecht getan wurde. Die bleibende Wirkung eines ererbten öffentlichen Verbrechens kann rechtfertigen helfen, dass gegenwärtig lebende Menschen als Mitglieder der Gruppe ein Recht auf Selbstbestimmung durch Sezession realisieren. Dies ist mit Sicherheit ein eher ungewöhnlicher Anspruch. Im Falle der Saami zielt er auf die Herstellung der territorialen Integrität durch Realisierung der Fähigkeit der kulturell und ethnisch definierten Gruppe zu demokratischer Selbstbestimmung auf ihrem historischen Territorium („Heimatland"). Wie auch z.B. im Falle der Palästinenser, Kurden und Tamilen ist der Anspruch auf Selbstbestimmung durch Sezession eng mit kollektiven Erfahrungen historischen Unrechts verknüpft.139 Dann will die separatistische Gruppe dem bleibenden Einfluss des historischen Unrechts durch Gründung eines eigenen Staates entgegenwirken. Denn das Unrecht hat die Wirkung, dass die Gruppe ihr

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Recht auf souveräne Kontrolle über ein ihr legitimerweise zustehendes Territorium nicht ausüben kann. Wie die in Kapitel IV.4 vorgeschlagene Analyse des Werts der Gruppenmitgliedschaft nahe legt, werden die Mitglieder der separatistischen Gruppe ihre Mitgliedschaft aufgrund der historisch einzigartigen Merkmale ihrer Gruppe für intrinsisch wertvoll erachten. Sie verstehen, dass diese einzigartigen Merkmale ihrer Gruppe sich unter spezifischen klimatischen und geographischen Bedingungen entwickelt haben, und es sind diese Merkmale der Gruppe, die dem Anspruch der Gruppe, eine politische und ökonomische Ordnung auf einem bestimmten Territorium einzurichten und zu erhalten, besondere Plausibilität verleihen. Mitglieder der separatistischen Gruppe sehen in dem Umstand, dass ihnen die Möglichkeit verweigert wird, eine politische und ökonomische Ordnung auf ihrem historischen Territorium einzurichten, eine Minderung des Werts ihrer Gruppenmitgliedschaft: Erst die Partizipation in einer solchen Ordnung erlaubte ihnen im Vollsinne, das Gruppenerbe zu bewahren, die Gruppenkultur zu entwickeln und die Werte der Projekte zu realisieren, die zu verfolgen alleine Mitgliedern dieser Gruppe offen stehen. So verstanden beruht das Recht auf Selbstbestimmung durch Sezession auf zwei Ansprüchen. Erstens soll die Gruppe als eine kulturell spezifische Gruppe verstanden werden, nämlich in dem Sinn, dass es für ihre Mitglieder plausibel ist anzunehmen, ihre Gruppenmitgliedschaft als (jedenfalls potentiell) intrinsisch wertvoll zu erachten, aufgrund der einzigartigen Optionen, die Mitgliedschaft in dieser Gruppe ihnen bietet. Zweitens beansprucht die Gruppe das Recht, ein bestimmtes Territorium als das Eigentum der Gruppe zurückzuerhalten. Die Rückgabe des Eigentums wird als eine Vorbedingung dafür erachtet, dass die Mitglieder den Wert der Gruppenmitgliedschaft individuell und kollektiv im Vollsinn realisieren können. Die beiden Ansprüche sind eng miteinander verknüpft. Die spezifische kulturelle Identität der Gruppe erklärt, wie die Ansprüche auf Territorium überleben können. Das kulturelle Erbe ist jedenfalls zum Teil dem Umstand gedankt, dass die Gruppe für einen langen Zeitraum auf einem bestimmten Territorium gelebt hat. Die Übertragung des Erbes konstituiert die Gruppe als eine transgenerationelle territoriale Gruppe. Mitglieder einer solchen Gruppe können eine Verpflichtung akzeptieren, solche Bedingungen

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zu fördern und falls nötig wiederherzustellen, die es den gegenwärtig wie zukünftig lebenden Mitgliedern der Gruppe bestmöglich erlaubt, Projekte zu verfolgen, die Güter zur Voraussetzung haben, welche frühere Mitglieder der Gruppe an sowohl die gegenwärtigen wie die weiter entfernt zukünftig lebenden Mitglieder der Gruppe zu vererben beabsichtigten. Gemäß der Interpretation, die ich in Abschnitt 3 vorgestellt habe, können die Mitglieder solcher Gruppen mit Blick auf die Vorfahren und deren Bemühungen um den Erhalt der Gruppenkultur unter überlebenden Pflichten zur Dankbarkeit stehen. Wenn die Vorfahren wegen des an ihnen verübten Unrechts in ihrer Bemühung um den Erhalt der Gruppenkultur ungewöhnliches Leid erlitten haben, dann ist es wahrscheinlich, dass ihre Nachfahren der genannten Verpflichtung größeres Gewicht geben. Denn sich um den Erhalt der Gruppenkultur bemüht zu haben, auch wenn dies mit erheblichen „Kosten" für die eigene Person verbunden ist, dürfte Ausdruck eines auch hochgradig uneigennützigen Willens sein — für viele Interpreten ein, wenn nicht der entscheidende Faktor bei der Bestimmung der Stärke der entsprechenden Dankbarkeitspflichten. 140 (Siehe Anhang, Tabelle 5. 1 und 2) Der zweite Anspruch bezieht sich auf den bleibenden Einfluss einer früheren Ungerechtigkeit. (Siehe Anhang, Tabelle 5. 3 und 4) Die separatistische Gruppe ist bemüht, dem bleibenden Einfluss einer historischen Ungerechtigkeit entgegenzuwirken. Die in der Vergangenheit erlittenen Ungerechtigkeiten haben die Mitglieder um die Fähigkeit gebracht, eine ökonomische und politische Ordnung auf ihrem Territorium einzurichten und zu erhalten und territoriale Souveränität über das Land auszuüben. Zwei typische Situationen können in dem Kontext, in dem dieser Anspruch erhoben wird, unterschieden werden: Erstens die Situation des Antikolonialismus; hier wurde das Territorium von dem Staat erobert, von dem die Gruppe sich abzuspalten wünscht. Die zweite Situation ist die des postkolonialen innerstaatlichen Konflikts; eine dritte Partei hat die Ungerechtigkeit begangen mit der Folge, dass die derzeit dominante Gruppe und die Gruppe, die Sezession anstrebt, in einem Staat vereinigt wurden. 141 Der Unterschied zwischen diesen Typen von Situationen kann normativ signifikant sein. Die Plausibilität des Anspruchs der Gruppe auf Selbstbestimmung durch Sezession (als das beste Mittel, den

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Mitgliedern zu ermöglichen, den Wert der Gruppenmitgliedschaft individuell und kollektiv im Vollsinn zu realisieren) wird von den Beziehungen abhängen, die sich zwischen der Gruppe, die Sezession anstrebt, und der gegenwärtig dominanten Gruppe entwickelt haben. Die normative Plausibilität des Anspruchs der Gruppe wird auch davon abhängen, wie sich die Sezession auf wen auswirkt, und insbesondere, ob die, die die Ungerechtigkeiten begangen haben, oder andere Menschen — die selbst Opfer der Ungerechtigkeit oder seiner bleibenden Wirkung sein können — dadurch negativ betroffen werden, dass der Anspruch auf Sezession verfolgt wird. Gemäß einer Interpretation des Anspruchs auf Selbstbestimmung durch Sezession richtet sich dieser Anspruch auf die Wiederherstellung des Eigentums einer Gruppe im Sinne der Restitution:142 Das Territorium muss von denen, die es sich unrechtmäßig genommen haben, oder von deren Erben denen zurückgegeben werden, denen es gehört hat, oder ihren Erben. In der antikolonialen Situation wie auch der Situation des postkolonialen innerstaatlichen Konflikts sind die Menschen, die den Anspruch auf Selbstbestimmung durch Sezession erheben, nicht die Menschen, die den Verlust ihres Gruppeneigentums erlitten haben. Der Anspruch auf Restitution des Heimatlandes gründet sich darauf, dass die gegenwärtigen und zukünftigen Mitglieder der Gruppe die individuellen wie kollektiven Werte der Mitgliedschaft in ihrer Gruppe im Vollsinn nur werden realisieren können, wenn sie das historische Territorium zurückerhalten. Der Anspruch wird deshalb für Mitglieder einer transgenerationellen territorialen Gruppe erhoben, die ihre Mitgliedschaft in der Gruppe für intrinsisch wertvoll halten und zum Teil jedenfalls dank der einzigartigen Merkmale der kulturellen Identität der Gruppe, die sich über einen langen Zeitraum auf einem bestimmten Territorium transgenerationell ausgebildet hat. Ist dies ein gerechter Anspruch, dann sollten die, gegen welche er erhoben wird, den Anspruch erfüllen wollen, selbst wenn die Kosten für sie hoch sein mögen. Die Träger dieser Pflicht sind (im Sinne meiner Diskussion im Abschnitt 1) schuldlose Mitglieder einer andauernden Gesellschaft, in deren Namen das historische Unrecht der Besitznahme des Landes verübt wurde. Gegenwärtig lebende Mitglieder einer solchen Gesellschaft können unter dieser Pflicht stehen - im Sinne einer spezifischen Gerechtigkeitspflicht oder in Verant-

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wortung für ihre Identität als Mitglieder ihrer Gesellschaft (siehe Abschnitt 5) dann nämlich, wenn Sezession das adäquate Mittel ist, die negative Wirkung des ererbten öffentlichen Verbrechens auf gerechte und effektive Weise wenn nicht aufzuheben, so doch zu mindern. Gerecht kann aber auch eine Sezession nur sein, wenn die generellen Gerechtigkeitsansprüche aller Betroffenen vorrangig berücksichtigt werden. Aus den in Kapitel IV.4 genannten Gründen ist es unakzeptabel, wenn Menschen einer Gesellschaft alleine auf der Grundlage ihrer besonderen Merkmale intrinsischen Wert zuschreiben und wenn sie die Auffassung vertreten, Menschen sollten den intrinsischen Wert ihrer Gesellschaft realisieren, was immer die Kosten für andere sind, seien es Nicht-Mitglieder oder Menschen, die der Gesellschaft z.B. als Mitglieder interner Minderheiten angehören. Wäre der Anspruch notwendig auch ein Anspruch auf Restitution des historischen Territoriums der Gruppe, hätte dies unplausible Implikationen. Denn es sprechen in wenigstens zwei Situationen gute Gründe für eine Sezession, auch wenn die sich abspaltende Gruppe keinen Anspruch auf Restitution eines bestimmten Territoriums hat.143 In diesen Situationen ist Sezession notwendig, um schlimme Ungerechtigkeiten zu stoppen oder abzuwenden. Erstens könnte Sezession das einzige effektive Mittel sein, das Mitglieder einer Gruppe zur Verfügung steht, um systematischer Diskriminierung zu entgehen. Zudem könnte Sezession das einzige Mittel sein, um die Gruppe für (die bleibende Wirkung von) Diskriminierung zu entschädigen. Allerdings: Hat eine Gruppe, die Sezession anstrebt, keinen Anspruch auf ein bestimmtes Territorium als ihr Heimatland, dürften häufig die Menschen, die auf dem Territorium leben, das die Gruppe für den Zweck der Sezession beansprucht, negativ betroffen sein, wird der Anspruch auf Sezession tatsächlich verfolgt. Insofern können gerade auch unter den genannten Umständen generelle Gerechtigkeitsansprüche Betroffener gegen die Sezession sprechen. Zweitens könnte Sezession als notwendiges Mittel des Uberlebens legitim sein. Auch unter solchen extremen Umständen ginge es der normativen Beurteilung eines Anspruchs auf Sezession um die Einschätzung der Auswirkungen einer (versuchten) Sezession für die wichtigen und grundlegenden Interessen aller Betroffenen. Die Beurteilung wird die subjektiven Einschätzungen und die aus ihnen

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abgeleiteten Ansprüche nur insofern berücksichtigen, als solche Einschätzungen die Handlungsoptionen der Akteure einschränken. Der subjektiv verstandene Anspruch einer Gruppe auf Sezession dürfte häufig und in starkem Maße auf den Erwartungen ihrer Mitglieder darüber beruhen, was passieren wird, wenn es der Gruppe in der Zukunft nicht gelingen sollte, einen eigenen Staat einzurichten. Es ist anzunehmen, dass kollektive frühere Unrechtserfahrungen solche Erwartungen geprägt haben werden. Aber auch die womöglich innerhalb der Gruppe weithin geteilten normativen Implikationen solcher Erfahrungen können überprüft werden und — so zumindest die Hoffnung — auf eine auch für die Betroffenen nachvollziehbare Weise, was, wenn nicht zur Änderung ihrer legitimen Ansprüche, doch zu einer Änderung der Einschätzung der legitimen Mittel ihrer Durchsetzung führen kann. Heute ist es weder für die Roma noch die Saami plausibel, ein Recht auf Selbstbestimmung durch Sezession zu beanspruchen, und ein solcher Anspruch wird auch von den Repräsentanten dieser Völker nicht erhoben. Kein Zweifel: Die Saami sind ein indigenes Volk und sie haben einen historischen Anspruch auf ihr Siedlungsgebiet. Die Saami sind Kolonisierungsopfer. Obgleich die Kolonisierung der Saami und ihres Territoriums keine Angelegenheit brutaler Ausbeutung, von Massentötungen oder eines Genozids gewesen ist, 144 sind die Saami doch Opfer einer systematischen und andauernden Verdrängung von ihrem traditionellen Land und seiner Nutzung, Versuchen erzwungener Assimilierung und der öffentlichen Missachtung für ihre Kultur und Sprache wie ihres Status als indigenes Volk. Sie leiden unter modernem sozialem Stigma und haben nach wie vor einen niedrigen sozioökonomischen Status in Verbindung mit einem hohen Grad an schulischem und universitärem Misserfolg. 145 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die politische Organisierung der Saami sich auf berechenbare Weise zu entwickeln. 146 Die Saami haben von vielen als erfolgreich eingeschätzte Verhandlungen über ihren Status als indigenes Volk mit den skandinavischen Staaten geführt. Eine ganze Reihe von Faktoren hat dies begünstigt. Zu ihnen dürften zählen: dass die Kolonisierung der Saami ohne die Gewaltmittel eines Krieges erfolgte; dass die Saami die staatlichen Pläne für die Erschließung der nördlichen Regionen nie ernsthaft bedroht

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haben; dass die Saami ihre Rechte nie mit Gewaltmitteln verteidigt haben, wie auch der Umstand, dass die skandinavischen Staaten sich schon lange der Idee des Rechtsstaats verschrieben und zum Schutz der Menschenrechte verpflichtet haben. Unter diesen Umständen wird der Anspruch auf ein Recht auf Selbstbestimmung durch Sezession für nicht plausibel gehalten, weil die Rückgabe des Heimatlandes an die Saami im Sinne der Zuschreibung von Souveränität über das Land keine Bedingung für die Fähigkeit der Saami zu sein scheint, den Wert ihrer Gruppenmitgliedschaft im Vollsinn zu realisieren. Tatsächlich beanspruchen die Saami ein Recht auf Selbstbestimmung im Sinne der Autonomie oder internen Selbstbestimmung. „Autonomie" bedeutet hier politische und kulturelle Autonomie unterhalb des Niveaus vollständiger Unabhängigkeit als ein Staat im Sinne der Souveränität über Menschen und Land. Es ist eine Form der politischen Autonomie innerhalb einer staatlichen Struktur. Solche Autonomie reicht weiter als die bloße Anerkennung als legitime (nationale) Minderheit. Erlangt eine Gruppe Autonomie in dem gemeinten Sinne, dann hat die Gruppe ein signifikantes Maß an Kontrolle über die Bedingungen des Erhalts und der Weiterentwicklung ihrer Gruppenkultur gewonnen. 147 Selbstbestimmung, verstanden als Autonomie oder interne Selbstbestimmung, operiert innerhalb von bestehenden Staaten und gilt als auf enge Weise mit der Fähigkeit der Gruppe verknüpft, Entscheidungen zu beeinflussen, die sie betreffen. Die Saami teilen dieses Verständnis ihres Rechts auf Selbstbestimmung mit anderen indigenen Völkern. 148 Weil Land und Territorium für die Identität und Kultur indigener Völker von zentraler Bedeutung sind, beanspruchen sie insbesondere das Recht darauf, dass die Gruppe an Entscheidungen, die das Eigentum über ihr Heimatland und seine Nutzung betreffen, effektiv beteiligt wird. Gerade diese Ansprüche der Saami sind wie im Fall anderer indigener Völker äußerst umstritten.149 Um ihre traditionellen Lebensoptionen, insbesondere Rentierhaltung und Fischen, realisieren zu können, ist für die Saami entscheidend, dass ihre Rechte auf Nutzung ihres Heimadandes gesichert werden. Vermutlich können diese Rechte am besten geschützt werden, wenn den Saami als anerkannter und autonomer politischer Entität eines Nationalstaats starke Partizipationsrechte an den Ent-

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Scheidungen über die Nutzung der Ressourcen auf ihrem Land eingeräumt werden, ja womöglich sogar Vetorechte. 150 Besonders wichtig ist ein starkes politisches Mitspracherecht, wenn die Nutzung durch andere die Chance der Saami unterminieren könnte, die Werte, die mit ihrer Lebensweise verbunden sind, zu realisieren. Exklusive Nutzungsrechte über einige Teile ihres traditionellen Landes und seiner Ressourcen könnte die materielle Basis ihrer Kultur schützen helfen. 151 Die Saami haben Anerkennung als indigenes Volk 152 mit seiner eigenen Sprache153 und einem gewissen Grad an Integration als autonome politische Entitäten innerhalb der staatlichen Strukturen der skandinavischen Länder genossen. Ganz unübersehbar haben sich die Saami als eine eigenständig organisierte Gruppe innerhalb dieser Länder durch die Einrichtung eines Saami-Parlaments etabliert. 154 Jedoch sind die Ergebnisse der Bemühungen der Saami, Kontrolle über die Nutzung ihres eigenen Lands zu erlangen, unausgeglichen: Eine häufig erhobene Forderung ist, ihre Parlamente mit einem Veto auszustatten, um zu verhindern, dass in ihr Land auf eine Weise eingedrungen wird, die der Nutzung des Lands durch Saami in einem starken Maße abträglich ist; wenigstens sollen ihre Parlamente ein quasi-Vetorecht erhalten, das derartige Verletzungen der Interessen der Saami an ihrem Land so lange verhindern kann, bis die zuständige Nationalregierung eine Entscheidung getroffen hat. Solche Befugnisse sind den Saami nie eingeräumt worden. Den Saami-Parlamenten fehlt es an territorialer Jurisdiktion. Sie haben bloß beratenden Status. Obgleich die Parlamente über nur geringe formale politische Autorität verfügen, ist es den Parlamenten doch „gelungen, hinreichenden Druck auf die jeweiligen Nationalregierungen auszuüben, um in den Entscheidungsprozessen Fuß zu fassen." 155 Auf dem Rechtswege hatten die Saami generell keinen Erfolg, ihre Ansprüche auf Kontrolle über Land und Ressourcen durchzusetzen. 156 Nach Finnland (1972) und Norwegen (1989) wurde das Saami-Parlament in Schweden 1992 eingerichtet und hat seine Arbeit 1993 aufgenommen. Um solche politische Repräsentation auch in Schweden durchzusetzen, haben die Saami dort bezeichnenderweise auf viele Ansprüche der Kontrolle über die Nutzung ihres Heimatlandes verzichten müssen. 157 Die Existenz eines Saami-Parlaments in Schweden

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dürfte aber neue Möglichkeiten für die transnationale Saami-Kooperation eröffnen. Nur die Saami in Russland haben noch immer kein gewähltes Repräsentationsorgan. Bisher ist staatliche Grenzen überschreitende politische Kooperation der Saami eine Angelegenheit des Saami-Rats gewesen. Der Rat ist ein Organ für die Kooperation zwischen den nationalen Saami-Organisationen. 1992 wurden die Saami in Russland als vollwertige Mitglieder in den Rat aufgenommen. Die Saami verfolgen das Ziel, ein transnationales pan-Saami-Parlament einzurichten, das ihrer transnationalen Identität Ausdruck und ihren Ansprüchen Nachdruck verliehe, als ein Volk zu existieren, das in verschiedenen Staaten, aber mit gemeinsamen Traditionen und geteilten Lebensformen, gemeinsamer Kultur und Sprache zusammenlebt. Aus pragmatischen Gründen und weil erwartet wird, dass Russland den Saami auf absehbare Zeit nicht erlaubt, an einem pan-Saami gewählten Repräsentationsorgan teilzuhaben, ist vorgeschlagen worden, eine Zwischenform der transnationalen Kooperation unter den existierenden Saami-Parlamenten einzurichten, nämlich eine gemeinsame Einrichtung, deren Mitglieder von den Saami-Parlamenten ernannt werden. Die Hoffnung ist, dass durch eine solche Körperschaft die Legitimität der Repräsentation der Saami in Verhandlungen mit den vier Staaten, in denen die Saami leben und auch auf der internationalen Ebene gestärkt werden kann.158 Die zur Sicherstellung der Saami-Autonomie getroffenen Vorkehrungen gelten als beispielhaft für die Ansprüche anderer indigener Völker auf Anerkennung als Gruppe. Solche Autonomie, nämlich ein signifikantes Maß an politischer Kontrolle über den Erhalt und die Entwicklung der Gruppenkultur, ist auch das Ziel nicht-indigener Minderheiten.159 Die Roma sind in den Ländern, in denen sie seit über einem Jahrtausend leben, keine Kolonisierungsopfer, sind aber nicht nur ausgebeutet worden, sondern auch immer wieder Opfer schlimmster Verfolgung gewesen.160 Insbesondere als sie Opfer eines rassistisch motivierten Genozids der Nationalsozialisten waren,161 hatten sie das Recht, ihre physische Existenz auch mit extremen Mitteln zu schützen. Diese können Sezession einschließen, wie oben erörtert. Allerdings war Sezession für die Roma — Opfer Jahrhunderte langer systematischer Diskriminierung, ohne Heimatland und ohne jegliche

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militärische Macht oder Unterstützung von dritter Seite — nie eine realistische Option. Keinen Mutterstaat zu haben, war den Bemühungen der Roma, als Minderheit Anerkennung zu finden, abträglich. Die Roma stehen vielerorts noch immer vor der Herausforderung, als eine legitime Minderheit auf gleicher Stufe mit nationalen Minderheiten und anderen kulturellen und ethnischen Gruppen Anerkennung zu finden.162 Insbesondere unter den Bedingungen der Transition in Zentral- und Osteuropa ist die Beteiligung der Roma an lokalen, nationalen und internationalen Entscheidungsfindungsprozessen, bei denen die wichtigsten ihrer Interessen auf dem Spiel stehen, von größter Bedeutung. Es kann als unvermeidlich gelten, dass die einflussreichen Institutionen einer Gesellschaft die Kultur der Mehrheitsgruppe reflektieren: Die Einrichtungen werden ihre Arbeit in der Sprache der Mehrheitsgruppe erledigen und die Optionen unterstützen, die die Mehrheitskultur bereithält. Soll die Kultur einer Minderheit nicht marginalisiert werden, muss die Minderheit ihre eigenen Institutionen etablieren und Gruppenrechte gewinnen, die es den Mitgliedern der Minderheit erlauben, an den gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsprozessen teilzuhaben, die entscheidende Interessen der Gruppe betreffen. Insbesondere dann, wenn die Minderheit für lange Zeit unter Diskriminierung und Ausbeutung gelitten hat, können solche Teilhaberechte Bedingung der Fähigkeit der Gruppe sein, ihr kulturelles Erbe und ihre traditionellen Lebensweisen zu erhalten und zu entwickeln.163 Tatsächlich hatten die Roma jüngst gewissen Erfolg, Anerkennung als Minderheit zu finden. Zudem sind ihre Rechte durch politische Repräsentation und Konsultationsmechanismen gestärkt worden. Obgleich einige Staaten die Roma in ihren Verfassungen (Finnland, Mazedonien und Slowenien) oder in ihren Minderheitengesetzen (Österreich und Ungarn) nennen, werden die Roma in den meisten OSZE-Ländern nur indirekt oder implizit durch Gesetzgebung zum Schutz von Minderheiten berücksichtigt. Deutschland und einige andere Länder erkennen Minderheitenrechte für die Roma unter der Europäischen Yramework Convention for the Protection of National Minorities an.164 In Ungarn haben die Roma Anspruch auf eine Form der Selbstregierung auf sowohl lokaler als auch nationaler Ebene, und es werden — wie auch in Bulgarien, Finnland, Rumänien und der Slowakei — Roma-Vertreter von staatlichen Einrichtungen beschäftigt,

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die mit Roma-Angelegenheiten befasst sind. In einigen Ländern werden Roma für die nationalen Legislaturen von landesweiten Parteilisten gewählt (in der Tschechischen Republik, Bulgarien, Ungarn und Spanien); in Rumänien werden die Roma von ihren eigenen Listen gewählt, um in der nationalen Legislatur zu dienen.165 Wie sich solche Maßnahmen auswirken, hängt von einer Reihe von Faktoren ab und bedarf sehr sorgfältiger Prüfung.166 Roma-Repräsentanten haben zwei Vorschläge gemacht, um die Position der Roma als ein Volk und als eine Minderheit zu stärken. Die Vorschläge werden als Alternativen aufgefasst. Gemäß dem ersten Vorschlag sollen die Roma anstreben, den Rechsstatus und die Anerkennung zu erlangen, die andere nationale Minderheiten schon genießen, und zwar in jedem Land, in welchem die Roma wohnhaft sind. Gemäß dem zweiten Vorschlag sollen die Roma den besonderen Status einer transnationalen Minderheit anstreben, deren Rechte international, sowie in jedem Land, in dem die Roma wohnhaft sind, zu schützen wären. Die erste Alternative wurde vom Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma unterstützt, die zweite vom 1\omani National Congress (RNC) und der International YLomani Onion (IRU).167 Die alternativen Vorschläge spiegeln die unterschiedlichen Geschichten der Roma-Gemeinschaften wider, den rechtlichen und sozialen Status ihrer Mitglieder und die Tatsache, dass heute der Status von Roma in ein und demselben Land dramatisch unterschiedlich sein kann. Obgleich die Mehrheit der Roma ansässig ist und in ihren Gasdändern seit Generationen leben, sind viele Roma heute Immigranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, und viele sind de jure staatenlos. Eine noch größere Zahl ist de facto staatenlos. Dieser Zustand ist zum Teil der Desintegration der Gesellschaften in Zentral- und Osteuropa geschuldet, dem Auseinanderbrechen des früheren Jugoslawien und dem Tschechischen Bürgerschaftsgesetz aus dem Jahr 1993.168 Der RNC und die IRU repräsentieren hauptsächlich Roma, die keine Bürgerrechte und Rechte als Mitglieder einer nationalen Minderheit genießen. Spitzenvertreter dieser Roma-Einrichtungen verstehen die Identität der Roma als wesentlich transnational:169 Weil die Roma kein Heimatland haben und keine territorialen Ansprüche erheben, interpretieren sie deren Identität als die einer staatenlosen europäischen Nation. Entsprechend schlagen sie vor, die rechtliche,

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kulturelle und soziale Position der Roma dadurch zu sichern, dass sie als transnationale europäische Minderheit Anerkennung finden. Durch diesen Sonderstatus sollen die Roma vor diskriminierender Behandlung von Seiten der Nationalstaaten geschützt werden, unter deren Politiken sie so lange gelitten haben, und Autonomie im Sinne der politischen Kontrolle über den Erhalt und die Entwicklung ihrer Gruppenkultur gewinnen. Dieser Vorschlag gewinnt an Plausibilität, wenn wir uns die Konsequenzen der ersten Alternative vergegenwärtigen, nach welcher die Roma jeweils Anerkennung als nationale Minderheit in den Ländern, in denen sie residieren, anstreben sollen: Wir werden Zeugen einer komplexen Rationalisierung der Identität .Deutsche Sinti' als eine bestimmte nationale Minderheit, nicht nur in Beziehung auf die Mehrheit sondern auch mit Blick auf die wandernden Roma-Gruppen, die in Deutschland leben. Ahnlich im Fall der Osterreichischen Roma und Sinti, die sich als eine Volksgruppe gemäß dem Osterreichischen Geset2 über ethnische Gruppen (Volksgruppengesetz) identifizieren. Diese Ungleichbehandlung ist eine offensichtliche Quelle des Streits zwischen denen, die sich als legitime' Mitglieder einer Minderheit qualifizieren, und anderen, die, obgleich sie eine zahlenmäßig starke Gruppe sein können, keinen Anspruch auf den Schutz durch diese Bestimmungen haben, weil sie als Ausländer gelten.170

In der Tat kann der Ansatz, gemäß dem die Roma Anerkennung als je nationale Minderheit anstreben sollen, die Fragmentierung der Roma-Bevölkerung in einem Staat befördern. Denn die rechtlichen Schutzbestimmungen, die das Minderheitengesetz gewährt, sind auf die Mitglieder beschränkt, die in dem jeweiligen Staat als Bürger leben, und erstrecken sich nicht auf Mitglieder der Gruppe, die Migranten sind. Der zweite, auf die Anerkennung der Roma als transnationale Minderheit setzende Ansatz will die besonderen Ansprüche und Bedürfnisse der Roma schützen, sofern sie nicht auf Dauer in einem Land wohnhaft sind. Die Roma-Migration hat unbestreitbar eine europäische Dimension. Genereller rückt dieser Ansatz den besonderen Fall des Volkes der Roma in den Vordergrund, das in ganz Europa und darüber hinaus weit zerstreut lebt und keine territorialen Ansprüche erhebt. Der genannte Ansatz fordert den Schutz kultureller und

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sozialer Rechte für alle Mitglieder des Volkes der Roma, unabhängig davon, in welcher besonderen Beziehung sie zu dem Staat stehen, in welchem sie heute wohnhaft sind. Die Anerkennung des Roma-Volkes als nichtterritoriale transnationale Minderheit will eine angemessene Antwort sein auf die lange Geschichte der Verweigerung der grundlegendsten Menschenrechte an die Roma, wie auch der Verweigerung der Bürgerrechte und des Status als einer Minderheit in den Ländern, in denen sie wohnhaft gewesen sind. Der Vorschlag hat jedoch seine eigenen Schwierigkeiten. Ich möchte zwei nennen. Erstens muss der angestrebte besondere Status in die existierenden rechtlichen Rahmenbedingungen eingepasst werden. Zweitens besteht die Gefahr, dass ein besonderer Status als Minderheit zu einem geringeren Schutz führen könnte als dem, der nationalen Minderheiten in den jeweiligen Einzelstaaten gewährt wird. Im Lichte der Erfahrung der Saami können die beiden Ansätze — der zum Schutz der Roma als je nationale Minderheit und der zu ihrem Schutz als transnationale Minderheit — als sich ergänzende Vorschläge erachtet werden, die parallel zu verfolgen wären. Keiner von beiden bietet eine Lösung für die drängenden Probleme der gegenwärtigen Roma-Migranten und Flüchtlinge. Während der „Nationale Minderheitenansatz" das Problem nicht anspricht, kann vom „Transnationalen Minderheitenansatz" nicht erwartet werden, dass er zu konkreten Ergebnissen in der näheren Zukunft führt, weil dieser Ansatz nicht zum vorherrschenden rechtlichen Rahmenwerk passt. Lösungen müssen pragmatisch erarbeitet werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Roma über sehr wenig Verhandlungsmacht verfugen, weil sie keinen sie stützenden Mutterstaat haben.171 Mittelfristig sollten die Roma ihre Bemühungen um Sicherstellung ihrer Rechte als Bürger in den Ländern, in denen sie leben, und auch als mit anderen Minderheiten gleichberechtigte Minderheit fortsetzen. Hierin haben sie zuletzt einige Fortschritte gemacht. Unterstützung wird den Roma in diesen Bemühungen dadurch zukommen, dass die Länder Zentral- und Osteuropas, in denen viele Roma wohnhaft sind, Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft anstreben. 172 Wie das Beispiel der Saami zeigt, muss auf lange Sicht die Sicherstellung des Status einer

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nationalen Minderheit in den jeweiligen Ländern, in denen die Mitglieder wohnhaft sind, die Chance der Institutionalisierung und Sicherung einer transnationalen Gruppenidentität nicht unterminieren. Wie im Falle der Saami dürfte eine Voraussetzung für Erfolg in dieser Bemühung die Einrichtung demokratisch legitimierter Repräsentationsorgane auf nationaler Ebene sein.173

8. Schlussbemerkung: Dankbarkeit und Gerechtigkeit Demnach können sowohl die Saami als auch das Volk der Roma einen legitimen Anspruch auf transnationale Autonomie geltend machen. Im Fall der Saami beruht dieser Anspruch darauf, dass die Saami ein indigenes Volk sind, deren Kultur eng an ein Heimatland gebunden ist, über welches vier Staaten souveräne Kontrolle als Ergebnis eines Kolonisierungsprozesses ausüben. Die Kolonisierung der Saami hat deren Chance, ihr Gruppenerbe zu erhalten und entwickeln zu können, erheblich unterminiert. Angesichts des an ihnen verübten Unrechts, der Bemühungen früher lebender Saami um den Erhalt der Gruppenkultur und in Anerkennung des Werts der Mitgliedschaft im Volk der Saami gibt es gute Gründe für sowohl die gegenwärtig lebenden Saami wie die Mitglieder der Gesellschaften, in deren Namen die Saami und ihr Land kolonisiert wurden, eine politische und ökonomische Ordnung einzurichten, in welcher die Saami im Vollsinn an den kollektiven Bemühungen um Bewahrung und Entwicklung ihrer Gruppenkultur partizipieren können. Das ist auch Voraussetzung dafür, dass sie als Individuen die für sie wertvollen Projekte verfolgen können, die nur Mitgliedschaft im Volk der Saami ihnen bieten kann. Dankbarkeit mit Blick auf ihre Vorfahren und deren Bemühungen um den Erhalt ihrer Kultur auch unter schwierigen Bedingungen und hohen „Kosten" für sie selbst, kann die gegenwärtig lebenden Saami im Sinne einer überlebenden Pflicht zu Dankbarkeit verpflichten, diese Kultur zu erhalten und zu entwickeln. Dies setzt voraus, dass sich gegenwärtig lebende Saami mit Grund auf ihre Mitgliedschaft im Volk der Saami als intrinsisch wertvoll beziehen können und dass dies ein wichtiger Aspekt ihrer sozialen Identität ist. Unter den gegen-

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Ό ankbarkeit

und

Gerechtigkeit

wältigen Bedingungen und angesichts der bisherigen Bemühungen und Erfolge der Saami um politische und kulturelle Autonomie können sie ihr Gruppenerbe pflegen und entwickeln, indem sie Ansprüche auf transnationale Autonomie und besondere Rechte auf ihr Heimatland wirksam geltend machen. (Siehe Anhang, Tabelle 5. 1 und 2) Die Mitglieder der Mehrheitsgruppen der Gesellschaften, in denen die Saami leben, sollten die Ansprüche der Saami auf kulturelle und politische Autonomie unterstützen. Diese Pflicht kann im Sinne beider in Abschnitt 5 unterschiedenen Begründungen ausgewiesen werden. Angesichts der andauernden Wirkung des Kolonisierungsunrechts für die Chance der Saami, die Werte ihrer Gruppenkultur zu realisieren, kann die Unterstützung ihrer Bemühungen um kulturelle und politische Autonomie eine besondere Gerechtigkeitspflicht derer sein, die heute Mitglieder der Gesellschaften sind, die das Kolonisierungsunrecht ererbt haben. Sofern für die Mitglieder der Mehrheitsgruppen ihre soziale Identität an die Mitgliedschaft in transgenerationellen Gesellschaften gebunden ist, deren frühere Mitglieder das in Frage stehende Unrecht begangen haben, kann die Pflicht zur Unterstützung im Sinne stellvertretender Kompensation auch der Verantwortung dafür geschuldet sein, wer sie als Mitglieder dieser Gesellschaften sind. (Siehe Anhang, Tabelle 5. 3 und 4) Auch wenn die Lage der Roma von der der Saami verschieden ist, ist eine analoge normative Interpretation der Ansprüche der Roma auf (transnationale) kulturelle und politische Autonomie plausibel, wie auch der entsprechenden Unterstützungspflichten der Mehrheitsgruppen der Gesellschaften, in denen sie wohnhaft sind. Die Roma sind keine indigene Gruppe und erheben keine territorialen Ansprüche. Die sozialen und ökonomischen Bedingungen, unter denen die Roma leben, unterscheiden sich stark von denen der Saami und sind auch keinesfalls einheitlich. Das Volk der Roma ist aber eine kulturelle und ethnische Gruppe mit langer Geschichte und einzigartigen Merkmalen. Mitglied zu sein kann aus den im Kapitel IV.4 erläuterten und auch analog für Mitgliedschaft im Volk der Saami relevanten Gründen intrinsisch wertvoll sein. Zugleich unterminieren die bleibenden Wirkungen einer jahrhundertelangen Geschichte der Verfolgung der Roma und das rassistisch motivierte Genozid der Nationalsozialisten an den Roma die Chance gegenwärtig lebender

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und

Gerechtigkeit

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Roma, die Werte der Mitgliedschaft im Volk der Roma zu realisieren. Trotz Verfolgung und systematischer Diskriminierung haben die Roma ihre Gruppenkultur unter schwierigsten Bedingungen erhalten und entwickelt. Demnach haben heute lebende Roma Grund, sich im Sinne einer überlebenden Pflicht zur Dankbarkeit für den Erhalt und die Entwicklung ihres Gruppenerbes einzusetzen - das entsprechende Selbstverständnis ihrer sozialen Identität vorausgesetzt. Sie darin zu unterstützen kann Gerechtigkeitspflicht sein oder auch eine Pflicht, die sich für die heutigen Mitglieder der Gesellschaften, in denen die Roma wohnhaft sind, ergibt, weil sie gemäß ihrem Selbstverständnis den Roma stellvertretende Kompensation aus Verantwortung dafür schulden, wer sie als Mitglieder ihrer transgenerationellen Gruppen sind, in deren Namen den Roma Unrecht getan wurde. Angesichts der Hilfsbedürftigkeit der Roma und ihrer fortdauernden Schutzlosigkeit - es fehlt ihnen an einem Mutterstaat und Heimadand - kann die Pflicht, sie heute in ihrem berechtigten Anliegen auf (transnationale) kulturelle und politische Autonomie zu unterstützen, als besonders dringend gelten.

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Anmerkungen

Anmerkungen 1 Williams 1993, S. 70, 93 betont, dass wir uns für nicht beabsichtigte negative ebd., S. 16 f. Konsequenzen unseres Handelns schuldig fühlen können. Die Zuschreibung von Schuld für solches Handeln verwische den Unterschied von berechtigten Schuld- und Schamgefühlen. Zu Scham siehe unten Kap. V.5. 2 Siehe Lewis 1991, S. 17; Arendt 1991a, S. 18 f.; Feinberg 1991; Dworkin 1986, S. 172 f.; Fullinwider 2000; Kumar und Süver 2004; Birnbacher 1995, S. 174; Leist 1990, S. 42; Wingert 1991, S. 91. 3 Washington Post, 29. November 1999, S. A22. Hyde (Republican) repräsentiert seit 25 Jahren den 6. District des Bundesstaats Illinois im US House of Representatives. 4 Zu Modellen der (rollenabhängigen) \'erantwortungsverteilung siehe May und Hoffman 1991, S. 4; Arendt 1991, S. 277; Feinberg 1991, S. 70-74; Pfeiffer 1988, S. 70-82; Lenk und Maring 1995, S. 249-57; Miller 2004a, S. 251-57. Für das klassische (und umstrittene) Plädoyer für eine spezifischen Verantwortungsethik der politischen Repräsentanten siehe Weber 1926, S. 5166.

5 Für einen Begriff der Kollektivschuld, der sich nicht wie immer in die individuelle Schuld der Mitglieder der Gruppe übersetzen lässt, plädiert aber Gilbert 1996, S. 384 f. 6 Siehe z.B. Krawietz 1995, S. 202 f.; Bayertz 1995, S. 29; Leigh 1982. 7 Für Hinweise und Diskussion danke ich Brian Bix und Kenneth Campbell. 8 Siehe auch Birnbacher 1995, S. 173. 9 Siehe z.B. Atiyah 1967 und ders. 1999. 10 Zu denken ist an die zahlreichen Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch Bürgerkrieg und Terrorismus. Für eine Analyse der zunehmenden Bedeutung dieser Sicherheitsbedrohungen auch für den Menschenrechtsschutz in der „postnationalen Konstellation" siehe Zangl und Zürn 2003, Kap. 7 und 8. Für eine rechtliche Bewertung von Menschenrechtsverbrechen durch nicht-staatliche Akteure angesichts der terroristischen Anschläge des 11. 09. 2001 und der Bürgerkriege auf dem Balkan siehe z.B. Heikkillä 2002 und Fincll 2002. Die historische Verantwortung von transgenerationellen Rechtspersonen wie Unternehmen, Kirchen und Parteien kann analog zu der von Staaten verstanden werden, sofern diese Entitäten nicht staadiche Aufgaben erfüllen oder doch die Kontrolle ihrer Tätigkeiten Staatsaufgabe ist. Siehe mit Blick auf Kirchen und die Reparationsforderungen der African Americans Bedau 1972, und mit Blick auf kommunistische Parteien Jedlicki 1990. Zur Haftung von (transnationalen) Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen siehe z.B. Ratner 2001; Wells 2001; French 1984. 11 Siehe Verdross und Simma 1984, S. 511-37. Zur völkerrechtlichen Praxis generell siehe insbesondere das Wiener Übereinkommen über das Recht der

Anmerkungen

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völkerrechtlichen Verträge (Vienna Convention on the luiin of Treaties) 1964, dazu die Darstellung in Verdross und Simma 1984, S. 334-45, 432-537, sowie Krause-Ablass 1969. 12 Dazu siehe Pogge 2001, S. 50-53. Zur Frage der moralischen Rechtfertigung der vertraglichen Bindung gegenwärtig Lebender durch früher Lebende generell siehe Pogge 2004, Abschnitt 3.1; Thompson 2004; Otsuka 2003, Kap. 7. 13 Diese wären im Sinne einer moderat nicht-skeptischen Position auszuweisen. Siehe Kap. VI.4. Das Völkerrecht enthält Normen, die für alle Völkerrechtssubjekte gleichermaßen gelten und von ihnen auch durch Absprache nicht aufgehoben oder verändert werden können, die Normen des ins cogens. Die Wiener Konvention (Art. 53) erklärt Verträge für nichtig, wenn sie im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts stehen. Es besteht allerdings erheblicher Disput darüber, welche Normen im Einzelnen zum ins cogens gehören und die Wiener Konvention selbst gibt uns darüber keine Auskunft. Zudem zielt das Argument im Text auf die Bestimmung solcher Normen als Voraussetzungen für die Völkcrrechtssubjektivität, wobei hier substantiell-normative Voraussetzungen der Souveränität gemeint sind, und nicht auf die Bedingungen der Ausübung souveräner Macht durch das Schließen völkerrechtlicher Verträge. Vor dem Missbrauch eines Arguments, das beansprucht Voraussetzungen der Souveränität in diesem Sinne auszuweisen, warnt im Zusammenhang der Legitimation (unilateraler) humanitärer Intervention u.a. Chesterman 2001, insbesondere Kap. 3 und 6. Für eine Interpretation der Schwierigkeiten, solche Bedingungen rechtstheoretisch zu bestimmen, siehe Koskcnnicmi 1989, S. 192-263. 14 Zum Stand der Bemühungen, die entsprechenden Verpflichtungen völkerrechtlich zu kodifizieren, siehe Czaplinski 2003. Siehe auch Kap. VII, N. 4750. Die lintscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) Case Concerning the Arrest Warrant 2002 (http://www.icj-cij.org/ (14. April 2005)) ist Anlass für Überlegungen der Bestimmung des Verhältnisses der Verantwortung von Individuen (sei es, dass sie als Vertreter des Staates handeln oder als Privatleute) und der Staatenverantwortung. Siehe insbesondere Spinedi 2002. Siehe auch Kap. VII, N. 50. 15 Zu den Verträgen mit den indianischen Ureinwohnern Nordamerikas siehe Prucha 1994; Eick 1994. Zu deren Rechtslage siehe Joseph Singer 2001, Kap. 15. Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Interpretation des Common I^am Besitztitels auf Land der Ureinwohner in Australien, Neuseeland und den USA siehe Bartlctt 1995. 16 Zur rechtlichen Situation der australischen Aborigines vor dem Mabo Urteil des High Court (1992) (siehe N. 136 unten) siehe Reynolds 1996, Kap. 4; Chesterman und Galligan 1997, Kap. 7.

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Anmerkungen

17 I'ur eine skeptische Interpretation der normativen Signifikanz der Verträge mit Ureinwohnern im Kolonisierungsprozess für deren Ansprüche heute siehe insbesondere Goodin 2000. 18 Siehe Kap. IV, N. 57 und 77. 19 Für diese Angaben siehe Patterson 1996, S. 4, 13. Im Ersten Weltkrieg waren nicht einmal ein Drittel so viele US-Amerikaner getötet und nicht-tödlich verletzt worden. 20 Siehe ebd., S. 31-35. Allerdings handelt es sich hierbei um einen langfristigen Trend, der in den ersten Nachkriegsjahren unterbrochen wurde. Waren 1945 19.1 Millionen, gut 6 Millionen mehr US-amerikanische Frauen berufstätig als 1940 (in Prozenten: 36% 1945 gegenüber 26% im Jahre 1940), gaben bis Anfang 1946 über 2 Millionen ihren Job wieder auf und eine weitere Million wurde entlassen. Häufig wurden insbesondere in der Industrie ihre Stellen von zurückgekehrten Soldaten übernommen. Aber schon 1950 waren 18 Millionen Frauen oder 29%, davon 50% verheiratete berufstätig, 35% 1960 und 42 % 1970. 21 Insgesamt etwa 1 Million, das sind 16% der US-amerikanischen Soldaten, während die African Americans nur 10% der Bevölkerung ausmachten. Siehe ebd., S. 22. 22 Ebd., 22 f. 23 Allerdings lebten Ende der 40er Jahre noch immer mehr als zwei Drittel der African Americans im Süden der USA. Ebd., S. 19, 23. 24 Siehe ebd., S. 27-31. In den Jahren zwischen 1945 und 1960 fallen 77% aller Wohnungsbaumaßnahmen in Chicago auf die Vorstädte, in denen 1960 kaum mehr African Americans \cbcn als 1940, nämlich nur 2.9%. 25 Präsident Eisenhower hat in einer eigenhändig angefertigten Passage seiner Abschiedsrede vom 17. 1. 1961 vor den Gefahren für die Freiheit und demokratischen Verfahrensweisen gewarnt, die von einer für die amerikanische Erfahrung neuartigen Verbindung eines immensen Militärestablishments und einer riesigen Rüstungsindustrie ausgehen. Die Nukleartechnologie hat während des Zweiten Weltkriegs eine besondere Rolle gewonnen und hat, nach Auffassung mancher, in der Nachkriegszeit zur Fintstehung eines militärisch-industriellen Komplexes geführt, der in bis dahin unbekanntem Maße staatliche Ressourcen bindet und auf viele Bereiche der Gesellschaft ausstrahlt. Siehe Albrecht 1980. 26 Siehe Patterson 1996, S. 83. 27 Eine aus vielen Gründen abwegige Annahme - aber darauf kommt es hier nicht an. 28 Nämlich im Sinn des zukunftsorientierten Verständnisses der Signifikanz der Konsequenzen von früherem Unrecht, das in Kap. II diskutiert wird. 29 Wie in Kap. III.7-9 spezifiziert. 30 Man könnte meinen, solchc Vorfahren hätten einen Anspruch darauf, bestraft zu werden. Insofern eine Person zu bestrafen voraussetzt, dass wir sie in ihrem Wohlbefinden (negativ) affizieren können, ist diese Idee aus den

Anmerkungen

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Gründen abwegig, die auch gegen die Möglichkeit sprechen, im üblichen Sinn verstorbenen Personen Kompensationsleistungen zu erbringen (siehe Kap. III, insbesondere Abschnitt 3). Analog zur symbolischen Kompensation könnte man versuchen, die Idee der symbolischen Strafe verstorbener Personen zu entwickeln. Siehe oben N. 1-5 und Text, und unten Kap. V.5 und 6. Siehe Kap. III, insbesondere Abschnitte 7-9. Siehe Kant 1968a, S. 455 f. Mehr zu Dankbarkeit siehe unten N. 43-45 und Text. Dafür, dass die Qualität des Willens des Wohltäters ein wichtiger Faktor sein soll mit Blick auf den Grad der Verbindlichkeit der Dankbarkeitspflicht oder für die Bemessung, was aus Dankbarkeit geschuldet ist, sprechen sich z.B. aus: Kant 1968 (Qualität des Willens des Wohltäters und Größe des Nutzens gleichrangig wichtiger Faktor für den Grad der Verbindlichkeit der Dankbarkeitspflicht); Thomas von Aquin 1964, II/II, Frage 106 (Qualität des Willens wichtiger als Größe des Nutzens für die Bemessung des aus Dankbarkeit Geschuldeten); Seneca 1987, Bd. 4, S. 167 (Buch 10, 81, 5); ders. 1995, Bd. 5, S. 115 (Buch I, V, 1), S. 291 (Buch IV, I, 3) (Qualität des Willens allein entscheidend); ebd., S. 119 (Buch I, VII, 1) (oder jedenfalls ist Qualität des Willens viel wichtiger als empfangener Nutzen). Nach Auffassung Kants 1968a, Band 4, S. 455 f. sind wir aus Dankbarkeit zu wenigstens gleicher Dienstleistung dem Wohltäter (und, so dies nicht möglich ist, anderen verpflichtet); eine ähnliche Regel vertreten auch Smith 1984, S. 174 (Teil iii, Kap. 6.9); sowie Aristoteles 1983, Bd. 6, S. 105 (Buch v, Kap. 8, 1133a). Dazu ausführlicher Kap. V.5. Dazu ausführlich Kap. V.3. Siehe Kap. IV, N. 77 oben. Siehe Ilcyd 1982 und ders., "Supererogation". Siehe Kap. III.5. Siehe Kap. II. Da ich vier Aspekte öffentlichen Erbes unterscheide, sind weitere Vergleiche möglich, nämlich zwischen ererbten öffentlichen Verdiensten und ererbten öffentlichen Gütern, ererbten öffentlichen Gütern und ererbten öffentlichen Übeln, ererbten öffentlichen Verdiensten und ererbten öffentlichen Übeln, sowie ererbten öffentlichen Verbrechen und ererbten öffentlichen Übeln. Ich gehe nicht auf alle Vergleiche gleichermaßen ausführlich ein. Auch bei diesen Vergleichen erweist sich, dass die normativen Implikationen in den bereits unterschiedenen zwei Dimensionen differieren, nämlich erstens hinsichtlich der Frage, wem und mit Blick auf wen etwas geschuldet ist, und zweitens, ob die aus dem Erbe resultierenden Pflichten hinsichtlich dessen, was andere in der Vergangenheit getan haben (vergangenheitsorientiert), oder hinsichdich der Auswirkungen auf das Wohlergehen gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen (zukunfts-orientiert) zu begründen sind.

