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German Pages [260] Year 2013
EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE IM WANDEL Verlangen nach Vollkommenheit Band 1
GERECHTIGKEIT herausgegeben von Gert Melville Gregor Vogt-Spira Mirko Breitenstein
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978–3–412–22182–9
INHALT
Vorwort zur Reihe: 7 Europäische Grundbegriffe, Leitmotive des Strebens nach Vollkommenheit
Vorwort zum Band: 11 Gerechtigkeit. Konzepte und Praktiken eines europäischen Grundbegriffs im Wandel
I. ANTIKE
Karl-Joachim Hölkeskamp 17 Einleitung
Arbogast Schmitt 25 Gerechtigkeit als Recht zur Selbstverwirklichung bei Platon
Gregor Vogt-Spira 40 „Ehrenhaft leben – niemanden verletzen – jedem das Seine gewähren“. Der Gerechtigkeitsdiskurs in Rom zwischen Tradition, Ethik und Recht
Martin Jehne 58 Gerechtigkeitskonkurrenzen in der politischen Praxis der römischen Republik
II. MITTELALTER Roberto Lambertini 77 Einleitung
Mirko Breitenstein 80 Die Begründung der besten Ordnung. Gerechtigkeitskonzeptionen im Mittelalter
Bernd Schneidmüller 97 Gerechtigkeit und politische Praxis im Mittelalter zwischen Konsens und Transzendenz
III. FRÜHE NEUZEIT
Mirko Breitenstein 115 Einleitung
I n h alt | 5
Bernhard Huss 117 Gerechtigkeitskonzeptionen in der Frühen Neuzeit Giancarlo Andenna 136 Formen des privaten Rechts. Schiedssprüche im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben Norditaliens im Übergang zur frühen Neuzeit
IV. AUFKLÄRUNG
Georg Kohler 155 Einleitung Edoardo Tortarolo 161 Aufgeklärte Gerechtigkeit. Einheit der Vernunft und Vielfalt der Lebensformen Joachim Eibach 174 Iustitia im Zeitalter der Aufklärung: Diskurs und Verfahren
V. MODERNE
Friedrich Wilhelm Graf 193 Einleitung Hans Vorländer 199 Gerechtigkeiten im Theoriediskurs der Gegenwart Holger Lengfeld 219 Von der Ergebnisgleichheit zur Chancengleichheit? Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung der Gegenwart im Wandel
Gerhard Amend 233 Gerechtigkeit kann man nicht erwarten – nur ein Urteil
VI. DIE ISLAMISCHE WELT
Carlos Ruta 247 Einleitung Tilman Nagel 249 Gerechtigkeit und Vollkommenheit der irdischen Verhältnisse in islamischer Sicht 267 Register 270 Zu den Autoren 6 | Inhalt
Vorwort zur Reihe:
EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE Leitmotive des Strebens nach Vollkommenheit Die europäische Kultur – freilich nicht nur diese – zeichnet sich seit der Antike und nachfolgend dem mittelalterlichen Christentum, dem Humanismus und der Aufklärung bis zur modernen Fortschrittsideologie durch ein kontinuierliches Verlangen nach Vollkommenheit aus. Diesem Verlangen liegt die Vorstellung zugrunde, dass es prinzipiell optimale Ausformungen des individuellen und sozialen Lebens gebe und dass man im durchaus imperativen Sinne danach zu streben habe, diese zu verwirklichen. Ein solches Streben artikuliert sich ebenso auf der konzeptionellen wie auf der pragmatischen Ebene. Immer aber stellt es angesichts der unüberbrückbaren Diskrepanz von Sein und Sollen den Versuch dar, Unerreichbares zu erreichen. Das Verlangen nach Vollkommenheit produziert folglich ein kontinuierliches Wechselspiel von Versuch und Scheitern. Unter der Perspektive des noch nicht Gelungenen entsteht zugleich eine Spannung, die erneutes Verlangen generiert. Dadurch aber wird ein höchst dynamisierendes Potential frei, welches zu fortwährenden Wiederholungen, Rezeptionen, Renaissancen, Anpassungen und Korrekturen von Vollkommenheitsstreben führt. Dieses Streben erzeugt eine Gleichzeitigkeit auch alternativer und divergierender Strategien zu seiner Verwirklichung. Diese Pluralität spiegelt sich dabei sowohl auf der konzeptionellen Ebene wie auf der des praktischen Handelns. In der Beobachtung des Verlangens nach Vollkommenheit werden die Geschichtlichkeit des menschlichen Denkens und dessen epochen- und milieuspezifische Verortungen erkennbar. Folglich sind vor allem historische Analysen geeignet, Entstehungs- und Geltungsbedingungen dieses Verlangens aufzuzeigen und zu klären, warum es dabei zu differenten Entwicklungen, zu Erfolgen oder Misserfolgen, zu Zäsuren oder Renaissancen kam. Dieser Prozess bricht auch in der Gegenwart nicht ab, vielmehr resultiert die fortgesetzte Suche nach etwas noch Vollkommeneren aus der Einsicht, dass das bisherige Ziel und der eingeschlagene Weg nicht ausreichen oder in die ›falsche‹ Richtung führen. Verlangen nach Vollkommenheit als solches zeigt sich zwar als eine grundlegend regulative Idee, deren Realisierung aber bedient sich angesichts der Komplexität der Lebenswelten unterschiedlicher Wege, die die Funktion haben, jene Diskrepanz von Sein und Sollen auf je eigenem Gebiet zu überbrücken. Dieser E u ropäi sc h e G ru n dbe g ri f fe | 7
Sachverhalt lässt sich auch als Einsatz von verschiedenen Grundwerten oder Tugenden beschreiben, jedoch handelt es sich dabei gerade nicht um feste Größen, sondern um Variablen, die selbst jeweils stetig erneuter Vervollkommnung auf konzeptioneller wie pragmatischer Ebene bedürfen. Es geht um Konzepte und Praktiken, die ein Handeln der Beteiligten erfordern und die verlangen, dass jeder, der nach Vollkommenheit strebt, sich aktiv in ein Verhältnis zur jeweils akzeptierten Norm setzt. Sie sind während der gesamten europäischen Geschichte präsent und waren auch in ihren konkreten Ausformungen stets Gegenstand einer intensiven Diskussion um die spezifischen Konzepte. Begrifflich gefasst handelt es sich vorrangig um: Gerechtigkeit: Sie dient dem Ausgleich von unterschiedlichen Interessen, Ansprüchen und Konditionen. Sorge: Sie dient einem auf Austausch und Unterstützung fußenden friedenstiftenden Umgang miteinander. Die Qualität des wechselseitigen Verhältnisses kann dabei von ganz verschiedener Art sein, wobei das konzeptionelle Spektrum von einem eng am Prinzip der Reziprozität orientierten Ausgleich über Modelle selbstlosen Gebens bis hin zur christlichen Nächstenliebe (caritas) und ihren säkularen Formen der Brüderlichkeit und Solidarität reicht. Freiheit: Sie beansprucht, die Autonomie individuellen und sozialen Handelns ohne gegenseitige Beeinträchtigung zu garantieren. Freiheit ist dabei Ausdruck sowohl der Möglichkeit zum Handeln (negative F.) als auch des Vollzugs der Handlung (positive F.). Beide versprechen, die Vervollkommnung des individuellen Handelns und Denkens zu erlauben. Erkenntnis: Erkenntnis bezeichnet sowohl den entweder rationalen oder empirischen Akt des Erkennens als auch das Resultat dieses Erkenntnisprozesses. Gewonnen werden handlungsleitende Wahrheit(en) ebenso wie Hierarchien der Letztbegründung. Sie befähigt zu einem sittlichen Vollzug sozialen Handelns. Schönheit: Die Lebenswelt unterliegt immer einem Akt der Formung, der ebenso den sozialen Bereich wie die Herstellung von Werken (poiesis) umfaßt und bis zur (Um)Gestaltung der Natur reicht. Schönheit ist in besonderem Maße von einem Streben nach Vervollkommnung gekennzeichnet: Die Wertmaßstäbe indes, denen sie folgt, werden Prozessen gesellschaftlichen Aushandelns unterzogen, die dazu führen, dass einmal anerkannte Setzungen später stets wieder infrage gestellt werden. Diese fünf Weisen des Strebens nach Vollkommenheit ergänzen sich – wenn auch im Anspruch auf Prädominanz zum Teil untereinander konkurrierend – und betreffen im passiven wie imperativ aktiven Sinne den Einzelnen und die Gemeinschaft, insofern sie wesentlich handlungsbestimmend sind. Sie münden – systema8 | Europ äische G r und b e gr if fe
tisch gesehen – ein in das Verlangen nach (ebenso unerreichbarer) vollkommener Harmonie jedes Einzelnen mit sich und seiner Umwelt – einer Harmonie, die mit Glückseligkeit umschrieben werden kann: Glückseligkeit meint die vollkommene Erfüllung menschlichen Strebens, weshalb ihr ein dezidiert utopischer Charakter eigen ist. Zwar ist Glück eine je persönliche Empfindung, doch erlangt man den Zustand der Glückseligkeit nicht ausschließlich aus individuellen Voraussetzungen, sondern wesentlich durch Akzeptanz, Überschreitung oder Absetzung von den vorgegebenen Angeboten an Vollkommenheit. Das Verlangen nach Glückseligkeit transzendiert dabei die gesellschaftliche Ordnung hin zu einem Optimum, welches als dessen Konkretisierung gedacht wird. Das Verlangen nach Vollkommenheit ist folglich eine kulturelle Grundhaltung, die von jeher eine Leerformel darstellte und deshalb flexibel auszugestalten war. – Zusammenfassend gesagt: Die Inhalte dessen, was für vollkommen gehalten wird, wurden immer wieder
neu gesellschaftlich ausgehandelt, durch Eliten vorgegeben, in Diskursen zur Disposition gestellt bzw. in Epistemen verankert, naturrechtlich bestimmt oder als normativer Ausfluss einer metaphysisch-numinosen Instanz behauptet. Nur so war Wiederholung, Rezeption, Anpassung und Korrektur des Strebens nach Vollkommenheit möglich. Dies konnte zwar zur Verstetigung des Verlangens führen, generierte dennoch in pluralischer Weise nur historische Ausformungen von Konzepten und Pragmatiken jeweiliger Vollkommenheit(en)– also »Gerechtigkeiten«, »Sorgen«, »Freiheiten«, »Erkenntnisse«, »Schönheiten« und »Glückseligkeiten«. Verlangen nach Vollkommenheit sowie die stetig erneuerte Offenheit, Vollkommenheit inhaltlich in flexibler Weise zu besetzen und sich dabei kritisch mit Konzepten der Vergangenheit, mit »Klassiken« auseinanderzusetzen, sie aufzugreifen oder abzulehnen, sind Sachverhalte, deren spezifisches Zusammenwirken wesentlich zum Erfolg und zur globalen Dominanz des europäischen Modells beitrug. Jenen fünf funktionalen Weisen –»Gerechtigkeit(en)«, »Sorge(n)«, »Frei heit(en)«, »Erkenntnis(sen)« und »Schönheit(en)« – gilt jeweils ein einzelner Band. Am Ende des Zyklus wird mit »Glückseligkeit(en)« ein Konzept behandelt, das gleichsam die Bündelungskategorie der vorgenannten darstellt und in seinen jeweiligen Bestimmungen als Endziel menschlichen Strebens erfahren werden kann. E u ropäi sc h e G ru n dbe g ri f fe | 9
Jedes Mal werden dabei Vergleiche in einer diachron orientierten Vorgehensweise gezogen. Dies hat zum Ziel, solche Epochen oder Zäsuren in den Blick zu nehmen, welche für die konzeptionelle Prägung und pragmatische Ausgestaltung der genannten Begriffe in der europäischen Tradition jeweils besonders entscheidend waren. Zugleich wird immer ein außereuropäischer Kulturkreis hinzugezogen, der geeignet scheint, die europäische Entwicklungslinie deutlich zu akzentuieren. Dabei geht es nicht um das konsekutive, periodisch orientierte Erfassen von Details, sondern um die dokumentierte Gegenüberstellung verschiedener Konzeptionen je eines Begriffs und des Umgangs mit ihm. Ziel ist weder eine Aktualisierung der Begriffe in ihren jeweils untersuchten Zeitschichten noch der Nachweis einer direkten Entwicklungslinie oder eines unmittelbaren Zusammenhanges. Vielmehr geht es um die konsequente Historisierung der jeweiligen Begriffe und Praktiken innerhalb von Phasen, die als Situationen einer intensivierten Diskussion erkannt werden können (Zeiten einer intellektuellen Virulenz, des Epochenwandels, der Krisen – Zeiten, in denen ein besonderer Diskussionsbedarf über die Grundkonzepte bestand). Untersucht werden die jeweiligen Entstehungs- und auch die Geltungsbedingungen der verschiedenen Ausformungen der Konzepte. Leitende Idee ist es also, jeweils im Umgriff von der Antike bis zur Gegenwart unter exemplarisch vergleichendem Einschluss von nicht-europäischen Kulturen die historischen Ausformungen sowohl der konzeptionellen (philosophischen, literarischen, theologischen, ideologischen) als auch der pragmatischen Ebene (Agenten, Objektivationen, Handlungsmuster etc.) zu analysieren. Dabei sind jeweils charakteristische Stadien ausgewählt worden, ohne dass in irgendeiner Weise systematische Vollständigkeit angestrebt worden wäre. Vielmehr ist die Vorgehensweise paradigmatisch. Auftakt des sechsteiligen Unternehmens ist der vorliegende Band zu ›Gerechtigkeit‹.
10 | E urop äisc he Gr und b e gr if fe
Vorwort zum Band:
GERECHTIGKEIT Konzepte und Praktiken eines europäischen Grundbegriffs im Wandel ›Gerechtigkeit‹ ist seit jeher und bis in die Gegenwart ein Gegenstand intensiver Diskussionen und Aushandlungsprozesse; im Verlaufe der Geschichte ist sie geradezu zu einem Grundwert geworden. Indes, so hoch der Stellenwert ist, der ihr beigemessen wird, so trefflich lässt sich streiten, was denn im einzelnen ›gerecht‹ ist. Gleichwohl scheint allen Debatten ein Konsens darüber vorauszuliegen, dass sich überall noch ›Ungerechtigkeiten‹ ausmachen lassen, die überwunden werden müssen. Darin kommt eine Grundhaltung zum Ausdruck, nicht zu ruhen, bis ein Höchstmaß an Gerechtigkeit verwirklicht ist: ein ›Verlangen nach Vollkommenheit‹. Ein solches ›Verlangen nach Vollkommenheit‹ zeichnet nun in der Tat die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit durch die ganze europäische Geschichte hindurch aus, und dies ist der besondere Blickwinkel, unter dem ›Gerechtigkeit‹ in diesem Band betrachtet wird. Dabei wird sie nicht als ein statischer Wert aufgefasst, vielmehr geht es um eben jene unabschließbare Dynamik des Gerechtigkeitsbegriffs, und zwar im doppelten Blick auf theoretische Entwürfe ebenso wie auf praktische Umsetzungen. Gerechtigkeit ist ein Regulativ sozialer Interaktionen, das dem Ausgleich von unterschiedlichen Interessen und Konditionen dient und damit sowohl zur Stabilität von gesellschaftlichen Ordnungen als auch zur Wahrung persönlicher Ansprüche beiträgt. Verknüpft mit Gerechtigkeit sind dadurch sowohl hohe Erwartungen, deren Erfüllung als ethische Maxime bzw. als Tugend verstanden wird, als auch Forderungen, deren Einlösung als verantwortungsvolle Pflicht angesehen wird. Insoweit stellt sich Gerechtigkeit aber nur als eine funktionale Leerformel dar – und dies auch dann, wenn man Gerechtigkeit mittels verschiedener Konzepte typologisch aufschlüsselt: etwa in eine ausgleichende, eine austeilende oder eine legale Gerechtigkeit. Gefüllt wird diese Leerformel erst, wenn im Kontext jeweiliger kultureller Verständigungssysteme (implizit oder explizit) Übereinkunft besteht, welche Kriterien für die konkrete Umsetzung der Gerechtigkeitskonzepte gelten. Ihre inhaltliche Rechtfertigung findet eine solche Füllung jeweils durch Bezugnahme auf fundamentale Begründungsmodi – metaphysische, naturrechtliche oder rechtspositivistische. G e re c ht i g ke i t | 11
Der Umgang mit Gerechtigkeit steht daher vor der Herausforderung des Einzelfalls. Jeder Einzelfall verlangt generell sowohl Maß und Unterscheidung (discretio) als auch normative Stringenz und dennoch zwingt er, die Frage nach Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit von Gerechtigkeitshandeln jeweils neu zu stellen. Unter dem Signum vollkommener Gerechtigkeit lässt sich ebenso heilen wie zerstören. Folglich gibt es nicht »die Gerechtigkeit«, sondern nur geschichtlich gebundene »Gerechtigkeiten«, welche sich unterschiedlich sowohl auf einer konzeptionellen als auch auf einer pragmatischen Ebene ausformen und folglich nur durch historisch vergleichende Untersuchungen analytisch zu erschließen sind. Im Aufgriff der historischen Spannweite der europäischen Kultur von der Antike bis zur Gegenwart werden hier also historische Ausformungen jeweils sowohl der konzeptionellen (philosophischen, theologischen, ideologischen) als auch der pragmatischen Ebene (Agenten, Objektivationen, Handlungsmuster etc.) vorgestellt. Die diachron orientierte vergleichende Vorgehensweise hat zum Ziel, solche Epochen oder Zäsuren in den Blick zu nehmen, welche für die konzeptionelle Prägung und pragmatische Ausgestaltung der genannten Begriffe in der europäischen Tradition besonders entscheidend waren. Für einen exemplarischen Vergleich mit einer genuin nicht-europäische Kultur scheint das islamische Rechtssystem der Scharia besonders geeignet zu sein, um den europäischen Begriff der Gerechtigkeit zu pointieren. In der Umsetzung dieses Programms erwies sich eine Reihe von systematischen Fragen für die Autoren als leitend. Wo wird der Maßstab der Gerechtigkeit verankert: in Gott, in der Natur des Menschen als Maß aller Dinge, im menschlichen Satzungswillen, in der Tradition? Wem dient Gerechtigkeit: dem Einzelnen, einer Gruppe, der Gesellschaft, einer Ordnungsidee? Wer definiert und garantiert Gerechtigkeitskonzepte: der Herrscher, jeder Einzelne, eine Gruppe, eine soziale Schicht, die Gesellschaft, die Verfassung und ihre Institutionen, eine metaphysisch-numinose Gewalt? Wo und in welcher Form manifestiert sich Gerechtigkeitshandeln: im Inneren des Einzelnen, in der volonté collective, bei Gericht, durch Schrifttum, durch Verfahren, durch Rituale etc.? Wie konkurrieren Gerechtigkeiten: Transfer, Rezeption von Gerechtigkeitskonzepten, Interferenzen von Begründungsmodi, Konflikte zwischen Gerechtigkeitspraktiken etc.? Wo endet die Kompetenz von Gerechtigkeit? Steht die Stringenz normativer Härte gegen die Erfordernis von Gnade, Liebe, Barmherzigkeit? Es ist den Herausgebern ein großes Vergnügen, allen zu danken, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Neben den Autoren gilt der besondere Dank der 12 | Gerechtigke it
Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung, dem DeutschItalienischen Zentrum für Europäische Exzellenz Villa Vigoni für die liebenswürdige Gastfreundschaft und dem Böhlau-Verlag für die so entgegenkommende Bereitschaft, die Reihe in sein Programm aufzunehmen. Eine dankenswerte Unterstützung erfuhr das Projekt auch durch die Heidelberger Akademie der Wissenschaften sowie die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Die Herausgeber
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Karl-Joachim Hölkeskamp
EINLEITUNG: ›GERECHTIGKEIT(EN)‹ IN ANTIKEN GESELLSCHAFTEN Das postmodern verklammert daherkommende Vexierspiel mit dem Singular respektive Plural des Begriffs ›Gerechtigkeit(en)‹ ist weder eine zufällige und launige Sottise noch gar ein beliebiges und sinnloses Wortspiel – im Gegenteil: Der Begriff und sein Inhalt (oder eben genauer: seine Inhalte) sind auf vielfache Weise in jenes Gewebe von Bedeutung(en) eingelagert, in das der Mensch eingesponnen ist, nachdem er es selbst gewebt hat – wenn diese Anspielung auf Clifford Geertz’ vielzitierte und genauso oft rücksichtslos dekontextualisierte, in Anlehnung an Max Weber geprägte Definition von ›Kultur‹ hier erlaubt ist.1 Man kann mit Otfried Höffe noch einen Schritt weitergehen und versuchen, »interkulturelle Gemeinsamkeiten« auszumachen: »In erster Annäherung« bedeute der Begriff »lediglich die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht« – darüber hinaus meine er »sowohl objektiv die inhaltliche Richtigkeit des Rechts als auch subjektiv die Rechtschaffenheit einer Person«.2 Höffe entfaltet dann einen Katalog der Dimensionen der »kulturen- und epochenübergreifenden, interkulturell anerkannten Gerechtigkeit« – dazu zählt er etwa »Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit«, die Vorstellungen von »Wechselseitigkeit oder Reziprozität«, von »Nehmen und Geben« und ihrer »Gleichwertigkeit« sowie die Idee einer »ausgleichenden (›korrektiven‹) Gerechtigkeit«, die »den Ausgleich für erlittene Schäden« respektive Strafe »für ein verschuldetes Unrecht« verlange.3 Vor allem setze das »den Menschen Gemeinsame« generell und grundsätzlich beim »Gleichheitsgebot« an, das »sowohl in seiner negativen Gestalt, als Willkürverbot, als auch in seiner positiven Gestalt, als Gebot der Unparteilichkeit«, universell und kategorisch fordere, »Streitfälle ohne Ansehen der Person zu schlichten« – ob »Frau oder Mann, reich oder arm, mächtig oder schwach«. Diese »Unparteilichkeit erster Stufe, die der Regelanwendung«, müsse allerdings durch eine solche »zweiter Stufe« ergänzt werden, nämlich die Unparteilichkeit der »Regelfestsetzung«.4 Grundsätzlich hat Höffe vermutlich sogar recht, wenn er eingangs als anthropologische Konstante postuliert, dass »keine Kultur und keine Epoche […] auf Gerechtigkeit verzichten« wolle und dass die Forderung, dass »in der Welt Gerechtigkeit herrsche«, dementsprechend »zu den Leitzielen der Menschheit seit ihrer Frühzeit« gehöre.5 Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch ziemlich schnell heraus, dass nicht nur die konkrete Einlösung dieser Forderung in der lebensweltlichen Praxis in vormodernen wie modernen Gesellschaften immer ein Problem war ›Ge re cht igke it ( e n) ‹ i n ant i ke n G e se ll sc h af t e n > | 17
und ist – auch das könnte man als anthropologische Konstante nehmen. Darüber hinaus erweisen sich aber auch die Vorstellungen, Konzepte und Ideale, die diese Praxis – oder wiederum genauer: diese Praktiken, Prozeduren und Verfahren von höchst unterschiedlichen Graden der Formalisierung und Institutionalisierung – grundieren und legitimieren, ihrerseits als hochgradig kultur- und/oder epochenspezifisch. * Die erwähnten Vorstellungen und Begriffe von Recht(lichkeit), Verfahrensrecht und -gerechtigkeit sind in das kollektive Wissen einer Gesellschaft eingebettet, das man im Anschluss an Christian Meier (und wiederum Max Weber) als »nomologisches Wissen« bezeichnen kann.6 Darunter sind der spezifische kollektive Bestand an Orientierungen, Überzeugungen und das dazugehörige Raster von Denkweisen und verbindlichen Deutungsmustern zu verstehen. Dazu gehören auch schon in frühen Gesellschaften wiederum nicht nur Mythen und Weltbilder, Vorstellungen von den Anfängen der Welt, von Göttern, Kosmos und Natur, sondern auch von der jeweiligen ›richtigen‹ oder ›(ge)rechten‹ Ordnung der Gemeinschaft. Dazu zählen wiederum die Maximen, Maßstäbe und Regeln, nach denen einerseits die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns allgemein bestimmt werden und nach denen andererseits das konkrete Verhalten von Menschen in konkreten Situationen als üblich und ›richtig‹ oder als fragwürdig und ›falsch‹ beurteilt wird – eben, in der Sprache der homerischen Epen, was »rechtens« (thémis) ist und was nicht.7 Schon in der Ilias und in der Odyssee ist die beginnende Reflexion über ›Recht‹ und die (ge-)rechte Ordnung, ihre Herstellung oder Wiederherstellung, etwa durch ›gerade‹, also ›richtige‹ Schiedsurteile und Rechtssprüche deutlich zu erkennen – auch wenn es da noch keinen »distinkten Gerechtigkeitsbegriff« gab.8 In der Gerichtsszene auf dem Schild des Achill geht es um die Sühnung eines Totschlags: Es ist bezeichnend, dass neben dem ausgesprochen friedlichen Fest einer Hochzeit ausgerechnet ein solcher Fall bzw. seine Verhandlung vor dem auf der Agora versammelten »Volk« (laoí) als charakteristische Szene einer ›Stadt im Frieden‹ vorgestellt wird.9 Dabei soll derjenige der »Ältesten« (gérontes) – die »auf geglätteten Steinen im heiligen Kreis« saßen, mit dem Stab des Herolds in der Hand aufsprangen und abwechselnd ihren Spruch vortrugen (dikázein) – die in der Mitte liegenden »zwei Pfund Gold« erhalten, »der das Recht (díke) am geradesten spräche«.10 Bei Hesiod ist Themis – die uralte Göttin des Rechts und der Rechtssprüche, Tochter des Uranos und der Gaia, Gattin des Zeus – auch die Mutter der Horen, die wiederum bezeichnenderweise »Wohlordnung« (Eunomíe), »Recht« (Díke) 18 | einleitung: ›Ge re cht igke it ( e n) ‹ in a nt ike n Ge s e ll s ch af t e n
und »Frieden« (Eiréne) heißen und sich um »das Tun der sterblichen Menschen« kümmern.11 Andere Töchter des Zeus, die Musen, ehren den »zeusgenährten König« (diotrephès basileús), der vor dem ganzen Volk (pántes laoí) Recht spricht mit »geraden Sprüchen« (und dadurch Recht von Unrecht unterscheidet: diakrínonta thémistas itheíesi díkesin): Dafür wird der König gerade in seiner friedensstiftenden Rolle als Richter auf der Agora von der Versammlung verehrt.12 Wie bei der homerischen Gerichtsszene gilt hier also wiederum der Grundsatz: »it is not enough that justice be done – justice must be seen to be done»: Es geht also um jene kollektive Akzeptanz durch die von dem in Rede stehenden Streitfall betroffene Gemeinschaft und die daraus resultierende Legitimität des (Schieds-)Urteils, die immer auch integraler Bestandteil der jeweiligen Vorstellungen von Gerechtigkeit und ihrer konkreten Manifestation sind. In Hesiods Werken und Tagen geht es dagegen nicht nur um das von Zeus kommende »gerade Recht«, den erhofften Sieg der Dike über die Hybris und die konkreten, »Fremden wie Einheimischen« erteilten »geraden Sprüche«, die eine ganze Stadt und die in ihr lebende Gemeinschaft aufblühen lassen.13 Hier geht es auch und gerade um das hässliche Gegenteil, die Beugung des Rechts durch die »schiefen Sprüche« (skoliési díkesin) der »gabenfressenden Könige« (basilées dorophágoi), und die weitreichenden katastrophalen Konsequenzen für die gesamte Gemeinschaft.14 Auch Solon beklagt den »rechtlosen Sinn« und die daraus resultierenden »rechtlosen Werke« der »Führer des Volkes«15 und verweist wieder auf Dike, »die es schweigend miterlebt hat« und die zwar erst »mit der Zeit«, aber »in jedem Fall kommt, um dafür zu strafen«.16 Dagegen setzt er sein Ideal der»Wohlordnung« (eunomíe), welcher wiederum explizit eignet, dass sie »den Ungerechten« (adíkois) Fußfesseln anlegt, die Hybris schwächt, »hochfahrende Werke« und solche der »Zwietracht« beendet – und nicht zuletzt »begradigt« sie »krumme Rechtssprüche« (euthúnei […] díkas skoliás).17 Damit sind nur einige frühe Stationen jenes langen und höchst komplexen Prozesses markiert, in dessen Verlauf ein umfassender Diskurs um Konzepte wie dike und themis, hergebrachtes und neues Recht, geschriebene und ungeschriebene nomoi und die Herrschaft des Gesetzes in der Polis entstand.18 Dieser Prozess führte schließlich (auch) zu der von Arbogast Schmitt entfalteten philosophisch wie ideen- und begriffsgeschichtlich voraussetzungsvollen Auseinandersetzung mit ›Gerechtigkeit(en)‹ bei Platon und darüber hinaus (etwa in Gestalt von Aristoteles‹ Kritik daran); und er mündete dann in den europäischen Diskurs über das Konzept, seine Ge- und Inhalte, seine orientierenden und handlungsleitenden Potentiale.19 *
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Bei dem postulierten fundamentalen Gebot der Gleichheit wird die eingangs erwähnte universal-anthropologisch daherkommende Sicherheit und Selbstverständlichkeit erst recht fragwürdig. Das macht ein Blick auf das Rom der Republik und die dort und danach entwickelten spezifisch römischen Konzepte von Gerechtigkeit sehr deutlich, die eben nicht auf einen einzelnen Begriff – wie etwa iustitia – gebracht werden können. Denn die römischen Vorstellungen bewegen sich, wie Gregor Vogt-Spira zeigt, in einem komplexen und wandelbaren semantischen Parallelogramm, das von Konzepten wie ius, aequitas, libertas, pietas und (bona) fides markiert wird und in das auch noch (rechts-)philosophische Theoreme griechischer Provenienz, etwa der Stoa, eingeflossen sind. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der ›Gerechtigkeit‹ als aequitas und der Vorstellung vom suum cuique verweisen bereits auf das zentrale Charakteristikum der römischen Gesellschaft – nicht nur der Republik. Die gesamte soziale und politische Ordnung des populus Romanus war von tief eingerasteten, institutionell vielfach abgesicherten und niemals hinterfragten Hierarchien durchzogen.20 An deren Spitze stand die spezifisch römische Variante einer soziopolitischen Elite, die sich permanent durch ein striktes Ethos des Dienstes an und für die res publica und den populus Romanus, seine maiestas und sein imperium meritokratisch legitimierte, ebenso permanent unter sich um politisch-militärische Führungsfunktionen konkurrierte und dabei ihrerseits eine wiederum tief eingerastete und als solche unstrittige interne Hierarchie nach Rang und Reputation reproduzierte: Innerhalb des senatorischen Adels bildeten die Nobilität und ihre principes als Meinungsführer im Senat als dem zentralen Regierungsorgan der Republik noch einmal eine herausgehobene Kern- und Spitzengruppe.21 Jederzeit und überall bewegte sich der Römer in einem dichten Gewebe von Über- und Unterordnungsverhältnissen: Der nobilis in seinen komplementären Rollen als Magistrat, Feldherr und Träger des imperium, prominenter Senator, angesehener Priester und Patron großer Clientelen stand dabei dem ›man in the Roman street‹ als einfachem Bürger, als einer strengen Disziplin unterworfenem Legionär, als abergläubisch-ehrfurchtsvollem Zeugen zahlloser Kultvollzüge und natürlich als Client gegenüber. Auch die Rechtskultur und schließlich die lebensweltliche Praxis der Rechtsprechung war notwendig in dieses Gewebe von Hierarchien eingebettet – genau daraus resultierten ja die Konkurrenzen und Kollisionen zwischen jeweils für sich durchaus akzeptierten Prinzipien, Maßstäben und ihren daraus resultierenden jeweils auch legitimen Geltungsansprüchen, die Martin Jehne in seinen Fallstudien (also auf gut römische Art ›exemplarisch‹) belegt und analysiert hat.22 Der kollektive ›mentale‹ Hintergrund, die geltenden Wertvorstellungen und Orientierungen, Verhaltensmaßstäbe und darauf bezogenen gegenseitigen Erwartungen waren in einen allgemeinen Konsens über ›Romanness‹, die traditionelle römische Art und ihre Überlegenheit gegenüber dem Rest der (mittlerweile weit20 | einleitung: ›Ge re cht igke it ( e n) ‹ in a nt ike n Ge s e ll s ch af t e n
gehend unterworfenen) Welt gekennzeichnet – und die allgegenwärtigen Gefälle und Asymmetrien von Ansehen, Autorität und Macht waren eben ihrerseits in diesen permanent gepflegten und erneuerten Konsens eingebettet. Die Selbstverständlichkeit der sozialen Asymmetrie und Hierarchie war daher auch immer in die spezifisch römischen Vorstellungen von der eingangs erwähnten Wechselseitigkeit und Reziprozität, vom ›gerechten‹ Geben und Nehmen eingeschrieben – wie der Begriff fides belegt, der mit diesbezüglichen Konnotationen durchaus gesättigt war. Das heißt konkret, dass fides nur dem Magistrat, Feldherrn, Senator und Patron als dem sozial Überlegenen und Mächtigen eignet, während der einfache Bürger in seinen verschiedenen Rollen, etwa als Client, in der fides seines Patrons steht, nachdem er sich in dessen fides begeben bzw. von Letzterem in dieses Verhältnis aufgenommen wurde (in fidem se dare oder venire respektive accipere, recipere oder ähnlich).23 Schließlich war es auch tief in dieses ›nomologische Wissen‹ dieser Gesellschaft eingeschrieben, dass es gerade beim Streben nach honores, dignitas, auctoritas und gloria als praemia virtutis immer Unterschiede gebe und von Natur aus gerechterweise geben müsse. Für Cicero war es nicht nur selbstverständlich, dass »die Besten an virtus und Gesinnung die Schwächeren« zu führen hätten, sondern er setzte ebenso selbstverständlich voraus, dass die Letzteren auch den Besten gehorchen wollen – und genauso naturgegeben sei es daher, dass den Besten und den Niedrigsten nicht die gleiche Ehre zustehen könne und dass es niemals eine allgemeine Gleichheit ohne klare Abstufungen nach Rang und Ansehen geben dürfe, die auf bestimmte Weise letztlich ungleich und damit eben ungerecht sei.24 Schon M. Porcius Cato – als homo novus zu den höchsten honores der Republik gelangt, ebenso eloquent wie streitsüchtig und wegen seiner ›censorischen‹ Strenge Censorius genannt – hatte das auf den Punkt gebracht: »An Recht, Gesetz, Freiheit, res publica muß man gemeinsam teilhaben; an gloria und honos aber so, wie jeder es sich selbst geschaffen hat.«25 Genau diese ›gerechte Ungleichheit‹ hatte auch der eigenwillige Patrizier Ap. Claudius Caecus, ein anderer berühmter Censor, ein Jahrhundert zuvor gemeint, als er die sprichwörtlich gewordene Sentenz prägte, dass jeder seines Glückes Schmied sei26 – und das Gleiche setzte auch der angesehene ehemalige Consul und Redner M. Antonius als selbstverständlich voraus, der nach Cicero für sich in Anspruch nehmen konnte, »an libertas allen anderen gleich, an dignitas aber der Erste« gewesen zu sein.27 Die damit gemeinte libertas war eine zweifache. Die ›Freiheit‹ der einfachen Bürger war eine passive, sie bedeutete Schutz vor magistratischer Willkür in Gestalt der immer wieder beschworenen »beiden Bollwerke der Freiheit«, nämlich des Rechtes auf Provocation an die Volksversammlung einerseits und des Schutzes durch die Volkstribune und ihr Intercessionsrecht andererseits.28 Die libertas der politischen Klasse war die Freiheit zu aktivem politischen Handeln im permanen›Ge re cht igke it ( e n) ‹ i n ant i ke n G e se ll sc h af t e n > | 21
ten, freien Wettbewerb um honores im doppelten Sinne des Begriffs, nämlich um Ehren und Magistraturen als (Ehren-)Ämtern und die dem (ehemaligen) Inhaber daraus automatisch zuwachsende dignitas und auctoritas. Auch und gerade hier waren und blieben Unterschiede, Hierarchien und das Gefälle der Macht der Kern dessen, was in der römischen Begriffs- und Vorstellungswelt ›Gerechtigkeit‹ ihrer Natur nach nur sein konnte.