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Anmerkungen

43 Siehe Ν. 34 oben. 44 Für eine Interpretation dieses stoischen Verständnisses der Dankbarkeitspflicht siehe Inwood 1995 (das Postulat der Gleichheit aller Menschen verlangt, dass auch alle ungeachtet ihres sozioökonomischen und rechtlichen Status einander „Wohltaten" erbringen und Dankbarkeitspflichten erfüllen können, also auch Sklavenbesitzer ihren Sklaven Dankbarkeit schulden und Sklaven ihren Besitzern Dankbarkeit erweisen können). Siehe auch Abel 1986; Bürge 1981. 45 Kant 1968a, S. 455 unterscheidet zwischen der Tugendpflicht zur affektionellen Dankbarkeit, die schon „ein bloßes herzliches Wohlwollen des Anderen ohne physische Folgen verdient", und der „thätigen Dankbarkeit". 46 Diese und die anderen hier unterschiedenen Pflichten des Respekts mit Blick auf heute tote Menschen sind also gemäß der in Kap. III vorgestellten Interpretation als überlebende Pflichten aufzufassen. Siehe insbesondere Kap. III, Abschnitt 5. 47 Wir können auch in Unkenntnis unserer Wohltäter leben. Die entsprechende Überlegung ist deshalb auch für Dankbarkeitspflichten relevant. 48 Mit „übler Nachrede" ist hier sowohl solche schlechte Nachrede gemeint, die auf keiner besonderen Absicht beruht, als auch die absichtliche Verbreitung des die Ehre einer Person Schmälernden, und ungeachtet, ob es sich um Verleumdung handelt, also um die rechtlich ahndbare absichtlichc Verbreitung der die Ehre einer Person schmälernden Unwahrheit. 49 Wir könnten allen Menschen, denen solcher moralischer Respekt geschuldet ist, ein Denkmal setzen oder einen entsprechenden Feiertag einrichten, so Adam Swift in privater Kommunikation. 50 Siehe oben Kap. V.3, insb. N. 34 51 In der Tat, wie Biermann 1991, S. 215-17, aufgezeichnet auf „Warte nicht auf bessre Zeiten" (CBS Nr. 6753, 1973) betont, kann das Selbstverständnis, in der Tradition früherer Bemühungen heute toter Menschen zu stehen eine Quelle des Trosts sein und insbesondere in Zeiten, in denen die eigenen Bemühungen um die Fortführung des Projekts von vielen Zeitgenossen nicht geschätzt werden. Der Refrain des Lieds lautet: „Wie nah sind uns manche Tote, doch wie tot sind uns manche, die leben." 52 In der Antike haben die Erträge von Olivenbäumen erst nach 15 bis 19 Jahren die Kosten ihrer Pflanzung aufgewogen; gute Ernten können nur etwa jedes fünfte Jahr erwartet werden. Olivenbäume werden sehr alt, häufig bis zu einige hundert Jahre. Deshalb sind Olivenbaumpflanzungen sehr wertvoll gewesen und in der Antike (siehe z.B. Thukydides 2001, Buch vi, S. 99) gehörte das Fallen von Olivenbäumen zu den gängigen Mitteln der Kriegsführung; die Torah kennt (siehe Deissler und Vögtle 1985, Kap. 20, S. 19-20) ein spezielles Verbot solcher Mittel der Kriegsführung. Für eine Interpretation dieser und anderer Verbote der jüdischen Rechtstradition zum Schutz intcrgenerationeller Beziehungen siehe Auerbach 1995, S. 27-35. Außerdem (siehe Wissowa 1937, vol. xl, et al., Sp. 1998-2022, insbesondere

Anmerkungen

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2011, 2014, 2021) galt der langsam wachsende Olivenbaum als angemessenes Symbol für eine wohlgeordncte und friedenslicbende Gesellschaft. 53 Es soll natürlich nicht bestritten werden, dass Investitionen dieser Art häufig z.B. als Mittel der Legitimation eines politischen Systems und seiner Repräsentanten genutzt werden. Das ist sehr häufig der Fall bei der Einrichtung von Museen und der Erhaltung historischer Monumente als Teil eines geplanten Prozesses der Strukturierung von Gcschichtc im Sinne der etablierten politischen und ökonomischen Ordnung. Aber in einem solchen Fall ist der instrumenteile Wert dieser Investitionen davon abhängig, vermute ich, ob sie hauptsächlich als zukünftig lebenden Menschen zuträglich gesehen werden. Für die komplizierten Politiken beider deutscher Staaten (BRD und DDR) im Nachkriegsdeutschland mittels der Erhaltung von Monumenten und der Einrichtung von Museen eine kollektive Identität auszubilden siehe Reichel 1995. 54 Ist die Erwartung, dass zukünftig lebende Menschen diese Projekte wahrscheinlich weiterverfolgen oder dass solche Projekte zukünftig lebenden Menschen zum Nutzen gcreichen könnten, wirklich konstitutiv für ihre Bedeutung? Kommt es zu wissenschaftlichen Projekten, deren Ergebnisse möglicherweise für zukünftig Lebende nutzbringend sein werden, kann man beobachten, dass für das Sclbstverständnis der heute am Projekt beteiligten Forscher der potentielle Nutzen für zukünftig Lebende von keiner Relevanz sein mag. Zugegeben, deren Sorge um die Zukunft wird wahrscheinlich keinen großen Einfluss darauf haben, wie sie tagaus, tagein das Forschungsprojekt verfolgen. Man kann auch argwöhnen, dass Wissenschaftler Sorge um zukünftig Lebende bei der Beantragung von Forschungsmitteln vorgeben, um ihre Chancen auf Bewilligung der Mittel zu erhöhen. Solcher Argwohn lohnt des Kommentars nicht. Vielleicht sollte aber darauf hingewiesen werden, dass die Verfolgung von Forschungsprojekten keine Privatangelegenheit der beteiligten Forscher zu sein pflegt. Andere als die Forscher nehmen aktiv teil an der Debatte um die soziale Bedeutung der Forschungsprojekte und zu ihnen gehören auch die, die Entscheidungen darüber treffen, welche Projekte förderungswürdig sind. Der instrumentelle Wert davon, an die potentiellen Begünstigungen für zukünftig Lebende zu appellieren, hängt davon ob, ob darin ein legitimer Grund für die Verfolgung dieser Projekte durch die gesehen wird, die über deren Förderungswürdigkeit Entscheidungen treffen. Und dieser Umstand ist für ihre soziale Bedeutung relevant. 55 Wie z.B. das noch nicht abgeschlossene Historische Wörterbuch der Philosophie 1971 ff.. 56 Die wissenschaftlichen Grundlagen des Projekts verdanken sich der Astrophysik (der spcktroskopischen Beobachtung der Plasmatemperatur von Sternen) und der speziellen Relativitätstheorie Einsteins (der Annahme der Umwandlung von Massendifferenz in Energie). Siehe Pease 1987; Shaw 1990;

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Anmerkungen

Conn et al. 1992; John Wesson, The Science of Jet, http://www.jet.efda. org/documents/wesson/ wesson.html (14. April 2005). 57 Siehe Rawls 1971, §§ 63-64; Raz 1986, Kap. 12; Scanion 1998, Kap. 3. 58 Siehe Raz 1989b, S. 20. 59 Die Bedingungen des erfolgreichen Wissenstransfers dürften die Bedingungen der jeweiligen Praxis der Durchführung intergenerationeller Projekte reflektieren. Stefan Weber, der als Wissenschaftler einige Jahre für JET (siehe oben N. 56) gearbeitet hat, meint, dass bei einem solchen wissenschaftlichen Großprojekt der durch Aussetzung der Förderung unterbrochene Wissenstransfer schon nach kurzer Zeit die Fortsetzung des Projekts als ganzes gefährden kann. Relevantes Wissen, das zur Fortsetzung des Projekts nötige Know-how, könne nur von den in der Durchführung des Projekts erfahrenen Wissenschafderinnen an die Nachwuchswissenschaftlerinnen persönlich weitergegeben werden. 60 Baier 1981, S. 173. 61 Siehe Kap. IV.4. 62 Siehe unten Kap. V.7. 63 Die berechtigte Kritik Barrys 1991, S. 232-34 an der Idee intergenerationeller Gerechtigkeit als Reziprozität trifft die hier ausgewiesen Pflichten aufgrund ererbter kollektiver Güter nicht, weil diese spezielle Pflichten von Mitgliedern andauernder Gesellschaften bestimmter Qualität sind, deren Geltung von ihrer Kompatibilität mit der Erfüllung genereller Pflichten auch der intergenerationellen Gerechtigkeit abhängt. 64 Eine Interpretation des Unrechten Versäumnisses, angemessenen Respekt mit Blick auf heute tote Wohltäter zu zollen, wird eine Interpretation des Werts erhaltenswerter Güter einschließen. Das bedeutet aber nicht auch, dass eine solche Interpretation annehmen muss, früher lebende Menschen könnten geschädigt werden. Hierzu siehe meine Analyse und Diskussion posthumer Schädigung in Kap. III.3 und 4. 65 Dies ist ein generelles Merkmal von Pflichten. Siehe Raz 1989b, S. 17; Raz 1977, S. 223-24. 66 Die Idee von Pflichten mit Blick auf öffentliche Güter kann nicht verstanden werden, wenn wir Pflichten so auffassen, dass sie stets Individuen geschuldet sind, die das korrespondierende Recht (auf Erfüllung der Pflicht) haben. Die Idee von Pflichten mit Blick auf öffentliche Güter hat auch nichts mit der Vorstellung gemein, dass die Pflicht stets ihrem Träger zum Nachteil und das korrespondierende Recht ihrem Träger stets zum Vorteil gereicht. Typischerweise kann man von Individuen nicht sagen, dass sie ein Recht auf ein öffentliches Gut haben. Und die Individuen, welche die Pflichten erfüllen, ein öffentliches Gut zu pflegen und zu bewahren, gehören gewöhnlich zu denen, die aus der Existenz des öffentlichen Guts Nutzen ziehen. Siehe Raz 1989b, S. 10 f. 67 Daraufhat schon Höffe 1977, S. 15 f. hingewiesen. Höffe nennt das Beispiel der Armutsbewegungen. Zu diesen siehe z.B. Lambert 2000; Audisio 1996.

Anmerkungen

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68 In seiner Interpretation einer transgencrationellen Gemeinschaft rational Handelnder untersucht De-Shalit 1995, S. 46 nicht die Relevanz dieses auf Autonomie beruhenden Grunds für Änderungen, sondern erlaubt Änderungen wertvoller Praktiken und Institutionen nur, wenn diese "changes in technological, scientific, or economic circumstances" reflektieren. Das überrascht, da De-Shalit "free and rational agency" für "a condition essential to the success of a transgenerational community" (ebd., S. 16 f.) erachtet. 69 Wie ich in Abschnitt 3.4 von Meyer 2003 argumentiere, hätten wir zu wählen zwischen einer Zukunft mit Menschen, die alle ein lebenswertes Leben führen und einer Zukunft ohne Menschen, dann könnten uns Überlegungen auf der Grundlage von Rechten zukünftiger Menschen nicht anleiten. Wenn auch solche auf Rechte zukünftig Lebender uns nicht davon abhalten können, das Ende menschlichen Lebens zu verursachen, gibt uns der Respekt, den wir den sehr wertvollen Gütern, die unsere Vorfahren an uns und weiter entfernt zukünftig lebende Menschen vererbt haben, einen Grund, menschliches 1 ,eben nicht zu beenden - es sei denn, wir befinden uns in den schlimmsten Umständen, in denen weder wir noch zukünftig lebende Menschen aus dem, was wir ererbt haben, Nutzen ziehen können. Zwar möchte ich sicherlich nicht vorschlagen, dass solcher Respekt für die zukunftsorientierten Projekte unserer Vorfahren eine individuelle Pflicht zur Prokreation begründen kann. Andererseits kann solcher Respekt die Pflicht begründen helfen, die ererbten Güter und die Bedingungen, die dafür konstitutiv sind, dass zukünftig lebende Menschen zukunfts-orientierte Projekte unserer Zeitgenossen und Vorfahren fortsetzen können, nicht vorsätzlich zu gefährden oder gar zu zerstören. In den Worten von Baier 1983, S. 178: "To end it all would not be the communal equivalent of suicide, since it would end not only our endeavors but those invested endeavors of all our predecessors." 70 Als beispielhaft gilt das bundesdeutsche „Gesetz über den allgemeinen Lastenausgleich" von 1952 (BGBl I 1952, 446), das einen Ausgleich für die Schäden und Verluste der Vertriebenen und Flüchtlinge aus den (früheren) deutschen Ostgebieten und der sowjetischen Besatzungszone schaffen sollte. Zuvor war 1949 das Gesetz zur Milderung sozialer Notstände in Kraft getreten, das die Soforthilfe für Vertriebene und Flüchtlinge, Kriegssach- und Währungsgeschädigte sowie politisch Verfolgte regelt, 1950 das LIeimkehrergesetz, durch welches ehemalige Kriegsgefangene besondere Rechte und Begünstigungen erhalten und im selben Jahr auch das Bundesversorgungsgesetz, das den Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen Heilbehandlung und Renten sichert. Bis Dezember 1980 werden rund 104 Milliarden DM als Entschädigungshilfen gezahlt. Siehe Wiegand 1992. 71 Siehe oben N. 34 und 44 und jeweiliger Text. 72 Plausibler mag die Behauptung sein, dass wir Vorfahren, die öffentliche Übel tradieren, moralischen Respekt schulden. Hierfür müssen wir lediglich annehmen, dass diese Vorfahren glaubten, moralisch richtig zu handeln und es nicht haben besser wissen können. Dass sie im Ergebnis schädigend gehandelt

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Anmerkungen

haben, ist ihnen dann nicht anzurechnen, oder jedenfalls nicht als Moralpersonen. Unter diesen Umständen schuldeten wir ihnen moralischen Respekt in dem schwächeren der beiden oben unterschiedenen Sinne. Man müsste annehmen, die Rechte von Personen könnten auf schlimmste Weise verletzt werden in der Absicht, sie zu begünstigen. Es sei dahingestellt, ob dies begrifflich möglich ist. Eine schwächere Behauptung ist, dass Menschen, die die Rechte anderer aufs schlimmste verletzen, glaubten, moralisch richtig zu handeln, und nicht haben wissen können, dass sie Unrecht tun. Dieser Fall dürfte sehr selten sein. Mit Blick auf diese Menschen wäre es angemessen, ihnen moralischen Respekt in dem schwächeren der beiden oben unterschiedenen Sinne zu bezeugen. Trotz ihrer Taten können wir sie als moralisch anständige Menschen begreifen und erinnern. Siehe z.B. die Diskussion um die normative Bedeutung der Ignoranz über die langfristigen Wirkungen der sogenannten Treibhausgasc in Gosseries 2004, und Meyer in 2004a. Auch Menschen, die für schlimmste Menschenrechtsverbrechen verantwortlich sind, können und auch im Nachhinein der Überzeugung sein, moralisch richtig gehandelt zu haben. Für interessante Fallstudien siehe Orizio 2004. Von Weizsäcker 1989, Kap. 10, 11 analysiert, wie die Preise von Gütern die langfristigen ökologischen Kosten ihrer Produktion und Konsumption reflektieren können, und diskutiert, wie solche Preise in ein Marktsystem eingeführt werden können. Barry 1989 Bd. 1, S. 193. Die am häufigsten genannte politische Entscheidung dieses Typs ist die groß angelegte Nutzung von Atomenergie und ihre Folge, nämlich die Herstellung hochgiftiger Abfälle, die langfristig gelagert werden müssen. F'ür eine Diskussion, ob trotz des bedeutenden Risikos ernsthafter Schädigung zukünftiger Generationen, die Nutzung der Atomenergie wegen vorrangiger Pflichten gegenüber armen Zeitgenossen oder vorrangigen Pflichten gegenüber zukünftig lebenden Menschen gerechtfertigt sein kann, siehe Routley 1978, S. 162-73. Siehe oben Kap. II. Siehe Kap. IV.6, N. 71-73 und Text. Siehe oben N. 32 und Text. Seiner Auffassung nach darf aber gesellschaftliche Veränderung nur darauf gerichtet sein, die ererbte Tradition als ganze zu erhalten. Burke 1973, S. 48, 108-11, 264-65 lehnt es ab, um der kollektiven Autonomie willen - dem ersten der oben genannten Gründe (siehe oben N. 68 und Text) - öffentliche Güter zu ersetzen. Siehe Kap. II oben. Siehe Kap. III oben Siehe unten Kap. V.5. Für eine komparative und historische Interpretation siehe z.B. Steinbach 1993. Für eine Interpretation, die die moralische Dimension des Bruchs mit

Anmerkungen

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der vorangegangenen öffentlichen Ordnung betont, siehe die Analyse von Kren und Rappoport 1980, S. 12-15. Für Interpretationen, die sich auf die Transitionen in Lateinamerika und Mittel- und Osteuropa beziehen, siehe z.B. Zalaquett 1995, S. 3-31; und Benomar 1995, S. 32-41. 86 Viele haben die soziale Bedeutung der Wahrheit mit Blick auf historische Ungerechtigkeit erkannt. Z.B. Jedlicki 1990, S. 72: "if historical truth is to serve as catharsis, ... it is not a matter of indifference who reveals and who teaches it. ... It is entirely indifferent from the point of view of scholarship but not in social life, where no knowledge itself of the facts is the issue but collective feelings, fanned or extinguished by facts, by fabricationss and concealments, by justifications and verdicts." Die öffentliche Anerkennung der Wahrheit historischen Unrechts ist häufig umkämpft. Dazu siehe Kap. III, N. 45. 87 Für normative und politische Analysen der Legitimität von Strafe als Antwort auf unter dem Vorgängerregime begangenem Unrecht siehe z.B. Kirchheimcr 1993, Kap. 1; Arendt 1986, S. 54-59, 97, 98 f., 100, 140, 168, 178, 183 f., 186201, Kap. vii, viii passim, S. 402 (zu Eichmanns Schuld), 374, 377 (zum Rückwirkungsproblem), 59-61, 74, 94, 181, 379-84, 392-95 (zur Jurisdiktion des Israelischen Gerichts); Nino 1996, Kap. 1, 4 und 5; Malamud-Goti 1996, S. 20 f., 189, 197 f.; de Greiff 1996; Günther 1997; und siehe Kap. VII. Für generelle und vergleichende Interpretationen von Strafe als Antwort auf historisches Unrecht siehe z.B. Zimmermann 1997; O'Donnell und Schmitter 1986; Huntington 1991; Przeworski 1991, S. 23-94; Zalaquett 1995; Nino 1996, Kap. 3. 88 Historisch gesprochen wurden Verfahren der Säuberung häufig mit strafrechtlichen Maßnahmen vermischt. Für vergleichende Untersuchungen und Bewertungen von Säuberung als eine unter anderen möglichen Reaktionen auf historisches Unrecht siehe llzeplinski 1995, Bd. I; Steinbach 1994, S. 20; Herz 1982, S. 279-81, 287, 289. 89 Meine Diskussion dieser Dimension als einer Antwort auf ererbte öffentliche Verbrechen ist auf die folgende Frage beschränkt: Ob man nämlich von schuldlosen Mitgliedern andauernder Gesellschaften sagen kann, dass sie unter Kompensationspfliehten mit Blick auf solches Erbe stehen und inwiefern sie das tun. Es geht hier also nicht um die generelle (und äußerst interessante) Frage: Was ist das Verhältnis zwischen kompensatorischer und distributiver Gerechtigkeit? Zu diesem Fragenkomplex siehe Coleman 1992, S. 303-54. Für Kritik an Coleman siehe Perry 1998; Colemans Antwort 1998b, S. 306-16. Hilfreich mag die Unterscheidung von drei Positionen sein: Erstens, kompensatorische Gerechtigkeit liefert Prinzipien für die Wiederherstellung oder den Erhalt distributiv gerechter Verhältnisse; siehe z.B. Gaus 1991, S. 54 f. Zweitens, kompensatorische Gerechtigkeit ist ein konstitutives Element distributiver Gerechtigkeit insofern erstere Bedingungen angibt, die es bei der Verfolgung des Ziels der distributiven Gerechtigkeit zu beachten gilt, weil diese Bedingungen Aspekte unseres Verständnisses distributiver Gerechtigkeit ausdrücken; siehe z.B. Anderson

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Anmerkungen

1991, S. 179 f.. Drittens, kompensatorische und distributive Gerechtigkeit sind begrifflich voneinander unabhängig und die Verfolgung des Ziels kompensatorischer Gerechtigkeit kann mit der Verfolgung des Ziels distributiver Gerechtigkeit konfligieren; siehe z.B. Fishkin 1991, S. 92. Schließlich sei auch das Verständnis erwähnt, nach welchem kompensatorische und distributive Gerechtigkeit dasselbe Ziel verfolgen; siehe Goodin 1991, S. 157 f., 165 f.. Hier geht es auch nicht um die Beantwortung der Frage, welche relative moralische Bedeutung die Ansprüche von Opfern vorsätzlich verübten Unrechts haben, wenn wir deren Ansprüche vergleichen mit Ansprüchen wegen Ungleichheiten, die sich biologischen Unterschieden, anderen natürlichen Ursachen oder anderen sozialen Einflüssen verdanken. Zu Beantwortung dieser Frage könnten die Überlegungen von Nagel 1997 beitragen. Zu den tatsächlichen Politiken der Opferkompensation etwa der Bundesrepublik Deutschland siehe N. 113 unten. 90 Das bekannteste Beispiel ist das der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Heconäliation Commission (TRCj). Zu Wahrheitskommissionen siehe unten Kap. VII. Zu dem problematischen Versuch der südafrikanischen TRC, eine staatliche Aufklärung des unter dem Apartheidregime begangenen Unrechts mit der Bemühung um Restitution der Beziehungen zwischen Opfern und Unrechtstätern des Vorgängerregimes zu verbinden, siehe Ash 1997; Asmal, Asmal and Roberts 1996; Boraine, Levy and Scheffer 1994; Hahn-Godeffroy 1998; Ilamber 1998. Dazu siehe auch Kap. VII.4. Und siehe Kap. VII, N. 15. 91 Siehe Kap. VII.4 und 7. Siehe auch „Niemals wieder!" - der Titel der Berichte der Argentinischen Wahrheitskommission (1984), wie auch des im Untergrund geschriebenen Berichts für Brasilien (1985) und des Berichts von Nichtregierungsorganisationen Uruguays (1989). Siehe Nino 1996, S. 78-82; Weschler 1990, Teil ι, und S. 235. 92 Siehe oben Kap. III.7-9. 93 Siehe O'Neill 1987, S. 74-76. 94 Siehe zu nicht-distributiver kollektiver Strafe Pfeiffer 1988, S. 78-82, und Feinberg 1991, ders. 1970. 95 Für die Repräsentanten von Tätern und Opfern würde dann angenommen, sie stünden zu den Tätern und Opfern bzw. Nachfahren oder Angehörigen der Täter und Opfer in einer Beziehung, die es ihnen erlaubte, stellvertretend um 1 Entschuldigung zu bitten und zu vergeben. 96 Siehe unten N. 127. 97 Wie etwa Shriver 1995, S. 221 behauptet, der den Nachweis versucht, dass Vergebung ein politisches Konzept sein und kollektive Vergebung die Wirkung haben kann, die moralischen Beziehungen zwischen Kollektiven wiederherzustellen. Shriver beruft sich auf die Analyse kollektiver Entschuldigungen von Tavuchnis 1991, S. 97-117. Siehe auch Kodalle 1994

Anmerkungen

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(tritt für eine öffentliche Politik der Vergebung von Unrechtstätern ein, die unter dem \'orgängerregime Menschenrechtsverbrechen begangen haben, wobei es gelte, die schlimmen Verbrechen und das Leiden der Opfer nicht "zu vergessen, sondern kollektiv zu erinnern). 98 Für die vielen Schwierigkeiten eines Versuchs der öffentlichen Entschuldigung durch Repräsentanten siehe die Debatte über die Bedeutung und Legitimität des „Stuttgarter Schuldbekenntnisses" (1945): Asmussen 1948; Rothenpieler 1982, S. 209-25; Shriver 1995, S. 107-08; Grace 2002. 99 Soziales Vergessen früheren Unrechts zu befördern dürfte sehr viel einfacher sein als moralische Rechenschaft über solches Unrecht. Siehe Kap. IV, N. 5, und Kap. VII, N. 18. 100 Siehe N. 90 oben und Kap. VII, N. 79-80 und Text. 101 Schaden, Kompensation und Entschädigung werden im Zusammenhang dieser Erörtertung so verwandt, dass sie mit dem in Kap. II entwickelten Schadensbegriff kompatibel sind, auch wenn dies nicht jeweils angezeigt wird. 102 Zu den klassischen Texten zählen Piaton 1995, S. 51d-e; Hobbcs 1994, Kap. 14; und insbesondere Locke 1977, Teil II, Kap. 7 und 8, S. 119-22. Zur Interpretation siehe z.B. Simmons 1979, Kap. 3 und 4; Green 1988, Kap. 6. 103 Siehe Kant 1968a, S. 307, 312; und ders. 1968b, S. 289; Rawls 1979, S. 137 f., 369-72; Simmons 1979, Kap. 6; Waldron 1993; ders. 2004. 104 Siehe insbesondere Schcffler 2001; Dworkin 1986, S. 195-215; Tamir 1993, Kap. 5-6. 105 Für eine kritische Diskussion siehe Simmons 1979, Kap. 3 und 4; Dworkin 1986, S. 117 f. 106 Darin kann das voluntaristische Element auch dieser Begründung erkannt werden, wenn Menschen autonom entscheiden können, sich als Moralpersonen oder als Amoralisten verstehen zu wollen. Siehe Tugendhat 1993, insbesondere 5. Vorlesung; Raz 1999. 107 Siehe Kap. IV, N. 46 und Text. 108 Dworkin 1986, S. 117 f., vertritt die Auffassung, dass dies generell für assoziative Pflichten gelte, also auch für Freundschaftspflichten und Pflichten als Mitglied einer Familie. Die Rolle der Entscheidung und Zustimmung sei komplex und von unterschiedlicher Relevanz. 109 Siehe Kap. IV.4. 110 Siehe insbesondere Barry 2001, S. 148-54, 238-49, und Kap. IV, N. 75. 111 Siehe Raz 1990, S. 16. 112 Siehe oben, Kap. IV, N. 69-70 und Text. Sowie Brumlik und Brunkhorst 1990; Löw-Beer 1990, S. 61-69. 113 Zu den Kompensationspolitiken der Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf die Opfer des sogenannten Holocaust und des Naziregimes, siehe z.B. Steinbach 1986, Eichhorn 1992. Für die Reparationszahlungen der BRD an Israel und die Kompensationszahlungen an jüdische Opfer des Holocaust siehe z.B. Vogel 1967; Balabkins 1971; de la Croix und Rumpf 1974 ff., Bd. 3: (1985); Scgcv 1995, Teil iv;

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Anmerkungen

Shriver 1995, S. 80-89. Bevor die BRD durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (12. August 2000) Mittel für die entgangenen Löhne jüdischer Zwangsarbeiter Hitlerdeutschlands in Höhe von maximal 15.000 DM pro Betroffenem und insgesamt 2,072 Milliarden DM zur Verfügung gestellt hat, haben (siehe Heinsohn 2001) jüdische Zwangsarbeiter deutscher und österreichischer Nationalität, sowie solche Zwangsarbeiter, die nach Palästina/Israel fliehen konnten und solche, die sich anderswo in der nichtkommunistischen Welt aufhielten, Entschädigungen erhalten, die mit ihrer Zwangsarbeit im Zusammenhang stehen, nicht aber darauf zielen, den entgangenen Lohn zu erstatten. Auf der Grundlage der genannten bundesdeutschen Stiftung, dem Schweizer Fonds zugunsten bedürftiger Opfer von Holocaust/Shoa vom 26. 2. 1997 und dem österreichischem Allgemeinen Entschädigungsfonds für die Opfer des Nationalsozialismus (15. 2. 2001) können nun auch die wenigen überlebenden jüdischen Zwangsarbeiter und andere Opfer, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der früheren UdSSR und dem sogenannten Ostblock gelebt haben, Entschädigungen enthalten. Zur Frage, wieviele jüdische Zwangsarbeiter im Jahre 2000 noch leben und also Anspruchsträger auf Entschädigung für entgangenen Lohn im Sinne des deutschen Gesetzes sind, siehe Heinsohn 2001. Für die Oppostion in der BRD gegen die Anerkennung der Legitimität der Ansprüche der Roma und Sinti siehe Kap. IV, N. 19, 23-24 und Text. Für die Oppostion gegen die Anerkennung der Legitimität der Ansprüche der Homosexuellen siehe z.B. Stümkc 1996. Für die Opposition in der BRD gegen die Anerkennung der Legitimität der Ansprüche der Zwangsarbeiter siehe z.B. Der Spiegel 48/1997, S. 58-61. Für eine Untersuchung der Legitimität dieser Ansprüche siehe Leist 1990. Für die stark divergierenden Reaktionen auf die Ansprüche der Widerstandskämpfer auf Kompensationszahlungen in der BRD, der früheren DDR und in Österreich siehe Blänsdorf 1987, S. 14; Steinbach 1993 S. 22 f. Zu den Kompensationszahlungen der BRD für die Deutschen, die aus dem Osten geflohen sind, Kriegsschäden erlitten oder in den 1930er Jahren emigrierten, um dem Naziregime zu entkommen, siehe z.B. FrantziochImmenkeppcl 1996. Zu den Antworten Österreichs und der früheren DDR auf Ansprüche auf Reparation und Kompensation siehe z.B. Blänsdorf 1987, S. 3-18; dies. 1995; und Walch 1971. Und siehe oben General Settlement Fund Österreichs. Zum Schicksal der Roma und Sinti und der jüdischen Minderheiten in Zentral- und Osteuropa nach dem Ende des Kalten Krieges siehe N. 162-165 unten und Crowe 1995, Wasserstein 1996, Kap. 11; Union of Councils for Soviet Jews 1997. 114 Siehe oben Kap. VI.7. Für einen umstrittenen Versuch, die Debatten über historisches Unrecht in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem

Anmerkungen

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Zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung vergleichend zu interpretieren, siehe Nolte 1995; für einige der juristischen Antworten siehe auch Blanke 1995; Blankcnagel 1991. Siehe auch die Dokumente und Materialien in Kritz 1995, Bd. ii, S. 1-69, und 593-644. WS Argentine National Commission on the Disappeared 1986. Der Bericht wur-de Präsident Alfonsin am 20. September 1984 überreicht; zur Arbeit der National Commission on Disappeared Persons (CONADEP) siehe Nino 1996, S. 72 f., 7882; und Malamud-Goti 1996, S. 59, 47, 217. Siehe auch O'Donnell 1978, und für eine kritische Diskussion siehe Malamud-Goti 1996, S. 41; Osicl 1986; Peralta-Ramos und Waisman 1987; Rogers 1989; Stotzky 1993; Nino 1996, Teil ii, und Malamud-Goti 1996. Siehe auch die Dokumente und Materialien "Argentina" in Kritz 1995, Bd. ii, S. 321-83. 116 Siehe z.B. Heller 1993; Ternon 1996, Abschnitt „Völkermorde in der Sowjetunion?"; Green 1996; Baur 1997. Siehe auch die Dokumente und Materialien zu "Russia" in Kritz 1995, Bd. ii, S. 735-61. 117 l'ür die Vereinbarkeit dieser Position mit dem moralischen Kosmopolitismus siehe Kap. IV, N. 32-39; unter den Nicht-Kosmopoliten hat insbesondere Miller die Behauptung besonderer Gerechtigkeitspflichten von staatlich gefassten politischen (nationalen) Gesellschaften unterstützt. Siehe die Verweise in Kap. IV, N. 36 und Miller 1999, Kap. 2 und 12. Siehe auch Tamir 1993, Kap. 6. Siehe auch unten N. 122-24. 118 Siehe insbesondere Waldron 2004. 119 Dies betont Rawls 1977, S. 137. 120 Üblicherweise wird angenommen, dass Kurzbesucher und Touristen verstehen, dass die Erlaubnis, das Gastland zu besuchen, an die Bedingung geknüpft ist, sich den Regeln des Gastlands entsprechend zu verhalten. 121 Siehe Waldron 1993, S. 30. 122 Siehe Rawls 1999; Miller 2000; Kersting 2001. Zur Kritik siehe insbesondere Pogge 2001; ders. 1994. 123 Umstritten ist welche Gerechtigkeitspflichten sich ergeben und inwiefern die Personen zu berücksichtigen sind, die nicht an der Kooperation teilhaben. Zu ersterem siehe z.B. Barry 1989, Teil I; zu letzterem ebd., Teile II und III, und Schefflcr 2001a; ders. 2001b, S. 56-60; ders. 2001c, S. 73-75. 124 Siehe z.B. Finnis 1980, Kap. 9, insbesondere S. 232, 248 f. 125 Siehe Waldron 1993, S. 9-11. 126 Siehe Kap. IV, N. 2 und 71-73 und jeweiliger Text. 127 Michnik und Havel 1993 haben sich gegen strafgerichtlichc Verfahren in der Tschechoslowakei ausgesprochen und argumentiert, dass die Diffusion von Verantwortung in der Gesellschaft erhebliche moralische und rechtliche Dilemma für Säuberungsmaßnahmen und Menschenrechtsprozessc schaffe. Zu Havels Eintreten für eine Politik der Vergebung und Toleranz siehe Nino 1996, S. 124, 184. Für eine Diskussion der Implikationen der Diffusion von moralischer Verantwortung für sowohl die moralische Verantwortung wie auch die öffentliche Akzeptanz von strafrechtlichen Verfahren in der

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Anmerkungen

Öffentlichkeit siehe Malamud-Goti 1996, S. 7-8, 19-20, 60 und insbesondere 172-78; Weschler 1990, S. 211-12, 213; Elster 1992, S. 15-17. Siehe auch Herz 1982, S. 10-12; ders., 1982a, S. 280 f. 128 Siehe oben N. 104 und N. 122-24 und jeweiliger Text. 129 Hierzu siehe schon Jaspers 1965, S. 108-110, Begriff der „metaphysischen Schuld". Allerdings scheint Jaspers der Auffassung zu sein, dass die Zuschreibung metaphysischer Schuld die Möglichkeit der kausalen Einflussnahme des Trägers voraussetzt, wenn auch die Unterlassung dem Träger moralisch nicht vorzuwerfen ist. Siehe auch die Interpretation von May 1992, Kap. 8, insb. S. 158 f. Anders als Schuld setzt Scham hingegen, wie ich im Text erläutere, die Möglichkeit der kausalen Einflussnahme auf ein Geschehen nicht voraus und kann sich daher auch auf das Handeln anderer beziehen, das die Person, die sich deswegen schämt, nicht hat beeinflussen können. 130 Siehe Kap. III, N. 58 und Text. 131 Siehe Taylor 1985, S. 91; Walsh 1970; Feinberg 1968, S. 677-79; Wolf 1993, S. 155-77. 132 Vgl. Williams 1993, S. 94-95, 102. Williams diskutiert nicht den hier entscheidenden Fall der Scham für das Verhalten anderer, wenn wir selbst keinen kausalen Einfluss auf deren Verhalten nehmen konnten. 133 Siehe ebd., S. 90. 134 Anders Fletcher 2004, der die Auffassung vertritt, die Zuschreibung einer Pflicht zu Kompensation setze eine objektivistisch verstandene Kollektivschuld der Träger dieser Pflichten voraus, weil Schamgefühle irrational seien und deshalb auch nicht handlungsbegründend sein könnten. Hierzu siehe meine Anmerkungen in 2004b, S. 26 f. 135 Menschen können in diesem Sinne auch unter Gerechtigkeitspflichten in mehreren Gesellschaften stehen, wenn sie nämlich in mehr als einer Gesellschaft im relevanten Sinn Mitglieder sind, was beispielsweise für Gastarbeiter der Fall sein kann, wenn sie enge Verbindung mit ihrem Herkunftsland halten. 136 Siehe z.B. die Einschätzung der High Court Richter William Deane und Mary Gaudron in ihrer Begründung des Mabo Urteils (3. Juni 1992) - dem Urteil, mit welchem den Aborigines ein Common Law Besitztitel auf Land zuerkannt und die Terra Nullius Doktrin, mit welcher bis dahin die nichtvertragliche Aneignung des Lands als "practically unoccupied" durch die weißen Siedler legitimiert wurde, zurückgewiesen wird: "The acts and events by which that dispossession in legal theory was carried into practical effect constitute the darkest aspect of the history of this nation. The nation as a whole must remain diminished unless and until there is an acknowledgment of, and retreat from, those past injustices." The Mabo Decision 1993, S. 83. Siehe auch Ivison 2000; Ivison, Patton und Sanders 2000, S. 14 f.; und Patton 2004. 137 Siehe Kap. IV. 1 und 2, insb. N. 11-15.

Anmerkungen

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138 Siehe Kap. IV, N. 16-19 und Text. 139 Siehe die Verweise im Kap. IV N. 6-7, 10. Territoriale, häufig aber subsouveräne Ansprüche sind für indigene Gruppen typisch. Siehe Wicssncr 1999, S. 93, 98, 116-20; Kingsbury 1998, S. 437-39. 140 Siehe oben N. 34-35 und 44 und jeweiliger Text. 141 Siehe Berman 1988, S. 84-103, und Kmght 1985. 142 Einen solchen Anspruch auf Restitution plausibel erheben zu können, halte ich weder für eine notwendige noch gar für eine hinreichende Bedingung für einen legitimen Anspruch auf Sezession. Siehe insb. unten N. 143 und Text. 143 Siehe Buchanan 1991, S. 38-45, 64-67. 144 Siehe Kap. IV, N. 66. 145 Siehe Beach 1994, S. 169-79; Roland 1993, S. 73, 76, 79; Hannum 1990, S. 248-51; Osherenko und Young 1989, S. 86-89. 146 Siehe Brantenberg 1991, S. 76. 147 Für den Begriff der Autonomie als einer Form der Selbstbestimmung unterhalb des Niveaus politischer Unabhängigkeit und der Anwendung dieses Begriffs auf die Ansprüche indigener Völker siehe Hannum und Lillich 1981; Hannum 1989, 3-24; Hannum 1990, insbesondere Kap. 5. Für die Interpretation der Ansprüche der Saami und anderer indigener Völker im Lichte dieses Begriffs der Autonomie siehe die Sonderausgabe des Nordic Journal of International Law 1986; und Oskal 2001, Abschnitte 3 und 4. Es gibt indigene Völker, deren Chance, ein bedeutsames Maß an Selbstregierung zu erreichen für die absehbare Zukunft sehr gering scheint — unter ihnen die Kurden und die Krim-Tartaren. Selbstbestimmung durch Sezession zu erreichen ist gewöhnlich keine Option. Für die Einschätzung, dass politische Autonomie auf dem Territorium ihres Fleimadandes, nicht jedoch Selbstbestimmung durch Sezession als ein legitimes Ziel der Tartaren erachtet werden sollte siehe Chase 1995, S. 219-54. Die Krim-Tartaren gehören zu den deportierten Völkern der früheren UdSSR. Sie wünschen, in ihr Heimadand zurückzukehren, das in der Zwischenzeit von russischen Siedlern besetzt wurde. 148 Siehe Brosted et al. 1985, S. 7; Brantenberg und Minde 1995, S. 5; Thuen 1995; Wiessner 1999, S. 93, 98, 116-20; Kingsbury 1998, S. 437-39. 149 Svensson 1992, S. 369-81; Wiessner 1999, S. 98-109. 150 Siehe Beach 1988, S. 188. 151 Siehe Korsmo 1996, S. 175. 152 Für den Kampf der Saami, als indigenes Volk anerkannt zu werden, siehe Minde 1996, S. 236-42. 153 Die Sprachenrechte der Saami divergieren innerhalb Skandinaviens. Siehe Beach 1988, S. 157-64; Brantenberg 1991, S. 124 f.; Broms 1996. 154 Siehe Hennksen 1999, S. 29-48; Korsmo 1996, S. 164-72 (die Autoren betonen die Unterschiede zwischen den Parlamenten mit Blick auf die nationalen Politiken, denen sie ihre Einrichtung und Finanzierung verdanken, mit Blick auf die Struktur der Parlamente, die Mitgliedschaft, die den Parlamenten zur

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Anmerkungen

Verfügung stehenden Ressourcen und ihren Beziehungen zu anderen politischen Einrichtungen der Saami). 155 Ebd., S. 177. Folgen wir Korsmo, dann hat das norwegische SaamiParlament besonders erfolgreich seiner Hüterrolle entsprochen. Siehe ebd., S. 174,177. 156 Siehe Beach 1988, S. 188-97; Korsmo 1988, S. 517-20. Die Ansprüche indigener Völker auf Land sind auch andernorts umstritten gewesen. In Australien hat die Legislative gerichtlich erstrittene Verbesserungen gekürzt oder zunichte gemacht. Siehe Ivison 1997; Ilocking und Hocking 1999; Behrendt 1999. Der US Supreme Court und ein Federal District Court (N.D., New York) haben jeweils entschieden, dass das Land der Oneida und Cayuga Stämme von Staatenregierungen rechtswidrig weggenommen wurde. Umstritten blieb jedoch, wie die Stämme für die rechtswidrigen Enteignungen jemals entschädigt werden könnten. Der District Court hat entschieden, dass die Ausweisung der nicht-Indianischen Besitzer als Kompensationsmaßnahme nicht in Frage kommt. Für eine rechtliche Analyse und Diskussion dieser Fälle siehe Singer 2001, Kap. 15; siehe auch Singer 1994, S. 481-532; und Singer 2000, Kap. 5. Siehe auch Shaila K. Dewan, "After 5 Days, Oneida Deal Is Unraveling", The New York Times, 22. Februar 2002, Abschnitt Β, 1; James C. McKinley Jr., "Judge Rejects Many Defenses by New York State in Oneida Lawsuit", The New York Times, 3. April 2002, Abschnitt Β, 5; David W. Chen, "Federal Judge Denies Claim Of Senecas To Islands", The New York Times, 22. Juni 2002, Abschnitt Β, 5. Für eine philosophische Diskussion der Frage, ob und wie für lange zurückliegende rechtswidrige Entschädigungen Kompensation geleistet werden sollte und kann siehe Lyons 1977; Waldron 1992; Follesdal 2000. 157 Siehe Orten und Beach 1998, S. 102-04. 158 Siehe Henriksen 1999, passim, und insbesondere S. 27-29 (Saami-Rat), S. 6872 (zum Ziel der Saami, ein gewähltes Repräsentationsorgan einzurichten, das alle Saami vertritt), 64-100 (zu der Option eines Parlaments oder Rats für alle Saami, deren Vertreter von den Saami Landesparlamenten gewählt werden). 159 Siehe Kymlicka 2001, S. 23-31. 160 Siehe Kap. IV, N. 67 und Text. 161 Siehe Kap. IV, N. 23 und 66 und jeweiliger Text. 162 Mehr als 100.000 Roma wurden de jure staatenlos als eine Konsequenz des Tschechischen Bürgerrechtsgesetzes aus dem Jahr 1993, das indirekt darauf zielte, die Roma von den Bürgerrechten auszuschließen. Siehe Warnke 1999, S. 358 und 365 f. Dieses Bürgerrechtsgesetz wurde vom Hohen Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen und vom Europäischen Rat im April 1996 aufs schärfste kritisiert, als beide Einrichtungen zu dem Schluss kamen, dass früheren Bürger der Tschechoslowakei, die langfristig Bewohner der Tschechischen Republik gewesen sind, das Bürgerrecht zu verweigern, gegen internationales Recht verstoße. Ein grelles Licht auf die fortdauernde

Anmerkungen

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Diskriminierung der Roma in der Tschechischen Republik wirft der Disput über die britischen Immigrationskontrollen auf dem Prager Flughafen, die offenbar gegen die in großer Zahl cmigrationswilligen tschechischen Roma gerichtet sind. Siehe Siehe Peter S. Green, "British Immigration Aides Accused of Bias by Gypsys", The New York Times, 5. August 2001, Abschnitt 1, 6. Unterdessen haben das European Roma Rights Centre u.a. ihren Rechtsstreit in dieser Sache gewonnen. Siehe House of Lords, judgment (09. Dezember 2004), Regina v. Immigration Officer at Prague Airport and another (Respondents) ex parte European Roma Rights Centre and others (Appellants) http://www.parliament.thestationery-office.co.uk/pa/ld200405 /ldjudgmt/jd041209/romal .htm (14. April 2004). 163 Siehe Kymlicka 2001, S. 21-26. 164 Die Erklärung Deutschlands mit Blick auf die Framework Convention lautet in Auszügen: "The Framework Convention will also be applied to members of the ethnic groups traditionally resident in Germany, the Frisians of German citizenship and the Sinti and Roma of German citizenship." Siehe auch die Erklärungen Sloweniens, Schwedens und der frühren Jugoslawischen Republik Mazedonien. Siehe Framework Convention for the Protection of National Minorities CETS No.: 157 1998, http://conventions.coe.int/Treaty/Comun/ QueVoulez Vous. asp?NT=157&CM=l&CL=ENG (14. April 2005). 165 Für diese Formen der Roma Repräsentation und Partizipation in Beschlussfassungseinrichtungen siehe Mirga und Gheorghe 1997, S. 12-14; Warnke 1999, S. 363 f.; Bertram 1997, S. 12-16. 166 Die Situation der Roma zu verbessern ist ein Test für die Anwärterstaaten zur Europäischen Gemeinschaft, nämlich mit Bück auf die Frage, ob sie die Kriterien der European Commission für den Beitritt erfüllt haben. In diesem Kontext werden die staatlichen Politiken mit Blick auf die Roma genau überprüft. Der Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten innerhalb der OSZE hat eine wichtige Rolle dabei. Für eine Kritik des Mandats des Hohen Kommissars und der von seinem Amt angewandten Standards siehe Kymlicka 2001, S. 374-87. 167 Siehe Mirga und Gheorghe 1997, S. 14-20. Diese Autoren wie auch Bertram 1996 treten für eine qualifizierte Version des ersten Vorschlags ein. Warnke 1999, S. 365 f., betont, wie wichtig es für die Roma ist, als transnationale Minderheit Anerkennung zu gewinnen. 168 Für die Auswirkungen dieses Gesetzes — bekannt als das „Gesetz zum Erwerb und zum Verlust der Bürgerrechte" (Law on Acquisition and Loss of Citizenship) - und für eine Analyse der de facto Staatenlosigkeit der Roma in Zentral- und Osteuropa siehe Warnke 1999, S. 351-62; für die Auswirkungen des Zusammenbruchs des früheren Jugoslawiens siehe Human Rights Watch 1999; und siehe Reemtsma 1995. 169 Siehe Mirga und Gheorghe 1997, S. 9 f., 14 f.; für die Tradition des Roma Nationalismus und die Rolle des IRU siehe Hancock 1991.

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Anmerkungen

170 Mirga und Ghcorghe 1997, S. 20. Für das Argument des Zentralrats der Deutschen Roma und Sinti siehe ebd., S. 16 f. 171 Siehe Kap. IV, N. 19. 172 Nach langen Verhandlungen sind die Tschechische Republik, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und die Slowakei am 1. Mai 2004 Mitglieder der EU geworden. Kroatien wurde auf dem Europäischen Rat vom 17./18. Juni 2004 der Status eines Beitrittskandidaten eingeräumt, die Verhandlungen sollen Anfang 2005 beginnen. 173 Den Roma dürfte auch entgegenkommen, wenn sich die Kooperation unter den Regierungen der Länder, in denen sie leben, verstärkt und sich die Bedeutung nationaler Grenzen verringert - beides sind wahrscheinliche Auswirkungen der Integration dieser Länder in die Europäische Gemeinschaft.

VI. Gesetzliches Unrecht In diesem und dem folgenden Kapitel diskutiere ich zentrale Fragen der Transition to Democracy.'1 Es geht um historisches Unrecht im folgenden Sinn: Handlungen, die unter einem vor-rechtsstaatlichen Regime als rechtmäßig galten und womöglich positiv sozial sanktioniert wurden, aber im Sinne der Prinzipien einer rechts staatlichen Verfassung liberaler Provenienz 2 als Unrechtshandlungen einzuschätzen sind und während beziehungsweise nach einer Transition zu einer rechts staatlichen Ordnung negativ sanktioniert werden können oder sollen. Während bei weit zurückliegendem Unrecht, etwa dem in Kapitel II diskutierten Unrecht der Sklaverei in den USA, die Täter und direkten Opfer verstorben sind, geht es bei der Transition to Democracy auch um den Umgang mit noch lebenden Tätern angesichts der Ansprüche noch lebender Opfer oder von deren unmittelbaren Nachkommen. Wie sollen welche Ansprüche von Opfern eines vor-rechtsstaatlichen Regimes beim Übergang zu einer rechtsstaatlichen Ordnung erfüllt werden? D e n Opfern geht es insbesondere um die öffentliche Feststellung und Anerkennung der Wahrheit über das erlittene Unrecht und die Durchsetzung ihrer Gerechtigkeitsansprüche, die auf strafrechtliche Verfolgung der Täter und Kompensation für erlittenen Schaden zielen. Die rechtliche, insbesondere die strafrechtliche Sanktionierung von Übeltaten, die zur Tatzeit als legal galten, ist problematisch. Rechtlich gesprochen scheint eine nachträgliche strafrechtliche Verfolgung unvereinbar mit dem Rückwirkungsverbot. So heißt es z.B. im Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz: Eine Tat kann „nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Wie meine Diskussion in diesem Kapitel zeigt, unterscheiden sich rechtsphilosophische Interpretationen der Voraussetzungen der Strafbarkeit von solchen Übeltaten erheblich: Die rechtspositivistischen Begründungen sind nicht vergangenheitsorientiert. Sie sind

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allein zukunftsorientiert, insofern sie unabhängig sind von historischmoralischen Urteilen über die Handlungen unter dem Vorgängerregime. Die nicht-rechtspositivistischen Begründungen sind vergangenheitsorientiert. Sie beruhen auf dem moralischen Urteil, dass die Handlungen extrem ungerecht gewesen sind. Diese Differenz der alternativen rechtstheoretischen Begründungen nachträglicher strafrechtlicher Sanktionen auszubuchstabieren, ist auch für das Verständnis der in diesem Buch unterschiedenen Typen moralischer Pflichten aufgrund historischen Unrechts wichtig. Die begründungstheoretischen Voraussetzungen der in den vorangegangenen Kapiteln unterschiedenen allein zukunftsorientierten Pflichten (Kap. II und V) und der vergangenheits- wie zukunftsorientierten Pflichten (Kap. IIIV) sind verschiedene. Die Begründung der Kompensationspflichten aufgrund des durch historisches Unrecht heute verursachten Schadens an Zeitgenossen ist ebenso wie die rechtspositivistische Auffassung nachträglicher strafrechtlicher Sanktionen mit auch extremen Formen des moralischen Relativismus vereinbar. Damit unvereinbar ist die Begründung überlebender Pflichten ebenso wie die nicht-rechtspositivistische Begründung nachträglicher strafrechtlicher Sanktionen. Selbst wenn die rechtlichen (und moralischen) Bedenken gegen eine nachträgliche strafrechtliche Verfolgung ausgeräumt werden können, ist zu untersuchen, ob es unter bestimmten Bedingungen legitim sein kann, auf eine strafrechtliche Verfolgung zu verzichten. Das ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels, indem ich den Wert von Wahrheitskommissionen für die Transition to Democracy diskutiere.

1. Relativismus und historisches Werturteil Weit geteilt ist der Wunsch, in moralischen Urteilen über das Handeln anderer Personen sparsam zu sein, insbesondere wenn wir wissen können, dass die Betroffenen unserem Urteil nicht zustimmten. Entsprechend liegt es nahe zu fordern, Ansprüche aufgrund historischen Unrechts sollten besser nicht von moralischen Urteilen über das Handeln von Personen abhängen, die früher gelebt haben und diese Urteile nicht teilten. Denn, so eine relativistische Begründung dieser Forderung, moralische Urteile können solche Geltung

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nicht beanspruchen. Sie haben Geltung nur für Mitglieder der Gruppe oder Kultur, in welcher diese Urteile tatsächlich Anerkennung finden. Es stimmt: Handlungen, die wir heute als historisches Unrecht beurteilen, und aufgrund deren heute lebende Menschen historische Ansprüche erheben, wurden von vielen, die entsprechend handelten, wenn auch in der Regel nicht von allen ihren Zeitgenossen, als moralisch lobenswert oder akzeptabel erachtet. Häufig wurden diese Handlungen auch, wie zum Beispiel im Falle der Sklaverei in den Vereinigten Staaten, durch ein soziales und rechtliches System positiv sanktioniert und rechtlich geschützt. 3 Was immer wir von dieser Forderung und einer derart relativistischen Auffassung der Geltung moralischer Urteile halten mögen — die im Kapitel II vorgestellte zukunftsorientierte Bewertung der Bedeutung historischen Unrechts kann in ihrer Begründung als ganz unabhängig von historisch-moralischen Urteilen über das Handeln früher lebender Menschen (oder von Menschen unter einem früheren anderen Regime) verstanden werden. Denn sie hebt allein auf die Konsequenzen früherer Ereignisse für das Wohlergehen gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen ab: Das Wohlergehen heute lebender Menschen ist negativ betroffen. Es geht ihnen schlechter, als es ihnen, gemessen an einem identitätsunabhängigen (oder einem identitätsabhängigen) Standard, gehen sollte. Die heutige Bewertung dieser Konsequenzen kann unabhängig sein von dem historisch-moralischen Urteil, die für diese Konsequenzen ursächlichen Handlungen seien ungerecht oder unrechtmäßig gewesen. Zugleich kann die besondere Bedeutung der Konsequenzen für die Betroffenen deren Urteil reflektieren, die Verantwortlichen moralisch verurteilen zu sollen. Schreiben die Opfer den erlittenen Schaden Unrechtshandlungen zu, sind sie der Auffassung, in ihren Rechten verletzt (gedemütigt und erniedrigt) worden zu sein. Wollen andere derart Betroffenen helfen, ihnen für den Schaden Kompensation leisten, haben sie Grund, das moralische Urteil der Betroffenen über die Verantwortung für den erlittenen Schaden zu berücksichtigen. Besonders im Fall schlimmsten Unrechts dürften Kompensationsleistungen nur dann Erfolg haben, können sie von den Opfern so verstanden werden, dass sie deren historisch-moralisches Urteil wenn auch indirekt stützen. Dem zukunftsorientierten Verständnis zufolge ist demnach das Ob von Kompensation unabhängig von den

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historisch-moralischen Urteilen der Betroffenen zu begründen, nicht aber das Wie. Kompensationsmaßnahmen zielen darauf, das Wohlergehen von Menschen zu verbessern, können dies aber häufig nur dann, wenn die Maßnahmen in den Augen der Betroffenen ihr Urteil über die Verantwortung für das ihnen zugefügte Leid berücksichtigen. So können die Opfer materielle Kompensation häufig nur akzeptieren, wenn mit ihr Leistungen symbolischer Kompensation einhergehen, die auf die öffentliche Anerkennung der Opfer als Opfer von Unrecht zielen. Dem zukunftsorientierten Verständnis zufolge müssen wir also für die Begründung der Kompensationsansprüche nicht fragen, wie das Handeln früher lebender Menschen oder das frühere Handeln unserer Mitmenschen moralisch zu beurteilen ist. Wir müssen lediglich voraussetzen, dass unsere Reaktionen auf den Schaden auf gültigen moralischen Urteilen beruhen. Dies könnten wir auch dann, verträten wir die Position des normativen Relativismus: Der normative Relativismus4 erklärt die Nichtuniversalisierbarkeit und Nichtwiderspruchsfreiheit des moralisch Ge- oder Verbotenen unter identischen Bedingungen mit Bezug auf unterschiedliche Individuen (Gruppen oder Kulturen) zum normativen Prinzip. Ein solches Prinzip erlaubte das, was für uns moralisch verboten ist, für Menschen, die unter dem Vorgängerregime gelebt haben, für moralisch geboten zu halten, selbst wenn wir der Auffassung sind, dass die Lebensbedingungen letzterer Personen in allen relevanten Hinsichten, die üblicherweise für die Geltung moralischer Urteile als relevant gelten, unseren entsprachen. Demnach können wir diese Menschen nicht moralisch kritisieren, haben sie entsprechend ihrer moralischen Urteile gehandelt. Andererseits können wir, folgen wir dem normativen Relativismus, die Konsequenzen ihres Handelns zu Recht als illegitime Schädigung unserer Mitmenschen beurteilen und deren Kompensation forderungen für berechtigt halten. Anders aber im Falle der in Kapitel III ausgewiesenen symbolischen Kompensationspflichten. Deren Begründung beruht unter anderem auf dem Urteil, dass heute tote Menschen in ihren Rechten (auf schlimmste Weise) verletzt wurden. In diesem Sinn ist die Begründung überlebender Pflichten vergangenheitsorientiert (siehe Kap. V und VI). Auch die Rechtfertigung insbesondere straf-

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rechtlicher Sanktionen von Systemunrecht kann auf historisch-moralischen Urteilen beruhen, wie ich unten zeige. Ich unterscheide also zwischen zwei Positionen: Dem hier vorgestellten Relativismus-Einwand liegt die Position zugrunde, dass es nicht sinnvoll ist, das Handeln früherer Menschen oder von Menschen, die früher unter anderen Bedingungen gelebt haben, heute gemäß unserer Standards moralisch zu beurteilen, auch wenn die Betroffenen dies ablehnen oder ablehnten. Gemäß der zweiten Position ist es nicht nur sinnvoll, genau dies zu tun, sondern wir stehen nicht zuletzt aufgrund solcher Urteile unter Pflichten mit Blick auf die Opfer (wie im Falle der symbolischen Kompensationspflichten) oder sollen die Täter mit Sanktionen belegen. Nur wer die zweite Position vertritt, kann auch solche Reaktionen auf früheres Unrecht für legitim halten, die sich für ihre Rechtfertigung auf die moralische Verurteilung früheren Handelns stützen müssen.

2. Historisches Werturteil und (straf-)rechtliche Maßnahmen der Transition to Democrag Im Weiteren zeige ich lediglich, dass die nachträgliche straf- und zivilrechtliche Beurteilung und Sanktionierung der unter einem Vorgängerregime begangenen Handlungen von der nicht-relativistischen Geltung fundamentaler moralischer Urteile abhängen kann. Die Frage der Geltung solcher Urteile kann in diesem Zusammenhang praktische Relevanz haben — nämlich, wie ich im Abschnitt 5 zeigen werde, abhängig davon, ob und wie weitreichend der Gesetzgeber tätig wird. Wir können grob zwei Rechtsauffassungen unterscheiden, die positivistische und die nicht-positivistische. Gemäß letzterer, wie sie exemplarisch von Gustav Radbruch in Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg vertreten wird, können für die Geltung von Recht normative Minimalstandards ausgewiesen werden. Demnach ist nicht nur die nachträgliche moralische Verurteilung von Handlungen möglich, die nach Uberzeugung der Täter moralisch akzeptabel, wenn nicht geboten gewesen sind, sondern im Extremfall kann eine solche Beurteilung auch die Nichtigkeit einer rechtlichen Bestimmung nach sich ziehen, die positiv-rechtlich Geltung hatte und nach welcher des-

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halb die in Frage stehenden Handlungen zur Tatzeit legal waren. So verstanden ist die nicht-positivistische Auffassung sowohl mit dem normativen Relativismus als auch mit extremen Formen des metaethischen Relativismus unvereinbar, wie ich unten zeige. Vielmehr setzt die nicht-positivistische Rechtsauffassung voraus, dass wenigstens einige fundamentale moralische Urteile für unterschiedliche Gruppen oder Kulturen zu verschiedenen Zeiten gültig sind. Eine solche Auffassung beruht auf einem jedenfalls für die Begründung einiger fundamentaler moralischer Urteile eingeschränkten Skeptizismus oder, wie ich ihn nennen werde, moderaten Skeptizismus. Die nicht-positivistische Rechtsauffassung ist mit der zweiten oben unterschiedenen Position vereinbar. Sie kann rechtliche Sanktionen früheren Handelns für legitim halten, auch wenn deren Rechtfertigung die moralische Verurteilung früheren Handelns erfordert, welche die Täter für rechtens gehalten haben und die zur Tatzeit unter dem Vorgängerregime positivrechtlich gesprochen legal waren. Die positivistische Rechtsauffassung ist eine andere. Der Positivist kann zwar der Auffassung sein, dass wir rechtliche Bestimmungen moralisch beurteilen können; die positivistische Position ist mit einem objektiven Verständnis der Geltung moralischer Urteile vereinbar. Gekennzeichnet ist die rechtspositivistische Position aber durch die Trennung von Recht und Moral: Von der moralischen Qualität rechtlicher Bestimmungen hängt deren Geltung nicht ab — es sei denn, die moralischen Standards sind selbst Elemente eines Rechtssystems (schwacher Rechtspositivismus, verträglich mit dem sogenannten Inclusive Legal Positivism).5 Welche moralischen Standards positivrechtliche Geltung in einem Rechtssystem genießen, ist nach rechtspositivistischer Auffassung kontingent. Extrem ungerechte Gesetze können Rechtsgeltung genießen. Die positivistische Rechtsauffassung ist mit der oben unterschiedenen ersten Position vereinbar: Sie versteht die Rechtsgeltung als unabhängig auch von historisch-moralischen Urteilen, die sich ihrerseits nicht positiv-rechtlich geltenden Rechtsstandards verdanken. Gemäß einer nichtpositivistischen Rechtstheorie ist also eine notwendige Bedingung der Geltung rechtlicher Bestimmungen, dass sie nicht, um Radbrachs Standard zu nennen, extrem ungerecht sind (universelle Geltung des Minimalstandards für die Geltung des Rechts). Gemäß einer positivistischen Rechtstheorie kann die Gel-

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tung des Rechts davon abhängen, nicht extrem ungerecht zu sein; sie ist es dann, wenn dies als Bedingung der Rechtsgeltung in einem bestimmten Rechtssystem positivrechtliche Anerkennung genießt (relativistische Geltung des Minimalstandards). Praktisch relevant ist diese Differenz bei der nachträglichen Feststellung, welche rechtlichen Bestimmungen in einem bestimmten Rechtssystem Geltung hatten, w e n n dieses Rechtssystem die Geltung seiner rechtlichen Bestimmungen nicht daran gemessen hat, ob sie im Sinne des Radbruchschen Minimalstandards extrem ungerecht sind. Diese Frage stellt sich, w e n n ein vor-rechtsstaatliches Regime abgelöst und eine demokratische und rechtsstaatliche O r d n u n g eingerichtet wird (im Falle der sogenannten Transition to Democracy). Sind einzelne positivrechtlich geltende Bestimmungen des früheren Rechtssystems extrem ungerecht, wird der Rechtspositivist die Auffassung vertreten: Die extrem ungerechte Bestimmung war gültig, und die diesen Rechtsbestimmungen entsprechenden Handlungen waren legal; nur durch die Verabschiedung rückwirkender Gesetze können diese Handlungen heute als illegal bewertet, die Rechtsgeschäfte für nichtig, Handlungen für Unrecht erkannt und die Täter womöglich strafrechtlich sanktioniert werden. Ein Nicht-Positivist kann hingegen feststellen: Das extrem ungerechte Recht war von Anfang an ungültig, die diesen Bestimmungen entsprechenden Handlungen Unrecht, die auf ihnen beruhenden Rechtsgeschäfte nichtig, und die Täter können sich nicht auf das Rückwirkungsverbot berufen, da sie nach geltendem Recht nicht legal gehandelt haben. Anhand der Gerichtsurteile zu den sogenannten Mauerschützen werde ich die Unterschiede zwischen der Radbruchschen nicht-positivistischen und rechtspοsitivistischen D e u t u n g der Geltung des Rechts in den Abschnitten 5-7 erläutern. Die Auseinandersetzung mit der Position Gustav Radbruchs stelle ich ins Z e n t r u m dieser Überlegungen. Nicht nur steht die von ihm nach dem Krieg vertretene Position exemplarisch für die schon skizzierte nicht-positivistische Rechtsauffassung und war als solche maßgeblich für (höchst-)richterliche Entscheidungen in der früheren B R D und in Deutschland nach 1989. Darüber hinaus ist das Werk Radbruchs von einer durch ihn nicht mehr aufgelösten Spannung gekennzeichnet. Radbruch hat in seinen Hauptschriften aus Weimarer Zeit einen metaethischen Relativismus systematisch aus-

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gewiesen. Demnach können zwei einander widersprechende Urteile gleichermaßen (un-)gültig sein. Entsprechend kann eine normativinhaltliche Auffassung des Rechts nicht als unbedingt gültig erwiesen werden. Radbruchs Relativismus kann als extremer metaethischer, aber auch als normativer Relativismus gedeutet werden, schließt jedenfalls die nachträgliche moralische Verurteilung von nach Auffassung der Täter moralisch akzeptablen (und im positivrechtlichen Sinn legalen) Handlungen aus. Der metaethische Relativismus, den Radbruch für ein konstitutives Bauglied seiner rechtsphilosophischen Hauptschriften hält, steht in Spannung, wenn nicht im Widerspruch zu substantiellen moralischen Urteilen, wie sie sich schon in seinen Weimarer Werken finden. Die nicht-positivistische Rechtsauffassung Radbruchs, wie er sie nach dem Zweiten Weltkrieg vertreten hat, ist mit einem metaethischen Relativismus unvereinbar. Seiner Nachkriegsposition zufolge ist die Rechtsgeltung von wenigstens einigen fundamentalen moralischen Urteilen abhängig, die ihrerseits moralische Geltung für unterschiedliche Gruppen oder Kulturen zu verschiedenen Zeiten beanspruchen. Radbruch hat aber paradoxerweise auch in seinen nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Schriften auf dem metaethischen Relativismus als konstitutivem Element seiner Rechtslehre beharrt. Die Unvereinbarkeit seiner Nachkriegsposition mit dem metaethischen Relativismus aufzuzeigen dient der Charakterisierung einer plausiblen nicht-positivistischen Rechtsauffassung und ist zugleich Werkkritik.

3. 1Von der richterlichen Pflicht %ur Anwendung ungerechter Gesetze %u den Formeln vom gesetzlichen Unrecht und Nicht-Recht Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie kennzeichnet die Bemühung, die Frage des Verhältnisses der Geltung positiven Rechts und überpositiver Forderungen der Gerechtigkeit zu klären. Für Radbruch lautet die Frage, mit welcher der Jurist an die Rechtsphilosophie herantritt und nach deren mehr oder weniger tiefer Erfassung er jedes rechtsphilosophische System bewertet ... so: Weshalb bin ich durch Beruf und Eid verpflichtet, positives Recht anzuwenden, ohne Rücksicht darauf, ob es gerecht oder ob es ungerecht sein mag? 6

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Bekanntlich hat Radbruch in seinen rechtsphilosophischen Schriften bis 1933 eine unbedingte ethische Pflicht der Richter behauptet, auch ungerechte Gesetze anzuwenden und ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen: Es gibt jedoch einen Berufsstand, der bei seinem beruflichen Handeln in der Tat den Geltungswillen des Gesetzes unbedingt zu respektieren hat: der Richterstand, 7

schreibt Radbrach in den Grundzügen der Rechtsphilosophie, die er 1914 veröffentlicht. In seiner Rechtsphilosophie aus dem Jahre 1932 heißt es entsprechend: Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was Rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei.8

Andererseits verneint Radbruch eine ethische Pflicht der Bürger, ungerechten Gesetzen Gehorsam zu leisten. Entsprechend heißt es in den Grundzügen der Rechtsphilosophie: Die rechtsphilosophische Geltungslehre spricht ... ungerechtem positivem Recht unter Umständen die Geltung ab 9

und in der Rechtsphilosophie: Die resdose Geltung alles positiven Gesetzes ist ... jedem Einzelnen gegenüber nicht zu erweisen. ... Das Einzelgewissen wird und darf meistens einen Verstoß gegen das positive Recht als bedenklicher einschätzen als das Opfer der eigenen Rechtsüberzeugung, aber es kann Schandgesetze' geben, denen das Gewissen den Gehorsam verweigert. 10

Angesichts des Naziregimes und der Naziverbrechen hat Radbruch seine Position geändert. Auch für die Richter kann die Geltung des Rechts davon abhängig sein, ob es gerecht ist. Mit anderen Worten macht Radbruch die Geltung des positiven Rechts davon abhängig, dass es gewissen Anforderungen der Gerechtigkeit genügt. In einer Vorlesungsmitschrift aus dem Jahr 1946, die als Vorschule der Rechtsphilosophie 1948 veröffentlicht wurde, heißt es:

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Wenn sich ... in der Regel der Fälle die Geltung positiven Rechts durch die Rechtssicherheit rechtfertigen lässt, so bleibt in gewissen Ausnahmefällen horrend ungerechter Gesetze die Möglichkeit, solchen Gesetzen ihrer Ungerechtigkeit wegen die Geltung abzusprechen. 11

Dies ist die auf graduelle Abgrenzung von unrichtigem Recht und gesetzlichem Unrecht zielende Überlegung, die in der Formulierung aus „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Unrecht" aus dem Jahr 1946 als Unerträglichkeits- oder Radbruchsche Formel berühmt ist und auch in die Rechtsprechung Eingang fand: Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein solches Maß erreicht, dass das Gesetz als .unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Trennung zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen. 12

Solchem „gesetzlichem Unrecht" spricht Radbruch also wegen seines extremen Maßes an Ungerechtigkeit die Rechtsgeltung ab.13 Darüber hinaus unterscheidet Radbruch im Sinne einer ,,scharfe[n] Grenze" zwischen bloßen „Machtsprüchen" und „Rechtssätzen". Bloßen Machtsprüchen, auch wenn sie der Form rechtlicher Anordnungen oder Gesetze genügen, spricht Radbruch den Rechtscharakter ab. Dies ist für ihn eine Frage des Rechtsbegriffs.14 Man kann von einer zweiten Radbruchschen Formel sprechen: [W]o Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Satzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur .unrichtiges Recht', vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.15

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Und in der Vorschule der Rechtsphilosophie erläutert Radbruch: so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. 16

Solche Machtsprüche nennt Radbruch „Nicht-Recht".17

4. Moderater Skeptizismus — eine revisionistische Interpretation von Radbruchs 'Relativismus Eine Interpretation von Radbruchs Relativismus ist schwierig, weil seine Unterstützung eines Werte-Relativismus schon in seinen Hauptschriften in Spannung zu anderen seiner wertphilosophischen und normativen Behauptungen steht und weil sein Beharren auf einem Werte-Relativismus nach dem Zweiten Weltkrieg mit der dann von ihm vertretenen Position zur Geltung des Rechts schwerlich übereinstimmt. Was versteht Radbruch unter „Relativismus"? Er erläutert seinen Relativismus in der Rechtsphilosophie folgendermaßen: Die hier dargelegte Methode nennt sich Relativismus, weil sie die Richtigkeit jedes Werturteils nur in Beziehung zu einem bestimmten obersten Werturteil, nur im Rahmen einer bestimmten Wert- und Weltanschauung, nicht aber die Richtigkeit dieses Werturteils, dieser Wert- und Weltanschauung selbst festzustellen sich zur Aufgabe gemacht hat. Der Relativismus gehört aber der theoretischen, nicht der praktischen Vernunft an. Er bedeutet Verzicht auf die wissenschaftliche Begründung letzter Stellungnahmen, nicht Verzicht auf die Stellungnahme selbst.18

Radbruch vertritt hier einen metaethischen Relativismus. Demnach gibt es keine objektiv gültige Methode der Rechtfertigung fundamentaler moralischer oder wertender Urteile. Solche Urteile hängen vielmehr von Wertüberzeugungen ab, die einer objektiven Überprüfung nicht zugänglich sind. Die fundamentalen moralischen Urteile gelten nur relativ zu solchen Wertüberzeugungen. Im Ergebnis vertritt Radbruch die Position, dass einander widersprechende Urteile gleichermaßen (un-)gültig sein können, weshalb keine normativ-inhaltliche

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Auffassung des Rechts als unbedingt gültig erwiesen werden kann. In Radbruchs Worten: Der rechtsphilosophische Relativismus geht also von der These aus, dass jede inhaltliche Auffassung des gerechten Rechts nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Lage der Gesellschaft und eines bestimmten Systems der Werte gültig sei.19

Schwer vereinbar mit dieser werttheoretischen Auffassung, 20 die historisch mit dem Rechtspositivismus assoziiert wird, 21 sind normative Annahmen, die Radbruch als begründet voraussetzt oder von denen er glaubt, sie ließen sich aus dem metaethischen Relativismus ableiten. Diese normativen und wertphilosophischen Behauptungen finden sich in Radbruchs Weimarer Hauptwerken an entscheidenden Weichenstellungen seiner Analyse des Rechts und der Geltung von Rechtsnormen: dem Ausweis der Rechtsidee und der Begründung der Gehorsamspflicht der Richter wie der Legitimität der Demokratie bzw. des Rechtsstaats. Schon in seinen Weimarer Hauptschriften gibt Radbruch der Idee der Gerechtigkeit als einem Aspekt der Rechtsidee keine bloß formale, sondern eine substantielle Interpretation. 22 Seine Behauptung, der Richter habe eine unbedingte ethische Pflicht, den Gesetzen Gehorsam zu leisten, verdankt sich wertphilosophischen Überzeugungen, nämlich einer Priorisierung der Rechtssicherheit. 23 Ist schon in seinen Hauptschriften die Spannung zwischen Radbruchs Bekenntnis zum Relativismus und seinen wertphilosophischen Uberzeugungen nicht zu übersehen, so hegt diese Spannung offen zutage, wenn Radbrach 1934 meint, die Werte der Aufklärung, das demokratische Ethos und insbesondere der Wert der Toleranz seien aus dem Relativismus ableitbar24 — eine Behauptung, die einer Uberprüfung nicht standhält.25 Nach dem Zweiten Weltkrieg beharrt Radbruch auf dem Relativismus. Von einer Ableitung der Werte der Aufklärung aus dem Relativismus spricht er nicht mehr, formuliert vielmehr das den so genannten Radbruchschen Formeln zugrunde liegende Argument, demnach Beachtung und Schutz der Menschenrechte durch das Recht als Minimalbedingung der Legitimität von Recht aufzufassen ist.26 Das Recht hat einer substantiellen Idee der Gerechtigkeit zu genügen, soll es Geltung haben. Forderungen sind als Nicht-Recht zu charakteisieren, wenn sie nicht darauf abzielen, diese Idee der Gerechtigkeit

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Skepti^jsmus

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zu realisieren.27 Kann man in Radbruchs wertphilosophischen Annahmen seiner Hauptschriften „Erschleichungen" von substantiellen normativen „Inhalten"28 erkennen oder, sofern er behauptet, Werte aus dem Relativismus ableiten zu können, eine fehlerhafte Argumentation,29 so ist sein Argument zugunsten der Menschenrechte als legitimierendem Grund des Rechts offensichtlich unvereinbar mit dem (extremen) metaethischen Relativismus.30 Angesichts dieser Ergebnisse möchte ich zunächst vorschlagen, Radbruch die Position eines moderaten metaethischen Relativismus zuzuschreiben. Der moderate metaethische Relativismus behauptet, es gebe eine oder mehrere objektiv gültige Methoden der Rechtfertigung moralischer oder wertender Urteile, die den Nachweis der objektiven Gültigkeit einiger fundamentaler moralischer oder wertender Urteile zulassen. Diese Methoden der Rechtfertigung lassen aber den Ausweis der Gültigkeit vieler moralischer oder wertender Urteile nicht zu.31 In diesen Fällen wissen wir nicht, ob das eine oder das gegenteilige Urteil richtig ist. Dies ist, zugegeben, eine revisionistische Interpretationshypothese. Ihre Stärke liegt darin, dass sie erlaubt, Radbruchs wertphilosophische Behauptungen und die substantiellen moralischen Urteile, wie sie sich in den Weimarer Schriften wie auch in den Nachkriegsschriften finden, mit dem metaethischen Relativismus zu verbinden, nämlich einem moderaten metaethischen Relativismus. Wie aber ist der moderate metaethische Relativismus genauer zu verstehen und lässt sich diese Position von einer skeptischen unterscheiden? So, wie eben charakterisiert, ist der metaethische Relativismus von einer skeptischen Position nicht zu unterscheiden.32 Wie beschrieben entspricht die Position des extremen Moralskeptikers der Position des extremen metaethischen Relativismus: Der Moralskeptiker bestreitet, dass es eine objektiv gültige Methode der Rechtfertigung fundamentaler moralischer oder wertender Urteile gibt. Die Gültigkeit einander widersprechender moralischer Urteile hält er für gleichermaßen epistemisch unbestimmt. Auch den moderaten metaethischen Relativismus versteht der Skeptiker als eine epistemische Position, nach der die Gültigkeit vieler moralischer Urteile unbestimmt ist. Viele einander widersprechende moralische Urteile sind gleichermaßen ungültig, weil sie durch eine objektiv gültige Methode nicht rechtfertigbar sind.

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Moderater

Skepti^ismus

Richtig verstanden möchte der Relativist allerdings mehr behaupten. Im Unterschied zum Skeptiker behauptet der Relativist, einander widersprechende moralische Urteile könnten gleichermaßen gültig sein. Dem moderaten metaethischen Relativismus zufolge können einander widersprechende moralische Urteile gleichermaßen gültig sein, es sei denn, eines dieser Urteile lässt sich durch eine objektiv gültige Methode als allein richtig ausweisen. Anders als der Skeptiker kann der Relativist die Behauptung einer Person (eines Mitglieds einer Gruppe oder Kultur), etwas sei geboten, wenn das gegenteilige Urteil ebenso gut oder schlecht rechtfertigbar ist, für ein gültiges moralisches Urteil halten. Für den Skeptiker sind diese Urteile epistemisch unbestimmt und gleichermaßen ungültig. Nach seiner Auffassung haben wir keinen Grund zu glauben, dass das eine oder das gegenteilige Urteil gültig ist. Hingegen haben wir nach Auffassung des Relativisten Grund, beide für gültig zu halten, obgleich sie einander widersprechen. Den Unterschied zwischen der skeptischen und der relativistischen Position möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir an, Α und Β streiten darüber, ob ein Arzt seinem Patienten in einer bestimmten Situation über dessen Gesundheitszustand die Wahrheit sagen soll oder nicht. Nehmen wir an, Α ist Deontologe und Β Konsequentialist. Α behauptet, der Arzt sei verpflichtet, die Wahrheit zu sagen (ρ), Β hingegen, der Arzt sei verpflichtet zu lügen (nicht-p). Α und Β verstehen die Gründe, die aus ihrer und der Sicht des je anderen für ρ und nicht-p sprechen. 33 Sie kommen zu dem Ergebnis, dass ρ und nicht-p gleichermaßen schlecht oder gut rechtfertigbar sind, dass diese Urteile epistemisch unbestimmt sind. Warum aber sollte Β glauben, dass nicht-p, wenn Β weiß, dass ρ ebenso gut oder schlecht rechtfertigbar ist? Und warum sollte Α glauben, dass p, wenn Α weiß, dass nicht-p ebenso gut oder schlecht rechtfertigbar ist? Der Skeptiker wird insistieren, dass Β keine Gründe haben kann zu glauben, dass nicht-p, und entsprechend für A. Wenn Α oder Β doch Gründe anführen, so sind diese (i) entweder so aufzufassen, dass Α und Β nicht wirklich der Überzeugung sind, ρ und nicht-p seien ebenso gut oder schlecht rechtfertigbar. Das wäre z.B. der Fall, wenn der Konsequentialist Β folgendermaßen argumentierte: Er, B, könne Α von der Richtigkeit seines Urteils nicht überzeugen, Α mache auch keinen Fehler, wenn er

Moderater

Skepti^ismus

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behaupte, dass seine, die deontologische Methode, die Behauptung, der Arzt solle die Wahrheit sagen, stützt. Er, B, fühle sich aber dem gegenteiligen Urteil verpflichtet, weil dieses mit anderen fundamentaleren Urteilen vereinbar sei, die seine, die konsequentialistische Methode ausweise. Zwar vertrete auch der Deontologe Α wenigstens einige dieser fundamentalen Urteile, z.B. dass alle Menschen gleich zu behandeln sind. Er, B, sei aber der Auffassung, dass Α weniger plausible, nämlich nicht-konsequentialistische Gründe für die Rechtfertigung dieser Urteile anführe, und genau dieser Differenz verdanke sich auch ihr jetziger Disput: Seine konsequentialistischen Gründe rechtfertigten das Urteil, der Arzt solle lügen. Diesem Urteil sei er, B, deshalb verpflichtet. Sonst wäre er inkonsequent und seine moralischen Urteile seien weniger als kohärent. Diese Argumentation des Konsequentialisten beruht offenbar auf der Prämisse, seine, die konsequentialistischen Gründe der Rechtfertigung seien denen des Deontologen vorzuziehen, auch wenn er letzteren davon nicht überzeugen könne. Dann vertritt der Konsequentialist aber eben nicht die Auffassung, dass ein Urteil, das er mit der Methode des Konsequentialismus rechtfertigen könne, als ebenso gut oder schlecht gerechtfertigt gelten könne wie das gegenteilige Urteil, das sich mit der deontologischen Methode ausweisen lässt. Β vertritt also in Wahrheit nicht die Position, das Urteil nicht-p, der Arzt solle lügen, sei epistemisch unbestimmt. Vielmehr vertritt er die Auffassung, nicht-p ist besser rechtfertigbar als p. Α oder Β können auch andere Gründe anführen. (ii) Es handelt sich dabei nicht um Gründe zu glauben, dass ρ oder dass nicht-p, sondern vielmehr um Gründe, so zu handeln, als ob ρ bzw. als ob nicht-p.34 Α kann der Auffassung sein, das Urteil, dass p, sei unbestimmt. Nicht-p sei ebenso gut oder schlecht durch Gründe gerechtfertigt. Die Situation erfordert aber, entweder gemäß dem Urteil, dass ρ oder dem Urteil, dass nicht-p, zu handeln. Wie wir in dieser Situation epistemischer Unbestimmtheit oder genauer unter der Bedingung unvollkommener moralischer Information handeln sollen, lässt sich mit der deontologischen Methode nicht beantworten. Α vertritt aber eine Methode der Entscheidung unter solchen Bedingungen, die das Ergebnis hat, er solle gemäß dem Urteil ρ handeln, also so handeln als ob p. Wenn A dies als Begründung für seine Behauptung anführt, er sei ρ verpflichtet, meint er also in

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Moderater

Skepti^ismus

Wahrheit, er habe Gründe so zu handeln, als ob p. Die epistemische Unbestimmtheit, ob es richtig ist zu glauben, dass ρ oder nicht-p, bleibt bestehen. Die Gründe für Α zu glauben, es sei richtig, so zu handeln, als ob p, sind unabhängig von der Differenz zwischen deontologischer und konsequentialistischer Methode der Rechtfertigung moralischer Urteile. Sonst würde Α sich auf einen Grund der Art (i) berufen. Das heißt aber auch, dass Α und Β sich einig sein können, wie Personen unter der Bedingung unvollkommener moralischer Information handeln sollen. Wenn Α Recht hat, dass man in dieser Situation so handeln soll, als ob p, dann gilt dies auch für B. Α oder Β können noch andere Gründe anführen zu glauben, dass ρ bzw. nicht-p. (iii) Diese implizieren den normativen Relativismus.35 Der normative Relativismus erklärt die Nichtuniversahsierbarkeit und Nichtwiderspruchsfreiheit des moralisch Ge- oder Verbotenen unter identischen Bedingungen mit Bezug auf unterschiedliche Individuen (z.B. als Mitglieder von Gruppen oder Kulturen) zum normativen Prinzip. Für Α (seine Gruppe oder Kultur) ist ρ gültig, für Β (und dessen Gruppe oder Kultur) nicht-p. Diese Position ist in der Tat von einer skeptischen Position verschieden, aber ist als normative Position rechtfertigungsbedürftig. Α könnte z.B. sagen, er glaube, dass p, weil die meisten seiner Freunde dieses Urteil für gültig halten. Β könnte dieselbe Überlegung als Grund anführen zu glauben, dass nicht-p. Das normative Prinzip wäre: Für Α ist mit Blick auf ein und dieselbe Situation geboten, was für Β verboten ist, wenn die Freunde von A mit Blick auf diese Situation die Auffassung vertreten, es sei geboten, soundso zu handeln, die Freunde von Β aber der gegenteiligen Überzeugung sind. Das Prinzip rechtfertigt also das Urteil, Α solle dem Patienten die Wahrheit sagen ebenso wie das Urteil, Β solle den Patienten belügen. Der normative Relativismus hält diese Urteile nicht für epistemisch unbestimmt. Keiner der genannten Gründe (i-iii) erlaubt es, die Auffassung des (moderaten) metaethischen Relativismus zu begründen, einander widersprechende moralische Urteile können gleichermaßen gültig sein. Die untersuchten Gründe (i) und (iii) stützen weder den metaethischen Relativismus noch den Skeptizismus. Sie eignen sich zur Charakterisierung von sowohl nicht-skeptischen als auch nicht-relativistischen Positionen. Eine Begründung der Art von (ii) ist mit einer

Moderater

Skepti^ismus

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skeptischen Position mit Blick auf die Gründe zu glauben, dass ρ oder nicht-p, vereinbar. Gründe zu glauben, dass ρ (oder nicht-p) sind verschieden von Gründen, so zu handeln, als ob ρ (oder nichtp). Eine relativistische Position lässt sich durch Gründe letzterer Art nicht von einer skeptischen unterscheiden. Demnach ist der moderate metaethische Relativismus besser als moderater Skeptizismus aufzufassen ist. Ist es epistemisch unbestimmt, ob der Arzt die Wahrheit sagen oder lügen soll, so sind diese Urteile als gleichermaßen ungültig aufzufassen. Zurück zu Radbruch. Ich hatte vorgeschlagen, die von Radbruch in seinen Nachkriegsschriften angedeutete Position als moderat metaethischen Relativismus aufzufassen. Weil es keinen Grund für die spezifisch relativistische Behauptung zu geben scheint, einander widersprechende moralische Urteile seien gleichermaßen gültig, vertrete ich die Auffassung, seine Position ist, richtig verstanden, als Position des moderaten Werteskeptikers zu beschreiben. Was Radbruch eine relativistische Position nennt, ist besser als moderat skeptische Position aufzufassen. Radbruch hat diese skeptische Position nicht unter Berufung auf Gründe der Art von (i) aufgegeben. Radbruch hat kaum je ein Argument zugunsten eines substantiellen moralischen Urteils formuliert und hat keine Methode der Rechtfertigung moralischer und wertender Urteile entwickelt.36 Man könnte meinen, Radbruchs Überlegungen für eine privilegierende Sonderstrafe für den Überzeugungstäter reflektierten Gründe des zweiten oben unterschiedenen Typs (ii). Diese Überlegungen gehörten dann zu einer Theorie der Entscheidung unter Bedingungen unvollkommener moralischer Information.37 So verstanden sind sie mit dem Skepti2ismus vereinbar. Hat Radbruch nicht vielmehr (iii) eine normativ relativistische Position vertreten? Man könnte meinen, ja. Denn er schreibt: Der Relativismus „bedeutet Verzicht auf die wissenschaftliche Begründung letzter Stellungnahmen, nicht Verzicht auf die Stellungnahme selbst"38. Vermutlich meint Radbruch aber nicht, dass wir auf einer normativen Stellungnahme trotz epistemischer Unbestimmtheit des Urteils beharren können. Vielmehr dürfte Radbruch „Stellungnahme" als Ergebnis einer ,,wissenschaftliche[n] Wertbetrachtung" verstehen, wie sie Max Weber vertreten hat, auf den sich Radbruch hier und an ähnlicher Stelle beruft.39 Die wissenschaftliche Wertbetrachtung er-

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Moderater

Skepti^ismus

laubt die Feststellung von Mittel-Zweck-Relationen, den Nachweis der Voraussetzungen von Werturteilen und schließlich die Systematisierung dieser Voraussetzungen von Werturteilen mit Blick auf den jeweiligen Gegenstand. Sie ist mit einer skeptischen Einschätzung der Gültigkeit dieser Urteile als moralischer oder wertender Urteile vereinbar. Sollte Radbruch doch behaupten, konträre moralische Urteile seien gleichermaßen gültig, nämlich dass ρ für das eine Individuum oder die eine Gruppe und dass nicht-p für ein anderes Individuum oder eine andere Gruppe, wenn das eine Individuum aus welchen Gründen auch immer von dieser normativen Prämisse ausgeht und das andere Individuum von der konträren, dann verträte er in der Tat die Position des normativen Relativismus. Der normative Relativismus ist weder eine skeptische noch eine metaethisch relativistische Position, sondern, wie oben erläutert, eine normative. Radbruch hat an keiner Stelle auch nur den Versuch unternommen, eine solche Position zu begründen. Zudem ist der normative Relativismus mit der These, die Radbruch in der Nachkriegszeit vertreten hat, gänzlich unvereinbar. Soll die Achtung und der Schutz der Menschenrechte Minimalbedingung der Legitimität von Recht sein,40 dann dient die Idee der Menschenrechte ja gerade dem Ausweis der Universalisierbarkeit und Widerspruchsfreiheit des moralisch Ge- und Verbotenen unter ähnlichen Bedingungen mit Bezug auf unterschiedliche Individuen (und Gruppen oder Kulturen). Wollten wir Radbruch die Position des normativen Relativismus für seine Hauptschriften zuschreiben, so könnte der Bruch mit dieser Position in den Nachkriegsschriften kaum größer sein. Zugleich ist der normative Relativismus schwerlich vereinbar mit den substantiellen normativen Behauptungen, die wir in Radbruchs rechtsphilosophischen Hauptschriften finden:41 nämlich der richtig verstanden substantiellen Idee der Gerechtigkeit als einem Aspekt der Rechtsidee sowie der Behauptung, der Richter habe eine unbedingte ethische Pflicht, den Gesetzen Gehorsam zu leisten. Schließlich wäre die Behauptung, die Werte der Aufklärung, das demokratische Ethos und insbesondere der Wert der Toleranz seien aus dem Relativismus „ableitbar", unverständlich, wollten wir hier den Relativismus als normativen Relativismus verstehen. Insofern die genannten Werte universalistische Werte sind - und sie sind wohl kaum anders aufzufassen - ,

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Skepti^ismus

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ist die Annahme ihrer Gültigkeit mit dem normativen Relativismus unvereinbar. Würden wir unterstellen, Radbruch habe dem normativen Relativismus das Wort geredet, wäre die Spannung in den Hauptschriften zwischen diesen Wertüberzeugungen und Radbruchs Bekenntnis zum Relativismus unüberbrückbar. Im Ergebnis stellen wir also fest, dass Radbruch weder einen normativen Relativismus noch eine nicht-relativistische normative Moraltheorie vertreten hat. Seine Position lässt sich am besten als eine skeptische charakterisieren. In den Nachkriegsschriften hat er eine moderat skeptische Position vertreten. Radbruch hält ein Argument zugunsten der Menschenrechte als legitimierendem Grund des Rechts für gültig und spricht in seinen berühmten Formeln rechtlichen Normen die Geltung ab, so sie einer minimalistischen Gerechtigkeitsidee zuwiderlaufen, und erklärt vermeintliche Rechtssätze für Nicht-Recht, wenn sie die Realisierung solcher Gerechtigkeit nicht einmal anstreben. Unter Berufung auf Max Weber bezieht Radbruch in seinen Wiemarer rechtspliilosophischen Hauptschriften die Position des extremen Skeptizismus. Allerdings verdanken sich wichtige Weichenstellungen des Aufbaus seiner Rechtstheorie substantiellen wertphilosophischen Annahmen. Radbruch behauptet zwar in seinem 1934 erschienenen Aufsatz „Der Relativismus in der Rechtsphilosophie", substantielle moralische Werturteile ließen sich aus dem Relativismus ableiten. Da dies aber nicht der Fall ist, dient die Position des moderaten Skeptizismus auch für die Weimarer Schriften Radbruchs als beste Interpretationshypothese. Zugleich bleibt zu betonen, dass Radbruch — sehen wir von der fehlerhaften Ableitung der Werte der Aufklärung aus dem Relativismus ebenso ab wie von dem nur angedeuteten Argument zugunsten der Menschenrechte als den das Recht legitimierenden Grund — weder ernsthaft versucht hat, substantiell normative Urteile zu begründen, noch je eine Methode der Rechtfertigung solcher Urteile ausgewiesen hat. Radbruchs nicht-positivistische Rechtsauffassung verlangt, immer dann und unabhängig von den positiv geltenden Bestimmungen des jeweiligen Rechtssystems rechtlichen Normen die Geltung abzusprechen, wenn sie einer minimalistischen Gerechtigkeitsidee zuwiderlaufen, also extrem ungerecht sind. Ob wir im Sinne Radbruchs eine nicht-positivistische Position oder eine rechtspositivistische Position

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Nachträgliche

rechtspositivistische

Beurteilung

vertreten, ist für die nachträgliche rechtliche Beurteilung der Geltung von Rechtsbestimmungen eines vor-rechtsstaatlichen Regimes nach einer Transition zu einer rechtsstaatlichen Ordnung relevant. Die praktische Differenz im Ergebnis der Rechtsbeurteilung hängt, wie wir sehen werden, davon ab, ob und wie weitreichend der Gesetzgeber tätig wird.

5. Nachträgliche rechtspositivistische Beurteilung eines vor-rechtsstaatlichen Regimes Das soll anhand der möglichen rechtlichen Reaktionen auf die sogenannten Mauerschützen verdeutlicht werden. Bei den Mauerschützen handelt es sich um Soldaten der DDR, die an der Grenze zwischen DDR und BRD mit dem Auftrag eingesetzt waren, Menschen daran zu hindern, die Grenzbefestigungen zur BRD hin zu überwinden, und zwar wenn nötig mit Waffengewalt und um den Preis des Lebens der sogenannten Republikflüchtlinge. Nach der Wiedervereinigung hatten die bundesdeutschen Gerichte aufgrund der Bestimmungen des Einigungsvertrags zu prüfen, ob die Tötung der Flüchtlinge, die bei ihrem Fluchtversuch keine anderen Menschen gefährdet hatten, nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der DDR strafbar war.42 Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat nach der Wiedervereinigung keine rückwirkenden Gesetze zur Beurteilung der Handlungen der Grenzsoldaten erlassen. Wenn allerdings positiv entschieden wird, dass Grenzsoldaten nach DDR-Recht strafbar sind, dann ist für die Strafzumessung das alte DDR-Recht oder Bundesrecht anzuwenden, je nachdem welches Gesetz das mildere ist.43 Waren die Tötungen der Flüchtlinge an der deutsch-deutschen Grenze nach DDR-Recht strafbar? Der Tatbestand des Mords oder Totschlags war nach DDR-Recht erfüllt,44 aber die Handlungen waren nicht strafbar, wenn ein Rechtfertigungsgrund sie erlaubte. Der Streit um die Strafbarkeit der Mauerschützen dreht sich um die Frage, ob ein solcher Rechtfertigungsgrund nach DDR-Recht vorliegt, und, wenn das der Fall ist, ob diese Rechtfertigung rechtliche Geltung hat beziehungsweise hatte. Einigkeit besteht darüber, dass als Rechtfertigung allein die Bestimmungen des Grenzgesetzes der DDR oder die vordem geltenden Bestimmungen des Gesetzes über die Aufgaben

Nachträgliche

rechtspositivistische

Beurteilung

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und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei in Frage kommen. Sie rechtfertigen die Anwendung der Schusswaffe „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt." 45 N a c h dem D D R - S t G B war der ungesetzliche Grenzübertritt ein Verbrechen gegen die staatliche Ordnung. 4 6 Bevor die Soldaten ihren Dienst an der Grenze antraten, wurden sie gemäß einer Dienstverordnung des Ministeriums für Nationale Verteidigung dazu verpflichtet, „Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Umständen zu gewährleisten." 47 Hier sollen zunächst die möglichen rechtspositivistischen Beurteilungen skizziert werden, die dann mit der nicht-positivistischen Alternative verglichen werden, für welche die Anwendbarkeit der Radbruchschen Formel zentral ist. Sowohl die rechtspositivistischen Auffassungen als auch die Radbruchsche Formel haben eine wichtige Rolle in den Urteilsbegründungen der Landgerichte, des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts 4 8 gespielt. In der höchstrichterlichen Urteils findung hat sich Radbruchs Position weitgehend durchgesetzt 4 9 Bei allen Unterschieden vertreten Rechtspositivisten die Auffassung, dass Rechtsbestimmungen Geltung haben, die ordnungsgemäß gesetzt und sozial wirksam sind. 50 O b die Tötungen an der Mauer legal waren, hängt demnach allein davon ab, ob diese Handlungen v o n derart geltenden Rechtsbestimmungen gedeckt sind. Die P r ü f u n g kann ergeben, dass die Handlungen der Grenzsoldaten nach D D R Recht illegal waren. Diese Auffassung könnte man vertreten, weil die ordnungsgemäß gesetzten einschlägigen Rechtsbestimmungen keine D e u t u n g zulassen, die ihrem Wordaut nach die Handlungen der Grenzsoldaten rechtfertigen. 51 Allerdings hat sich die gegenteilige Auffassung durchgesetzt: Mindestens möglich und zulässig ist die Deutung, dass die oben genannten Bestimmungen des Rechts der D D R die Tötungen rechtfertigen. 52 Diese D e u t u n g entspricht der zur Tatzeit herrschenden Rechtsauslegungspraxis. 53 Unzweifelhaft gehörte zur Staatspraxis der D D R , Grenzsoldaten für die T ö t u n g von Flüchtlingen beim Versuch, die Grenze zur Bundesrepublik zu überwinden, nicht nur nicht strafrechtlich zu verfolgen, sondern vielmehr zu belobigen. W e n n auch der Wordaut von Rechtsbestimmungen

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Nachträgliche

rechtspositivistische

Beurteilung

gewöhnlich mehr als eine Deutung zulässt, so hängt nach rechtspositivistischer Auffassung die Geltung rechtlicher Bestimmungen auch von ihrer Wirksamkeit ab. Die regelmäßige und andauernde Unwirksamkeit einer rechtlichen Bestimmung oder einer bestimmten Deutung dieser Bestimmung schließt deren Geltung aber aus. Man könnte in diesem Element der Staatspraxis der DDR unrechtmäßige Unterlassungen der DDR-Strafverfolgungsbehörden und Fehlurteile der DDR-Gerichte54 erkennen. Dann handelte es sich um Fälle staatlichen Unrechts. In einem Rechtsstaat sind Fälle staatlichen Unrechts mit den Mitteln des Rechts zu sanktionieren. Die hier in Frage stehende Staatspraxis ist aber nicht in diesem Sinn aufzufassen.55 Denn die Grenzsoldaten, die Flüchtlinge am Grenzübertritt zur BRD durch den Einsatz von Schusswaffen hinderten, konnten in der DDR strafrechtlich nicht verfolgt werden. Nach der in der DDR herrschenden Auffassung war das Grenzregime samt des Auftrags der Grenzsoldaten, Flüchtlinge nötigenfalls auch um den Preis ihres Lebens am Grenzübertritt zu hindern, für die Fortexistenz der DDR notwendig. Das Grenzregime wurde mit dem Interesse der DDR an ihrer Fortexistenz als sozialistischer Staat (und dem Interesse an der Stabilität des sogenannten Ostblocks) begründet. Der Erfüllung dieser kollektiven Ansprüche wurde Priorität vor dem Recht der Bürger auf Unversehrtheit der Person gegeben.56 Ein Rechtspositivist kann auch auf anderem Wege zu dem Ergebnis kommen, dass die Handlungen der Grenzsoldaten illegal waren. Selbst wenn die einschlägigen Rechtsbestimmungen und insbesondere das DDR-Grenzgesetz eine Deutung zulassen, nach welcher die Handlungen legal sind, so könnten die Bestimmungen des Grenzgesetzes selbst unrechtmäßig sein, weil sie mit höherrangigen Rechtsnormen unvereinbar sind, insbesondere mit Verfassungsbestimmungen und völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR.57 Dass eine Unvereinbarkeit mit der Verfassung vorliegt, wird von den allermeisten Interpreten bestritten.58 Mindestens sei eine Deutung möglich und zulässig, nach welcher das Grenzgesetz mit den höherrangigen Rechtsnormen der DDR vereinbar ist. Denn die Verfassung der DDR kennt keinen grundrechtlichen Schutz der Ausreisefreiheit. Mindestens das DDR-Grenzgesetz59 erfüllt die in der Verfassung genannten Bedingungen für die Zulässigkeit zur Einschränkung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Und die Verfas-

Nachträgliche

rechtspositivistische

Beurteilung

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sung der DDR lässt zu, dass automatische Schusswaffen eingesetzt werden, um Bürger an der Republikflucht zu hindern, auch wenn dadurch der Tod der Bürger in Kauf genommen wird — nämlich um des Erhalts der DDR willen.«' Die DDR ist dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) beigetreten. Das Grenzregime scheint im Konflikt mit den in diesem Vertrag geschützten Rechten auf Ausreisefreiheit (Art. 12 Abs. 2) und Schutz des Lebens (Art. 6 Abs. 1) zu stehen. Allerdings ist die überwiegende Meinung, dass die DDR den IPBPR nicht in positiv geltendes innerstaatliches Recht der DDR transformiert hat. Denn es fehlt an der von der DDR-Verfassung (Art. 51 Satz 1) vorgesehenen Bestätigung durch die Volkskammer. Und selbst wenn die Bestimmungen des IPBPRs ins innerstaatliche Recht inkorporiert worden wären, ist es zweifelhaft, ob das rechtlich sanktionierte Grenzregime mit dem IPBPR konfligiertc/'1 Kommt ein Rechtspositivist zu dem Ergebnis, dass die Tötungen von Flüchtlingen an der Mauer nach DDR-Recht legal gewesen sind, dann kann er dafür eintreten, durch rückwirkende Gesetzgebung die relevanten Rechtsbestimmungen im Nachhinein (ex tunc) für nichtig und das heißt für die heutige rechtliche Bewertung unbeachtlich zu erklären. Der Rechtspositivist kann dafür plädieren, dass der Gesetzgeber retroaktive Gesetze erlässt, gemäß welchen früher positivrechtlich geltende Bestimmungen des Vorgängerregimes heute nichtig sind mit dem Ergebnis, dass die Rechtsfolgen dieser Bestimmungen nichtig sind,62 Gerichtsurteile63 und Rechtsgeschäfte64 nichtig sind, die auf diesen Bestimmungen beruhen, und es heute illegal und strafbar ist, so gehandelt zu haben, wie zu handeln unter dem Vorgängerregime legal gewesen ist. Wenn retroaktive Gesetze letzteres implizieren, dann verstoßen sie gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz: Eine Tat kann „nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Demnach gilt die Nullum crimen, nulla poena sine lege-Regel unbedingt und strikt:65 Wenn die Strafbarkeit einer Tat nicht gesetzlich geregelt war, bevor die Tat begangen wurde, dann ist die Bestrafung des Täters verboten. Das Rückwirkungsverbot soll Bürger vor willkürlicher Bestrafung schützen. Es schützt das Vertrauen in die Geltung der positiv-rechtlichen und wirksamen Ordnung.66 Der Gesetzgeber kann aber eine unbe-

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Nachträgliche

rechtsstaatliche

Aus

legung

dingte und strikte Verfassungsregel ordnungsgemäß ändern. Auf der Grundlage einer Verfassungsänderung, die das Rückwirkungsverbot einschränkt, zum Beispiel indem sie es durch eine Ausnahmeklausel bedingt, kann der Gesetzgeber durch Erlass rückwirkender Gesetze früher positiv-rechtlich geltende Unrechtsnormen mit ex-tuncWirkung aufheben. Dann sind letztere für die heutige rechtliche Beurteilung der früheren Taten unbeachtlich. Rechtstheoretisch gesehen gibt es für den Rechtspositivisten keinen prinzipiellen Einwand gegen eine solche Verfassungsänderung und auf ihr beruhende Gesetzgebung.