A n m e r ku nge n 1 C. Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, S. 5; dt. = Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 9. 2 O. Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 42010, S. 9. Vgl. zum Begriff »im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch« außerdem A. Dihle, Art. »Gerechtigkeit«, in: Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978) S. 233–360, hier 234 ff. 3 Höffe, Gerechtigkeit (o. Anm. 2), S. 11 f. 4 Höffe, Gerechtigkeit (o. Anm. 2), S. 11. 5 Höffe, Gerechtigkeit (o. Anm. 2), S. 9. 6 Ch. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, S. 339 und 396; ders., Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 43 ff., offensichtlich mit Bezug auf M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von J. Winkelmann, Tübingen 31968, S. 276 f. Vgl. dazu auch K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland, Stuttgart 1999, S. 275 ff. mit weiteren Nachweisen; ders., »Institutionalisierung durch Verortung. Die Entstehung der Öffentlichkeit im frühen Griechenland«, in: ders., J. Rüsen / E. Stein-Hölkeskamp / H.Th. Grütter (Hgg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, S. 81–104, hier 89 f., sowie zur Sache bereits J. Martin, »Zwei Alte Geschichten. Vergleichende historisch-anthropologische Betrachtungen zu Griechenland und Rom«, Saeculum 48 (1997), S. 1–20, hier 6 ff. = ders., Bedingungen menschlichen Handelns in der Antike. Gesammelte Beiträge zur Historischen Anthropologie, Stuttgart 2009, S. 291–310, hier 296 ff. 7 Homer, Ilias 2, 73; 9, 32 f.; 11, 779; 23, 44 u.ö.; Homer, Odyssee 14, 56; 24, 286 u.ö. Vgl. dazu und zum Folgenden immer noch R. Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen, Leipzig 1907; V. Ehrenberg, Die Rechtsidee im frühen Griechentum, Leipzig 1921. 8 Vgl. dazu Dihle, »Gerechtigkeit« (o. Anm. 2), S. 236 ff. mit weiteren Nachweisen (Zitat S. 236). 9 Vgl. allgemein zu Bedeutung und Funktionen der Agora K.-J. Hölkeskamp, »Ptolis and agore. Homer and the archaeology of the city-state«, in: F. Montanari (Hrsg.), Omero tremila anni dopo, Rom 2002, S. 297–342; ders., »Institutionalisierung durch Verortung« (o. Anm. 6) passim. 22 | einleitung: ›Ge re cht igke it ( e n) ‹ in a nt ike n Ge s e ll s ch af t e n
10 Homer, Ilias 18, 490–508, bes. 497 ff., Zitate: 503–508 (Übersetzung nach W. Schadewaldt). Vgl. dazu G. Thür, »Zum dikazein bei Homer«, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanist. Abt. 87 (1970), S. 426–444; M. Gagarin, Early Greek Law, Berkeley etc. 1986, S. 26 ff. 11 Hesiod, Theogonie 135; 901 f. (Übersetzung nach A. von Schirnding).Vgl. dazu Dihle, »Gerechtigkeit« (o. Anm. 2), S. 238 ff., sowie zu Themis bereits K. Latte, RE 5 A 2 (1934), Sp. 1626–1630 = K.L., Kleine Schriften zu Religion, Recht, Literatur und Sprache der Griechen und Römer, hrsg. von O. Gigon u.a., München 1968, S. 140-145. 12 Hesiod, Theogonie 81–92; 429 f. (Übersetzung nach A. von Schirnding). S. dazu den Kommentar von M.L. West, Hesiod. Theogony, Oxford 1966, ad loc. 13 Hesiod, Erga 35 f.; 213 ff.; 225–237. S. dazu den Kommentar von M.L. West, Hesiod. Works & Days, Oxford 1978, ad loc., auch zum Folgenden. Vgl. M. Gagarin, »Dikē in the Works and Days«, in: Classical Philology 68 (1973), S. 81–94. 14 Hesiod, Erga 38 f.; 219 ff.; 238–284 passim. 15 Solon frg. 3 Gentili-Prato = 4 West, Z. 7 und 11 (Übersetzung nach Ch. Mülke, Solons politische Elegien und Iamben [Fr. 1–13; 32–37 West]. Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Leipzig 2002). 16 Solon frg. 3 Gentili-Prato = 4 West, Z. 14ff. (Übersetzung nach Mülke [o. Anm. 15], s. auch den Kommentar ad loc.). 17 Solon frg. 3 Gentili-Prato = 4 West, Z. 32–37 (Übersetzung nach Mülke [o. Anm. 15], s. auch den Kommentar ad loc.). Vgl. H.-J. Gehrke, »Der Nomosbegriff der Polis«, in: O. Behrends / W. Sellert (Hgg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, Göttingen 1995, S. 13–35, hier 19 f. 18 Vgl. dazu das Material bei Dihle, »Gerechtigkeit« (o. Anm. 2), S. 243 ff. S. immer noch M. Ostwald, Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, Oxford 1969, sowie neuerdings etwa Gehrke, »Der Nomosbegriff der Polis« (o. Anm. 17) passim; K.-J. Hölkeskamp, »Nomos, Thesmos und Verwandtes. Vergleichende Überlegungen zur Konzeptualisierung geschriebenen Rechts im klassischen Griechenland«, in: D. Cohen / E. Müller-Luckner (Hgg.), Demokratie, Recht und soziale Kontrolle im klassischen Athen, München 2002, S. 115–146, mit weiteren Nachweisen. 19 Vgl. Höffe, Gerechtigkeit (o. Anm. 2) passim; Dihle, Gerechtigkeit (o. Anm. 2), S. 255 ff.; S. Weber, »Gerechtigkeit«, in: Ch. Horn / J. Müller / J. Söder (Hgg.), Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart e.a. 2009, S. 275–284, mit weiterer Literatur. S. insbesondere A. Dihle, »Der Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie«, in: Behrends u.a. (Hgg.), Nomos und Gesetz (o. Anm. 17), S. 117–134. 20 Vgl. dazu etwa J. Martin, »Formen sozialer Kontrolle im republikanischen Rom«, in: Cohen u.a. (Hgg.), Demokratie (o. Anm. 18), S. 155–172 = ders., Bedingungen menschlichen Handelns (o. Anm. 6), S. 345–362; K.-J. Hölkeskamp, Reconstructing the Roman Republic. An Ancient Political Culture and Modern Research, Princeton 2010, S. 31 f.; 133 f. und passim, mit weiteren Nachweisen. ›Ge re cht igke it ( e n) ‹ i n ant i ke n G e se ll sc h af t e n > | 23
21 S. dazu K.-J. Hölkeskamp, Die Entstehung der Nobilität. Studien zur sozialen und politischen Geschichte der Römischen Republik im 4. Jh. v. Chr., Stuttgart 22011. Vgl. zur politischen Kultur der Republik den Forschungsüberblick von M. Jehne, »Methods, Models, and Historiography«, in: N. Rosenstein / R. Morstein-Marx (Hgg.), A Companion to the Roman Republic, Malden 2006, S. 3–28, und die einschlägigen Beiträge in diesem Band, sowie vor allem E. Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, Göttingen 2003; K.-J. Hölkeskamp, Senatus Populusque Romanus. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, Stuttgart 2004, und zuletzt ders., Reconstructing the Roman Republic (o. Anm. 20) passim, mit umfangreicher Bibliographie. 22 Vgl. auch M. Jehne, »Rednertätigkeit und Statusdissonanzen in der späten römischen Republik«, in: Ch. Neumeister / W. Raeck (Hgg.), Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, Möhnesee 2000, S. 167–189. 23 Vgl. dazu ausführlich K.-J. Hölkeskamp, »Fides – deditio in fidem – dextra data et accepta: Recht, Religion und Ritual« (zuerst 2000), in: ders., Senatus Populusque Romanus (o. Anm. 21), S. 105–135, hier 115 ff. 24 Cicero, De re publica 1, 51; 53 bzw. 43. 25 Cato, Oratorum Romanorum Fragmenta4 8 frg. 252 (= Festus p. 408 Lindsay s.v. struere, Übersetzung nach O. Schönberger): iure, lege, libertate, re publica communiter uti opportet: gloria atque honore, quomodo sibi quisque struxit. 26 Sallust, Epistulae ad Caesarem 1, 1: fabrum esse suae quemque fortunae. 27 Cicero, Philippica 1, 34. 28 Bei Livius 3, 45, 8 werden das tribunicium auxilium und die provocatio explizit duas arces libertatis tuendae genannt, vgl. 3, 55, 4–6; Cicero, De oratore 2, 199; De re publica 3, 44. S. dazu M. Jehne, »Die Geltung der Provocation und die Konstruktion der römischen Republik als Freiheitsgemeinschaft«, in: H. Vorländer / G. Melville (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 55–74.
24 | Karl-Joac him Hö l ke s k a mp
Arbogast Schmitt
GERECHTIGKEIT ALS RECHT ZUR SELBSTVERWIRKLICHUNG BEI PLATON 1 Platons Staat beginnt mit einer Diskussion über die Gerechtigkeit. Die Schwierigkeit der Fragestellung führt Sokrates zu dem Vorschlag, erst einmal in einer vorläufigen Analyse die Bedeutung der Gerechtigkeit für das Zusammenleben in einer politischen Gemeinschaft zu untersuchen. Das Ergebnis dieser Sichtung ist, dass eine solche Gemeinschaft dann am besten organisiert ist, wenn sie jedem Einzelnen wesentliche Grundrechte einräumt. Das ist im Sinn der gemeinsamen Überlegungen dann der Fall, wenn die Menschen im Staat bestimmte ›Bestformen‹ (Aretai, nicht richtig übersetzt mit ›Tugenden‹) entwickeln. Jeder Mensch soll im Staat seine Grundbedürfnisse zur Lebenserhaltung in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der anderen erfüllen können (dem entspricht die Verhaltensweise der Sophrosyne, d.h. der Fähigkeit, bei der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse in einer ›Meinungsgemeinschaft‹ mit den anderen zu handeln), sich für die Anerkennung der Selbstverwirklichungsrechte der einzelnen Bedürfnisse in funktionaler Hinordnung auf die ganze Gemeinschaft einsetzen (dem entspricht die Verhaltensweise der Tapferkeit, d.h. der Fähigkeit, Bedrohungen im Inneren und Äußeren richtig begegnen zu können), sich für das für die ganze Gemeinschaft Gute in freier Verfügung über die Vernunft engagieren (dem entspricht die Verhaltensweise der Wohlberatenheit, Euboulía, Sophía). Alle diese Verhaltensweisen der Menschen zueinander im Leben der Gemeinschaft können, wie Sokrates betont (435e), nur durch Unterschiede der individuellen Menschen selbst in die Gemeinschaft gekommen sein. Platon unterscheidet diesen drei Verhaltensweisen in der Gemeinschaft entsprechend drei Grundtendenzen, sich zu verwirklichen, im Menschen:2 das ›Begehrliche‹ (Epithymetikón), das ›Sich-Ereifernde‹ (Thymoeidés) und einen ›vernünftigen Willen‹ (Logistikón). Der Kürze wegen beschränkt sich das Folgende (1) auf die Beschreibung dieser drei Willensarten, (2) auf die Erklärung ihrer Bedeutung für das, was als Gerechtigkeit verstanden werden kann, und (3) ihrer Bedeutung für die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der politischen Gemeinschaft.
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1 . D a s Epithymetikón (das B e ge hren) Die Sinnlichkeit hat für Platon eine eigene Erkenntnis- und Gefühlskompetenz, ist darin sicher und hat darin auch ihren eigentümlichen Wert. Es ist das Auge, das entscheidet, ob ein Baum grüne oder bunte Blätter hat, und der Geschmacks- und Geruchssinn sagen uns, ob der Wein süß ist und einen wohlduftenden Geruch hat. Auch die mit diesen Wahrnehmungserkenntnissen verbundene Lust oder Unlust zu empfinden, ist Sache der Sinnlichkeit und nicht etwa des Verstandes. Sein Wissen über die Geschmacksqualitäten von Oliven wird ihn nicht zum Kenner machen, der den guten und schlechten Geschmack von Oliven beurteilen kann. Das kann allein die Wahrnehmung. Da nach Platon das Erkenntnisvermögen im Menschen etwas Eines ist, ja seine subjektive Identität ausmacht, muss man genauer formulieren: Es ist der Verstand, der nur vermittels der Wahrnehmung die wahrnehmbaren Qualitäten erfassen kann. Sofern er – zunächst nur akzidentell – an diesen Wahrnehmungen aber beteiligt ist, kann er mit seinen Mitteln zur Verbesserung der Wahrnehmungserfahrungen beitragen, etwa, indem er sein Wissen über die mögliche Komposition von Gerüchen, Farben, Tönen, Formen (Schemata) benutzt, um die innere Struktur seiner Wahrnehmungen aufzuklären und so z.B. auch eine komplexe musikalische Struktur im Hören zu begreifen.3 Diese Verbesserungsmöglichkeit der Wahrnehmung durch den Verstand verweist bereits auf die Grenzen, die Platon tatsächlich der Sinnlichkeit gesetzt sieht. Diese Grenze liegt in der Eigenkompetenz der Wahrnehmung. Welchen Geschmack oder Geruch ein Wein hat, erkennt das Geschmacks- und Geruchsvermögen. Ob der Wein aber der Gesundheit eines Menschen gut tut, in welcher Menge, zu welcher Zeit usw., dies kann die Wahrnehmung nicht beurteilen. Erst dadurch also entstehen Probleme aus der Sinnlichkeit, wenn sie (oder richtiger: Der Mensch, der sich nur ihrer bedient) über das, was für ein gutes Leben des Menschen insgesamt gut ist, von sich aus und allein entscheiden will. Da die Menschen im Staat sich nach den seelischen Verhaltensmöglichkeiten richten, die der einzelne Mensch hat, muss dieses Verhältnis von Kompetenz und Kompetenzüberschreitung auch in der staatlichen Gemeinschaft berücksichtigt werden. Die Aktivitäten des ›Begehrlichen‹ in uns richten sich vor allem auf die sinnlich-materielle Selbsterhaltung. Zu ihnen gehören für Platon daher nicht nur diejenigen produktiven Tätigkeiten, mit denen wir die sinnlichen Bedürfnisse befriedigen, sondern auch das ganze Handels- und das Geldwesen. Wenn ein reich gewordener Kaufmann zugleich eine Bank betreibt, wäre diese Vermischung mehrerer Tätigkeiten zwar vielleicht für den einen oder den anderen Geschäftsbereich manchmal hinderlich, zum Problem würde aber erst eine grundsätzliche Kompetenzüberschreitung, d.h. eine Überschreitung, die den Bereich der sinnlich-materiellen Selbsterhaltung zum Maß für die ganze Gemeinschaft bzw. den ganzen Men26 | Arb ogast S chmit t
schen macht. Ein Beispiel wäre etwa, wenn Handel und Banken, d.h. der ›Markt‹, vorgeben möchten, wie und mit welchen Zielen die Bildung oder die Kunst in einer Gemeinschaft betrieben werden. Solche Vorgaben wären nach Platon eine Einmischung in Gemeinschaftskompetenzen, die das Prädikat ›ungerecht‹ erhalten müssten. Denn sie schränken die mögliche Selbstverwirklichung des Menschen auf seine elementaren Bedürfnisse ein und gefährden eine Entfaltung des eigentlich Menschlichen.
2. D a s Thymoeidés (das Sic h-E re ife r n) In ähnlicher Weise hat auch das Thymoeidés, das Sich-Ereifern für die eigene Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft, seine eigene Erkenntnis, Gefühl- und Willenskompetenz. Es ereifert sich für alles, was der Selbstverwirklichung gut tut, und genießt es, d.h. empfindet dabei Gefühle der Anerkennung und Ehre, und bekämpft alles, was dieser Selbstverwirklichung schadet, und tut dies mit Tapferkeit und den Gefühlen des Zorns, der Empörung, der Zivilcourage, der Scham und dergleichen. Anders als die Wahrnehmung richtet sich das Meinen nicht auf die reine Erscheinungsvielfalt, sondern auf das ›Werk‹, das in ihr verwirklicht wird. Es ist aber anders als das reine Denken auf das in den einzelnen Phänomenen präsente ›Werk‹ bezogen. Die Eigenkompetenz dieses Meinens und der mit ihm verbundenen Gefühle liegt daher in der unmittelbaren Reaktion auf eine Bedrohung bzw. in der unmittelbaren Ergreifung einer Möglichkeit der Selbstentfaltung. Die Gefährdungen des Thymoeidés liegen nicht nur, ja nicht in erster Linie in dem Übereifer, der auf die Erkenntnis einer Entfaltungsmöglichkeit oder einer Bedrohung reagiert und sich wie Hunde zu schnell auf einen vermeintlichen Feind stürzt oder wie Diener, die nicht richtig hinhören und gleich losstürzen, den Auftrag falsch ausführt,4 die eigentliche Gefährdung liegt auch hier in einer Absolutsetzung des eigenen Wollens. Diese Absolutsetzung entsteht, wenn der Wille zur Abwehr dazu führt, dass die Tapferkeit zum höchsten Gut wird, oder wenn das Streben nach Ehre und Anerkennung losgelöst von der dienenden Funktion, die es für die Selbstverwirklichung des ganzen Menschen hat, allein um seiner selbst willen gesucht wird. In der Gemeinschaft würde diese Kompetenzüberschreitung z.B. dazu führen, dass der General bestimmt, welche Straßen gebaut, welche Kommunikationsmittel verbreitet werden, und insbesondere, dass er versucht, die ganze Gemeinschaft auf militärische Ziele hin auszubilden (wie etwa in Sparta zu manchen Zeiten). Dass eine Gemeinschaft, in der mehr oder weniger die Ehre zum höchsten Gut geworden ist, vielfältigen Gefährdungen ausgesetzt ist, zeigt die Geschichte vielfältig. Ge re cht igke it a l s Re cht zur S e l b st ve rwi rk l i c h u n g be i P l at on | 27
Die Art der Gefährdung hängt dabei vor allem von den Gütern ab, deren Besitz mit Ehre belohnt wird: körperliche Überlegenheit, Reichtum, künstlerische Fähigkeiten usw. Platon beobachtet in einer ›Timokratie‹ (in der das Streben nach Ehre regiert) v.a. eine Tendenz, die Ehre im Besitz großen Eigentums zu suchen. Dadurch bekommt eine Timokratie eine Tendenz zur Oligarchie, in der nur noch der Besitz für sich selbst gesucht wird und in der, wie Platon in einem deutlichen Bild beschreibt, das Streben nach mehr Reichtum auf dem Thron sitzt, während der Verstand und das Thymoeidés am Boden darunter sitzen, und der Verstand nur noch überlegen darf, wie aus wenig Geld mehr wird, während der Thymós nichts anderes mehr bewundern und sich für nichts anderes mehr ereifern darf (553c–d). Das Bild bietet eine sehr gute Erklärung für ein scheinbares Paradoxon: dafür nämlich, wie eine Gesellschaft oder ein Einzelner sich ganz rational und dennoch affektgetrieben verhalten kann. Diese Rationalität ist eben keine freie, frei über sich verfügende Rationalität, sondern sie steht ganz im Dienst eines Affekts, in platonischer Deutung: im Dienst einer sinnlich-materiellen Selbsterhaltung oder im Dienst bloßen Strebens nach Ansehen, oder einer Mischung aus beiden. Die Unfreiheit einer solchen dienenden Vernunft, die dazu führt, dass sie gar nicht als Vernunft im eigentlichen Sinn tätig sein kann, verweist darauf, dass die Freiheit ein wesentliches Charakteristikum dessen ist, was Platon das Logistikón nennt. Die Fähigkeit, im Sinn des Logistikón zu handeln, gewinnt man erst, wenn man die Kriterien, die man beim Erkennen anwendet, für sich selbst erkannt hat und sie ihnen gemäß anwendet. Obwohl Platon in den mittleren Büchern der Politeia ein Programm der Ausbildung der Rationalität im Menschen entwirft – es wurde später die Grundlage für das sogenannte Quadrivium innerhalb der artes liberales5 –, liegt das Gewicht in der Politeia auf dem Handlungsaspekt, der sich aus der freien Verfügung über Verstand und Vernunft (Dianoia und Nous) ergibt. Verfolgt man den Weg vom Epithymetikón bis zum Logistikón, kann man feststellen, dass dieser Weg grundsätzlich ein Weg zunehmender Freiheit ist – und keineswegs ein Weg, der zu einer Unterwerfung unter eine totalitäre Herrschaft führt, wie Karl Popper, freilich in Anlehnung an eine zu seiner Zeit verbreitete Platondeutung, behauptet hat.6 Das Epithymetikón kann nur das begehren, was ihm Auge, Ohr, Nase usw. im jeweiligen Augenblick anbieten. Einen keineswegs unerheblichen Ansatz zur Befreiung von diesen Beschränkungen gibt es freilich bereits im Epithymetikón selbst durch die Steigerung des rationalen Moments in ihm. Wer einen guten Wein nicht nur wegen seiner Süße oder seiner berauschenden Wirkung willen trinkt, sondern die Unterscheidungsfähigkeiten der Zunge und Nase in möglichst vollendeter Weise betätigt, wird dafür nicht nur mit dem bei weitem größten Genuss dieses Weins belohnt, er hat auch weniger Probleme mit dem Hinhören auf eine ›höhere‹ Vernunft. Denn er wird aus eigenem Antrieb und frei auf einen unmäßi28 | Arb ogast S chmit t
gen Genuss des Weins verzichten, weil und natürlich auch nur wenn er den höchstmöglichen Genuss aus der Empfindung von Geruch und Geschmack gewinnen will. Denn dieser Genuss setzt eine optimale Unterscheidungsfähigkeit der Sinne voraus, die sowohl durch eine übertriebene Süße als auch durch zu viel betäubenden Alkohol beeinträchtigt würde. Nicht durch eine Unterdrückung der Sinnlichkeit also, sondern durch ihre Optimierung wird es möglich, sich von den Begrenzungen der Sinneskompetenzen zu befreien. In einem grundsätzlicheren Sinn ist das Thymoeidés in der Lage, die Grenzen der Sinnlichkeit zu überwinden. Da es, gestützt auf die Erkenntnisleistung des Meinens (Dóxa), auf das ›Werk‹ von etwas gerichtet ist, das in unterschiedlichen Erscheinungen unterschiedlich verwirklicht sein kann (s.o.), sind auch seine Lustgefühle und sein Wille unabhängiger von den jeweils präsenten Phänomenen. Das Meinungsvermögen befähigt, ein Sehvermögen nicht nur an der Linsenform des Menschen, sondern auch in der Spiegelstruktur der Muschel zu erkennen. Wer sich eine Meinung über die zornige Wut eines Menschen nicht nur aus dem äußeren Gehabe bildet, sondern aus dem ›Werk‹ des Zorns, dem Streben nach rächender Vergeltung eines Unrechts, braucht keine heftig tobende Medea vor sich zu sehen, um ihre zornige Empörung mitzuempfinden, er wird ihren Zorn auch in einer heuchlerisch versöhnlichen Rede bemerken, wenn er (wenigstens) vermutet, dass diese Rede dem ›Werk‹ des Zorns in Medea dient. Tatsächlich entwickelt der Chor der vornehmen Frauen aus Korinth in der Euripideischen Medea intensives Mitleid mit Medea, obwohl sie sich das ganze Stück über sehr rational verhält, weil er bemerkt, dass dieser planvoll rationale Wille seinen Grund im Leiden Medeas an der unerhörten und schamlosen Erniedrigung durch den untreuen Jason hat. Ursache für diese Freiheit vom augenblicklichen äußeren Eindruck ist, dass der Chor anders als der begriffsstutzige Jason nicht vom äußeren Schein der Rede Medeas eingenommen wird, weil er auf das Ziel achtet, das sie mit ihr verfolgt.7
3 . D a s Logistikón (de r ve rnünf t ige W i lle) Die Differenz, wie Medea ihr Unglück selbst empfindet und wie der Chor Mitleid mit ihr fühlt – beides sind Gefühlsweisen des Thymoeidés –, macht auf eine ähnliche Möglichkeit des Übergangs in eine von einer ›höheren‹ Vernunft geprägte Empfindungsmöglichkeit aufmerksam, wie man sie auch im Bereich sinnlicher Lüste beobachten kann. Denn Medeas berühmte und viel zitierte Sätze: »Ich erkenne, was ich Schlimmes (mir anzu-)tun im Begriff bin, aber meine Empörung (Thymós) ist Herr meiner (Rache-)Pläne«8 zeigen, dass sie trotz des Wissens, wie groß ihr Unglück in einem Leben ohne ihre Kinder sein wird, sich von dem ihr Ge re cht igke it a l s Re cht zur S e l b st ve rwi rk l i c h u n g be i P l at on | 29
ganz präsenten Gefühl der Erniedrigung durch Jason nicht befreien kann. Das kann aber der Chor, der aus seiner distanzierteren und dadurch auch weiteren Perspektive heraus erkennt, dass Medea sich mit der Tötung der Kinder um ihr ganzes Glück bringen wird. Grund für die größere Freiheit des Urteils und die damit verbundene größere Richtigkeit des Gefühls des Chors ist, dass er klarer und konkreter als Medea das ganze Unglück des späteren Lebens Medeas vor sich sieht und so das drohende Unglück schon wie etwas Präsentes empfinden kann. Dieser freiere Blick auf das für das Ganze Gute ist für das Logistikón, wie Platon es beschreibt, charakteristisch. Für die praktische Vernünftigkeit des von ihm ausgehenden Willens beruft sich Platon mehrfach im Staat auf den homerischen Odysseus. Als dieser, nach Hause zurückgekehrt und als Bettler verkleidet, am Abend in seinem Palast sitzt, sieht er, wie seine Dienerinnen zu den Freiern schleichen. Das empört ihn so sehr, dass er am liebsten aufspringen und sie töten möchte. Aber er beherrscht sich, weil er daran denkt, dass er nur dann wieder Herr in seinem Haus wird sein können, wenn er die Freier besiegt, vor denen er sich nicht verraten darf (Odyssee 20, 1–55). Dieses Verhalten erweckt für einen heutigen Leser den Eindruck, dass hier der Verstand über den Affekt siegt. Platons Anliegen scheint es zu sein, an diesem Beispiel für die Freiheit des Verstandes von den Leidenschaften zu werben, d.h. ein asketisches, rein der Vernunft folgendes Leben zu proklamieren. Übersehen wird bei dieser Deutung eine kleine, aber bedeutende Zwischenpassage, in der Homer an einem Vergleich den inneren Zustand des Odysseus veranschaulicht.9 Homer vergleicht diesen Zustand nämlich mit der heftigen Begierde eines hungrigen Mannes, der dabei ist, einen Ziegenmagen zu braten. Der Magen tropft schon vor Fett und duftet, so dass der Hungernde es kaum abwarten kann, bis er endlich durchgebraten ist. So habe Odysseus hin und her überlegt, wie er als Einzelner sich gegen so viele wehren könne (ebd. 20, 24–30). Die Art und Weise, wie Odysseus sich von seinem Zorn auf die Dienerinnen befreit, ist nicht eine asketische Unterdrückung seines Affekts, es ist vielmehr die Vorstellung einer viel größeren Lust, die mit dem vernünftigen Gedanken an das für ihn größere Gut verbunden ist, die so präsent in ihm ist, dass die weit geringere Lust an der Bestrafung der Dienerinnen daneben verschwindet und unbedeutend wird. Bereits Homer hat für diese freiere Vernunft, die er Nóos nennt,10 die charakteristische Beschreibung, dass sie in der Lage sei, ›nach vorne und nach hinten‹ (z.B. Ilias 18, 250) zu sehen. Über diese Fähigkeit verfügen nur wenige Figuren in der Ilias, v.a. der alte Ratgeber Nestor auf der Seite der Griechen, auf der Seite der Troianer der Warner und Ratgeber Polydamas. Homer schreibt ihm diese Fähigkeit z.B. zu, weil er anders als sein Feldherr Hektor, der im Siegestaumel die Gefahr nicht erkennen will, die von Achill ausgeht, der sich am Kampf wieder beteiligt, nach vorn und nach hinten blickt: Er erinnert an die unüberwindliche Stärke 30 | Arb ogast S chmit t
Achills und verweist auf die Sicherheit, die ein Rückzug hinter die starken Mauern der Stadt wieder bieten wird (Ilias 18, 243–313). Bei Homer gibt es noch kein Wissen um die Kriterien des Denkens selbst und um die daraus resultierende Fähigkeit, selbständig und methodisch über das eigene Denken zu verfügen. Von der Konsequenz für die Handlungspraxis aber, dass die Kenntnis dessen, was sich als etwas Mögliches unterscheiden und in vielem Verschiedenen und auf verschiedene Weise verwirklichen lässt, zu einem freieren und selbstbestimmteren Umgang mit einzelnen Anforderungen in der ›Realität‹ befähigt, hat Homer offenbar eine Kenntnis, wie man an der Darstellung des Handelns des Odysseus vielfach beobachten kann. Es ist sogar Athene selbst, die Homer Odysseus gegenüber sagen lässt, sie unterstütze ihn eben deshalb, weil er anders als die meisten anderen mit klarem Kopf seinen wahren Vorteil auch in schwierigen Situationen im Auge behalte. Jeder andere, der nach langen Jahren endlich nach Hause komme, würde, so lobt sie ihn, sofort zu Frau und Kindern stürzen (sc. und sich wie Agamemnon in größte Lebensgefahr begeben). Er aber versuche erst alle möglichen Gefahren und alle Möglichkeiten seiner Rettung zu erproben und lasse sich nicht von vorschnellem Begehren verführen (Odyssee 13, 296–299; 330–340). Ähnlich wie im Epithymetikón die Steigerung der ihm immanenten Rationalität den Übergang in eine Verhaltensweise fördert, die mehr auf das, was die einheitliche Verwirklichung des Menschen ausmacht, gerichtet ist, so fördert im Thymoeidés die Ausrichtung auf das Werk von etwas, je konzentrierter sie ist und je weniger sie sich vom jeweiligen phänomenalen Umfeld irritieren lässt, den Übergang zum Logistikón. Wer den Zorn nicht nur an der lauten Stimme, dem roten Kopf, den stampfenden Füßen u.Ä. festzustellen gewohnt ist, sondern wer in allen Erscheinungsformen des Zorns auf sein ›Werk‹ achtet, darauf, das jemand über ein Unrecht empört ist und diese Unlust beseitigen möchte, der sammelt gewissermaßen aus vielen verschiedenen Fällen immer neue Möglichkeiten, wie sich Zorn verwirklichen kann. So wird er frei oder freier von der jeweiligen Erscheinungsweise und fähig, an ganz unterschiedliche Ausdrucksformen des Zorns vorauszudenken. Durch eine solche Fähigkeit, seinen Nóos frei zu betätigen, vermeidet Odysseus viel tragisches Unglück und erreicht es am Ende, wieder ganz das Glück mit seiner Frau in seinem Besitztum genießen zu können.
4. Is t di e Politeia die Konst rukt ion ei ner Utopi e? Odysseus und seine ihm kongeniale Gattin Penelope sind Ausnahmefiguren. Die Wahrscheinlichkeit, dass es je solche Menschen gegeben hat oder wieder geben wird, ist gering. Dennoch ist die Darstellung dieser Figuren durch Homer keine bloße Utopie. Homer zeigt an ihnen vielmehr, wie man sein müsste,11 d.h. wie man Ge re cht igke it a l s Re cht zur S e l b st ve rwi rk l i c h u n g be i P l at on | 31
sich im wirklichen Verlauf seines Lebens verhalten müsste, wenn man ein der praktischen Vernunft folgendes, den wahren Vorteil nicht aus den Augen verlierendes Leben führen wollte. Dass dieses Leben nicht als Utopie verstanden werden soll, bezeugt das viele Leid und Unglück, das beide, Odysseus und Penelope, durch viele Widrigkeiten und Hindernisse aus der sie umgebenden ›Wirklichkeit‹ ertragen müssen, bevor sie das erreichen können, was sie beide für die glücklichste Form ihres Lebens halten – und von dem sie sich durch alle Irrungen und Wirrungen auch nicht haben abbringen lassen. Die Konstruktion der Platonischen Politeia hat eine analoge Intention. Platon zeigt keinen Idealstaat, er führt keine Menschen vor, die so leben, wie es sich für ein Leben im besten Staat gehört. Er entwickelt vielmehr die Bedingungen, die man entwickeln müsste, wenn man ein Leben im größtmöglichen Zustand des Glücks führen möchte. Und er geht in vielfacher Reflexion die vielfachen Irrungen und Wirrungen durch, die die Entwicklung dieser Bedingungen gefährden. Die Politeia endet sogar mit einer ausführlichen und sehr erfahrungsnahen Reflexion auf die Bedingungen, die selbst einen wirklich erreichten Bestzustand wieder in Gefahr, ja schrittweise in immer größere Gefahr bis hin zu seiner völligen Verkehrung bringen.12
5 . Ve rs uc h e ine r krit isc he n Würdig ung des pl a t o nisc he n G e re c ht igke it sbe g ri ffs Auch wenn man nicht alle Bedingungen eines gerechten Lebens so, wie sie Platon für gegeben und gefordert hält, akzeptiert: Dass das grundsätzliche Ziel, das er verfolgt, ein legitimes und sinnvolles Anliegen ist, dürfte kaum in Frage zu stellen sein. Denn dieses Ziel hat keine je historisch bedingten, festgelegten Normen, nach denen man sich im Leben richten müsse, sondern basiert auf dem Wunsch jedes Einzelnen, ein möglichst glückliches Leben zu führen. Das Glück, dessen Form Platon in der Politeia diskutiert, sucht nicht Bedingungen für die Empfindung unplanbarer Glücksgefühle,13 es geht Platon auch nicht um einen biederen Lustkalkül, der in maßvoller Bescheidung nur nicht zu viel Glück erstreben möchte, um in einem einfachen Leben jeder Gefährdung zu entgehen. Das Glück, über das in der Politeia nachgedacht wird, ist das größtmögliche und dauerhafteste Glück für jeden Einzelnen.14 Es ist das, was jeder von sich aus will. Der Anspruch, dass dieser Wille erfüllt wird, ist daher der Grundanspruch der Gerechtigkeit. Es ist gerecht, dass jedem das ihm zustehende Glück auch – soweit möglich – zuteil wird. Auch der Weg, den Platon überprüft, hält einer kritischen Prüfung in vieler Hinsicht stand. Denn er geht nicht von einem dogmatischen oder spekulativ erschlossenen Menschenbild aus, sondern von einer Reflexion auf das, was ein 32 | Arb ogast S chmit t
Mensch kann, genauer: was er in der ihm möglichen Vollendung am besten kann. Die Vorstellung, dass gerade die Verwirklichung dieses ›Könnens‹ die höchste Lust bereite, beruht zwar auf einer anderen Glücksvorstellung als der, die heute die größte Verbreitung hat. Aber sie kann durch eigene Erfahrung überprüft und bestätigt werden. Sie ruht auf der Überzeugung, dass die Lust der Tätigkeit folgt, ja unmittelbar mit ihr gegeben ist. Aristoteles formuliert sehr eindrücklich, sie stelle sich (sc. mit der – gelingenden – Tätigkeit) ein, wie die Schönheit in der Blüte der Jugend. Da aber zwar jede Tätigkeit mit Lust oder Unlust verbunden ist und auch die mit Lust verbundenen Tätigkeiten oft nicht auf ein dauerhaftes und vollendetes Glück hinführen, braucht man zum wirklichen Glück eine Ordnung der Lüste.15 Die Suche nach dieser Ordnung, die allein einen Zustand der Gerechtigkeit herstellen kann, gibt die Ordnung der Argumentation in der Dialogführung der Politeia vor. »Jedes Handeln und Produzieren (d.h. alles Tätigsein) wird um eines Guten willen getan.« Mit diesem gut platonischen Axiom beginnt Aristoteles seine Ethik (1094a1 f.). Es meint nicht, dass alles Handeln und Machen auf etwas objektiv Gutes zielt. Es behauptet lediglich, dass jeder das, was er tut, tut, weil er meint, es sei etwas Gutes für ihn. Auch wenn jemand mit Absicht Böses tut oder sich selbst Böses antut, zieht er es vor, dieses Böse und nicht etwas Anderes zu tun, d.h., er hält es für besser, z.B. sich selbst zu verletzen, andere zu schädigen, als dies nicht zu tun. Damit aus diesem oft nur scheinbar Guten etwas wirklich Gutes für den Handelnden wird, ist daher eine Bildung des Menschen nötig: Er muss erkennen, was wirklich gut für ihn ist und ihn dauerhaft mit Glück erfüllt, er muss die Lust an diesem (und keinem anderen, etwa nur kurzfristigen) Guten auch empfinden, und er muss diejenigen Tätigkeiten, die ihm diese Lust verschaffen, auch wollen. Das ist der Grund, weshalb Platon in der Politeia das, was den Menschen zur Tätigkeit hinführt, d.h. den Willen oder das Streben, etwas zu tun, zum Grundthema macht. Ausgehend von der Beobachtung, dass wir nicht nur mit den Sinnen Verschiedenes, ja einander Widerstreitendes wollen (z.B. kann man Süßes essen, Bitteres nicht essen wollen), sondern dass es auch Strebungen in uns gibt, die dem von Sinnen Begehrten grundsätzlich entgegentreten und uns dazu führen, dass wir jede Art sinnlicher Begierden zurückdrängen, fragt Platon nach dem – innerpsychischen – Grund dieser widerstreitenden (nicht: widersprüchlichen) Strebungen oder Arten des Wollens. Viele Erfahrungen bezeugen, dass es nicht immer gleich die Vernunft ist, die uns zum Verzicht auf sinnliche Lüste und Begierden bewegt. Wer sich über ein Unrecht empört, sich wegen eines Fehlers schämt, Anerkennung durch Leistung sucht, Bedrohungen fürchtet, kümmert sich in diesen Zuständen nicht um sinnliche Lust oder Unlust. Er tut dies aber oft einer augenblicklichen Herausforderung gegenüber und in gänzlicher Ausrichtung auf sie. Dies verweist Ge re cht igke it a l s Re cht zur S e l b st ve rwi rk l i c h u n g be i P l at on | 33
darauf, dass die Erkenntnisgrundlage dieser Art von Strebungen nicht Wahrnehmungen sind, sondern das Vermögen, sich eine Meinung über sinnliche Phänomene zu bilden. Denn das Erkenntnisvermögen des Meinens hat die Besonderheit, dass es sich nicht an die sinnliche Erscheinungsvielfalt zerstreut, sondern deren funktionale Einheit an dem, was sie kann und leistet, an ihrem ›Werk‹ (Ergon) erfasst. Denjenigen Willen, mit dem sich der Mensch für sein ›Werk‹ engagiert, nennt Platon das Thymoeidés, das, womit sich der Mensch ereifert. Von ihm unterscheidet er diejenige Willensform, durch die der Mensch nicht nur in je bestimmten Augenblicken und gegenüber einzelnen Herausforderungen sich mit emotionalem Engagement zu verwirklichen sucht, sondern durch die er nach dem strebt, was für ein erfülltes Tätigsein in einem ganzen Leben gut ist. Ein solcher Wille setzt die Fähigkeit voraus, das, was der Mensch kann, nicht nur in dieser oder jeder Anwendung, sondern rein für sich selbst zu erkennen. Erst ein so gebildeter Wille verdient nach Platon die Bezeichnung ›vernünftig‹. Die anderen Willensformen bedienen sich mehr oder weniger frei dieser Vernunft und sind daher mehr durch die Fähigkeit, auf sie zu hören, als durch eine eigenständige (d.h. aus reflexivem Wissen über sich selbst verfügende) Vernunft charakterisiert. In diesem Sinn sind sie Áloga. Sie sind nicht irrational, sondern nicht selbständig rational. Als Áloga sind sie gemeinsam dem Logistikón entgegengesetzt, deshalb teilen Platon wie Aristoteles die Seele manchmal nur in zwei ›Teile‹, manchmal in drei. Das bedeutet keinen sachlichen Unterschied, sondern dass die Binnendifferenzierung der Áloga manchmal nicht thematisiert wird (sc. wenn es für die Fragestellung nicht relevant ist). Auch dass Platon drei Willensarten in der menschlichen Psyche unterscheidet, hat also nachprüfbare und plausible Gründe. Berücksichtigt man allein die Erkenntnisfähigkeiten, die Platon unterscheidet, müsste man weit mehr ›Teile‹ ansetzen. Denn Platon kennt drei (oder sogar vier) verschiedene Formen der Wahrnehmung (direkte Wahrnehmungen, synthetische Wahrnehmungen, gemeinsame Wahrnehmungen), zwei Formen der Phantasia, abgegrenzt davon ein Meinungsvermögen (mit einer Binnenunterscheidung) als erste Grundform des Denkens im strengen Sinn, dann das rational diskursive Denken (Diánoia) und, als höchste Form des Denkens, die unmittelbare Einsichtsfähigkeit des Intellekts (Nous). Das sind, wie schon Proklos aufgelistet hat,16 acht Unterschiede. Dass Platon in der Politeia nur drei Arten seelischen Verhaltens unterscheidet, hat seinen Grund, wie ich zu zeigen versucht habe, darin, dass er dort die psychischen Voraussetzungen des Handelns klären will: Alle Wahrnehmungsformen (und zum Teil auch die Vorstellungen) erkennen die Vielfalt der Sinneserscheinungen, empfinden daran Lust oder Unlust und begehren das als lustvoll Erfahrene und meiden das Unlustvolle. Im Unterschied dazu richtet sich das Meinungsvermögen auf das, was etwas kann und leistet. Es erkennt 34 | Arb ogast S chmit t
also das ›Werk‹ oder – in der späteren mittelalterlichen Begrifflichkeit – den Akt von etwas, empfindet die Lust an der Verwirklichung dieses Aktes bzw. die Unlust über seine Behinderung und strebt nach Anerkennung und Überlegenheit (auch: physischer Sieg), um die Lust dieser Verwirklichung genießen bzw. die Unlust an ihrer Behinderung abwehren zu können. Die rationalen Erkenntnisformen (Diánoia, Nous) haben gemeinsam, dass sie sich auf das im Einzelnen verwirklichte Mögliche für sich selbst richten, das in ihm präsente Gute genießen und es verwirklichen wollen. Eine diesem vernünftigen Willen sehr nahe kommende Form des Wollens ist die Fähigkeit, über die je einzelne Handlungssituation hinaus eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie man das für sich selbst Beste erreichen kann, erkennen und mit Lust verfolgen zu können, wie es Platon an Odysseus bewundert hat. Alle drei Willens- oder Strebeformen haben bei Platon ein gutes Recht und sollen ›das Ihre tun‹ dürfen. Dennoch gibt es eine Ordnung unter ihnen. Wir brauchen die sinnlichen Lüste und das sinnliche Wollen, um für unsere Selbsterhaltung tätig zu werden und dabei auch um dieser Strebeziele willen die Arbeit der Beschaffung dessen, was unsere sinnlichen Bedürfnisse erfüllt, auf uns zu nehmen. Aber es ist keine Frage, dass die Zerstreuung an die immer nur in jeweiliger Gegenwart präsente sinnliche Vielfalt dazu verführt, wegen der Augenblickslust oder -unlust das ›Werk‹ des ganzen Menschen aus den Augen zu verlieren. Dafür, dass dies nicht geschieht, setzt sich der Thymós mit seiner Fähigkeit ein, die funktionale Einheit einer sinnlichen ›Mannigfaltigkeit‹ an ihrem Akt zu erkennen, dessen emotionales Engagement für das, was das Werk eines Menschen fördert oder bedroht, oft überlebenswichtig ist, auf jeden Fall aber nötig, damit ein Mensch wirklich ›das Seine tun‹ kann. Aber auch der Thymós ist an das jeweils Fördernde oder Bedrohende bei jeweils einzelnen Handlungen gebunden – für sie muss es sich ja auch ›ereifern‹. Er braucht daher noch den Rat einer praktischen Vernunft, die das, was für einen bestimmten einzelnen Menschen oder für ihn als Mensch überhaupt gut und glücksbringend ist, in der Fülle der Möglichkeiten erkennen und so genießen kann, dass die nur mögliche Lust so präsent ist, dass sie zur Entwicklung eines vernünftigen Willens führt. Ohne Frage enthält diese Ordnung bei Platon eine Wertung: Der glücklichste Mensch ist der, der sein Menschsein in der bestmöglichen Form lebt, d.h., der die Freuden des Erkennens um ihrer selbst willen am meisten liebt und alle anderen Lüste und Unlüste auf die Ermöglichung eines solchen Lebens ausrichtet. Die sehr oft gezogene Folgerung allerdings, Platon vertrete ein intellektualistisches Elitedenken und behalte das Glück allein den Philosophen vor, liegt deutlich neben dem von Platon Gemeinten. Er betont in abschließender Wertung selbst, dass jeder ›Teil‹ des ganzen Menschen dann, wenn alle ›Teile‹ das Ihre tun und Ge re cht igke it a l s Re cht zur S e l b st ve rwi rk l i c h u n g be i P l at on | 35
sich nicht verabsolutieren und über die anderen erheben, seine eigene Lust ›ernte‹, und zwar die beste und wahrste, die möglich ist (586e–587a).17 Dieses Urteil kann als argumentativ gut begründet gelten. Dass beides, die ausführliche Begründung und die abschließende ausdrückliche Wertung, von den Interpreten oft übergangen wird, hat die wichtigste Ursache in der Übertragung eines historisch wie sachlich unangemessenen Rationalitätsbegriffs auf Platon. Der vermeintliche Gegensatz von Verstand und Gefühl, der dem Verstand nur dann Freiheit zugesteht, wenn er ganz frei von jeder Art von Gefühl ist, existiert für Platon nicht. Dies zu bedenken, ist vor allem dann wichtig, wenn man die innerpsychische Ordnung auf den ganzen Staat überträgt. Es wäre erstaunlich widersprüchlich, wenn Platon, wie man kritisiert hat, zugleich von den Menschen in den verschiedenen Bereichen des Staats verlangen würde, sie sollten in einer Homodoxía, in einer Meinungsgemeinschaft miteinander leben (die durch die ›Tugend‹ der Sophrosyne möglich wird), aber zugleich allen Menschen, die nicht Philosophen sind, das Denkvermögen absprechen möchte. Oft folgt diese Kritik nicht einmal der naheliegenden, ›natürlichen‹ Auslegung des Platonischen Textes. Wenn man einem Patienten rät, er solle auf den Arzt hören, behauptet man damit nicht, er könne gar nicht selbständig denken. Gemeint ist vielmehr, dass er mit seinem eigenen Verstand das medizinisch Richtige nicht beurteilen kann. Es zeugt aber zugleich von einem eigenständigen Urteilsvermögen, wenn jemand selbst erkennen kann, wann er dem Urteil eines anderen folgen soll. In analoger Weise soll ein Mensch, der etwas mit Hilfe der Wahrnehmung erkennt, in der Lage sein, die Leistung, die er durch diese aktive Erkenntnispotenz erreichen kann, zu beurteilen und dort, wo sie ihre Grenzen hat, sich auf andere Erkenntnisformen stützen. Das gilt auch für das Leben in der Gemeinschaft. Der Landwirt, der Kaufmann, der Arzt können wissen, wofür sie in eigener Kompetenz zuständig sind. Auch der Anspruch, wegen dieser je besonderen Kompetenzen auch das beurteilen und leisten zu können, was für das Zusammenleben der Menschen in der ganzen Gemeinschaft gut und nötig ist, kann durch selbständiges Wissen über das eigene Können als unberechtigt erkannt werden. Die vermeintliche Unterwerfung unter den Herrschaftsanspruch der Vernunft ist in Wahrheit das Gegenteil. Nur durch Erkenntnis der Grenzen, innerhalb derer man das eigene Können frei entfalten kann, ist Selbsterkenntnis möglich und nur durch sie kann der einzelne Mensch und die ganze Gemeinschaft verhindern, unter vielfältige Abhängigkeiten zu geraten. Wer materielles Gewinnstreben über alles stellt, muss notwendigerweise viele andere Lüste in sich unterdrücken. In der Gemeinschaft würde die Herrschaft eines absolut gesetzten Epithymetikón notwendig zur Unterwerfung aller anderen Betätigungsmöglichkeiten des Menschen führen und alles, was nicht dem materiellen Erfolg dient, ausschließen bzw. nur insoweit zulassen, wie es diesem Ziel dient. Das hätte zur Folge, dass alles, was der reinen Er36 | Arb ogast S chmit t
kenntnisgewinnung oder was ›nur‹ mit Ehre verbunden ist, einen Platz unter dem Thron der Besitzgierde, wie Platon sagt, angewiesen bekommt und sich nur noch für die Mehrung des Besitzes engagieren darf. Ausgeschlossen bzw. untergeordnet würden dann nicht nur Künste und Wissenschaften, sondern alle Betätigungen, die des Handwerkers, des Kaufmanns, des Sportlers würden diesen Zielen unterworfen und um ihr Recht gebracht, ›das Ihre zu tun‹. Probleme mit der Gerechtigkeit entstehen nach Platon also immer dann, wenn sich einzelne ›Teile‹ der Seele verabsolutieren und sich an die Stelle des Ganzen setzen wollen. In einer funktionalen Hinordnung auf das, was für den ganzen Menschen gut ist, dagegen hat jeder Teil mit seinen Kompetenzen sein volles Recht und genießt auch die ihm mögliche höchste Lust. Das ist der Grund dafür, dass gerade das Streben nach der höchstmöglichen Selbstentfaltung und der damit einhergehenden größten Lust eines jeden ›Teils‹ der Seele zugleich der beste Dienst am Ganzen ist. Im Blick auf die politische Gemeinschaft heißt das, dass jeder dann, wenn er sich selbst am besten zu verwirklichen sucht und darin auch genießt, durch eben diesen ›Egoismus‹ zugleich der beste Bürger, die beste Stütze für den Staat im Ganzen ist. Egoismus und Altruismus fallen hier zusammen, allerdings nicht, weil sich der Egoismus der Einzelnen in seiner besten Form als Altruismus erweist. Leitend ist der Egoismus, bei dem man zwischen falschem, engstirnigen, fehlgeleiteten und wirklich auf das eigene Beste bedachten Egoismus unterscheiden muss. Diese beste Form des Egoismus führt per se dazu, das der, der ihn verwirklicht, auch für das Ganze am besten tätig ist. Die Aufgabe für den Staat, der Gerechtigkeit unter seinen Bürgern gewährleisten möchte, ist daher nicht die Festlegung von Mustern gerechten Verhaltens, das durch Institutionen, Gesetze, Vorschriften durchgesetzt wird. Die Aufgabe ist vielmehr, für eine umfassende Bildung aller Mitglieder zu sorgen. Die Inhalte dieser Bildung, wie sie Platon in der Politeia selbst entwirft, entsprechen im Grundsätzlichen dem Konzept, das seit der Spätantike unter dem Titel ›Die sieben Freien Künste‹ zu realisieren versucht wurde. Es geht um eine zugleich gymnastisch-musische und rationale Ausbildung des Menschen, die alle seine möglichen ›Lebensformen‹ umfasst. Sie orientiert sich also nicht an jeweiligen historischen ›Bedürfnissen‹, wohl aber muss sie auf die jeweiligen historischen Bedingungen Rücksicht nehmen, um ihnen gemäß diejenigen Bedürfnisse zu entwickeln, die die Bürger lehrt, ›das wirklich Angenehme schmecken zu lernen‹.