6. Nachträgliche rechtsstaatliche

Auslegung

Allerdings gibt es erhebliche politische und moralische Bedenken gegen eine Änderung der unbedingten Geltung des Rückwirkungsverbots, auch wenn die Änderung ordnungsgemäß vorgenommen wird. Wird hier nicht ein grundlegendes Menschenrecht verletzt, nämlich das Recht, vor willkürlicher Bestrafung geschützt zu sein?67 Der Rechtspositivist jedenfalls wird nicht behaupten wollen, dass die Handlungen der Mauerschützen zur Tatzeit nicht legal gewesen sind. Wären sie nicht legal gewesen, dann wäre ja keine rückwirkende Gesetzgebung nötig. Es kann deshalb nicht wundern, dass Richter und Rechtswissenschaftler sich um den Nachweis bemüht haben, es bedürfe keiner rückwirkenden Gesetze, um die Grenzsoldaten zu belangen, die Flüchtlinge erschossen haben. Entweder versuchen sie zu zeigen, dass das Handeln der Grenzsoldaten nach DDR-Recht doch illegal war, oder dass ihre strafrechtliche Verurteilung und Bestrafung mit dem durch das Grundgesetz garantierten Rückwirkungsverbot vereinbar ist. Diese Positionen können aber nicht überzeugen, wie ich zunächst zeigen möchte. Beide Alternativen scheitern an der Bedeutung der positiv-rechtlichen Geltung des DDR-Rechts in seiner herrschenden und wirksamen Auslegung, nämlich erstens für die Feststellung, was unter dem DDR-Regime positiv-rechtlich geltendes Recht gewesen ist, und zweitens für die Interpretation des durch das Grandgesetz geschützten Vertrauens in das zur Tatzeit geltende Strafrecht. Ich stelle dann die auf der Anwendung der Radbruchschen Unverträglichkeitsformel beruhende Alternative vor.

Nachträgliche

rechtsstaatliche

Aus legung

309

In Urteilen zu den Mauerschützen 68 findet sich das Argument, man komme bei „richtiger" Auslegung des DDR-Rechts zu dem Ergebnis, dass die Tötungen an der Mauer illegal waren. 69 Das Landgericht Berlin hat in seinem zweiten Mauerschützenurteil argumentiert: „Ein Gesetz, das den Anschein der Rechtsstaatlichkeit ... erweckt, ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auszulegen." 70 Das sei aber beim Paragraphen 27 des DDR-Grenzgesetzes der Fall. In der Tat stimmt der Wortlaut der Bestimmungen des Grenzgesetzes der DDR mit denen der BRD und anderer westlicher Demokratien weitestgehend überein. 71 Richtige Auslegung soll hier Auslegung gemäß einer rechtsstaatlichen Auslegungspraxis bedeuten. Rechts staatliche Auslegung impliziere, dass das DDR-Recht und auch das DDR-Grenzgesetz dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet sei. Dann seien aber die Todesschüsse an der Grenze nicht gerechtfertigt und nach geltendem Recht der DDR strafbar. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbiete die Tötung eines Menschen mit bedingtem Vorsatz, um eine Straftat zu verhindern, durch die das Leben anderer nicht gefährdet werde. Denn das Leben sei das höchste Rechtsgut. 72 Die Grenzsoldaten haben durch den Einsatz von auf Dauerfeuer gestellten automatischen Waffen und die dadurch billigend in Kauf genommene Tötung von Flüchtlingen, die keine anderen Personen gefährden, 73 gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, weshalb ihre Handlungen schon zur Tatzeit nicht durch das Grenzgesetz gerechtfertigt und deshalb nach DDR-Recht strafbar waren. Gegen eine rechts staatliche Auslegung des DDR-Rechts sprechen wenigstens zwei Argumente. Nicht nur Rechtspositivisten halten die Wirksamkeit rechtlicher Bestimmungen für eine notwendige Bedingung ihrer Geltung. Das rechtsstaatlich ausgelegte DDR-Recht deckt sich keinesfalls mit der DDR-Rechtswirklichkeit. Die Mauerschützen wurden nicht nur nicht strafrechtlich verfolgt, sondern positiv sanktioniert, und dies entsprach der herrschenden Rechtsauslegungs- und Staatspraxis. 74 In der nachträglichen rechts staatlichen Auslegung kann deshalb eine verdeckt gegen das Rückwirkungsverbot verstoßende Rechtsprechung erkannt werden. Eine solche Auslegung verdeckt die Verletzung des Anspruchs der Täter darauf, dass sie auf die Geltung des positiv rechtlich gesetzten Rechts vertrauen können. 75 Zudem wird durch eine rechtsstaatliche Auslegung das DDR-Recht

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Nachträgliche

rechtsstaatliche

Auslegung

„verharmlost"76. Entgegen einer rechtsstaatlichen Auslegung, die sich allein auf den Anschein des Wordauts von Rechtsbestimmungen berufen kann, ist festzuhalten, dass die DDR kein Rechtsstaat gewesen ist, sondern, solange sie als Staat bestand, eine den Grundsätzen der Rechts Staatlichkeit widersprechende Praxis rechtens gewesen ist: Das Grenzregime ordnete den Lebensanspruch einzelner Bürger den kollektiven Ansprüchen des Staats unter. Darin ist aber etwas für das Staatsverständnis der DDR Typisches zu erkennen. Grundrechte der Bürger waren grundsätzlich unter den Vorbehalt gestellt, dass ihr Schutz oder ihre NichtVerletzung den kollektiven Zielen des sozialistischen Staats diente. Grundrechte im rechtsstaatlichen Sinne kannte das DDR-Rechtssystem nicht.77 Ein verdeckter Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot ist sowohl rechtstheoretisch als auch rechtspolitisch unakzeptabel. Der rechts staatlichen Auslegung des DDR-Rechts gelten die DDRRechtswirklichkeit, die DDR-Rechtsauslegungs- und Staatspraxis, als irrelevant für die Feststellung, was rechtens gewesen ist. Ist diese Rechtsauffassung akzeptabel, dann wird das Rückwirkungsverbot nicht verletzt, wenn das DDR-Recht nachträglich anders ausgelegt wird, als es der DDR-Rechtswirklichkeit entsprochen hat, und festgestellt wird, dass die Mauerschützen nach richtig ausgelegtem DDRRecht zu bestrafen sind. Eine andere Auffassung vertritt, wer einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vermeiden möchte, indem dieser rechtsstaatliche Grundsatz „restriktiv"78 ausgelegt wird. Der Bundesgerichtshof hat eine solche „menschenrechtsfreundliche" Interpretation des Rückwirkungsverbots vorgelegt. Das Gericht bestreitet nicht, dass die Taten der Mauerschützen nach dem zur Tatzeit geltenden DDR-Recht rechtmäßig gewesen sind. Das Gericht beruft sich aber auf Radbruch und hält die Handlungen der Mauerschützen für strafbar.79 Auf diese nicht-positivistische Auffassung der Rechtslage komme ich gleich zurück. Hier interessiert, dass der Bundesgerichtshof in der Bestrafung der Mauerschützen keine Verletzung des RückwirkungsVerbots des Grandgesetzes sieht. Denn dieses schütze nicht das Vertrauen in das gegen Menschenrechte verstoßende positiv geltende Recht der DDR und deren Rechtsanwendungspraxis. Schutzwürdig und durch das Rückwirkungsverbot geschützt ist demnach nicht das Vertrauen in die Geltung des in der DDR wirksamen Rechts, sondern allein das Vertrauen in die Geltung des

Nachträgliche

nicht-positivistische

Beurteilung

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richtig ausgelegten Rechts, also die Geltung des menschenrechtsfreundlich ausgelegten DDR-Rechts, einer normativ möglichen Auslegung des DDR-Rechts, die nicht im Widerspruch mit grundlegenden Menschenrechten steht. Diese Auffassung der strikten und unbedingten Regel des Rückwirkungsverbots des Grundgesetzes kann nicht überzeugen.8" Die Nullum crimen, nulla poena sine lege-Regel des Grundgesetzes soll das Vertrauen in das zur Tatzeit positiv-rechtlich geltende Strafrecht schützen. Auf die Frage, mache ich mich strafbar, wenn ich so und so handele, soll es eine eindeutige Antwort geben: ja, sofern das dann positiv-rechtlich geltende Recht die Tat unter Strafe stellt, und nein, wenn nicht. Die „menschenrechtsfreundliche" Auslegung des Rückwirkungsverbots ist eine substantielle Einschränkung dieser Regel. Dem Anspruch der Täter darauf, dass sie auf die Geltung des positivrechtlich geltenden Rechts vertrauen können, wird nicht entsprochen. Die Auslegung impliziert, dass der Anspruch nicht unbedingt und strikt gilt. Wird die „menschenrechtsfreundliche" Auslegung des Rückwirkungsverbots vom Gericht für „richtig" erklärt,81 legt dies nicht die Verletzung der Regel offen, sondern verdeckt sie.

7. Nachträgliche nicht-positivistische Beurteilung eines vor-rechtsstaatlichen Regimes Gustav Radbruchs nicht-positivistische Position darf nicht mit der Position einer richtigen Auslegung verwechselt werden. Radbruch und die Rechtspositivisten stimmen in der Kritik an der Position „richtiger" und „menschenrechtsfreundlicher" Auslegung überein. Sie kommen auch zum selben Ergebnis, wenn Rechtsbestimmungen nicht extrem ungerecht sind: Die Bestimmungen sind rechtmäßig, wenn sie nicht mit höherrangigen DDR-Rechtsbestimmungen kollidieren, und die Handlungen sind als legal anzusehen, die einer normativ möglichen und tatsächlich wirksamen Deutung rechtmäßiger Bestimmungen entsprochen haben. Das gilt auch für Rechtsbestimmungen, die wir mit guten Gründen für weniger als gerecht halten. Wenn allerdings Rechtsbestimmungen extrem ungerecht sind oder wirksame Deutungen von Rechtsbestimmungen extrem ungerechte

312

Nachträgliche

nicht-positivistische

Beurteilung

Folgen haben, dann vertritt der Nicht-Positivist Radbruch die Auffassung, dass diese Rechtsbestimmungen oder ihre Deutungen von Beginn an {ex nunc) als nichtig anzusehen sind. Diese Rechtsbestimmungen hatten nie rechtliche Geltung. Demnach können die Bestimmungen des DDR-Grenzgesetzes, welche nach der damals herrschenden Rechtsanwendungs- und Staatspraxis die Tötungen der Flüchtlinge rechtfertigten, für extrem ungerecht gehalten werden, weshalb sie nie Rechtsgeltung genossen.82 Die übrigen Bestimmungen des DDRStrafrechts bleiben davon unberührt. Können die Soldaten sich auf diese Bestimmungen des Grenzgesetzes nicht als Rechtfertigung berufen, dann sind ihre Taten nach DDR-Recht als Totschlag oder Mord zu werten und strafbar.83 Die Nichtigkeit einer rechtlichen Bestimmung von Beginn an hat zur Folge, dass es für die Rechtmäßigkeit einer Handlung irrelevant ist, ob sie dieser Bestimmung entsprochen hat. Das gilt auch dann, wenn diese Bestimmung zur Tatzeit positiv-rechtliche Geltung hatte. Das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes bezieht sich jedoch auf das zur Tatzeit positiv-rechtlich geltende Recht. Es verbietet die Bestrafung, es sei denn die Tat war zur Tatzeit gemäß positiv-rechtlich geltendem Recht bereits strafbar. Das Rückwirkungsverbot soll davor schützen, dass das Handeln der Bürger nachträglich rechtlich anders bewertet wird als die rechtspositivistisch zutreffend ausgelegten und zum Zeitpunkt der Handlung wirksamen Bestimmungen festlegen. Das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes gilt ausnahmslos und unbedingt und erlaubt keine Abwägung mit anderen Rechtsgütern. Folgen wir der nicht-positivistischen Position Radbruchs, kann das Rückwirkungsverbot nicht ausnahmslos gelten. Im Falle extrem ungerechter rechtlicher Bestimmungen beziehungsweise von Deutungen mit extrem ungerechten Folgen soll nach Auffassung Radbruchs die Rechtsprechung den Wert der Rechtssicherheit, nämlich des Vertrauens von Bürgern in die rechtliche Geltung dieser Bestimmungen und Auslegungen, dem Wert der Gerechtigkeit unterordnen, indem der richterlichen Beurteilung zugrunde gelegt wird, dass es sich bei diesen Bestimmungen nie um Recht gehandelt hat, weil sie extrem ungerecht sind. Die nachträgliche richterliche Beurteilung ergibt dann, dass, was damals positiv-rechtlich gesprochen rechtmäßig war, unrechtmäßig gewesen und heute strafbar ist.

i V a c h t r ä g l i c h e nicht-positivistische

Beurteilung

313

Nicht-Positivisten und Rechtspositivisten können darin übereinstimmen, und auch Radbrach ist der Auffassung gewesen, 84 dass rückwirkende Gesetzgebung der gerichtlichen Anwendung seiner Unerträglichkeitsformel vorzuziehen ist.85 Dafür gibt es wenigstens zwei Gründe. Erstens dient es der Rechtssicherheit sowohl derer, die jetzt unrechtmäßigen Handelns beschuldigt werden, als auch der Menschen, die Opfer extrem ungerechter Rechtsbestimmungen geworden sind. Was die Anwendung der Unerträglichkeitsformel mit Blick auf bestimmte Rechtsbestimmungen ergibt, kann höchst umstritten sein. So hat im so genannten ersten Mauerschützenprozess das Landgericht Berlin die Bestimmungen des DDR-Grenzgesetzes, welche die Tötungen der Flüchtlinge erlauben können, als im Sinne der Radbruchschen Formel extrem ungerecht und deshalb ex nunc nichtig eingeschätzt. 86 Im zweiten Mauerschützenprozess ist das Landgericht Berlin zum gegenteiligen Ergebnis gekommen: Diese Bestimmungen sind nur ungerecht, aber nicht extrem ungerecht. 87 Nach Verabschiedung retroaktiver Gesetze hängt die Anerkennung der Ansprüche der Opfer nicht davon ab, dass ein Gericht die früheren rechtlichen Bestimmungen für nichtig erklärt. Vielmehr haben die Ansprüche der Opfer eine gesetzliche Grundlage, deren Beachtung sie vor Gericht einfordern können. Ferner kann umstritten sein, welche rechtlichen Konsequenzen die Feststellung hat, dass einige Rechtsbestimmungen für extrem ungerecht und deshalb nichtig erkannt werden. Insbesondere Arthur Kaufmann hat darauf hingewiesen, dass die Nichtigkeit bestimmter rechtlicher Bestimmungen unter Umständen zur Konsequenz hat, dass eine Rechtslücke entsteht. 88 Durch Anwendung der Unerträglichkeitsformel kann aber kein neues Recht geschaffen werden. Wenn durch ihre Anwendung eine Lücke entsteht, bedarf es rückwirkender Gesetzgebung. Durch ein retroaktives Gesetz wird festgelegt, welche Rechtsbestimmungen der Beurteilung der Taten zugrunde gelegt werden sollen. 89 Zweitens kann in der Anwendung der Radbruchschen Unerträglichkeitsformel durch die Gerichte ein Verstoß gegen das durch das Grundgesetz geschützte Rückwirkungsverbot erkannt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenz zu prüfen, ob ein solcher Verstoß vorliegt. Im Ergebnis hat das BVerfG in seiner einschlägigen Entscheidung vom 24. Oktober 1996 dies verneint. Das

314

Nachträgliche

nicht-positivistische

Beurteilung

Gericht hat das Rückwirkungsverbot mit einer Ausnahme-Klausel versehen.'-10 Im Falle extrem ungerechter rechtlicher Bestimmungen tritt der Wert der Rechtssicherheit, den das Rückwirkungsverbot schützt, vor dem Wert der Gerechtigkeit zurück. Das Rückwirkungsverbot gilt nicht mehr ausnahmslos. Richtig verstanden lautet es: Eine Tat kann „nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde", es sei denn die gesetzlichen Bestimmungen waren extrem ungerecht.91 Folgen wir dem Urteil des BVerfG zu den Mauerschützen, ist es verfassungsgemäß, dass die Gerichte die Radbruchsche Unerträglichkeitsformel anwenden.92 Im Falle des DDR-Grenzgesetzes ergibt die Anwendung der Radbruchschen Formel, dass die Bestimmungen, welche die Mauerschützen rechtfertigen können, extrem ungerecht und daher von Anfang an nichtig sind und dass die Handlungen der Mauerschützen nach DDR-Recht strafbar sind.93 Auch wer meint, dass es in der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts liegt, dem Wortlaut nach unbedingt geltenden Bestimmungen des Grundgesetzes Ausnahmeklauseln hinzuzufügen,94 kann die Auffassung vertreten, dass in erster Linie der Gesetzgeber über solche Änderungen strikter und unbedingter Regeln entscheiden sollte. Der Gesetzgeber kann mit der entsprechenden qualifizierten Mehrheit das durch das Grundgesetz geschützte Rückwirkungsverbot mit der genannten Ausnahmeklausel versehen. Auf der Grundlage einer solchen Verfassungsänderung kann der Gesetzgeber dann mit Blick auf bestimmte Regelungsgebiete rückwirkende Gesetze erlassen.95 Wie wäre eine solche Verfassungsänderung rechtstheoretisch zu bewerten? Gemäß der einen, der nicht-positivistischen Interpretation, bedeutete die Verfassungsänderung, dass die moralische Minimalbedingung der Rechtsgeltung, für die Radbruch eingetreten ist, explizite positiv-rechtliche Geltung gewänne. Die Ausnahmeklausel zum Rückwirkungsverbot implizierte dann, dass extrem ungerechte rechtliche Bestimmungen von Anfang an nichtig sind. Gemäß der anderen, der rechtspositivistischen Interpretation erlaubte die Ausnahmeklausel, die frühere Geltung extrem ungerechter rechtlicher Bestimmungen als für die heutige rechtliche Beurteilung unbeachtlich zu erklären.

Nachträgliche

nicht-positivistische

Beurteilung

315

Der Positivist kann der Auffassung sein, wie Hart in seiner Kritik an der Position Radbruchs argumentiert hat,96 dass allein die rechtspositivistische Interpretation rückwirkender Gesetzgebung die Werte der Ehrlichkeit und Transparenz befördere: Die in Frage stehenden Handlungen sind legal gewesen und nur auf der Grundlage rückwirkender Gesetzgebung, die gegen ein Rückwirkungsverbot verstößt, welches jede Änderung der zur Tatzeit positiv-rechtlich geltenden strafrechtlichen Lage im Nachhinein verbietet, können sie heute als unrechtmäßig gelten. Wenn solche rückwirkende Gesetzgebung erlaubt ist, weil das Rückwirkungsverbot nur bedingt gilt, dann ist doch legal gewesen, was aufgrund rückwirkender Gesetzgebung heute als illegal gilt und strafbar ist. Diese Auffassung setzt offenbar die Richtigkeit der rechtspositivistischen Position voraus. Da aber der Nicht-Positivist dieses Rechtsverständnis für falsch hält, sieht er die Werte von Ehrlichkeit und Transparenz nicht dadurch befördert, dass dieses falsche Rechtsverständnis zur Voraussetzung rechtsstaatlicher Gesetzgebung erklärt wird.97 Der Nicht-Positivist erkennt an, dass die Feststellung, positiv-rechtlich geltende Bestimmungen seien von Beginn an nichtig gewesen, gegen ein unbedingt und strikt geltendes Rückwirkungsverbot verstoßen kann. Aber weil der Nicht-Positivist die Nichtigkeit extrem ungerechter Bestimmungen von Beginn an annimmt, gilt dies nur, insofern das Rückwirkungsverbot das Vertrauen in die positiv-rechtlich geltenden Bestimmungen schützt. Das eigentlich zur Tatzeit geltende Recht, das ius praevium, bleibt ganz unberührt durch die Feststellung, dass einige Bestimmungen des positiv-rechtlich geltenden Rechts, Bestimmungen der lex scripta, von Beginn an nichtig waren.98 Der Rechtspositivist kennt kein ius praevium. Der Nicht-Positivist sieht also den Sinn und Zweck der genannten Ausnahmeklausel zum Rückwirkungsverbot der Verfassung darin, das eigentlich zur Tatzeit schon geltende Recht wirksam werden zu lassen. Demnach sollte der Gesetzgeber bei der Begründung eines rückwirkenden Gesetzes auf der Grundlage der genannten Ausnahmeklausel zum Rückwirkungsverbot deutlich machen, dass ein solches Gesetz rückwirkend nur im Sinne der Feststellung der Nichtigkeit einer Bestimmung der lex scripta ist und das damals schon geltende ius praevium wirksam werden lässt. Dann würde der Ge-

316

Nachträgliche

nicht-positivistische

Beurteilung

setzgeber die Radbruchsche Formel anwenden und deren Anwendung durch die Gerichte überflüssig machen. Der rechtstheoretische Unterschied in der Auffassung rückwirkender Gesetzgebung kann rechtspraktisch relevant sein, dann nämlich, wenn der Gesetzgeber keine rückwirkenden Gesetze erlässt oder nur unzureichend tätig wird. Auch wenn rückwirkende Gesetzgebung der gerichtlichen Anwendung der Radbruchschen Unerträglichkeitsformel aus oben genannten Gründen vorzuziehen ist, kann der Nicht-Positivist die Auffassung vertreten, dass, so der Gesetzgeber nicht oder nur unzureichend tätig wird, die Anwendung der Radbruchschen Formel durch die Gerichte geboten ist. Dafür, dass der Gesetzgeber nicht oder nur unzureichend tätig wird, kann es viele Gründe geben. Es kann schwierig sein, die für die Gesetzgebung nötigen Mehrheiten zu finden. Aber auch wenn der Gesetzgeber will, mag es objektiv schwierig sein zu bestimmen, welche rückwirkenden Gesetze im Sinne der genannten Ausnahmeklausel nötig sind. Der Gesetzgeber muss feststellen, welche Bestimmungen des vor-rechtsstaatlichen Regimes extrem ungerecht sind beziehungsweise Deutungen der Rechtslage ermöglicht haben, nach welchen extrem ungerechtes Handeln rechtmäßig ist. Der Wordaut der rechtlichen Bestimmungen lässt gewöhnlich viele Deutungen zu. Welche Deutung wirksam ist oder war, entscheidet die Rechtsanwendungspraxis. Dann können wir ohne genaue Kenntnis dieser Praxis die Bestimmungen nicht identifizieren, deren wirksame Deutung extrem ungerechte Konsequenzen hatte. Ohne diese Kenntnis ist es dem Gesetzgeber nicht möglich, den Inhalt seiner rückwirkenden Gesetze im Sinne der Radbruchschen Formel zu bestimmen. Die Gerichte stehen bei der Anwendung der Radbruchschen Formel vor eben diesem Problem. Anders als der Gesetzgeber können sie aber von Fall zu Fall darüber entscheiden, ob und, wenn ja, welche rechtlichen Bestimmungen sie für nichtig erklären sollen, weil sie extrem ungerecht sind beziehungsweise extrem ungerechtes Handeln legalisierten. Insofern haben die Gerichte einen epistemischen Vorteil. Es scheint wenigstens zweifelhaft, dass dem Gesetzgeber vor der gerichtlichen Einzelfallprüfung gelingen kann, die oder gar alle Rechtsbestimmungen zu identifizieren, die im Sinne eines nicht-positivistischen Kriteriums keine Geltung beanspruchen können, weil sie extrem ungerecht sind.

Merkmale

objektiver

moralischer

Orteile

317

Erstens wird sich also der Nicht-Positivist dafür aussprechen, dass der Gesetzgeber sobald als möglich rückwirkende Gesetze im Sinne der Feststellung der Nichtigkeit extrem ungerechter früher positiv rechtlich geltender Bestimmungen erlässt." Dies erhöht die Rechtssicherheit der Opfer wie der Täter. Auch der Rechtspositivist kann sich dafür aussprechen. Darüber hinaus und zweitens wird der NichtPositivist dafür eintreten, dass die Gerichte die Radbruchsche Formel in den Fällen anwenden, in denen die Anerkennung der rechtlichen Geltung früherer rechtlicher Bestimmungen und Gerichtsurteile des Vorgängerregimes extrem ungerecht wäre, und dies, weil diese früher positiv-rechtlich geltenden Bestimmungen von Anfang an nichtig waren. Dem kann der Rechtspositivist nicht folgen. Da es dem Gesetzgeber aus den genannten Gründen nicht gelingen dürfte, alle früher positiv-rechtlich geltenden, aber extrem ungerechten Bestimmungen zu identifizieren und für die heutige rechtliche Beurteilung durch Gesetz als (wenigstens) unbeachtlich zu erklären, kann es für die nachträgliche Beurteilung der Strafbarkeit von Taten, die unter einem vor-rechtsstaatlichen Regime begangen wurden sowie für die rechtliche Anerkennung der Opfer eines solchen Regimes einen Unterschied machen, ob wir im Sinne Radbruchs eine nichtpositivistische Position oder aber eine rechtspositivistische Position vertreten.

8. IS/lerkmale objektiver moralischer Urteile im Sinne Radbruchs Die methodischen Grundannahmen der rechtsphilosophischen Hauptschriften Radbruchs und insbesondere der von ihm vertretene metaethische Relativismus sind weder mit den besonderen normativen und wertphilosophischen Behauptungen vereinbar, die sich an Weichenstellungen der Radbruchschen Analyse des Rechts und der Rechtsgeltung in den Hauptschriften finden,100 noch mit der Annahme, es gebe materiale Normen der Gerechtigkeit unbedingter Geltung, von deren Beachtung die Geltung des Rechts abhängt — einer Annahme, die für Radbruchs Nachkriegsschriften kennzeichnend ist. Ich habe vorgeschlagen, Radbruch die Position des moderaten Werteskeptikers zuzuschreiben. Dies ist ein revisionistischer Interpretationsvorschlag, weil Radbruch seine Position als

318

Merkmale

objektiver

moralischer

Urteile

relativistisch und nicht als skeptisch gekennzeichnet und seinen extremen (metaethischen) Relativismus auch in seinen Schriften nach 1933 nie explizit qualifiziert hat. 101 Insofern Radbruch die Geltung des Rechts stets als abhängig von den ethischen Einschätzungen der Rechtsadressaten verstanden hat, bedeutet die Einführung unbedingt gültiger moralischer Bedingungen der Geltung des Rechts aber keinen Bruch seines Rechtsverständnisses. Auf der Grundlage eines moderaten Werteskeptizismus und der Annahme eines rechtsmoralischen Minimalismus der Menschenrechte als Bedingung der Geltung jedweden positiven Rechts ließe sich eine Rechtsphilosophie mit erkennbar Radbruchschen Bausteinen entwickeln: Unterscheidung von Rechtswirklichkeitsbetrachtung, Rechtswertbetrachtung und wertbezogener Betrachtung des Rechts, teleologische Analyse des Rechts und einer für die jeweiligen Rechtsadressaten ethisch bedingten Pflicht zum Gesetzesgehorsam — wobei einige moralische Urteile über die moralischen Bedingungen der Geltung des Rechts objektive Gültigkeit beanspruchen. Als letzterem verpflichtet kann die Berufung auf Radbruch und dessen Unerträglichkeitsformel durch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu den Mauerschützen aufgefasst werden. Wie sind im Sinne Radbruchs, wenn wir ihm die Position eines moderaten Werteskeptikers zuschreiben, diese moralischen Bedingungen aufzufassen? Radbruch erkennt im Schutz eines Kernbereichs der Menschenrechte eine moralische Minimalbedingung der Geltung des Rechts. Radbruch schreibt dem Schutz der Menschenrechte einen das Recht legitimierenden Status zu, weil der Schutz der Menschenrechte Gewähr für den Schutz der individuellen Autonomie ist, die ihrerseits Voraussetzung für die ethische Pflicht zum Gesetzesgehorsam ist. 102 Die in Kapitel III vorgestellte Interpretation der überlebenden Pflicht, mit Blick auf heute tote Opfer symbolische Kompensation zu leisten, und anderer historischer Pflichten, wie ich sie in Kapitel V vorgestellt habe, setzen ebenfalls die objektive Gültigkeit bestimmter moralischer Urteile voraus. Diese Annahme kann eine im philosophischen Sinne liberale Position kennzeichnen, die ich nun genauer charakterisieren möchte. Die gemeinte liberale Position lässt sich zunächst durch drei Merkmale kennzeichnen. Erstens vertritt der Liberale die These des Wertindividualismus. Der gegenwärtige oder ein vorgestellter Zu-

Merkmale

objektiver

moralischer

Urteile

319

stand der Gesellschaft wird bewertet, indem die Qualität des Lebens, die dieser Zustand hervorbringt oder erhält, betrachtet wird. Was zählt, ist die Qualität des Lebens von Individuen. Kulturelle oder religiöse Gemeinschaften, Nationen oder Staaten sind Enütäten, die nur insofern Berücksichtigung finden, als Individuen Werte als Mitglieder dieser Gruppen realisieren. Radbruch weist mit Nachdruck die Position zurück, nach welcher Kollektivwerten höchster Rang zukommt, und vertritt zumindest mit Blick auf die Menschenrechte, die fundamentale Werte des Individuums schützen, die Auffassung, dass sie im Konfliktfalle unbedingten Vorrang vor den Ansprüchen von Gruppen als solchen genießen. 103 Wie in Kapitel IV.4 erläutert, ist diese Annahme Voraussetzung für eine normativ plausible Interpretation der (intrinsischen) Wertschätzung von Mitgliedschaft in Gruppen. Zweitens ist die hier gemeinte liberale Position dadurch gekennzeichnet, dass sie den Wertindividualismus für universell gültig hält. Der Status, die eigentlichen und letzten Entitäten zu sein, die Berücksichtigung finden sollten, kommt allen Menschen gleichermaßen zu. Menschen haben Eigenschaften, die sie dafür qualifizieren, in der einen oder anderen Gruppe Mitglied zu sein, etwa der Gruppe der Kaukasier, der Katholiken oder der Frauen, aber der Status einer Person, eigentliche und letzte Entität der Berücksichtigung zu sein, hängt nicht von der Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe ab. 104 Radbruch weist die Ungleichbehandlung aufgrund von Herkunft oder Geschlecht mit Nachdruck und als willkürlich zurück. 105 Drittens weist der Vertreter der hier gemeinten liberalen Position ein Kriterium für richtiges Handeln aus, für das es irrelevant ist, wer die Handlung ausführt: Die vergleichbare Bewertung der moralischen Qualität von zwei Zuständen der Welt variiert nicht von Person zu Person hinsichtlich der besonderen Lage, in der sie sich befinden mögen. Die Mitgliedschaft einer Person in einer bestimmten Gruppe kann keinen Unterschied machen, wenn die Frage ist, wie man Zustände in der Welt bewerten soll.106 Es wird also nicht nur der normative Relativismus, 107 sondern jedenfalls mit Blick auf einige moralische Urteile, welche grundlegende Ansprüche des Individuums betreffen, auch jede Form des metaethischen Relativismus, 108 welche die Gültigkeit moralischer Urteile für den Handelnden von der

320

Merkmale

objektiver

moralischer

Urteile

Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe abhängig macht, zurückgewiesen. Diese drei Merkmale für sich genommen können die liberale Position nur in einem schwachen Sinn charakterisieren. Denn viele Werttheorien sind mit den drei genannten Merkmalen kompatibel, und entsprechend viele Varianten dieser Position gibt es. Was die hier gemeinte, durch die drei genannten Merkmale charakterisierte Eberale Position von dem moralisch Handelnden verlangt, wird davon abhängen, mit Blick auf was und warum menschliches Leben als wertvoll erachtet wird und wie diese Werte zu messen sind. Das in Frage stehende Gut kann in subjektiven Begriffen verstanden werden. Folgten wir dieser Interpretation, ginge es uns um menschliches Glück, die Erfüllung von Wünschen, die Befriedigung von Präferenzen oder die Vermeidung von Schmerz.109 Alternativ kann das in Frage stehende Gut in objektiveren Begriffen erklärt werden. Ein Vertreter der charakterisierten Position könnte argumentieren, dass es uns um die Bedürfnisse von Menschen gehen sollte oder deren Fähigkeiten, ein gutes Leben führen zu können.110 Den Vertretern der genannten Position könnte es auch darum gehen, ob Menschen hinreichende Ressourcen111 oder primäre Güter112 zur Verfügung haben. Wieder andere Vertreter der Position ziehen eine Interpretation vor, gemäß welcher es uns um Menschenrechte gehen sollte: Wir sollten darum bemüht sein, dass die Grundrechte von niemandem verletzt werden oder dass es niemandem an Schutz vor solchen Verletzungen mangelt.113 Die Position, die Radbruch andeutet, versteht das Gut, dessen Schutz vorrangigen und objektiven Wert genießt, in diesem letzten Sinne, nämlich als einen durch fundamentale Rechte geschützten Autonomiebereich des Individuums. Selbst wenn man sich über den für Individuen relevanten Begriff des Guten einig ist, können Vertreter dieser Position immer noch darüber uneins sein, wie dieses Gut zu messen ist. Sollen wir die Zustände gemäß der Gesamtsumme des realisierten Gutes oder des Pro-Kopf-Durchschnitts messen? Alternativ könnten im hier gemeinten Sinne Liberale der Auffassung sein, worauf es wirklich ankomme, sei, wie es Menschen relativ zu anderen ergeht. Zum Beispiel könnte man der Auffassung sein, niemand solle schlechter als nötig gestellt werden. Auch Liberale, die den zu schützenden Wert im Sinne

Schlussbemerkung

321

fundamentaler Rechte von Individuen auffassen, benötigen einen Maßstab, der es ihnen erlaubt anzugeben, ob die Rechte so gut wie möglich geschützt wurden. Gibt es mehrere solche Rechte, und kann der Schutz des einen mit dem Schutz des anderen konfligieren, und ist es der Fall, dass der Schutz der Rechte einer oder einiger Personen mit dem Schutz der Rechte einer anderen Person oder anderer Personen konfligiert, so bedarf es eines Maßstabs, der es erlaubt, die moralisch richtige oder beste Handlung zu identifizieren. Offensichtlich ist dies keine vollständige Liste der möglichen Varianten der durch die drei genannten Merkmale charakterisierten Position. Nicht alle Varianten sind gleichermaßen plausibel. Für unsere Analysen wie auch für Radbruchs Verständnis der moralischen Minimalbedingungen der Geltung des Rechts ist es aber auch nicht nötig, eine der genannten Optionen (oder Kombination von Optionen) allen anderen vorzuziehen. Es reicht vielmehr hin, dass wir einige Handlungsgründe als dringendste Handlungsgründe im Sinne der liberalen Position auszeichnen. Verstehen wir diese Position im Sinne der liberalen Position, so darf niemand fundamentale Rechte von Menschen verletzen, jedenfalls dann nicht, wenn nicht der Schutz anderer ebenfalls durch gleich- oder höherrangige Menschenrechte geschützter Werte eine solche Verletzung erlaubt oder gar erfordert. Zu den dringendsten Handlungsgründen im Sinne des neutralen oder personen-invarianten Kriteriums richtigen Handelns zählt also, die Verletzung fundamentaler Rechte zu vermeiden. Die Radbruchsche Formel beruht auf diesem, objektive Gültigkeit beanspruchenden Urteil. Es dient ihm zur Kennzeichnung minimaler moralischer Bedingungen der Geltung rechtlicher Bestimmungen.

9. Schlussbemerkung Sowohl gemäß einer positivistischen als auch einer nicht-positivistischen Rechtsauffassung kann es rechtens sein, während oder nach einer Transition to Democracy Handlungen nachträglich strafrechtlich zu sanktionieren, die unter einem Vorgängerregime begangen wurden und zur Tatzeit positiv-rechtlich legal waren und womöglich positiv sanktioniert wurden. Allerdings unterscheiden sich die Auffassungen mit Blick auf die Interpretation der rechtlichen Voraussetzungen

322

Schlussbemerkung

solch nachträglicher Sanktionierung. Mit der allein zukunftsorientierten positivistischen Rechtsauffassung ist es vereinbar, positivrechtliche Bestimmungen, die früher Geltung hatten, für die heutige rechtliche Beurteilung unbeachtlich zu erklären. Dies setzt nicht voraus, dass wir die früheren Rechtsbestimmungen moralisch beurteilen. Die positivistische Rechtsauffassung ist auch mit extrem relativistischen und skeptischen Positionen zur Geltung moralischer Urteile vereinbar. Insofern besteht eine Parallele zu der Begründung der in Kapitel II analysierten Pflicht gegenwärtig lebender Menschen, denen Kompensation zu leisten, die gemäß einer Schwellenwertskonzeption der Schädigung sich heute in einem geschädigten Zustand befinden. Auch die Begründung dieser Pflicht kann allein zukunftsorientiert und unabhängig von historisch-moralischen Urteilen sein und ist mit extrem relativistischen und skeptischen Positionen zur Geltung moralischer Urteile vereinbar. Hingegen behauptet die nicht-positivistische Rechtsauffassung, die Gustav Radbruch in Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg exemplarisch vertreten hat, dass extrem ungerechte Bestimmungen, die positiv-rechtliche Geltung hatten, von Anfang an nichtig waren. Diese Rechtsauffassung beruht auf historisch-moralischen Urteilen, nach welchen Rechtsbestimmungen extrem ungerecht waren, und ist in diesem Sinne vergangenheitsorientiert. Sofern eine solche Auffassung die Beachtung und den Schutz der Menschenrechte durch das Recht als universelle moralische Minimalbedingung der Rechtsgeltung begreift, ist sie mit extrem relativistischen und skeptischen Positionen zur Geltung moralischer Urteile unvereinbar. Eine solche Auffassung beruht auf einem jedenfalls für die Begründung der moralischen Minimalbedingungen der Geltung des Rechts eingeschränkten oder moderaten Skeptizismus. Hier besteht eine Parallele zu den in Kapiteln III-V untersuchten generellen überlebenden Pflichten, insbesondere zu der überlebenden Pflicht, symbolische Kompensation mit Blick auf die Opfer historischen Unrechts zu leisten: Deren Begründung beruht unter anderem auf dem moralischen Urteil, dass früher lebende Menschen in ihren Rechten verletzt wurden. Gustav Radbruchs Nachkriegsposition begreift die Beachtung und den Schutz der fundamentalen liberalen Menschenrechte durch das Recht als Minimalbedingung der Legitimität des Rechts. Deshalb ist extrem ungerechtes Recht von Anfang an ungültig, sind die diesen

S

chlussbemerkung

323

Bestimmungen entsprechenden Handlungen Unrecht, die auf ihnen beruhenden Rechtsgeschäfte nichtig, und die Täter können sich auf das Rückwirkungsverbot nicht in dem Sinne berufen, dass sie nach geltendem Recht legal gehandelt haben. Eine solche nichtpositivistische Rechtsauffassung beruht in ihrer Begründung auf einer Version der in Kapitel II skizzierten liberalen (kosmopolitischen) Position. Diese versteht die Geltung der Grundansprüche von Individuen gegenüber allen anderen Menschen als unabhängig von deren jeweiligen besonderen Gruppenmitgliedschaften. Es handelt sich um universelle und generelle moralische Ansprüche, 114 die als moralische Rechtsansprüche aufgefasst werden, insofern sie zudem vorrangige Geltung beanspruchen können. Die Beachtung und der Schutz dieser Ansprüche durch das Recht sind im Sinne Radbruchs und gemäß nicht-positivistischer Rechtsauffassung transkulturelle und transtemporale Bedingungen der Geltung positiven Rechts. Erfüllen Rechtsbestimmungen, die zur Tatzeit positiv-rechtlich galten, die Bedingungen nicht, sind sie von Anfang an ungültig mit den genannten Rechtsfolgen. Ohne Berufung auf ein solches historisch-moralisches Urteil können auch gemäß positivistischer Rechtsauffassung die rechtlichen Voraussetzungen für die nachträgliche strafrechtliche Sanktionierung von Handlungen geschaffen werden, die zur Tatzeit positiv-rechtlich legal waren. Allerdings sind, wie gezeigt, die alternativen Interpretationen der Voraussetzungen solch nachträglicher Sanktionierung rechtspraktisch relevant. Die nicht-positivistische Interpretation erlaubt den zuständigen Gerichten die nachträgliche Sanktionierung auch dann, wenn der Gesetzgeber nicht tätig geworden ist und die fraglichen rechtlichen Bestimmungen für gesetzliches Unrecht erklärt hat.

324

Anmerkunge

Anmerkungen 1 Siehe Kritz 1995. 2 Gemeint ist: Gemäß Grundannahmen liberaler politischer Philosophie. Zur Charakterisierung dieser Position siehe Kap. IV. 4 und unten Kap. VI.8. 3 Siehe insbesondere Lyons 2004. 4 Zur Unterscheidung des normativen Relativismus von anderen Formen des ethischen Relativismus siehe Frankena 1963, S. 109 f.; Ilarman 1982; Rippe 1993, S. 211-14. In der analytischen Moralphilosophie wird die Diskussion um einige Aspekte des normativen Relativismus heute unter dem Namen "agent-relativity" und "particularism" fortgeführt. Siehe Dancy 1993, und Raz 1999. 5 Zur Position des Inclusive Legal Positivism siehe unten insbesondere N. 30 unten. 6 Radbruch 1987, „Rezension Leonard Nelson, System der philosophischen Rechtslehre und Politik (1924)", S. 537-41, 1252 p i e Seitenangaben auf Textstellen in der Radbruch-Gesamtausgabe beziehen sich nicht auf die Seiten der Bände der Gesamtausgabe, sondern auf die der Originalfassung, wenn diese Seitenangaben sich in der Gesamtausgabe in eckigen Klammern in der Kopfzeile (und im Text) finden. Wenn sich keine solchen Angaben finden, gebe ich die Seite aus der Gesamtausgabe an.) 7 Radbruch 1993, „Grundzüge der Rechtsphilosophie", S. 182. 8 Ebd., S. 83, „Rechtsphilosophie". Siehe auch Radbruch 1987, „Einführung in die Rechtswissenschaft", S. 34: Die Behauptung einer unbedingten ethischen Berufspflicht des Richters, „den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen" ist aber im Rahmen von Radbruchs Rechtsphilosophie nicht begründbar. Ott 1992, S. 42 f. ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass die Behauptung einer moralischen Pflicht des Richters zum Gesetzesgehorsam die Priorisierung der Rechtssicherheit als Wert voraussetzt. Radbruchs Relativismus schließt die Begründung einer wertphilosophischen Position und daher auch die Auszeichnung eines Wertes vor anderen in diesem Sinne aus. Siehe auch Radbruch 1987, „Rechtsphilosophie und Rechtspraxis", S. 495-99, 3738: „Auch wenn man sich nicht entschließen könnte, solche inhaltlich bestimmten überpositiven Naturrechtssätze anzuerkennen (gemeint ist: die „Treupflicht" jedes Bürgers gegenüber „seinem Vaterlande und Volke" (ebd.)) - ohne ein Minimum an Naturrecht ist Rechtsphilosophie überhaupt unmöglich: gerade auch eine positivistische Rechtsphilosophie bedarf eben für die Geltung des positiven Rechts eines überpositiven, also naturrechtlichen Stützpunktes, einer Grundnorm, wäre sie auch nur die naturrechtliche Sanktion der tatsächlichen Macht nach der Art des Paulusworts (Römer 13, 1): ,Ein jeder sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.'" Auf eine naturrechtliche Begründung dieser Art kann sich Radbruch nur durch Preisgabe der Grundannahmen seiner Rechtsphilosophie berufen. Seine „Rezension von Leonard Nelson. System der philosophischen Rechtslehre und Politik" (Radbruch 1987) ist in dieser Hinsicht interessant,

Anmerkungen

9 10

11 12

13

325

auch weil Radbruch hier für den durch Beruf und Pjid verpflichteten Juristen (Radbruch erwähnt weder Richter noch Bürger) sagt: Im Falle eines ungerechten positiven Rechts werde die Philosophie „eine vielleicht gar nicht allgemein gültig lösbare, nur im Einzelfalle durch das Gewissen zu entscheidende Kollision zweier Werte (der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit) festzustellen haben." Radbruch 1987, S. 1252. Radbruch 1993, S. 179. Radbruch 1987, „Einführung in die Rechtswissenschaft", S. 13. Siehe auch ebd., S. 32-35; Radbruch 1993, „Rechtsphilosophie", S. 82-84, Radbruch 1987, „Rezension Leonard Nelson", S. 1252, Radbruch 1990, „Rezension Hans Nef, Recht und Moral seit Kant", S. 320: „Die Gegenüberstellung von Recht und Moral nahm, bei Kant und vor ihm bei Thomasius, ihren Anfang, als das autonome Gewissen sich aus der Umklammerung des Polizeistaates zu entwinden strebte; die Gegenüberstellung wird jetzt wieder in Frage gestellt, weil eine Form des totalen Staates auch die Beherrschung des Gewissens fordert." Ebd., S. 121-227,35. Ebd., S. 83-93, 107. Zur Diskussion der Unerträglichkeitsthesc siehe Saliger 1995, insbesondere S. 4 f., 17 f. Zur Verwendung in der Rechtsprechung zum NS-Unrecht siehe Schumacher 1985, S. 69-102. In den Mauerschützenprozessen stützen sich der BGH und das BVerfG ausdrücklich auf die Radbruchsche Formel (siehe BGHSt 39, 1, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141, 144, und BVerfG C. II. lb, Juristen-Zeitung 1997, 142, 144). Zur Kritik dieser Rechtsprechung siehe Alexy 1993; Dreier 1995, S. 28-34; Dreier 1997, S. 421-34; Kaufmann 1995. Siehe auch N. 30 unten. Das naturrechtliche Argument für diese Behauptung findet sich schon bei Thomas von Aquin 1964, Frage 96, 4. Siehe auch Fragen 95, 2, und 90, 4. Für eine einflussreiche Rekonstruktion siehe Finnis 1980, S. 354-66, und ders., 1998, S. 266-74. Die Behauptung sollte nicht so interpretiert werden, dass die Ungerechtigkeit einer Regel die rechtliche Geltung der Regel notwendigerweise und immer zunichte macht. Jedenfalls ist diese Interpretation, empirisch verstanden, nicht haltbar, worauf schon Austin 1995, Lecture 5, S. 158 hinweist: ungerechte Regeln wurden und werden als rechtlich verbindliche Regeln anerkannt und auch durchgesetzt. Normativ verstanden bedeutet die Behauptung, dass ungerechte Regeln keine Rechtsgeltung haben sollen und dass sie die Rechtsadressaten nicht moralisch binden können, auch wenn sie rechtliche Verbindlichkeit gewinnen sollten. Analog kann die Behauptung empirisch richtig sein, bestimmte Grundsätze, etwa die Menschenrechte, seien überpositiv begründet und zugleich positives Recht in dem Sinne, dass die Rechtsorgane sie anerkennen und durchsetzen. Die Behauptung jedoch, die Rechtsorgane sollten bestimmte Grundsätze anerkennen und durchsetzen, als wären sie positives Recht, und zwar, weil diese Grundsätze überpositiv gültig sind, ist eine normative Forderung, deren Gültigkeit nicht von der Richtigkeit

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Anmerkungen

der empirischen Behauptung abhängt. Siehe auch Koller, 1982, S. 355-57; MacCormick 1992; Finnis 1996, S. 203-05. 14 Radbruch 1990, „Vorschule der Rechtsphilosophie", S. 33. 15 Radbruch 1990, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht", S. 107. Für die Parallelstelle in „Rechtsphilosophie" siehe Radbruch 1993, S. 255 f. Die Auffassung, Recht sei als ein teleologischer Begriff aufzufassen, d. h. Recht als Begriff (oder Institution) lasse sich nur unter Berücksichtigung seines letzten Zieles verstehen, nämlich der Gerechtigkeit oder bestimmter sozialer moralischer Minimalforderungen, kennzeichnet moderne Vertreter des Naturrechts. Hierzu siehe Bix 2002, Teil ii; Fuller 1958; ders. 1969, S. 96, 106; Dworkin 1986, S. 52, 225-28, 254-58; Finnis 1980, S. 14 f.; ders. 1998, S. 257 f.; und für eine Diskussion der Position von Finnis siehe Waldron 2000. 16 Radbruch 1990, „Vorschule der Rechtsphilosophie", S. 33. Saliger 1995, insbesondere S. 4 f., 19-21, diskutiert diese Behauptung als die Radbruchsche Verlcugnungsthese. Die Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht ist kategorial. Siehe auch Dreier und Paulson 1999, S. 467, die daraufhinweisen, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht „systematisch in die Lehre vom Rechtsbegriff', die Abgrenzung von unrichtigem Recht und gesetzlichem Unrecht aber „systematisch in die Lehre von der Rechtsgeltung" gehöre. Siehe Radbruch 1990, „Vorschule der Rechtsphilosophie", S. 33 und 35. Müller 1994, S. 187 f., weist darauf hin, dass die Hauptvertreter der Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus und insbesondere Stammler in 1906, die Position vertreten haben, die bewusste Leugnung rechtsethischer Prinzipien lasse die Verbindlichkeit des Rechts entfallen, nicht aber die Rechtsnatur. Stammler stimmt also mit der Verleugnungsthese Radbruchs im Sinne einer kategorialen Unterscheidung von Recht und NichtRecht nicht überein, vertritt aber eine Unerträglichkeitsthese. 17 Radbruchs Gebrauch von „gesetzlichem Unrecht" ist nicht einheitlich. In Radbruch 1990, „Gesetz und Recht", S. 96-106, 6 bezeichnet er als „gesetzliches Unrecht", was er andernorts „Nicht-Recht" nennt. Ich werde im Weiteren von „gesetzlichem Unrecht" sprechen, wenn positivem Recht die Geltung, und von „Nicht-Recht", wenn Anordnungen der Rechtscharaktcr aberkannt wird. Positives Recht kann „unrichtig" sein, „unrichtiges Recht" sein, ohne dass es deshalb seine Geltung einbüßte. 18 Radbruch 1993, „Rechtsphilosophie", S. 11 f. Radbruchs Fußnote nach dem ersten Ilalbsatz des zitierten Texts lautet: „oder Problematizismus; so Windelband 1914, S. 219", eine weitere am Ende: „Der beste Beweis dafür Max Webers große ethische Persönlichkeit!" 19 Radbruch 1990, „Der Relativismus in der Rechtsphilosophie", S. 17. 20 Der metacthische Relativismus ist konstitutives „Bauglied" von Radbruchs rechtsphilosophischem System. Für Radbruchs Auffassung der Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft ist der mctacthische Relativismus von entscheidender Bedeutung und Radbruch sieht den Relativismus gestützt durch einen Methodendualismus im Sinne Webers. Hierzu siehe Meyer 2002a, S. 331 f.

Anmerkungen

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Anders als Radbruch vermeidet Weber die Charakterisierung seiner Position als relativistisch. In der Sache ist sein Einfluss auf Radbruchs Relativismus unverkennbar. Siehe Weber 1922; ders. 1964; ders. 1922a; ders. 1922b. Eine präzise Rekonstruktion und äußerst hilfreiche Diskussion der Entwicklung der Weberschen Position zur Werturteilsfreiheit und der Kritik an dieser Lehre finden sich in Keuth 1989. Für den historischen und philosophischen Kontext, in dem Weber seine Position entwickelt, siehe die Studien von Schluchter 1996; ders. 1996a. Für seinen Relativismus hat sich Radbruch auch nach 1945 auf Weber berufen. In einem 1947 verfassten Nachwort-Entwurf zu seiner „Rechtsphilosophie" (3. Auflage) schreibt Radbruch 1999, S. 207: „Max Weber ... hat dieser Rechtsphilosophie (der Sache, nicht dem Wort nach) die Grundidee des Relativismus geliefert, die wissenschafdiche Unentscheidbarkeit von Wertfragen, das Stehenbleiben bei der systematischen Entwicklung der möglichen Wertstandpunkte, somit ihrer vollen Bewusstmachung durch die Feststellung der gebotenen praktischen Verwirklichungsmittel und der notwendig postulierten theoretischen Voraussetzungen." Siehe Koller 1982, S. 342-44. Siehe Meyer 2002a, S. 333 f. Siehe oben Kap.VI.3, N. 6-8. In Radbruch 1990, „Der Relativismus in der Rechtsphilosophie", S. 1722, scheint Radbruch die Auffassung zu vertreten, dass sich aus dem (metaethischen) Relativismus substantielle normative Forderungen an die Rechts- und Gesellschaftsordnung ableiten lassen: „Wir haben aus dem Relativismus selbst absolute Folgerungen abgeleitet, nämlich die überlieferten Forderungen des klassischen Naturrechts ...: Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Volkssouveränität." (Ebd., S. 22) In seiner Diskussion der Radbruchschen Rechtsphilosophie betont Chroust 1944, S. 28, dass es eine Grundüberzeugung Radbruchs sei, dass "logical Relativism - and not rational Absolutism - forms the truly philosophical basis of a working democracy." Hassemer 1990, S. 12 weist zu Recht daraufhin, dass Radbruch im genannten Aufsatz über das „politische Ethos des Relativismus" handele und nicht über die Methode der Ableitung von normativen Mindestanforderungen an das Recht. Radbruch hat die Möglichkeit einer solchen Ableitung aus dem Relativismus in seinen Nachkricgsschriften nicht behauptet, wie Schumachcr 1985, S. 12, feststellt, sondern bemüht sich um eine philosophische Begründung des Schutzes der Menschenrechte als das Recht legitimierende Mindestanforderung (siehe Meyer 2002a, S. 333 f.) und ordnet Demokratie, formal verstanden, dem Gedanken des Rechtsstaats unter. Dass sich aus dem metaethischcn Relativismus Toleranz oder andere Normen zum Umgang mit Menschen, die die eigenen moralischen Überzeugungen nicht teilen, nicht ableiten lassen, zeigen z.B. Alexy 1992, S. 92-97; Raz 1994, S. 84-87; Graham 1996; Harrison 1982 und Wilhams 1973, S. 22. Wong 1984 gelingt nicht der Nachweis der Ableitbarkeit der Toleranz

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Anmerkungen

aus dem metaethischen Relativismus, sondern er zeigt, dass der metaethische Relativismus mit normativen Prinzipien vereinbar sein kann, die Toleranz gebieten. Siehe Meyer 2002a, S. 335-37. Siehe oben Kap.VI.3 und insbesondere auch N. 11-17 und Text. Kaufmann 1921, S. 10 und vgl. 22. Die Radbruch im übrigen z.B. mit Kelsen teilt: Auch Kelsen meint, moralische und politische Konsequenzen aus dem Relativismus ableiten zu können, und hält den Relativismus für „die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt." Siehe Kelsen 1925, S. 369-71, Zitat auf Seite 370; ders. 1929, S. 100-03, Zitat auf Seite 101; ders. 1953, S. 40-42; siehe auch ders. 1985, insbesondere S. 373-76. Siehe die zahlreichen Beiträge aus den 40er und 50er Jahren in Maihofer 1962, die Radbruchs Nachkriegsschriftcn im Sinne der Überwindung des Rcchtspositivismus und einer Erneuerung des Naturrechts interpretieren. Siehe auch Kühl 1990, S. 336-38 und 346-48; Kaufmann, 1987, S. 84 f.; ders., 1972, S. 12-17; ders. 1984, S. 41 f.; Engisch 1968, S. 66 f.; Baratta 1959, S. 521 f.; Dreier 1997, S. 202-06; Alexy 1992, S. 92-97, 186-94. Die Behauptung Radbruchs, der Nichtwiderspruch zu den Menschenrechten sei legitimierender Grund allen Rechts, entspricht der Grundintention des Naturrcchts im Sinne der Interpretation Höffes 1982, S. 305: Das Naturrechtsdenken entspringt „einem normativ-kritischen Impuls. Es wendet sich gegen die Vorstellung, der Verfassungs- und Gesetzgeber dürfte jede behebige Bestimmung in den Rang geltenden Rechts erheben. ... Das Naturrecht ... behauptet, dass es überpositive Grundsätze gibt, die jeder menschlichen Verfügung entzogen sind. Sie sind deshalb ... vorgängig zu jeder gegebenen Rechtsordnung gültig und stellen für diese einen allgemein und unbedingt geltenden Maßstab dar." Radbruchs Behauptung, ein solcher Maßstab ließe sich aus den Menschenrechten gewinnen, geht weit über die von ihm vertretene wertbezogene Betrachtung des Rechts hinaus (siehe Meyer 2002a, S. 331-33). Dass moralische Kriterien - hier die Menschenrechte — bei der Beurteilung der rechtlichen Geltung von Regeln berücksichtigt werden müssen, ist auch mit einem schwachen Rechtspositivismus nicht vereinbar. Letzterer behauptet mit Blick auf die Rechtsgeltung von Normen, moralische Bewertung müsse nicht Bestandteil der Prüfung der rechtlichen Geltung von Normen sein, könne es aber in bestimmten Rechtssystemen, nämlich dann, wenn das Rechtssystem eine Regel enthält, nach wclchcr die moralische Gültigkeit einer Regel notwendige oder hinreichende Bedingung der rechtlichcn Geltung der Regel ist. Letztere Behauptung ist charakteristisch für die Position, die in der englischsprachigen Literatur als Inclusive Inegal Positivism diskutiert wird (oder auch als "soft positivism", siehe Hart 1997, S. 250); Exclusive Inegal Positivism bezeichnet die Position, nach welcher die moralische Gültigkeit einer Norm kein Kriterium ihrer rechtlichen Geltung sein kann (siehe Coleman 1998, S. 413-20; ders.

Anmerkungen

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2000, S. 173-76; ders. 2001, Kap. 8; für eine Kritik des Inclusive Inegal Positivism siehe Finnis 2000, S. 1603-11). Zu Formen des schwachen Rechtspositivismus siehe auch Höffe 1987, S. 126 f., 171-75; Koller 1982, S. 338 f. Ob die Berufung des BGII und des BVerfG auf die Radbruchsche Unerträglichkcitsformel in den Mauerschützenprozessen (siehe N. 12 oben) im Sinne eines (schwachen) Rechtspositivismus aufgefasst werden kann, ist umstritten. Siehe Dreier 1997, S. 424-28, und Kaufmann 1995, S. 85 f. 15s seien drei alternative Deutungen von Radbruchs Berufung auf das Naturbzw. Vcrnunftrecht erwähnt. Gemäß der ersten Interpretation äußert sich Radbruch im Sinne der „Klärung einer einzelnen rechtsphilosophischen Stellungnahme", nämlich als Vertreter einer der Wertpositionen, die er für mit der Rechtsidee vereinbar hält. Kr beruft sich auf das Naturrecht, weil seiner Auffassung nach das Naturrecht der Aufklärung (das Vcrnunftrecht) für die wertindividualistische Position stehen kann. Siehe Radbruch 1993, „Rechtsphilosophie", S. 25. Gemäß der zweiten Interpretation ist Radbruchs Berufung auf das Naturrecht als eine politische Äußerung in rcchtsphilosophischer Verkleidung zu verstehen. Radbruch meint in „Einführung in die Rechtswissenschaft" 1987, S. 22 f., „das 18. Jahrhundert (habe) unter der falschen Fahne des ewig und überall gültigen Naturrechts seine rechtspolitischen Forderungen zum Siege geführt." Seine Berufung auf das Naturrecht nach dem Zweiten Weltkrieg wäre dann eine rechtsphilosophisch nicht ernstzunehmende politische Stellungnahme. Siehe auch die Interpretation Neumanns 1993, S. 74 f., 77-79. Schließlich plädiert nicht zuletzt Paulson 1995, S. 493 f. dafür, in Radbruchs "post-War insistence that the judge must choose justice in cases of truly extreme conflict between statute and justice", die Korrektur eines Fehlers seiner Position in den vor 1933 veröffentlichten Hauptschriften zu erkennen, "namely, the assignment of a disproportionate weight to legal certainty at the expense of justice". (Siehe auch Dreier und Paulson 1999, S. 467.) Paulson ist der Auffassung, dass diese Korrektur mit den Mitteln der Radbruchschen Rechtsphilosophie von vor 1933 vollzogen werden kann. 31 Für die Charakterisierung dieses moderaten oder schwachen metaethischen Relativismus siehe Brandt 1959, S. 274 f. 32 Siehe Raz 1994, S. 90-93; Sturgeon 1994, S. 81-84. 33 Allerdings ist die Unterscheidung zwischen konscquentialistischen und dcontologischen Gründen für richtiges Handeln eine schwierige. Vielleicht lässt sie sich am ehesten so fassen: Das Kriterium richtigen Handelns für den Dcontologen schließt andere Gründe als die Güte des Ergebnisses der Handlung ein, und diese Gründe können Priorität genießen, während für das konscquentialistische Kriterium richtigen Handelns allein die Güte des Ergebnisses der Handlung zählt. Für eine hilfreiche Diskussion alternativer Definitionen der Unterscheidung, siehe die in Kap. III, N. 65 genannte Literatur. 34 Siehe Raz 1994, S. 92.

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Anmerkungen

35 Zur Unterscheidung des normativen Relativismus von anderen Formen des ethischen Relativismus siehe Hinweise in N. 4 oben. 36 Die von Radbruch angedeuteten Argumente untersuche ich in Mcycr 2002a, S. 333-37. Siehe auch N. 102 unten. 37 Siehe Radbruch 1998, „Der Überzeugungsverbrecher (1924)", S. 126-30; ders. 1998, „Der Überzeugungsverbrecher (1926)", S. 131-33; ders. 1998, „Über die Frage zum Überzeugungstäter" (1926), S. 134-83; ders. 1998, „Über die Frage zum Überzeugungstäter", S. 234-36; siehe auch ders. 1998, „Autoritäres oder soziales Strafrecht?" (1933); ders. 1990, „Vorschule der Rechtsphilosophie", S. 27 f. Radbruchs Argument zugunsten einer den Überzeugungstäter privilegierenden Sonderstrafe kann grob wie folgt skizziert werden: (a) Radbruchs „Relativismus" impliziert, dass die Sollenssätze, auf denen die Rechtsnormen beruhen, unbeweisbar sind. Was die Verpflichtung zum Gesetzesgehorsam angeht, finden sich die staatlichen Instanzen und die einzelnen Bürger in einer Situation unvollkommener moralischer Information. Für wenigstens einige Gesetze gilt, dass niemand für sich beanspruchen kann zu wissen, ob der einzelne Bürger ethisch verpflichtet ist, die Norm zu befolgen, (b) Unter dieser Bedingung hat, so Radbruch, nur die Person Grund, so zu handeln, als ob es eine ethische Pflicht zur Befolgung der rechtlichen Norm gibt, die die fragliche Norm für sich selber anerkennt, (c) Ethisch (oder, wie es dann auch heißt, „sittlich") missbilligen können wir nur eine Person, die eine von ihr selbst anerkannte Norm verletzt. Der Überzeugungstäter verletzt eine rechtliche Norm, die er nicht anerkennt, und kann daher auch nicht ethisch oder sittlich für ihre Verletzung missbilligt werden, (d) Staatliche Strafe kann eine sittliche Missbilligung der Tat und des Täters implizieren. Der Staat kann den Überzeugungstäter nur bestrafen, wenn die Strafe eine sittliche Missbilligung des Täters nicht impliziert. Wenn die übliche Strafe, also die Strafe des gemeinen Verbrechers, eine sittliche Missbilligung impliziert, bedarf es für den Überzeugungstäter, soll er bestraft werden, einer Sonderstrafe, die sittliche Missbilligung ausschließt. Behauptung (b) und Behauptungen (b)-(d) sind mit der skeptischen bzw. „relativistischen" Position (a) kompatibel. Siehe auch die hilfreiche Diskussion in Noll 1966, S. 643-56. 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Für das vollständige Zitat siehe oben N. 18. Dazu Meyer 2002a, S. 326-27. Siehe ebd. Vgl. oben Kap. VI.3 und Meyer 2002a, S. 333-37. Siehe oben N. 22-24. Art. 315 Abs. 1 EGStGB (BGBl. II 1990, S. 885 (955)) i. V. m. § 2 Abs. 1 StGB. Gemäß der Meistbegünstigungsklausel § 2 Abs. 3 StGB. § 112 und 113 DDR-StGB. § 17 Abs. 2 lit. a VoPoG vom 11. Juni 1968 (DDR-GB1. I 232); § 27 Abs. 2 Satz 1 DDR-GrenzG vom 25. März 1982 (DDR-GB1. I 197). § 213 DDR-StGB.

Anmerkungen

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47 Zitiert nach BVerfGE, 95, 96 (Entscheidung vom 24. Oktober 1996), S. 106. Siehe auch ebd. für Auszüge der Dienstverordnung DV-30/10 aus dem Jahre 1967. 48 Zu diesen Urteilen zählen: LG Berlin vom 20. Januar 1992, Juristen-Zeitung 1992, 691-96, zum Teil revidiert durch BGH vom 25. 3. 1993, Neue juristische Wochenschrift 1993, 1932-38; LG Berlin vom 5. Februar 1992, Neue Zeitschriftfür Straftrecht 1992, 492-95, bestätigt durch BGH vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141-49 (alle zehn einschlägigen BGH-Urteile bis 1995 listen Dannecker und Stoffers, 1996, S. 490, Fn. 3 auf); LG Berlin vom 16. September 1993, NJ 1994, 210-14, bestätigt durch BGH vom 26. Juli 1994, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 2708-811. Verfassungsbeschwerden gegen das letztgenannte und ein weiteres Urteil des LG Berlin und ihre Bestätigungen durch den BGH entschied das BVerfGE, 95, 96. 49 Ebd., insbesondere S. 132 f. Bei aller Kritik an Unklarheiten des Urteils können Vertreter der Radbruchschen Position (z.B. Alexy 1997, S. 26-35), und Rechtspositivisten (z.B. Dreier 1997, S. 428) darin übereinstimmen, dass das Urteil von der Auffassung getragen ist, dass die Anwendung der Radbruchschen Formel auf Strafrechtsnormen verfassungsgemäß ist, nicht im Widerspruch zum Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes steht und mit Blick auf die Mauerschützen zum Firgebnis hat, dass eine positiv-rechtlich geltende DDR-Bestimmung, die ihr Verhalten rechtfertigte, nichtig ist und die Handlungen der Mauerschützen strafbar sein können. Damit geht das BVerfG über seine bisherige Rechtsprechung und auch die Urteile des BGH zum Nazi-Unrecht weit hinaus. Während das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Nazi-Unrecht, in denen die Radbruchsche Formel einflussreich oder tragend ist, diese nicht auf Strafrechtsnormen bezieht, bleibt in den Urteilen der Strafsenate des BGH die Vereinbarkeit der Anwendung der Radbruchschen Formel mit dem Rückwirkungsverbot unberücksichtigt. Siehe Schumacher 1985, S. 71-102. Zum Einfluss der Auffassung, die Strafbarkeit von NS-Unrecht scheitere am Rückwirkungsverbot siehe Laage 1989, S. 426-29, 432. 50 Ott 1992, Erster Teil „Arten und Begriff des Rechtspositivismus". 51 LG Berlin vom 5. Februar 1992. Für eine Kritik siehe Alexy 1993, S. 10 f.; ders. 1997, S. 5-8, 32-5. 52 Alexy 1993, S. 11 f. 53 BGH vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141-49, S. 144. 54 Siehe die ebd., S. 143, referierten „Gemeinsamen Standpunkte" des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts der DDR. DDRRechtswissenschafder haben die Position verteidigt, dass das Schießen an der Grenze grundsätzlich gerechtfertigt war. Dazu siehe Alexy 1993, S. 12; siehe auch ders. 1993a, S. 211 (zur Rolle der Rechtswissenschaftler). 55 Siehe Jakobs 1994, S. 5-7. 56 Siehe ebd., S. 15 f.; Michael Pawlik 1994, insbesondere S. 114 f.

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Anmerkungen

57 Der BGH behauptet letzteres in BGH vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141-49, 145-46. 58 Aber siehe unten zur rcchtsstaatlichen Auslegung des DDR-Rechts. 59 Siehe N. 66 unten. 60 Alexy 1993, S. 14 f. 61 Ebd., S. 15-22. Ferner fragt Alexy, ob dem in innerstaatliches Recht inkorporierten IPBPR, wenn er mit dem Grenzgesetz unvereinbar gewesen wäre, nicht durch ein späteres Gesetz wie dem Grenzgesetz die Geltung wieder entzogen worden wäre (ebd., S. 20). Siehe auch Amelung 1993, S. 641; Dreier 1997, S. 425 f. 62 Z.B. Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG (zur Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft der Verfolgten, denen vom Nazi-Regime die Staatsangehörigkeit entzogen wurde). BVerfGE 23, 98 (Entscheidung vom 14. Februar 1968) nimmt eine ex nunc Nichtigkeit an; aber siehe BVerfGE 54, 53 (Entscheidung vom 15. April 1980). 63 Z.B. Art. 17 und 18 des I iinigungsvertrags sehen die Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsregimes vor und das Recht, für durch ein Strafgericht der Deutschen Demokratischen Republik Verurteilte eine gerichtliche Kassation rechtskräftiger Entscheidungen herbeizuführen. Siehe Saliger 1995, S. 44-50, 54-78. 64 Z.B. die Regelungen im F'inigungsvertrag zur Rückübertragung von Vermögen, in der Regel Haus- und Grundbesitz, der in der DDR verstaatlicht wurde. 65 Alexy 1997, S. 23 f.; siehe ders. 1994, S. 91 f. (strikt geltende Regel) und siehe auch S. 75-92 (zum Unterschied von Regeln und Prinzipien; letztere erlauben, ersterc verbieten Abwägungen). 66 Die Formulierung „gesetzlich bestimmt" des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz legt nahe, dass Vorschriften, etwa Dienstvorschriften wie die in N. 47 genannte, nicht Element dieser Ordnung sein können. Dieser Auffassung widerspricht der BGHSt 41, 101, S. 103 f. Gesetz und Dienstvorschrift seien in einem vor-rechtsstaatlichen Regime gleichwertig zu behandeln. Die gegenteilige Auffassung beruht auf einer Unterscheidung, die in einem gewaltenteiligen Rechtsstaat Sinn ergebe, nicht aber in einem Regime wie der DDR. Deshalb kann auch die in N. 47 genannte Dienstvorschrift eine im Sinne des Rückwirkungsverbots des Grundgesetzes relevante Rechtsbestimmung sein. Siehe Dannecker und Stoffers 1996, S. 491. Zur Position des BVerfG hierzu siehe Alexy 1997, S. 34 f. Siehe auch N. 93 unten. 67 Jakobs 1994, S. 17 f., spricht sich gegen eine Ausnahmeklausel zum Rückwirkungsverbot aus, weil es für die dann mögliche Bestrafung z.B. der Mauerschützen keinen rechtsstaatlich begründbaren Strafzweck gäbe. Dies ist auch die Auffassung von Schlink 1994, S. 437. Becker 1992, S. 20 erkennt in rückwirkenden Gesetzen den Versuch, den Rechtsstaat als „Mittel für Rache am politischen Systemfeind" zu benutzen.

Anmerkungen

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68 Prominent im Urteil des BGH vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141-49, S. 146 f.. Diese Auffassung ist auch in Urteilen zu DDR-Wahlfälschung und -Rechtsbeugung einflussreich. Dazu siehe Schlink 1994, S. 434 f. (Fn. 14 und 15). 69 Das Argument unterstützen Lüderssen 1992, S. 59-67; Dreier 1995, S. 30-36; Schünemann 1996, S. 111-16. Kritisch Günther 1993, S. 21-3; Dreier 1997, S. 426 f. 70 LG Berlin vom 5. Februar 1992. 71 Gabriel 1999, Fn. 81, 87 und 88. 72 LG Berlin vom 5. F'ebruar 1992. 73 Siehe z.B. ebd. und BGH vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993,141-49, S. 147. 74 Siehe z.B. LG Berlin vom 20. ]anuar 1992. 75 Schlink 1994, S. 434-36; Jakobs 1994, S. 15 f.; Pawlik 1994, insbesondere S. 114 f. 76 Jakobs 1994, S. 7-10, insbesondere S. 9: „Unrcchtsstaatcn werden verharmlost, wenn man sie so behandelt, als seien sie nur falsch verwaltete Rechtsstaaten, als gäbe es also in ihnen Rechte, deren Realisierung nur an faktischen Hindernissen scheiterte. Die Lage war viel schlimmer! ... ,DDR', das war nicht eine freiheitliche Gesellschaft im real-sozialistischen Gewand, sondern das war bereichsweise unfreiheitlich bis in die Rechtslage hinein. Das ganze Ausmaß dessen, was geschehen ist, nennt nur beim Wort, wer feststellt, die Taten seien nicht einmal strafbar gewesen." Siehe auch Pawlik 1994, S. 113-15. 77 Siehe Jakobs 1994, Pawlik 1994, Pieroth 1992, S. 95-99, insbesondere S. 97 f. 78 Alcxy hat zunächst (Alexy 1993, S. 35 f.) eine restriktive Auslegung des Rückwirkungsverbots im Sinne des BGH Urteils unterstützt, diese dann aber ausdrücklich aufgegeben (in Alexy 1997). F,r argumentiert, dass der Konflikt mit dem Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes nur durch eine durch das BVerfG oder den Gesetzgeber zu ergänzende Ausnahmeklausel auszuräumen ist (ebd., S. 19-26). 79 BGFI vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141-49, S. 144 und 148. 80 Siehe z.B. Schlink 1994, S. 435 f. 81 BGH vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141-49, S. 148: „Es ist keine Willkür, wenn der Angeklagte, was die Rechtswidrigkeit seines Tuns angeht, so beurteilt wird, wie er bei richtiger Auslegung des DDR-Rechts schon zur Tatzeit hätte behandelt werden müssen." 82 Am deutlichsten LG Berlin vom 20. Januar 1992Juristen-Zeitung 1992, 691-96, S. 692-93. Siehe auch BGFI vom 3. November 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 141-49, 144; BVerfGE, 95, 96, 132 f. und siehe dazu N. 49 oben. Die Formulierungen des Urteils lassen indes Zweifel an dieser Interpretation zu. In der Literatur ist umstritten, ob das DDR-Grenzgesetz im Sinne der Radbruchschen Formel extrem ungerecht ist: Dafür z.B. Hruschka

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Anmerkungen

1992 S. 667 f. (Hruschka bezieht sich auf das Urteil des LG Berlin vom 20. Januar 1992); Alexy 1993, S. 28-30; dagegen z.B. Arnold und Kühl 1992, S. 995; Dreier 1993, S. 65-68. 83 Siehe N. 44 oben. 84 Radbruch 1990, „Die Erneuerung des Rechts", S. 107-14, 9. Dies ist auch die Auffassung von Fuller 1958, S. 661, und Hart 1983, S. 76 f. 85 Nachdrücklich (aus rechtspositivistischer Sicht) auch Dreier 1997, insbesondere S. 432-34. Siehe auch Dreier 1992, S. 137 f. 86 LG Berlin vom 20. Januar 1992. 87 LG Berlin vom 5. Februar 1992. Zur Diskussion siehe N. 82 oben. 88 Siehe Kaufmann 1995, insbesondere S. 85: „Es liegt aber nicht immer so, dass durch die Nichtigkeitserklärung gesetzlichen Unrechts keine Lücken entstehen." Dass durch die Nichtigkeit von rechtlichen Bestimmungen Lücken entstehen können, ist unzweifelhaft. Zu Rcchtslücken siehe auch Endicott 2003, Kap. 6. Zu einer anderen Einschätzung der Implikationen der Nichtigkeit siehe Jakobs 1994, S. 11 f. und Dreier 1997, S. 428 f., die bestreiten, dass der Widerspruch einer Norm zum Naturrecht die Nichtigkeit der Norm nach sich zieht; vielmehr weise, so Dreier, der Widerspruch darauf hin, dass die Norm schlechtes Recht ist, das durch den Gesetzgeber abzuändern ist, dessen Befolgung eine Strafbarkeit aber nicht nach sich ziehe; ähnlich Jakobs, der die Auffassung vertritt, dass ein „normatives Vakuum entsteht, wenn die Teilbestimmung einer Norm, z.B. eine Rechtfertigung vorsätzlicher Tötung, wie sie sich im DDR-Grenzgesetz findet, dem Naturrecht widerspricht; denn die Geltung der veränderten Norm hänge von einer gesetzgeberischen Entscheidung ab." 89 Alexy 1997, S. 28-30, vertritt die Auffassung, dass im Falle der Mauerschützen keine Lücke entsteht. Durch die Nichtigkeit einer Bestimmung des DDRGrenzgesetzes entfällt ein Rechtfertigungsgrund für vorsätzliche Tötung, die zur Tatzeit nach Paragraph 112, 113 DDR-StGB strafbar ist. Folgen wir dieser Auffassung, bedarf es für die Feststellung der Strafbarkeit der Mauerschützen weder rückwirkender Gesetze noch der „richtigen" Auslegung des DDR-Rechts. 90 BVerfGE, 95, 96, S. 132 f. 91 Alexy 1997, S. 23 f. weist d a r a u f h i n , dass die Begründung der Ausnahme auf einer Abwägung beruht, nämlich der Abwägung der Werte der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, im Ergebnis aber das Rückwirkungsverbot zwar bedingt, nicht aber unter einen generellen Abwägungsvorbehalt gestellt wird. Das Rückwirkungsverbot gilt nicht mehr ausnahmslos, aber doch strikt oder (in der Formulierung des BVerfGE, 95, 96, „absolut" (Leitsatz 1. a)). 92 Alexy 1997, S. 26-35. 93 Das BVerfGE, 95, 96, 141 f. wie der BGH muten allerdings den früheren Grenzsoldaten der DDR zu, dass für sie offensichtlich war, dass die billigende Inkaufnahme des Todes von Flüchtlingen durch den Einsatz von

Anmerkungen

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automatischen Schnellfeuerwaffen extrem ungerecht gewesen ist. Für Kritik siehe z.B. Dreier 1997, S. 430 f.; Alexy 1997, S. 36 f. Sie weisen darauf hin, dass das objektive Urteil, eine Tat sei extrem ungerecht, nicht implizieren muss, dass dies für den Täter offensichtlich ist. Die Anwendbarkeit der Radbruchschen Unerträglichkeitsformel sollte nicht von der subjektiven Einsicht der Täter in die Unrechtsqualität ihres Handelns abhängig gemacht werden. Die Zumutbarkeit solcher Einsicht ist für die Zuschreibung von Schuld relevant. Diese Auffassung vertritt Alexy 1997, S. 24-6. Anders Pieroth 1992, S. 103 f.: Dass „nationalsozialistische Gewalttäter und DDR-Regime-Kriminelle straflos bleiben sollen, widerstreitet evident dem Rechtsgefühl. ... Aber der Rechtsstaat, einmal etabliert, muss sich treu bleiben: Das Rechtsgefühl darf geschriebene rechtsstaatliche Verfassungsnormen nicht überrollen. Die einzige rechtsstaatliche Möglichkeit, hier dem Rechtsgefühl zum Sieg zu verhelfen, besteht darin, dem Art. 103 Abs. 2 GG im Weg der Verfassungsänderung eine Ausnahmeklausel für Verbrechen gegen die Menschheit/Menschlichkeit anzufügen. Dies wäre zulässig, weil Verfassungsrecht selbst keinem Rückwirkungsverbot unterliegt." Für eine solche Verfassungsänderung oder die Prüfung einer solchen Option plädieren Dreier 1997, S. 432-34; Eser und Arnold 1993, S. 250; und Pieroth und Kingreen 1993, S. 392. In diesem Sinne ist das Rückwirkungsverbot in der EMRK Art. 7 Abs. 2 qualifiziert, demzufolge „die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden (darf), die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzcn strafbar war." Allerdings hat die Bundesrepublik die EMRK ausdrücklich mit Blick auf diese Bestimmung nicht ratifiziert. Das entspricht der Rechtsauffassung, dass das Rückwirkungsverbot des GG unbedingte Geltung genießt. Nach dem Urteil des BVerfG zu den Mauerschützen ist die Stellungnahme der BRD zu der Qualifikation des Rückwirkungsvcrbots in der EMRK als hinfällig zu betrachten. Hart 1983, S. 76 f.; siehe auch ders. 1997, S. 211 f. Siehe Alexy 1999, S. 29. Siehe auch ders., 1992, S. 93-5. Siehe Saliger 1995, S. 36-44. Mit Blick auf das iuspraevium wirke die Anwendung der Radbruchschen Formel nicht „rückwirkend strafbegründend, sondern lediglich deklaratorisch." (Ebd., S. 37) Siehe Radbruch 1990, „Gesetz und Recht", S. 96-105, 5: „Wir haben einsehen müssen, dass es ein Unrecht in der Form des Gesetzes gibt, ein gesetzliches Unrecht', und dass nur an dem Maßstab eines übergesetzlichen Rechts ermessen werden kann, was Recht ist, mag man dieses Recht über allen Gesetzen nun Naturrccht, göttliches Recht oder Vernunftrecht nennen. Auch dieses übergesetzliche Recht kann Gesetzesform annehmen. Sein Kennzeichen ist dann die sonst verpönte Rückwirkung des Gesetzes. ... (D)as Gesetz formuliert hier nur, was schon vorher Recht war."

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Anmerkungen

99 Ich nehme an, dass solche rückwirkenden Gesetze verfassungsgemäß sind. 100 Siehe Kap.VI.4 oben, N. 22-5, ausführlicher in Meyer 2002a, S. 333 f.. 101 Ein moderator Werteskeptizismus ist insbesondere auch nicht mit der neukantianischen Mittelposition zwischen Rechtsempirismus und Naturrecht vereinbar, die Radbruch für seine Hauptschriften reklamiert. Denn für diese Mittelposition, wie Radbruch sie versteht, ist kennzeichnend, dass sie sich unter Voraussetzung von Relativismus und Methodendualismus außerstande sieht, ein spezifisches Rechtsideal als allein objektiv gültig zu erweisen, und so der „ganzen Mannigfaltigkeit der Rechtsauffassungen" gerecht wird. Siehe Radbruch 1993, „Grundzüge der Rechtsphilosophie", S. 5; ausführlich in Meyer 2002a, insbesondere Fn. 17-21 und Text. 102 Radbruch 1990, „Vorschule der Rechtsphilosophie", S. 27, in Verbindung mit ders., 1993, „Rechtsphilosophie", S. 40 und ders. 1987, „Einführung in die Rechtswissenschaft", S. 17 f. und 28. Für eine Diskussion des von Radbruch nur angedeuteten Arguments siehe Meyer 2002a, S. 333-37. 103 Siehe ebd. 104 Die Tradition griechischen Denkens, die mit den Sophisten assoziiert wird, verleiht der Idee, dass wir alle moralischen Status genießen, weil wir Menschen sind und nicht erst mittels Mitgliedschaft in einer Gruppe, der nicht alle Menschen angehören, dadurch Ausdruck, dass sie von Menschen geschaffene Gesetze und Gebräuche der Ordnung der Dinge, wie sie die Natur (pbjsis) bereitstellt, gegenüberstellt. Entsprechend kritisiert z.B. Antiphon, Menschen abhängig von ihrer Abstammung Wert zuzuschreiben. Siehe Antiphon, B. Fr. 44 b, Sp. 1-2 in Diels und Kranz (1959), 352 f. 105 Siehe insbesondere Radbruch 1993, „Die Problematik der Rechtsidee", S. 49. Für Diskussion siehe Meyer 2002a, S. 333-36. 106 Siehe Scheffler 1982, S. 1; für eine wichtige Diskussion siehe Korsgaard 1993. 107 Siehe N. 4, 35 und Text. 108 Siehe Ν. 18 f. 109 Für eine Version des liberalen Kosmopolitismus, die den relevanten Wert subjektivistisch auffasst und für die Maximierung des Durchschnittsnutzen eintritt, siehe Birnbacher 1988. 110 Siehe Sen 1984, Raz 1994, Crocker 1998. 111 Siehe Dworkin 1981 und seine spätere Darstellung in 1993. 112 Beitz 1980 hat als erster ein voll entwickeltes Argument zugunsten der Anwendung des Rawlsschen Differenzprinzips auf die internationale Gesellschaft vorgelegt. 113 Siehe Shue 1980. 114 Ich verwende die Unterscheidung universelle und generelle Menschenrechte wie es Ilinsch und Stepanians 2004, S. 8 vorschlagen: Moralische Rechte sind universell, wenn jeder Mensch qua Mensch Träger dieser Rechte ist. Sie sind generell, wenn ein Mensch, der Träger eines Menschenrechts ist, dieses Recht vis-ä-vis jeder anderen Person hat.

VII. Wahrheit und Gerechtigkeit Strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung des unter dem Vorgängerregime begangenen Unrechts kann, wie im Kap. VI diskutiert, rechtens sein, auch wenn die entsprechenden Handlungen unter dem Vorgängerregime positiv-rechtlich legal waren. Zu prüfen ist aber, inwiefern die Mittel des Strafrechts geeignet und legitim sind, um den Ansprüchen der Opfer bei einer Transition to Democracy1 zu genügen. Die Leistungsfähigkeit und Legitimität von einerseits nationaler wie internationaler strafgerichtlicher Verfolgung, andererseits Wahrheitskommissionen stehen heute im Zentrum der Diskussion um eine angemessene Reaktion auf im Namen eines Vorgängerregimes begangenes Unrecht. Bei der ersten Transition to Democracy wurden im Athen des ausgehenden fünften Jh. s v. Chr. einige Ansprüche der Opfer auf Eigentumsrestitution erfüllt, nicht aber weitergehende und insbesondere nicht solche auf strafrechtliche Verfolgung. In jüngster Vergangenheit wurden angesichts nach wie vor häufig äußerst schwieriger Bedingungen der Transition die Ansprüche der Opfer auf Wahrheit und Gerechtigkeit vermittelt.

/. Oie Athenische

Versöhnungsvereinbarung

In ihrer Blütezeit vom frühen fünften bis zum späten vierten Jahrhundert wurde die athenische Demokratie nur von zwei autoritären oder oligarchischen Episoden unterbrochen, von 411-10 und 404-3. Die letztere, die der „30 Tyrannen", die mit einer lateinamerikanischen Junta verglichen wurde,2 installierte ein Terrorregime, unter dem etwa eintausendfünfhundert Athener getötet wurden und viele aus Athen flohen.3 Die Exzesse der 30 Tyrannen führten dazu, dass sie abgesetzt und durch die größere oligarchische Gruppe der 3000 ersetzt wurden, die zehn Bürger zu ihren Anführern wählten.4

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Die Athenische

Versöhnungsvereinbarung

Unter der Aufsicht Spartas schlossen die athenischen Oligarchen und die exilierten Demokraten eine Versöhnungsvereinbarang,5 die es den Demokraten erlaubte, nach Athen zurückzukehren und die demokratische Ordnung wiederherzustellen, und die den Oligarchen, sofern sie Athen verließen, Straffreiheit im benachbarten Eleusis zusicherte.6 Diese Vereinbarung sah auch eine weitgehende Amnestie für die unter dem diktatorischen Regime verübten politischen Verbrechen vor. Von einer Amnestie in Athen und Piräus ausgeschlossen war Totschlag mit eigenen Händen, autocheiria, eine Straftat, die den Tyrannen, ihren Informanten und Handlangem, wenn überhaupt, nur in den seltensten Fällen nachgewiesen werden konnte, weil sie sich anderer, nämlich quasi-legaler Methoden zu bedienen wussten. Bedingt war die Amnestie nur für die 30 Tyrannen selbst, für die von ihnen ausgewählten Repräsentanten des Terrorregimes, die für die Exekutionen von Regimegegnern und die Konfiskation von Eigentum verantwortlich zeichneten, und - jedenfalls wenn wir dem Bericht des Aristoteles folgen — für die Hauptrepräsentanten des oligarchischen Nachfolgeregimes der 3000.7 Diese bedingte Amnestie sah vor, dass die Betroffenen sich der euthynai unterziehen mussten, einer Untersuchung ihrer Amtshandlungen durch einen Ausschuss, dem Vertreter der Demokraten wie der oligarchischen Partei angehörten,8 und dies konnte zu ihrer Bestrafung wegen unkorrektem oder rechtswidrigem Verhalten führen, bevor sie dann die Amnestie würden in Anspruch nehmen können, um sich vor weiteren rechtlichen Verwicklungen zu schützen.9 Vermutlich war das Risiko einer Bestrafung aufgrund einer Untersuchung ihrer Amtsführung für die Hauptverantwortlichen der Diktatur so groß, dass Straffreiheit in einem von ihnen selbst eingerichteten autonomen politischen Gemeinwesen in Eleusis die attraktivere Option war.10 Attraktiv war die Emigration nach Eleusis auch, weil die Emigranten ihr athenisches Bürgerrecht behielten, sich auf der Attika ausserhalb Athens frei bewegen konnten, ihre Eigentumsrechte bewahrten11 und sich während der Mysterien in Athen aufhalten durften, ihren familiären und religiösen Verpflichtungen wie ihren kommerziellen Interessen in der Stadt nachkommen konnten.12 Für die Demokraten bedeutete die Annahme der Versöhnungsvereinbarung zwar den Verzicht auf die Restitution ihrer unter der Diktatur erst konfiszierten und dann veräußerten beweglichen Güter,

Die Athenische

V ersöhnungsvereinbarung

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dafür aber den Anspruch auf Rückgabe der nicht verkauften konfiszierten Güter und der unbeweglichen, also von Land und Häusern. Ob sie einen Anspruch auf Restitution ihrer unbeweglichen Güter oder nur einen Anspruch auf Rückgabe gegen Bezahlung hatten, geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor.13 Die exilierten Demokraten konnten dank der Versöhnungsvereinbarung friedlich und geregelt in ihre Häuser zurückkehren, ihren früheren Lebensstil wieder aufnehmen, und an der demokratischen Regierung ihrer Stadt partizipieren.14 Würde eine solche Vereinbarung heute bei einer Transition to Democracy geschlossen, hielten ihn die meisten für moralisch inakzeptabel und völkerrechtswidrig. Moralisch inakzeptabel, weil der Vertrag die Interessen der Opfer der Diktatur nur ungenügend berücksichtigt. Nicht nur wird der den Zwangsenteigneten entstandene materielle Schaden häufig nicht oder nur unzureichend kompensiert.15 Zudem gab es nur sehr wenige Einrichtungen und nur sehr zurückhaltende Maßnahmen, um die weitergehenden Ansprüche der Opfer auf Wiedergutmachung und Retribution zu erfüllen.16 Viele sehen in Wahrheitskommissionen17 Einrichtungen, die das Interesse der Opfer auf öffentliche Anerkennung durch den sich etablierenden Rechtsstaat zum zentralen Anliegen haben, nämlich durch die autoritative Feststellung der Wahrheit18 oder doch wenigstens die öffentliche Zurückweisung der für die Opfer und ihre Angehörigen unerträglichsten Lügen19 über die an ihnen verübten Verbrechen. Die Opfer haben einen Anspruch auf solche öffentliche Anerkennung als Opfer von staatlich organisiertem und im Auftrag des Vorgängerregimes verübtem Unrecht. Diesem Anspruch der Opfer genügt die athenische Versöhnungsvereinbarung nicht, jedenfalls insofern seine Erfüllung eine eigene Bemühung erfordert, womöglich die Arbeit einer Wahrheitskommission. Zudem halten heute viele eine Amnestie für Menschenrechtsverbrechen für moralisch inakzeptabel und völkerrechtswidrig.20 Einzelstaaten stehen unter der Pflicht, Menschenrechtsverbrechen strafrechtlich zu ahnden, die auf ihrem Territorium und von Bürgern ihres Staates verübt wurden.21 Dem liegt ein moralischer Anspruch der Opfer zugrunde. Die Opfer und ihre Nächsten haben, so der Einwand, den legitimen Anspruch, ja ein Recht darauf, dass der Staat die Personen, die an ihnen Menschenrechtsverbrechen verübt haben

340

Wahrheitskommission

versus

Strafgerichtshof

oder für diese Verbrechen verantwortlich sind, strafrechtlich belangt.22 Auch diesem Anspruch genügt die athenische Versöhnungsvereinbarung nicht. Die Vereinbarung dürfte in der Tat einmalig sein, insofern sie nicht nur eine weitgehende Amnestie für die unter der Diktatur begangenen politischen Straftaten vorsieht, sondern den Oligarchen zudem mit der Übertragung des Rechts auf souveräne Herrschaft in Eleusis erlaubt, sich der Strafverfolgung durch Emigration zu entziehen. Zwar konnten sich auch in jüngster Zeit Diktatoren, die schlimmster Menschenrechtsverbrechen verdächtigt sind, der Strafverfolgung durch Exil entziehen 23 mir ist aber kein anderer Fall bekannt, in dem die für die Verbrechen eines diktatorischen Regimes Hauptverantwortlichen sich der Strafverfolgung durch Emigration als Teil eines offiziellen Verhandlungsergebnisses entziehen durften 24 Diejenigen, die eine Amnestie für Menschenrechtsverbrechen und Vereinbarungen zum Entzug vor Strafverfolgung für völkerrechtswidrig halten, plädieren häufig für einen internationalen Strafgerichtshof, der die effektive Strafverfolgung von Menschenrechtsverbrechen sichern soll, wenn der Staat, in dessen Namen die Verbrechen begangen wurden, dazu nicht selbst willens oder in der Lage ist.

2. Wahrheitskommission versus kosmopolitischer

Strafgerichtshof

Sowohl die Idee eines kosmopolitischen Strafgerichtshofs als auch Wahrheitskommissionen stehen für zentrale Anliegen bei der Transition to Oemocracy, nämlich zentrale Anliegen der Opfer auf Wahrheit und Gerechtigkeit.25 Insofern diese Institutionen alternative politische Optionen darstellen und unter den schwierigen Umständen einer Transition to Oemocracy nicht beiden Ansprüchen der Opfer gleichermaßen entsprochen werden kann, konfligieren die Forderung nach Wahrheit und die Forderung nach gerechter Strafe. Darf der legitime Anspruch der Opfer auf Wahrheit mit einer (bedingten und eingeschränkten) Amnestie für Menschenrechtsverbrechen bezahlt werden? Zuletzt haben in Nigeria, Sierra Leone, Ost-Timor, Ghana, Serbien und Montenegro Wahrheitskommissionen ihre Arbeit aufgenommen, in Indonesien und Peru wird über die Einrichtung von Wahrheits-

Wahrheitskommission

versus Strafgerichtshof

341

kommissionen verhandelt, und es gibt Vorschläge für Wahrheitskommissionen in Afghanistan, Angola, Jamaika, Venezuela, Mexiko, Marokko, Bosnien-Herzegowina und Burundi.2(i Die etwa 20 Wahrheitskommissionen, die seit den 70er Jahren eingerichtet wurden, unterscheiden sich und ζ. T. erheblich voneinander, z.B. mit Blick auf ihre Mitglieder, die Rechtsgrundlage, das Mandat, ihre Ausstattung und die Einbeziehung der Öffentlichkeit in ihre Arbeit; diese Merkmale bestimmen auch das Verhältnis von Wahrheitskommissionen zu anderen Einrichtungen, die den friedlichen Ubergang zu einer rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung unterstützen sollen, also etwa vorgerichtlichen Untersuchungsausschüssen, Straf- und Zivilgerichten, Säuberungen und Amtsenthebungen und Reparationskommissionen.27 Neben der Flexibilität der Einrichtung verdankt sich der Erfolg28 von Wahrheitskommissionen sicher auch der Hochschätzung der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission.29 Die südafrikanische Truth and ^keconaliation Commission hat ihren umfangreichen Abschlussbericht nach vierjähriger Tätigkeit und der Prüfung von über 6000 Anträgen auf Untersuchung von Menschenrechtsverbrechen 1999 vorgelegt.30 Die Kommission heißt auch Versöhnungskommission, weil sie der Restitution der moralischen Beziehungen zwischen Opfern und Tätern dienen möchte.31 Die Kommission konnte sowohl strafrechtliche als auch zivilrechtliche Amnestie für die unter dem Apartheidregime begangenen politischen Verbrechen gewähren, wenn die Täter vollständige Aussagen über ihre Motive, den Tatvorgang und die Hintergründe in öffentlichen Verhandlungen gaben, in denen die Opfer das Recht hatten, Fragen zu stellen 32 Viele halten diese Wahrheit um den Preis der Straffreiheit für ungerecht und zwar den Opfern gegenüber. Die Opfer und die indirekten Opfer, ihre Nachfahren, Familien und die ihnen nahe stehen, haben, so die Auffassung, einen gerechten Anspruch gegenüber ihrem politischen Gemeinwesen auf Strafverfolgung und gegebenenfalls auf Bestrafung derer, die Menschenrechtsverbrechen verübt haben. Die effektive Strafbefreiung oder gar legislative Amnestierung der unter dem Vorgängerregime verübten Menschenrechtsverbrechen sei ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ihrer Angehörigen.33 Nicht zuletzt als Reaktion auf solche nationalstaatliche legislative oder doch poli-

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Wahrheitskommission

versus

Strafgerichtshoj

tisch effektive Amnestierung von Menschenrechtsverbrechen haben sich viele für einen internationalen Strafgerichtshof eingesetzt, der seiner Idee nach ein kosmopolitischer Gerichtshof mit universeller Jurisdiktion für Menschenrechtsverbrechen wäre: 34 keine Person, gleich welcher Nationalität und unabhängig ihres Status, solle sich einer Untersuchung durch diesen internationalen Strafgerichtshof und gegebenenfalls der Autorität des Gerichts, sie zu verurteilen und zu bestrafen, entziehen können. 35 Allerdings hat die Idee eines kosmopolitischen Strafgerichtshofs bislang keine universelle Akzeptanz gefunden. Die USA, wie auch Israel, China und vermutlich Lybien, Irak, Katar und Jemen haben 1998 das sogenannte Römische Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof (IstGH) (englisch: International Cnminal Court (ICC)) abgelehnt. Nach der Ratifizierung durch 60 Staaten ist das Statut am 1. Juli 2002 in Kraft getreten. 36 Es handelt sich nicht um einen kosmopolitischen Strafgerichtshof im genannten Sinne. Der in Rom erzielte Kompromiss schränkt die Jurisdiktion des IstGH ein. Das Statut sieht einen Gerichtshof vor, der nur mit Blick auf schwerste Menschenrechtsverbrechen Jurisdiktion beansprucht. 37 Wurde die Untersuchung eines solchen Verbrechens durch den Ankläger des Gerichtshofes oder eine Vertragspartei ausgelöst, dann kann der IstGH nur dann Jurisdiktion beanspruchen, wenn einer der folgenden Staaten Vertragspartei 38 ist oder die Jurisdiktion des Gerichtshofs mit Blick auf das Verbrechen ad hoc akzeptiert: 39 1) der Staat, auf dessen Territorium das Verbrechen verübt wurde (Territorialitätsprinzip), 4 " oder 2) der Staat, dessen Angehörige beschuldigt werden (Nationalitätsprinzip). 41 Die Jurisdiktion der Staaten genießt Priorität vor der Jurisdiktion des Gerichts. Der IstGH darf einen Fall nicht verfolgen, wenn „in der Sache von einem Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchgeführt werden, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen." 42 (Komplementaritätsprinzip) Diese Bedingungen gelten allerdings nicht, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dem IstGH Jurisdiktion über einen Fall übertragen hat. 43 Die USA haben diesen Kompromiss unter anderem deswegen abgelehnt, weil er es dem IstGH wegen des Territorialitätsprinzips unter Umständen erlaubt, Staatsangehörige von

Wahrheitskommission

versus

Strafgerichtshof

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Staaten ohne deren Zustimmung zu verfolgen, also ohne dass diese Staaten nach Art. 12 (2) und (3) der Jurisdiktion des IstGH zugestimmt haben. 44 Ohne die grundsätzliche Unterstützung der USA dürfte der internationale Gerichtshof wenig effektiv sein und wohl nur in Ausnahmefällen tätig werden können, nämlich dann, wenn auch die USA das Verfahren politisch unterstützen und die Übertragung der Jurisdiktion an den IstGH im Sicherheitsrat und für einen bestimmten Fall unterstützen. 45 Das entspräche im Wesentlichen der Praxis der letzten Jahre. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat ja bereits zwei ad hoc Tribunale eingerichtet, das für das ehemalige Jugoslawien und das für Ruanda. 46 Zudem beanspruchen Staaten Jurisdiktion über Verbrechen an ihren Staatsangehörigen, gleich wo die Verbrechen verübt wurden, und ebenso wenn der Staat, dessen Bürger der Verdächtigte ist, oder der Staat, auf dessen Territorium die Tat begangen wurde, nicht willens oder in der Lage ist, eine Untersuchung oder Strafverfolgung durchzuführen. Deshalb konnte Spanien die Auslieferang Pinochets von Großbritannien fordern. 47 Mit Blick auf schwerste Menschenrechtsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord beanspruchen Staaten auch universelle Jurisdiktion, gleich gegen wen und von wem die Verbrechen verübt wurden, die USA zivilrechtlich 48 und andere Länder insbesondere auch strafrechtlich. Z.B. hat ein dänisches Gericht 1994 Refik Saric, einen bosnischen Flüchtling in Dänemark, wegen Verbrechen in einem Lager in Bosnien-Herzegovina verurteilt. 49 Personen, die schwerster Menschenrechtsverbrechen verdächtigt sind, können heute vor einer Strafverfolgung nicht sicher sein, wenn sie sich außerhalb der Grenzen des Staates aufhalten, der sie durch Amnestie zu schützen sucht.50 Gäbe es jedoch einen effektiven kosmopolitischen Strafgerichtshof, also einen Strafgerichtshof, der Jurisdiktion über alle Menschenrechtsverbrechen überall beanspruchte und durchsetzte, 51 dann wäre die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, für deren Arbeit eine bedingte Amnestie konstitutiv ist, nicht nur völkerrechtswidrig, sondern noch nicht einmal eine politische Option. Gäbe es einen effektiven kosmopolitischen Strafgerichtshof, könnte kein Staat Bürgern Straffreiheit für Menschenrechtsverbrechen zusichern. Um einige europäische Beispiele zu geben: Völker-

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Wahrheitskommission

versus

Strafgerichtshof

rechtswidrig und als politische Option ausgeschlossen wäre die effektive Strafbefreiung der für die Menschenrechtsverbrechen Verantwortlichen in Zentral- und Osteuropa52 und, hätte es einen solchen Strafgerichtshof vor dreißig Jahren gegeben, dann hätte in den 70er Jahren Spanien seine Transition to Democracy (und im Falle Spaniens zu einem Mitglied der EU) nicht auf der Grundlage einer so gut wie vollständigen Amnestierang der politischen Verbrechen seit dem Bürgerkrieg vollziehen können.53 Auch die eingangs beschriebenen Vereinbarungen zur Wiederherstellung der demokratischen Ordnung in der historisch ersten Demokratie, aufgrund derer, die Demokraten nach dem Fall des Regimes der 30 Tyrannen im Jahre 403 vor Chr. nach Athen zurückkehrten, wären nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch politisch ausgeschlossen gewesen, hätte es den entsprechenden effektiven panhellenischen Strafgerichtshof gegeben. Regierungen haben Entscheidungen der Straffreiheit für Menschenrechtsverbrechen gerechtfertigt unter Hinweis auf die schwierigen Entscheidungssituationen im Ubergang zu einer rechtsstaatlichen Ordnung. In einer solchen Situation wird im Verzicht auf Strafverfolgung und Bestrafung eine Bedingung des friedlichen Übergangs zu demokratischen Verhältnissen gesehen.54 Ist dies der Fall und bestünde eine völkerrechtliche Pflicht zur Bestrafung von Menschenrechtsverbrechen,55 dann könnte eine Regierang verpflichtet sein, auf eine Politik zu verzichten, die den friedlichen Ubergang zu demokratischen Verhältnissen zu sichern verspricht. Das ist das Dilemma der Notsituation, wie ich sie nennen werde. Hier ist der Verzicht auf Strafverfolgung und Bestrafung eine Bedingung des friedlichen Ubergangs zu rechtsstaatlichen Verhältnissen, unter denen Menschenrechtsverbrechen effektiv verhindert werden können. In einer Notsituation kann sich die postdiktatorische Regierung nur unter Bedingungen einer weitgehenden Amnestierung der unter dem Vorgängerregime verübten politischen Straftaten etablieren. Regierungen haben eine Politik der Straffreiheit für Menschenrechtsverbrechen außerdem als gerecht verteidigt: Eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer eingeschränkten und bedingten Amnestie diene der sogenannten restaurativen Gerechtigkeit (Abschnitt 4). Stehen Staaten unter der völkerrechtlichen Pflicht, Menschenrechtsverbrechen strafrechtlich zu ahnden, dann verlangt das

Das Ersatund

das 7>ahlenargument

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Völkerrecht den Verzicht auf eine Politik, die viele Regierungen als unter den besonderen Umständen einer Transition to Democracy für legitim weil gerecht erachtet haben. Kann eine Politik der Straffreiheit für Menschenrechtsverbrechen legitim sein? Diese Frage stellt sich nicht nur in der Notsituation, sondern auch in der, wie ich sie nennen möchte, Wahlsituation. Hier kann eine neue Regierung den Ubergang zu rechtsstaatlichen und demokratischen Verhältnissen bewerkstelligen und gleichzeitig Strafverfahren gegen Personen effektiv durchführen, die verdächtigt werden, Menschenrechtsverbrechen unter dem Vorgängerregime und in seinem Namen verübt zu haben. Diese Situation nenne ich die Wahlsituation, weil hier Strafverfolgung und gegebenenfalls Bestrafung der Menschenrechtsverbrechen die Transition to Democracy als solche nicht gefährden. Die Unterscheidung zwischen Not- und Wahlsituation ist idealtypisch. Eine Situation, in der die Transition to Democracy möglich scheint, ist häufig charakterisiert durch die Unsicherheit über die Risiken alternativer politischer Strategien, die auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zielen. 56 Eine Diskussion idealtypischer Situationen kann für historische und aktuelle Fälle relevante Handlungsgründe beschreiben helfen. 57 Ich unterscheide drei Argumente zur Rechtfertigung der Entscheidung für eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer Amnestie. Die Argumente nenne ich das Ersatz-, das Zahlen- und das restaurative Gerechtigkeitsargument. Es spricht viel dafür, schlimmste Menschenrechtsverbrechen nicht zu amnestieren (siehe Kap. VII.5 und 7). Im Ergebnis plädiere ich unter den nicht-idealen Bedingungen der Gegenwart für die völkerrechtliche Positivierung der Option Wahrheitskommission in Verbindung mit einer beschränkten und bedingten Amnestie als partiellem funktionalen Äquivalent strafrechtlicher Verfolgung und Bestrafung.