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A n m e r ku nge n 1 Der folgende Beitrag gibt nur einen Grundentwurf, eine genauere Ausarbeitung mit ausführlicherer Dokumentation der Quellen und Diskussion der Forschung hoffe ich später vorlegen zu können. S. auch bereits Verf., Der Einzelne und die Gemeinschaft in der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon. Zur Ableitung der Staatstheorie aus der Psychologie, Stuttgart 2000. 2 Dass Platon die Seele nicht in Gefühl, Wille (›Mut‹) und Verstand einteilt, wie es aus der seit dem 18. Jahrhundert für uns geläufigen Einteilung erscheint, sondern in drei Formen des Willens, s. Verf., Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart / Weimar 22008, S. 307–341. Das philologisch entscheidende Argument ist, dass Platon von allen drei ›Seelenteilen‹ sagt, dass sie Lust und Unlust fühlen, etwas wollen und erstreben und denken und erkennen. 3 Augustinus und Boethius haben in ihrer Auslegung der Schönheitserfahrung immer wieder darauf hingewiesen, dass die Sinne zwar leicht eingängige Proportionen erfassen können, aber schon bei komplexeren oder auch nur extrem kurzen oder langen Formen versagen. Um eine komplizierte Proportion eines Gebäudes, die komplexe Struktur einer musikalischen Komposition ›hören‹ zu können, bedürfe man bereits der Mitwirkung des Verstandes. S. Verf., »Zahl und Schönheit in Augustins De musica VI«, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaften N.F. 16 (1990), S. 221–237. 4 In Anlehnung an Platons ›philosophischen‹ Hund (Politeia 376 a 2-8; s. a. 469 e 1; Nomoi 967c8) sagt Aristoteles vom Thymós: »Es scheint der Thymos zwar irgendwie auf den Logos zu hören, aber nicht genau. Wie bei übereiligen Dienern, die, noch bevor sie alles gehört haben, was man ihnen sagt, losrennen und dann den Auftrag fehlerhaft ausführen, oder wie bei den Hunden: noch bevor sie sehen, ob einer ein Freund ist, bellen sie, wenn einer nur ein Geräusch macht« (Nikomachische Ethik 1149 a 25-29). 5 Vgl. G. Radke, Theorie der Zahl im Platonismus, Tübingen / Basel 2003, S. 178 ff. und passim. 6 Vgl. K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I: Der Zauber Platons, Bern 1957 (engl. 1945). 7 S. dazu Verf., »Leidenschaft in der Senecanischen und Euripideischen Medea«, in: U. Albini u.a. (Hgg.), Storia, poesia e pensiero nel mondo antico, Napoli 1994, S. 573–599. 8 Euripides, Medea 1078–1080. 9 Zur Art der Anschaulichkeit bei Homer und ihrer Deutung durch Aristoteles s. Verf., »Anschauung und Anschaulichkeit in der Erkenntnis- und Literaturtheorie des Aristoteles«, in: G. Radke-Uhlmann / A. Schmitt (Hgg.), Anschaulichkeit in Kunst und Literatur, Berlin / Boston 2011, S. 91–152, zu Homer v.a. 131–147. 10 Zur Bedeutung des Nóos bei Homer s. Verf., Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer, Stuttgart 1990, S. 182–222. 11 Genau dies hat Aristoteles – wieder Platon folgend – als Aufgabe der Dichtung überhaupt formuliert: Sie soll nicht einfach die geschichtliche Wirklichkeit wiedergeben, sondern darstellen, 38 | Arb ogast S chmit t
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wie etwas geschehen müsste. S. Poetik 9, 1451 a 36-b 12; s. dazu Verf., Aristoteles, Poetik, Berlin 2011, S. 372 f. und 392–398. S. dazu Verf., Die Moderne und Platon (o. Anm. 2), S. 514–519. Zu Recht betont N. Blößner, »Platons missverstandene Ethik. Das neue Bild von Platons ›Staat‹ in der Forschung seit 1988«, Gymnasium 114 (2007), S. 251–269, hier 255–258, dass »Eudaimonie kein Gefühl« im Sinn eines bloßen subjektiven Empfindens und einer Stimmung ist. Auch die Folgerung, Glück sei für Platon »ein Sachverhalt: der Sachverhalt, dass ein Leben sinnvoll gelebt wird und gelingt« (S. 256), trifft eine wesentliche Intention Platons. Das gelingende Leben allerdings ist für Platon wie für Aristoteles ausdrücklich mit Lust, ja mit der höchsten Lust verbunden. Vielleicht genügt es deshalb zur Abgrenzung modernen, vor allem Pflicht- und Zweckethiken folgenden Auffassungen (wie Blössner zu Recht betont) ein anderes Verständnis von Lust entgegenzusetzen. S. das Folgende. Zu diesem Glücksbegriff s. Verf., »Figuren des Glücks in der griechischen Literatur. Glück als Ausdruck vollendeter Selbstverwirklichung im Handeln«, in: D. Thomae / Chr. Henning / O. Mitscherlich-Schönherr (Hgg.), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart / Weimar 2011, S. 135–140. S. Aristoteles, Nikomachische Ethik, X, 4–7, v.a. 1174 b 5–33. S. Proklos, In Platonis rem publicam commentarii, hrsg. v. W. Kroll, Leipzig 1899, Bd. 1, 206– 235; v.a. 233 ff. 586 e 3–587 a 1: »Wenn dem (›Teil‹), mit dem wir das Erkennen lieben, die ganze Seele folgt und sich nicht gegen ihn auflehnt, dann tut jeder Teil den anderen gegenüber das Seine und ist gerecht, ganz besonders aber genießt jeder die ihm gemäße Lust, und zwar die beste und, soweit das möglich ist, die wahrhafteste.«
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Gregor Vogt-Spira
„EHRENHAFT LEBEN – NIEMANDEN VERLETZEN – JEDEM DAS SEINE GEWÄHREN“. DER GERECHTIGKEITSDISKURS IN ROM ZWISCHEN TRADITION, ETHIK UND RECHT I Am Ausgang der Antike erscheint Gerechtigkeit in eine Formel gefasst, die in ihrer Prägnanz wie ein unverrückbares Monument wirkt: »Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren.« Daran schließen sich zur näheren Bestimmung drei Gebote: »Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren«.1 So steht es in dem von Gerechtigkeit und Recht handelnden Eingangskapitel der großen Rechtssammlung, die Kaiser Justinian im sechsten Jahrhundert anfertigen ließ und die die Summa römischen Rechtsdenkens zieht. Die Bestimmungen erscheinen als ein Kondensat römischer Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit, und sie sind dabei zu einer Allgemeinheit geronnen, die sie für spätere Epochen in hohem Maße anschlussfähig macht. Indes sind sie aus einem langen und komplexen Prozess hervorgegangen, in dem sehr unterschiedliche Traditionen und sehr unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit aufeinandertreffen: eines Transformationsprozesses, der zugleich engstens mit den spezifischen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen Roms zusammenhängt. Besonders bemerkenswert ist es, wenn hier Recht und Gerechtigkeit verknüpft werden – nicht zuletzt von daher rührt die unabsehbare Wirkungsgeschichte jener Bestimmungen. Die Verbindung wird sogar explizit begrifflich verankert: Recht (ius) sei nach der Gerechtigkeit (iustitia) benannt; mit Grund könne man die Juristen deshalb »Priester der Gerechtigkeit« nennen. Solche Engführung von Recht und Gerechtigkeit, die nicht nur dem Recht im allgemeinen Sinne gilt, sondern auch seiner institutionalisierten Form in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, lässt sich in der Tat als eines der Ergebnisse der römischen Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit ansehen. Von daher wird die Rückbindung von Rechtsverfahren an Gerechtigkeitskonzeptionen dann ein Grundbestand europäischer Tradition. Wie wenig selbstverständlich dies ist, macht der Blick auf ein konkurrierendes Konzept von Gerechtigkeit klar. Im Jahre 27 v. Chr. weihen der Senat und das römische Volk dem Kaiser Augustus wegen »seiner Tapferkeit, Milde, Gerechtigkeit und seinem ehrfurchtsvollen Verhalten gegenüber Göttern und Vaterland«, wie 40 | Gregor Vogt- S p ira
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die Aufschrift vermerkt, einen goldenen Schild.2 Dass Gerechtigkeit hier in einem Kanon römischer Leitkonzepte erscheint, ist auffällig. Denn im Gegensatz zu den traditionellen Werten »Tapferkeit« (virtus) und »ehrfurchtsvolles Verhalten« (pietas) ist der Aufstieg von iustitia zum Wertbegriff ein junges Phänomen. Wenn sich Augustus Gerechtigkeit als Herrschertugend zuweisen lässt, steht dahinter eine klare Absicht: Sie wird als Instrument betrachtet, die Legitimität kaiserlicher Macht zu sichern. Das lässt sich als Programm auch künftighin verfolgen: Am Ende seiner Regierungszeit weiht Augustus eine Statue der Iustitia Augusta. Der Göttin werden ferner Tempel errichtet; unter seinem Nachfolger hält sie Einzug in die Münzprägung: All dies bleibt durch die Kaiserzeit hindurch gängige Praxis.3 Damit soll die Botschaft transportiert werden, dass das Handeln des Kaisers in Übereinstimmung mit Recht und Gesetz stehe. Doch wenn der Kaiser auf diese Weise zum herausragenden Repräsentanten von Gerechtigkeit wird, liegt darin ein Keim, aus dem eine schleichende Umkehrung des Verhältnisses erwächst. Denn in letzter Konsequenz erfährt nicht das kaiserliche Handeln eine Legitimation aus der abstrakten Idee von Gerechtigkeit; Gerechtigkeit tritt vielmehr, indem sie zur Eigenschaft des Herrschers erklärt wird, in seinem Handeln unmittelbar zutage, so dass dieses also als Manifestationsform von Gerechtigkeit erscheint. Das kaiserliche Handeln tritt damit an die Stelle einer abstrakten Begründung von Gerechtigkeit. Eine solche Auffassung, die sich auch in späterer Herrschaftspraxis vielfach findet, ist in Rom parallel zur Entwicklung und Verankerung eines abstrakten Gerechtigkeitskonzepts zu beobachten. Eine derartige Parallelität wird ermöglicht durch eine doppelte Orientierung von Gerechtigkeit, die für die gesamte Antike charakteristisch ist. Denn ›gerecht‹ meint nicht einfach nur die Qualität einer abstrakten Ordnung; es ist vielmehr zuallererst ein Merkmal, das sich im Bereich des Handelns manifestiert, daher auf einen Träger bezogen und als Tugend verstanden wird. Unter den vier Kardinaltugenden gilt Gerechtigkeit in der Regel sogar als die wichtigste, die alle anderen umfasse. Dieser Aspekt eines personalen Verhaltens, das in der Seele des Individuums verankert ist, bildet den Hintergrund des gesamten römischen Gerechtigkeitsdiskurses. Ein Blick auf die eingangs angeführte Gerechtigkeitsbestimmung aus den Digesten zeigt, dass jedes ihrer Glieder zugleich als Verhaltensweise eines Individuums zu verstehen ist.
II Indes, mit der Polarität von Recht und Moral ist das Spannungsfeld, in dem sich die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit in Rom vollzieht, noch keineswegs ausgemessen. Die Geschichte des Worts iustitia, das von vielen modernen Sprachen aufgenommen worden und dadurch in den Kernbestand des europäischen GerechD e r G e re c ht i g ke i t sdi sku rs i n Rom | 41
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tigkeitsdiskurses eingegangen ist, zeigt ein überraschendes Bild: Bis in die frühe Kaiserzeit, also bis in das erste Jahrhundert n. Chr. hinein ist es wenig gebräuchlich; von juristischen Texten wird es sogar ganz vermieden. Erst in der späten Republik in der Zeit Ciceros dringt es überhaupt in den Sprachgebrauch ein: Man suchte einen abstrakten Begriff, der dem griechischen Ausdruck für Gerechtigkeit (dikaiosyne) entsprach, und schuf das Substantiv iustitia in Analogie zur griechischen Begriffsbildung. Ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr. schließlich, vor allem mit den christlichen Schriftstellern, explodieren dann die Belege förmlich.4 Wollte man daraus allerdings schließen, dass Gerechtigkeit kein römischer Grundbegriff ist, wäre das voreilig. Denn es zeigt nur, dass das Konzept in Rom anfänglich keine abstrakte Fassung gefunden hat. Das ist für die lateinische Sprache keineswegs ungewöhnlich: Ihre Neigung zur Bildung begrifflicher Abstracta ist zunächst gering entwickelt; für Konzepte findet sie andere Vermittlungswege. Doch ist aus der Sprachgeschichte bereits zu ersehen, dass der Prozess der Auseinandersetzung mit ›Gerechtigkeit‹ in Rom auch einen Begriffswandel umfasst. Einen Fingerzeig auf das Spannungsfeld unterschiedlicher Traditionen und Orientierungen liefert noch der Eingangstitel der Digesten, von dem wir unseren Ausgang genommen hatten. Im Anschluss an die systematische Bestimmung, Recht (ius) sei nach Gerechtigkeit (iustitia) benannt, wird dieses Recht alsdann näher als »die Kunst des Guten und Gerechten« definiert. Dabei fällt auf, welcher Begriff für ›gerecht‹ verwandt wird: Die Formulierung lautet ars boni et aequi. Hier tritt also mit aequum ein zu iustitia konkurrierender Begriff auf: eine Spanne, die auch im Folgenden beibehalten wird. Denn von den Juristen heißt es im selben Atemzug, sie dienten Gerechtigkeit (iustitia) und lehrten das Wissen vom Guten und Gerechten (boni et aequi notitiam). Die Begriffe sind ohne erkennbaren Unterschied gebraucht, wie es dann der mittelalterlichen Rechtspraxis entspricht und wie es auch die kanonische deutsche Übersetzung in Ermangelung einer Alternative wiedergibt. Indes liegen den beiden Wortfeldern, die die Semantik von ›Gerechtigkeit‹ in der lateinischen Sprache kennt, zwei ursprünglich unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte zugrunde. Ius zunächst, das als Kern in iustitia steckt, ist ein römischer Schlüsselbegriff, zu dem es im Übrigen kein griechisches Äquivalent gibt. Aus ihm ist das Adjektiv iustum (›gerecht‹) gebildet, das ein dem ius gemäßes Verhalten bzw. einen entsprechend ›richtigen‹ Zustand bezeichnet; erst aus diesem Adjektiv ist dann später der abstrakte Begriff iustitia abgeleitet worden. Sprachgeschichtlich verhält es sich also gerade umgekehrt dazu, wie am Eingang der Digesten behauptet: Nicht das Recht ist nach der Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit nach dem Recht benannt worden. Für die systematische Frage nach dem spezifischen Gerechtigkeitskonzept bleibt festzuhalten, dass iustum ursprünglich auf die bloße Übereinstimmung mit einer Norm zielt, ohne auch noch den Grund für diese Übereinstimmung zu um42 | Gregor Vogt- S p ira
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fassen. Es enthält mithin von sich aus keinen übergeordneten Maßstab des ›Richtigen‹.5 Anders verhält es sich bei der zweiten Begriffsgruppe für Gerechtigkeit: aequitas und aequum, wozu insbesondere noch die Verbindung bonum et aequum tritt, die uns auch in den Digesten begegnet war. Die Termini sind von früh an sowohl in der Literatur wie der Rechtssprache gut belegt und Bestandteil eigener römischer Gerechtigkeitsvorstellungen. Hierin ist speziell das Merkmal der Gleichheit gefasst, das von jeher als ein konstitutives Element von Gerechtigkeit gilt. Die Grundbedeutung lautet: ›in sich gleich, waagrecht‹; es geht also bildlich um die Vorstellung, dass Gegebenes oder Getanes und das im Gegenzug Gegebene, sei es eine Leistung oder eine Sanktion, ›in Waage sind‹. Aequitas wird gelegentlich geradezu als Prinzip erklärt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, was bei der Wohltätigkeit Dank, bei ungerechter Handlungsweise Bestrafung heiße.6 In der Praxis umfasst der Begriff allerdings eine sehr weite und nicht eindeutig fixierbare Bedeutungsspanne. Kennzeichnend ist jedoch, dass er von der Grundvorstellung her einen Maßstab des ›Richtigen‹ in sich selbst enthält, weshalb er auch auf die Bewertung der Gesetze und Normen selbst bezogen werden kann. Das entspricht der Bedeutungsrichtung ›Billigkeit‹, die allerdings nicht mit dem modernen Billigkeitsbegriff ineins zu setzen ist. Mit der terminologischen Dichotomie von iustum und aequum ist indes das Spannungsfeld, aus dem heraus eine solche Syntheseleistung wie die iustitia-Konzeption in der Justinianschen Rechtssammlung entsteht, noch nicht hinreichend bestimmt. Zu fragen bleibt daher, woraus die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit in Rom ihre eigentliche Dynamik erhält. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass der Gerechtigkeitsdiskurs in der Zeit der Republik in einem doppelten Horizont steht. Zum einen sucht Rom soziale Beziehungen früh rechtlich zu fassen: Bereits in der Anfangsphase der Republik in den Jahren um 450 v. Chr. entsteht ein Gesetzeswerk, das Zwölf-Tafel-Gesetz, das fast ein Jahrtausend lang in Kraft bleibt. Zum andern gründet die res publica in einem Wertekonsens, dessen Handlungsmuster und Leitbilder weit über den rechtlich geregelten Bereich hinausreichen. Von entscheidender Bedeutung sind darin zwei Wertbegriffe: fides und pietas. Beide sind mit konkreten Verhaltensweisen verbunden: Pietas bedeutet, seinen Verpflichtungen gegenüber den Göttern und im sozialen Bereich nachzukommen; sie kann nachgerade als »Gerechtigkeit gegenüber den Göttern« bezeichnet werden, die religiöse Fundierung jedenfalls geht darin nie gänzlich verloren. Fides auf der anderen Seite, die Einhaltung des Treuegebots, wird näherhin als »Beständigkeit und Wahrhaftigkeit von Worten und Verträgen« bestimmt und später geradezu zum »Fundament von Gerechtigkeit« erklärt.7 Die römischen Ausgangsbedingungen für einen Gerechtigkeitsdiskurs sind damit völlig verschieden von jenen Griechenlands, wie ein vergleichender Blick zeigt. Dass sich dort eine solch grundlegende konzeptionelle Auseinandersetzung D e r G e re c ht i g ke i t sdi sku rs i n Rom | 43
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entwickeln konnte, ist pointiert auf drei Faktoren zurückgeführt worden:8 Gerechtigkeit sei kein lang anerkannter Wert gewesen, sondern habe sich erst gegen die aristokratische Norm einer agonal ausgeübten Ehre durchsetzen müssen. Ferner habe sie nicht auf einen Juristenstand aufbauen können. Daher aber habe es schließlich in der Lebenswelt auch keinerlei Hindernisse gegeben, ein philosophisches Weltverhältnis auf Recht und Gerechtigkeit auszudehnen; in der Tat fließen in den zentralen griechischen Beiträgen – den Gerechtigkeitstheorien von Platon und Aristoteles sowie deren Aufnahme in veränderten Begründungszusammenhängen durch die Stoa – die Sphären von Recht und Ethik ineinander. In allen drei Hinsichten besteht in Rom ein entschiedener Gegensatz. Denn wie gezeigt, hat die res publica schon früh ein Rechtssystem ausgebildet, das auch eine Gerechtigkeitsvorstellung umfasst. Dabei entsteht ein Juristenstand. Das hat zur Folge, dass die Konzeptionalisierung von Gerechtigkeit letzthin immer pragmatisch rückgebunden bleibt: Gerechtigkeit wird nicht nur als philosophisches Problem auf der Ebene der Theoriebildung verhandelt, die Reflexion findet vielmehr im Austausch mit der Praxis statt und kann direkt rechtswirksam werden. Juristische und ethische Sphäre sind aufeinander bezogen, ohne doch ineinander aufzugehen. Dieser Austausch gewinnt nun ein erhebliches dynamisches Potential aus einem weiteren Faktor: der intensiven Rezeption griechischer Kultur in all ihren Manifestationsformen, wie sie Rom vom zweiten Jahrhundert v. Chr. an kennzeichnet. Sie begleitet Roms Aufstieg zur beherrschenden Macht; Zeitgenossen haben in dieser Bereitschaft und Fähigkeit zu produktiver Auseinandersetzung mit Fremdem sogar eine der Ursachen für den Erfolg gesehen. Wenn nun ausgebildete philosophische Lehren, die klar umrissene ethisch-politische Vorstellungen von Gerechtigkeit enthalten, auf eine voll entwickelte Rechtskultur stoßen, entstehen notwendig Spannungen, zieht dies doch eine Problematisierung hergebrachter und bewährter Anschauungen nach sich. Ein festgefügtes Verständnis von Gerechtigkeit gerät damit in Bewegung.
III Einen schlaglichtartigen Einblick in die verschiedenen Schichten, aus denen die Dynamisierung des Gerechtigkeitsdiskurses in Rom erwächst, bietet eine allgemein verbreitete Sentenz, in der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit pointiert zusammengestellt werden. Geläufig geworden ist sie in ihrer durch Cicero überlieferten prägnanten Form: summum ius summa iniuria – »Höchstes Recht ist höchste Ungerechtigkeit«.9 Diese Sentenz hat eine außerordentliche Rezeption erfahren; Kant glaubte in ihr den ›Sinnspruch der Billigkeit‹ schlechthin zu erkennen.10 Es 44 | Gregor Vogt- S p ira
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geht offensichtlich um eine Diskrepanz von Recht und Gerechtigkeit: Etwas, das in rechtlicher Hinsicht unanfechtbar ist, stellt sich als ungerecht dar, was also auf eine Gerechtigkeitsvorstellung verweist, die formalem Recht vorgeordnet ist. Indes ist die Deutung des Spruchs komplex – es steckt darin ein vieldiskutiertes Stück römischer Rechtsgeschichte.11 Erst bei Cicero nämlich ist die oxymoral zugespitzte Form belegt, und erst hier wird die Brücke zum Thema ›Billigkeit‹ geschlagen. Die älteste überlieferte Fassung hingegen hat die Form: ius summum saepe summast malitia – »Höchstes Recht ist häufig der Gipfel an Schlechtigkeit«. In ihrem ursprünglichen Sinn richtet sich die Sentenz wohl gegen den Missbrauch von Rechtsansprüchen; denn ius heißt nicht nur abstrakt ›Recht‹, sondern bezeichnet auch konkret den Rechtsanspruch.12 Doch ist es eine besondere List der Geschichte, dass jenes erste Zeugnis des summum ius-Satzes ausgerechnet aus einer Komödie stammt: dem Heautontimoroumenos des Terenz aus dem Jahr 163 v. Chr. Das terenzische Zitat des Spruchs, der dabei schon als allgemein bekannt vorausgesetzt wird, ist nachgerade ein intellektuelles Meisterstück. Wir müssen dazu einen kurzen Blick auf den Kontext werfen. Es geht um eine Intrige, mit der der Sklave Syrus der Komödienfigur des alten Hausvaters, der hier Chremes heißt, Geld aus der Tasche zieht. Syrus krönt diese Intrige mit unserem Spruch: »Zu Recht, Chremes, sagt man: ›Oft ist höchstes Recht der Gipfel an Schlechtigkeit.‹« Das ist in geradezu maliziöser Weise doppeldeutig. Den Hintergrund bildet eine angebliche finanzielle Verpflichtung des Chremes, die sich aus der glücklichen Wiedererkennung einer eigenen Tochter – einem typischen Komödienmotiv – ergeben haben soll. Der Sklave legt seinem Herrn die Gründe dar, warum er nach der Rechtslage nicht zahlen müsse, nutzt den Spruch jedoch für das Argument, dass die Inanspruchnahme dieser Rechtsposition moralisch verwerflich, malitia, sei – was schließlich verfängt. Der in die Zusammenhänge eingeweihte Zuschauer bezieht die Sentenz des Sklaven indes gleichzeitig auf die Intrige, die summa malitia, der Gipfel an boshaft-arglistiger Schelmerei ist und dies aber als summum ius ausgibt. Es handelt sich also um eine geradezu satirisch umgedrehte Interpretation jenes Sinnspruchs! Inwieweit dieser brillante Witz tatsächlich ein ganz konkreter Reflex auf eine zeitgenössische Debatte um Recht und Gerechtigkeit ist, sei an dieser Stelle nicht weiterverfolgt. Auf jeden Fall zeugt das Vexierspiel in der Art und Weise, wie es ein eindeutiges Verständnis unterläuft, von eben jener Dynamisierung hergebrachter Anschauungen, die das zweite Jahrhundert v. Chr. in Rom prägt und die auch die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit umfasst. Sie findet sich symbolisch verdichtet in einem zum Paradigma gewordenen Ereignis: dem Auftritt einer griechischen Philosophengesandtschaft im Jahr 155 v. Chr. in Rom. Die Gesandtschaft war gekommen, um über eine hohe Geldstrafe zu verhandeln, die Rom Athen auferlegt hatte. In den Verhandlungspausen boten D e r G e re c ht i g ke i t sdi sku rs i n Rom | 45
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die einzelnen Mitglieder öffentliche Vorträge, darunter auch der Philosoph Karneades, der die Richtung der Skepsis vertrat und an einem Tag mit einer Rede für die Gerechtigkeit und am anderen gegen sie brilliert haben soll. Die weitere Philosophiegeschichte macht daraus die performativ vorgeführte Antithese der beiden Grundpositionen von Naturrecht und Utilitarismus: Die erste Rede habe mit Bezug auf ein transzendentes Vernunftprinzip die Position vertreten, dass ein Staat ohne Gerechtigkeit nicht Bestand haben könne; die Gegenthese hingegen, dass Recht nicht auf Natur, sondern auf Konvention beruhe und insgesamt der Nutzen leitend sei, habe zu der provozierenden Folgerung geführt, dass ein Staat ohne Unrecht nicht bestehen könne. Der Auftritt markiert den Beginn der großräumigen Rezeption griechischer Philosophie in Rom. Es ist bezeichnend, dass die römische histoire intellectuelle die Herausforderung der Philosophie ausgerechnet am Thema ›Gerechtigkeit‹ kenntlich macht: Denn nach der Überlieferung hat Cato dafür Sorge getragen, dass die Gesandtschaft nach solcher Provokation rasch wieder abreiste. Inwieweit die Geschichte zutrifft, ist nicht ganz sicher; vielleicht hat sie in dieser Weise auch erst Cicero für die Behandlung des Themas ›Gerechtigkeit‹ in seiner Schrift über den Staat ausgeformt.13 Gleichwohl, sie ist in die Selbstdeutung Roms eingegangen und fasst die zentralen Spannungsfelder.