3. Das Ersatund

das Zahlenargument

Gemäß dem Ersatzargument kann eine Regierung dann legitim auf die Verfolgung und Bestrafung von Menschenrechtsverbrechen verzichten, wenn andere Reaktionen auf dieses unter dem Vorgängerregime begangene Unrecht ein adäquater Ersatz für Strafverfolgung und Bestrafung sind. Wenigstens die folgenden Dimensionen des

346

Das Ersat%-

und das

Zahlenargument

Umgangs mit historischem Unrecht lassen sich unterscheiden: Neben der Bestrafung der Täter, die Säuberung,58 die Kompensation und materielle Restitution der Opfer,59 die Bemühung um Restitution der Beziehungen zwischen Opfern und Tätern,60 die Bemühung, eine neue öffentliche Ordnung zu etablieren, welche die Bedingungen sicherstellt, die es ausschließen, dass das öffentliche Übel sich in Zukunft wiederholen kann,61 und Bemühungen, die toten Opfer symbolisch zu kompensieren.62 Je andere Institutionen sind mit ihrer Ausführung befasst: z.B. Straf- und Zivilgerichte, Reparations- und andere Ausschüsse sowie Wahrheitskommissionen. Diese Institutionen zielen auf die Realisierung unterschiedlicher Werte, und sie haben je andere Konsequenzen. Strafrechtliche Ahndung kann erreichen, was andere Reaktionen auf Unrecht nicht erreichen können und umgekehrt. Zugleich können aber bestimmte Werte oder jedenfalls Aspekte solcher Werte, die durch strafgerichtliche Verfahren und staatliche Strafe realisiert werden, auch von anderen Reaktionen auf historisches Unrecht realisiert werden. Zum Beispiel gibt es andere als strafrechtliche Sanktionen, nämlich soziale und ökonomische. Eine Wahrheitskommission kann mit ihrem Abschlussbericht ein Dokument schaffen, das die Namen der Verbrecher und Opfer nennt und aufzeichnet, welche Verbrechen von wem und an wem verübt wurden.63 Ein solches Dokument stellt eine Art minimaler Verantwortlichkeitszurechnung dar und verschafft den Opfern offizielle Anerkennung als Opfer. Die öffentliche Nennung der Straftäter in den Berichten der Wahrheitskommission kann die Grundlage für informelle soziale Sanktionen gegen die Übeltäter sein wie auch für den formellen oder informellen Ausschluss von öffentlichen Amtern und Führungspositionen und der damit verbundenen ökonomischen Nachteile. Soziale Sanktionen dieser Art drücken eine öffentliche Missbilligung der Person aus — vergleichbar mit der Missbilligung durch ein Strafurteil. Ein wichtiger Aspekt gerechter Strafe ist, dass Opfern von Verbrechen Restitution geleistet wird, wenn die Opfer die, die ihnen Unrecht getan haben, bestraft sehen: Werden die Übeltäter bestraft, dann gewinnen die Opfer den Status von gleichermaßen respektierten Moralpersonen und Bürgern zurück.64 Könnte solche Restitution nicht auch ohne Bestrafung der Täter erreicht werden, nämlich durch die öffentliche Anerkennung der Opfer, indem die Täter namentlich

Das Ersatund

das Zahlenargument

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genannt und die Verbrechen und deren besonderen Umstände im Bericht der Wahrheitskommission beschrieben werden? 65 Das Ersatzargument lautet also: Wenn die Arbeit einer Wahrheitskommission die Verantwortung für Straftaten klärt, die Täter und ihre Verbrechen öffentlich missbilligt und ihnen soziale Sanktionen auferlegt, Opfer als solche öffentlich anerkennt und ihrer Restitution dient, dann kann sie strafrechtliche Verfolgung, Strafverfahren, Strafurteil und staatliche Strafe zumindest bis zu einem gewissen Grade ersetzen. Weder eine Säuberung noch eine Wahrheitskommission kann jedoch ein Ersatz sein für förmliche, direkt vom Staat verhängte Strafen. 66 Wer Vergeltung für das gerechte Ziel staatlicher Strafe hält, ist gewöhnlich der Auffassung, einen Täter zu bestrafen sei als solches richtig und rechtfertigbar: intrinsisch oder an-und-für-sich gut. Diese Auffassung hält Vergeltung für einen wesentlichen Aspekt von Gerechtigkeit; wir sprechen deshalb von retributiver Gerechtigkeit.67 Ich möchte dieser Auffassung für den Zweck des Arguments ein Stück weit entgegenkommen und gehe davon aus, dass Retribution ein konstitutives oder definierendes Element staatlicher Missbilligung und Strafe sein kann, nämlich im Sinne einer Position, die ich schwachen Retributivismus nennen möchte: Bestrafung von Menschenrechtsverbrechen kann nur dann retributive Strafgerechtigkeit realisieren und insofern intrinsisch wertvoll sein, wenn die Bestrafung auch anderen Werten instrumentell dient. Zum Beispiel kann Strafe Mittel der Restitution der Opfer und der besonderen wie generellen Abschreckung weiterer Menschenrechtsverbrechen sein. So verstanden kann staatliche Strafe zwar unter Hinweis auf den Wert der Retribution gerechtfertigt werden, aber nie allein unter Hinweis auf die durch Strafe realisierte retributive Gerechtigkeit.68 Besondere wie generelle Abschreckungseffekte staatlicher Strafe sind in hohem Maße zweifelhaft, wurden die Straftaten im Namen und Auftrag staatlicher Einrichtungen unter den Bedingungen einer Diktatur oder von Mitgliedern paramilitärischer Gruppen unter bürgerkriegsähnlichen Bedingungen verübt. 69 Personen, die solche Verbrechen begangen haben, sind häufig gesetzestreue und unauffällige Bürger einer postdiktatorischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft. Kann Restitution der Opfer auch durch Wahrheitskommissionen geleistet werden, wäre staatliche Strafe nur dann vorzugswürdig,

348

Das Ersatund

das

Zahlenargument

wenn die allein durch Strafe erreichbare Vergeltung den Ausschlag für Strafe geben könnte oder die durch Bestrafung der Täter erzielte Restitution von anderer Qualität wäre. In den relevanten Fällen, in denen Strafe sowohl intrinsisch im Sinne der Retribution als auch instrumentell im Sinne der Restitution der Opfer wertvoll ist, ist meines Erachtens der Wert der Vergeltung für sich genommen von geringer Signifikanz 70 und kann vergleichbare Restitution der Opfer auch ohne staatliche Strafe realisiert werden. Das zweite Argument, das Zahlenargument, kann das Ersatzargument stärken. Das Zahlenargument soll zeigen, dass eine Wahrheitskommission die Werte in einem höheren Maße realisieren kann, denen die strafrechtliche Ahndung von Menschenrechtsverbrechen dient. Im Zahlenargument vergleichen wir die Mittel der Strafverfolgung und Bestrafung und die Arbeit von Wahrheitskommission und bedingter Amnestie hinsichtlich der Zahl der Opfer, deren legitime Interessen diese alternativen Reaktionen auf Systemunrecht fördern können. Eine Wahrheitskommission kann womöglich sehr viel mehr Täter identifizieren als in strafgerichtlichen Verfahren überführt werden könnten. 71 Die Wahrheitskommission kann auch sehr viel mehr Opfern erlauben, „ihre Geschichte zu erzählen". Jede öffentliche Aussage eines Opfers vor einer Kommission und jede Identifizierung eines Täters können der Restitution der Opfer dienen. Somit wird zumindest dieser Wert realisiert, dem auch die strafgerichtliche Verfolgung und das entsprechende Verfahren dienen möchten. So wir auf eine abschreckende Wirkung setzen, wird diese Wirkung wenigstens zum Teil davon abhängen, wie wahrscheinlich es ist, dass Personen als Täter identifiziert werden, und die Wahrscheinlichkeit kann bei einer Wahrheitskommission höher sein. Das Zahlenargument lautet also: Berücksichtigen wir die größere Zahl der durch die Arbeit einer Wahrheitskommission begünstigten Opfer, dann könnte dies den Verlust des Werts der Retribution für die wenigen aufwiegen, deren Interesse an Vergeltung durch Strafverfolgung und Bestrafung der Täter erfüllt würde. Gemäß dem Ersatz- und Zahlenargument sind moralische Rechte abhängig von der moralischen Signifikanz der ihnen zugrunde liegenden Interessen. Die Signifikanz dieser Interessen lässt sich gewichten. Folgen wir der Analyse moralischer Rechte, die Joseph Raz

Das Ersatund

das

Zahlenargument

349

vorgelegt hat,72 ist die entscheidende Frage: Ist das Interesse einer Person an einem Gut wichtig genug, andere unter die Pflicht zu stellen, dieses Interesse zu schützen oder zu befördern und der Person ein Recht auf dieses Gut zuzuschreiben? Wenn, wie es häufig der Fall ist, nicht alle plausiblen Ansprüche erfüllt werden können, dann sind die diesen Ansprüchen zugrunde liegenden Interessen gegeneinander zu gewichten. Diejenige Handlungsoption ist vorzuziehen und die Rechte sind zuzuschreiben, deren Erfüllung insgesamt gesehen die relevanten Interessen aller Betroffenen besser schützt oder fördert.73 Gemäß diesem Verständnis hat ein Opfer das Recht auf Strafverfolgung und Bestrafung der Täter dann, wenn das Interesse des Opfers an solcher Bestrafung wichtig genug ist, um die zuständigen staatlichen Einrichtungen unter die entsprechende Strafverfolgungsund Bestrafungspflicht zu stellen. Demnach sprechen insbesondere drei Behauptungen für Wahrheitskommissionen in Verbindung mit einer Amnestie. Erstens, das Interesse an Retribution hat, moralisch gesprochen, wenig Gewicht. Zweitens, eine Wahrheitskommission kann wie auch die Arbeit der Staatsanwaltschaft und der Gerichte der Realisierung der anderen relevanten Interessen dienen (Ersatzargument). Drittens, die anderen relevanten Interessen, also an Verantwortlichkeitszuschreibung, Restitution und Abschreckung können für mehr Opfer durch eine Wahrheitskommission erfüllt werden als mittels Strafverfolgung und eventueller Bestrafung der Täter (Zahlenargument). Dann kann aber eine Gewichtung ergeben, dass eine sich etablierende demokratische Regierung ihren Pflichten den Opfern des Vorgängerregimes gegenüber durch u.a. eine Wahrheitskommission besser entspricht als durch eine Politik der Strafverfolgung und Bestrafung der Täter. Wer demgegenüber auf Strafverfolgung und Bestrafung besteht, kann wenigstens zwei Auffassungen vertreten. Erstens, könnte Retribution von größter Wichtigkeit für das Opfer sein, so dass eine Abwägung ergäbe, die Bestrafung überführter Täter sei wichtiger als die Restitution einer größeren Zahl von Opfern durch die Arbeit einer Wahrheitskommission. Oder, zweitens, der Anspruch der Opfer auf Retribution durch staatliche Strafe ist den anderen Ansprüchen der Opfer vorgeordnet, nämlich lexikalisch vorgeordnet, um den technischen Ausdruck zu verwenden, den John Rawls geprägt hat.74 Nach letzterer Auffassung sind Ersatz- und Zahlen-

350

Das Ersatund

das

Zahlenargument

argument irrelevant, weil der Anspruch auf staatliche Strafe nicht mit den anderen Ansprüchen gewichtet werden kann: Retribution durch Bestrafung eines Täters ist moralisch gesprochen wichtiger als die Restitution jedweder Zahl von Opfern mit anderen als strafrechtlichen Mitteln. Der Anspruch auf staatliche Strafe ist ein Recht und, um Ronald Dworkins berühmte Metapher zu verwenden: Rechte sind Trümpfe; sie suspendieren die Bedeutung konfligierender Handlungsgründe, die nicht durch Rechte geschützt sind.75 Die vielen Opfer des südafrikanischen Apartheidregimes, welche die Amnestie für Menschenrechtsverbrechen als äußerst ungerecht empfinden, haben dafür gute Gründe: Eine Wahrheitskommission dient der retributiven Gerechtigkeit nicht. Die Ungerechtigkeit liegt nicht schon darin, dass die Übeltäter nicht bestraft werden. Vielmehr ist die Ungerechtigkeit darin zu erkennen, dass der zuständige Staat die legislative Entscheidung getroffen hat, die Täter nicht, und auch in Zukunft nicht, strafrechtlich zu belangen. Der Anspruch der Opfer von Menschenrechtsverbrechen auf Vergeltung durch staatliche Strafe wird nicht nur frustriert, er wird vielmehr sogar zurückgewiesen. So die Opfer einen gerechtfertigten Anspruch haben, die überführten Täter bestraft zu sehen, liegt darin eine Ungerechtigkeit. Diese wird nicht dadurch ausgeräumt, dass eine Wahrheitskommission anderen Ansprüchen vieler Opfer genügt. Wer für staatliche Bestrafung von Menschenrechtsverbrechen eintritt, weil sie retributiver Gerechtigkeit geschuldet sei, wird es zudem für unerträglich erachten, dass die Amnestie ausgerechnet Personen begünstigt, die sich schlimmster Verbrechen schuldig gemacht haben, während jeder gewöhnliche Verbrecher mit Strafverfolgung, Strafürteil und Bestrafung rechnen muss. Dass die Strafbefreiung von Menschenrechtsverbrechen ungerecht ist, wird auch von denen nicht bestritten, die das Ersatz- und Zahlenargument vertreten. Sie halten diese Argumente für relevant, weil sie der Auffassung sind, dass das Interesse der Opfer an Verantwortungszuschreibung und Restitution selbst legitime Gerechtigkeitsansprüche sind, deren Nichterfüllung ebenfalls ungerecht wäre. Mit anderen Worten bestreiten sie, dass sich eine Gewichtung verbietet, weil sie die unterschiedenen Ansprüche gleichermaßen für Gerechtigkeitsansprüche halten und deshalb keinen Grund sehen, den Anspruch auf retributive Gerechtigkeit durch staatliche Strafe den anderen Ansprüchen vorzuordnen. Folgen wir Dworkin, dann lassen

Das restaurative

Gerechtigkeitsargument

351

sich Gerechtigkeitsansprüche zwar nicht gegen alle plausiblen Ansprüche gewichten, aber doch gegen andere Gerechtigkeitsansprüche.76 Rechte sind zwar Trümpfe, aber es gibt sie in verschiedenen Farben und Stärken. Wer in der Strafbefreiung von Menschenrechtsverbrechen eine Ungerechtigkeit erkennt, kann eine Politik der Strafverfolgung und Bestrafung für die größere Ungerechtigkeit gegenüber den Opfern halten. Unter den besonderen Umständen einer Transition to Democracy kann die Inkaufnahme der Ungerechtigkeit, die in einer Amnestie insbesondere schlimmster Verbrechen liegt, bedauerlicherweise geboten erscheinen: Nur so können wir andere Gerechtigkeitsansprüche der Opfer erfüllen, die Verantwortung für viele dieser Verbrechen autoritativ feststellen und die Opfer durch die öffentliche Feststellung der Wahrheit über die Verbrechen restituieren.

4. Das restaurative Gerechtigkeitsargument Wenn eine Regierung eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer Amnestie der Strafverfolgung und eventuellen Bestrafung der Täter vorzieht, dann kann sie sich auch auf ein positives Gerechtigkeitsargument stützen. Ich nenne es das restaurative Gerechtigkeitsargument: Eine Wahrheitskommission kann eine andere als die retributive Gerechtigkeit befördern.77 Selbst wenn eine Politik der Strafverfolgung die Verantwortung für ebenso viele Menschenrechtsverbrechen zuschreiben kann, so ist es vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus wichtig, dass eine Wahrheitskommission dies leistet, weil eine Wahrheitskommission auch einer anderen Gerechtigkeit, der restaurativen, dient. Die Idee der restaurativen Gerechtigkeit bezieht sich erstens auf Bemühungen Dritter, die Wiederherstellung der moralischen Beziehungen zwischen Opfern und Tätern zu fördern, und zweitens darauf, möglichst schnell eine rechtsstaatliche Ordnung zu etablieren, deren staatliche Einrichtungen vor weiteren Menschenrechtsverletzungen effektiv schützen. Die Restitution der Beziehungen zwischen Opfern und Tätern ist zwar ein hohes moralisches Gut, jedoch, wie ich glaube zeigen zu können, keine genuine Forderung der Gerechtigkeit. Mit größtem Nachdruck aber verlangt Gerechtigkeit den Schutz vor weiteren Menschenrechtsverletzungen.

352

Das restaurative

Gerechtigkeitsargument

Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission ist das viel diskutierte Beispiel einer Bemühung, Opfern und Tätern die Wiederherstellung ihrer moralischen Beziehungen zu ermöglichen. Schuld eingestehen und um Vergebung bitten können freilich nur die Täter und nur die Opfer können verzeihen. Das, was die Unrechtshandlungen mit Blick auf die Beziehung zwischen Täter und Opfer zerstört haben, oder sein symbolisches Äquivalent kann von denen restauriert werden, die Unrecht getan haben, und zwar an denen, die das Unrecht erlitten haben. Diese Handlungen können das Unrecht nicht ungeschehen machen, wohl aber, so die Idee, den Opfern und Tätern erlauben, miteinander wieder als gleichberechtigte Moralpersonen zu verkehren. Andere als die Opfer und Täter können zur Restitution dieser Beziehungen nicht direkt beitragen.78 Dritte können aber die Wiederherstellung solcher Beziehungen fördern wollen. Eine Wahrheitskommission kann unter anderem zu diesem Zweck eingerichtet werden. Das war für die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission der Fall.79 Nehmen wir an, die Restitution von Beziehungen in diesem Sinne ist wünschenswert. Können aber Opfer und Täter solche Restitution der Beziehungen von einander als von der Gerechtigkeit gefordert verlangen? Ich meine nicht. Von den Opfern kann man nicht verlangen, denen zu verzeihen, die ihnen selbst oder ihren Nächsten Schlimmstes angetan haben.80 Sollten die Opfer dazu bereit sein, wird man es ihnen vielmehr hoch anrechnen. Gelingt die Restitution der Beziehung, ist dem Unrechtstäter wenigstens ebenso sehr gedient wie dem Opfer. Selbst wenn wir annehmen, die Restitution der Beziehungen sei ein hohes Gut und Dritte könnten seine Realisierung fördern, dürften gerade die Opfer, die mit Uberzeugung und Nachdruck die Bestrafung der Täter als eine Angelegenheit retributiver Gerechtigkeit fordern, am wenigsten in diesem Sinne beeinflussbar sein. Das kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen und selbst dann nicht, wenn unter den besonderen Umständen einer Transition to Oemocracy ihr Anspruch auf Bestrafung der Täter nicht gerechtfertigt ist. Zur Rechtfertigung einer Entscheidung zugunsten einer Wahrheitskommission in Verbindung mit einer Amnestie als gerechter Maßnahme trägt deshalb die Beförderung der Restitution der Beziehungen zwischen Tätern und Opfern nicht bei. Deshalb halte ich es für verfehlt,

Wahrheitskommission

und

Strafverfolgung?

353

die Bemühung um Förderung der Restitution der moralischen Beziehungen zwischen Opfern und Tätern als eine Bemühung um Gerechtigkeit zu charakterisieren. Das Ziel, möglichst schnell eine rechtsstaatliche Ordnung einzurichten, die Menschenrechte effektiv schützt, verdient aber zweifelsohne den Titel restaurative Gerechtigkeit. Denn alle Bürgerinnen und Bürger haben wenigstens das Recht, dass die Einrichtungen ihres Staates sie vor Übergriffen schützen, die ihre Menschenrechte verletzen. Eine stabile rechtsstaatliche Ordnung auf Dauer einzurichten ist das herausragende Ziel einer Transition to Democracy. Wenn eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer Amnestie dieses Ziel schneller zu erreichen verspricht als eine Politik der Strafverfolgung und Bestrafung der Täter, dann ist sie das bessere Mittel. Solange das Ziel nicht erreicht ist, sind die Menschenrechte nicht geschützt und werden immer wieder verletzt werden. Jede solche Verletzung ist ein Unrecht, und es ist eine minimale Forderung der Gerechtigkeit, Menschen vor diesem Unrecht zu schützen.81 Während des Übergangs zu einer rechtsstaatlichen Ordnung werden Bürgerinnen und Bürger häufig Zweifel an der Fairness strafrechtlicher Verfolgung und Verfahren haben, und selbst wenn diese Verfahren fair sind, können sie die Feindschaft zwischen Gruppen befestigen oder gar verstärken und zur Instabilität der öffentlichen Ordnung und zu weiteren Menschenrechtsverletzungen beitragen. Zu dieser pessimistischen Einschätzung der Menschenrechtsprozesse in Argentinien kommt jedenfalls Jaime Malamud-Goti — immerhin einer ihrer beiden Architekten. 82 Argentinien ist das einzige lateinamerikanische Land, das in den 80er Jahren den Hauptverantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen unter der Militärjunta den Prozess gemacht und sie verurteilt hat.

5. Wahrheitskommission und Strafverfolgung? Das Nach- und Nebeneinander von Wahrheitskommission und Strafverfolgung ist dann keine plausible Option, wenn Strafverfolgung ohne Einschränkungen gemeint ist. Denn eine Amnestie kann Vorbedingung für das effektive Funktionieren einer Wahrheitskommission sein und besonders dann, wenn die Amnestie an die Be-

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Wahrkeitskommission

und

Strafverfolgung?

dingung geknüpft ist, dass die Täter mit der Kommission kooperieren. Die Repräsentanten des alten Regimes und auch ihre womöglich militärisch organisierten Gegner sind zu einer Kooperation mit einer Wahrheitskommission häufig nur dann bereit, wird ihnen zugesichert, dass sie selbst und diejenigen, die ihnen etwas bedeuten, amnestiert werden. Dem Zahlenargument zufolge spricht es für Wahrheitskommissionen, wenn durch ihre Arbeit in mehr Fällen Tätern die Verantwortung für ihre Verbrechen zugeschrieben werden kann, als dies durch Strafverfolgung und -verfahren möglich wäre. Um eine hohe Zahl von Verbrechen aufzuklären und die Verantwortungszuschreibungen autoritativ vornehmen zu können, ist eine Wahrheitskommission in der Regel auf die Kooperation der Täter angewiesen. Das restaurative Gerechtigkeitsargument besagt in seinem ersten Teil, eine Wahrheitskommission könne günstige Bedingungen für die Restitution der Beziehungen zwischen Opfern und Tätern schaffen. Eine Voraussetzung für solche Restitution dürfte das vollständige Schuldeingeständnis auf Seiten der Täter sein und dazu sind Täter in der Regel nur willens und fähig, wenn für sie das strafrechtliche Risiko einschätzbar und nicht zu hoch ist. Eine bedingte Strafbefreiung kann auch für die weitergehenden gesamtgesellschaftlichen restaurativen Ziele einer solchen Kommission wichtig sein. Soll eine Kommission in kurzer Zeit zur Herstellung ziviler und rechtsstaatlicher Verhältnisse unter früheren Gegnern beitragen, dann können einerseits fortgesetzte oder in Zukunft erwartete strafrechtliche Verfahren dem Erreichen dieses Zieles hinderlich sein. Andererseits verlangt die für die Arbeit einer Wahrheitskommission besonders förderliche bedingte Amnestie, dass die Personen, die sich nicht für Amnestie durch Kooperation mit der Wahrheitskommission qualifizieren, strafrechtlich verfolgt werden. Eine bedingte und möglicherweise eingeschränkte Amnestie soll hier nicht zu einem definitorischen Element von Wahrheitskommissionen gemacht werden. Dienen allerdings die Ergebnisse einer Wahrheitskommission der staatsanwaltschaftlichen Arbeit, dann ist eine Wahrheitskommission eher als vorgerichtliche Untersuchungskommission zu bezeichnen. Und enthielte der Bericht einer Wahrheitskommission keine Ergebnisse, die der staatsanwaltschaftlichen Arbeit dienen könnten, handelte es sich eher um einen Bericht mit gewollten Auslassungen oder den Bericht einer His-

Wahrheitskommissionen

in der Notsituation

355

torikerkommission, wenn deren Arbeit nicht auf die Zuschreibung moralischer und rechtlicher Verantwortung von Individuen zielt, sondern auf die historische Deutung und Erklärung des Geschehenen. Das Ersatzargument zugunsten einer Wahrheitskommission hängt jedenfalls davon ab, dass das Verfahren und das Ergebnis ihrer Arbeit der autoritativen und öffentlichen Verantwortungszuschreibung dienen. Es steht also zu erwarten, dass auch in Zukunft die Frage, ob es eine Wahrheitskommission geben soll, häufig von der Frage nicht getrennt werden kann, ob und inwiefern auf Strafverfolgung und Bestrafung verzichtet werden darf. 83 Vieles spricht dafür, eine solche Amnestie einzuschränken, nämlich die schlimmsten Menschenrechtsverbrechen von ihr auszunehmen. Diese Option — also eine Wahrheitskommission mit beschränkter und bedingter Amnestie und die Strafverfolgung schlimmster Menschenrechtsverbrechen zu verbinden — erlaubte den Anspruch staatlicher Strafe für schlimmste Menschenrechtsverbrechen aufrechtzuerhalten und zugleich einer großen Zahl von Opfern durch die Tätigkeit und den Bericht der Wahrheitskommission im genannten Sinn Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die völkerrechtliche Positivierung dieser Option diskutiere ich in Kapitel VII.7-9. Dort untersuche ich die Möglichkeit einer Arbeitsteilung zwischen Strafgerichten und Wahrheitskommissionen unter besonderer Berücksichtigung der Autorität des internationalen Strafgerichtshofs.

6. Wahrheitskommissionen

in der Notsituation

Restaurative Gerechtigkeit zu realisieren im Sinne der Einrichtung einer rechtsstaatlichen Ordnung, die die Menschenrechte in Zukunft effektiv und auf Dauer schützt, kann für die Rechtfertigung der Entscheidung wichtig sein, eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer (bedingten) Amnestie einzurichten. Die Rechtfertigung der Straffreiheit für die im Namen oder Auftrag des Vorgängerregimes begangenen politischen Verbrechen beruht in der Notsituation auf diesem Argument: Das Insistieren auf Strafverfolgung hätte zur Konsequenz, dass die Repräsentanten dieses Regimes eine Transition to Democracy würden verhindern wollen. Bei entsprechenden Machtverhältnissen bedeutete dies in der Notsituation, dass das vor-rechts-

356

Wahrheitskommissionen

in der

Notsituation

staatliche Regime nicht abgelöst würde oder dass die Gegner des Regimes einen offenen Konflikt riskieren müssten, der in einen Bürgerkrieg enden könnte, den die Vertreter des Rechtsstaats womöglich nicht für sich entscheiden können. Besteht das Regime fort, werden die Menschenrechte vieler weiterer Personen verletzt, und dies ist auch in einem Bürgerkrieg der Fall. In der Notsituation ist deshalb der zweite Aspekt der restaurativen Gerechtigkeit entscheidend wichtig, nämlich die Bemühung um die Einrichtung einer öffentlichen Ordnung, in der Menschenrechte nicht länger verletzt werden. Dem kann nur widersprechen, wer den Anspruch auf Retribution durch staatliche Strafe für lexikalisch vorrangig hält und zwar auch gegenüber dem Anspruch auf Schutz vor Menschenrechtsverletzungen. Nach dieser Auffassung müsste man auf Strafverfahren bestehen, auch wenn dies in einer Notsituation bedeutete, Menschenrechtsverletzungen heute und in absehbarer Zeit nicht verhindern zu können, was effektiv nur durch den Verzicht auf Strafverfolgung erreicht werden kann. Die Forderung nach einer Wahrheitskommission kann unter solchen ungünstigen Bedingungen als Minimalforderung verstanden werden, um wenigstens einigen Ansprüchen der Opfer zu entsprechen. Gelingt es, die Amnestie an die Bedingung zu knüpfen, dass die Täter mit der Wahrheitskommission kooperieren, kann dies die Leistungsfähigkeit der Kommission erhöhen. Durch die Arbeit der Wahrheitskommission kann womöglich vielen Opfern Restitution geleistet werden. Eine Wahrheitskommission kann in ihrem Bericht autoritativ und öffentlich feststellen, wer für die an ihnen verübten Verbrechen verantwortlich ist, und kann den unzulässigen und für die Opfer wie ihre Nachfahren gänzlich inakzeptablen Unwahrheiten über das von ihnen erlittene Unrecht öffentlich und effektiv die Glaubwürdigkeit und Legitimation entziehen. Die athenische Versöhnungsvereinbarung aus dem Jahre 403 v. Chr. ist einer solchen Notsituation geschuldet. Nicht zuletzt weil Sparta zugunsten der Oligarchen auch direkt militärisch intervenierte, bestand keine Aussicht, dass die Demokraten aus eigenen Kräften in absehbarer Zeit die Macht in Athen würden zurückgewinnen können. Historiker vermuten, Pausanias, der König Spartas, habe die Verhandlungen mit dem Ziel der Rückkehr zu einer demokratischen Ordnung vermittelt, um seine eigene Hausmacht zu stärken, die Re-

Wahrheitskommissionen

in der Notsituation

357

gion zu stabilisieren und weil Sparta für seine Unterstützung der Oligarchien von anderen Verbündeten kritisiert wurde. Dennoch dürfte die Verhandlungsposition der Oligarchen sehr stark gewesen sein.84 Unter diesen Bedingungen zahlten die Demokraten zwar einen hohen Preis für die Rückkehr in ihre Häuser und die Wiederherstellung eines demokratischen Athens, aber das Verhandlungsergebnis beendete nicht nur den Bürgerkrieg, sondern war der Beginn einer stabilen demokratischen Ordnung Athens für viele Jahre. Unter dem Gesichtspunkt der restaurativen Gerechtigkeit waren die Versöhnungsvereinbarung und die Maßnahmen der Anführer der Demokraten, Thrasybulos, Anytos und Archinos, die auf die Einhaltung der Versöhnungsvereinbarung beharrten,85 ein großer Erfolg — wenn es für den Zweck des Arguments erlaubt ist, von den sehr erheblichen Defiziten der athenischen Demokratie einmal abzusehen.86 Eine solche Einschätzung ist, wie ich betont habe, durchaus vereinbar mit der Behauptung, die Amnestie für die unter der Diktatur verübten politischen Verbrechen wie auch das Fehlen einer Bemühung um wenigstens minimale Verantwortungszuschreibung sei den Opfern gegenüber ungerecht gewesen. Es gab zahlreiche Versuche, vor Strafgerichten des nun wieder demokratischen Athens retributive Gerechtigkeit trotz der Amnestie durchzusetzen, nicht zuletzt, indem versucht wurde, die unter die Amnestie fallenden Taten einzuschränken.87 Insbesondere waren Ankläger bemüht, der von der Amnestie ausgeschlossenen Straftat der autocheiria, Mord mit eigenen Händen, eine sehr weite Definition zu geben.88 Selbst Informanten wurden dieser Straftat bezichtigt.89 Eine klare Sprache spricht auch, dass nur zwei Jahre nach dem Abschluss der Versöhnungsvereinbarung und nach vermutlich von Athen weder provozierten noch vorausgesehenen Scharmützeln mit dem benachbarten Eleusis, dem Sicherheitshafen der Oligarchen, das demokratische Athen die militärischen Führer der Oligarchen in einen Hinterhalt locken und töten lässt, und Eleusis als unabhängige Stadt der Oligarchen aufgelöst wird. Ein riskantes Unternehmen, aber offenbar wird Sparta dadurch zufriedengestellt, dass das demokratische Athen die Schulden übernimmt, welche die Oligarchen Sparta gegenüber haben.90 Von dem Beharren auf Verantwortungszuschreibung der unter der Diktatur begangenen Verbrechen zeugen die überlieferten Reden an-

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Wahrheitskommissionen

in der

Notsituation

lässlich von Anhörungen für öffentliche Ämter im nun wieder demokratischen Athen, den Dokimasieverfahren, bei denen das Verhalten eines Kandidaten während der Oligarchie Gegenstand der Auseinandersetzung war.91 Die Amnestie schützte vor Bestrafung im strafrechtlichen Sinne, nicht aber vor Beschuldigungen, die zu politischer Disqualifikation führen konnten. Verantwortungszuschreibung und soziale Sanktionierung von Verdächtigen in den Anhörungsverfahren für öffentliche Ämter sind, so lassen die wenigen überlieferten Reden vermuten,92 weder fair noch der Klärung von Verantwortung zuträglich gewesen. Die Arbeit einer Wahrheitskommission in Verbindung mit einer Amnestie kann heute dieser Form der Verantwortungszuschreibung deutlich überlegen sein. Die Forderung nach einer Wahrheitskommission ist also in der Notsituation durchaus plausibel. Ersatz-, Zahlen- und das restaurative Gerechtigkeitsargument können aber auch in der Wahlsituation, wenn Strafverfolgung, Strafverfahren und Bestrafung die Transition to Democrag nicht gefährden, die Entscheidung zugunsten einer Wahrheitskommission in Verbindung mit einer eingeschränkten und bedingten Amnestie als legitim, weil bei Berücksichtigung aller relevanten Interessen so gerecht wie unter den Umständen möglich erweisen. Die Forderung nach Wahrheit kann eine Gerechtigkeitsforderung sein, und die Einrichtung einer Wahrheitskommission kann unter den schwierigen Umständen einer Transition to Democrat^ von der Gerechtigkeit auch um den Preis einer eingeschränkten und bedingten Amnestie gefordert sein — jedenfalls in der Welt, in der die athenischen Demokraten und auch wir leben, einer Welt, in der es einen effektiven panhellenischen oder kosmopolitischen Strafgerichtshof nicht gibt. Die Ergebnisse der bisher vorgestellten Überlegungen lassen sich knapp wie folgt zusammenfassen: Wahrheitskommissionen können jedenfalls partiell das funktionale Äquivalent von strafrechtlicher Verfolgung und Bestrafung sein mit Blick auf die Erfüllung der Ansprüche der Opfer von Systemunrecht während einer Transition to Democracy, es kann gute, auf Überlegungen der Gerechtigkeit fußende Gründe zugunsten von Wahrheitskommissionen in Verbindung mit einer bedingten Amnestie insbesondere (aber nicht nur) in der Notsituation geben.

Auf S trafverfo Igung und -Vollstreckung

vernichten

359

Angesichts dieser Ergebnisse ist zu prüfen, wie eine Arbeitsteilung zwischen Strafverfolgung und Strafgerichten sowie der Arbeit von Wahrheitskommissionen ausgestaltet werden kann. Dieser Frage gehe ich in den nächsten Abschnitten nach. Ich untersuche, inwiefern die Option, eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer Amnestie einzurichten, im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs völkerrechtlich positiviert ist oder werden sollte. Meine Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Legitimität von Wahrheitskommissionen legt zwei rechtspolitische Forderungen nahe. Erstens sollte im Statut eines internationalen Strafgerichtshofs das moralische Urteil positiviert sein, dass Regierungen sich für eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer Amnestie entscheiden sollten, ist dies in einer Notsituation Bedingung dafür, die Menschenrechtsverletzungen im Land zu beenden und ein Regime einzurichten, das die Menschenrechte effektiv schützt. Zweitens sollte nach Abwägung aller gerechtigkeitsrelevanten Ansprüche die Entscheidung zugunsten einer Wahrheitskommission in Verbindung mit einer eingeschränkten und bedingten Amnestie erlaubt sein, auch wenn, wie in der Wahlsituation, Strafverfahren die Transition to Democracy als solche nicht gefährden.

7. Auf Strafverfolgung

und Strafvollstreckung

vernichten

Das Statut eines internationalen Strafgerichtshofs sollte diese Ausnahmen von der völkerrechtlichen Pflicht zur Bestrafung von Menschenrechtsverbrechen zulassen. Wie wären die Normen des Statuts eines internationalen Strafgerichtshofs dann aufzufassen? Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen den folgenden Normkategorien.93 Je nach Kategorie ist es verboten oder erlaubt, auf Strafverfolgung und die Vollstreckung der Strafe zu verzichten. Einige strafrechtliche Normen legen eine absolute Pflicht des Staates fest, sowohl strafrechtliche Verfahren gegen die anzustrengen, die verdächtigt werden, die Norm verletzt zu haben, als auch die zu bestrafen, die eines solchen Verbrechens überführt werden.94 Dem Staat ist es weder erlaubt, diese Normen in dem Sinne aufzuheben, dass er auf strafrechtliche Verfahren gegen die verzichtet, die der Normverletzung verdächtigt sind, noch ist es dem Staat erlaubt, eine Amnestie in dem

360

Auf S trafverfolgung

und -Vollstreckung

vernichten

Sinne zu gewähren, dass er die verurteilten Täter nicht bestraft. Solche Normen legen eine absolute Bestrafungspflicht fest und gehören zur ersten Kategorie. Andere Normen etablieren eine nichtabsolute Bestrafungspflicht: Sie legen eine Pflicht des Staates fest, sowohl Strafverfahren gegen die anzustrengen, die der Verletzung der Norm verdächtigt sind, als auch die solcher Normverletzungen für schuldig Befundenen zu verurteilen. Sie verpflichten den Staat aber nicht unbedingt zur Vollstreckung verhängter Strafen. Solche Normen gehören in die zweite Kategorie. Von diesen Normen kann man sagen, dass sie eine Pflicht zur Bestrafung etablieren. Die Verurteilung durch ein Strafgericht drückt die Missbilligung des Staates über den Unrechtstäter und seine Handlungen aus, öffentlich und mit größtmöglichem Nachdruck. Derartige Missbilligung kann als ein zentrales Element der Erfüllung der staatlichen Bestrafungspflicht verstanden werden.95 Wieder andere Normen implizieren keine Pflicht zur Strafverfolgung oder Bestrafung. Sie gehören zur dritten Kategorie.96 Unabhängig von seinen Strafverfolgungs- und Bestrafungspflichten ist der Staat verpflichtet, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen.97 Ein Staat mag darin gehindert sein, ein Strafverfahren einzuleiten, z.B. wenn dies gegen das Rückwirkungsverbot verstieße.98 Selbst dann steht der Staat aber den Opfern gegenüber unter einer Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Handelt es sich um Verletzungen von Normen der ersten Kategorie und hat der IstGH die Jurisdiktion für den Fall, kann das Gericht weder auf strafrechtliche Verfolgung noch gegebenenfalls auf die Vollstreckung der Strafe verzichten. Für Situationen, in denen die Chance einer Transition to Oemocracy besteht, sollte man mit größter Vorsicht den Geltungsbereich von Normen abstecken, die eine absolute Bestrafungspflicht fesdegen. Sind Mitglieder einer Gesellschaft mit einem Regime konfrontiert, in dessen Namen oder mit dessen Duldung Normen der ersten Kategorie verletzt wurden, könnten sie auf strafrechtliche Verfahren und Bestrafung nicht verzichten, auch wenn dies die Transition to Democracy erschwerte oder gar absehbar unmöglich machte. Handelte es sich um Normverletzungen der zweiten Kategorie, dann hätten sie die Option, auf die Vollstreckung der (strafgerichtlich festgesetzten) Strafe zu verzichten (Amnestie im engeren Sinn). Sind es Normverletzungen der dritten

Auf S t r a f v e r f o Igung

und -Vollstreckung

vernichten

361

Kategorie, können sie auf strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung verzichten (Abolition oder Aufhebung der entsprechenden Norm).99 Mit Blick auf Normen der beiden letztgenannten Kategorien gilt es die Bedingungen dafür zu bestimmen, dass der Gesetzgeber eine Amnestie oder eine generelle Aufhebung der Norm gewähren kann. In der oben unterschiedenen Wahlsituation kann der Pflicht des Staates zur Verfolgung von Normverletzungen und deren Verurteilung durch die Arbeit einer Wahrheitskommission entsprochen werden. Das ist plausibel, können die Ergebnisse der Arbeit einer Wahrheitskommission Normverletzungen der zweiten Kategorie entschieden und öffentlich missbilligen. Wie gezeigt können die Ergebnisse der Arbeit einer Wahrheitskommission dann als Ersatz für strafrechtliche Verurteilung gelten, werden die Ergebnisse öffentlich gemacht, enthalten sie die Namen der Straftäter und geben sie an, wer für welche Normverletzungen im strafrechtlichen Sinne verantwortlich ist.100 Erlauben es die Machtverhältnisse und Humanressourcen, wird der in Transition befindende Staat die Übeltäter mit weiteren sozialen Sanktionen belegen, insbesondere durch den Ausschluss von öffentlichen Amtern und einflussreichen Positionen. Der Staat wird zudem durch Maßnahmen der Kompensation und Restitution, einschließlich der symbolischen, das Unrecht anerkennen wollen, das Menschen als Individuen und Mitglieder von Gruppen erlitten haben. Ist die zivilrechtliche Amnestierung der mit der Wahrheitskommission kooperierenden Täter keine Bedingung ihres effektiven Funktionierens, dann sollte die zugestandene bedingte Amnestie keine (vollständige) Befreiung von zivilrechtlicher Haftung einschließen.101 Sofern ein internationaler Strafgerichtshof nur anstelle der zuständigen Gerichte der Einzelstaaten tätig werden soll, wird er keine Jurisdiktion für Verletzungen von Normen der dritten Kategorie beanspruchen, die keine Bestrafungspflicht des zuständigen Einzelstaats nach sich ziehen. Demnach wird ein Strafgericht mit universeller Jurisdiktion nur beanspruchen, mögliche Verletzungen von Normen der ersten beiden Kategorien zu untersuchen. Das ist ein Grund mehr für die Einzelstaaten, sehr restriktiv zu sein bei der Amnestierung von Verletzungen der Normen der dritten Kategorie oder ihrer generellen Aufhebung. 102

362

Das Statut

des Internationalen

8. Das Statut des Internationalen

Strafgerichtshofs

Strafgerichtshofs

Das Statut des IstGH enthält keine Liste von Bedingungen, bei deren Vorliegen das Gericht Staaten erlauben kann, auf Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen oder Bestrafung der Täter zu verzichten. Der Verzicht kann aber in zwei Verfahren für rechtens erklärt werden: Gemäß Artikel 16 IstGH kann erstens der Sicherheitsrat eine Resolution gemäß Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen beschließen, die das Gericht auffordert, auf die Einleitung einer Untersuchung oder Strafverfolgung vorläufig zu verzichten oder jedes schon begonnene Verfahren aufzuschieben. 103 Jedoch ist eine solche Resolution für den IstGH rechtlich nicht bindend. Das Gericht wird ihr nicht folgen, findet es, dass eine Amnestie dem Völkerrecht widerspricht. 104 Überdies kann der Sicherheitsrat lediglich eine Aussetzung und Verschiebung für zwölf Monate verlangen, dieses Verlangen allerdings erneuern. Liegt eine solche Resolution des Sicherheitsrats nicht vor, kann der Ankläger des IstGH gemäß Artikel 53 die Entscheidung einer Regierung zugunsten einer Amnestie (und einer Wahrheitskommission) respektieren 105 und auf die Einleitung einer Untersuchung auch dann verzichten, wenn ein Staat als Vertragspartei des Statuts die entsprechende Klage angestrengt hat. Dafür muss der Ankläger zu dem Ergebnis kommen, dass „wesentliche Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Durchführung von Ermittlungen nicht im Interesse der Gerechtigkeit läge." Diese Entscheidung des Anklägers ist ihrerseits Gegenstand der Überprüfung durch die Vorverfahrenskammer des Gerichts. Bei dem Verdacht auf Menschenrechtsverletzungen der ersten Kategorie, für die eine absolute Bestrafungspflicht gilt, kann die Vorverfahrenskammer nicht zu dem Schluss kommen, dass eine Amnestie (und eine Wahrheitskommission) zulässig sind, gleich welchen Interessen der Gerechtigkeit damit gedient wäre. 106 Nur dann, wenn die Vorverfahrenskammer die Entscheidung einer Regierung zugunsten einer Amnestie guthieße, wäre die Regierung von ihrer völkerrechtlichen Bestrafungspflicht befreit. Rechtlich gesprochen können sich Regierungen nicht selbst von internationalen Verpflichtungen befreien. Moralisch gesprochen können Regierungen aber gute Gründe haben, auf Strafverfolgung und Bestrafung zu verzichten, ist dies Bedingung einer friedlichen Transition to Democrag,

Ein S trafgerichtsbof

mit beschränkter

Autorität

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zu Verhältnissen also, die weitere Menschenrechtsverletzungen effektiv unterbinden. Angesichts von Notsituationen haben die Vereinten Nationen und Regierungen westlicher Demokratien die Entscheidung zum Verzicht auf Strafverfolgung und Bestrafung unterstützt. 1 " 7 Ist allerdings die Befreiung von Strafverfolgung oder Bestrafung völkerrechtswidrig, kann der Täter außerhalb des Landes, das ihm Amnestie gewährt, strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. 108 Bei Verletzungen von Normen ohne absolute Bestrafungspflicht ist zu untersuchen, unter welchen Bedingungen der IstGH eine einzelstaatliche Amnestie für zulässig halten soll. Es ist auch eine offene Frage, ob der IstGH für zulässig halten soll, dass Staaten ihrer Pflicht zur Verfolgung und Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen durch Wahrheitskommissionen entsprechen, deren Arbeit die rechtliche Missbilligung spezifischer Normverletzungen bei Nennung der Täter öffentlich und autoritativ zum Ausdruck bringt.

9. Ein internationaler Strafgerichtshof mit beschränkter Autorität Seit der Vertrag von Rom in Kraft getreten ist, haben IstGH und Sicherheitsrat die Verantwortung für Entscheidungen darüber, ob in Staaten, die den Vertrag von Rom ratifiziert haben, eine Amnestie (im engeren Sinn) oder die Aufhebung strafrechtlicher Normen (Abolition) zulässig ist. Das ändert die politische Situation. Eine Notsituation, in der eine Amnestie für Menschenrechtsverbrechen Bedingung für den friedlichen Ubergang zu demokratischen Verhältnissen ist, hat viele Ursachen. Häufig sind die Machtbeziehungen zwischen den Eliten des diktatorischen Regimes und den Gegnern des Regimes ein entscheidender Faktor. Selbst wenn die Eliten des diktatorischen Regimes eine Transition to Oemocracy unterstützen, werden sie ihre Bedingungen diktieren wollen. Die Gegner des Regimes haben sich häufig in einer schwachen Verhandlungsposition befunden. 109 Die internationale Staatengesellschaft kann innerstaatliche Machtverhältnisse aber beeinflussen. Ist dies der Fall und möchte die internationale Staatengesellschaft den Verzicht auf strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen oder eine Amnestie im engeren Sinn nicht dulden, dann hat die internationale Gesellschaft die Verantwortung, Diktaturen entweder zu verhindern oder ihren Fort-

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Ein Strafgerichtshof

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Autorität

bestand effektiv zu behindern. Dies ist eine weitreichende Verantwortung.110 Sie geht weit darüber hinaus zu entscheiden, ob es zulässig ist, dass Menschen in einer Notsituation den Prozess einer Transition to Democracy zum Preis einer Amnestie oder gar der Aufhebung von Strafnormen einleiten. Es steht zu befürchten, dass die internationale Staatengesellschaft dieser weiterreichenden politischen Verantwortung nicht gerecht wird. Voraussichtlich wird sie weder generell Diktaturen verhindern können, noch die Bedingungen sicherstellen, unter denen eine Transition to Democracy gelingt und die strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung derer durchgesetzt wird, die für Menschenrechtsverletzungen unter dem Vorgängerregime verantwortlich sind. Womöglich hängen Abschreckungseffekte, wie sie dem Statut des IstGH zugeschrieben werden, von der Erwartung ab, dass Personen, die schlimme Menschenrechtsverletzungen begangen haben, verfolgt und bestraft werden. Solche Wirkung könnte nur sichergestellt werden, entspräche die internationale Staatengesellschaft ihrer politischen Verantwortung, Notsituationen, so sie entstehen, auch aufzulösen. Nicht selten bedarf es dazu ökonomischer oder militärischer Intervention. Zu solchen Interventionen, die in der Regel mit hohen Kosten verbunden sind und viele Unschuldige das Leben kostet, ist die internationale Gesellschaft heute häufig weder willens, noch kann sie deren Erfolg sicherstellen.111 Sind Menschen mit einer Notsituation konfrontiert, dann sollte ein internationaler Strafgerichtshof nicht eine Lösung erschweren, die noch am ehesten als gerecht gelten kann. In der Notsituation kann die Entscheidung zugunsten des Verzichts auf strafrechtliche Verfolgung als gerecht gelten, so dies Bedingung für den Prozess einer Transition to Democracy ist, der alternative, nicht-strafrechtliche Mittel etabliert, die Unrechtstäter mit Sanktionen zu belegen und die Opfer zu restituieren. Menschen in einer Notsituation sollten sich dafür entscheiden können, eine friedliche Transition zu demokratischen Verhältnissen herbeizuführen und dadurch den Schutz der Menschenrechte für die Zukunft zu sichern. Dafür kann das Zugeständnis nötig sein, auf strafrechtliche Bestrafung für Menschenrechtsverletzungen, die unter und im Namen des diktatorischen Regimes verübt wurden, zu verzichten (Amnestie im engeren Sinn) oder auf die strafrechtliche Verfolgung dieser Verbrechen als solche (Auf-

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hebung der Geltung der entsprechenden Strafnormen, Generalabolition). Die Bedeutung solcher Zugeständnisse hängt auch davon ab, ob statt einer strafrechtlichen Sanktionierung das begangene Unrecht öffentlich anerkannt wird, und die offizielle Missbilligung der Täter sowie angemessene Formen der Kompensation und Restitution der Opfer sichergestellt werden. Wahrheitskommissionen, Säuberungen, und staatlich geförderte Maßnahmen der materiellen und symbolischen Kompensation können dabei helfen, diesen Ansprüchen der Opfer und ihrer Nachfahren zu genügen. Selbst wenn in der Wahlsituation strafrechtliche Verfolgungen die friedliche Transition to Democracy nicht ausschließen, kann es legitim sein, zugunsten einer Wahrheitskommission in Verbindung mit einer eingeschränkten und bedingten Amnestie zu entscheiden. Die Legitimität einer solchen Entscheidung hängt von einer im hohen Maße kontextuellen Bewertung ihrer Konsequenzen ab. Entscheidend sind die Konsequenzen einer solchen Politik für die Chance sowohl angemessener Kompensation und Restitution der Opfer als insbesondere auch der baldigen Etablierung einer rechtsstaatlichen Ordnung, deren staatliche Einrichtungen die Menschenrechte effektiv schützen. Ein internationaler Strafgerichtshof sollte anerkennen, dass eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer beschränkten und bedingten Amnestie dem Ziel restaurativer Gerechtigkeit bestmöglich dienen kann. Da es der internationalen Gesellschaft an Fähigkeit und am Willen mangeln dürfte, Bedingungen sicherzustellen, die keinen Anlass für derart schwierige Abwägungen geben, sollte sie anerkennen, dass Regierungen und andere innerstaatliche Akteure sich in Not- und schwierigen Wahlsituationen befinden können. Rechtspolitisch gesprochen schlösse eine solche Anerkennung erstens ein, sorgfältig den Geltungsbereich von Normen einzuschränken, die in die erstgenannte Kategorie fallen, also eine absolute Pflicht des Staates nach sich ziehen, strafrechtliche Verfolgung einzuleiten und gegebenenfalls den Straftäter zu bestrafen. Zweitens ist der Geltungsbereich von Normen auszuweiten, die in die oben genannten Kategorien zwei und drei fallen, nämlich erlauben, auf Strafverfolgung oder auf die Vollstreckung der Strafe zu verzichten. Und drittens sind Staaten dabei zu unterstützen, Institutionen zu schaffen, die eine öffentliche Missbilligung der unter dem Vorgängerregime verübten Verbrechen

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Schlussbemerkung

sicherstellen, wie auch Institutionen, die den Opfern und ihren Nachfahren Kompensation und Restitution leisten.

10. Schlussbemerkung Auf strafrechtlicher Verfolgung zu bestehen, die unter anderen Umständen in der Zukunft vielleicht möglich ist, lässt sich schwerlich rechtfertigen, müssen wir erwarten, dass diese Entscheidung weitere Menschenrechtsverletzungen jetzt und in der absehbaren Zukunft nach sich zieht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der internationalen Gesellschaft kann die Autorität eines internationalen Strafgerichtshofs, strafrechtliche Verfahren einzuleiten und gegebenenfalls die Menschenrechtsverbrecher zu bestrafen, nur dann moralisch verteidigt werden, wenn solche Autorität vorsichtig „im Interesse der Gerechtigkeit" begrenzt wird. Dasselbe träfe für einen kosmopolitischen Strafgerichtshof zu, der universelle Jurisdiktion beansprucht. Vielen gerechten Ansprüchen der Opfer kann eine Wahrheitskommission in Verbindung mit einer bedingten Amnestie genügen. Während einer Transition to Democracy können Wahrheitskommissionen ein partielles funktionales Äquivalent strafrechtlicher Verfolgung und Bestrafung sein mit Blick auf die Erfüllung der Ansprüche der Opfer früheren Unrechts.

Anmerkungen

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Anmerkungen 1 Siehe Kritz 1995. 2 Siehe Elster 1998, S. 9; ders. 2004. 3 Für die Zahl siehe Isokrates 1997, xx „Gegen Lochites", S. 11, der von eintausendfünfhundert ohne Gerichtsverhandlung hingerichteten Bürgern spricht. Siehe auch Krcntz 1982, S. 79, und ebd., Fn. 30 für andere Quellen, die ζ. T. deutlich höhere Zahlen nennen. 4 Siehe Aristoteles 1990, S. 38, 1; Krentz 1982, S. 87-92. 5 Die Hauptquellen für die Vereinbarung sind Aristoteles 1990, S. 39, und Xenophon 1995, II, S. 4, 38-43. Die gründlichste .Analyse und Interpretation hat Loening 1987 vorgelegt. 6 Siehe Aristoteles 1990, S. 39, 1. Die Dreissig Tyrannen hatten zuvor schon die Kontrolle in Elcusis übernommen und in der Folge etwa dreihundert Bürger von Eleusis hingerichtet. Nach ihrem Sturz wurden die Dreissig nach Eleusis geschickt. Siehe Krentz 1982, S. 85 f., 92. 7 Siehe Aristoteles 1990, S. 39, 6. 8 Siehe Loening 1987, S. 49. 9 Siehe ebd., S. 46 f. 10 Siehe ebd., S. 46. 11 Sie erhielten auch das Recht zum Kauf eines Hauses in Eleusis (Aristoteles 1990, S. 39, 3). Siehe zu dieser bemerkenswerten Regelung Loening 1987, S. 35-37, und siehe oben N. 6. 12 Nach der Erläuterung von Mortimer Chambers bedeutete dies, dass sie sich einhundertzehn Tage in Athen aufhalten durften (siehe Aristoteles 1990, S. 316). 13 Siehe Loening 1987, S. 88-97. 14 Siehe Krentz 1982, Kap. 7. 15 Siehe Loening 1987, S. 105. - Opfer des Apartheidregimes haben die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission (TRC)) insbesondere dafür kritisiert, dass die von der Kommission gegebenenfalls gewährte Amnestie auch alle zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer ausschließt, also die Ansprüche der Opfer auf Kompensation und Restitution gegen die Täter. Das südafrikanische Verfassungsgericht hat eine entsprechende Klage zurückgewiesen. Für eine Analyse siehe Venter 1997. Für das Argument, dass Reparationsleistungen durch die für die Verbrechen unter dem Apartheidregimc Verantwortlichen notwendige Voraussetzung für die Koexistenz von schwarzer und weißer Bevölkerung in Südafrika sind, siehe Soyinka 1999, Teil I, insbesondere S. 35 f. Die Republik Südafrika hat die Verantwortung für Reparationszahlungen übernommen. Im Bericht der südafrikanischen Wahrheitskommission wird auf die knappen Ressourcen des Staates hingewiesen, die angesichts der vielen direkten und indirekten Opfer des Apartheidregimes umfangreiche Reparationszahlungen an Personen, die Opfer politisch motivierter Menschcnrechtsverbrechen unter dem Apartheid-

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Anmerkungen

regime geworden sind, ausschließen (Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report 1998, Bd. 1, S. 129). Siehe auch Kap. V, N. 113. 16 Die Bürger, die Widerstand geleistet hatten, wurden öffentlich geehrt; die Söhne der Bürger, die im Kampf gegen die Oligarchcn gefallen waren, erhielten staatliche Unterstützung; Nicht-Bürger, die gegen die Oligarchcn gekämpft hatten (eintausendzweihundert oder mehr), erhielten neue Rechte, nicht aber das Bürgerrecht. Siehe Krentz 1982, S. 110-13. In seinem Urteil ebd., S. 113: "Democratic resisters to the oligarchy were recognized and honored, but in a restrained manner ... The democracy was to be restored as of old ... All in all, a picture of moderation." 17 Statt vieler siehe Schwan 1997, 235-50; Boraine, Levy und Scheffer 1994; Hahn-Godeffroy 1998; Minow 1998, Kap. 4; Hayner 2001. 18 Einige Wahrheitskommissionen haben der Wahrheitsfindung im Sinne der historischen Aufklärung über die verübten Verbrechen gedient. Das gilt z.B. für die 1991 etablierte Wahrheitskommission für El Salvador, "Commission on the Truth for El Salvador", der es gelang, zur Klärung der Umstände und der Verantwortlichkeiten für eine Reihe der umstrittensten Eälle beizutragen (siehe Popkin und Roht-Arriaza 1995, S. 272-76; Buergcnthal 1995, Bd. I, S. 321. Häufig sind die Verbrechen und ihre Umstände bekannt, und die Leistung einer Wahrheitskommission liegt darin, dazu beizutragen, dass die Opfer als Opfer autoritativ und öffentlich anerkannt werden. Dass die Wahrheit über die Verbrechen erzählt wird, hat soziale Bedeutung, wie z.B. Jedlicki 1990, S. 72 betont: "if historical truth is to serve as catharsis, ... it is not a matter of indifference who reveals and who tcaches it. ... It is entirely indifferent from the point of view of scholarship but not in social life, where no knowledge itself of the facts is the issue but collective feelings, fanned or extinguished by facts, by fabrications and concealments, by justifications and verdicts." Es dürfte sehr viel einfacher sein, soziales Vergessen früheren Unrechts zu fördern als moralische Rechenschaft über solches Unrecht. Irwin-Zarecka 1994, S. 126 beobachtet: "Social forgetting ... can be and frequently is seen as something both needed and desirable. Beyond the very general idea that too much concern with the past may be counterproductive for collective well being, there are the more specific, culturally inscribed, principles that frame forgetting in a positive way." "In a world that suffered many conflicts and great wars in this century, the international forgetting is a fact of life." (Ebd., S. 128) Irwin-Zarccka argumentiert, dass im Falle Österreichs die Deutung, Osterreich sei Opfer des Zweiten Weltkriegs gewesen, nicht ohne die Kooperation der USA und der Sowjetunion hätte Erfolg haben können. Für sie ist Osterreich ein Beispiel des Einflusses anderer bei "allowing, supporting, and encouraging the construction and maintenance of morally purified narratives, both ideologically and practically." (Ebd., S. 128 f.) Für ein moralisches Argument gegen soziales Vergessen und für lirinnerung als eine

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Voraussetzung für moralisches Urteilen siehe de Greiff 1996, S. 103. Siehe auch Kap. IV, N.5. Letzteres ist die m. E. treffende Charakterisierung Ignatieffs auf einer Veranstaltung der Kennedy School of Government, Harvard Universität, zu Wahrheitskommissionen, Oktober 2000. Für einführende historische, politikwissenschafliche, rechtliche, vergleichende und völkerrechtliche Untersuchungen zur Amnestierung von Verbrechen, die unter einem Vorgängerregime begangen wurden, siehe z.B. Frei 1996, Teil I; Günther 1997, sowie die Beiträge in Roht-Arriaza 1995; Joyner 1998; Roniger und Sznajdcr 1999; siehe auch Jäger 1990. Diese Auffassung vertritt mit Nachdruck Orentlicher 1991; für eine Kritik siehe z.B. Nino 1996. — Für generelle und vergleichende Analysen von strafrechtlicher Verfolgung als Reaktion auf historisches Unrecht siehe Kap. V, N. 87. — Zu den Klassikern der normativen und politischen Analyse der Legitimität von Bestrafung als Reaktion auf unter einem Vorgängerregime verübtes Unrecht zählen Kirchheimer 1993, insbesondere Kap. 1; Arendt 1986. Diese Auffassung könnte sich auf eine spezifische Interpretation des positiven Retributivismus stützen. Danach muss der Schuldige ohne Ausnahme bestraft werden und zwar in dem Maße, wie er es aufgrund des von ihm verübten Unrechts verdient (siehe Mackie 1982; Dolinko 1991, S. 539-43). Die Behauptung, solche Bestrafung der Täter sei auch dem Opfer geschuldet, ist allerdings eine zusätzliche. Ein einflussreiches Argument zugunsten dieser Behauptung lautet, dass der Unrechtstäter sich durch die Tat einen unfairen Vorteil verschafft hat, indem er die für alle gleichermaßen und zum Schutz aller geltenden Regeln der Verhaltenseinschränkung verletzt hat, und dass seine Bestrafung dazu dient, ihm diesen Vorteil gegenüber denen, welche die Regeln einhalten, und insbesondere gegenüber dem Opfer wieder zu nehmen (siehe z.B. Murphy 1973). Zu den Diktatoren, die für schlimmste Menschenrechtsverbrechen im eigenen Land verantwortlich sind, sich der Strafverfolgung durch Verlassen des Landes entziehen konnten und deren Aufenthaltsort bekannt ist, zählen: Idi Amin (Uganda), der sich in Saudi Arabien aufhält, sein Nachfolger Milton Obote, der sich in Sambia aufhält, Alfredo Stroessner (Paraquay), der sich in Brasilien aufhält, Jean-Claude (Baby Doc) Duvalier (Haiti), der sich in Frankreich aufhält, Mengistu Hailc Mariam (Äthiopien), der sich in Simbabwe aufhält (siehe The New York Times, 11.2. 2000, Section A, S. 30, Spalte 1; siehe auch Orizio 2003). Offenbar ist auch Saddam Hussein (Irak) mit Billigung und Unterstützung der USA ein sicheres Exil in Verbindung mit Amnestie angeboten worden ( C N N USA, News, 30. 12. 02; The New York Times, 20. 1. 2002, Steven R. Weisman, "Exile for Hussein May Be an Option, US Officials Hint": US Verteidigungsminister Rumsfeld halte ein sicheres Exil für Hussein und Familie in Verbindung mit einer Amnestie für sie und enge Mitarbeiter "for a fair trade to avoid the war").

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24 Es handelt sich um beschworcnc Vereinbarungen, deren Text öffentlich zugänglich war; die Vereinbarungen wurden jedoch nicht als Gesetze ratifiziert. Siehe auch Loening 1987, S. 28-30; Krentz 1982, S. 107 f. 25 Wollen Mitglieder fortbestehender Gesellschaften Krfolg damit haben, eine öffentliche Ordnung ihrer Wahl zu etablieren, müssen sie den Opfern den ihnen geschuldeten Respekt erweisen (siehe auch Kap. III.7 und 8) sowie die langfristigen Konsequenzen der unter dem Vorgängerregimc und in seinem Namen verübten Verbrechen überwinden und, in der Tat, beseitigen. Allerdings ist dies, wie die Überlegungen in Kap. V und VI belegen, ein komplexes Unterfangen, dessen besondere Erfolgsbedingungen stark variieren. Siehe insbesondere Kap. V, N. 85-94 und Text. 26 Siehe Alex Boraine, "Reconciliation in the Balkans?", The New York Times, 22. 4. 2001, Section 4, S. 17, Spalte 2; Tina Rosenberg, "Truth Commissions Take On a Local Flavor", The New York Times, 26. 2. 2001, Section A, S. 14, Spalte 1; zu Panama siehe auch The New York Times, 20. 2. 2001, Section A, S. 20, Sp. 1; zu Peru siehe auch, The New York Times, 25. 5. 2001, Section A, S. 3, Sp. 1; zu Mexiko siehe auch, The New York Times, 18. 7. 2001, Section A; S. 3, Sp. 1. Siehe auch Truth Commissions Digital Collection http://www.usip.org/ library/ truth.html#tc (14. April 2005) 27 Einige Wahrheitskommissionen (z.B. die Boliviens (1982), Argentiniens (1983), Chiles (1990) und des Tschads (1990)) sind vom neu gewählten Präsidenten eingesetzt worden, andere (z.B. die Uruguays (1985)) vom neu gewählten Parlament, andere (z.B. die Ruandas (1990), El Salvadors (1991) und Guatemalas (1994)) aufgrund einer Vereinbarung der Bürgerkriegsparteien, die TRC Südafrikas aufgrund einer Verfassungsbestimmung, die vom Parlament durch entsprechendes Gesetz umgesetzt wurde. Die meisten Wahrheitskommissionen sind vom jeweiligen Staat finanziert worden, häufig mit sehr bescheidenen Mitteln (z.B. die Boliviens), andere mit ausreichenden (z.B. die Chiles); die Wahrheitskommission Ruandas ist vollständig von internationalen Nichtregierungsorganisationen finanziert worden, die El Salvadors von den Vereinten Nationen und einer Staatenkoalition, insbesondere aus europäischen Staaten. Einige Wahrheitskommissionen haben ein weites Mandat (z.B. die Argentiniens und die des Tschad), andere ein äußerst eingeschränktes (z.B. die Chiles, deren Mandat, ähnlich wie das der Kommission Boliviens, die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, die nicht zum Tod oder „Verschwinden" des Opfers führten, ausschloss sowie die Nennung der Namen der Täter (dazu siehe unten N. 63)). 28 Dass auch in Zukunft der Arbeit von Wahrheitskommissionen eine wichtige Rolle bei Transitions to Democracy beigemessen wird, kommt auch durch die Einrichtung eines "International Center for Transitional Justice" (http://www.ictj.org/) (14. April 2005) zum Ausdruck, der von der Ford Foundation zusammen mit der MacArthur Foundation, der Carnegie Corporation und dem Open Society Institute finanziert wird, und dessen Präsident Alex Boraine bis Mai 2004 war, einer der Architekten der

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südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, jetzt Vorsitzender des Aufsichtsrats des Centers. Sein Nachfolgcr ist Juan Mendez, vormals Präsident der Inter-American Commission on Human Rights. Das Center, das seine Arbeit im März 2001 aufnahm, soll bei der Einrichtung von Wahrheitskommissionen weltweit beratend tätig sein. Siehe The New York Times, 29. 7. 2001, Section 1,S. 4, Sp. 1. Und diese I Iochschätzung verdankt sie zu einem guten Teil ihrem Vorsitzenden Erzbischof Tutu. Eür seine Position siehe Tutu 1999; für den theologischen Kontext seiner Position siehe Shriver 1995; siehe auch Heyds Interpretation der Position Tutus in 2004. Siehe Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report 1998. Siehe Kap. V.4, und die Diskussion in Kap. VII.4 unten (zur Restitution der moralischen Beziehungen von Opfern und Tätern). Das Gesetz zur Einrichtung der Wahrheitskommission (The National Unity and Reconaliation Act, 1995) nennt folgende Bedingungen für die Amnestie: "full disclosure of all the relevant facts relating to acts associated with a political objective" (3 (1)); die Kommission hatte das Mandat über "gross violations of human rights", welches das Gesetz folgendermaßen definiert: "the violation of human rights through (a) the killing, abduction, torture or severe ill treatment of any person; or (b) any attempt, conspiracy, incitement, instigation, command or procurement to commit an act referred to in paragraph (a), which emanated from conflicts of the past and which was committed during the period 1 March 1960 to 10 May 1994 within or outside the Republic, and the commission of which was advised, planned, directed, commanded or ordered, by any person acting within a political motive." (1 (1)

(ix) 33 Siehe Ν. 22 oben (positiver Retributivismus). 34 Viele Akteure der transnationalen globalen Zivilgesellschaft haben die Idee eines solchen kosmopolitischen Gerichtshofs unterstützt wie auch die multilateralen Verhandlungen, deren Ergebnis der Staatenvertrag zur Schaffung des International Criminal Court (ICC) (deutsch: Internationaler Strafgerichtshof (IstGH)) ist. Siehe die Website der Koalition von Nichtregierungsorganisationen für den IstGH: http://www.iccnow.org/ (14. April 2005). 35 Viele Staaten, insbesondere aber auch Deutschland, hatten sich für einen kosmopolitischen Strafgerichtshof ausgesprochen. Zur Position Deutschlands in den Verhandlungen, die zur Verabschiedung des Statuts in Rom führten, siehe Wilhams 1999. 36 Siehe Rome Statute of the International Criminal Court, Art. 126. Für den offiziellen Text des Statuts siehe www.un.org/law/icc/statute/romefra.htm (14. April 2005) und für die Liste der Ratifizierungen siehe ebd. Für die amtliche deutsche Übersetzung siehe Rosbaud und Triffterer (2000). 37 Der IstGH beansprucht Jurisdiktion über folgende Verbrechen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggres-

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sion (Art 5-9). Allerdings ist Aggression im Statut nicht definiert. Art 5(2) sieht vor, dass der IstGH dann Jurisdiktion über Aggression haben wird, wenn eine entsprechende Definition durch Änderung des Statuts gemäß Artikel 121 und 123 ergänzt wurde. 38 Anders als der International Court of Justice (ICJ) (deutsch Internationaler Gerichtshof (IGH)) erlaubt der IstGH Staaten nicht, Vertragspartei unter der Bedingung temporaler oder substantieller Einschränkung in seiner Jurisdiktion zu werden (aber siehe Art. 36 des Statuts des IGH, www.icjcij.org/icjwww/ ibasicdocuments/Basetext/istatute.htm (14. April 2005)). Im Falle des IstGH gibt es eine Ausnahme: Eine Vertragspartei kann die Jurisdiktion des IstGH für Kriegsverbrechen nach Inkrafttreten des Statuts für sieben Jahre mit Blick auf ihre Staatsangehörigen oder das eigene Territorium aussetzen (Art. 124). Für den IGH siehe Meyer 1989. 39 Siehe Rome Statute of the International Cnminal Court, Art. 12 (3). 40 Siehe ebd, Art. 12 (2) (a). 41 Siehe ebd. 42 Siehe ebd., Art. 17 (1) (a). 43 Siehe ebd., Art. 13 (b). Zudem kann der Sicherheitsrat gemäß Art. 16 jede Untersuchung und Strafverfolgung durch den IstGH unterbinden oder aussetzen. Indien lehnt diese Rolle des Sicherheitsrats mit Blick auf den IstGH und die damit verbundene Privilegierung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats ab. Siehe Orentlicher 1999, S. 495-97. 44 Zur Analyse und Bewertung der Position der USA siehe z.B. Roth 1998; Brown 1999; Scheffler 1999; Wedgwood 1999; Hafner et al. 1999; Sadat und Garden 2000, S. 447-57. - Eine der letzten Amtshandlungen Präsident Clintons war es, am 31. 12. 2000 die Zeichnung des Vertrags von Rom für die USA zu autorisieren. Auch Israel und der Iran haben am 31. 12. 2000 den Vertrag gezeichnet. Dies war der letzte Tag, an welchem der Vertrag gezeichnet werden konnte, ohne ihn zugleich zu ratifizieren. In seiner offiziellen Erklärung spricht sich Präsident Clinton gegen die Ratifizierung des Vertrags aus, solange nicht "significant flaws" im Vertrag behoben seien: der Anspruch des IstGH auf Jurisdiktion auch über Staatsangehörige, deren Staaten den Vertrag nicht ratifiziert haben, und die Möglichkeit von "politicized prosecutions" gegen US-amerikanische Staatsangehörige. Präsident Clinton rechtfertigt die Zeichnung damit, dass sie sicherstellte, dass die USA an den Verhandlungen zur Präzisierung des Vertragswerks von Rom weiter beteiligt sein können (für die Erklärung siehe The New York Times, 1. Januar 2001, Section Α; Seite 6; Spalte 2). Am 31. 12. 2000 war schon bekannt, dass sein Nachfolger Bush und dessen Beraterteam den Vertrag von Rom ablehnten und die Ratifizierung ausschlossen (The New York Times, 1. Januar 2001, Section A; S. 1, Spalte 3 und siehe auch The New York Times, 14. Januar 2001, Section 6; S. 28; Spalte 3). Unter Präsident Bush wurde der Vertrag nicht nur nicht ratifiziert, sondern am 6. Mai 2002 hat die Bush Regierung die Zeichnung des Vertrags

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zurückgezogen (The New York Times, 5. Mai 2002, Section Λ; S. 18; Spalte 3). Dem gingen Bemühungen voraus, andere Staaten davon abzuhalten, den Vertrag zu ratifizieren (The New York Times, 21. Mai 2001, Section Α; S. 16; Spalte 1, und The New York Times, 14. Juli 2001, Section A; S. 4; Spalte 1). Zudem hat am 10. Mai 2001 der US-Kongress den "American Servicemembers' Protection Act 2001" (Amendment to H.R. 1646 abgedruckt in H. Rept. S. 107-62) verabschiedet (mit 282 Ja-, 137 Neinstimmen und 11 Enthaltungen). Präsident Bush hat das Gesetz am 3. August 2002 unterzeichnet. Das Gesetz untersagt jeder staatlichen Einrichtung der USA die Kooperation mit dem IstGII und seine Unterstützung sowie Untersuchungen des IstGII auf dem Territorium, über welches die USA Jurisdiktion beanspruchen (sees. 634 und 636); das Gesetz untersagt weiterhin, dass die USA Soldaten für friedenscrhaltende Maßnahmen der Vereinten Nationen zur Verfügung stellen, es sei denn, die Länder, in denen die Truppen eingesetzt sind, haben die Jurisdiktion des IstGHs nicht akzeptiert, und der Sicherheitsrat hat den US-amerikanischen Soldaten Immunität vor einer Strafverfolgung durch den IstGH zugesichert (sec. 635); außerdem verpflichtet das Gesetz die USA, einem Land (außer Mitgliedern der NATO, ihrer Verbündeten und Taiwan), das den Vertrag von Rom ratifiziert, jede militärische Hilfe zu entziehen, es sei denn, das Land hat sich verpflichtet, niemals einen Amerikaner an den IstGII auszuhändigen; schließlich ermächtigt das Gesetz die US-Regierung, Amerikaner und Angehörige verbündeter Staaten mit allen notwendigen Mitteln zu befreien, wenn sie vom IstGH oder für den IstGH gefangen gehalten werden (sec. 638). Der Sprecher des Senats Helms hat den Gesetzentwurf bei Einführung am 10. Mai unter anderem mit den Worten gewürdigt: "let me be absolutely clear, the Rome Treaty, if sent to the United States Senate for ratification, will be dead on arrival" und dies mit Hinweis auf den Jurisdiktionsanspruch und der Befürchtung politisch motivierter Anklagen gegen Angehörige der USA und Israels begründet (Congressional Record, Senate, 10. Mai 2002, 107. Congress, 1. Session, 147 Cong Ree S 4814, Reference, Vol. 147, No. 64, und siehe auch International Enforcement LMW Reporter 16 (2000), No. 11, "Section XIII. Permanent International Criminal Tribunal"). 45 Nicht anders als im Falle der ad hoc Tribunale für Jugoslawien und Ruanda (siehe nächste N. 46) ist die Kooperation der Staaten ganz entscheidend für die Effektivität der möglichen gerichtlichen Verfahren des IstGH. Die Entscheidungen und Anordnungen internationaler Straftribunale können nur von anderen, nämlich den nationalen Autoritäten (und internationalen Organisationen) durchgesetzt werden. Ohne die Vermittlung nationaler Autoritäten können sie keine Haftbefehle durchsetzen, kein Beweismaterial sichern, keine Zeugen laden und keine Durchsuchungen durchführen. Es stimmt natürlich, dass alle internationalen Institutionen auf Unterstützung der Staaten angewiesen sind, um operieren zu können. Aber für internationale Straftribunale ist solche Unterstützung besonders kritisch: Ihre Maßnahmen

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richten sich gegen Individuen, die sich auf dem Territorium souveräner Staaten befinden und die der Jurisdiktion dieser Staaten unterworfen sind. Damit Gerichtsverfahren in angemessener Zeit durchgeführt werden können, muss Beweismaterial erhoben werden, bevor es verloren geht oder unbrauchbar wird, und Zeugen müssen auch kurzfristig geladen werden können. Die Bestimmungen im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, Teil 9 „Internationale Zusammenarbeit und Rechtshilfe" zu den Kooperationspflichten der Staaten und in Artikel 87 (5) und (7) zur Rolle des Sicherheitsrats bei der Durchsetzung dieser Pflichten im Falle ihrer Nichterfüllung werden von Völkerrechdern als unpräzis und (äußerst) schwach eingeschätzt. Siehe z.B. Cassese 1999, S. 164-67; Oosthizen 1999, S. 337-40; Sadat und Carden 2000, S. 443-47. 46 The International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia flCTY) wurde durch Resolution des Sicherheitsrats am 25. 5. 1993 (S/Res/827) geschaffen. Für das Statut und die wichtigsten anderen Dokumente siehe http://www.un.org /icty/basic.htm (14. April 2005). Am 8. 11. 1994 hat der Sicherheitsrat die Einrichtung des International Criminal Tribunal for Ruanda beschlossen (S/Res/955). Für das Statut und die wichtigsten anderen Dokumente siehe http://www.ictr.org (14. April 2005). 47 Der spanische Richter Baltasar Garzon verlangte die Auslieferung General Pinochets von England an Spanien wegen der Ermordung spanischer Zivilisten in Chile in Verletzung der Folterkonvention, welche England und Spanien gezeichnet haben (Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman, or Degrading Treatment or Punishment, Dez. 10, 1984, S. Treaty Doc. No. 100-20 (1988), 1465 U.N.T.S. 85). Das House of Lords kam zu dem Schluss, Pinochet könne an Spanien ausgeliefert werden, weil Verletzungen der Folterkonvention festgestellt wurden und weil die Konvention verlangt, dass ein Land den Täter entweder belangt oder ausliefert (Kegina v. Bartie ex parte Pinochet, [2000] 1 A.C. 147 (H.L. 1999)). 48 Am 30. 6. 1980 entschied der United States Court of Appeals for the Second Circuit, dass die paraguayischen Angehörigen eines F'olteropfers Zivilklage gegen den der Tat verdächtigten paraguayischen Polizisten bei einem amerikanischen Gericht erheben können (Filartiga v. Pena-Irala, 630 F.2d 876 (2d Cir. 1980)) (siehe The New York Times, 1. 7. 1980, Section Β; S. 3, Spalte 5; siehe auch die Anmerkungen des Vorsitzenden Richters, Irving R. Kaufman, der das Urteil geschrieben hat, in The New York Times, 9. 11. 1980, Section 6; S. 44, Spalte 1). Das Gericht stützte sich dabei auf ein lang vergessenes Gesetz aus dem Jahre 1789, dem Alien Tort Claim Act (ATCA). Das ATCA verleiht US Bundesgerichten Jurisdiktion für Zivilklagen von NichtStaatsangehörigen wegen Verletzungen des Völkerrechts oder von internationalen Verträgen, welche die USA geschlossen haben. Seitdem sind viele Fälle auf dieser Grundlage entschieden worden, unter ihnen auch von eben dem Gericht, das den Pena Fall entschieden hatte, der Fall Kadic v. Karadzic, 70 F.3d 232 (2d Cir.

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1995) (siehe Posner 1996). Für den Kontext dieser Entscheidungen siehe Koh 1987, S. 193-95; Stephens und Ratner 1996; Murphy 2001, S. 143-46. 49 Saric wurde am 22. 11. 1994 von einem Kopenhagener Gericht zu acht Jahren Gefängnis verurteilt (Ostrc Landsrcts 3d Div. (1994)) (für Zusammenfassung siehe web.amnesty.org/Kbrary/index/engior530062001?OpenDocument (14. April 2005)). Ebenfalls auf der Grundlage der Genfer Konventionen haben Belgien (siehe nächste N. 50), die Niederlande (Knezevic, HR 11 Nov. 1997), die Schweiz (siehe Ziegler 1998), Australien (Polyukhomch v. Australia (1991) 101 A.L.R. 545 (Austl.)) und Deutschland (Entscheidung des BayObLG (1997) im Falle Djajic 1998) NichtStaatsangehörige für an Nichtstaatsangehörigen verübte Kriegsverbrechen verklagt. Auch England hat jüngst ein Gesetz verabschiedet, das solche Klagen erleichtern wird (The Geneva Conventions (Amendment) Act, 1995, c. 27). 50 Das belgische Parlament hatte im Juni 1993 zudem ein Gesetz verabschiedet und im Februar 1999 ergänzt, das den belgischen Gerichten universelle Jurisdiktion für Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verleiht. Nachdem das Gesetz durch Novelle im April 2003 zunächst erheblich eingeschränkt worden war, hat das belgische Parlament auch angesichts erheblichen Drucks der USA wegen möglicher Klagen gegen den früheren Präsidenten Bush Sr. und Israels Premier Sharon das Gesetz aufgehoben. Siehe Brody 2003. Zur Aufhebung des Gesetzes hat auch beigetragen, dass Kongo Belgien erfolgreich vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt hat: Auf der Grundlage des genannten Gesetzes hatte ein belgischer Untersuchungsrichter einen internationalen Haftbefehl gegen den damaligen Außenminister (und heutigen Vizepräsidenten) der Demokratischen Republik Kongo, Abdulaye Yerodia Ndombasi, wegen schwerer Verletzungen humanitären Völkerrechts erlassen. Die Demokratische Republik Kongo hat Belgien deshalb vor dem Internationalen Gerichtshof (IGII) verklagt (Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium) (http://www.icj-cij.org/ (14. April 2005). Der Internationale Gerichtshof hat im gennanten Fall entschieden (Case Concerning the Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), 14. Februar 2002 (siehe ebd.), dass ein früherer Außenminister eines Staates nur mit Blick auf die Handlungen, die er "in a private capacity" ausgeübt hat, der Strafgcrichtsbarkeit eines anderen Staats unterworfen werden darf, ein Außenminister also Immunität genießt bei internationalen Verbrechen, die er als Minister zu verantworten hat - sowohl während als auch nach seiner Amtszeit. Diese Einschätzung des IGII ist scharf als weder mit geltendem Gewohnheitsrecht vereinbar noch der Strafgerechtigkeit dienlich kritisiert worden. Siehe z.B. Cassese 2002. 51 Siehe oben N. 34, 35 und Text. 52 Für Argumente, warum die zentral- und osteuropäischen Staaten auf Strafverfolgung der unter den Diktaturen ihrer Vorgängerregime verübten politischen Verbrechen, auf Kompensation der Opfer und Restitution von

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Anmerkungen

konfisziertem Eigentum weitgehend verzichten sollten, siehe z.B. Elster 1992; Udler 1993, S. 149-173, 248 f.; Michnik und Havel 1993; Offe 1991; ders. 1992. 53 Siehe Aguilar 1997; dies. 1998. Auf dem Hintergrund dieser Amnestie und angesichts der Rolle Spaniens bei der Kolonialisierung Südamerikas darf es nicht wundern, dass viele Chilenen ungeachtet ihrer besonderen politischen Loyalitäten die spanischen Bemühungen, Pinochet in Spanien wegen Menschenrechtsverbrechen vor Gericht zu stellen, heftig kritisierten. Siehe auch Malamud-Goti 2004. 54 Das war für Südafrika der Fall. Siehe z.B. van Zyl 1999, S. 648-53. Ein anderer klarer Fall ist Chüe. Siehe z.B. Jorge 1992, S. 1457-63. In der Tat sind unter den Bedingungen postdiktatorischer oder -totalitärer Regime die Möglichkeiten der Durchsetzung kompensatorischer wie auch distributiver Gerechtigkeitsansprüche von Individuen und Gruppen häufig äußerst beschränkt, soll die Transition zu einer demokratischen Gesellschaft gelingen und langfristige Stabilität und Prosperität sichergestellt werden. Allerdings beruhen solche pragmatischen Urteile auf schwierigen empirischen Einschätzungen der wahrscheinlichen Konsequenzen alternativer politischer und ökonomischer Strategien, sind abhängig von komplexen Güterabwägungen und werden häufig verbunden mit moralphilosophischen Einschätzungen der individuellen und kollektiven Verantwortung für historisches Unrecht und seiner Konsequenzen. Für höchst unterschiedliche Ansätze und Beiträge, sowohl was die Erklärung von Transitions to Oemocraty als auch die Politikempfehlungen angeht, vergleiche z.B. Herz 1982, 1982a, 1982b, S. 312, 275-292; O'Donnell und Schmitter 1986, S. 28-32; Huntington 1991; Przeworski 1991, Kap. 1 und 2, insbesondere S. 2f., 23-40, 51-54, 65-99; Ackcrman 1992, S. 72-80; Nino 1996, Kap. 3, S. 117-34; Malamud-Goti 1998; und Elster, Offe und Preuß 1998. Zur Frage der Vergleichbarkeit der Transitionsprozesse in Lateinamerika und Zentral- und Osteuropa siehe Bunce 1995; Munck und Leff 1997. 55 Siehe unten N. 106. 56 Elster 1991, S. 122 weist mit Nachdruck darauf hin, dass wir keine Theorie haben, die "can help us predict the long term steady-state consequences of global policy changes." Uns fehlt eine Theorie des "general social and economic equilibrium", welche die Grundlage für die entsprechenden \'orhersagen sein könnte (siehe Lipset und Lancaster 1956-57); siehe auch Margalit 1983, S. 77-90. Das sind keine neuen Erkenntnisse. Siehe Popper 1957, Bd. I, S. 161 f.: "[W]e do not possess anything like the factual knowledge which would be necessary to make good [the ambitious claim that we are able rationally to plan the reconstruction of society as a whole]. We cannot possess such knowledge since we have insufficient practical experience in this kind of planning, and knowledge of facts must be based upon experience. At present, the sociological knowledge necessary for largescale engineering is simply non-existent." Im selben Bd., S. 157, führt Popper

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die Idee des "piecemeal engineering" ein, das im Kontrast zu "Utopian engineering" zu verstehen ist. "Utopian engineering" versucht eine Gesellschaft als Ganze gemäß der Blaupause einer idealen Gesellschaft zu ändern. Für eine kritische Diskussion von Poppers ursprünglicher Präsentation dieser zwei Modelle als sich wechselseitig ausschließende siehe Höffe 1985; Etzioni 1968, S. 268-73; und siehe auch Elster 1984, Kap. 1. Elster 1991, S. 135-42 vertritt die Auffassung, dass, historisch gesprochen, langfristige und groß angelegte Reformen in einer Gerechtigkeitsidee verankert waren. Weil sie als fundamental gerecht wahrgenommen wurden, haben diese Reformen hinreichende Unterstützung erzeugt: Die Menschen waren bereit, für die Kosten der Transition aufzukommen und auch für die Kosten der verschiedenen Versuche ihrer Implementierung. Scharpf 1988 unterstützt eine solche Interpretation. 57 Die hier vorzutragenden Überlegungen gehen nicht etwa aus von einer generellen normativen Theorie des Handelns unter nicht-idealen Bedingungen. Eine solche Theorie liegt nicht vor. Einerseits unterscheiden sich etwa Rawls' und Barrys Auffassungen auch mit Blick darauf, wie in einer vertragstheoretischen Argumentation nicht-ideale Handlungsbedingungen zu berücksichtigen sind. Siehe Barry 1991, S. 169 f.; siehe auch die Kritik der Rawlsschen Position durch Cohen 1992; ders. 1997; für eine Verteidigung der Rawlsschen Position siehe l'ogge 2000. Andererseits teilen Rawls 1971 S. 27779, 387, 624 f. und Barry 1989 die Uberzeugung, eine generelle Theorie des Verhältnisses von idealer zu nicht-idealer normativer Theorie könne es nicht geben. Auch Höffe 1985 möchte keine generelle Theorie politischmoralischer Entscheidung entwickeln, sondern „Bausteine" einer Theorie der Entscheidungsfindung über öffentliche Handlungen in modernen Industrie gesellschaften ausweisen (siehe insbesondere S. 336 f.). Bcntham und seine Anhänger waren da sehr viel ehrgeiziger. Bentham 1982, Kap. I, S. 12 beanspruchte sowohl ein letztgültiges, für alle Handelnden gleichermaßen und universell anzuwendendes Kriterium richtigen Handelns auszuweisen (das Nutzen-Prinzip) und auch eine universell anwendbare Methode der Entscheidungsfindung (den sogenannten hedonistischen Kalkulus). Das Nutzen-Prinzip ist anzuwenden "not only [to] every action of a private individual, but also [to] every measure of government". Für den hedonistischen Kalkulus siehe Kap. IV. Für eine Kritik von Benthams Kalkulus als nicht anwendbar und keine adäquate Reflektion des Benthamschen Nutzen-Prinzips siehe Höffe 1985. Für eine Kritik von Benthams Nachfolgern in der Wohlfahrtsökonomie und der Theorie sozialer Entscheidung siehe ebd., Kap. V. Vielfach modifizierte utilitaristisch-konsequentialistische Positionen mit Blick auf die moralischen Ansprüche von Individuen unter nicht-idealen Bedingungen haben aber auch Verteidiger gefunden: Singer 1972; Birnbacher 1988, S. 16-23, 173-75, 187-90; Unger 1996; und Hooker 2000. Für eine

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Kritik der utilitaristisch-konsequentialistischen moralischen Forderungen als unfair siehe Murphy 2000. 58 Siehe Kap. V, N. 88. 59 Siehe Kap. V, N. 89-90 und 113, und auch Kap. II - Weil angenommen wird, dass materielle Kompensations- und Restitutionsbemühungen direkte und indirekte Opfer von Menschenrechtsverbrechen nicht in dem Sinne entschädigen können, dass die Opfer so gut gestellt wären, als wenn das Unrecht nicht geschehen wäre, betonen viele den symbolischen Charakter solcher Kompensation und die Bedeutung nicht-materieller symbolischer Kompensationsbemühungen. Siehe Kap. III, N. 44. 60 Siehe Kap. V.4, und den Text unten zur Restitution der moralischen Beziehungen. 61 Siehe Kap. V, N. 91. 62 Siehe Kap. III.8 f. 63 Der 1992 vorgelegte Bericht der Wahrheitskommission des Tschad war der erste, der die für die Menschenrechtsverbrechen Verantwortlichen namentlich nennt (siehe Kritz 1995, Bd. III, S. 51-93; Hayner 1995, S. 255). Das Mandat einiger Wahrheitskommissionen, z.B. das für die in Chile 1990 und in Guatemala 1994 eingesetzten Kommissionen schloss die namentliche Nennung aus. Dafür kann es durchaus gute Gründe geben. Denn die öffentliche Nennung der Namen Verdächtigter kann deren Rechte auf Unschuldsvermutung und ordentliches Verfahren verletzen. Die argentinische Kommission (1983) beschloss, Individuen nicht namentlich im 1986 veröffentlichten Bericht zu nennen, sondern die entsprechende Liste Präsident Alfonsin zu übermitteln, wobei die Liste schon bald der Presse zugespielt wurde. Die Wahrheitskommission Honduras (1992) nennt ebenfalls keine Namen im eigentlichen, 1994 veröffentlichten Bericht; der Bericht nennt die Namen der militärischen Einrichtungen, die für Menschenrechtsverbrechen verantwortlich sind, und gibt in einem Anhang die Zeugenaussagen vor dem InterAmerican Court of Justice wieder, die Namen spezifischer Menschenrechtsverbrechen Verdächtigter enthalten (siehe Pop kin und Roht-Arriaza 1995, S. 280-82). 64 Siehe z.B. Malamud-Gotis 1996, S. 9 f., 15-17; ders. 1991 zielorientierter "victim-centered retributivism". 65 hur die Möglichkeit der Trennung der Feststellung von Schuld und Verurteilung des Täters im strafrechtlichen Sinn und in gerichtsähnlichen Verfahren einerseits und der Verhängung von Strafen andererseits plädiert Günther 1997. 66 Unter Retributivisten, die staatliche Missbilligung für eine intrinsisch angemessene Reaktion auf kriminelles Verhalten erachten, also nicht allein wegen ihrer Konsequenzen für andere Güter, etwa wegen ihrer abschreckenden Wirkung, rechtfertigen (siehe Duff 1986, Kap. 2, S. 9; siehe auch Feinberg 1970), haben einige argumentiert, um diese Missbilligung angemessen zum Ausdruck zu bringen, sei Bestrafung des Täters nötig (siehe z.B. Hampton 1992a; dies.

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1992). Andere rechtfertigen Bestrafung konscquentialistisch: Bestrafung wird z.B. abschreckende Wirkung zugeschrieben, welche die intrinsisch wertvolle Missbilligung für sich genommen nicht erzielen könne (siehe z.B. von Hirsch 1993, S. 6-19). 67 Siehe die in N. 22 und 66 genannten Autoren und Moore 1987. 68 Gemäß der Position des schwachen Retributivismus ist Retribution also ein notwendiger, aber kein hinreichender Grund für staatliche Strafe, oder, werttheoretisch ausgedrückt, Retribution ist nur ein, wenn auch das zentrale konstitutive und intrinsisch wertvolle Element gerechter Strafe. Retributive Gerechtigkeit für sich genommen kann demnach den Staat nicht verpflichten, einen Straftäter zu bestrafen, und erst recht gibt sie dem Opfer kein Recht auf Bestrafung des Täters. Schwacher Retributivismus ist ein Typ einer Mischtheorie der Rechtfertigung von staatlicher Strafe, insofern schwacher Retributivismus retributive und andere Gründe für notwendige und nur zusammengenommen hinreichende Rechtfcrtigungsgründe staatlicher Strafe erachtet. Der bekannteste Typ der Mischtheorie ist der von Hart 1968: Das Strafe generell rechtfertigende Ziel ist utilitaristisch aufzufassen, die Verfolgung dieses Ziels unterliegt aber einer retributivistischen Einschränkung im Sinne des negativen Retributivismus, gemäß welchem nur der Schuldige, der für die Tat im relevanten Sinn Verantwordiche bestraft werden darf. Gewissermaßen ist Harts Position spiegelverkehrt zu der des schwachen Retributivismus, insofern für Hart andere als retributive Gründe, nämlich utilitaristische, die zentralen Rechtfcrtigungsgründe sind, während es für den schwachen Retributivismus die retributiven sind. Siehe auch Lacey 1988, Kap. 2. Für eine Kritik des Retributivismus siehe z.B. Dolinko 1992. 69 Für skeptische Stimmen siehe Malamud-Goti 1996, S. 10 f.; Przeworski 1991, S. 76; Heller 1993, S. 161; Nino 1996, S. 128; Reisman 1997, S. 77; Minow 1998, S. 145 f.; Ignatieff 1999 (der auf die sich wechselseitig stärkende Abschreckungswirkung von militärischer humanitärer Intervention und (nationaler wie internationaler) Strafverfolgung systemischer Menschenrechtsverletzungen setzt). 70 Mit anderen Worten: Selbst wer, wie hier vorausgesetzt, die Position des schwachen Retributivismus vertritt, also in der Retribution das zentrale konstitutive Element staatlicher Strafe erkennt, kann zudem der Auffassung sein, Retribution zu erreichen sei von geringem Wert. 71 Die staatlichen Ressourcen sind begrenzt, und unter den Bedingungen einer Transition to Democracy gilt dies im besonderen Maße. Wenn Strafverfolgung und Strafverfahren rechtsstaatlichen Prinzipien genügen sollen, sind sie aber sehr aufwendig (siehe die Ergebnisse für die Bundesrepublik Deutschland, N. 83 unten). Unter weniger günstigen Bedingungen ist mit erheblichem politischen oder auch militärischem Widerstand der von der Strafverfolgung Betroffenen zu rechnen (siehe für Argentinien die Berichte der beiden Architekten der Menschenrcchtsprozesse unter Präsident Alfonsin: Malamud-Goti 1996, Kap. 4-6; Nino 1996, Kap. 2).