IV Wenn Rom sich somit auf dem Hintergrund eines eigenen, Begriffe wie Praxis umfassenden Gerechtigkeitsdiskurses vom zweiten Jahrhundert v. Chr. an großräumig mit den Gerechtigkeitstheorien der einzelnen griechischen Philosophenschulen auseinanderzusetzen beginnt, so ist es wenig erstaunlich, dass sich dies in einer Diskussion um Gerechtigkeit niederschlägt. Paradigmatisch lässt sich die Auseinandersetzung an einer Streitfrage verfolgen, die die römische Rechtswissenschaft selbst im zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr. diskutiert: die Frage, ob dem archaischen Zwölf-Tafel-Gesetz sowie der daran anschließenden herkömmlichen Rechtspraxis bereits ein Gerechtigkeitsbegriff zugrunde liege oder nicht. Dies gewinnt eine besondere Brisanz daraus, dass die alten Gesetze zwar in neue Begründungszusammenhänge gestellt, doch niemals aufgehoben werden. Dabei lassen sich zwei Schulen unterscheiden: eine ältere, die sog. veteres aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr., und eine jüngere, etwa zu Cicero zeitgenössische Schule.14 Die ältere Schule versteht das Zwölf-Tafel-Gesetz nachgerade als einen umfassenden systematischen Entwurf, wie etwa eine emphatische Äußerung in Ciceros Dialog De oratore deutlich macht: Alle Interessen und Bereiche des Staates, bekundet dort ein Vertreter dieser Schule, seien vollständig in den Zwölf Tafeln 46 | Gregor Vogt- S p ira
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beschrieben; der an Philosophie Interessierte finde die Quellen für alle Fragen eben dort in dem Gesetz und dem Bürgerlichen Recht. Der Sprecher versteigt sich schließlich zu der kühnen Hierarchie: »In meinen Augen übertrifft das eine Büchlein der Zwölf Tafeln – sieht man die Quellen und Ursprünge der Gesetze an – wahrhaftig alle philosophischen Bibliotheken, sowohl durch das Gewicht seines Ansehens wie durch den Reichtum seines Nutzens.«15 Der dürre Text der Zwölf Tafeln selbst gibt allerdings solcher Überhöhung kaum eine ausreichende Grundlage. Der Ansatz wird verständlich erst auf dem Hintergrund der groß angelegten systematischen Kommentierung, die im zweiten vorchristlichen Jahrhundert einsetzt und die eben jene universale Qualität in den archaischen Gesetzen entdeckt. Dies aber setzt wiederum voraus, dass der Interpret bereits von philosophischen Prämissen ausgeht, und so ist der Streit der Schulen nicht zuletzt ein Streit um das Verhältnis von gerechtigkeitstheoretischen Vorannahmen und positivem Recht. Die jüngere Schule vertritt hierzu die klare Position, die Gesetze und die Philosophen gingen grundverschieden mit Übertretungen um: »die Gesetze, soweit sie sie mit Händen, die Philosophen, soweit sie sie mit Vernunft und Erkenntnis fassen können«.16 Der Gegensatz wird dabei an einem auch sonst öfters herangezogenen Musterfall näher diskutiert. Es geht um den arglistigen Verkauf eines Hauses auf dem Mons Caelius, das im Sichtfeld der vom Kapitol aus betriebenen Vogelschau lag. Der Verkäufer hatte verschwiegen, dass die Auguren bereits für einen bestimmten Teil, durch den sie sich bei der Vogelschau beeinträchtigt sahen, Abriss angeordnet hatten. Der Richter hatte wegen verletzter Aufklärungspflicht auf Verstoß gegen Treu und Glauben erkannt, indem er diesem Grundsatz (ex fide bona) eine weite Geltung zumaß. Cicero hält dagegen, Fälle derartigen Verschweigens, so moralisch verwerflich sie auch seien, könne das Bürgerliche Recht nicht umfassen, und scheidet scharf einen gesetzlichen von einem philosophischen Umgang mit Verschlagenheit und Hinterlist: Die Vernunft fordere, ohne Vorspiegelung und Trug auszukommen; doch Hinterlist sei durch Gesetz und Bürgerliches Recht nicht unter Strafe gestellt und verstoße nur gegen Naturrecht: »Indes ein festes und ausgeformtes Bild des wahren Rechts und der wirklichen Gerechtigkeit haben wir nicht, wir arbeiten mit Schattenbildern.«17 Hier stehen sich zwei Schulen gegenüber, die auch philosophisch eine unterschiedliche Basis haben. In der Tat, die veteres stützen sich auf die Rechtstheorie der Stoa, nach der Worte von Natur aus mehrdeutig und daher auslegungsbedürftig sind, weshalb man sich nicht auf den Wortlaut, sondern auf die gemeinte Sache richten müsse. Dieser Ansatz ermöglicht, hinter dem Zwölf-Tafel-Gesetz eine umfassende Rechts- und Gerechtigkeitstheorie zu rekonstruieren. Der Gesetzestext ist dabei weniger Rechtsquelle als vielmehr Ausgangspunkt, um darzulegen, was aus
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Vernunftgründen gilt: Es handelt sich somit in moderner Begrifflichkeit um »eine von einem normativen Modell geleitete Rechtsfindung«.18 Gleichwohl bleibt nicht verborgen, dass es kulturell unterschiedliche Manifestationsformen von Gerechtigkeit gibt. Daher wird ein Rettungsversuch unternommen, um solche Pluralität zu integrieren. Dies führt auf eine aufschlussreiche Überlegung zum Phänomen von ›Gerechtigkeiten‹: Denn es wird die Unterscheidung eingeführt zwischen einer zeitlosen Gerechtigkeit, die kraft Natur für alle Menschen und Völker gelte, und ›Zusätzen‹, in denen sich die historische Mannigfaltigkeit der Einzelstaaten mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Gesetzen spiegele.19 Eine solche Zweigleisigkeit von Naturrecht und positivem Recht prägt dann auch die Gesetzesauslegung der veteres. Hervorzuheben bleibt bei alledem der ausdrückliche Bezug von Recht und Gesetz auf Gerechtigkeit, der in stoischer Manier noch etymologisch untermauert wird: Das Recht sei im Griechischen danach benannt, einem jeden das Seine zuzuteilen – das griechische Wort für Gesetz (nomos) leitet sich von nemein (zuteilen) ab. Im Lateinischen hingegen sei es nach dem Auswählen benannt – lex wird mit legere (wählen) in Zusammenhang gesetzt. Beides aber, so werden schließlich die Ergebnisse der etymologischen Betrachtung zusammengefasst, Gerechtigkeit und Entscheidungsfindung, gehöre genuin zum Recht.20 Die Schule der veteres hat auf dieser Grundlage eine umfassende Kommentierung des Zwölf-Tafel-Gesetzes begonnen; es hat einige Wahrscheinlichkeit, dass der eingangs zitierte Gedanke summum ius summa iniuria in diesem Kontext sein konzeptionelles Fundament gefunden hat. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist besonders wichtig die Kategorie der bona fides, von ›Treu und Glauben‹, die als eine nicht schriftlich durch Gesetz fixierte, sondern naturrechtlich gültige Norm in die Gesetzesinterpretation und Rechtspraxis eingeführt worden ist; wir hatten eine Probe am Beispiel des arglistigen Hausverkaufs gesehen. Dieser Rechtsgedanke ist einen bemerkenswerten Weg gegangen: Zunächst handelt es sich um einen spezifisch römischen Grundwert. Vermittels des stoischen Axioms eines Naturrechts wird er sodann zu einer universal gültigen Idee erhoben. Die normative Geltung dieser Idee wird heute kulturübergreifend eingefordert, obwohl es viele Kulturen gibt, denen sie durchaus fremd ist. Ganz anders ist der Ansatz der jüngeren Schule. Sie ist die Reaktion auf solcherart Rechtsfortbildung durch Interpretationen, die nicht vom Wortlaut der Gesetze gedeckt sind, was methodisch ja auch alles andere als ein unbedenkliches Verfahren ist. Orientierungspunkt liefert die Sprachtheorie der skeptischen Akademie, nach der man sich an bewährte Wahrscheinlichkeit halten und daher dem üblichen Wortverständnis folgen müsse. Deshalb komme es auf eine möglichst genaue Erfassung des Wortsinns an; zu einer Basisdisziplin für das Juristenhandwerk wird von daher die Grammatik.21 Eine solche auf den Wortlaut gerichtete Interpretation, 48 | Gregor Vogt- S p ira
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die sich an der Strenge des altrömischen pontifikalen Rechts orientiert, kommt im Grundsatz ohne eine inhaltliche Bestimmung von Gerechtigkeit aus. So ist es konsequent, wenn sie von der Rechtswissenschaft separiert und in die Philosophie verwiesen wird. Tatsächlich allerdings bleiben die beiden Diskurse durchaus nicht getrennt; vielmehr leistet die weitere Entwicklung in Rom zwischen den Polen von Formalismus und materialer Sinninterpretation bzw. zwischen positivem Recht und Naturrecht Bestimmungen von Gerechtigkeit, die eigene Traditionen und aus der griechischen philosophischen Diskussion stammende Positionen integrieren und deren Nachwirkung eben auf dieser Syntheseleistung beruht. Ein Beispiel wenigstens für die subtilen Transformationen, die hier stattfinden, sei angeführt. Wir hatten oben gesehen, wie weitgespannt das Bedeutungsfeld der zweiten lateinischen Begriffsgruppe für Gerechtigkeit, aequum und aequitas, ist. Die Verhältnisse werden noch komplexer dadurch, dass sich der altrömische Gebrauch ab dem zweiten Jahrhundert v. Chr. mit seinem griechischen Analogon (epieikes) überlagert, ohne gleichwohl darin aufzugehen. Wie fließend hier die Übergänge sind, lässt sich etwa an einer Gerechtigkeitsdefinition sehen, die aus dem frühesten lateinischen Lehrbuch der Rhetorik stammt und einer griechischen Quelle folgt. Hier wird Gerechtigkeit (iustitia) bestimmt als Gerechtigkeit (aequitas), »die einem jeden sein Recht zukommen läßt […]« (iustitia est aequitas ius unicuique rei tribuens […]). Charakteristischerweise dient also aequitas als allgemeinerer Begriff zur näheren inhaltlichen Bestimmung von iustitia. Doch dabei ist ein grundlegender Unterschied zur griechischen Begriffsverwendung festzustellen: Wird Gerechtigkeit dort als eine dauerhafte Eigenschaft oder Tugend verstanden, erscheint sie hier als Tätigkeit, die im konkreten Fall einer Rechtszuweisung wirksam wird.22 Sie ist damit aus dem ethischen Bereich in die Rechtspraxis geführt
V So ist also in Rom ein sehr ausgeprägter Gerechtigkeitsdiskurs zu beobachten; gerade Ciceros Schriften spiegeln ihn in hohem Maße. Vieles hat schließlich eine verdichtete Form in der eingangs zitierten Gerechtigkeitsbestimmung aus dem Corpus iuris gefunden: Sie kann als exemplarisches Zeugnis des römischen Konzeptionalisierungsprozesses von ›Gerechtigkeiten‹ gelten. Nachfolgend wollen wir uns näher ihren einzelnen Elementen und deren Bezügen zuwenden. Zunächst sei die Bestimmung nochmals zusammenhängend wiedergegeben:23 Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alium non laedere, suum cuique tribuere. D e r G e re c ht i g ke i t sdi sku rs i n Rom | 49
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Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren. Die Gebote des Rechts sind folgende: Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren.
Quelle bildet ein Lehrbuch aus dem frühen dritten Jahrhundert n. Chr., der Liber regularum des römischen Juristen Ulpian; von hier aus erfolgte dann die Aufnahme in den Einleitungsteil der Rechtssammlung, die Kaiser Justinian am Ausgang der Antike veranstaltet hat. Einzelne Elemente daraus, etwa die zweifach vorkommende Junktur »Jedem das Seine gewähren«, waren uns schon mehrfach begegnet; gerade der Gedanke des suum cuique bildet im Übrigen einen Leitfaden des antiken Gerechtigkeitsdiskurses. Ulpians Bestimmung ist allerdings reichhaltiger und durchaus komplex angelegt, indem sie zunächst eine Definition von Gerechtigkeit bietet, die sie in Hinblick auf die Gewährung von Recht bestimmt, um daran dann eine inhaltliche Präzisierung jenes Rechts durch drei Regeln zu schließen. Auf diese Weise haben eine große Zahl von Elementen aus der vorangehenden Diskussion um Gerechtigkeit, wenn auch teilweise in versteckter Form, Eingang gefunden. Zunächst ist noch einmal auf das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit zurückzukommen. Die zu Eingang zitierte Feststellung, Recht sei nach Gerechtigkeit benannt, stammt aus einer anderen Schrift Ulpians, einem juristischen Anfängerlehrbuch: Indem dieser Satz Jahrhunderte später zum Einleitungssatz der Digesten wurde, avancierte er, wie man prägnant formuliert hat, »zum Portal der europäischen Rechtswissenschaft«.24 Er stellt, wie wir gesehen hatten, die sprachliche Entwicklung auf den Kopf, denn iustitia ist eine späte Bildung innerhalb des Wortfeldes, das sich aus dem Kernbegriff ius entwickelt hat. Eine Glosse fasst das Verhältnis in ein plastisches Bild: Recht stamme von Gerechtigkeit wie von seiner Mutter, also sei Gerechtigkeit früher als Recht.25 Wenn also das Axiom einer funktionalen durch die Behauptung einer genetischen Abhängigkeit des ius von iustitia verbildlicht wird, so ist Gerechtigkeit zu einem Prinzip geworden, das positivem Recht vorgeordnet ist: Die ursprünglich aus der Stoa stammende Position der veteres hat sich damit durchgesetzt – mit einer großen Langzeitwirkung. Denn in jener Glosse ist noch unlängst »eine Wesenserkenntnis über das Recht« wiedererkannt worden, »die Allgemeingut der Rechtswissenschaft bis zum vorigen [sc. 19.] Jahrhundert« gewesen und erst mit der Entwicklung des Rechtspositivismus verdrängt worden sei.26 In der Tat hat Ulpian den stoischen Gerechtigkeitsbegriff zugrunde gelegt, nicht ohne allerdings charakteristische Änderungen vorzunehmen. Dies kann ein Blick auf eine verwandte, in Ciceros Jugendschrift De inventione erhaltene Bestimmung verdeutlichen, in der Gerechtigkeit als »geistige Eigenschaft, die den gemeinsamen Nutzen unversehrt erhält und jedem seine Würde zuteilt«, gekennzeichnet wird.27 Es fällt ins Auge, dass Ulpian als zusätzliches Element den Wil50 | Gregor Vogt- S p ira
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lensbegriff einführt; in der Tat ist die zentrale Stellung, die voluntas beigemessen wird, ein charakteristisches Element römischen Rechtsdenkens.28 Indes wird der Wille hier noch durch die beiden Epitheta ›unwandelbar‹ und ›dauerhaft‹ näher charakterisiert. Es handelt sich also nicht um eine einzelne Willensentscheidung, sondern um eine dauerhafte Willensdisposition, eben eine ›geistige Haltung‹, wie es die auf die Stoa zurückgehende Version fasst, mithin eine Tugend. Indes hat die Ersetzung von ›geistiger Haltung‹ (habitus animi) durch ›Wille‹ (voluntas) noch eine weitere Dimension. ›Geistige Haltung‹ kann nur ein Individuum haben; es führt in den individualethischen Bereich. Gerechtigkeit jedoch lässt sich nicht auf das Individuum beschränken; gerade die antike Philosophie hat entschieden immer zugleich das Gemeinwesen im Blick. Es ist Kennzeichen des antiken Gerechtigkeitsdiskurses, dass er sowohl die personale wie die institutionelle Seite umfasst; Platon hatte in seiner Schrift vom Staat beide Seiten geradezu als Analogie konzipiert. In der Bestimmung aus Ciceros De inventione schlägt sich dies darin nieder, dass der Bezug der Gerechtigkeit auf den gemeinsamen Nutzen ausdrücklich hervorgehoben wird. Indes erscheint die etwas additiv wirkende Formulierung letzthin doch eher vom individuellen Handlungsträger her gedacht. In der Ulpianschen Fassung umschließt der Wille, jedem sein Recht zu gewähren, ebenso den individuellen wie den institutionellen Träger. Der Wille zur Gerechtigkeit ist als Tugend des Einzelnen ebenso wie des Rechtssystems insgesamt zu verstehen. Schließlich ein letzter Punkt. Man hat sich bisweilen gewundert, dass der voluntas ausdrücklich noch die Bestimmung constans et perpetua beigefügt ist, und wollte darin ein spezifisch römisches Kolorit sehen. Das ist nicht falsch, doch handelt es sich um weit mehr als um ein Kolorit: Darin zeigt sich eine für römisches Denken zentrale Anforderung an Gerechtigkeit gefasst. Wir müssen dazu auf eine weitere Bestimmung aus Ciceros Schrift De officiis rekurrieren, in der Gerechtigkeit als eine der vier Kardinaltugenden neben Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung in folgender Weise eingeführt wird: Gerechtigkeit bestehe »im Beschützen der Gemeinschaft der Menschen, darin, einem jeden das Seine zuzuteilen, und in Verläßlichkeit bei Verträgen«.29 Den letzten Teil dieser dreigliedrigen Definition – ›Verlässlichkeit bei Verträgen‹ – hat Cicero gegenüber seiner griechischen Quelle selbst hinzugefügt. Der lateinische Terminus lautet fides: Damit wird also jener zentrale römische Wert in die Definition hineingenommen, der als fundamentum iustitiae gilt.30 Auf diesem Hintergrund wird nunmehr klar, was die Hinzufügung von constans et perpetua zu voluntas leistet: Die nachdrückliche Betonung der Beständigkeit zielt darauf, eben Verlässlichkeit und damit Rechtssicherheit zu garantieren. Der römische Grundwert der fides hat somit in die Ulpiansche Definition der Gerechtigkeit in indirekter Form Eingang gefunden.
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VI Mit drei Normen wird anschließend eine inhaltliche Bestimmung von Gerechtigkeit vorgenommen. Indem sie als Verhaltensregeln gegeben sind, sollen sie eine praktische Verwirklichung von Gerechtigkeit gewährleisten. Die Erste ist individualethischer Natur; die Zweite und die Dritte gelten ebenso für das Handeln von Individuen wie für jenes von Institutionen. Diese Normen lassen einigen Interpretationsspielraum; dies hat nicht zuletzt ihre außerordentlich produktive Rezeption im Spannungsfeld von historischen und systematischen Ansätzen ermöglicht. Mit der ersten Regel – »ehrenhaft leben« (honeste vivere) – wird von vornherein klargestellt, dass Gerechtigkeit sich nicht darin erschöpft, eine angemessene Tausch- oder Ausgleichsbeziehung zu gewährleisten, und damit nicht in isolierten Akten oder abstrakten Verhältnissen besteht, sondern zugleich in einer seelischen Disposition der Akteure gründet – dies ist eben jenes Element, das als ›geistige Haltung‹ (habitus animi) bereits in den vorangehenden Definitionen begegnet war. Die Forderung, dass Gerechtigkeit im Individuum selbst als Tugend verankert sein muss, ist durchaus bemerkenswert; sie fügt sich in den Kontext des spezifischen Ansatzes der gesamten hellenistischen Philosophie, den Einzelnen und seine seelische Verfasstheit ins Zentrum zu rücken und zum Dreh- und Angelpunkt aller Reflexion zu machen. Charakteristisch ist dabei der Horizont, der mit der Anforderung eröffnet wird, man solle ehrenhaft leben. Denn honestum, das ›sittlich Schöne und Gute‹, ist ein Leitbegriff im ethischen Diskurs: Es ist nicht zuletzt Maßstab der einzelnen Kardinaltugenden – unter ihnen der Gerechtigkeit –, aus deren Bereichen im Gegenzug alles, was ehrenhaft ist, entspringt.31 ›Ehrenhaft leben‹ ist insofern durchaus mehr als ›gerecht leben‹: Damit wird von Anfang an festgehalten, dass Gerechtigkeit keine isolierte Tugend ist, sie vielmehr auch im Rechtskontext als Teil eines umfassenderen honestum aufgefasst wird. Damit ist sie allerdings auch daran gebunden: Unter den drei Normen erscheint die erste wohl am stärksten von der historischen Geltung der hellenistisch-römischen Individualethik geprägt. In der zweiten Bestimmung wird ein direktes Verbot ausgesprochen: Man dürfe einen anderen nicht verletzen (alium non laedere). Doch woraus begründet sich dieses Verbot? Blickt man nochmals zurück auf die verwandte Bestimmung der Gerechtigkeit in Ciceros De officiis,32 so fällt auf, dass dort anstelle des Verbotes zu schaden – so auch etwas später in De officiis selbst33 – eine positive Bestimmung steht: Gerechtigkeit bestehe im Schutz menschlicher Gemeinschaft. In der Tat ist dies der unmittelbare funktionale Horizont des Gebots. Indes wird ihm ein anthropologisches Fundament gegeben. Denn es gründet in einer Vorannahme, die Cicero folgendermaßen umschreibt: »Angenommen, die Natur würde das Recht nicht sichern, dann würden alle Tugenden aufgehoben. […] Denn sie entstehen 52 | Gregor Vogt- S p ira
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daraus, dass wir von Natur aus geneigt sind, die Menschen zu lieben, was die Basis des Rechts ist.«34 Dies ist der Grundsatz der oikeiosis, auf den die Stoa ihre ganze Ethik aufbaut: ein schwer zu übersetzendes philosophisches Kunstwort, das ›Eigenheit‹, ›Zuträglichkeit‹, dann auch ›Zugeneigtheit‹ bis hin zu ›Liebe‹ bedeutet. Der Grundsatz, der von erheblicher Bedeutung für die römische Rechtsgeschichte ist, gründet in dem Gedanken, der Mensch erkenne bei der Geburt, dass er sich selbst ›eigen‹ (oikeios) sei.35 Daraus wird ein natürlicher Selbsterhaltungstrieb abgeleitet, der auch den Aspekt der Selbstentfaltung umfasst als ein Streben nach dem bestmöglichen Zustand, mithin nach Vollkommenheit. Dies aber kann sich nur in einer sozialen Gemeinschaft realisieren; aus dem Selbsterhaltungstrieb resultiert somit die Schaffung organisierter Formen des Zusammenlebens wie der Polis und der res publica. Die oikeiosis-Lehre dient in der Stoa dabei insbesondere zu einer naturrechtlichen Ableitung der Gerechtigkeit: Sie macht geradezu »die Zuneigung zum Ursprung der Gerechtigkeit«.36 Es lässt sich somit festhalten, dass dem Gebot, nicht zu verletzen, ein positives Bild des Menschen zugrunde liegt. Dies wird noch umso deutlicher daraus, dass in der Stoa mit dem Gebot, nicht zu schaden, auf das engste ein zweites Moment verknüpft wird, das unmittelbar eine positive Hinwendung zum andern darstellt: beneficentia, ›Wohltätigkeit‹, was sowohl Güte wie Freigebigkeit (benignitas, liberalitas) umfasst. Erst beides zusammen mache die Lebenshaltung aus, »durch die die Verbindung der Menschen miteinander und gewissermaßen ihre Lebensgemeinschaft zusammengehalten wird«.37 Doch so sehr soziales Wohltätertum wie kaum etwas anderes der Natur des Menschen angemessen sei, so wird doch im gleichen Atemzug betont, dass es in hohem Grad des Maßes und der Rücksichten bedürfe; unter anderem, dass auch der Grundanforderung der Gerechtigkeit zu genügen sei, dass Zuteilungen nur nach Maßgabe der Würdigkeit eines jeden Einzelnen erfolgen dürften.38 Darin steckt das dritte Gebot des suum cuique tribuere, das in der Tat, wie schon vermerkt, als Leitfaden den Gerechtigkeitsdiskurs durchzieht. ›Zuteilung des Seinen‹ wird bisweilen geradezu als Quintessenz der antiken Auffassung von Gerechtigkeit betrachtet und auch als ›Gerechtigkeitsformel‹ bezeichnet. Der Gedanke lässt sich bis zu dem griechischen Dichter Simonides zurückverfolgen; ein herausragendes Beispiel ist Platons Schrift über den Staat, der er einen zentralen Pfeiler der Gerechtigkeitskonzeption liefert. Die Formulierung suum cuique allerdings, die dafür geläufig geworden ist, geht auf Cicero zurück. Indes, was ist suum, was ist ›das Seine‹, das einem jeden zugeteilt werden solle? Manche wollten darin eine Leerformel sehen, weil jede Gesellschaft festlegen könne, was sie dem Einzelnen als ›Seines‹ zumessen wolle.39 Doch dies trifft die antike Bestimmung nicht. Platon etwa hat eine prägnante Auffassung davon, dass D e r G e re c ht i g ke i t sdi sku rs i n Rom | 53
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das suum nicht in bestimmten Einzelrechten oder Zuweisungen bestehe, sondern in einem umfassenden Recht auf Selbstverwirklichung.40 Eines der leitenden Prinzipien ist der Grundsatz der Gleichheit, der, wie wir gesehen hatten, dem älteren lateinischen Begriff für Gerechtigkeit, aequum und aequitas, von seiner Grundbedeutung her zugrunde liegt. Dies entspricht einer allgemeinen Vorerwartung: So stellt Aristoteles einmal nachgerade fest, dass das Gerechte Gleichheit bedeute, sei eine weihin verbreitete Annahme, für die gar kein näherer Beweis eingefordert werde.41 Gleichwohl heißt deshalb ›Jedem das Seine‹ noch nicht ›Jedem das Gleiche‹. Grundlegend ist eine Unterscheidung, für die sich die Termini einer austeilenden und einer ausgleichenden Gerechtigkeit eingebürgert haben, wie sie Aristoteles in seiner Gerechtigkeitstheorie entwickelt. Der zweite Typus beruht in der Tat auf dem Gleichheitsgrundsatz: Aristoteles nennt dies arithmetische Proportionalität.42 Die austeilende Gerechtigkeit hingegen lässt Verschiedenheit zu; Aristoteles spricht von geometrischer Proportionalität.43 Bei ihr entstehen Konflikte daraus, dass »Gleiche Nicht-Gleiches oder Nicht-Gleiche Gleiches haben und zugeteilt bekommen«. Deshalb wird ein weiterer Grundsatz eingeführt, der in diesen Fällen die Distribution regelt, die Angemessenheit: »Denn alle stimmen überein, dass das Gerechte bei den Zuteilungen einer gewissen Angemessenheit zu folgen hat.« Indes schließt Aristoteles daran die Feststellung, im Prinzip herrsche darüber zwar Konsens; doch was dann konkret unter ›angemessen‹ zu verstehen sei, darüber bestünden sehr unterschiedliche Vorstellungen. Prägnantes Beispiel liefern die Positionen von Vertretern der Demokratie, der Oligarchie und der Aristokratie: Die einen verstünden unter ›angemessen‹ Freiheit, die nächsten Reichtum oder Herkunft, die dritten schließlich Trefflichkeit.44 Dieses Prinzip der Angemessenheit spielt nun auch im römischen Gerechtigkeitsdiskurs eine große Rolle; es wird dort unter den Begriff ›Würde‹ (dignitas) gefasst. So war uns oben schon die Bestimmung begegnet, Gerechtigkeit teile einem jeden seine Würde zu: suum cuique tribuens dignitatem. Zur Wohltätigkeit hatte Cicero festgestellt, dass dabei der Grundanforderung der Gerechtigkeit zu genügen sei, dass Zuteilungen nur nach Maßgabe der Würdigkeit erfolgen dürften.45 Dignitas ist nun ein Kernbegriff im römischen Selbstverständnis und liefert Leitvorstellungen, »die, selbst nicht Bestandteil der öffentlichen Rechtsordnung […], doch als sozial verpflichtende Maßstäbe des öffentlichen Verhaltens und oft auch der Rechtsanwendung anerkannt werden«.46 Daraus wird klar, dass für eine individuelle Interpretation von dignitas keinerlei Spielraum besteht: In Rom steht die Semantik des Angemessenen nicht zur freien Disposition einzelner Gruppen, ganz anders als dies auf griechischer Seite gilt, wo der Grundsatz nicht in einem sozialen Konsens verankert ist. Es ist daher davon auszugehen, dass das suum cuique auch bei Ulpian in dignitas eine solche vorrechtliche Rahmenbedingung findet. ›Würde‹ 54 | Gregor Vogt- S p ira
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ist, wie der Gerechtigkeitsdiskurs in Rom zeigt, ein so selbstverständliches Kriterium, dass sie gar nicht eigens genannt werden muss. Damit dürften die Faktoren deutlich geworden sein, die jenen dynamischen Konzeptionalisierungsprozess von Gerechtigkeit in Rom vorangetrieben haben. Auf der einen Seite stehen traditionelle Anschauungen, die etwa in den Institutionen des Staates pragmatisch verankert sind und die wie im Recht oder den Beispielsammlungen denkwürdiger Begebenheiten ihre eigene Form der Konzeptionalisierung gefunden haben. Auf der anderen Seite steht die griechische Philosophie, die, da von einer Vielfalt von Vertretern angeboten, ein eklektisches Rezipieren erlaubt, so dass einander ausschließende Geltungsansprüche und damit auch konkurrierende Positionen zu Gerechtigkeit auf die Sphäre intellektuellen Disputs beschränkt bleiben. Indes tritt beides, die pragmatische Ebene und die philosophische Auseinandersetzung, untereinander in Beziehung. In der wechselseitigen Durchdringung finden dann Syntheseleistungen statt, die von nachdrücklicher Wirkung auf die europäische Überlieferung sind. Insbesondere werden dabei die Sphären von Recht und Gerechtigkeit miteinander verbunden, und dies bildet einen zentralen Beitrag Roms zu einem in der Praxis verankerten Gerechtigkeitsdiskurs.
A n m e r kun ge n 1 Corpus Iuris Civilis. Digesta 1, 1, 10, pr.–1, hier und im Folgenden zitiert nach Corpus Iuris Civilis Bd. 2: Digesten 1–10, übers. und hrsg. von O. Behrends / R. Knütel / B. Kupisch / H.H. Seiler, Heidelberg 1995. 2 Augustus, Res gestae 34. 3 Die Weihung des Augustus bezeugt durch Fast. Praen. Corpus Inscriptionum Latinarum I2, S. 231; 306. Zu weiteren Belegen s. M. Caccamo Caltabiano, Art. »Iustitia«, Lexikon Iconographicum Mythologiae Classicae 8.1 (1997), S. 661–663. 4 Eine quantitative Übersicht über die Belege bei G. Thome, »Iustitia – Geschichte eines Wortes und einer Idee«, Anregung 45 (1999), S. 150–168, hier 150–151. 5 Vgl. F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt: Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik, München 1988, S. 269 und 508–509. 6 Cicero, Partitiones oratoriae 129–130. Vgl. auch Wieacker, Rechtsgeschichte (o. Anm. 5), S. 506–507. Die besondere Komplexität und Uneindeutigkeit des Begriffs aequitas betont M. Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis Justinian, München 1992, S. 222–227. 7 Cicero, De officiis 1, 23: Fundamentum autem est iustitiae fides, id est dictorum conventorumque constantia et veritas. 8 Vgl. O. Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 42010, S. 20. 9 Cicero, De officiis 1, 33. D e r G e re c ht i g ke i t sdi sku rs i n Rom | 55
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10 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Gesammelte Werke, Akademieausgabe Bd. 6, 1793, S. 234–235 (»Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre«). Zur kantischen Umdeutung vgl. K. Büchner, »Summum ius summa iniuria«, Historisches Jahrbuch 73 (1954), S. 12–35 (wiederabgedruckt in: Ders., Humanitas romana, Heidelberg 1957, S. 80– 105). 11 Die Diskussion wurde ausgelöst durch J. Stroux, Summum ius, summa iniuria: Ein Kapitel aus der Geschichte der interpretatio juris, Leipzig 1926; hier zitiert nach: Ders., Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik, Potsdam 1949, S. 7–80. Einen synthetischen Überblick gibt M. Fuhrmann, »Philologische Bemerkungen zur Sentenz ›Summum ius summa iniuria‹«, in: Studi in onore di E. Volterra, II, Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza dell’Università di Roma, Milano 1971, S. 53–81, dessen Lösungsvorschlag die Diskussion zu einem vorläufigen Ende gebracht hat, gleichwohl einige Fragen offen lässt. 12 Terenz, Heautontimoroumenos 795–796. Die ursprüngliche Bedeutung des Spruchs ist von Büchner, »Summum ius summa iniuria« (o. Anm. 10) geklärt worden, dessen Rekonstruktion weithin Zustimmung gefunden hat. Ein griechisches Vorbild ist aus dramaturgischen Gründen ausgeschlossen und von rechtshistorischer Seite auch nicht angenommen worden; vgl. Fuhrmann (o. Anm. 11), S. 73 Anm. 50 und E. Lefèvre, Terenz’ und Menanders Heautontimoroumenos, München 1994, S. 179–180. 13 Vgl. Cicero, De re publica 3, 8–31; dazu J.-L. Ferrary, »Le discours du Philus (Cicéron, de re publica, III, 8–31) et la philosophie de Carnéade«, Revue des Études Latines 55 (1977), S. 128–156. Zum philosophiegeschichtlichen Rahmen W. Görler, in: H. Flashar (Hrsg.), Die hellenistische Philosophie (Grundriß der Geschichte der Philosophie Bd. 4.2), Basel 1994, bes. S. 840–853 und 882–883 mit weiterer Literatur. Zum historischen Hintergrund von Catos Verhalten M. Jehne, »Cato und die Bewahrung der traditionellen res publica. Zum Spannungsverhältnis zwischen mos maiorum und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert v. Chr.«, in: G. Vogt-Spira / B. Rommel (Hgg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, S. 115– 134. 14 Vgl. dazu die scharfsinnige Rekonstruktion von O. Behrends, Die fraus legis. Zum Gegensatz von Wortlaut und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation, Göttingen 1983, hier S. 61–98, dessen Ergebnissen hier gefolgt wird. 15 Cicero, De oratore 1, 193–195; Zitat 195 (Übersetzung H. Merklin). 16 Cicero, De officiis 3, 68. 17 Cicero, De finibus 3, 65–72; Zitat 69. Vgl. dazu auch Behrends, Die fraus legis (o. Anm. 14), S. 85. 18 Zur philosophischen Basis eingehend Behrends, Die fraus legis (o. Anm. 14), S. 79–98; Zitat S. 94. 19 Stellen bei A. Dihle, Art. »Gerechtigkeit«, Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978), Sp. 233–352, hier 267; vgl. auch Behrends, Die fraus legis (o. Anm. 14), S. 86–89. 20 Cicero, De legibus 1, 19. 56 | Gregor Vogt- S p ira
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21 Zum Zusammenhang zwischen der ›neuen‹ Jurisprudenz und der Sprachtheorie der skeptischen Akademie Behrends, Die fraus legis (o. Anm. 14), S. 61–77. 22 Auctor ad Herennium 3, 3; dazu auch Thome, »Iustitia« (o. Anm. 4), S. 151–153 und allgemeiner zu aequitas Dihle, Gerechtigkeit (o. Anm. 19), Sp. 285. 23 Ulpian, Digesta 1, 1, 10, pr.–1 (s. auch o. Anm. 1). 24 Ebd. 1, 1, 1 pr. 1: Iuri operam daturum prius nosse oportet, unde nomen iuris descendat. Est autem a iustitia appellatum. Zitat aus D. Liebs, in: K. Sallmann (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike Bd. 4, München 1997, S. 184. 25 Accursius zu Digesta 1, 1, 1 pr.: Est autem ius a iustitia, sicut a matre sua, ergo prius fuit iustitia quam ius. 26 W. Waldstein, »Ist das ›suum cuique‹ eine Leerformel?«, in: H. Miehlser u.a. (Hgg.), Ius humanitatis. Festschrift Alfred Verdross, Berlin 1980, S. 285–320, hier 303. 27 Cicero, De inventione 2, 160: Iustitia est habitus animi communi utilitate conservata suam cuique tribuens dignitatem. 28 Dazu A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, S. 152–160. 29 Cicero, De officiis 1, 15: versatur […] in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide. 30 Vgl. o. Anm. 7. 31 Cicero, De officiis 1, 15. 32 S. o. Anm. 29. 33 Cicero, De officiis 1, 20. 34 Cicero, De legibus 1, 43. 35 Die Bedeutung der oikeiosis-Lehre für Ulpian zeigt L. Winkel, »Die stoische oikeiosis-Lehre und Ulpians Definition der Gerechtigkeit«, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 105 (1988), S. 669–679. 36 Porphyrius, De abstinentia 3, 19, 2; vgl. auch Winkel (Anm. 35), S. 673. 37 Cicero, De officiis 1, 20. 38 Ebd. 1, 42. 39 Ein prominenter Vertreter dieser Auffassung ist etwa H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953; eingehende Kritik dieser Position bei Waldstein, »Ist das ›suum cuique‹ eine Leerformel?« (o. Anm. 26). 40 Vgl. dazu A. Schmitt in diesem Band. 41 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 6, 1131 a 13–14. 42 Ebd. V 7, 1131 b 32–1132 a 6. 43 Ebd. V 7, 1131 b 12–15; das nachfolgende Zitat V 6, 1131 a 23–24. 44 Ebd. V 6, 1131 a 24–29. 45 Vgl. o. Anm. 38. 46 Wieacker, Rechtsgeschichte (Anm. 5), S. 354 f.
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Martin Jehne
GERECHTIGKEITSKONKURRENZEN IN DER POLITISCHEN PRAXIS DER RÖMISCHEN REPUBLIK Jedes Gemeinwesen nimmt für sich in Anspruch, wenigstens im Inneren die Verwirklichung von – natürlich ganz unterschiedlich konzipierter – Gerechtigkeit anzustreben, und vor diesem Anspruch versagt die Praxis in der Wahrnehmung der Betroffenen in mehr oder weniger großem Umfang. Dass gegen die Gerechtigkeitsprinzipien infolge menschlicher Schwächen wie Dummheit und Gier permanent verstoßen wird, ist dabei weniger problematisch, als es die systeminhärenten Widersprüche und Paradoxien sind, die in konkreten Situationen der Verwirklichung von Gerechtigkeit entgegenstehen und oft nur einzelfallbezogen überbrückt, verschleiert und ausgehalten werden können. In der römischen Gesellschaft, die wie auf sozialen, so auch auf prinzipiell akzeptierten rechtlichen Ungleichheiten basierte, waren in der Praxis immer wieder Spannungen zu verzeichnen, weshalb gegenüber der aus dem Griechischen importierten Tugend der iustitia ja lange die aequitas dominierte, die mit ihrer Grundbedeutung der proportionalen Gleichheit die Angemessenheit, Fairness, Billigkeit direkter ausdrückte, in deren Namen sich mancher Kompromiss finden ließ.1 Da die praktischen Interaktionsgefüge nicht widerspruchsfrei sein müssen, um gut zu funktionieren, lässt sich manches verdrängen und ertragen, was in der aufs Grundsätzliche zielenden Theorie erklärt werden muss und daher Schwierigkeiten bereitet. Es könnte immerhin sein, dass die Römer einen wesentlichen Bereich, in dem Fragen der Gerechtigkeit auftauchen können, lange Zeit neutralisiert hatten, nämlich den Krieg und die aus Siegen hervorgehende Herrschaft und Ausbeutung. Auch wenn die römische bellum-iustum-Theorie, also die systematische Begründung, dass Rom stets nur gerechte Kriege geführt habe und immer führen werde, wohl erst ein Produkt spätrepublikanischer Reflexion war, vielleicht auch tatsächlich erst von Cicero entwickelt wurde,2 so ist doch klar, dass das alteingeführte Ritual des Umgangs mit externen Konflikten, dass nämlich erst offiziell Wiedergutmachung für angeblich begangenes Unrecht verlangt und nach der Nichterfüllung der Forderungen der Krieg erklärt wurde, ein sehr wirksamer Weg gewesen ist, die Verantwortung für den Krieg und seine Folgen zur Gänze den jeweiligen Feinden aufzubürden.3 Es ist nachvollziehbar, dass die Kette der römischen Siege das Selbstbild nährte, im Zustand der Unterstützung durch die Götter zu leben und 58 | Martin Jehne
damit letztlich in dem der Gerechtigkeit. Als der athenische Philosoph Karneades 155 v.Chr. in Rom seine aufsehenerregende Performance veranstaltete, an einem Tag einen Vortrag über die Unverzichtbarkeit der Gerechtigkeit zu halten und am nächsten einen weiteren, der das Gegenteil bewies, waren führende Römer wie der alte Cato wohl nicht nur wegen der Frivolität erschüttert, dass Karneades die rhetorischen Überzeugungstechniken von der Wahrheit abgekoppelt hatte.4 Zu schaffen machte ihnen auch die Argumentation, dass Gerechtigkeit dem Eigeninteresse widerspreche und daher eine Dummheit darstelle und dass sich die Römer folglich, wenn sie gerecht handeln wollten, gleich aus ihrem Reich zurückziehen müssten.5 Mit der Entkräftung dieser Darlegungen tut sich noch Cicero in seiner Schrift De re publica schwer.6 Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem die hier greifbare legitimatorische Funktion von Gerechtigkeit wesentlich, die man mit Aristoteles in eine austeilende und eine ausgleichende Variante unterteilen kann7 – wobei klar ist, dass sich die beiden Formen in der Praxis verschiedentlich überlagern und zueinander in Spannung geraten. Die Verortung von Gerechtigkeit bzw. Gerechtigkeitsdiskursen in der Praxis will ich von Konfliktsituationen her angehen, da mir in solchen Fällen der Umgang der Römer mit Gerechtigkeitsvorstellungen am besten hervorzutreten scheint. Dazu werde ich drei Beispiele referieren. Im ersten stehen Konflikte um die Gerechtigkeit des Gesetzes und die Billigkeit im Zentrum, im zweiten Konflikte um das Ausmaß der Ansprüche auf proportionale Zuteilung, im dritten ist schon die Berechtigung von Umverteilung strittig. Am Ende werde ich meine Überlegungen kurz zusammenfassen.