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Unter ungünstigen Bedingungen riskiert die um Autorität und Legitimität bemühte demokratisch legitimierte Regierung, ihre sehr beschränkten personalen, moralischen und anderen Ressourcen auf eine Bemühung zu verwenden, die im Ergebnis die Stabilität der postdiktatorischen Ordnung unterminiert. 72 Siehe Raz 1986, S. 165-68; ders. 1984 73 Solche Einschätzungen sind äußerst komplex und führen häufig nicht zur Auszeichnung einer Handlungsoption als der besten. In der Werttheorie werden drei solche Fälle unterschieden: Grobe Gleichheit des Wertes von Handlungsoptionen; Unbestimmtheit des Wertes, wenn es weder wahr noch falsch ist, dass eine Option besser als die andere ist, oder dass sie von gleichem Wert sind; Inkommensurabilität im Sinne der Inkomparabilität. Raz identifiziert Inkommensurabilität mit dem Zusammenbruch von Transitivität in den Präferenzen: „Zwei wertvolle Optionen sind dann inkommensurabel, wenn 1.) keine besser ist als die andere und 2.) es eine andere Option gibt (oder geben könnte), die besser als die eine ist, aber nicht besser als die andere." (Raz 1986, Kap. 13, S. 325; siehe auch ders. 1991 und 1997, und Griffins 1991 Antwort auf Raz. 74 Siehe Rawls 1971, S. 62 f. Rawls hat die lexikalische Vorrangigkeit seines ersten Gerechtigkeitsprinzips der gleichen Grundfreiheiten vor dem zweiten Prinzip der Verteilung ökonomischer und sozialer Güter behauptet (ebd., Paragraph 39). Lexikalische Priorität ist von Griffin 1986, S. 83 mit dem stärksten Begriff schwacher Inkommensurabilität identifiziert worden: Er erlaubt „Vergleichbarkeit, aber ein Wert steht so stark als möglich rangmäßig über den anderen. Der Begriff lässt sich in der Formel ausdrücken: Jede Menge von A, gleich wie gering, hat höheren Wert als jede Menge von B, gleich wie groß. Kurz gesagt Α übertrumpft Β; A ist lexikalisch Β vorgeordnet." Siehe auch Waldron 1994, S. 816 f.; Sunstcin 1994, S. 795-99 und 805-12; Berlin und Wilhams 1994, S. 306 f.; Chang 1997, S. 2 f.; Alexander 1998. 75 Siehe Dworkin 1977, S. 14: „Individuelle Rechte sind politische Trümpfe, die Individuen in der Hand halten. Individuen haben dann Rechte, wenn ein kollektives Ziel aus irgendeinem Grund keine hinreichende Rechtfertigung dafür ist, ihnen das, was sie als Individuen tun oder haben wollen, abzuschlagen, oder wenn es keine hinreichende Rechtfertigung dafür ist, ihnen einen Verlust oder eine Verletzung aufzuerlegen." Siehe auch ebd., S. 583 f. 76 Siehe ebd., 1977, S. 327-34. Für eine konsequentialistische Theorie, welche die Erfüllung von Rechtsansprüchen als ein Ziel unter anderen anerkennt, zugleich Rechten intrinsische Wichtigkeit zuschreibt, ohne ihnen aber lexikalischen Vorrang unabhängig der Konsequenzen ihrer Erfüllung einzuräumen, siehe Sen 1982; ders. 1985. 77 Dies entspricht dem Selbstvcrständnis der Südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission. Siehe Truth and Reconciliation Commission of

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South Africa Report 1998, Bd. 1, S. 125-31. Für eine Interpretation siehe auch I-Ieyd 2004 und insbesondere Minow 1998, S. 61-83. Siehe Kap. V, N. 95-100 und Text. Der Bericht der südafrikanischen Wahrheitskommission spricht nicht von Restitution der moralischen Beziehungen zwischen Opfern und Tätern sondern von "reconciliation" (Versöhnung), die nicht nur zwischen Individuen sondern auch auf kommunaler und nationaler Ebene zu fördern ist. Zur Versöhnung zwischen Opfern und denen, die ihnen Unrecht getan haben, heißt es im Bericht: "The contribution of the Commission to reconciliation between specific victims and perpetrators was necessarily limited (by its frame, mandate and resources). In some cases, however, the Commission assisted in laying the foundation for reconciliation. Although truth docs not necessairly lead to healing, it is often a first step towards reconciliation. Father Michael Lapslcy, who lost both arm and an eye in a near fatal security parccl bomb attack in Harare in 1990, told the Commission: Ί need to know who to forgive in order to endeavour to do so.'" (Siehe Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report 1998, Bd. 1, S. 107). Siehe die Verweise in oben Ν. 78. Diese Forderung kommt schon im Titel Wahrheitskommissionsberichten klar zum Ausdruck: „Niemals wieder!". Siehe Kap. V, N. 91. Siehe Malamud-Goti 1996, insbesondere Kap. 6. Man könnte meinen, die Situation in Deutschland nach der Vereinigung sei eine Wahlsituation unter idealen Bedingungen gewesen, weil die politischen Eliten der früheren DDR keinen Einfluss auf die Bedingungen der Transition to Democracy nehmen konnten. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit beruhte im Wesentlichen (siehe Offe und Poppe 2004), erstens auf strafrechtlicher Verfolgung (insbesondere durch die Zentrale polizeiliche Ermitdungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) und durch eine Spezialstaatsanwaltschaft, die Staatsanwaltschaft II), zweitens auf öffentlicher Bloßstellung und indirekter Disqualifikation oder Säuberung von Kollaborateuren des DDR-Regimes (durch die sogenanntc Gauckbchörde auf der Grundlage des Stasiunterlagengesetzes) sowie drittens auf historischer Aufarbeitung durch eine Enquete Kommission des Deutschen Bundestages zur Erforschung der Machtstrukturen und der Institutionen des DDRRegimes (Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"). Nicht zuletzt weil größter Wert auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien (und insbesondere das Rückwirkungsverbot des Art. 103, Abs. 2 GG) gelegt wurde, kam es zu nur wenigen Verurteilungen: 22 765 Ermittlungsverfahren führten zu 565 Strafgerichtsverfahren, 211 Fälle wurden entschieden und in 20 Fällen wurden Gefängnisstrafen verhängt (Stand: 31. März 1999). Allerdings stützt sich insbesondere die höchstrichterliche Urteilssprechung auf die sogenannte Radbruchsche Unerträglichkeitsformel. Dazu siehe oben Kap. VI.3.

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Anmerkungen

Ergebnisse und Konsequenzen der Arbeit der Gauckbehörde sind häufig kritisiert worden, weil die Zuverlässigkeit der den Stasi-Akten entnommenen Informationen zweifelhaft erscheint, auffallend wenig Informationen über für die Regimeverbrechen Hauptverantwortlichen den Akten zu entnehmen sind und die Konsequenzen einer Bloßstellung durch die Arbeit der Gauckbehörde für die Betroffenen sehr unterschiedlich ausfallen. Insbesondere vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Schaffung der Gauckbehörde sind in Ostdeutschland Alternativen diskutiert worden, unter anderem auch die, ein „Tribunal" abzuhalten. Die Einwände waren zahlreich, zu den wichtigeren zählten: das Fehlen charismatischer Persönlichkeiten, die den Vorsitz hätten übernehmen können; Zweifel, dass ohne das Versprechen einer Amnestie die für Regimeverbrechen Verantwortlichen vollständige und wahrheitsgetreue Aussagen vor einem solchen Tribunal machen würden; Bedenken der Arbitrarität gegen ein solches Verfahren (siehe Schoenherr 1992). Vorschläge für eine Teilamnestie oder große Amnestie sind immer wieder gemacht worden, von Vertretern aller Parteien, in Ost- und Westdeutschland (siehe Blanke 1995, S. 131-36). Diese waren meines Wissens allerdings nicht Vorschläge für eine bedingte Amnestie im Sinne des Amnestieangebots der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission; das gilt auch für den Amnestievorschlag Schorlemmers, den dieser kurz vor dem Abschluss der Arbeit der ZERV und der Staatsanwaltschaft II im Jahr 1999 gemacht hat. 84 Siehe Krentz 1982, Kap. 4 und 5. 85 Allerdings sind einige ihrer Maßnahmen durchaus fragwürdig: Archinos lässt einen nach Athen zurückgekehrten Bürger, der eine Anklage entgegen der Amnestiebestimmung der Versöhnungsvereinbarung erhebt, ohne Gerichtsverfahren hinrichten (Aristoteles 1990, S. 40, 2) und ändert, offenbar ohne Rechtsgrundlage, die Frist für die Auswanderung nach Eleusis, um weniger belastete Bürger an der Auswanderung zu hindern (Aristoteles 1990, S. 40, 1). Der Schutz vor Anklagen entgegen der Amnestiebestimmung wurde durch Einführung der Paragraphc verstärkt, eines Verfahrens, dass dem Beschuldigten, wenn er der Auffassung war, die Anklage sei durch die Amnestie ausgeschlossen, das Recht verlieh, nicht nur die Unzulässigkeit der Anklage feststellen zu lassen, sondern den Ankläger auf Zahlung eines Strafgeldes zu verklagen, was sicherlich eine abschreckende Wirkung hatte (siehe Isokrates 1997, Bd. II, XVIII, S. 2 f). Im Dokimasieverfahren (unten N. 91 und Text) konnte der Kandidat allerdings keine Paragraphc zur Abwehr politischer Beschuldigungen, die seine Handlungen während der Diktatur betrafen, anstrengen (siehe Loening 1987, S. 102). 86 Siehe z.B. Bleicken 1994, insbesondere S. 85-98 (zur Stellung der Metöken, der Frauen und Kinder und zur Sklaverei) und S. 393-434 (zu Grenzen und Leistungen der athenischen Demokratie, zum Vergleich der athenischen und modernen Demokratien).

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87 Lysias, „Gegen Agoratus" plädiert dafür, dass die Vereinbarung nicht auf Taten zwischen Menschen, die im Bürgerkrieg auf derselben Seite gestanden haben, anzuwenden ist (Lysias 1957, XIII, S. 89 f.); Lysias, „Gegen Andocides" plädiert dafür, dass die Vereinbarung nicht auf „private" Unrechtstaten anzuwenden ist, die also nicht als Teil der politischen Auseinandersetzung verübt wurden (ebd., VI, S. 38-41). 88 Ebd., „Gegen Agoratus", XII, S. 85-87. 89 Ebd., S. 56. 90 Siehe Loening 1987, S. 59-64; Krentz 1982, S. 120-23. Zur Regelung der Rückzahlung der Kriegsschulden siehe Aristoteles 1990, S. 39, 6, und 40, 3 f. 91 Es sind nur vier Reden und das Fragment einer fünften aus solchen Anhörungen erhalten, die alle dem Lysias zugeschrieben werden. Für eine Analyse und Interpretation siehe Loening 1987, S. 102-17. Einen Eindruck des politischen Klimas vermittelt zum Beispiel die Rede „Gegen Philon anlässlich der Dokimasie": Philon wird im Wesentlichen vorgeworfen, es vorgezogen zu haben, nachdem er unter dem Regime der Dreissig gezwungen worden war, Athen zu verlassen, geschützt auf dem Land zu leben, statt sich auf Seiten der Demokraten im Kampf gegen die Oligarchien zu beteiligen (Lysias 1957, xxxi, S. 8-14). Offenbar haben aber auch einige der Repräsentanten und Unterstützer der Oligarchen diese Verfahren mit Erfolg bestanden (siehe Krentz 1982, S. 118 f.). 92 Besonders wild ist die Beschuldigung gegen einen gewissen Lochites, dem nicht vorgeworfen wird, das Unrechtsregime der Oligarchen unterstützt zu haben - er sei „zu jung" gewesen, um damals „beteiligt gewesen zu sein" - , sondern der bezichtigt wird, „die Gesinnung (der Oligarchen) zu haben": „Solche Charaktere sind es, die unsere Macht an die Feinde verraten, die Mauern unserer Vaterstadt zum Einsturz bringen und eintausendfünfhundert Bürger ohne Gerichtsverfahren hinrichten. Es ist also nur konsequent, wenn ihr eingedenk dieser Geschehnisse nicht nur die Verbrecher bestraft, sondern auch die Leute, die beabsichtigen, unsere Stadt in die gleiche Lage wie damals zu bringen." (Isokrates 1997, Bd. II, XX, S. 11 f.) In der Sache bezichtigt der Sprecher Lochites der Körperverletzung (ebd., S. 1 f.). 93 Ich folge hier im wesentlichen den von Marxen 1984 getroffenen Unterscheidungen; siehe auch Marxen 1996. Auch Günthers Diskussion 1997, S. 49 f., und Greenawalt 2000, beruhen in der Sache u.a. auf der Unterscheidung zwischen den ersten beiden Normkategorien. 94 Siehe Marxen 1984, S. 55. 95 Ebd., S. 54. 96 Ebd., S. 56 f. 97 Siehe Jessberger 1995. 98 Siehe Kap. VI. 5-7. 99 Für diese Verwendung der Begriffe Amnestie und Generalabolition siehe Marxen 1984, S. 56 f. 100 Dazu siehe auch Marxen 1996, S. 39; Werlc 1999, S. 278 f., 285 f., 287 f.

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Anmerkungen

101 Siehe oben Ν. 15. 102 Häufig werden Normen des Völkerrechts in einer Weise kodifiziert, dass sie in diese Kategorie fallen. Das kann eine Konsequenz des mangelnden Willens von Staaten sein, eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Strafverfolgung oder Bestrafung zu akzeptieren. 103 Siehe Rome Statute of the International Criminal Court. 104 Siehe Scharf 1999, S. 523. Siehe auch Bergsmo und Pejic 1999, insbesondere Rz. 1-10. 105 Siehe Rome Statute of the International Criminal Court. 106 Für erheblich voneinander abweichende Einschätzungen der völkerrechtlichen Bcstrafungspflichten siehe auch Orentlicher 1991; Ambos 1999; Scharf 1999, S. 514-21. Siehe auch Marxen 1996; Werlc 1999. 107 Wenn wir einmal von den zentral- und osteuropäischen Ländern absehen (siehe oben N. 52), dann gehören Argentinien, Brasilien, Kambodscha, Chile, El Salvador, Guatemala, Haiti, Namibia, Nicaragua, Uruguay und Südafrika zu den Staaten, die jüngst Mitglieder des Vorgängerregimes im Rahmen von Vereinbarungen zur Transition zu demokratischen Verhältnissen bzw. zur Beendigung eines Bürgerkriegs für international geächtete Verbrechen amnestiert haben. Die Vereinten Nationen und westliche Staaten haben wenigstens im Falle Kambodschas, El Salvadors, Haitis und Südafrikas sich für solche Amnestien als Mittel zur Wiederherstellung des Friedens oder einer demokratischen Ordnung eingesetzt, bei den Verhandlungen geholfen oder die Ergebnisse gutgeheißen. Siehe Scharf 1996; ders. 1996a, S. 15-18; Vickery und Roht-Arriaza 1995; Roht-Arriaza 1990, S. 458-61, 484, Fn. 187; siehe auch oben N. 54. 108 Siehe oben N. 47-50. 109 Siehe das oben diskutierte Beispiel Athens und die in oben N. 107 genannten 1 .ander. 110 Für eine Diskussion ihrer Implikationen siehe z.B. Pogge 2001. 111 Siehe z.B. die Studie Scharfs 1996a, S. 8-15 zu Haiti und der Rolle der Vereinten Nationen sowie der USA.

VIII. Schluss Gegenwärtig lebende Menschen stehen unter zwei Typen von Pflichten intergenerationeller Gerechtigkeit: Sie stehen unter der Pflicht, (i) die Rechte zukünftig lebender Generationen nicht zu verletzen und (ii) unter der historischen Pflicht, den gegenwärtig lebenden Menschen Kompensationsleistungen für Schäden zu erbringen, die sie aufgrund der bleibenden Wirkung des an ihren Vorfahren verübten Unrechts erlitten haben. Solches Unrecht ist als historisches Unrecht in dem Sinne zu verstehen, dass es an anderen Menschen als denen, die heute Ansprüche erheben, verübt wurde, und dass heute andere als die Täter unter der Pflicht stehen können, wegen der bleibenden Wirkung der Unrechtshandlungen auf das Wohlbefinden gegenwärtig lebender Menschen Kompensationsleistungen zu erbringen. Auf der Grundlage der hypothetischen Schwellenwertskonzeption der Schädigung können wir Schlussfolgerungen über beide Typen von Pflichten gegenwärtig lebender Generationen ziehen. Die Schwellenwertskonzeption interpretieren wir als ein konstitutives Element eines umfassenden Verständnisses von Schädigung, nämlich des kombinierten Verständnisses. Gemäß dem kombinierten Verständnis ist notwendige Bedingung für das Vorliegen von Schaden entweder das Vorliegen der Bedingungen von Schaden im Sinne der Schwellenwertskonzeption oder das Vorliegen der Bedingungen von Schaden im Sinne des üblichen identitätsabhängigen, hypothetisch-historischen Verständnisses. Die besonderen Merkmale unserer Beziehungen zu (weit entfernt) zukünftig lebenden Menschen — insbesondere der Mangel spezifischen Wissens über diese Menschen als Individuen, der Unmöglichkeit der Kooperation mit ihnen und die unveränderbare Asymmetrie unseres Einflusses auf sie — sind der Zuschreibung von Rechten an zukünftig lebende Menschen nicht hinderlich. Diesen Rechten korrelieren Pflichten, unter denen wir gegenüber zukünftig lebenden Men-

386

Schluss

sehen stehen. Auch wenn zukünftig lebende Menschen in ihrer Existenz, Identität und Zahl von unseren Entscheidungen abhängig sind, können wir uns auf sie als Träger genereller Rechte uns gegenüber beziehen. Analog ist die Tatsache, dass früheres Unrecht zu den notwendigen Bedingungen der Existenz und Identität gegenwärtig lebender Menschen zählen, mit der Auffassung vereinbar, dass diese gegenwärtig lebenden Menschen Rechte auf Kompensation, nämlich wegen der Wirkung dieser früheren Unrechtshandlungen auf ihr Wohlbefinden, haben. Diese Rechte aber können Pflichten begründen, unter denen gegenwärtig lebende Menschen den so geschädigten Mitmenschen gegenüber stehen (zukunftsorientierte Interpretation der Signifikanz vergangenen Unrechts) (Kap. II). Auf Rechten beruhende Überlegungen intergenerationeller Gerechtigkeit beziehen sich demnach nicht nur auf Entscheidungen, die keinen Einfluss auf die Identität zukünftig lebender Menschen haben (Derek Parfits Same People Choices), sondern auch auf beide Typen von Entscheidungen, die sich auf die Identität zukünftig lebender Menschen auswirken (Parfits Different People Choices), einschließlich der Entscheidungen, die sich sowohl auf die Identität wie die Zahl zukünftiger Menschen auswirken (und die Parfit Different Number Choices nennt). Jedoch gibt es weithin geteilte Sorgen um die Fortsetzung menschlichen Lebens und auf einem hohen Niveau des Wohlbefindens, die nicht allein durch Überlegungen ausgewiesen werden können, die auf den Rechten zukünftig lebender Menschen beruhen. Es kann auch nicht überzeugen, die moralische Signifikanz der Tatsache, dass früher lebende Menschen in der Vergangenheit Unrecht erlitten, allein im Sinne der bleibenden Wirkung dieses Unrechts auf das Wohlbefinden gegenwärtig und zukünftig lebender Menschen zu deuten. Wenn wir zulassen, dass intergenerationelle Beziehungen nicht exklusiv durch Pflichten und deren korrelative Rechte geregelt sind, dann ist die Idee, dass wir unter überlebenden Pflichten mit Blick auf heute tote Menschen stehen, die keine Rechtsträger uns gegenüber sein können, mit der zukunftsorientierten Interpretation der Signifikanz vergangenen Unrechts vereinbar (Kap. III). Entsprechend ist die Idee, dass wir unter einer Pflicht mit Blick auf zukünftig lebende Menschen stehen, der keine Rechte zukünftig lebender Men-schen korrelieren, mit der Auffassung vereinbar, dass wir unter Pflichten

Schluss

387

intergenerationeller Gerechtigkeit stehen, denen die Rechte zukünftig lebender Menschen korrelieren. Eine solche Pflicht mit Blick auf zukünftig lebende Menschen ist die Pflicht, nicht vorsätzlich die von unseren Vorfahren ererbten Güter zu zerstören und auch nicht die Bedingungen, die für die Verfolgung wertvoller zukunfts-orientierter Projekte unserer Zeitgenossen konstitutiv sind. Liberale politische Philosophie, wie sie hier verstanden wird, ist in einem weiten Sinne konsequentialistisch, dem Wertindividualismus verpflichtet, hält letzteren für universell gültig, und weist ein Kriterium für richtiges Handeln aus, das für alle gleichermaßen gültig ist. Verbunden mit der substantiell werttheoretischen Auffassung, dass die Möglichkeit der Realisierung bestimmter Interessen für alle oder doch die meisten Menschen von größter Wichtigkeit für ihr Wohlbefinden ist, zeichnet die liberale Position einige Handlungsgründe als dringendste Handlungsgründe aus. Begründen diese fundamentalen Interessen moralische Rechte, so darf niemand diese fundamentalen Rechte von Menschen verletzen. Zu den dringendsten Handlungsgründen im Sinne der gemeinten liberalen Position zählt es, die Verletzung fundamentaler Rechte zu vermeiden und Menschen zu helfen, ihre grundlegenden Interessen realisieren zu können (Kap. FV.4 und Kap. VI.8). So wir die derart ausgewiesenen Handlungsgründe als Ausdruck des Ideals der Gerechtigkeit auffassen, sind es die Pflichten der Gerechtigkeit und die ihnen korrelierenden Rechte, die den substantiellen Kern der liberalen Position ausmachen. Intergenerationelle und historische Pflichten machen diesen Kern mit aus, sofern sie zu den Gerechtigkeitspflichten zählen. Zu den Gerechtigkeitspflichten können sowohl die Pflicht zählen, die Rechte zukünftig lebender Generationen nicht zu verletzen, als auch die historische Pflicht, den gegenwärtig lebenden Menschen Kompensationsleistungen für Schäden zu erbringen, die sie aufgrund der bleibenden Wirkung des an ihren Vorfahren verübten Unrechts erlitten haben. Heute tote Menschen können aber keine Rechte uns gegenüber haben und deshalb zählen unsere überlebenden Pflichten mit Blick auf früher lebende Menschen nicht zu den Gerechtigkeitspflichten. Und aus diesem Grund auch die Pflichten nicht, die darauf zielen, menschliches Leben besonderer Qualität oder auf einem hohen Wohlstandsniveau (auch) in Zukunft zu ermöglichen: Mögliche zukünftige Menschen haben weder ein Recht auf Existenz uns ge-

388

S chluss

genüber noch das Recht auf ein besonders hohes Lebensniveau oder Teilhabe an einem guten Leben mit spezifischen Qualitäten. Wir unterscheiden also zwei Typen von historischen Pflichten, nämlich historische Gerechtigkeitspflichten und überlebende Pflichten. In unserem Verhältnis zu zukünftig lebenden Menschen unterscheiden wir ebenfalls zwischen Gerechtigkeitspflichten und anderen Pflichten, denen Rechte zukünftig lebender Menschen nicht korrelieren. Letztere zu erfüllen kann auch mit Blick auf früher lebende Menschen geschuldet sein, nämlich in Erfüllung unserer Pflicht der Dankbarkeit mit Blick auf die von früher lebenden Menschen an uns und weiter entfernt zukünftig lebende Menschen tradierten Güter (Kap. V.3). Die beiden genannten Typen historischer Pflichten charakterisieren zwei zu unterscheidende Dimensionen unserer Bezugnahme auf historisches Unrecht und das Handeln früher lebender Menschen. Die zukunftsorientierte Interpretation der Signifikanz vergangenen Unrechts bezieht sich auf die bleibende Wirkung früherer Unrechtshandlungen auf das Wohlergehen gegenwärtig lebender Menschen, die darauf beruhenden Ansprüche dieser Menschen und die korrelierenden Pflichten anderer. Auch andere als Unrechtshandlungen früher lebender Menschen, z.B. das gute oder verdienstvolle Handeln früher lebender Menschen, können bleibende Wirkungen in dem Sinne haben, dass sie kausal relevant sind für die Spezifikation der Gerechtigkeitspflichten gegenwärtig lebender Menschen gegenüber ihren Mitmenschen und zukünftig lebenden Menschen (Kap. V.l). Gründe für unsere überlebenden Pflichten mit Blick auf heute tote Menschen sind impliziert von den Gründen für die Rechte, die diese Menschen zu ihren Lebzeiten hatten. Diese schließen generelle und spezielle zukunftsorientierte Rechte ein. Mit Blick auf Menschen, denen schlimmes Unrecht angetan wurde, stehen wir unter der Pflicht, sie als Opfer historischen Unrechts anzuerkennen. In symbolischen Kompensationshandlungen, die nach der vorgelegten Interpretation die Praxis öffentlichen Gedenkens des im Namen der eigenen Gesellschaft verübten historischen Unrechts ausmachen, können wir dieser überlebenden Pflicht genügen. Gründe für diese Pflicht sind von den Gründen impliziert, deretwegen wir Menschen das moralische Recht zuerkennen, zu Lebzeiten und posthum den Ruf zu genießen, den sie verdienen. Wenn sie schlimmes Unrecht erlitten haben, verdienen sie es, als Opfer solchen Unrechts erinnert zu werden,

S chluss

389

und die Erfüllung der entsprechenden Pflichten ist besonders wichtig dann, wenn bestritten wird, dass ihnen schlimmes Unrecht angetan wurde (Kap. III.7 und 8). Unter anderen überlebenden Pflichten können wir mit Blick auf heute tote Menschen stehen, deren Handeln moralisch gut oder verdienstvoll gewesen ist, oder die uns durch ihr Handeln begünstigt haben. Die entsprechenden Pflichten sind die des Respekts und der Dankbarkeit, wie in Kapitel V.3 erläutert. Während also für den Ausweis spezifischer überlebender Pflichten die (moralische) Qualität früher lebender Personen und ihrer Handlungen entscheidend sein kann, so gilt dies nicht für die Begründung der Ansprüche gegenwärtig lebender Menschen im Sinne der zukunftsorientierten Interpretationen der Bedeutung historischen Unrechts. Hier ist entscheidend, wie es gegenwärtig lebenden Menschen geht, und im Besonderen, ob ihr Wohlergehen unterhalb des Standards liegt, den die Schwellenwertskonzeption der Schädigung ausweist. Ob wir nachweisen können, dass dies die bleibende Wirkung früheren Unrechts ist, ist für die Begründung der Ansprüche der Betroffenen irrelevant. Für die Beantwortung der Frage, wer unter den entsprechenden historischen Pflichten steht, Kompensationsleistungen für die Opfer zu erbringen, kann der Nachweis, dass sich ihr Zustand der Schädigung historischem Unrecht verdankt, jedoch wichtig sein. Für die Begründung dieser Pflichten gegenwärtig lebender Menschen, die nicht zu den früher lebenden Tätern zählen, ist weder der Nachweis ihrer persönlichen Verantwortung oder Mitverantwortung für die Unrechtshandlungen zu erbringen noch der Nachweis, dass sie von den früheren Unrechtshandlungen anderer Vorteile hatten oder haben. Gegenwärtig lebende Menschen, die zur Tatzeit noch nicht lebten, haben die Unrechtshandlungen nicht beeinflussen können. Dies muss aber der Fall sein, sollen sie für die Tat verantwortlich oder mitverantwortlich sein sollen. Der Nachweis, dass es ihnen heute besser geht, als es ihnen gegangen wäre, hätten früher lebende Menschen das Unrecht nicht verübt, ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Für die Begründung der genannten Pflichten ist ein solcher Nachweis nicht erforderlich. Die Begründung beruht vielmehr auf der Spezifikation genereller Gerechtigkeitspflichten angesichts auch der historischen Situation, in der Menschen sich befinden sowie auf der Verantwortung für unsere soziale Identität, sofern wir unsere

390

S chluss

Mitgliedschaft in historisch gewachsenen transgenerationellen Gesellschaften intrinsisch wertschätzen (Kap. V.5). Für die erste Begründung zählt zu den relevanten Aspekten der gemeinten historischen Situation, dass wenigstens einige Pflichten der Gerechtigkeit heute innerhalb staatlicher oder staatsähnlich gefasster politischer Einheiten am ehesten zu realisieren sind. Diese Entitäten, gewöhnlich sind es Staaten, sind aber nicht anders als transgenerationell aufzufassen. Sofern ihr Staat minimalen Bedingungen seiner Legitimität entspricht, haben die gegenwärtigen Mitglieder das Recht, sich und zukünftig lebende Mitglieder durch entsprechende Festlegungen und Verträge des Staates zu binden. Dieses Recht können sie nur beanspruchen, sofern ihr Staat für sein Handeln haftet, und das schließt sein früheres Handeln ein. H a b e n früher lebende Mitglieder im N a m e n des Staates Pflichten verletzt oder haben staatliche Einrichtungen ihre Pflicht verletzt, Unrecht zu verhindern, u n d ergeben sich daraus Ansprüche gegenwärtig lebender Menschen, dann haben die gegenwärtig lebenden Mitglieder dieses Staates ein öffentliches Verbrechen ererbt. Sie können deshalb als Mitglieder unter der Pflicht stehen, dafür Sorge zu tragen, dass der Staat seinen Pflichten entsprechend handelt und also Kompensationsleistungen für die O p f e r erbringt. O b Menschen Mitglieder solcher G r u p p e n im relevanten Sinne sind, was also die G r ü n d e der Zuschreibung solcher Mitgliedspflichten sind, ist umstritten. Sofern sie Mitglieder solcher G r u p p e n sind, stehen sie unter der genannten Pflicht. Was die Erfüllung dieser Pflichten verlangt, ist abhängig von der besonderen historischen Situation, nämlich davon, w e m gegenüber Mitglieder fortbestehender Gesellschaften welche Pflichten aufgrund historischen Unrechts haben. I m Sinne der zukunftsorientierten Interpretation hängt dies v o n der bleibenden Wirkung solchen Unrechts auf das Wohlergehen von Menschen ab. Menschen können als Mitglieder transgenerationeller kultureller G r u p p e n durch das an früheren Mitgliedern der G r u p p e verübte Unrecht geschädigt sein — dann nämlich, wenn die bleibende Wirkung des Unrechts den Wert der Mitgliedschaft in der G r u p p e unterminiert. So ist es im Fall der Saami und Roma plausibel, ihre Forderungen auf Stärkung und Etablierung transnationaler kultureller und politischer Autonomie als gerechte Ansprüche zu verstehen u n d zwar nicht zuletzt, weil diese M a ß n a h m e n der bleibenden Wirkung des an früheren Menschen als

S chlu ss

391

Mitgliedern der G r u p p e n verübten Unrechts entgegenzuwirken versprechen (Kap. V.7). D a n n stehen die Mitglieder der fortdauernden Gesellschaften, in deren N a m e n das Unrecht verübt wurde, unter der Pflicht, solche Maßnahmen zu unterstützen. I m Fall der Roma stehen insbesondere die Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland unter dieser Pflicht wegen der bleibenden Wirkung des von den Nazis unternommenen, rassistisch motiviertem Genozids an den Roma und Sinti. Im Fall der Saami stehen insbesondere die Bürger der skandinavischen Länder unter dieser Pflicht, weil im N a m e n dieser Länder das Heimatland der Saami kolonisiert wurde, indem die Saami verdrängt und die territorialen Voraussetzungen ihrer traditionalen Lebensweisen unterminiert wurden. I m Sinne der vergangenheitsorientierten Interpretation der Signifikanz historischen Unrechts, also im Sinne der normativen Implikationen des Handelns und Leidens früher lebender Menschen für heute lebende Menschen, können die gegenwärtigen Mitglieder der betroffenen kulturellen G r u p p e n unter überlebenden Pflichten des Respekts und der Dankbarkeit stehen: Frühere Mitglieder ihrer G r u p p e n haben auch unter schwierigen Umständen das intrinsisch wertvolle kollektive G u t der Saami und Roma-Kultur erhalten und an nachfolgende Generationen tradiert. Dies kann gegenwärtig lebende Mitglieder auch mit Blick auf zukünftig lebende Mitglieder verpflichten, insofern sie der überlebenden Pflicht zu Dankbarkeit entsprechen sollen, indem sie gemäß der Intentionen ihrer Vorfahren handeln, auch für weiter entfernt zukünftig lebende Menschen den Wert der Mitgliedschaft in ihrer G r u p p e zu erhalten (Kap. V.3). Folgen wir der Auffassung, die Gustav Radbruch nach dem Zweiten Weltkrieg vertreten hat, dann sind historische moralische Urteile auch für die strafrechtliche Reaktion auf historisches Unrecht zentral (Kap. VI): Recht, das positiv-rechtlich gilt, etwa unter einem vorrechtsstaatlichen Regime, ist ex nunc nichtig, w e n n es minimale Bedingungen der Gerechtigkeit verletzt. Weil die gesetzlichen Bestimmungen extrem ungerecht waren, kann der nachfolgende Rechtsstaat unter der Pflicht stehen, Personen strafrechtlich für Handlungen zu verfolgen, die zur Tatzeit als rechtens galten und womöglich positiv sanktioniert wurden. Letzteres galt z.B. für die Todesschüsse der sogenannten Mauerschützen an der deutsch-deutschen Grenze. Radbruchs Position lässt sich als Ausdruck der oben erwähnten Position

392

Schluss

liberaler politischer Philosophie und der Position eines moderaten Werteskeptizismus interpretieren, u n d hat in diesem Sinne Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland gefunden (Kap. VI.3). Diese Interpretation ist allerdings mit Blick auf methodische G r u n d a n n a h m e n Gustav Radbruchs revisionistisch. D e n n Radbruch hat stets an einem metaethischen Relativismus festhalten wollen, der aber den Ausweis der Geltung universeller moralischer Urteile, die also auch mit Blick auf die Verhältnisse unter anderen und früheren Regimen gelten, nicht erlaubt und insofern im Widerspruch zu seinen substantiell moralund rechtsphilosophischen Behauptungen nach dem Zweiten Weltkrieg steht. Wir könnten allerdings, auch ohne auf ein solches historisches Urteil zu rekurrieren, die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es nach der Transition to Democracy rechtens ist, bestimmte während oder im N a m e n des Vorgängerregimes begangene und zur Tatzeit positivrechtlich geschützte Handlungen heute strafrechtlich zu verfolgen. D a z u bedarf es der gesetzgeberischen Einschränkung der Nullum crimen, nulla poena sine lege-Regel und rückwirkender Gesetzgebung, die die relevanten Rechtsbestimmungen im Nachhinein (ex tum:) für nichtig u n d damit für die heutige rechtliche Bewertung unbeachtlich erklärt. D a n n kann eine strafrechtliche Reaktion der zuständigen Einrichtungen heute rechtlich geboten sein (Kap. VI.5 und 7). Was immer wir von den alternativen, in der Sache naturrechtlichen oder rechtspositivistischen Begründungen der Forderung strafrechtlicher Verfolgung von zur Tatzeit während des vorrechtsstaatlichen Regimes positiv-rechtlich geschütztem Handeln halten mögen: Selbst w e n n solche Verfolgung (heute) rechtens ist, mag sie nicht gerecht sein. D a f ü r kann es viele G r ü n d e geben. Uns hat interessiert, ob es hierfür G r ü n d e aus der Sicht der O p f e r geben kann, und wir sind zu d e m Ergebnis gekommen, dass unter Umständen eine Transition to Democracy auf der Grundlage einer Wahrheitskommission mit bedingter Amnestie den gerechten Ansprüchen aller Betroffenen, insbesondere früherer und möglicher zukünftiger O p f e r schlimmer Menschenrechtsverbrechen, besser entspricht als eine Politik der Strafverfolgung des während oder im N a m e n des Vorgängerregimes begangenen Unrechts (Kap. VIII).

S chluss

393

Die Begründung dieser Einschätzung ist abhängig von sowohl substantiell moralischen und sozialphilosophischen Urteilen und Interpretationen als auch von hypothetisch empirisch zu treffenden Voraussagen. Zu ersteren zählen: die Kritik eines vermeintlich unbedingten Anspruchs auf Bestrafung und skeptische Überlegungen zum Wert der Retribution, der General- und Spezialprävention im Fall staatlicher Strafe für Menschenrechtsverbrechen, die unter einem Vorgängerregime begangen wurden; die Interpretation, dass die Arbeit einer Wahrheitskommission oder jedenfalls eines bestimmten Typs von Wahrheitskommission die Arbeit von Strafgerichten in anderen Hinsichten ersetzen kann; die Interpretation, dass offiziell festgestellte Wahrheit über Unrechtshandlungen bei Nennung von Tätern und Opfern mit einer negativen sozialen Sanktion der Täter, mit Kompensationsleistungen für die überlebenden und die indirekten Opfer im Sinne der zukunftsorientierten Interpretation verbunden ist und den gegenwärtigen Mitgliedern fortbestehender Gesellschaften erlaubt, ihren überlebenden Pflichten zu symbolischer Kompensation mit Blick auf die heute toten Opfer zu entsprechen. Zu den hypothetisch empirisch zu treffenden Prognosen zählen: die Einschätzung, insbesondere in der sogenannten Notsituation, gegenüber und mit Blick auf wieviele Opfer wir durch die Wahl der einen oder anderen Politik wenigstens einige unserer Gerechtigkeits- und anderen Pflichten werden erfüllen können; und des Weiteren die Einschätzung, welchen Einfluss die Wahl der Option Wahrheitskommission mit bedingter Amnestie auf den Erfolg der Transition to Democracy und deshalb auf die längerfristige Vermeidung weiterer Rechtsverletzungen hat. Dass angesichts der angedeuteten Komplexität eine Entscheidung darüber, wie unter den häufig schwierigen Umständen der Transition to Democracy die Werte unterschiedlicher Aspekte der Gerechtigkeit und anderer sozialer Werte bestmöglich zu realisieren sind, häufig umstritten ist, kann niemanden überraschen. Dissens wäre selbst dann zu erwarten, wenn die relevanten Akteure Konsens über alle normativen Fragen erzielten. Denn wir verfügen bisher über keine Theorie, die uns erlaubte, die Konsequenzen von Strategien, die weitreichende gesellschaftliche Veränderung anstreben, verlässlich und langfristig zu prognostizieren.

394

S chluss

Die Forderung strafrechtlicher Verfolgung und der Bestrafung von Tätern, die während und womöglich im Namen eines vorrechtsstaatlichen Regimes Unrechtstaten begangen haben, kann nicht als selbstverständlich gerechte Forderung gelten - und auch dann nicht, wenn sie mit der Forderung nach einem kosmopolitischen Strafgerichtshof mit universeller Jurisdiktion verbunden wird. Denn sie wäre es nur, wenn wir in einer Welt lebten, in welcher ein solcher Gerichtshof effektiv wäre, Unrechtsregime nötigenfalls durch internationale Intervention verlässlich beendet und günstige Bedingungen der Transiton to Democrag erzwungen würden — was die genannten Abwägungen obsolet und irrelevant machte.

Anhang: Übersichtstabellen Tabelle 1: Träger von Rechten und Pflichten Träger von

Verstorbene

gegenwärtig Lebende

Rechten Pflichten

Nein Nein

Ja Ja

Tabelle 2: Intergenerationelle Träger von Rechten und Pflichten Titel der Normbeziehung 1. überlebende Pflichten

2. Rechte zukünftig lebender Menschen

zukünftig Lebende, wenn sie leben werden

Ja Ja

Normbe^iehungen

früher Lebende

gegenwärtig Lebende

zukünftig Lebende, wenn sie leben werden

deren „zukunftsorientierte" Ansprüche, als sie lebten a. besondere personale Ansprüche 1 b. generelle Ansprüche 2 n.a.**

implizieren Pflichten dieser

implizieren Pflichten dieser

aufgrund von a.

aufgrund von b.

aufgrund von b.*

implizieren Pflichten dieser, diese Rechte nicht zu verletzen / zu schützen

deren Rechte

Erläuterungen: * Nicht aufgrund von a., weil zukünftig Lebende und früher Lebende nicht Zeitgenossen sind.

396

Anhang

** Nicht anwendbar, da früher Lebende heute nicht Träger von Pflichten sein können (siehe Tabelle 1). Zu Lebzeiten haben sie ihre Pflichten erfüllt oder nicht. 1 Z.B. aufgrund von Versprechen. 2 Unterschieden werden u.a. der Anspruch auf verdienten posthumen Ruf und der Anspruch auf Dankbarkeit für Handlungen, die zukünftig lebende Menschen über das ihnen Geschuldete begünstigen (sollen).

Tabelle 3. a: I. Zukunftsorientierte intergenerationelle und Pflichten Rechtsträger, Verpflichtete

früher Lebende

I. Zukunftsorientierte Anspruchsgründc und Gründe der Verbindlichkeit: unterschiedene Rechte und Pflichten 1. Distributive Gerechtigkeit: n.a.* 1 Anspruch auf gerechte Verteilung; Recht auf gerechten Anteil, Pflicht zur Redistribution, Pflicht zum intcrgenerationellen Sparen 2. Kompensatorische Gerechtigkeit: Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Schädigung; Recht auf Nicht-Schädigung, Pflicht zur Schadensvermeidung, Recht und Pflicht zur Kompensation 2. im Sinne der Schwellenwertskonzeption von Schädigung 2. a. wenn Zeitgenossen geschädigt n.a.* werden 2. b. wenn schädigende Handlung sich auf Identität und Zahl zukünftig lebender Menschen auswirkt

n.a.*

Rechte

gegenwärtig Lebende

zukünftig Lebende

Recht: Ja Pflicht: Ja

wie ggw. Lebende

Rechte: Ja Pflichten: Ja

wie ggw. Lebende

Rechte: Ja Pflichten: Ja

wie ggw. Lebende

Anhang

2. c. wenn schädigende Handlung sich auf die Existenz zukünftig lebender Menschen als solche auswirkt (Recht auf NichtExistenz)

n.a.*

3. Intergenerationelle Benevolenz: sorgende Bezugnahme auf zukünftig lebende Menschen im Sinne der Ermöglichung eines guten Lebens: dass Menschen in Zukunft leben werden, oberhalb eines Schwellenwerts des bloß Erträglichen, und womöglich im Sinne der Weiterentwicklung einer spezifischen kulturellen Identität (siehe auch unten II. 3. d.)

n.a.*

397

Recht: Ja, aber immer schon verletzt, wenn relevant Pflicht: Ja Recht: n.a.* 2 Pflicht: Ja

wie ggw. Lebende

wie ggw. Lebende

Erläuterungen: * Nicht anwendbar, da früher Lebende heute nicht Träger von Pflichten sein können (siehe Tabelle 1). Zu Lebzeiten haben sie ihre Pflichten erfüllt oder nicht und sind ihre Rechte verletzt worden oder nicht. 1 In seiner idealen Theorie intergenerationellen Sparens nimmt Rawls an, dass die vorangegangen Generationen ihre Pflichten erfüllt haben. 2 Pflicht ohne korrelierendes Recht.

Anhang

398

Tabelle 3. b: II. Vergangenheits- und zukunftsorientierte intergenerationelle Rechte und Pflichten Rechtsträger, Verpflichtete II. Vergangenheits- und zukunftsorientierte Anspruchsgründe und Gründe der Vcrbindlichkeit: unterschiedene Rechte und Pflichten 1. Kompensatorische Gerechtigkeit 1 1. a. wenn Zeitgenossen geschädigt werden 1. b. wenn zukünftig lebende Menschen geschädigt werden, ohne dass sich die schädigende Handlung auf deren Existenz, Zahl oder Identität auswirkt 2. Strafgerechtigkeit 2 3. Uberlebende Pflichten: 3. a. Pflicht zur Erfüllung von Versprechen; Personale Pflicht zur Erfüllung von Versprechen mit Blick auf posthume Zustände 3. b. Pflicht zum Respekt vor moralischem Verdienst; Anspruch auf gerechtfertigen (auch posthumen) Ruf, generelle Pflicht zum Respekt vor moralischem Verdienst der Vorfahren 3. c. Pflicht zur Korrektur des (posthumen) Rufs 8 3. d. Pflicht zur Dankbarkeit 10

früher Lebende

gegenwärtig Lebende

zukünftig Lebende

n.a.*

Rechte: Ja Pflichten: |a Rechte: Ja Pflichten: Ja

wie ggw. 1 .ebende wie ggw. Lebende

n.a.* 3

Rechte: Ja Pflichten: )a

wie ggw. Lebende

n.a.* 4

Recht: Ja, wenn ein Zeitgenosse sich ihr gegenüber entsprechend verpflichtet. 5 Pflicht: Ja6 Anspruch: Ja 5 und 7 Pflicht: Ja 8

wie ggw. Lebende

Anspruch: Ja 5 und 7 Pflicht: Ja5 Anspruch: Ja 5 und 7 Pflicht: Ja8

wie ggw. Lebende wie ggw. Lebende

n.a.*

n.a.* 4

n.a.* 4 n.a* 6

wie ggw. Lebende

Anhang

399

Erläuterungen: * Nicht anwendbar, da früher Lebende heute nicht Träger von Pflichten sein können (siehe Tabelle 1). Zu Lebzeiten haben sie ihre Pflichten erfüllt oder nicht und sind ihre Rechte verletzt worden oder nicht. 1 Gemeint ist: Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Schädigung, Recht auf Nicht-Schädigung, Pflicht zur Schadensvermeidung, Recht und Pflicht zur Kompensation und Restitution im historisch-hypothetischen Sinne von Schädigung. 2 Gemeint ist: Anspruch auf gerechte Strafe, Recht auf Strafe, Pflicht zur Bestrafung (im strafrechtlichen Sinne, im zivilrechtlichen Sinne, und durch funktionale Äquivalente (autorisierte und öffentliche Offenlegung)). 3 Pflicht zur Bestrafung auf Seiten der gegenwärtig und zukünftig Lebenden kann sich auf den Anspruch auf verdienten posthumen Ruf früher lebender Personen im Sinne von 3. b. beziehen. 4 Aber die Pflicht gegenwärtig und zukünftig lebender Personen gilt u.a. „mit Blick a u f deren frühere Ansprüche (im Sinne einer überlebenden Pflicht) (siehe Tabelle 2). 5 Die Pflicht zukünftig lebender Personen wird gelten u.a. „mit Blick a u f deren frühere Ansprüche. 6 Nämlich dann, wenn sie sich gegenüber einer früheren Person entsprechend verpflichtet hat. 7 Nämlich gegenüber Zeitgenossen und zukünftig lebenden Personen. 8 Gemeint ist: Anspruch auf gerechtfertigen (auch posthumen) Ruf; generelle Pflicht zur Korrektur eines ungerechtfertigten (schlechten) Rufs gerade auch der Opfer von historischem Unrecht (Wahrheit, symbolische Kompensation). 9 Unter anderem „mit Blick a u f die früheren Ansprüche heute Toter. 111 Gemeint ist: Anspruch auf Dankbarkeit für Handeln, das andere begünstigt; generelle Pflicht zur Dankbarkeit für das Handeln von Vorfahren, das die gegenwärtig lebenden Menschen begünstigt, und Respektierung der Absicht der Vorfahren, auch die zukünftig lebenden Menschen begünstigen zu wollen; Pflicht zur Dankbarkeit und zum Offenhalten von Optionen für transgenerationale Projekte.

400

Anhang

Tabelle 4: Intergenerationelle Wirkungen und deren normative Relevant (I) Handelnde / Betroffene

früher Lebende

gegenwärtig Lebende

zukünftig Lebende

Wirkungen:

1. auf Wohlbefinden

2. a. Existenz

Relevanz, siehe Tabellen 3a. und b. a. deren Handeln mit Blick auf „tatsächliche" zukünftige Menschen

a. deren Handeln mit Blick auf „mögliche" zukünftige Menschen

a. 1. wirkt sich auf deren Wohlbefinden aus

a. 2. wirkt sich (ausschließlich oder zusätzlich) auf deren Wohlbefinden aus

I. 1; 2; 3; II. l.b; 3d.

b. deren Handeln mit Blick auf „tatsächliche" zukünftige Menschen

b. 1. wirkt sich auf das Wohlbefinden der nächsten Generation aus b. 2 wirkt sich auf das Wohlbefinden (ausschließlich oder zusätzlich) späterer Generationen aus a. 2. ist (ausschließlich oder zusätzlich) wahrscheinliche / notwendige Bedingung von deren Existenz

dieselben

b. 1. ist wahrscheinliche / notwendige Bedingung von deren Existenz b. 2. ist (ausschließlich oder zusätzlich) wahrscheinliche / notwendige Bedingung der Existenz späterer Generationen

dieselben

a. 1. ist wahrscheinliche / notwendige Bedingung von deren Existenz b. deren I landein

dieselben

insb. I. 2.c; und I. 3; II. 3. d.

dieselben

Anhang

2. b Identität und Zahl

a. deren Handeln mit Blick auf „mögliche" zukünftige Menschen

401

a. 1. ist wahrscheinliche / notwendige Bedingung von deren Identität und Zahl (Komposition)

a. 2. ist (ausschließlich oder zusätzlich) wahrscheinliche / notwendige Bedingung von deren Identität und Zahl (Komposition)

insb. I.2.b; und I. 3; II. 3. d.

b. deren Handeln mit Blick auf „mögliche" zukünftige Menschen

b. 1. ist wahrscheinliche / notwendige Bedingung von deren Identität und Zahl (Komposition) b. 2. ist (ausschließlich oder zusätzlich) wahrscheinliche / notwendige Bedingung der Identität und Zahl später zukünftiger Generationen (Komposition)

dieselben

dieselben

Anhang

402

Tabelle 5: Intergenerationelle Wirkungen und deren normative Relevant^ (II): Aspekte kollektiven Erbes I Iandelnde und Betroffene Wirkungen:

früher Lebende

1. ererbte öffentliche Güter

deren andere, auch zukünftig Lebende, begünstigende Handeln deren verdienstvolles I landein

2. ererbte öffentliche Verdienste

3. ererbte öffentliche Übel

a. deren zukünftig Lebende nicht vorwerfbar schädigendes I landein b. deren zukünftig Lebende vorwerfbar schädigendes Handeln

gegenwärtig Lebende

zukünftig Lebende Relevanz (siehe Tabellen 3. a. u. b. insb. IL 3. d; und I. 13; II. 1; II. 3 b.

a. 1. erlaubt diesen die Verfolgung von Projekten

a. 2. erlaubt diesen die Verfolgung von Projekten

a. 1 wird von diesen erinnert und im öffentlichen Gedächtnis bewahrt a. 1. schädigt diese

a. 2 wird von diesen erinnert und im öffentlichen Gedächtnis bewahrt a. 2. schädigt (ausschließlich oder zusätzlich) diese

insb. II. 3. b; und I. 3; II. 3. d.

b. 1. schädigt diese und verletzt deren Rechte

a. 2. schädigt diese und verletzt deren Rechte (ausschließlich oder zusätzlich)

I. 1-2; II. 1.2

I. 1-2; II. l.i

Anhang

4. ererbte öffentliche Verbrechen

deren Unrechtshandeln an Zeitgenossen

403

a. 1. ist für diese eine moralische Last und rechtliche Belastung

a. 2. ist für diese eine moralische Last und rechtliche Belastung

insb. II. 3. c , und II. 2.

a. 1. schädigt diese

a. 2. schädigt (ausschließlich oder zusätzlich) diese

I. 1-2; II. 1

Erläuterungen: 1 Womöglich Pflichten des moralischen Respekts oder Dankbarkeitsp fliehten, wenn die früher Lebenden glaubten, moralisch richtig zu handeln oder mit der Absicht handelten, zukünftig lebende Menschen zu begünstigen. Dankbarkeitspflichten ergeben sich dann aber nur, sofern wir die extrem intentionalistische Auffassung vertreten, die wohlwollende Absicht des „Wohltäters" sei notwendige und hinreichende Bedingung der Dankbarkeitspflicht der „begünstigten" Person. 2 Im Vergleich zu 3. a keine besonderen zusätzlichen normativen Implikationen, da früher lebende Menschen nicht bestraft werden können. Nicht eigens berücksichtigt ist der Fall, dass früher Lebende ihre Zeitgenossen nicht vorwerfbar schädigen. Falls dies eine andauernde schädigende Wirkung auf das Wohlbefinden zukünftig Lebender hat, ist dies ein Fall des Typs 3. a.

Literatur Enthält die in den Fußnoten angeführte Literatur; die Hinweise auf Dokumente, Gerichtsurteile, Gesetze, Presseveröffentlichungen und Webseiten werden hier nicht erneut aufgeführt.

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