I. Gl e i c h h e it vor de m G e set z und R an gstellung – de r P ro z e ss ge ge n die Sc ipione n Der augusteische Geschichtsschreiber Livius berichtet in seinem Werk lang und ausführlich über die Versuche, dem großen Kriegshelden Publius Scipio Africanus und seinem Bruder Lucius wegen Unterschlagung den Prozess zu machen. Africanus hatte Lucius als Legat auf dessen großen Ostfeldzug gegen Antiochos III. begleitet, und es war der Verdacht aufgekommen, die Brüder hätten Zahlungen des Königs nicht an die Staatskasse weitergeleitet. So betrieben zwei Volkstribune, die beide Q. Petillius hießen, die Anklage, und die römische Öffentlichkeit reagierte gespalten. Die einen gaben ihrem Entsetzen Ausdruck, dass das gesamte Gemeinwesen eine solche Undankbarkeit gegenüber seinem größten Mann tatsächlich zulasse. Die anderen argumentierten dagegen, dass kein einzelner Bürger so sehr herausragen dürfe, dass er nicht den Gesetzen gemäß gerichtlich belangt werden könne; denn nichts sei so sehr geeignet, für das gleiche Maß an Freiheit zu sorgen, Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 59
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wie die Möglichkeit, auch den Mächtigsten unter Anklage zu stellen. Was könne jemandem ohne Bedenken überlassen werden – von den höchsten Staatsangelegenheiten ganz zu schweigen –, wenn keine Rechenschaft abgelegt werden müsse? Wer die Gleichheit des Rechts nicht ertragen könne, gegen den sei der Einsatz von Zwangsgewalt nicht ungerecht.8 Livius schrieb diese Passagen seines großen Geschichtswerks erst mindestens 150 Jahre nach diesem Ereignis, das er ins Jahr 187 v.Chr. datiert, und seine Berufung auf Valerius Antias9 vermag unser Vertrauen in die Verlässlichkeit der Überlieferung nicht recht zu stützen: Valerius Antias war zwar möglicherweise ein halbes Jahrhundert früher dran als Livius, aber sein Ruf als Geschichtsschreiber ist denkbar schlecht.10 Wir wissen also nicht, ob die Römer tatsächlich in der dargestellten Weise über den Prozess gegen Scipio diskutierten oder – was erheblich wahrscheinlicher ist – ob Antias und Livius nur dachten, dass man so ähnlich hätte diskutiert haben können. Hinzu kommt, dass es möglicherweise nicht mehrere Prozesse gegen die Scipionen gegeben hat, sondern nur einen gegen L. Scipio, in den sein berühmter älterer Bruder nur als Verwandter, Mitbetroffener und Zeuge involviert war, der dann im Laufe der Überlieferungsgeschichte immer mehr ins Zentrum gerückt und schließlich zum Angeklagten transformiert wurde.11 Auch in dieser Variante geht aus den Berichten jedoch noch hervor, dass sich P. Scipio in massiver Weise in die Maßnahmen gegen seinen Bruder einschaltete und zu dessen Verteidigung auch vor Verstößen gegen die althergebrachte Ordnung nicht zurückschreckte.12 Aber wer immer die Problematik in der bei Livius erhaltenen Weise darstellte: Der Fall wurde jedenfalls reflektiert als ein Konflikt zwischen Gleichheits- und Ungleichheitsvorstellungen, entlang derer sich die Kommentatoren der Geschehnisse auseinanderdifferenzierten. Während die einen der Auffassung waren, dass der bedeutendste Feldherr des Hannibalkrieges, der Wesentliches zu Roms Sieg im Überlebenskampf beigetragen hatte, nicht den Unannehmlichkeiten eines Prozesses ausgesetzt werden dürfe, galt nach der Meinung der anderen die Regel: gleiches Recht für alle, was sich darin niederschlage, dass eben auch und gerade die Mächtigsten zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gebracht werden konnten. Die Schilderung des Livius über den Verlauf des Prozesses nimmt den grundsätzlichen Gegensatz wieder auf. Danach soll Scipio zur Verhandlung mit einer riesigen Begleitmannschaft auf dem Forum erschienen sein, wie es sie noch nie gegeben hatte. In einer Rede habe er sodann das anwesende Volk mit der ebenso geschliffenen wie mitreißenden Darstellung der gemeinsam überstandenen großen Kriegstaten auf seine Seite gebracht und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe mit keinem Wort erwähnt.13 Die Einlassungen der anklagenden Tribunen wirkten dagegen wie eine Mischung aus übler Nachrede und kleinkarierter Pfennigfuchserei.14 Auch am nächsten Verhandlungstag tauchte Scipio wieder mit einer Schar 60 | Martin Jehne
von Freunden und Clienten auf15 und erinnerte die versammelten Bürger daran, dass dies der Jahrestag von Zama sei, der unter seiner Führung gewonnenen Entscheidungsschlacht gegen Hannibal, und dass er deshalb Zank und Hader ruhen lassen und gleich zum Kapitol aufsteigen wolle, um den Göttern dafür zu danken, dass sie ihm an diesem Tag und auch oft an anderen den Verstand und die Möglichkeit gegeben hätten, herausragend für die res publica tätig zu werden. Die Bürger sollten jetzt mitkommen und die Götter bitten, dass sie Führungspersönlichkeiten hätten, die ihm ähnlich seien.16 Tatsächlich schloss sich ihm die Menge an; die Tribunen als Vertreter der Anklage wurden sogar vom Prozesspersonal verlassen, so dass am Ende nur noch ein Ausrufer und ihre persönlichen Sklaven übrig blieben.17 Nach dieser Darstellung setzte also der Angeklagte weiter ganz auf seine Erfolge und Leistungen für das römische Gemeinwesen, auf die Argumente der Anklage ließ er sich in keiner Weise ein. Die zur Gerichtsversammlung zusammengekommene Bürgerschaft, deren Aufgabe es am Ende gewesen wäre, über Verurteilung oder Freispruch abzustimmen, ließ sich davon auch massiv beeinflussen, am zweiten Tag sogar bis zur Auflösung der Versammlung, die sich stattdessen in eine Prozession von Tempel zu Tempel unter Leitung des Scipio Africanus verwandelte.18 Damit folgten die Bürger der Auffassung, dass bei einem solchermaßen verdienten und herausragenden Mann die Vorwürfe gänzlich irrelevant sind. Doch da die Tribunen nicht locker ließen und ihre Klage nicht zurückzogen, zog sich statt dessen Scipio Africanus zurück: Er ging auf sein Landgut und hatte nicht die Absicht, Vorladungen zu weiteren Gerichtsterminen Folge zu leisten.19 Wie Livius schreibt, fühlte er sich zu großartig und war zu sehr an eine höhere Stellung gewohnt, als dass er sich der Selbsterniedrigung bei der Verteidigung aussetzen wollte.20 Nach einigen weiteren Wirrungen entschied schließlich der mit Scipio eigentlich verfeindete Tribun Ti. Gracchus die Angelegenheit, indem er eindrucksvoll erklärte, dass er Scipio, falls er an ihn appelliere, Hilfe gewähren werde, damit Scipio nicht vor Gericht komme. Einen Mann, der durch seine Taten wie durch die vom Volk verliehenen Ehrungen mit dem Konsens von Göttern und Menschen auf diesen Gipfelpunkt gelangt sei, mit einer Anklage zu überziehen, sei für das römische Volk schmählicher als für ihn selbst. Der Senat unterstützte Gracchus und tadelte die Petillii, die dann offenbar die Anklage nicht weiterverfolgten.21 Livius’ Erzählung über den Prozess gegen Scipio Africanus endet also mit der Niederschlagung des Verfahrens. Die Anklage wurde gar nicht erst auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft, die Frage, ob Africanus unschuldig sei oder im Sinne der Anklage vielleicht doch schuldig, wurde nicht entschieden, nicht einmal Vermutungen wurden geäußert. Es geht nur darum, dass man einen Mann, der so Wichtiges für die res publica geleistet hat, nicht vor Gericht zerrt, wo er sich unweigerlich mit ehrenrührigen Anschuldigungen konfrontiert findet und die um Mitleid heischenden Bitt- und Trauergesten der Angeklagten vollziehen muss, die für eine Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 61
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Persönlichkeit seiner Statur entehrend sind. Das Recht gilt demnach nicht für alle gleich. Solche Ausnahmen von den Rechtsregeln, Privilegien im eigentlichen Sinne, ließen sich kaum formalisieren und blieben zwangsläufig strittig. Tatsächlich wurden hier Gerechtigkeitsvorstellungen verletzt. Wer das ius aequum, das gleiche Recht für alle, nicht ertragen könne, gegen den seien der Einsatz von Zwang und Gewalt (vis) nicht ungerecht (haud iniustam)22 – so sieht es zumindest ein Teil der Bürgerschaft nach Livius. Tatsächlich ist die Gleichheit vor dem Gesetz ein Kernelement der libertas populi. Doch am Ende setzt sich das statusbezogene Missbehagen mit einer Kompromisslösung durch. Scipios dignitas, sein durch Leistung und Herkunft erzeugter Rang, ist so hoch, dass ein Prozess gegen ihn in Widersprüche hineinführt. Wenn ihm doch Menschen und Götter so hohe Würden und Ehren zuerkannt haben, wie konnte man ihn jetzt eines solch schäbigen Vergehens wie der Unterschlagung verdächtigen?23 Indem Gracchus den Prozess verhindert, schließt er auch eine Klärung der Frage aus, ob Scipio nun schuldig ist oder nicht. Die Heilung des Konfliktes vollzieht sich also dadurch, dass das Gerechtigkeitspostulat vom Verfahren – jeder muss sich einem Rechenschaftsprozess unterziehen, wenn er angeklagt wird – auf das Ergebnis verschoben wird – Zweifel an der Redlichkeit Scipios sind unehrenhaft, also muss er sich auch keinem unangenehmen Prozess stellen, also braucht man ihn auch nicht zu verurteilen, da ja seine Schuld nicht bewiesen wird, also bleibt er zu Recht in seiner ehrenvollen Stellung. Die Statushierarchie ist nicht gestört, die unangenehmen Empfindungen, die Statusdissonanzen auslösen, sind behoben worden. Wie Cicero formulierte, konnte eine Volksherrschaft noch so gerecht und maßvoll sein, die Gleichmäßigkeit (aequabilitas) wäre doch unangemessen, da sie keine Abstufungen nach Rang enthalte.24 Mit der Sonderregelung für Scipio wird offenkundig das allgemeine Recht gedehnt, aber die einzelfallorientierte Billigkeit gewährleistet. Um den Verstoß gegen die Gleichheit vor dem Gesetz nicht allzu massiv werden zu lassen, bemüht sich der livianische Gracchus am Ende um eine Transformation der Exemtion im Spezialfall in eine generelle Regel, indem er darlegt, dass es durchaus angemessen sei, dass verdiente und anerkannte Männer in eine unantastbare Stellung gelangten, so dass sie in Ruhe ihren Lebensabend genießen können.25 Die Ausnahme von der grundlegenden Gleichheit vor dem Gesetz soll also nur für ältere Herrschaften gelten, aber nicht generell für verdiente Senatoren. Die aktiven Politiker in den besten Jahren können sich also nicht dem Prozess entziehen, wenn denn einer gegen sie angestrengt wird. Die Gerichte blieben als Kampfplatz konkurrierender Senatoren weiter erhalten, doch die hochrangigen Alten, die aus dem Wettbewerb um die Ämter ausgeschieden waren, die wollte man großzügig davon ausnehmen.
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II. D i e E h re und die O rgane de r res publica – C a e s a rs E röffnung de s B ürge rkriegs Mein zweites Beispiel ist der Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen Caesar und seinen Gegnern im Jahre 49 v.Chr. Im Vorfeld von Caesars Einmarsch waren manche rechtlichen Argumente ausgetauscht worden, die auf gesetzliche Regelungen Bezug nahmen, und immer wieder hat man den Konflikt als Rechtsfrage behandelt und ist dabei zu recht unterschiedlichen Einschätzungen gelangt.26 Jedenfalls wird man festhalten können: Als Caesar dann tatsächlich den Rubicon überschritt, bedeutete das die Rebellion gegen den Senat und die amtierenden Consuln, und das war mit formalen Rechtsansprüchen schwer zu rechtfertigen. Immerhin zog Caesar die Verteidigung der libertas hervor, inkarniert in den Volkstribunen, die unter Druck gesetzt und bedroht worden waren und sich schließlich zu ihm flüchteten, so dass er sie verteidigen und wieder in ihre Rechte einsetzen musste.27 Doch wichtiger wurde jetzt der Diskurs, der um Caesars dignitas kreiste, um seinen Rang, seine Würde, und das bedeutet: Caesar stellte den Gerechtigkeitskonflikt über den Rechtskonflikt. Über die Argumente informiert uns vor allem Caesars Werk über den Bürgerkrieg, das zeitnah zu den Ereignissen verfasst wurde und auch noch von dem entscheidenden Akteur, so dass wir hier eine bessere Basis haben als bei dem Prozess gegen Scipio. Als Caesar vom Ultimatum des Senats erfuhr, hielt er eine Ansprache an seine Truppen, in der er begründete, dass all die Maßnahmen gegen ihn ganz unbegründet waren und die Soldaten nun den Ruf und die dignitas ihres erfolgreichen Kommandeurs verteidigen sollten.28 Auf einen Brief des Pompeius, der ihm kurz darauf überbracht wurde, antwortete Caesar, ihm sei die dignitas immer wichtiger als sein Leben gewesen,29 und zählte die Kränkungen auf, die er erlitten hatte.30 Bei dem Gespräch mit Lentulus Spinther vor Corfinium beruhigte Caesar den besorgten Ex-Consul, er, Caesar, sei nicht aus seiner Provinz herausgezogen, um Übeltaten zu begehen, sondern nur um sich gegen die Schädigungen durch seine Gegner zu verteidigen, die Volkstribunen, die wegen dieser Angelegenheit aus der Bürgerschaft vertrieben worden seien, in ihre dignitas wieder einzusetzen und den durch eine kleine Gruppe unterdrückten populus Romanus zu befreien.31 Nachdem sich Pompeius und andere mit einigen Soldaten über die Adria abgesetzt hatten, erläuterte Caesar dem von ihm einberufenen Restsenat noch einmal, wie es zu dieser Situation gekommen war, und verwies dabei auf seinen von der Gegenseite abgelehnten Vorschlag, dass er und Pompeius gleichermaßen ihre Heere entlassen sollten, einen Vorschlag, den er unterbreitet habe, obwohl er für ihn mit einer Verminderung von dignitas und honor, Würde und Ehre, verbunden war.32 Vor der Schlacht von Pharsalos feuerte der primus pilus Crastinus, der erste der Centurionen, seine Kameraden an für ein letztes Gefecht, in dem der Sieg Caesar die dignitas und ihnen die libertas bringen werde.33 Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 63
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Gerade in der Äußerung, die Caesar seinem Soldaten Crastinus in den Mund legt, wird in der Verdichtung auf das Wichtigste besonders deutlich, was seine entscheidenden Argumente für den Bürgerkrieg waren: Rang und Würde Caesars und Freiheit des Volkes. Dabei war die dignitas keine Größe, auf die ein Rechtsanspruch geltend gemacht werden konnte. Doch stand es einem römischen Senator zu, dass er entsprechend seiner Leistungen mit Anerkennung belohnt wurde, und diese Anerkennung drückte sich in Ämtern und Ehren aus. Es war nicht daran zu zweifeln, dass seine Kriegserfolge in Gallien Großtaten waren, und sie waren in Rom auch als solche anerkannt worden, wie die Dankfeste für ihn zeigen.34 Wie brave Bürger, die nicht von persönlicher Feindschaft zu Caesar beherrscht wurden, diese Dinge sahen, verraten uns in Caesars Werk die Stadträte von Auximum, die angeblich sagten, weder sie noch die übrigen Municipien könnten ertragen, dass der Imperator C. Caesar, der sich so sehr um die res publica verdient gemacht und so große Taten vollbracht habe, von Stadt und Befestigung ausgeschlossen werde.35 Dagegen vermerkte Caesars Anhänger Hirtius, dass die Consuln von 49 v.Chr., L. Lentulus und C. Marcellus, die gesamte Ehre und Würde Caesars verdarben, oder besser: Amt und Rang herabsetzten.36 Dass Caesars Kriegstaten ihm nicht eine triumphale Rückkehr nach Rom und Ehren und neue Ämter einbrachten, empfand er erkennbar als Ungerechtigkeit, und das war offensichtlich auch eine zulässige Argumentation, die etwas für sich hatte.37 Die Gegenseite fühlte sich aber ihrerseits mit guten Gründen im Recht, schon allein, weil die Anerkennung, die Caesar vermisste, keine formale Verpflichtung war. Zudem hätte ein wenigstens partielles Eingehen auf dessen Forderungen die disproportionale Machtlage akzeptiert: Der enorme Erfolg Caesars, der ihn mit der größten und schlagkräftigsten Armee des Reiches, erheblichen Finanzmitteln und dem Nimbus eines begnadeten Heerführers versehen hatte, sprengte hier gerade deshalb, weil man ihm einen Anspruch auf Anerkennung nach den Normen der austeilenden Gerechtigkeit eigentlich nicht versagen konnte, den Rahmen des im System noch Erträglichen. Die Lage war also beim Bürgerkriegsausbruch auch im Hinblick auf Gerechtigkeitsdiskurse verwickelt und unklar. Es ist nachvollziehbar, dass die Gesandten der Stadt Massilia erklärten, sie könnten nicht entscheiden, welche Seite im römischen Bürgerkrieg die gerechtere Sache habe (iustiorem causam).38 Die Entscheidung in diesem Konflikt, in dem beide Seiten ihre Ziele für gerecht hielten, war dieses Mal nur über einen Bürgerkrieg zu erzwingen. Die Verfahren, mit denen Senatoren und Magistrate die Befriedigung von Caesars Wünschen blockiert hatten, waren nicht immer formal korrekt gewesen, was Caesar auch kritisierte,39 doch stand für Caesar offenkundig die Schmälerung seines berechtigten Ranganspruchs im Vordergrund. Das nahm dann auch die Gegenseite so wahr. Pompeius legte kurz nach Kriegsausbruch Caesar brieflich nahe, um der eigenen dignitas willen zurückzustecken und seinen Gegnern nicht so sehr zu zürnen, dass die 64 | Martin Jehne
res publica Schaden erleide.40 Damit erhob Pompeius das Gemeinwohl zur obersten Orientierung, dafür müsse man auch in seinen berechtigten Ansprüchen zurückstecken, und diese Auffassung scheint in der römischen Oberschicht weit verbreitet gewesen zu sein.41 Doch sah Caesar bei Pompeius den Unwillen, jemanden zu dulden, dessen dignitas der eigenen gleichkam, als entscheidenden Grund für den massiven Widerstand gegen Caesars Forderungen,42 zudem machte Caesar auch darauf aufmerksam, er habe ja schon Schmälerungen seiner dignitas hingenommen.43 Er war nun nicht mehr bereit, um der res publica willen sich allen Ungerechtigkeiten, die ihm seine Feinde antaten, zu fügen. Nun entschieden die Waffen, wer die iustior causa hatte. Eine solche Spaltung von Gerechtigkeitsempfindungen lässt sich jedoch nicht gewaltsam überbrücken. Noch in neronischer Zeit kommentierte der Dichter Lucan: Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, die besiegte aber dem Cato44 – und Lucans Sympathien lagen dabei ganz bei Cato.
I I I . Ve rt e il ungs gerec htigkeit alla romana – d ie röm is c he Aus gabe von G etrei de Eine besonders konkrete Umsetzung von Gerechtigkeitsargumenten findet sich in der Umverteilung von materiellen Gütern, wie sie uns in der Sozialpolitik allgegenwärtig ist. Bei den Römern gibt es zwar gelegentlich Ansätze zu solchen Diskursen in dem Inventar der popularen Politik der späten Republik und in den Fürsorgeinszenierungen des Kaisers, aber insgesamt bleibt der Umverteilungsaspekt verhältnismäßig bescheiden. Insofern stellt es für Rom eine Besonderheit und für unsere Erwartungen eine Beruhigung dar, dass der Volkstribun Ti. Gracchus, der Sohn des schon erwähnten Tribunen der Zeit des älteren Scipio, 133 den Reichen Staatsland wegnehmen wollte, um es an Ärmere zu verteilen, und sein jüngerer Bruder Gaius 123/2 verschiedene Gesetze einbrachte, die auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der einfachen Bevölkerung Roms abzielten.45 Unter diesen Gesetzen des C. Gracchus ragt die Einführung einer subventionierten Getreideverteilung heraus, die sich schnell zu einem Anspruch der Stadtbürger entwickelte und sich daher trotz einiger Versuche, sie wieder abzuschaffen, auf Dauer etablierte.46 Wohlgemerkt: All die Ansätze zur Unterstützung von Ärmeren waren bei den Gracchen wie bei ihren Nachfolgern stets nur auf römische Bürger ausgerichtet. Auch wurde nie die Verteilung von Privatvermögen, etwa durch Neuverteilung des Bodens, diskutiert, sondern es ging immer um öffentliches Land bzw. um die Finanzmittel des Gemeinwesens, die man zugunsten der Schwächeren einsetzen wollte. Wie aber das Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit bei den Römern aussah, verdeutlicht eine Anekdote, die uns Cicero überliefert in einem Kontext, in dem unterstrichen werden soll, dass Worte und Taten erheblich auseinanderklaffen Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 65
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können. Der ehemalige Consul L. Calpurnius Piso Frugi hatte mit Verve gegen das Getreidegesetz gesprochen, aber nachdem es nun einmal beschlossen war und die erste Verteilung nach den neuen Regeln anstand, stellte sich Piso in die Schlange. C. Gracchus bemerkte den Consular und fragt ihn in aller Öffentlichkeit, wie er es mit seiner Opposition gegen das Gesetz vereinbaren könne, dass er nun hier um Getreide bitte. Daraufhin antwortete Piso: »Gracchus, ich wollte nicht, dass Du nach Gusto meine Güter unter die einzelnen Bürger verteilst, aber wenn Du das schon machst, dann erbitte ich meinen Anteil.«47 Diese Episode ist in mehrerer Hinsicht erhellend. So wird hier zunächst einmal deutlich, dass es für die Verteilung des Getreides in Rom keinerlei Bedürftigkeitsgrenze gab. Bezugsberechtigt waren alle Stadtrömer, ganz unabhängig vom Vermögensstand. Ein gut betuchter römischer Senator wie Piso konnte sich ohne weiteres anstellen, auch wenn diese Aktion eine gewisse Verwunderung auslöst. C. Gracchus fragt nach, weil Piso so ein vehementer Gesetzesgegner gewesen war, aber er behauptet nicht, Piso wolle sich etwas erschleichen, was ihm nicht zustehe. Römische Verteilungsgerechtigkeit ließ es also nicht zu, die Reichen formal von Wohltaten auszuschließen. Doch war das wohl auch gar nicht nötig, weil das Recht von den Reichen praktisch nicht in Anspruch genommen wurde. Man kann getrost davon ausgehen, dass es generell nicht üblich war, dass sich Senatoren ihre Ration geben ließen. Stundenlang mit Hinz und Kunz anzustehen für eine kleine Zuteilung von Getreide zu subventioniertem Preis war mit dem Selbstverständnis eines römischen Senators kaum vereinbar, und nur persönlich konnte er sich seinen Teil abholen. Pisos Handlung war ein ostentativer Akt, der demonstrieren sollte, dass es sich hier um sein Eigentum handelte, das Gracchus verteilte. Die Geschichte ist bei Cicero denn auch umrahmt von Feststellungen, dass C. Gracchus zwar stets verbal die Staatskasse verteidigt, sie aber faktisch geleert habe.48 Merkwürdig wirkt die Behauptung Pisos, dass es um sein Eigentum gehe. In der modernen Forschung ist daher vermutet worden, es habe sich um das Allgemeineigentum gehandelt, das im aerarium, der Kasse der römischen res publica, die sich im Saturntempel befand, eingelagert war.49 Doch sollte man Ciceros Formulierung ernst nehmen: Ein Consular wie Piso betrachtete offenbar die Finanzmittel der res publica als sein Eigentum, wohl nicht als sein alleiniges, aber eben das der Senatoren,50 welche die Kasse beaufsichtigten und darüber entschieden, ob und wofür Mittel aus dem aerarium ausgegeben wurden.51 Und da sie keine Getreidesubvention benötigten, galt ihnen diese als sinnloser Luxus, der das Volk verdarb. Darauf deutet zumindest das Fragment einer Rede des C. Gracchus, in dem er sich gegen die Unterstellung, er habe dem Luxus Vorschub geleistet, mit dem Hinweis zur Wehr setzt, das Notwendige sei kein Luxus.52 Die Auseinandersetzung, welche das Getreidegesetz des C. Gracchus begleitete, scheint also zwischen den Polen von Luxus und Notwendigkeit geführt 66 | Martin Jehne
worden zu sein. Dass es auch noch andere Gesichtspunkte politischer Natur gab, die viele Senatoren zur Opposition veranlassten,53 soll damit nicht in Abrede gestellt werden, doch in unserem Kontext ist entscheidend, dass es zu einer Verteilung von öffentlichen Einnahmen, die größtenteils aus Tributen der Provinzbewohner stammten, an die stadtrömische Bürgerbevölkerung kam, die mit deren Bedürftigkeit gerechtfertigt wurde. Wie Cicero bemerkt, bekämpften die boni die lex frumentaria, da sie glaubten, dass die plebs vom Fleiß zur Trägheit gebracht werde.54 Sie akzeptierten also nicht die Grundeinschätzung, dass die Preissubvention und regelmäßige Verteilung eine Notwendigkeit darstellte. Im 2. Jh. n.Chr. kommentierte Florus, wohl fußend auf Argumentationsweisen aus der Gracchenzeit und den nachfolgenden Jahrzehnten, die Maßnahmen des C. Gracchus dahingehend, dass darin eine species aequitatis steckte, eine Art von Gerechtigkeit.55 Er fährt dann fort, was denn gerechter sein könne, als dass die plebs von den patres das Ihrige erhalte, also sua.56 Hier finden wir im Kontrast zu Ciceros Piso Frugi die konkurrierenden Ansprüche von plebs und Senatoren, wem denn nun eigentlich die Gelder des aerarium gehörten.57 Aber auch wenn hier so leicht keine Einigkeit zu erzielen war, war jedenfalls klar, dass dann, wenn verteilt wurde, jeder stadtrömische Bürger bezugsberechtigt war, also auch ein gegen das Gesetz wetternder Consular wie Piso.
IV. Zus a m m e nfasse nde Übe rl e gunge n In Wiedergabe griechischer Bestimmungen von dikaiosyne definiert Cicero iustitia als einen habitus animi, der bei Erhaltung des allgemeinen Nutzens jedem seine dignitas zuteilt.58 Wie Gabriele Thome einleuchtend herausarbeitet, ist der dignitas-Begriff im römischen Milieu stärker konkretisiert als die griechische axia, so dass der Bezug auf eine Alltagspraxis, in der Rangabstufungen, gradus dignitatis, stets zu berücksichtigen sind, allgegenwärtig ist.59 In meinem ersten Beispiel, dem Scipionenprozess, tritt klar hervor, dass diese Erwartung, dass jedem bezüglich der dignitas das Seine zugewiesen würde, mit der Rechtsordnung kollidieren konnte, speziell mit der Gleichheit vor dem Gesetz und der Verpflichtung, sich für seine Handlungen als Geschäftsträger der res publica gegebenenfalls zur Rechenschaft ziehen zu lassen. Die austeilende Gerechtigkeit, die auf geometrische Gleichheit nach Würdigkeit zielte, geriet also in Konflikt mit der ausgleichenden Gerechtigkeit, die arithmetische Gleichheit sicherte. Im Falle des großen Siegers Scipio verursachte daher die Anklage erhebliches Missbehagen, und so schaffte es der Senat mit Hilfe eines Volkstribunen, Scipio das Schicksal eines Prozesses zu ersparen.60 Die bei Livius überlieferte Doktrin, man solle die verdienten alten Herrschaften nicht anklagen, sondern den Lebensabend genießen lassen, klingt eher nach einer Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 67
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verzweifelten Sekundärreflexion, mit der die Aushebelung der Gleichheit vor dem Gesetz abgemildert werden sollte.61 In gewisser Weise ist mein zweites Beispiel, Caesars Einmarsch und seine Begründung dafür, die Radikalisierung eines strukturellen Konflikts, der schon beim Prozess gegen Scipio offenbar geworden ist. Beide Male überlagerten sich rechtliche Argumentationen und Verfahrensstreitigkeiten mit Statuskonflikten. Während aber bei Scipio der Konflikt eingedämmt und die unangenehme Konfrontation beendet wurde, erzeugten die streitenden Parteien 50/49 v.Chr. eine zunehmende Eskalation, bis der Proconsul Caesar um seiner dignitas willen zu den Waffen griff. Ganz offenkundig war ihm nicht das Seine zuerkannt worden, und er war nicht bereit, diese Ungerechtigkeit hinzunehmen. Dass solche Kränkungen nicht akzeptiert wurden, entsprach ganz den Verhaltensregeln des Rangsystems, in dem um die gradus dignitatis erbittert gekämpft und jede Ehrverletzung unerbittlich gerächt wurde. Demgegenüber bewegten sich die Verstöße Caesars gegen die gesetzlichen und politischen Regeln in einem anderen Feld, das Caesar mit der Eröffnung des Bürgerkriegs souverän beiseite schob. Es war in diesem Fall nicht gelungen, eine situativ erträgliche Lösung zu finden. Im dritten Beispiel ging es um die Verteilung öffentlicher Güter und im Hintergrund um die Frage, wem eigentlich die Ressourcen der res publica gehörten, dem Senat oder dem Volk. Da das aerarium in erster Linie durch die Tribute aus den Provinzen gespeist wurde und es seit 167 v.Chr. keine direkten Bürgersteuern mehr gab, konnte man nicht damit argumentieren, dass die Wohlhabenderen bei prozentualem oder gestaffeltem Steuertarif mehr einzahlten als die Armen, die von Sozialleistungen in erster Linie profitierten. Wie wir im antidemokratischen Diskurs im demokratischen Athen sehen können, waren Vorwürfe dieses Typs, dass sich die Armen auf Kosten der Reichen das Leben erleichterten, der Antike nicht fremd,62 doch waren sie in der römischen Republik weniger überzeugend. Was C. Gracchus für die Getreideverteilungen ausgab, hatten nicht zuvor die Reichen überproportional eingezahlt, sondern die unterworfenen Provinzbewohner, um die sich weder die Senatoren noch die plebs sonderlich kümmerten. So verschob sich die Argumentation in Rom auf die Erschöpfung der Staatsfinanzen durch die Finanzierung der Getreideverteilungen63 und auf die Erschlaffung des Volkes, das sich auf die faule Haut lege und sich nicht mehr um die Finanzierung des Lebens durch Arbeit bemühe.64 Interessant ist aber der völlig egalitäre Ansatz bei der Verteilung des Getreides, und er sagt uns etwas über die Maßstäbe der Gerechtigkeit in Rom. Mit der Einschränkung, dass nur männliche römische Bürger, die in der Stadt Rom lebten, bezugsberechtigt waren, ging die gleiche Zuweisung an alle, die bereit waren, sich zum richtigen Zeitpunkt anzustellen. Die mit der Berücksichtigung der gradus dignitatis verknüpfte proportionale Gerechtigkeit galt nach oben, aber nicht nach unten, und das zeigt auch, wem die Gerechtigkeit zu dienen hatte. Es war einem Scipio nicht 68 | Martin Jehne
zuzumuten, sich einem Unterschlagungsprozess zu stellen, es war für einen Caesar unerträglich, für seine Siege nicht mit Ehrungen und konkreten Privilegien bei der geplanten Bewerbung um ein neues Consulat belohnt zu werden, aber der formale Ausschluss der Reichen vom Empfang von Getreide zu subventionierten Preisen war keine Option. Das suum cuique, mit dem die Gerechtigkeit verbunden war, legte der Gemeinschaft die Verpflichtung auf, für die angemessene Zuweisung von Ehre und Rang zu sorgen, nicht aber die Verpflichtung, bei materieller Bedürftigkeit von Bürgern zu reagieren. Insofern stellte die necessitas, die Notwendigkeit, mit der C. Gracchus die Getreideverteilung gerechtfertigt haben soll, tatsächlich einen neuen Ansatz dar.
A n m e r kun ge n 1 Zur Verwendung von iustitia und aequitas vgl. die interessanten quantitativen Daten bei G. Thome, »Iustitia – Geschichte eines Wortes und einer Idee«, Anregung 45 (1999), S. 150, die festgestellt hat, dass in der Zeit vor Tertullian iustitia nur ca. 250 Mal, aequitas dagegen ca. 500 Mal auftaucht. 2 Vgl. zur bellum-iustum-Theorie Ciceros und danach zuletzt K.M. Girardet, »›Gerechter Krieg‹. Von Ciceros Konzept des bellum iustum bis zur UNO-Charta«, Gymnasium 114 (2007), S. 1–35 (mit älterer Literatur). 3 Die formalisierten Schritte zum Krieg wie auch zum Friedensschluss sind mit dem Priesterkollegium der Fetialen verbunden, vgl. dazu vor allem Th. Wiedemann, »The fetiales: a Reconsideration«, Classical Quarterly 36 (1986), S. 478–490 und neuerdings F. Santangelo, »The Fetials and their ius«, Bulletin of the Institute of Classical Studies 51 (2008), S. 1–49 (mit der älteren Literatur). Zu Recht hebt A.M. Eckstein, Mediterranean Anarchy, Interstate War, and the Rise of Rome, Berkeley / Los Angeles / London 2006, S. 121; 216 f. hervor, dass die Mechanismen nicht dazu angetan waren, einen Krieg noch zu vermeiden. 4 Vgl. zu dem Ereignis und der römischen Reaktion u.a. M. Jehne, »Cato und die Bewahrung der traditionellen res publica. Zum Spannungsverhältnis zwischen mos maiorum und griechischer Kultur im zweiten Jahrhundert v.Chr.«, in: G. Vogt-Spira / B. Rommel (Hgg.), Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma, Stuttgart 1999, S. 119–126. 5 Cicero, De re publica 3,28; 30 f. Zur Rede des Furius Philus, der in Ciceros Schrift De re publica die Gedanken des Karneades widergibt, vgl. J.-L. Ferrary, »Le discours du Philus (Cicéron, de re publica, III, 8–31) et la philosophie de Carnéade«, Revue des Études Latines 55 (1977), S. 128–156. 6 Vgl. Lactantius, Divinae institutiones 5,16,1–13 über die Argumentation des Karneades, die er wesentlich aus der Rede des Laelius in Ciceros De re publica herausgezogen hat (die Kritik des Lactanz an Ciceros Widerlegungsversuch ebd. 13). Vgl. dazu auch J.-L. Ferrary, »Le discours Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 69
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de Laelius dans le troisième livre du De re publica de Cicéron«, Mélanges de l’École française de Rome, Antiquité, 86 (1974), S. 745–771. Aristoteles, Nikomachische Ethik V 5–7, 1131 a-1132 b. Vgl. P. Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin 1955, S. 89–104; L. Ostwaldt, Aequitas und Justitia. Ihre Ikonographie in Antike und Früher Neuzeit, Halle 2009, S. 36–38. Livius 38,50,5–9: P. Scipioni Africano, ut Valerius Antias auctor est, duo Q. Petillii diem dixerunt. Id, prout cuiusque ingenium erat, interpretabantur. Alii non tribunos plebis, sed uniuersam ciuitatem, quae id pati posset, incusabant: duas maximas orbis terrarum urbes ingratas uno prope tempore in principes inuentas, Romam ingratiorem, si quidem uicta Carthago uictum Hannibalem in exilium expulisset, Roma uictrix uictorem Africanum expellat. Alii, neminem unum ciuem tantum eminere debere, ut legibus interrogari non possit; nihil tam aequandae libertatis esse quam potentissimum quemque posse dicere causam. Quid autem tuto cuiquam, nedum summam rem publicam, permitti, si ratio non sit reddenda? Qui ius aequum pati non possit, in eum uim haud iniustam esse. Livius 38,50,5. Für die Fragmente von Valerius Antias, mit Kommentierung und kurzer Einführung, vgl. H. Beck / U. Walter (Hgg.), Die Frühen Römischen Historiker II, Darmstadt 2004, Nr. 15, S. 168– 240. Der schlechte Ruf des Valerius Antias als Geschichtsschreiber ist nun ein wenig relativiert worden von J. Rich, »Valerius Antias and the construction of the Roman past«, Bulletin of the Institute of Classical Studies 48 (2005), S. 137–161; vgl. auch meine Überlegungen: M. Jehne, »Der Hirschfaktor des Valerius Antias«, in: A. Heil / M. Korn / J. Sauer (Hgg.), Noctes Sinenses. Festschrift für Fritz-Heiner Mutschler, Heidelberg 2011, S. 201–209 (statt »Hirschfaktor« hätte ich »Impact-Faktor« verwenden müssen). Widersprüche und Unklarheiten in unserer Überlieferung über die Scipionenprozesse diskutiert in vorbildlicher Weise E.S. Gruen, »The ›Fall‹ of the Scipios«, in: I. Malkin / Z.W. Rubinsohn (Hgg.), Leaders and Masses in the Roman World, Studies in Honor of Zvi Yavetz, Leiden / New York / Köln 1995, S. 59–90 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur). So der Lösungsvorschlag von Gruen, The ›Fall‹ (o. Anm. 10), S. 74–88, der bestechend ist, jedoch hypothetisch bleiben muss. Gruen (S. 74) konstatiert zu Recht: »No reconstruction can reconcile all the conflicting testimony«. Livius 38,56,9. Ebd. 38,50,10–12. Ebd. 38,51,1–5. Ebd. 38,51,6. Ebd. 38,51,6–11. Ebd. 38,51,12. Dass die Bürger Scipio nicht nur zum Capitol begleiteten, sondern mit ihm von dort aus zu anderen Tempeln der Stadt zogen, berichtet Livius 38,51,13. Livius 38,52,1.
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20 Livius 38,52,2: Maior animus et natura erat ac maiori fortunae adsuetus, quam ut reus esse sciret et submittere se in humilitatem causam dicentium. 21 Livius 38,52,8–53,7. 22 Livius 38,50,9 (o. Anm. 8). 23 Livius 38,52,11: ad id fastigium rebus gestis, honoribus populi Romani P. Scipionem deorum hominumque consensu pervenisse, ut sub rostris reum stare et praebere aures adulescentium conviciis populo Romano magis deforme quam ipsi sit. 24 Cicero, De re publica 1,43: [...] cum omnia per populum geruntur quamvis iustum atque moderatum, tamen ipsa aequabilitas est iniqua, cum habet nullos gradus dignitatis. Vgl. zur aequabilitas bei Cicero E. Fantham, »Aequabilitas in Cicero’s Political Theory, and the Greek Tradition of proportional Justice«, Classical Quarterly 23 (1973), S. 285–290. 25 Livius 38,53,4: Nullisne meritis suis, nullis vestris honoribus umquam in arcem tutam et velut sanctam clari viri pervenient, ubi, si non venerabilis, inviolata saltem senectus eorum considat? 26 Vgl. den Klassiker von Th. Mommsen, »Die Rechtsfrage zwischen Caesar und dem Senat«, Abhandlungen der historisch-philologischen Gesellschaft in Breslau 1 (1857), S. 1–58. Grundlegend zum Bürgerkriegsausbruch ist das Buch von K. Raaflaub, Dignitatis contentio. Studien zur Motivation und politischen Taktik im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, München 1974; zuletzt R. Morstein-Marx, »Caesar’s Alleged Fear of Prosecution and His ratio absentis in the Approach to the Civil War«, Historia 56 (2007), S. 159–178 (mit weiterer Literatur). 27 Caesar, Bellum civile 1,7,8; 22,5 (u. Anm. 31). Vgl. Raaflaub, Dignitatis contentio (o. Anm. 26), S. 152–155. 28 Caesar, Bellum civile 1,7,7: Hortatur, cuius imperatoris ductu VIIII annis rem publicam felicissime gesserint plurimaque proelia secunda fecerint, omnem Galliam Germaniamque pacaverint, ut eius existimationem dignitatemque ab inimicis defendant. 29 Caesar, Bellum civile 1,9,2: Sibi semper primam fuisse dignitatem vitaque potiorem. 30 Caesar, Bellum civile 1,9,2-4. 31 Caesar, Bellum civile 1,22,5: Cuius orationem Caesar interpellat: se non malefici causa ex provincia egressum sed uti se a contumeliis inimicorum defenderet, ut tribunos plebis in ea re ex civitate expulsos in suam dignitatem restitueret, ut se et populum Romanum factione paucorum oppressum in libertatem vindicaret. 32 Caesar, Bellum civile 1,32,4: Patientiam proponit suam, cum de exercitibus dimittendis ultro postulavisset, in quo iacturam dignitatis atque honoris ipse facturus esset. 33 Caesar, Bellum civile 3,91,2: Hic signo dato ›Sequimini me,‹ inquit, ›manipulares mei qui fuistis, et vestro imperatori quam constituistis operam date. Unum hoc proelium superest; quo confecto et ille suam dignitatem et nos nostram libertatem reciperabimus.‹ 34 Caesar erhielt Dankfeste in nie dagewesener Länge und Frequenz: 57 für 15 Tage (Caesar, Bellum Gallicum 2,35,4), 55 für 20 Tage (ebd. 4,38,5), 52 erneut für 20 Tage (ebd. 7,90,8). Welche Bedeutung diese Dankfeste für den Status des Feldherren hatten, verdeutlich Cicero, De provinciis consularibus 26. Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 71
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35 Caesar, Bellum civile 1,13,1: Advento Caesaris cognito decuriones Auximi ad Attium Varum frequentes conveniunt; docent sui iudici rem non esse; neque se reliquos minicipes pati posse C. Caesarem imperatorem, bene de re publica meritum, tantis rebus gestis oppido moenibusque prohiberi: Proinde habeat rationem posteritatis et periculi sui. 36 Hirtius, Bellum Gallicum 8,50,3: [...] propterea quod insolenter adversarii sui gloriarentur Lucium Lentulum et Gaium Marcellum consules creatos, qui omnem honorem et dignitatem Caesaris spoliarent, [...] 37 Vgl. Raaflaub, Dignitatis contentio (o. Anm. 26), S. 219–225. 38 Caesar, Bellum civile 1,35,3: Cuius orationem legati domum referunt atque ex senatus auctoritate haec Caesari renuntiant: intellegere se divisum esse populum Romanum in partis duas. Neque sui iudici neque suarum esse virium discernere, utra pars iustiorem habeat causam. 39 Caesar, Bellum civile 1,7,1–6; 85,8 f. 40 Caesar, Bellum civile 1,8,3: Caesarem quoque pro sua dignitate debere et studium et iracundiam suam rei publicae dimittere neque adeo graviter irasci inimicis, ut cum illis nocere se speret rei publicae noceat. 41 Vgl. zu den zeitgenössischen Negativurteilen über Caesars Einmarsch H. Strasburger, Caesar im Urteil seiner Zeitgenossen, Darmstadt ²1968, S. 34–43. 42 Caesar, Bellum civile 1,4,4: Ipse Pompeius, ab inimicis Caesaris incitatus et quod neminem dignitate secum exaequari volebat, totum se ab eius amicitia averterat et cum communibus inimicis in gratiam redierat, [...] 43 Caesar, Bellum civile 1,9,3; 32,4. 44 Lucanus, Pharsalia 1, 128: Victrix causa deis placuit, sed victa Catoni. 45 Die umfassendsten Informationen zu den Gracchen bietet nach wie vor D. Stockton, The Gracchi, Oxford 1979. 46 Vgl. für die Abfolge der Getreidegesetze z.B. C. Virlouvet, »Les lois frumentaires d’époque républicaine«, in: Le ravitaillement en blé de Rome et des centres urbaines des débuts de la République jusqu’au Haut Empire, Actes du colloque international de Naples (1991), Napoli / Roma 1994, S. 11–29. 47 Cicero, Tusculanae disputationes 3,48: Piso ille Frugi semper contra legem frumentariam dixerat. is lege lata consularis ad frumentum accipiendum venerat. animum advertit Gracchus in contione Pisonem stantem; quaerit audiente p.R., qui sibi constet, cum ea lege frumentum petat, quam dissuaserit. ›nolim‹, inquit, ›mea bona, Gracche, tibi viritim dividere libeat, sed, si facias, partem petam.‹ 48 Cicero, Tusculanae disputationes 3,48: et quidem C. Gracchus, cum largitionibus maximas fecisset et effudisset aerarium, verbis tamen defendebat aerarium. [...] parumne declaravit vir gravis et sapiens [sc. Piso] lege Sempronia patrimonium publicam dissupari? lege orationes Gracchi, patronum aerarii esse dices. 49 Vgl. etwa G. Rickman, The Corn Supply of Ancient Rome, Oxford 1980, S. 159. 50 Vgl. J. v. Ungern-Sternberg, »Die politische und soziale Bedeutung der spätrepublikanischen leges frumentariae« (1991), in: ders., Römische Studien. Geschichtsbewußtsein – Zeitalter der Gracchen – Krise der Republik, Leipzig 2006, S. 299. 72 | Martin Jehne
51 Vgl. zur Kassenaufsicht des Senats Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht III 2 (³1888), Ndr. Graz 1967, bes. S. 1141 f. 52 Gellius, Noctes Atticae 9,14,16–18: C. Gracchus de legibus promulgatis: Ea luxurii causa aiunt instituti; et ibidem infra ita scriptum est: Non est ea luxuries, quae necessario parentur vitae causa, [...]. Stockton, The Gracchi (o. Anm. 45), S. 222 bezieht diese Fragmente einleuchtend auf die lex frumentaria. 53 Vgl. v. Ungern-Sternberg, »Bedeutung« (o. Anm. 50), S. 301–303. 54 Cicero, Pro Sestio 103: Frumentariam legem C. Gracchus ferebat: iucunda res plebei, victus enim suppeditabatur large sine labore. 55 Florus 2,1,1: Inerat omnibus species aequitatis. 56 Ders., 2,1,2: Quid tam iustum enim quam recipere plebem sua a patribus, ne populus gentium victor orbisque possessor extorris aris ac focis ageret? 57 Dies ist auch sonst greifbar, vgl. v. Ungern-Sternberg, »Bedeutung« (o. Anm. 50), S. 299 f. 58 Cicero, De inventione 2,160: iustitia est habitus animi communi utilitate conservata suam cuique tribuens dignitatem. Zum griechischen Hintergrund Thome, »Iustitia« (o. Anm. 1), S. 152 f. 59 Vgl. Thome, »Iustitia« (o. Anm. 1), S. 154. 60 Im Übrigen wird auch in Livius’ Geschichte über den Prozess gegen L. Scipio der Volkstribun Ti. Gracchus tätig, um den Angeklagten vor der Härte der gesetzlichen Möglichkeiten zu bewahren: Gracchus hält es für unmöglich, dass Lucius Scipio ins Gefängnis geführt wird, in das sein Bruder Publius so viele Feinde verbracht hatte (Livius 38,57,4; vgl. auch Cicero, De provinciis consularibus 18). 61 Livius 38,53,4 (o. Anm. 25). 62 Vgl. etwa Pseudo-Xenophon, Athenaion politeia 1,13. 63 Der Realitätsgehalt dieser Behauptung ist in Ermangelung präziser Informationen über Marktpreise, Teilnehmerzahlen und Staatseinnahmen nicht so leicht zu überprüfen, aber wie F. Meijer, »The Financial Aspects of the leges frumentariae of 123–58 BC«, Münstersche Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 9.2 (1990), S. 14–23 mit seinen Berechnungen gezeigt hat, konnte sich die res publica die Ausgabe offenbar leisten (vgl. auch v. Ungern-Sternberg, »Bedeutung«[o. Anm. 50], S. 296–300). Das änderte sich laut Meijer, S. 20–22 erst 58 v.Chr., als Clodius durchsetzte, dass jetzt das Getreide kostenlos abgegeben wurde. 64 Vgl. v. Ungern-Sternberg, »Bedeutung« (o. Anm. 50), S. 300 f. (mit einigen Belegen).
Gerechtigke it s ko nkur re nze n in d e r p o l it is che n P rax i s de r röm i sc h e n Re pu bl i k | 73
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Roberto Lambertini
EINLEITUNG: GERECHTIGKEIT ZWISCHEN EINDEUTIGKEIT UND VIELDEUTIGKEIT Die Anlage dieses Bandes sieht für jede Epoche die Grundunterscheidung zwischen konzeptioneller Ebene und Handlungsebene vor, ohne freilich Zusammenhänge zwischen den beiden Ebenen zu vernachlässigen. Für die Sektion Mittelalter bedeutet dieses Schema, dass zuerst die Theorien der Gerechtigkeit in Betracht gezogen werden, um dann die Aufmerksamkeit auf die Darstellung oder Rechtfertigung einiger politischen Handlungen zu richten, in denen der ›Diskurs der Gerechtigkeit‹ eine wichtige Rolle spielt. Auf der konzeptionellen Ebene ist Gerechtigkeit im Mittelalter in erster Linie eine Tugend, d.h. eine Eigenschaft der Seele, wie auch dem Beitrag von Mirko Breitenstein zu entnehmen ist. Schon im Hochmittelalter haben sich die Theologen gefragt, ob eine solche Eigenschaft durch Wiederholung von Handlungen erworben oder unmittelbar von Gott eingegeben wird. Nach der Aneignung von aristotelischem Gedankengut wird diese Diskussion mit neuen sprachlichen und begrifflichen Mitteln weitergeführt, wodurch zugleich neue Probleme auftauchen. Nach der Rezeption der Nikomachischen Ethik versuchen z.B. verschiedene Autoren, die herkömmliche Deutung der Gerechtigkeit als Kardinaltugend mit der Definition der Gerechtigkeit zu harmonisieren, wie sie im fünften Buch der Nikomachischen Ethik zu lesen steht. Im Kontext dieser Versuche entsteht jene berühmte iustitia generalis des Thomas von Aquin, die mit allen anderen Tugenden identisch ist, insofern sie auf das bonum commune bzw. auf das Gesetz orientiert sind. Aegidius Romanus rezipiert in seinem erstaunlich erfolgreichen Fürstenspiegel diese thomistische Lehre. Mirko Breitenstein betont zu Recht, dass die Gerechtigkeit in der Tradition der Fürstenspiegel vor allem als eine Tugend des Herrschers gedeutet wird, obwohl auch die Untertanen sie in einem schwächeren Grad besitzen können. Diese Grundeinstellung kommt ebenso in De regimine principum des Aegidius Romanus zum Ausdruck: Nach dem Augustinereremiten besteht die Gerechtigkeit des Herrschers darin, dass der gerechte Herrscher Gesetze nach den im Naturgesetz fundierten Regeln erlassen soll, während der gerechte Untertan sich darauf beschränkt, diesen Gesetzen zu gehorchen. Das Beispiel des Aegidius zeigt aber auch, wie Breitenstein bemerkt, dass die Gerechtigkeit des Herrschers ihre personalisierte Konnotation allmählich verliert, um zu einer Eigenschaft zu werden, die zur korrekten Ausführung einer formellen Funktion dient. In der Tat spielt im Verständnis der Gerechtigkeit als Tugend mit der Zeit Ge re cht igke it zw is che n Einde u t i g ke i t u n d Vi e l de u t i g ke i t | 77
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das Verhältnis zum Gesetz eine immer größere Rolle, zumindest was die Fürstenspiegel angeht. Hierzu liefert der Beitrag von Bernd Schneidmüller sehr passende Beispiele aus der Handlungsebene, die einer gründlichen Analyse unterzogen werden. Nach seiner Hauptthese hat der von Reformpäpsten wie Gregor VII. vertretene strenge Gerechtigkeitsbegriff dazu geführt, dass auch die weltlichen Herrscher ihre Gerechtigkeit immer mehr als rigorose Anwendung von Regeln und immer weniger als Gnadenerweis empfanden. Das habe auch eine wesentliche Beschränkung ihrer Handlungsfähigkeit mit sich gebracht. Diese Änderung in der Deutung der Gerechtigkeit erörtert Schneidmüller anhand von zwei Beispielen: Zunächst der von Wipo dargestellten clementia Konrads II. sowie dem rigor iustitiae Friedrichs I., der von seinem Onkel Otto gepriesen wird. Ein Schritt in dieselbe Richtung wird an einem weiteren Fall erkennbar: Schneidmüller vergleicht wiederum das Verhalten Friedrichs I. gegenüber Heinrich dem Löwen, als sich der besiegte Herzog am Ende bedingungslos unterwarf, mit dem seines Enkels Friedrichs II., als er die grausame Bestrafung der Rebellen von Capaccio kundgab. Die Tränen des Großvaters verrieten – so Schneidmüller –, dass er sich seiner Fähigkeit beraubt fühlte, über alle Regeln hinweg gnädig zu sein; Friedrich II. hingegen war stolz auf seine Unerbittlichkeit. Der Erste konnte nicht clemens sein, der Zweite wollte es nicht mehr. Diese Ausführungen zeigen, wie sich die Vorstellung der Gerechtigkeit des Herrschers innerhalb von wenigen Generationen verändert. Eine ähnliche Verschiebung lässt sich auch auf konzeptioneller Ebene feststellen. Vergebens würde man in De regimine principum des Aegidius nach einer der clementia des Fürsten gewidmeten Abteilung suchen. Als Gesetzgeber, der über sich nur das göttliche und das natürliche Gesetz hat, darf zwar der Herrscher auch Ausnahmen gegenüber dem von ihm erlassenen Gesetz machen. Das wird eher als Form von Billigkeit (epieikeia) denn von clementia interpretiert, obwohl der letztgenannte Begriff in De regimine ebenfalls vorkommt. Die aristotelische Billigkeit ist aber vor allem die Fähigkeit, das immer zu generell formulierte Gesetz an den besonderen Fall anzupassen. Bernd Schneidmüller vermerkt zu Recht, »die Gerechtigkeit wurde im Mittelalter in der Eindeutigkeit gedacht und in der Vieldeutigkeit gelebt«. Damit meint er, dass das, was als ›transzendenter‹ Wert auf der konzeptionellen Ebene verstanden wurde, in der Praxis nicht nur dem Wandel der kollektiven Vorstellungen ausgesetzt war, sondern überhaupt nur durch Kompromisse und Aushandlungen verwirklicht werden konnte. Vielleicht ist die schöne Formulierung geeignet, die Lage in mehreren, wenn nicht in allen Epochen zu charakterisieren. Tatsächlich ändern sich Gerechtigkeitsvorstellungen mit der Zeit, und auch in derselben Epoche werden sie auf verschiedene Weise in die Tat umgesetzt. Das aber ist kein ausreichender Grund dafür, von der Idee der Gerechtigkeit als solcher Abschied 78 | Rob erto Lam b e r t ini
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nehmen zu wollen. Mit Theodor Adorno könnte man sagen, dass sonst das Risiko eingegangen würde, »mit dem Unwahren auch alles Wahre auszurotten«. Die von den Mönchen als Bestandteil ihrer asketischen imitatio Christi gelebte Gerechtigkeit bewegt sich in der Tat in einer ganz anderen Dimension. Albertus Magnus oder Thomas von Aquin hätten gesagt, eine solche Gerechtigkeit sei keine Eigenschaft der Seele, sondern eine habitudo zu Gott. Gerechtigkeit wäre somit einer der vielen Namen der Vollkommenheit, die Gott allein besitzt und die der Mensch anstrebt. Im Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit als Tugend in ›klassischem‹ Sinne und als Aspekt der supererogatorischen christlichen perfectio bewegt sich die Reflexion der sogenannten monastischen Theologie, welche von Mirko Breitenstein vor allem anhand der Texte Bernhards von Clairvaux dargestellt wird. Dass Gott gerecht ist, heißt aber auch, dass Ungerechtigkeit in der Geschichte nicht das letzte Wort haben kann. So belebt im Mittelalter der Diskurs der Gerechtigkeit die Reformbestrebungen, seien sie apokalyptischer/chiliastischer Natur oder nicht. So konnte 1412 Jan Hus allen Ernstes schriftlich und formell gegen den Papst und sein Urteil an Christus als den einzig wahren und gerechten Richter appellieren und von ihm Gerechtigkeit erwarten. Die transzendente Verankerung der Gerechtigkeit im Mittelalter kann deshalb auch eine Relativierung der bestehenden sozialen Ordnung bedeuten und einen Impuls zu ihrer Veränderung auslösen.
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Mirko Breitenstein
DIE BEGRÜNDUNG DER BESTEN ORDNUNG Gerechtigkeitskonzeptionen im Mittelalter Eines der bekanntesten Zeugnisse politischer Theorie im späten Mittelalter sind Dante Alighieris († 1321) Drei Bücher über die Monarchie. Seine programmatische Stellungnahme im großen Konflikt der Universalmächte Papsttum und Kaisertum diente nicht zuletzt dem Nachweis, dass sich das Endziel der Menschheit nur in einer allgemeinen und universalen Monarchie verwirklichen lasse. Anhand verschiedener Einzelaspekte behandelt der Traktat die Frage nach der besten Regierungsform. Diese sei, so Dante, wesentlich durch Gerechtigkeit geprägt. Es heißt: »Überdies ist die Welt am besten geordnet, wenn in ihr die Gerechtigkeit am meisten Macht besitzt. […] Die Gerechtigkeit besitzt allein unter der Herrschaft des Monarchen am meisten Macht. Also ist für die beste Ordnung der Welt die Monarchie oder das Imperium unerläßlich.«1 Für die Frage nach Gerechtigkeit als Ausdruck des menschlichen Verlangens nach Vollkommenheit sind die Voraussetzungen dieser logischen Ableitung von größerer Bedeutung als ihre Schlussfolgerung: Dante zufolge bezeichnet Gerechtigkeit einerseits einen idealen Zustand der Weltordnung und ist andererseits auf das engste mit dem Phänomen ›Macht‹ verbunden. Es werden jedoch noch weitere Erläuterungen und Präzisierungen gegeben. So müsse man wissen, »daß die Gerechtigkeit von sich aus und in ihrem Wesen betrachtet eine gewisse Gradheit oder ein Maßstab ist, welcher das Unrechtmäßige nach beiden Seiten von sich weist«. Auch sei »die Gerechtigkeit eine Tugend […], welche die anderen Menschen betrifft«. Niemand könne daher gerecht genannt werden, der nicht jedem das Seine zukommen lasse.2 Mit diesen Bestimmungen bewegt sich der Florentiner Dichter und Philosoph innerhalb der Konventionen seiner Zeit: Gerechtigkeit ist ihm Ideal, Maßstab der Rechtmäßigkeit und Tugend. Sein Standpunkt benennt in knapper Form wesentliche Punkte des Gerechtigkeitsverständnisses im Mittelalter und geht dennoch in hohem Maße über dieses hinaus. Denn: Vollkommene Gerechtigkeit, wie sie unter dem Imperium des Monarchen herrschen würde, hat ihren Bezugspunkt nämlich nicht mehr ausschließlich im Jenseits, wie es zur Zeit der Entstehung des Werkes am Beginn des 14. Jahrhundert üblich war. Ihre Referenz liegt vielmehr ebenso in einem irdischen Paradies, das überdies ganz real gedacht wird. Insofern Dante neben das ewige jenseitige Ziel ein zweites und gleichwertiges vergängliches setzt, 80 | Mirko Breite ns t e in
ist seine Gerechtigkeit auch auf die höchste Vervollkommnung der Welt um ihrer selbst willen bezogen. In einer vollkommenen Welt schien vollkommene Gerechtigkeit möglich. * Im Folgenden seien einige Facetten der Entwicklung des Begriffs von Gerechtigkeit im Mittelalter vorgestellt, wobei das menschliche Verlangen nach Vollkommenheit im Mittelpunkt stehen soll. In Anbetracht der zu behandelnden Zeitspanne, die das europäische Mittelalter auch bei knappster Bestimmung umfasst, muss diese Präsentation sich dabei auf eine schmale Auswahl beschränken. Große zeitliche Sprünge sind angesichts des Vorhabens ebenso wenig zu vermeiden wie Verknappungen und Auslassungen. Bei der Auswahl des Materials stand die Absicht im Vordergrund, vorrangig solche Konzepte zu präsentieren, die eine nachweislich breite Wirkung hatten oder aber in praktischer Absicht entworfen wurden. Trotz dieser Einschränkungen ist die Menge relevanter Quellen und Themenfelder für das Mittelalter kaum zu überschauen: Die Diskussion um den gerechten Preis wurde ebenso intensiv geführt wie die um den gerechten Krieg; die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit prägte nicht nur die Theologie, sondern auch die Rechtswissenschaft; nachhaltigen Einfluss bis in die Moderne hatte das insbesondere in den Paulinischen Schriften entworfene Verhältnis von Gnade und Rechtfertigung; schließlich sind die im Anschluss an die seit dem 13. Jahrhundert einsetzende Wiederentdeckung der ethischen und politischen Schriften des Aristoteles († 322 v. Chr.) einsetzenden vielfältigen Rezeptionsprozesse der antiken Ethik von höchster Bedeutung für die Geschichte Europas bis in die Gegenwart. Auf all diese Gesichtspunkte und weitere mehr soll allenfalls am Rande eingegangen werden. Stattdessen werde ich mich auf zwei Aspekte konzentrieren, die mir geeignet scheinen, die Besonderheiten der Gerechtigkeitskonzepte im Mittelalter zu veranschaulichen: zum einen auf die Verknüpfung von Gerechtigkeit und Macht durch die Verpflichtung des weltlichen Herrschers zu gerechter Herrschaft; zum anderen auf das Streben nach vollkommener Gerechtigkeit durch die religiösen Eliten. Vorangeschickt seien jedoch noch einige Beobachtungen zur Spezifik von Gerechtigkeit im vom Christentum geprägten lateinischen Mittelalter, da die entsprechenden Konzepte zwar in einer deutlichen Kontinuität zu den antiken Bestimmungen des Begriffs stehen, in den folgenden vier Punkten aber doch entscheidend von diesen abweichen. Zunächst ist auf die Tradition des Neuplatonismus zu verweisen. Für das Mittelalter bedeutsam war vor allem Plotins († 270) Unterscheidung von bürgerlichen und höheren Tugenden, die nachfolgend vor allem von Porphyrios († 301-05) fortentwickelt wurde.3 Ein entsprechender Einfluss ist namentlich für das Werk D ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 81
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des Augustinus († 430) nachweisbar, der in neuplatonischer Tradition zwischen vorläufigen irdischen und ewigen vollkommenen Ausformungen der Gerechtigkeit unterschied.4 Daher haben die den Bedingungen des Diesseits verpflichteten menschlichen Handlungen keinen absoluten, sondern einzig einen relativen Wert. Mithin kommt auch der Gerechtigkeit – ebenso wie allen anderen Tugenden – keineswegs der Status eines höchsten Gutes zu. Vielmehr handelt es sich für Augustinus um Hilfsmittel, mit denen sich der Mensch unter den irdischen Bedingungen zu bewähren habe. Eine vollkommene Gerechtigkeit schien somit auf Erden nicht einmal denkbar. Ein weiterer Unterschied des verchristlichten Begriffs von Gerechtigkeit im Mittelalter zu dem der Antike betrifft ihre Verankerung: Im Vergleich zu den tradierten Konzepten ist Gerechtigkeit im Neuen Testament in einer bisher nicht bekannten Weise auf eine höchste Instanz bezogen. Diese setzt nicht allein den Maßstab dafür, was als gerecht zu gelten hat, sondern orientiert menschliche Gerechtigkeit auf sich. Gott ist somit der unmittelbare Bezugspunkt jeder gerechten Handlung. Gerechtigkeit – und mit ihr jede weitere Tugend – verliert dadurch ihren moralischen Eigenwert und wird zum Indikator für die Qualität der Beziehung des Menschen zu Gott. Ein Fehlen von Gerechtigkeit wiederum wird nicht mehr schlicht als ein Mangel an Tugend begriffen, sondern als Ausdruck eines Verstoßes gegen göttliche Gebote und mithin als Sünde. Dennoch stellt, und damit komme ich zum nächsten Differenzmerkmal, Gerechtigkeit in der besonders wirkmächtigen Sicht des Augustinus keine Notwendigkeit irdischer Gemeinwesen dar. In seinem Spätwerk über den Gottesstaat (De civitate Dei) hatte der Kirchenvater, ausgehend von Ciceros († 43 v. Chr.) Schrift »Über das Gemeinwesen« (De re publica), den Zusammenhang von Gerechtigkeit und staatlicher Ordnung diskutiert, wobei er zu dem Schluss kam, dass Gerechtigkeit kein staatsdefinierendes Merkmal sei.5 Dies gilt jedoch – und diese Unterscheidung ist bedeutsam – allein für die irdische Bürgerschaft (civitas terrena), für die Welt nach dem Sündenfall. Diese sei, so der pointierte Vergleich, kaum von einer Räuberbande zu unterscheiden. Einzig in Gottes Staat, der civitas Dei, herrsche eine wahre und mithin vollkommene Gerechtigkeit. Auf Erden hingegen könne eine solche Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden.6 Als vierte Neuerung im christlichen Verständnis von Gerechtigkeit sei abschließend auf die Verknüpfung des Vollkommenheitsstrebens mit der Forderung nach Gerechtigkeit im Neuen Testament verwiesen. Sie ist gleichsam eine der ideologischen Grundlagen des Mittelalters. Während die einem jeden Christen auferlegten Pflichten der zehn Gebote, des Dekalogs, die allgemein verbindlichen Normen der gesellschaftlichen Ordnung markierten, waren die in der Bergpredigt gepriesenen Verhaltensweisen geeignet, einen eigenen und besonderen Zugang zur Seligkeit zu eröffnen. Eine solche Ethik der Überbietung war der Antike unbekannt.7 Die Schei82 | Mirko Breite ns t e in
dung in geforderte Handlungen und solche, die über das geforderte Maß hinausgehen, ist ein Novum der neutestamentlichen Weltdeutung. Dabei ist das Verhältnis von Gebotenem und Geratenem keineswegs das zweier Pole; vielmehr verstand man die Erfüllung der consilia – des Geratenen – als in höchstem Maße heilswirksam, wenn man sie für sich selbst als praecepta – als Gebote – setzte und befolgte. Es musste mithin darum gehen, das Gebotene und das Geratene zu wollen, zu verinnerlichen und zu leben. Das Streben nach Vollkommenheit ist somit nicht nur denkbar, sondern angeraten. Die hierfür erforderlichen ethischen Normen seien dem Menschen eingeprägt, weil er nach dem Vorbild Gottes geschaffen wurde.8 »In Gott erblicken wir ja die unwandelbare Gestalt der Gerechtigkeit, nach der, wie wir urteilen, der Mensch zu leben gehalten ist«,9 formulierte Augustinus. Eine gerechte Ordnung resultiert somit aus der Befolgung des obersten christlichen Gebotes, des Doppelgebotes der Gottes- und Nächstenliebe: »Diese Ordnung aber ist, daß er zunächst einmal keinem schade, sondern nütze, wem er kann«, merkte Augustinus mit Rekurs auf das bekannte Gerechtigkeitsprinzip der »Goldenen Regel« an10 und betonte damit vor allem die ethische Verpflichtung des Einzelnen zur Gerechtigkeit. Ungeachtet dieser natürlichen Veranlagung der Menschen zur Gerechtigkeit als Folge ihrer Gottesebenbildlichkeit ist ihnen die Verpflichtung zum gerechten Handeln und zur Verwirklichung eines gerechten Zustandes in verschiedenen Graden auferlegt. Als Kriterium wurde nicht systemisch, wohl aber faktisch die Lebensform und Positionierung innerhalb der Gesellschaft begriffen. Zwei Gruppen wurde dabei eine besondere Nähe und Verpflichtung zur Gerechtigkeit zugesprochen: den Trägern weltlicher Herrschaft einerseits und denjenigen, die sich die Ratschläge des Neuen Testaments selbst zum Gesetz bestimmt hatten, andererseits. Beide seien im Hinblick auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Gerechtigkeit kurz vorgestellt. * Die Verpflichtung der Fürsten zur Gerechtigkeit war in erster Linie alttestamentlich fundiert. »Liebt Gerechtigkeit, ihr Herrscher der Erde«, heißt es programmatisch gleich am Beginn des Buchs der Weisheit. Weltliche Herrschaft, so verstand man diese Aussage, wurde immer in Stellvertretung geübt. Gerecht wie Gott hatte auch der jeweilige Amtswalter zu sein. Da seine Herrschaft zugleich ihre Legitimation in Gott besaß, kam dem Fürsten auch die Macht Gottes zu, die ihm zur Wahrung der Ordnung und Korrektur eventueller Verstöße gegeben war. Jeder Zweifel an der Gerechtigkeit des Herrschers war somit ein Zweifel an seiner Macht und eine Infragestellung seiner Legitimation. Eine solche Perspektive ist bereits im frühen Christentum erkennbar, als das Verhältnis von Religion und Politik durch eine Erwartung der unmittelbaren WieD ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 83
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derkehr Christi und die Verfolgungen generell erschüttert war. Auch die Konstantinische Wende und schließlich die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion sind Folgen dieser Konstellation. Spätestens seit der an Cicero orientierten Pflichtenlehre des Mailänder Bischofs Ambrosius († 397) war iustitia als Kennzeichen des tugendhaften Menschen auch in den intellektuellen Diskursen der lateinischen Christenheit präsent.11 Da Christen durch die Erfüllung der Gebote von Gottesund Nächstenliebe die Ungerechtigkeit überwänden und eine natürliche Affinität zur Gerechtigkeit besäßen, sah Augustinus in ihnen schließlich sogar die besseren Herrscher.12 Macht und Tugend wurden in einer neuen Weise verknüpft und die Fürsten damit zur vorbildlichen Lebensführung verpflichtet. So sei die Gerechtigkeit des Königs selbst ein direkter Ausfluss der Gerechtigkeit Gottes, begründete der Reimser Erzbischof Hinkmar († 882) in seinem Krönungsordo für den westfränkischen König Karl den Kahlen († 877) die Legitimation der herrscherlichen Gerechtigkeit.13 Entsprechende Gedanken sind in karolingischer Zeit üblich und verdeutlichen den ausgeprägt sakralen Charakter der Königsherrschaft im Zeitalter vor der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts.14 »Für wen ist Gerechtigkeit so sehr passend wie für den König?«,15 fragte der Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus († 856) in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Für den Abt und monastischen Erneuerer Smaragd von St. Mihiel († 830) war sie essentieller Bestandteil des »Königlichen Wegs« (via regia).16 Unklar bleibt jedoch hier wie auch in anderen Texten, worin die erwähnte Gerechtigkeit bestehen soll, und was es konkret hieß, gerecht zu handeln. Aufschluss hierüber erlaubt ein im 7. Jahrhundert in Irland entstandener Traktat mit dem Titel »Über die zwölf Missstände der Welt« (De duodecim abusivis saeculi), der im Mittelalter hauptsächlich den Kirchenvätern Augustinus oder Cyprian († 258) zugeschrieben wurde. In ihm ist anhand von zwölf Verkehrungen die rechte Ordnung skizziert. Trotz der zeitlichen wie räumlichen Peripherie seiner Entstehung stellt dieser Text – vor allem aber seine Ausführungen über weltliche und geistliche Herrschaftsträger – eine der wirkmächtigsten Abhandlungen ihrer Art in der europäischen Geschichte dar. Es heißt: Die Gerechtigkeit des Königs besteht darin, niemanden durch Gewalt ungerecht zu bedrücken; ohne Ansehen der Person über die Menschen zu richten; ein Verteidiger der Fremden, der Waisen und der Witwen zu sein; Diebstahl zu unterbinden; Ehebruch zu bestrafen; die Ungerechten nicht zu erheben; die Schamlosen und die Spielleute nicht zu versorgen; die Gottlosen zu vernichten; Mördern und Meineidigen nicht gestatten zu leben; die Kirchen zu schützen; die Armen mit Almosen zu speisen; die Gerechten mit den Reichsgeschäften zu betrauen; erfahrene, weise und besonnene Ratgeber zu haben; sich nicht nach den abergläubischen Bräuchen der Zauberer, Wahrsager und Wahrsagerinnen zu richten und sie nicht zu Rate zu ziehen; Zornesausbrüche zu unterdrücken; das Vaterland tapfer und wirksam gegen 84 | Mirko Breite ns t e in
Feinde zu verteidigen und in allem auf Gott zu vertrauen; das Glück der Seelen nicht zu vermindern; in rechter Weise an Gott zu glauben; seinen Kindern nicht zu gestatten, gottlos zu handeln, die Gebetszeiten einzuhalten.17
Diese Reihe beeindruckt, doch ist im frühen Mittelalter generell die Tendenz feststellbar, verschiedene Phänomene nicht systematisch zu verknüpfen, sondern schlicht aneinanderzureihen. Was hingegen fehlt, ist die begriffliche Differenzierung und Akzentuierung. Ein in diesem Sinne gerechtes Verhalten des Königs führte zur Prosperität des Reiches im Diesseits und mit seiner Hilfe erreichte man sicherer das himmlische Reich. Würde die unbedingte Forderung nach Gerechtigkeit hingegen nicht beachtet, drohten der Bruch des inneren Friedens, der Einbruch äußerer Feinde, die Gefährdung der Königsfamilie und sogar Naturkatastrophen. So wie der König Erster auf Erden sei, käme ihm im Falle eines Missbrauchs seiner Herrschaft auch der Primat bei der jenseitigen Bestrafung zu.18 Derartige Vorstellungen verweisen auf ein in hohem Maße personalisiertes Konzept von Gerechtigkeit, die direkt und unmittelbar an den Inhaber der Herrschaft gebunden ist. Konzepte einer legal begründeten institutionellen Verpflichtung zur Gerechtigkeit sind hingegen noch nicht fassbar. Gleiches gilt für den Aspekt der Perfektionierung: Die vornehmliche Aufgabe des Königs sollte darin bestehen, die rechte Ordnung zu wahren; eine Verbesserung der irdischen Bedingungen sei hingegen nur möglich durch die restaurative Korrektur des Bestehenden. Dass eine Vervollkommnung des Realen außerhalb des Denkbaren lag, ist sicher wesentlich auf den Einfluss von Augustinus’ Theorie der zwei Staaten zurückzuführen, wo er – wie bereits erwähnt – die civitas terrena, das irdische Gemeinwesen, als grundsätzlich mangelhaft beschrieben hatte. Entsprechende Konzepte blieben für lange Zeit aktuell19 und es sollte mehr als ein halbes Jahrtausend vergehen, bis der Augustinische Dualismus von Diesseits und Jenseits intellektuell überwunden wurde. Der Pariser Chorherr Hugo von St. Viktor († 1141) setzte an ihre Stelle einen neuen Dualismus von Klerikern und Laien, »die wie zwei Seiten eines einzigen Leibes« die Kirche bildeten.20 Diese neue Deutung der christianitas steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Reformen an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert und den mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen. Diese Neuformierung Europas im Zuge von Investiturstreit und Kirchenreform muss im Hinblick auf die Konzeption politischer Herrschaft als Zäsur gesehen werden. Mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Etablierung eigener Rechtsbereiche ging der Herrschaftsanspruch einher, Gerechtigkeit nicht mehr nur zu bewahren, sondern sie durch Gesetzgebung aktiv zu befördern. Wenn es die Umstände erforderten – de necessitate temporis –, könne der Papst D ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 85
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neues Recht erlassen, hieß es beispielsweise im Dictatus papae von 1075.21 Auch wenn Papst Gregor VII. († 1085), der Verkünder dieses Satzes, selbst für sich in Anspruch nahm, nichts Neues setzen, sondern nur dem Alten den ihm gebührenden Rang zurückgeben zu wollen, so war dennoch ein Damm gebrochen:22 Recht war nicht länger nur ein Instrument zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen, sondern wurde zum Ausdruck ihrer Legitimität selbst, wie der englische Polyhistor und Bischof von Chartres Johannes von Salisbury († 1180) in seinem Werk Policraticus formulierte: Fürst sei, wer rechtmäßig regiert (qui legibus regit, princeps est).23 Damit war eine neue Situation gegeben: Gerechtigkeit begründete Herrschaft und war zugleich wesentliches Ziel politischen Handelns. So titulieren die Konstitutionen von Melfi, das Gesetzbuch Kaiser Friedrichs II. († 1250) für sein Königreich Sizilien aus dem Jahre 1231, den Imperator als »Vater und Sohn«, »Herr und Diener« der Gerechtigkeit und positionierten ihn damit, der juristischen Strömung der Zeit entsprechend, als einen Gesetzgeber, der nicht über dem Recht steht, sondern diesem in gleicher Weise unterworfen ist.24 Der Franziskaner Gilbert von Tournai († 1284) wiederum betonte in seinem Fürstenspiegel für den französischen König Ludwig IX. († 1270) die Funktion des Herrschers als »Diener des öffentlichen Nutzens und Knecht der Gerechtigkeit«.25 Dieser Entwicklung folgend, begriffen sich seit dem Hochmittelalter auch die Fürsten nicht mehr ausschließlich als Bewahrer, sondern als Gestalter von Gerechtigkeit. Hieß es zunächst nur entsprechend dem Römischen Recht, dass Gesetzeskraft habe, was dem Fürsten gefällt (Quod principi placuit, legis habet vigorem),26 so sprach man ihm bald schon ausdrücklich das Recht zu, neue Gesetze zu erlassen und dieses Recht sogar zu delegieren.27 Dabei verloren die tradierten Muster herrscherlicher Tugenden nicht ihren Einfluss; sie wurden jedoch um einen neuen Leitbegriff ergänzt, der dem fürstlichen Anspruch und seiner Verpflichtung zur Gerechtigkeit eine neue Richtung wies: die des bonum commune, des Gemeinwohls. Auch dieser der Antike entlehnte Begriff war nie ganz in Vergessenheit geraten, doch bestand wenig Verständnis für die zugrundeliegende Konzeption, wie eine interessante Verknappung von Ciceros Bestimmung der Gerechtigkeit bei Alkuin († 804), dem wichtigsten Berater Kaiser Karls des Großen († 814), zeigt: Während es in Ciceros Werk »Über die Auffindung des Stoffs« (De inventione) heißt: Gerechtigkeit sei eine Geisteshaltung, die unter Wahrung des Gemeinwohls jedem das ihm Zustehende zukommen lasse,28 so fällt eben der entscheidende Aspekt des Gemeinwohls in der Begriffsbestimmung Alkuins heraus. Stattdessen wird ergänzt, dass in der Gerechtigkeit Gottesdienst, menschliches Recht sowie die Billigkeit des Lebens gewahrt blieben.29 Neue Bedeutung gewann dieser Begriff des bonum commune vor allem in den Fürstenspiegeln des hohen und späten Mittelalters, in denen das gemeinwohl86 | Mirko Breite ns t e in
orientierte politische Handeln zur obersten fürstlichen Tugend stilisiert wurde.30 Am Kriterium des Gemeinwohls hatte sich – in Umkehrung der traditionellen Auffassung – schließlich sogar die Gerechtigkeit des Herrschers zu orientieren, wie der Dominikaner Thomas von Aquin († 1274) oder auch sein Ordensbruder Bartholomäus von Lucca († 1327) betonten.31 Unter dem Einfluss der neu entdeckten politischen Schriften des Aristoteles wurde die ehemals personalisierte Gerechtigkeit somit zu einem überindividuellen Prinzip, als dessen oberster Anwalt der Fürst fungierte. Zur Durchsetzung seiner Aufgabe stand ihm – auch dies ist wesentlich der Aristoteles-Rezeption durch Thomas und andere zu verdanken32 – das Instrument der Rechtsetzung zur Verfügung, womit sich die für das frühe Mittelalter typische Konzentration der Macht auf seine Person aufzulösen begann.33 An seine Stelle traten neben dem Recht vor allem Vertretungskörperschaften und Repräsentativorgane, die ihre Macht nicht länger transzendent legitimierten, sondern in der Souveränität des Menschen begründet sahen. Mit dem Verlust der an die eigene Person gebundenen Gerechtigkeit ging für den Fürsten der Verlust der Macht einher. * Anders als die weltlichen Herrscher nahm die religiöse Elite der Mönche und Nonnen, der Eremiten und Kanoniker nicht für sich in Anspruch, Gerechtigkeit zu besitzen. Vielmehr sahen sie sich als diejenigen, die wahrhaft nach Gerechtigkeit hungerten und dürsteten, als jene, die bereit waren, um der Gerechtigkeit willen jede Verfolgung auf sich zu nehmen. Sie waren diejenigen, die für sich reklamierten, nach einer Gerechtigkeit zu streben, die besser sei als jene der Pharisäer und Schriftgelehrten, womit nach Mt 5, 20 der Weg zum Heil eröffnet war. Weil die Religiosen mehr als alle anderen Menschen ihr Leben der Liebe zu Gott zu widmen gelobt hatten, waren sie auch mehr als alle anderen zum Verlangen nach Gerechtigkeit verpflichtet.34 Gerechtigkeit zu praktizieren, war dabei zweifellos Ideal aller Christen – im Falle des Mönches jedoch unterschied sich dieses Ziel durch die Intensität und Kompromisslosigkeit in der Befolgung. Es handelt sich hierbei um einen direkten Niederschlag der eingangs erwähnten Ethikkonzeption, wonach nicht bereits die Erfüllung des Gebotenen, sondern einzig die des Geratenen als verdienstvoll gilt. Hierauf aufbauend entwickelte Tertullian († ca. 230) im 2. Jahrhundert in seinem Traktat »Über die Erziehung zur Keuschheit« den Gedanken, dass das bloß sittlich Erlaubte nicht einmal im eigentlichen Sinne gut zu nennen sei.35 Es bestand mithin nicht nur eine natürliche Affinität der Religiosen zur Gerechtigkeit, denn die kam jedem Menschen zu; wer die geistliche Lebensform der vita religiosa lebte, musste sich zur Tugend bekennen und sie in bestmöglicher Nachfolge Christi aktiv verwirklichen. Hierin sahen Geistliche ihre ganz persönliche Pflicht. D ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 87
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So schrieb zum Beispiel Bernhard von Clairvaux († 1153), dass es im Wollen eines jeden Einzelnen läge, nach der Gerechtigkeit zu hungern.36 Und von Malachias(† 1148), dem heiligen Bischof des nordirischen Armagh, wusste der große Zisterzienser in der von ihm verfassten Vita zu berichten, dass dieser seinen Brüdern in Gerechtigkeit vorangegangen sei, weil er mehr getan hätte, als von ihm gefordert worden wäre.37 Ungeachtet dieser Kontinuität im Anspruch lassen sich in Bezug auf die Konzeption von Gerechtigkeit auch im Mönchtum Wandlungen feststellen. Grob vereinfachend könnte man diesen Prozess als eine Entwicklung von der Buße zur Liebe (caritas) beschreiben. Am Beginn wie am Ende dieser Entwicklung steht dabei der Bezug auf Christus als Leitfigur: Die Demut der ersten Mönche ist die Demut Christi. Dessen Kreuzigung war ungerecht, diente aber einem höheren Zweck. Gleiches gilt für die Askese des Mönches: Auch er leidet und beschränkt sich selbst für die Welt. Er stirbt der Welt in vollkommener Nachahmung (imitatio) des ungerecht behandelten Christus. Der hier zugrundeliegende Gedanke ist jener der Wiedergutmachung, mithin das Prinzip formaler Gerechtigkeit: Christus starb für die Welt – der Mönch stirbt für Christus. Unmittelbarer Ausdruck einer solchen Selbstdeutung sind die Bußbücher des frühen Mittelalters – die ihnen zugehörige Idee ist die der arithmetischen Kompensation von Sünde und Buße. Sie vermitteln ein Konzept, das Gerechtigkeit durch die Verordnung des Gegenteils zu erreichen sucht. Dieses Prinzip des »vergeltenden Ausgleichs»38 verweist auf ein streng formalisiertes Verständnis von Gerechtigkeit. Nicht der Wille oder die einer als sündhaft deklarierten Handlung zugrundeliegende Intention wurde als maßgeblich für die moralische Bewertung derselben erkannt, sondern die Tat selbst galt als verwerflich. Auf der Ebene der Tat hatte daher auch jede Rekonziliation zu erfolgen. Es war ein fundamentaler Wandel, in dessen Folge seit dem Ausgang des 11. Jahrhunderts genau diese Form der ausgleichenden Gerechtigkeit abgelöst wurde, die nicht nach Motiven fragte und so darauf verzichtete, Handlungen in ein Verhältnis zur jeweiligen Absicht zu stellen. Gott achte nämlich bei der Vergeltung des Guten wie des Bösen nicht auf das Ergebnis einer Tat, sondern er beurteile die Seele und ihre Absicht, hatte Abaelard († 1142) in seiner Ethik formuliert und damit die Programmatik einer neuen Gewissenskultur begründet.39 Selbsterkenntnis wurde nun zur Voraussetzung einer jeglichen Moral; als gerecht konnte nur gelten, wer die Absichten seines Handelns, Strebens und sogar Denkens vor sich selbst rechtfertigen konnte: »Lerne … dich selbst zu beurteilen, dich bei dir anzuklagen, oft auch zu verurteilen und nicht ungestraft freizulassen. Die Gerechtigkeit soll zu Gericht sitzen, das Gewissen soll schuldig erscheinen und sich selbst anklagen«,40 schrieb der Zisterzienser Wilhelm von St. Thierry († 1148/49) in der Mitte des 12. Jahrhunderts. Derartige Reflexionen verweisen auf ein zeittypisches 88 | Mirko Breite ns t e in
Phänomen, das unter Schlagworten wie der Entdeckung von Innerlichkeit und Gewissen, von Individualisierung und Selbstthematisierung Beachtung gefunden hat. Sie deuten auf einen tiefgreifenden Wandel im Verständnis von Gerechtigkeit allgemein und in ihrem Wert für den Einzelnen hin. Neues Ideal war nun der barmherzige und liebende Christus, dem man sich in Befolgung des Doppelgebotes der Gottes- und der Nächstenliebe anzunähern suchte.41 Die Gerechtigkeit sei der Weg Gottes, wie der schon erwähnte Pariser Chorherr Hugo von St. Viktor betonte, und er fügte hinzu, dass dieser Weg einzig durch die Liebe gefunden werden könne.42 Seinen hervorragenden Platz fand dieser ursprünglich Augustinische Gedanke durch die Aufnahme in das Decretum Gratiani, die wirkmächtigste Kirchenrechtssammlung des Mittelalters, wo es hieß, dass ohne Liebe keine Gerechtigkeit sein könne.43 Unbestritten war jeder Mönch bereits durch die Wahl seiner Lebensform verpflichtet, dem Nächsten in Liebe zu begegnen, legte er, wie Bernhard von Clairvaux erläuterte, doch bereits sein Gelübde auf ein apostolisches Leben ab.44 In seiner Mahnschrift an Papst Eugen III. († 1153) merkte Bernhard an, dass der Inbegriff der Gerechtigkeit darin liegen würde, weder einem anderen zuzufügen, was man selber nicht erdulden wolle, noch ihm zu verweigern, was man selbst gern empfinge.45 Die Übung der Gerechtigkeit beruhe ganz auf diesen beiden Geboten, wie Bernhard an anderer Stelle in einer Predigt an seine Clarevallenser Mitbrüder betonte46. Dabei griff man auch hier im Kontext der sich erneuernden monastischen Bewegungen des 12. Jahrhunderts auf den Begriff des gemeinen Nutzens zurück. So wurde innerhalb des vor allem für die geistige Entfaltung der weiblichen vita religiosa äußerst wirkmächtigen Speculum virginum aus der Mitte des 12. Jahrhunderts betont, dass Gerechtigkeit wohl darin bestehe, einem jeden sein Recht zukommen zu lassen, dabei jedoch das Gemeinwohl (communis utilitas) nicht vernachlässigt werden dürfe.47 Die Gerechtigkeit des Einzelnen sollte somit in der des Nächsten ihre Grenze finden; nötig war mithin ein Ausgleich der Spannungen zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und den Ansprüchen der Gemeinschaft. Es war wiederum Bernhard von Clairvaux, der das zentrale Gebot der Nächstenliebe, zu dem Religiose in besonderem Maße verpflichtet waren, in ganz eigener Weise mit dem Anspruch des Einzelnen auf Gerechtigkeit verknüpfte. In seinem Traktat über die Gottesliebe formulierte er folgenden Gedanken: Wer nicht als Übertreter des Gebotes der Nächstenliebe gelten wolle, der müsse notwendig nicht nur seinen Brüdern zu Hilfe kommen, sondern zugleich die eigene Freude einschränken, um ihrer Freude zu dienen. »Er möge sich zugestehen, soviel er will«, heißt es, »solange er nur daran denkt, daß gerechterweise auch dem Nächsten ebenso viel gewährt werden muß.« Die Verpflichtung zur Nächstenliebe, mithin zur gerechten Handlung um der gerechten Ordnung willen, resultiert dabei für Bernhard aus der naturrechtlichen Gleichheit des Menschen, die ihrerseits wiedeD ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 89
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rum Zeugnis der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes ablegt. Natürliche Gerechtigkeit und Vernunft sind somit diejenigen Instanzen, die einen Menschen zum gerechten Handeln veranlassen. Dass gerechtes Handeln zugleich ein Ausdruck der Vernünftigkeit des Akteurs ist, hatte bereits Anselm von Canterbury († 1109) in seinem Werk »Warum Gott Mensch geworden« (Cur Deus homo) ausgeführt: Seiner Überzeugung nach habe der Mensch seine Vernunft auch deshalb bekommen, um zwischen gerecht und ungerecht unterscheiden zu können.48 Die eben angesprochene Verzichtsleistung zugunsten des Nächsten ist auch Demonstration einer weiteren zentralen monastischen Tugend: der Demut. Sie ist nun aber – anders als Gerechtigkeit – eine Tugend, die nicht zum antiken Kanon zählte, sondern die in ihrer unmittelbaren Bezogenheit auf Leben und Lehre Jesu ein genuin christliches Verhaltensideal verkörpert.49 Im Verhältnis zu einer Gerechtigkeitsnorm, die für jeden das Seine fordert, musste eine Tugend, die den demonstrativen Verzicht auf bestehende Rechte propagierte und damit das System der Gerechtigkeit aufbrach, höchst unpassend erscheinen. Und doch gelang es wiederum Bernhard von Clairvaux, beide Tugenden zu harmonisieren, indem er Gerechtigkeit graduell differenzierte:50 Es gibt aber eine Gerechtigkeit, die sehr schmal und eng ist, so daß du in die Grube der Sünde fällst, sobald du auch nur eine Fußbreite abweichst; sie besteht darin, sich nicht über den Gleichgestellten zu erheben und sich dem Vorgesetzten nicht gleichzustellen. Man kann sie so bestimmen: Jedem das Seine geben. Es gibt eine andere Gerechtigkeit, die höher und umfassender ist: sich dem Gleichrangigen nicht gleichzustellen und sich nicht über den Untergeordneten zu stellen. Wie es nämlich ein großer und unheilvoller Stolz ist, wenn man sich über den Gleichrangigen stellt oder sich dem Vorgesetzten gleichstellt, so ist es ein Beweis großer Demut, wenn einer sich dem Gleichgestellten unterordnet oder dem Untergeordneten gleichstellt; die größte und volle Gerechtigkeit aber besteht darin, sich dem Niedrigsten unterzuordnen.
Grundsätzlich bestimmte Bernhard damit Gerechtigkeit im distributiven Sinne der Norm des klassischen suum cuique, neben der Goldenen Regel das zentrale Gerechtigkeitsmodell des Mittelalters, welche jedoch anders als diese auf allgemeine Prinzipien des Gerechtigkeitshandelns abzielte. Einflussreiche Mittler waren hier vor allem Augustinus, der die Aufgabe der Gerechtigkeit – im Anschluss an die durch Cicero geprägte lateinische Formel – eben darin bestimmt hatte, ›jedem das Seine zuzuweisen‹: Dadurch, so der Kirchenvater, werde im Menschen eine gerechte und der Natur entsprechende Ordnung gesetzt.51 Auch in dem unter Justinian redigierten Römischen Recht, das den Schriften des Augustinus an Wirkmächtigkeit mindestens vergleichbar war, ist diese Maxime prominent gleich am Beginn zu finden. 90 | Mirko Breite ns t e in
Eine solche Art der Gerechtigkeit stellte für den Zisterzienser Bernhard jedoch offenbar nur eine basale Form dar, deren ethische Fundierung zu schwach war, um sie überzeugend als religiöse Tugend zu deklarieren – abgesehen von der generellen Distanz der Zisterzienser gegenüber dem Römischen Recht. Das von ihm an diesem Punkt eingeführte ethische Korrektiv ist die Demut. Sie war zentrale mönchische Tugend und in idealer Weise geeignet, die Prinzipien einer ausschließlich an der Verteilung von Gütern oder Rechten orientierten Gerechtigkeit mit den Idealen des Neuen Testamentes zu verknüpfen und dadurch im Sinne des religiösen Propositum moralisch aufzuwerten. Das Bemerkenswerte an dieser Konzeption ist dabei, dass zur Erreichung jener höchsten Gerechtigkeit die klassische Norm des suum cuique überwunden werden muss. Die höchste und vollste Gerechtigkeit wurde somit nicht durch ihre Steigerung zum Ausdruck gebracht, sondern durch die bewusste Absetzung von ihr. Es scheint, als sei hier im Mönchtum des 12. Jahrhunderts die Einsicht gewachsen, dass mit einer Gerechtigkeit des distributiven »Jedem das Seine« das Verlangen nach Vollkommenheit nicht zu erfüllen war. Während die Goldene Regel der Ethik es dem Mönch ermöglichte, den eigenen als richtig erkannten Maßstab auf andere zu übertragen, verlangt das suum cuique die Gerechtigkeit des Einzelfalls. Für Mönche und Kanoniker, von denen gefordert wurde, die innere Einheit des Herzens ebenso zu bewahren wie die äußere der Sitten und Gebräuche,52 barg der Einzelfall aber stets Gefahr. Er stand für Vereinzelung, die Betonung des Eigenen, das Sichherausheben aus der Gemeinschaft und damit für Hochmut – durch die Berücksichtigung des Einzelfalls drohte die Auflösung einer heilsversprechenden Ordnung. Ziel des Mönches war es, »immer vom Guten zum Besseren vorwärtszuschreiten«, wie Bernhard von Clairvaux im Brief an einen befreundeten Abt schreibt.53 Niemals glaubt der Gerechte, das Ziel schon erreicht zu haben, niemals sagt er: ›Es ist genug‹, sondern er wird immer nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten. So würde er, auch wenn er ewig lebte, sich ewig bemühen, gerechter zu sein, soweit es in seiner Macht liegt, immer würde er mit allen Kräften versuchen, vom Guten zum Besseren fortzuschreiten.
Ob er wirklich fortschritt, konnte der Mönch nur selbst entscheiden – die sich für diese Prüfung genau in jener Zeit ausbildende Instanz war das Gewissen. Er könne die Welt über sich täuschen, nicht aber sich selbst, hieß es in der zeittypischen Literatur zur religiösen Unterweisung.54 Der gute Mönch sei vom Verlangen nach Vollkommenheit beseelt, fährt Bernhard fort: »Wenn also das Streben nach Vollkommenheit vollkommen zu sein bedeutet, so bedeutet es gewiß Rückschritt, wenn man nicht vorwärtsschreiten will.«55 D ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 91
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Dieses beständige Vorwärtsschreiten auf der Suche nach der bestmöglichen Lebensweise ist einer der wesentlichen Beiträge dieser »Virtuosen« des Glaubens, wie Max Weber sie nannte, zur kulturellen Identität Europas. Aus dem gemeinsamen Streben nach Selbstheiligung erwuchs eine Kraft zur Gestaltung nicht nur des eigenen Lebensbereichs, sondern immer auch der Welt. Dabei kam der Welt, und hier liegt eine große Beschränkung dieser Sicht, jedoch nur eine transitorische Funktion zu, insofern das Vollkommene im Diesseits weder erwartet noch gesucht wurde. Auch wenn man sich selbst als Elite begriff, die zur Gerechtigkeit auf Erden in höchstem Maße befähigt war, so ging es um höchste Gerechtigkeit nur in ihrer jenseitigen Form. * Fragt man abschließend nach dem, was Gerechtigkeit in beiden vorgestellten Sphären verbindet, so ist vor allem auf den Aspekt ihrer göttlichen Begründung zu verweisen: Sowohl die Gerechtigkeit des Herrschers als auch die des Religiosen waren Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit, auf die sie auch jeweils bezogen wurden. In der Art dieses Bezuges sind sie jedoch deutlich verschieden. Während die Gerechtigkeit des Herrschers eine weltimmanente und daher notwendig defizitäre darstellt, ist die Gerechtigkeit der religiösen Virtuosen transzendent, aber vollkommen. Der Mönch ging den iter perfectionis, den durch eine Regel geordneten Weg der beständigen Vervollkommnung, dessen Vollendung und Ziel – die höchste Gerechtigkeit – außerhalb der Welt lag. Der Herrscher verkörperte in seiner Person Macht und Gerechtigkeit Gottes, um in der Welt zu wirken. Für ihn war die Gerechtigkeit der Weg und die Ordnung das Ziel. Es sollte deutlich geworden sein, dass es auch im Mittelalter nicht eine Gerechtigkeit gab, sondern eine Fülle ganz verschiedener Ausdrucksformen.
A n m e r ku nge n 1 Dante Alighieri, Monarchia, lateinisch/deutsch, eingel., übers. und komm. von R. Imbach / C. Flüeler, Stuttgart 1989, 1, 11, 1-2, S. 87. 2 Dante, Monarchia (o. Anm. 1), 3, 7, S. 87, 89. 3 Vgl. die Ausführungen Plotins über die Tugenden: Plotin, Schriften, übers. von R. Harder, Bd. 1: Die Schriften 1–21, Hamburg 2004, 19 (1, 2), S. 333–349. Zur weiteren Entwicklung vgl. die Nachweise bei A. Dihle, Art. »Gerechtigkeit«, in: Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978), Sp. 277 f. 4 Aurelius Augustinus, Contra duas epistolas pelagianorum, hrsg. von Karl F. Urba / Joseph Zycha (Corpus Scriptorum ecclesiasticorum latinorum 60), Wien / Leipzig 1913, lib. 3, cap. 7, 19, S. 508 f. 92 | Mirko Breite ns t e in
5 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, hrsg. von Bernard Dombart / Alphons Kalb, 2 Bde. (Corpus Christianorum. Series latina 47–48), Turnhout 1955, lib. 2, cap. 21, lib. 19, cap. 21, 24, Bd. 1, S. 52–55, Bd. 2, S. 687 f., 695 f. 6 Augustinus, De civitate Dei (o. Anm. 5), lib. 19, cap. 4, Bd. 2, S. 664–669. 7 Vgl. D. Heyd, Supererogation. Its Status in Ethical Theory (Cambridge Studies in Philosophy), Cambridge 1982, S. 36 f. 8 Vgl. A. Dempf, Ethik des Mittelalters, München 1971 [zuerst 1931], S. 47 f. 9 Aurelius Augustinus, De trinitate, hrsg. von W. J. Mountain/Fr. Glorie, 2 Bde. (Corpus Christianorum. Series Latina 50), Turnhout 1968, lib. 8, cap. 9 (13), Bd. 1, S. 290: […] in deo conspicimus incommutabilem formam iustitiae secundum quam hominem vivere oportere iudicamus. 10 Augustinus, De civitate Dei (o. Anm. 5), lib. 19, cap. 14, Bd. 2, S. 681: […] cuius hic ordo est, primum ut nulli noceat, deinde ut etiam prosit cui poterit. Zu diesem Prinzip vgl. A. Dihle, Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik (Studienhefte zur Altertumswissenschaft 7), Göttingen 1962. 11 Vgl. M. Becker, Die Kardinaltugenden bei Cicero und Ambrosius (Chrêsis. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur 4), Basel 1994, S. 41–69. Zur späteren Tradition vgl. P. Schulte / G. Annas / M. Rothmann (Hgg.), Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Diskurs des späteren Mittelalters (Zeitschrift für historische Forschung, Beihefte 47), Berlin 2012. 12 Augustinus, De civitate Dei (o. Anm. 5), lib. 5, cap. 19, Bd. 1, S. 156. 13 Vgl. H. H. Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische Forschungen 32), Bonn 1968, S. 301 14 Vgl. S. Mähl, Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 9), Köln 1969. 15 Hrabanus Maurus, De anima, cap. 10, in: Patrologia latina, Bd. 110, Sp. 1118: Quem vero justiorum decet esse quam regem? 16 Vgl. Smaragd von St. Mihiel, Via Regia, , lib. 1, cap. 8, in: Patrologia latina, Bd. 102, Sp. 948 f. 17 Pseudo-Cyprianus, De XII abusivis saeculi, hrsg. von S. Hellmann (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 3. Reihe, 4. Bd., Heft 1), Leipzig 1909, S. 51 f.: Iustitia vero regis est neminem iniuste per potentiam opprimere, sine acceptione personarum inter virum et proximum suum iudicare, advenis et pupillis et viduis defensorem esse, furta cohibere, adulteria punire, iniquos non exaltare, impudicos et striones non nutrire, impios de terra perdere, parricidas et periurantes vivere non sinere, ecclesias defendere, pauperes elemosynis alere, iustos super regni negotia constituere, senes et sapientes et sobrios consiliarios habere, magorum et hariolorum et pythonissarum superstitionibus non intendere, iracundiam differe, patriam fortiter et iuste contra adversarios defendere, per omnia in Deo confidere, prosperitatibus animum non elevare, cuncta adversaria patienter ferre, fidem catholicam in Deum habere, filios suos non sinere impie agere, certis horis orationibus insistere […]. 18 Pseudo-Cyprianus, De XII abusivis saeculi (o. Anm. 17), S. 52. D ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 93
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19 Vgl. zum Einfluss auf die karolingischen Fürstenspiegel: H. H. Anton, »Pseudo-Cyprian. De duodecim abusivis saeculi und sein Einfluß auf dem Kontinent, insbesondere auf die karolingischen Fürstenspiegel«, in: H. Löwe (Hrsg.), Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 568-617, hier 605–615. Zum Niederschlag im Fürstenspiegel des Hugo von Fleury: vgl. T. Simon, »Gute Policey«. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 170), Frankfurt am Main 2004, S. 10 f. 20 Hugo von Sankt Viktor, Über die Heiltümer des christlichen Glaubens, übers. von P. Knaur, eingel. von R. Berndt (Corpus Victorinum. Schriften 1), Münster 2010, lib. 2.2, S. 377. Vgl. Dempf, Ethik (o. Anm. 8), S. 74; H. J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt am Main 1995 [zuerst 1983], S. 181–190. 21 Das Register Gregors VII., hrsg. von E. Caspar, Bd. 1., Buch I–IV (Monumenta Germaniae Historica. Epistolae selectae 2, 1), Berlin 21955, S. 3: Quod illi soli licet pro temporis necessitate novas leges condere, novas plebes congregare, de canonica abbatiam facere et e contra, divitem episcopatum dividere et inopes unire. 22 Vgl. Berman, Recht und Revolution (o. Anm. 20), S. 188. 23 Johannes von Salisbury, Policraticus, 2 Bde., hrsg. von C. C. I. Webb, Oxford 1909, lib. 3, cap. 17, Bd. 1., S. 345. 24 Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, hrsg. von W. Stürner (Monumenta Germaniae historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2 suppl.), Hannover 1996, lib. 1.31, S. 185: Oportet ergo Caesarem fore iustitiae patrem et filium, dominum et ministrum, patrem et dominum in edendo iustitiam et editam conservando; sic et iustitiam venerando sit filius et ipsius copiam ministrando minister. Vgl. E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart 1992, S. 114– 124. 25 Gilbert von Tounai, Eruditio regum et principum (in: Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters, hrsg. von H. H. Anton, Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 45), Darmstadt 2006, S. 364 f.: […] publicae utilitatis minister et aequitatis servus sit princeps […]. 26 Iustiniani Institutiones, lib. 1 c. 2, 6 in: Corpus iuris civilis, Bd. 1, hgg. von P. Krüger / T. Mommsen, Berlin 1902, S. 1; vgl. auch Digesta Iustiniani, lib. 1, c. 4, 1, ebd. , S. 7. 27 Vgl. S. Schlinker, Fürstenamt und Rezeption. Reichsfürstenstand und gelehrte Literatur im späten Mittelalter (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 18), Köln 1999, S. 238–269. 28 Cicero, De Inventione 2, 53, 160: Iustitia est habitus animi, communi utilitate conservata, suum cuique tribuens dignitatem. 29 Hrabanus Maurus, De rerum naturis lib. 15, cap. 1, in: Patrologia latina, Bd. 111, Sp. 417: Justitia est habitus animi unicuique rei propriam tribuens dignitatem. 30 Vgl. T. Simon, »Gemeinwohltopik in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Politiktheorie«, in: H. Münkler / H. Bluhm (Hgg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 129–146, hier 131–133 und klassisch: W. 94 | Mirko Breite ns t e in
Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde 2), Leipzig 1938, S. 118 f. 31 Vgl. mit Nachweisen T. Struve, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16), Stuttgart 1978, S. 153 und 174. 32 Vgl. I. P. Bejczy (Hrsg.), Virtue Ehics in the Middle Ages. Commentaries on Aristotle’s Nicomachean Ethics, 1200–1500 (Brill’s Studies in Intellectual History 160), Leiden 2008. 33 Vgl. S. Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Iuridica Upsaliensia 1), Uppsala 1960, S. 193–210. 34 Vgl. M. Breitenstein / G. Melville, »Gerechtigkeit als fundierendes Element des mittelalterlichen Mönchtums«, in: H. Alzheimer / F. G. Rausch / K. Reder u.a. (Hgg.), Bilder – Sachen – Mentalitäten. Arbeitsfelder historischer Kulturwissenschaften (Festschrift Wolfgang Brückner), Regensburg 2010, S. 33–42. 35 Tertullian, De exhortatione castitatis – Ermahnung zur Keuschheit, hrsg. und übers. von H.-V. Friedrich (Beiträge zur Altertumskunde 2), Stuttgart 1990, cap. 8, S. 64, 66. 36 Bernhard von Clairvaux, Ad clericos de conversione, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von G. B. Winkler, 10 Bde., Innsbruck 1990–99, cap. 14 (27), Bd. 4, S. 212–214. 37 Bernhard von Clairvaux, Vita Sancti Malachiae episcopi, cap. 6 (14), in: ders., Sämtliche Werke (o. Anm. 36), Bd. 1, S. 486. 38 A. Dihle, Die goldene Regel (o. Anm. 10), S. 11. 39 Vgl. A. Schroeter-Reinhard, Die Ethica des Peter Abaelard. Übersetzung, Hinführung und Deutung (Dokimion 21), Freiburg 1999. 40 Wilhelm von St. Thierry, Epistola ad fratres de Monte Dei cap. 107, in: ders., Opera didactica et spiritualia [= Guillelmi a Sancto Theodorico opera omnia 3], Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 88, Turnhout 2003, S. 250 f.: Disce […] temetipsum iudicare, teipsum apud teipsum accusare, saepe etiam et condemnare, nec impunitum dimittare. Sedeat iudicans iustitia, stet rea et semetipsam accusans conscientia. 41 Vgl. G. Melville (Hrsg.), Aspects of Charity. Concern for one’s neighbour in medieval vita religiosa (Vita regularis. Abhandlungen 45), Berlin 2011. 42 Hugo von St. Viktor, De laude charitatis, in: Patrologia latina, Bd. 176, Sp. 973: Justitia est ergo via, et justi sunt qui in via currunt. […] Per charitatem igitur cor dilatatur, corde dilatato via justitiae curritur. 43 Decretum Gratiani, hg. von E. Friedberg (Corpus Iuris Canonici Bd. 1), Graz 1959, C. xxiv, q. 1, cap. 29: Ubi karitas non est, ibi fides vel iusticia locum non habet. Vgl. Aurelius Augustinus, De Sermone Domini in Monte, hrsg. von Almut Mutzenbecher (Corpus Christianorum. Series Latina 35), Turnhout 1967, lib. 1, cap. 5.13, S. 14. 44 Bernhard von Clairvaux, Sermones de diversis, no 27.3 in: ders., Sämtliche Werke (o. Anm. 36), Bd. 9, S. 420: Nam etsi forte aliquorum negligentia ad perfectionem non assurgit, ipsi viderint quid possint excusationis afferre, quoniam apostolicam omnes nos vitam professi sumus, apostolicae perfectioni nomina dedimus universi. D ie B e g rü n du n g de r be st e n O rdn u n g | 95
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45 Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium papam, lib. 1, cap. 8 (10), in: Ders., Sämtliche Werke (o. Anm. 36), Bd. 1, S. 650: […] nec factura itique alteri, quod sibi fieri nolit, nec quod sibi velit fieri negatura. In his nempe duobus liquet integrum esse iustitiae statum. Vgl. auch ders., Sententiae cap. 3 (7), in: Ders., Sämtliche Werke (o. Anm. 36), Bd. 4, S. 392. 46 Bernhard von Clairvaux, Sermones de diversis (o. Anm. 44), no 18.4, S. 338: Siquidem iustitiae exercitatio in his duobus mandatis tota pendere videtur, ut quod sibi quis fieri non vult, alii non faciat, sicut ad Gentes missa epistola continet Apostolorum, et quemadmodum ad eosdem Apostolos Dominus ait: Quaecumque volumus ut faciant nobis homines, et nos faciamus illis. 47 Speculum virginum, hrsg. von J. Seyfarth, 4 Bde. (Fontes Christiani 30), Freiburg i. Br. 2001, lib. 4, Bd. 2, S. 306: Iustitia est, per quam sua cuique dignitas tribuitur et communis utilitas non relinquitur. 48 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo, lib. 2, cap. 1, in: S. Anselmi Cantuariensis archiepiscopi opera omnia, hrsg. von F. S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 21984, Bd. 1, S. 97: [Homo] rationalis est, ut discernat inter iustum et iniustum […]. 49 Vgl. István P. Bejczy, »Cardinal Virtues in a Christian Context. The Antithesis between Fortitude and Humility in the Twelfth Century«, Medioevo: Rivista di storia della filosofia medievale 31 (2006), S. 49–67, v. a. 52 f. 50 Bernhard von Clairvaux, In octava epiphaniae sermo 4, in: Ders., Sämtliche Werke (o. Anm. 36), Bd. 7, S. 360: Est autem iustitia quaedam stricta et angusta valde, ita ut quam cito pedem verteris, in peccati foveam cadas, nec praeponere se aequali, nec aequare praeposito. Hujus definitio est: reddere cuique quod suum est. Altera latior et amplior justitia, nec aequare se pari, nec inferiori praeponere. Sicut enim grandis et gravis superbia est praeferre se aequali aut aequare praelato, ita magnae humilitatis est inferiorem se exhibere aequali aut aequalem inferiori. Maxima et plena iustitia est inferiorem exhibere etiam ipsi inferiori. Sicut enim summa et intolerabilis superbia est, superiori se praeponere: ita inferiori se subdere, summa et plena iustitia. 51 Augustinus, De civitate Dei, lib. 19, cap. 4, in: Ders., De Civitate Dei XI–XXII (Corpus Christianorum. Series latina Bd. 48) [= Aureli Augustini opera 14.2], Turnhout 1955, S. 666: […] iustitia, cuius munus est sua cuique tribuere (unde fit in ipso homine quidam iustus ordo naturae, ut anima subdatur Deo et animae caro, ac per hoc Deo et anima et caro) […]. 52 So das bekannte Initium der prämonstratensischen Statuten, vgl. Les Statuts de Prémontré au Milieu du XIIe siècle, hgg. von Pl. F. Lefèvre/W. M. Grauwen (Bibliotheca Analectorum Praemonstratensium 12), Averbode 1978, prol., S. 1; Opraem, S. 1, das nachfolgend auch von den Dominikanern übernommen wurde, vgl. De oudste Constituties van de Dominicanen. Voorgeschiedenis tekst, bronnen, onstaan en ontwikkeling (1215–1237), hrsg. von A. H. Thomas (Bibliothèque de la Revue d’histoire ecclésiastique 42), Leuven 1965, prol., S. 311. 53 Bernhard von Clairvaux, Ep. 254, in: Ders., Sämtliche Werke (o. Anm. 36), Bd. 3, S. 354– 356. 54 Tractatus de interiori domo cap. 25 in: Patrologia latina, Bd. 184, Sp. 534: Si publica fama te non damnat, propria conscientia te condemnat; quoniam nemo potest se ipsum fugere. 55 Bernhard von Clairvaux, Ep. 254 (o. Anm. 53). 96 | Mirko Breite ns t e in
4. KORREKTUR
Bernd Schneidmüller
GERECHTIGKEIT UND POLITISCHE PRAXIS IM MITTELALTER ZWISCHEN KONSENS UND TRANSZENDENZ Gerechtigkeit und politische Praxis – nicht allein im Mittelalter waren das zwei Felder, die sich beständig berührten und herausforderten, aber nicht miteinander verschmolzen. Norm und Realität vibrierten in permanenter Spannung. Diesem Gefüge gilt der vorliegende Beitrag, der grundsätzliche Perspektiven mit Fallbeispielen und Entwicklungsachsen aus dem Mittelalter verschränkt. Am Beginn stehen zwei Arbeitshypothesen: 1) Gerechtigkeit1 wird zwar in der Einheit gedacht und in göttlicher, anthropologischer oder gesellschaftlicher Transzendenz verankert, aber in pluraler Aushandlung ermittelt oder postuliert. 2) Diese Paradoxie zwischen Einheit und Vielfalt war zugleich Leitlinie wie Bürde der europäischen Tradition in der Vormoderne. Begrifflich wie sachlich trat das im Wortgebrauch zutage: Gerechtigkeit (iustitia) begegnete stets im Singular, Rechte und Freiheiten (iura et libertates) wurden dagegen zumeist im Plural gedacht, auch wenn die Universalität von Recht oder Freiheit bereits im Mittelalter angelegt war.2 Die politisch naheliegende Ausfächerung einer einzigen, absoluten Gerechtigkeit in zeitlich wie funktional changierende Gerechtigkeiten wurde also nicht systematisch entwickelt. Deshalb erstand die unteilbare Gerechtigkeit als Gegenmodell zur Pluralität politischer Handlungsebenen mit ihren Überzeugungs- wie Durchsetzungsstrategien oder facettenreichen Kompromissen. Diese Diskrepanz blieb nicht ohne Wirkungen auf die Forschungspraxis unterschiedlicher historischer Wissenschaften. Die Geschichtswissenschaft studierte Gerechtigkeit in anderer Weise als die Theologie oder die Rechtswissenschaft, deren Gedankengebäude prinzipiell auf dem Axiom einer einzigen, einheitlichen Gerechtigkeit aufbauen. Dem steht die historische Betrachtung flexibler Aushandlungspraktiken gegenüber, welche die Gerechtigkeit als geschichtlich bedingtes und damit veränderliches Resultat differenter kultureller wie politischer Systeme historisiert. Der Hoffnung auf die Gerechtigkeit, die unbedingt ihren Lauf nehmen solle, selbst wenn die Welt darüber zugrunde ginge (fiat iustitia et pereat mundi), ließen sich also die Vorstellungen vom historischen Wechsel vieler, relativer Gerechtigkeiten an die Seite rücken. Ge re cht igke it und p o l i t i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 97
4. KORREKTUR
Gr un dl age n Die Vorstellungen von Gerechtigkeit erwuchsen im lateinischen Mittelalter aus der Amalgamierung unterschiedlicher Traditionen. Die griechisch-römische Antike hatte das Modell der vier Haupttugenden – alle im Femininum – entwickelt. Spätestens seit Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert wurde das System für die christliche Kultur fruchtbar gemacht. Immer wieder griff das Mittelalter auf diese vier Kardinaltugenden zurück:3 Iustitia – Gerechtigkeit Fortitudo – Tapferkeit Sapientia – Weisheit Temperantia – Mäßigung. Der Begriff ›Kardinaltugend‹ wurde von Thomas von Aquin so erklärt, dass alle anderen Tugenden wie die Tür an der Angel (cardo) an den hauptsächlichen Tugenden hingen.4 In der Bibelauslegung konnten sich die Kardinaltugenden mit den vier Paradiesflüssen Pischon, Gihon, Euphrat und Tigris verbinden, von denen im ersten Buch des Alten Testaments zu lesen ist: »Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila und dort findet man Gold; und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat.« (Gen 2,10–14). Deshalb fügte das Bildprogramm auf der Tumba Papst Clemens’ II. (1046– 1047) im Westchor des Bamberger Doms – von der Kunstgeschichte ins 13. Jahrhundert datiert – die Allegorien der vier Kardinaltugenden mit der Symbolisierung eines Paradiesflusses zusammen.5 Neben den vier (platonischen) Kardinaltugenden stehen drei biblische Tugenden aus dem Neuen Testament: Fides – Glaube Spes – Hoffnung Caritas – Liebe. Diese Trias fußt auf dem Satz des Apostels Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther: »Für jetzt bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.« (1 Kor 13,13). Auch in außereuropäischen Kulturkreisen rangierte die Gerechtigkeit unter den wichtigsten Tugenden, so in der konfuzianischen Tradition in China (neben Menschlichkeit, Sitte, Wissen, Wahrhaftigkeit). 98 | Bernd S chne id müll e r
4. KORREKTUR
Judentum wie Christentum verankerten Gerechtigkeit in der unwandelbaren und unanfechtbaren Gerechtigkeit Gottes. Diese formte sich in der neutestamentlichen Theologie in der Fleischwerdung Jesu Christi und im Gnadenhandeln Gottes an den Menschen aus.6 In solchem Offenbarungshandeln war und blieb Gottes Gerechtigkeit prinzipiell und unwandelbar angelegt. Strittig war allenfalls ihre Deutung durch die Menschen.
E i n de ut i gke it In der Konkurrenz um die richtige Auslegung der göttlichen Heilsbotschaft vollzog sich im 11. und 12. Jahrhundert eine entscheidende Präzisierung. Im Wettbewerb der Deutungshoheiten beanspruchten die römischen Päpste offensiv die Lenkungswie die Lehrautorität in der Kirche. Jetzt ging es um die eine und ausschließliche Eindeutigkeit der Lehre und um die Entscheidungskompetenz bei abweichenden Meinungen. Damit wurde die Vorstellung von Gerechtigkeit neu gefasst. Als markante Wendepunkte in einem längeren Wandel können berühmte Sätze angesprochen werden, die von Papst Gregor VII. (1073–1085) stammen oder ihm zugeschrieben werden. Als profilierter Vertreter des neuen Reformpapsttums betonte er dezidiert seine Suprematie als unumschränktes Oberhaupt der christlichen Kirche sowie seinen Vorrang vor allen Königen und Fürsten auf Erden. Programmatisch verknüpfte er in seinem Traktat Dictatus papae (1075) die alleinige Wahrheit mit der Autorität der römischen Kirche: »Die römische Kirche hat nie geirrt und wird nach dem Zeugnis der heiligen Schrift auch in Ewigkeit nicht irren.«7 In Bezug auf Jesus Christus soll Gregor formuliert haben: Dominus dicit: Ego sum veritas et vita. Non ait: Ego sum consuetudo, sed veritas – »Der Herr sagt: Ich bin die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Er sagt nicht: Ich bin die Gewohnheit, sondern die Wahrheit.«8 In seinen angeblich letzten Worten beim Tod am 25. Mai 1085 im Exil in Salerno stellte der Papst seine Liebe zu der einen Gerechtigkeit heraus: Dilexi iustitiam et odivi iniquitatem, propterea – morior in exilio – »Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehasst. Deshalb sterbe ich in der Verbannung.«9 Diese neun Worte auf dem Sterbebett folgten einem Psalmvers des Alten Testaments (Ps 44,8), der vom Neuen Testament aufgegriffen und im Schluss leicht abgewandelt wurde: Dilexisti iustitiam et odisti iniquitatem; Propterea unxit te Deus, Deus tuus, Oleo laetitiae prae consortibus tuis – »Du liebst das Recht und hasst das Unrecht, darum, o Gott, hat dein Gott dich gesalbt mit dem Öl der Freude wie keinen deiner Gefährten« (Hebr 1,9). Gerechtigkeit, so lässt sich dieses Verständnis zusammenfassen, bildete eine transzendente Größe jenseits der menschlichen Verfügbarkeit. Sie wurde nicht Ge re cht igke it und p o l i t i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 99
4. KORREKTUR
durch gesellschaftliche Aushandlung gefunden, sondern nahm ihren Ausgang von Gott. Nicht mehr verhandelbar geworden, bestimmte die Gerechtigkeit nach der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert unerbittlich die politischen Wertesysteme. Das nahm den Herrschern ein wichtiges Stück ihrer Gestaltungskraft. Ihnen kam damals die Fähigkeit zum Huld- und Gnadenerweis10 abhanden, weil die Strenge der Gerechtigkeit das Urteilen und das Regieren in eine klare, in eine eindeutige Richtung wies. Zwei Königswahlen von 1024 und 1152, in denen sich zweierlei Umgang mit der Gerechtigkeit zeigte, demonstrieren diesen Wechsel.
Vo n de r grat ial e n zur rigorose n Herrschaft 1024 schritt Konrad II. (1024–1039), der erste Herrscher aus dem Haus der Salier, zur Königskrönung in den Mainzer Dom. Sein Hofkapellan Wipo stilisierte das Geschehen zu einem literarischen Text, der geschickt den Einbruch des scheinbar Unerwarteten in ein ritualisiertes Geschehen einfügte. Vor der Salbung und Krönung erinnerte Erzbischof Aribo von Mainz den neuen König als »Stellvertreter Christi« (vicarius es Christi) mit einem Zitat aus dem Königsbuch des Alten Testaments (3 Reg 10,9) an seine Pflicht: »Gib dem Lande, das immer zu dir aufschaut, Recht, Gerechtigkeit und Frieden« (ut facias iudicium et iustitiam ac pacem patriae, quae semper respicit ad te).11 Was aber bedeuteten Recht und Gerechtigkeit? Wipo entwarf dafür eine Geschichte von Konrads ersten Taten, die Anlass zu mancherlei Nachdenken bot:12 Wenn ich nun meine Feder zu des erlauchten Königs Konrad Taten ansetze, muss ich ein zwar scheinbar unbedeutendes Geschehen seines Weihetages schildern, das jedoch durch seinen geheimen Sinn herrliche Bedeutung gewinnt. Da ich eine allgemeinverständliche Geschichte schreibe, die den Leser mehr durch Tatsachen als durch Wortkunst fesseln will, dürfte es richtiger sein, den Vorgang selbst zu erzählen, als ihn durch geheimnisvolle Überlegungen unklar zu deuten. Während der König seinen Einzug hielt, traten an ihn drei Menschen mit ihren besonderen Klagen heran. Der eine war Bauer der Mainzer Kirche, der zweite Waise, die dritte Witwe. Da der König ihre Anliegen anhören wollte, suchten ihn einige Fürsten abzulenken durch den Hinweis, er dürfe seine Weihe nicht verzögern und müsse rechtzeitig das heilige Amt hören. Doch als ein echter Stellvertreter Christi entgegnete er tief christlich mit einem Blick auf die Bischöfe: ›Wenn das Königsamt meine Aufgabe ist und ein Mann, der sich treu bleibt, niemals aufschieben darf, was ihm zu tun möglich ist, dann erscheint es mir richtiger, meine Pflicht zu tun, als mir von einem anderen sagen zu lassen, was ich tun soll. Soviel ich weiß, erklärt ihr immer, Rechtfertigung finde nicht, wer das Gesetz hört, sondern wer es erfüllt. Wenn ich mich aber nach euren Worten mit der Weihe beeilen muss, dann muss ich umso vorsichtiger meine Schritte bei einem Gotteswerk anhalten, je mehr ich spüre, dass 100 | Bernd S c hn e id müll e r
4. KORREKTUR
die hohe Würde auf mich zukommt.‹ Unter solchen Worten blieb er dort stehen, wo ihm die Unseligen entgegengetreten waren, ließ, seine Schritte verhaltend, ihnen Gerechtigkeit werden. Kaum war er ein Stück weitergegangen, da trat einer vor ihn mit der Behauptung, er sei ohne jede Schuld ins Elend gestoßen worden; der König ergriff seine Hand, führte ihn angesichts aller, die ihn umstanden, bis an seinen Thron, und dort übertrug er die Sache des Armen gewissenhaft einem seiner Fürsten. So beglückend sah man seine Regierung beginnen; der Rechtspflege widmete er mehr Eile als der Königskrönung. Größer war des Königs Streben nach Barmherzigkeit als sein Verlangen nach der Weihe. Auf dem Pfade der Gerechtigkeit wandelte er, als er der Königswürde entgegenging. Sprechen konnte er mit dem Psalmendichter: ›Mein Fuß steht auf dem rechten Wege!‹ Er stärkte sich mit der Tugend der Gnade, bevor er zum Richterstuhle emporstieg. Er fürchtete zu straucheln auf der Höhe des Königsthrones, wäre er nicht gerecht. Laut ist es zu preisen, dass er trotz seines ungewohnten Hochgefühls, umgeben von beflissenem Hofdienst, so vieler Armer Klagen vernahm und ihre Sache entschied. An Dingen, die sich sofort schlichten ließen, mochte er nicht vorbeigehen. Aufschub der Gerechtigkeit war ihm zuwider: das aber heißt regieren. Er verzögerte seine Weihe um der Würde des Königtums willen. Steht doch geschrieben: ›Die Würde des Königs beruht auf gerechtem Gericht.‹ Nichts wird von allen Dingen so nützlich stets sich erweisen für eines Königes Amt als sein gerechtes Gericht. So hat sich der König an diesem Tage für seine weitere Regierung den Weg bereitet durch Fälle, wie man sie vornehmlich der königlichen Entscheidung vorzulegen pflegt: durch den Schutz der Kirchen, Witwen und Waisen.
Die Pflege der Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person – so ließe sich diese Geschichte zusammenfassen – war die wichtigste Aufgabe des Herrschers. Gerechtes Gericht – nur das machte die Würde des Königs aus. Doch was meinte gerechtes Gericht? Für Wipo hing das mit Milde, mit Erbarmen, mit Fürsorge zusammen. Dabei stand der Schutz der scheinbar Schwachen im Zentrum, die Verteidigung von Kirchen, Witwen, Waisen. Dem ordnete Konrad II. – folgt man der Botschaft vom Krönungstag 1024 – bereitwillig allen Prunk, alle Selbstverwirklichung, alle gesellschaftliche Rücksichtnahme unter. Deshalb sollen die beiden Kernsätze der Mainzer Inszenierung noch einmal hervortreten: Aufschub der Gerechtigkeit war ihm zuwider: das aber heißt regieren (Renuit iustitiam dilatare, quoniam illud erat regnare). Steht doch geschrieben: ›Die Würde des Königs beruht auf gerechtem Gericht.‹ (Ps 98,4) (Honor regis iudicium diligit).
Eben dieses Psalmwort prangt auf einer der vier Bildplatten der heute in der Wiener Schatzkammer verwahrten Reichskrone, deren Bügel als Stiftung Konrads II. interpretiert wird: Honor regis iudicium diligit.13 Ge re cht igke it und p o l it i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 101
4. KORREKTUR
Das zweite Beispiel führt uns in die Zeit nach den großen Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Reich, mit denen sich die mittelalterliche Welt verwandelte.14 Bischof Otto von Freising präsentierte die Königskrönung seines Neffen Friedrich I. Barbarossa (1152-1190) im Jahr 1152 in Aachen mit den folgenden Worten:15 Ich glaube auch Folgendes nicht übergehen zu sollen: Als ihm nach Beendigung des Sakramentes der Salbung die Krone aufgesetzt wurde, warf sich ihm einer seiner Dienstmannen, dem er noch als Privatmann wegen einiger schwerer Vergehen seine Gnade entzogen hatte, mitten in der Kirche zu Füßen in der Hoffnung, ihn wegen der heiteren Stimmung dieses Tages erweichen und vom harten Rechtsstandpunkt abbringen zu können. Er aber verharrte bei seiner früheren Strenge; er blieb fest und gab uns allen damit ein Beispiel seiner nicht geringen Stetigkeit, wobei er erklärte, er habe jenen nicht aus Hass, sondern aus Gerechtigkeitssinn von seiner Gunst ausgeschlossen. Auch dies erregte bei den meisten Bewunderung, dass dieser junge Mann sich gewissermaßen die Gesinnung des Alters angeeignet hatte, so dass ihn seine glorreiche Erhöhung nicht erweichen und zur Vergebung von Vergehen veranlassen konnte. Kurz, nicht die Fürsprache der Fürsten, nicht die Verlockung des ihm lächelnden Glücks, nicht die bevorstehende Freude einer großen Festlichkeit konnten jenem Unglücklichen helfen: Von dem Unerbittlichen nicht erhört ging er fort.
Das Verhalten des Staufers in Aachen 1152 unterschied sich vollkommen von dem seines salischen Vorfahren in Mainz 1024. Für Barbarossa winkte nicht mehr das Glück der Könige, anders entscheiden zu dürfen als erwartet. Er verhielt sich in vorgezeichneten Bahnen und ließ sich allein von der Strenge der Gerechtigkeit leiten (rigor iustitie) – so erzählt es Ottos Geschichte, die entweder auf Wipo reagierte oder das Ritual des überschäumenden Großmuts gegen Unwürdige in der Stunde des eigenen Glücks verneinte. Auch wenn Barbarossa jeglichen Hass gegen einen wirklich Kleinen aus seinem Gefolge abstritt, überwältigte sein Gerechtigkeitssinn (iustitie intuitus) die Kraft zur Gnade (gratia sua). Welch ein Wandel, der Könige zu bloßen Vollstreckern von Gerechtigkeit werden ließ! Von dem Unerbittlichen nicht erhört ging der Bittsteller fort (ab inexorabili inexauditus abiit). Doch was Otto von Freising als Barbarossas Stärke feierte, erscheint bei der parallelen Lektüre Wipos eigentlich als herrscherliche Schwäche? Die Gerechtigkeit hielt den Staufer so sehr gebunden, dass er im Angesicht menschlichen Leids zum Unerbittlichen werden musste. Im 12. Jahrhundert trat die Gerechtigkeit ihren gnadenlosen Siegeszug an und überstrahlte alle situationsbezogenen Alternativen. Iustitia präsentierte sich in ihrer Eindeutigkeit. Sie unterwarf sich die Menschen, die Großen wie die Kleinen. Denn sie wurde nicht mehr von ihnen gemacht, sondern existierte jenseits aller Kompromisse. Die Fähigkeit zur herrscherlichen 102 | Bernd S c hn e id müll e r
4. KORREKTUR
Huld – jenem Zentralbegriff der frühmittelalterlichen Herrschaftspraxis16 – war abhanden gekommen. Was war in diesem Wechsel vom 11. zum 12. Jahrhundert geschehen?
Zwe i s t a uf isc he Kaise r al s G et rie be n e de r G e re c ht igke it Die neue Qualität der von Gerechtigkeit getriebenen Königsherrschaft soll wiederum an zwei Fallbeispielen beschrieben werden. Sie bilden den hochmittelalterlichen Wandel im Gefüge von Monarchie und Recht exemplarisch ab. Zunächst geht es um Aushandlungsprozesse in der politischen Konsensfindung des 12. Jahrhunderts. Die sogenannten »Welfenprozesse«, also die Verfahren zur Absetzung Heinrichs des Stolzen wie Heinrichs des Löwen als Herzöge von Bayern und Sachsen, demonstrieren uns, wie Gerechtigkeit von den Fürsten im Lehnsgericht gefunden wurde und wie die gemeinsame hocharistokratische Verantwortung die Macht Kaiser Friedrichs I. auf Gnadengewährung beschnitt. In einem zweiten Beispiel tritt die Strenge der Gerechtigkeit (rigor iustitie) als Handlungsmaxime Kaiser Friedrichs II. (1212–1250) hervor.
Beispiel 1: Die Tränen Barbarossas Wenden wir uns zunächst der Rechtsfindung und Rechtsvollstreckung in der staufisch-welfischen Konkurrenz um Reich und Königtum im 12. Jahrhundert zu.17 In zwei umstrittenen Königswahlen 1125 und 1138 geriet die Kooperation zwischen Fürsten aus dem welfischen und dem staufischen Haus erstmals aus den Fugen. Als nächster Verwandter der salischen Kaiser hatte sich Herzog Friedrich II. von Schwaben 1125 Hoffnungen auf den Thron gemacht. Gewählt wurde aber der sächsische Herzog Lothar, der bald seine einzige Tochter mit dem welfischen Herzog Heinrich dem Stolzen verheiratete.18 Beim Tod des Schwiegervaters 1138 griff dieser, Herzog von Bayern und Sachsen, nach der Krone. Doch jetzt wurde der Staufer Konrad III. (1138–1152), der jüngere Bruder des Schwabenherzogs, zum König erhoben. Seine Wahl glich einem Staatsstreich. Missmutig erkannte Heinrich der Stolze den Rivalen an. Was als Streit unter einzelnen vornehmen Männern begann, erschütterte die ganze Ordnung des Reichs.19 Um die Machtstellung seines welfischen Rivalen in zwei wichtigen Herzogtümern zu erschüttern, erhob der neue staufische König Konrad III. 1138 eine provokante Forderung: »Es sei Unrecht, wenn ein Fürst zwei Herzogtümer innehabe. Heinrich behauptete nämlich die Doppelherrschaft über Bayern und Sachsen.«20 Ge re cht igke it und p o l it i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 103
4. KORREKTUR
Als Heinrich nicht aufgab, verhängten die Fürsten die Reichsacht über den Welfen. Erst wurde ihm Sachsen, dann Bayern aberkannt und an Gefolgsleute des Staufers ausgegeben. Im Kampf um sein Erbe starb Heinrich der Stolze 1139. Der staufische Triumph schien perfekt. Doch war das gerecht? Der Sohn Heinrichs des Stolzen, Heinrich der Löwe, erkannte die väterliche Absetzung niemals an. Von König Konrad III. erstritt er sich das Herzogtum Sachsen als mütterliches Erbe, von Konrads Nachfolger Friedrich Barbarossa das Herzogtum Bayern als Land seiner Väter. Der Konflikt von 1138/39 wurde in der älteren Forschung als »erster Welfenprozess« bezeichnet.21 Die Anklagen, die Formen des Prozesses und die Durchsetzung des staufischen Willens waren freilich ohne Vorbild. Damals wurde vielmehr neues Recht geschaffen. Dagegen pochte der Löwe auf sein altes Recht, denn die Herzogtümer wurden längst als Erbe weitergegeben.22 Dass sich der Welfe endlich durchsetzte, beruhte nicht auf festen Regeln, sondern auf dem Glück, dass Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe zeitweilig zu gegenseitigem Nutzen zusammenfanden. Ihre Männerfreundschaft zerbrach nach einem Vierteljahrhundert. Als der Löwe dem Kaiser in dessen Niederlage gegen die italienischen Städte nicht beistand, folgte eine bis dahin einzigartige Prozesslawine. 1180 verlor Heinrich seine Herzogtümer Sachsen und Bayern. Von einer Spitzenstellung unter den deutschen Fürsten sank er auf den Rang eines bloßen Edelfreien herab. Doch wir wissen heute, dass nicht Barbarossa allein den größten Rivalen zur Strecke brachte.23 Die staufische Reichskanzlei formulierte ihre Version der Gerechtigkeit 1180 auf dem Hoftag von Gelnhausen in einer berühmten Urkunde.24 Dort bekräftigten die Fürsten die Absetzung des Welfen und zerlegten sein Herzogtum Sachsen in zwei Teile. Den westlichen Teil, Westfalen und Engern, erhielt der Kölner Erzbischof. Der östliche fiel an die Askanier als neue Herzöge von Sachsen. In kunstvollem Latein ließ der Kaiser ein doppeltes Verfahren festhalten. Zuerst hätten die Fürsten den Löwen wegen allerlei Verbrechen beklagt. Weil Heinrich aber nicht vor dem kaiserlichen Gericht erschienen sei, habe er die Majestät in unerträglichem Hochmut missachtet. Dies klagte der Kaiser seinerseits vor den Fürsten an. Und diese fällten das Urteil, dass Heinrich seine Reichslehen verlieren müsse. Die eindrucksvollen Wortkaskaden erwecken den Eindruck, dass in ordnungsgemäßem Verfahren nach lehnsrechtlichen Prinzipien geurteilt wurde. Doch das ist nicht der Fall. In seinem Ausmaß war der Prozess gegen Heinrich nämlich ohne Vorbild. Er griff allenfalls etablierte Normen auf, setzte dann aber die Formen des Verfahrens sowie die Urteilsmaßstäbe neu zusammen. Erneut wurde in diesem sogenannten »zweiten Welfenprozess« die Durchsetzung von Lehnsrecht innovativ gestaltet. Die Neuzeit bezeichnete dies später als einen »politischen Prozess«, in dem ein Gegner systematisch zur Strecke gebracht wurde.25
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4. KORREKTUR
Heinrichs Positionen brachen militärisch zusammen. Als er sich 1181 in Erfurt bedingungslos dem Kaiser unterwarf, schien der staufische Sieg abermals vollkommen. Doch der Bericht Arnolds von Lübeck lässt aufhorchen: »Der Herzog ... übergab sich vollständig der Gnade des Kaisers und warf sich ihm zu Füßen. Der hob ihn vom Boden auf und küsste ihn nicht ohne Tränen, weil ein solcher Gegensatz zwischen ihnen so lange gedauert habe und er [Heinrich] selbst der Grund einer solchen Erniedrigung gewesen sei. Ob die Tränen wahrhaftig waren, steht zu bezweifeln. Denn er scheint sich nicht wirklich über ihn erbarmt zu haben, weil er ihn nicht in den Stand früherer Würde zu bringen versuchte. Allerdings konnte er das im Moment wegen eines Eids auch gar nicht tun. Zuvor, als alle Fürsten auf seine Absetzung drängten, schwor ihnen der Kaiser beim Thron seiner Herrschaft, dass er ihn niemals in seine frühere Position einsetzen werde, wenn kein Einverständnis aller vorliege.«26 In der älteren Forschung wurden die »falschen Tränen« als Finte eines gnadenlosen Kaisers beurteilt.27 Neuerdings wird das anders gedeutet: Barbarossa hatte offensichtlich seine Kraft zur Gnade eingebüßt. Er war ein Getriebener seiner Fürsten. Diese hatten das Urteil über Heinrich den Löwen gesprochen. Diese hatten die freien Herzogtümer unter sich aufgeteilt, Sachsen an den Askanier und den Kölner, Bayern an den Wittelsbacher und den neuen steirischen Herzog. Nicht der Staufer, sondern die Fürsten profitierten vom Sturz des Welfen. In den Konflikten zwischen Staufern und Welfen gab es keinen strahlenden Sieger. Vielmehr setzte die Fürstengemeinschaft im Reich eine Herrschaft im Konsens durch. Sie begrenzte die kaiserliche Gestaltungskraft und bekräftigte die Fürstenverantwortung für das Reich.28 Aus der Neudeutung dieses berühmten Beispiels resultierten veränderte Beurteilungen der Mittelalterforschung. Bei den Konfliktlösungen um Heinrich den Stolzen oder Heinrich den Löwen halfen keine klar etablierten Handlungsmuster. Das Verfahren zur Ermittlung, Inszenierung und Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit musste in komplexen Aushandlungsprozessen erst gefunden werden. Damit tritt an die Stelle älterer Vorstellungen von Recht und Verfassung im Mittelalter die Einsicht in changierende Konfigurationen gelebter und gedachter Ordnung,29 die Einsicht zudem in die Variabilität von Rechtsgewohnheiten zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen gelebten und gesetzten Normen.30 Dieses Aufbrechen des traditionellen Verfassungsbegriffs zur Beschreibung mittelalterlicher Regelhaftigkeiten31 führt bei der Frage nach der Eindeutigkeit von Gerechtigkeit im politischen System zu Paradoxien. Das historische Beispiel macht nämlich deutlich: Gerechtigkeit wurde durch Aushandlung gefunden und wandelte sich darum mit den Mustern der Aushandlung. Gerechtigkeit wurde trotzdem stets im Singular gedacht und damit in eine nichtfunktionalistische Ebene jenseits menschlicher Verhandelbarkeit entrückt. Ge re cht igke it und p o l it i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 105
4. KORREKTUR
Diese
Eindeutigkeit beruhte möglicherweise auf einem immanenten Zwang zur Herstellung von Kohärenz, der in den Aushandlungsprozessen nicht eigens mitgedacht wurde, sondern diese unbewusst leitete.
Beispiel 2: Die Ansippung Kaiser Friedrichs II. an die Gerechtigkeit In seinen Konstitutionen für das Königreich Sizilien aus dem Jahr 1231 beschrieb Kaiser Friedrich II. den Ursprung des Rechts (De origine iuris, I 31). Danach beruhte die herrscherliche Gesetzgebungsgewalt auf der sogenannten Lex Regia, in der die römischen Bürger »das Recht zur Gesetzgebung und die Herrschaft auf den römischen Princeps übertragen« hatten:32 Die Gerechtigkeit sollte eben von demjenigen, welcher mit Hilfe des ihm übertragenen kaiserlichen Standes machtvoll über die Völker herrschte, ihren Ursprung nehmen, von dem auch ihre Verteidigung ausging. Wenn nun in derselben Person diese beiden, nämlich Ursprung und Hort des Rechts, zusammenfallen, so lässt sich von daher nachweisen, dies sei nicht so sehr des Vorteils halber denn aus Notwendigkeit so eingerichtet, damit der Gerechtigkeit nicht die Strenge und der Strenge nicht die Gerechtigkeit abgeht (et a iustitia rigor et a rigore iustitia non abesset). Folglich muss der Kaiser der Gerechtigkeit Vater sein und auch Sohn (pater et filius), Herr wie Diener (dominus et minister): Vater und Herr durch Hervorbringen der Gerechtigkeit und danach durch deren Wahrung; zugleich sei er in seiner Ehrfurcht vor der Gerechtigkeit Sohn und, indem er ihre Fülle darbietet, Diener.
Aus dieser gleichsam genealogischen Ansippung an die Gerechtigkeit resultierte der Auftrag an die kaiserlichen Amtsträger: »ohne irgendwelches Ansehen der Person allen zusammen und jedem für sich mit willigem Eifer Gerechtigkeit verschaffen«. »Über die Pflege der Gerechtigkeit« handelt das folgende Kapitel (I 32). Die ordnungsgemäße Durchführung von Gerichtsverfahren sollte dem Prinzip folgen: »Schweigen wird als Huldigung vor der Gerechtigkeit angesehen« – Cultus iustitie silentium reputatur.33 Die Zusammenfügung von Gerechtigkeit und Strenge entspricht dem neuen und umfassenden Zugriff Friedrichs II. auf sein Königreich Sizilien. Die Autorität der kaiserlichen Konstitutionen wollte alle regionalen oder lokalen Rechtstraditionen überlagern. Überall sollten gleiches Recht, gleiche Gesetzgebung, gleiche Gerechtigkeit gelten. Dabei präsentierte sich Friedrich II. nicht als huldvoller, sondern als strenger Kaiser und damit als Richter. So folgte er den Traditionen seiner normannischen Vorfahren, die ihr Herrschaftskonzept mit Recht und Terror durchsetzten.34 106 | Bernd S c hn e id müll e r
4. KORREKTUR
In der politischen Praxis verfolgte Friedrich II. Widerstand unerbittlich als Majestätsverbrechen. Das begründete seinen Ruf als unbarmherziger Richter. Das Vorgehen gegen Rebellen in Capaccio 1246 kann als Beispiel herangezogen werden. Friedrichs grausam erscheinendes Handeln wurde keineswegs nur in antistaufischer Propaganda, sondern auch von ihm selbst in einem Brief an Alfons von Kastilien beschrieben.35 Georg Vogeler interpretiert das so: »Die Verschwörer wurden geblendet und verstümmelt, verbrannt oder mit einer Papstbulle behängt durch das Regnum geführt. Nicht zuletzt die Bulle belegt, dass diese Strafen Teil von symbolischer Kommunikation waren: Die Verschwörer galten damit als Handlanger Innozenz’ IV., des in dieser Zeit endzeitlich stilisierten Gegners Friedrichs. Die übrigen Strafen werden in dem erwähnten Brief Friedrichs und vom Magister Terrisius den vier Elementen zugeordnet. Sie dienten also der öffentlichen Darstellung des kaiserlichen Herrschaftsanspruches.«36
Sc h l us s Mittelalterliche Herrschaft – so lassen sich unsere Überlegungen zusammenfassen – zielte vom Prinzip her auf die Verwirklichung einer ideal verstandenen und in der Transzendenz verankerten iustitia, vollzog sich in der Praxis jedoch in Gebot, Widerstand, Aushandlung und Konsensherstellung. An aussagekräftigen Beispielen konnten wir zentrale Konfliktlinien des 11. bis 13. Jahrhunderts verfolgen und dabei den Wandel von Gerechtigkeitsvorstellungen erkennen. Die Strenge der Gerechtigkeit löste die ältere gratiale Herrschaft ab. Als den Königen die Kraft zur Huld abhanden kam, beriefen sich widerstreitende Akteure auf die Idee einer überzeitlichen Gerechtigkeit. Dagegen schuf die politische Praxis flexible Verfahrensformen, in denen sich konsequente Postulate pragmatisch verformten. Gerechtigkeit wurde in der Eindeutigkeit gedacht und in der Vieldeutigkeit gelebt. Aus dem immanenten Zwang zur Herstellung von Kohärenz – so lautet eine Hypothese des Beitrags – erwuchs ein beständiger Wechsel von idealen Leitbildern und situativen Kompromissen. Daraus sollen am Ende keine klaren Resultate, sondern vielmehr drei Fragen des Historikers nicht nur an das lateinische Mittelalter stehen: Warum wurde Gerechtigkeit nicht in ihrer sozialen oder kulturellen Gebundenheit verstanden? Warum wurde Gerechtigkeit nur im Singular gedacht und weder synchronisch noch diachronisch im Plural ausgehalten? Wie ist der beständige Drang zur Kohärenz zu erklären, der Gerechtigkeit nur in der Eindeutigkeit begriff – durch erzieherischen Drill eingeübt, von Generation zu Generation verabredet, gesellschaftlich so verabredet, gar anthropologisch determiniert? Ge re cht igke it und p o l it i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 107
4. KORREKTUR
Grabtumba Papst Clemens’ II. im Westchor des Bamberger Doms
Personifikation der Iustitia
Personifikation der Fortitudo
Personifikation der Temperantia
Personifikation der Prudentia
Personifikation eines Paradiesflusses
Alle Fotos von Achim Hubel (Bamberg)
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4. KORREKTUR
A n m e r kun ge n 1 Überblick bei O. Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 32007; Art. »Gerechtigkeit«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974), Sp. 329–338; Art. »Gerechtigkeit«, in: Theologische Realenzyklopädie 12 (1984), S. 404–448; Art. »Gerechtigkeit«, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (31995), Sp. 498–504; G. Kocher, Art. »Gerechtigkeits- und Gerichtsbilder«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2, 9. Lfg. (22009), Sp. 127–131. – Interessant für den interdisziplinären Diskurs zum Thema: Ein Artikel Gerechtigkeit fehlt im Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe. 2 J. Fried, »Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter«, Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 313–361; J. Fried (Hrsg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 39), Sigmaringen 1991. 3 S. Mähl, Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 9), Köln / Wien 1969; M. J. Tracey, Art. »Tugenden und Laster, Tugend- und Lasterkataloge«, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997), Sp. 1085– 1088. 4 Zitat aus U. Klein, Art. »Kardinaltugenden«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 4 (1976), Sp. 695 f. Vgl. K. Hilpert, Art. »Kardinaltugenden«, in: Lexikon für Theologie und Kirche 5 (31996), Sp. 1232–1234. 5 Zum Grabmal Papst Clemens’ II. vgl. A. Hubel, »Die jüngere Bildhauerwerkstatt des Bamberger Doms. Überlegungen zur Erzählform und zur Deutung der Skulpturen«, in: St. Gasser / Chr. Freigang / B. Boerner (Hgg.), Architektur und Monumentalskulptur des 12.–14. Jahrhunderts. Produktion und Rezeption / Architecture et sculpture monumentale du 12e au 14e siècle. Production et réception, Bern 2006, S. 475–528; A. Hubel, »Überlegungen zum Grabmal des Papstes Clemens II. im Bamberger Dom«, in: Ders. (Hrsg.), Neue Forschungen zur mittelalterlichen Bau- und Kunstgeschichte in Franken (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien. Vorträge und Vorlesungen 2), Bamberg 2011, S. 11–49. 6 J. Scharbert, Art. »Gerechtigkeit Gottes«, in: Theologische Realenzyklopädie 12 (1984), S. 408–411; K. Kertelge / O. H. Pesch, Art. »Gerechtigkeit Gottes«, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (³1995), Sp. 504–507. 7 Das Register Gregors VII., hrsg. von E. Caspar (Monumenta Germaniae Historica. Epistolae selectae 2), Berlin 1920-1923, II 55a, S. 201–208, hier Satz XXII, S. 207. 8 Zuschreibung an Gregor VII. Zuerst bezeugt in der um 1095 zusammengestellten Kirchenrechtssammlung Ivos von Chartres (IV, 213), laut Ivo aus einem Brief Gregors VII. an Bischof Guitmund von Aversa ( JL 5277). Guitmund wurde freilich erst unter Papst Urban II. zum Bischof von Aversa erhoben; deshalb könnte der Ausspruch auch von Urban II. stammen. Wichtig ist die unterschiedliche Tradition von consuetudo: bei Gregor VII. eher negativ, bei Urban II. eher positiv. Quellenkritische Diskussion bei W. Hartmann, Wahrheit und Gewohnheit. Autoritätenwechsel und Überzeugungsstrategien in der späten Salierzeit, in: B. Schneidmüller Ge re cht igke it und p o l it i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 109
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/ St. Weinfurter (Hgg.), Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007, S. 65–84, hier S. 65–67. 9 Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV., bearb. von C. Erdmann†/ N. Fickermann (Monumenta Germaniae Historica. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 5), Weimar 1950, Nr. 35, S. 75 f., hier S. 76 [Aufzeichnung über den letzten Willen Gregors VII.]. Vgl. U.-R. Blumenthal, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2001, S. 329 f. 10 St. Weinfurter, »Das Ritual der Investitur und die ›gratiale Herrschaftsordnung‹ im Mittelalter«, in: A. v. Hülsen-Esch (Hrsg.), Inszenierung und Ritual in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora 40), Düsseldorf 2005, S. 135–151; St. Weinfurter, »Herrschen durch Gnade. Die Autorität des Königs im frühen 11. Jahrhundert«, in: E. Hlawitschka (Hrsg.), Forschungsbeiträge der Geisteswissenschaftlichen Klasse (Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 29), München 2009, S. 109–126. 11 Wipo, Gesta Chuonradi imperatoris, hrsg. von H. Bresslau, Die Werke Wipos (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 61), Hannover / Leipzig 31915, cap. 3, S. 23. Deutsche Übersetzung: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der hamburgischen Kirche und des Reiches, neu übertragen von W. Trillmich (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 11), Darmstadt 1961, S. 549. 12 Wipo, Gesta (o. Anm. 11), cap. 5, S. 26 f. Übersetzung S. 553/555. 13 Zur Reichskrone R. Staats, Theologie der Reichskrone. Ottonische »Renovatio Imperii« im Spiegel einer Insignie (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 13), Stuttgart 1976; G. G. Wolf, Die Wiener Reichskrone (Schriften des Kunsthistorischen Museums 1), Wien 1995. 14 St. Weinfurter, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006. 15 Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris, hrsg. von G. Waitz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum 46), Hannover / Leipzig 31912, II 3, S. 104 f. Deutsche Übersetzung: Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, übersetzt von A. Schmidt, hrsg. von F.-J. Schmale (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 17), Darmstadt 1965, S. 287/289. 16 G. Althoff, »Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung«, Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 259–282. 17 Kritisch zur Reduktion der hochmittelalterlichen Reichsgeschichte auf einen bloßen staufischwelfischen Konflikt ist W. Hechberger, Staufer und Welfen 1125–1190. Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (Passauer Historische Forschungen 10), Köln / Weimar / Wien 1996. Die Revision zum älteren Sprachgebrauch erfolgte dann in: W. Hechberger / F. Schuller (Hgg.), Staufer & Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter, Regensburg 2009. 18 Zu den Erinnerungsquellen von 1125 B. Schneidmüller, »Mittelalterliche Geschichtsschreibung als Überzeugungsstrategie. Eine Königswahl des 12. Jahrhunderts im Wettstreit der Erinnerungen«, in: A. Chaniotis / A. Kropp / Chr. Steinhoff (Hgg.), Überzeu110 | Bernd S c hn e id müll e r
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gungsstrategien (= Heidelberger Jahrbücher 52 [2008]), Berlin / Heidelberg 2009, S. 167– 188. Der nächste Textteil folgt einer eigenen Publikation: B. Schneidmüller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819–1252) (Urban-Taschenbücher 465), Stuttgart / Berlin /Köln 2000, S. 173–239. Neuere Gesamtdarstellungen zum 12. Jahrhundert stammen von J. Ehlers, Heinrich der Löwe. Eine Biographie, München 2008; K. Görich, Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011. Helmold von Bosau, Cronica Slavorum, hrsg. von B. Schmeidler (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 32), Hannover 31937, cap. 54, S. 106. E. Boshof, »Staufer und Welfen in der Regierungszeit Konrads III. Die ersten Welfenprozesse und die Opposition Welfs VI.«, Archiv für Kulturgeschichte 70 (1988), S. 313–341; H. Vollrath, »Fürstenurteile im staufisch-welfischen Konflikt von 1138 bis zum Privilegium Minus. Recht und Gericht in der oralen Rechtswelt des früheren Mittelalters«, in: K. Kroeschell / A. Cordes (Hgg.), Funktion und Form. Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 18), Berlin 1996, S. 39–62. T. Weller, Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert (Rheinisches Archiv 149), Köln / Weimar / Wien 2004. Zur neuen Sicht des Lehnswesens: J. Dendorfer / R. Deutinger (Hgg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz (Mittelalter-Forschungen 34), Ostfildern 2010. Die Neudeutung begann mit St. Weinfurter, »Erzbischof Philipp von Köln und der Sturz Heinrichs des Löwen«, in: ders., Gelebte Ordnung – Gedachte Ordnung. Ausgewählte Beiträge zu König, Kirche und Reich, hrsg. von H. Kluger / H. Seibert / W. Bomm, Ostfildern 2005, S. 335–359 [zuerst 1993]. Monumenta Germaniae Historica. Die Urkunden Friedrichs I., Bd. 3: 1168-1180, bearb. von H. Appelt, Hannover 1985, Nr. 795, S. 360-363. Deutsche Übersetzung: Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, hrsg. von L. Weinrich (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 32), Darmstadt 1977, Nr. 74, S. 299–303. H. Mitteis, Politische Prozesse des früheren Mittelalters in Deutschland und Frankreich (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1926/27, 3), Heidelberg 1927; F. Battenberg, Herrschaft und Verfahren. Politische Prozesse im mittelalterlichen Römisch-Deutschen Reich, Darmstadt 1995. Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum, hrsg. von J. M. Lappenberg (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum im usum scholarum 14), Hannover 1868, II 22, S. 67. Die neuen Interpretationen gehen jetzt aus von G. Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Ge re cht igke it und p o l it i sc h e P rax i s i m M i t t e l alt e r | 111
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28 B. Schneidmüller, »Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter«, in: P.-J. Heinig u.a. (Hgg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, S. 53–87. 29 B. Schneidmüller / St. Weinfurter (Hgg.), Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 64), Ostfildern 2006. 30 M. Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien / Köln / Weimar 2009. Dazu die Auseinandersetzung in der Zeitschrift Rechtsgeschichte 17 (2010), S. 15–90. 31 Hinweise bei B. Schneidmüller, »Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter«, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 485–500; ders., »Vor dem Staat. Über neuere Versuche zur mittelalterlichen Herrschaft«, Rechtsgeschichte 13 (2008), S. 178–186. 32 Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien, hrsg. von W. Stürner (Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum Bd. 2. suppl.), Hannover 1996, I 31, S. 185 f. Deutsche Übersetzung: Die Konstitutionen Friedrichs II. von Hohenstaufen für sein Königreich Sizilien. Nach einer lateinischen Handschrift des 13. Jahrhunderts, hrsg. von H. Conrad / Th. von der Lieck-Buyken / W. Wagner (Studien und Quellen zur Welt Kaiser Friedrichs II. 2), Köln/Wien 1973, S. 45/47. 33 Ebd. I 32, S. 186. Übersetzung S. 47. 34 Th. Broekmann, ›Rigor iustitiae‹. Herrschaft, Recht und Terror im normannisch-staufischen Süden (1050–1250) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2005. 35 Brief Friedrichs II. an König Alfons von Kastilien vom 21. Juli 1246: Historia diplomatica Friderici secundi. Sive constitutiones, privilegia, mandata, instrumenta quae supersunt istius imperatoris et filiorum ejus, hrsg. von J. L. A. Huillard-Bréholles, 6 Bde., Paris 1852–1861, hier Bd. 6, S. 438 f.; Berichte über die Strafen, S. 457. 36 Zitat von G. Vogeler, »Konflikte in Süditalien«, in: B. Schneidmüller / St. Weinfurter / A. Wieczorek (Hgg.), Verwandlungen des Stauferreichs. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, Darmstadt 2010, S. 192–209, hier S. 199. Beleg für die Strafen bei: Acta imperii inedita saeculi XIII. Urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreiches und des Königreiches Sizilien in den Jahren 1198–1273, hrsg. von E. Winkelmann (Acta imperii inedita 1), Innsbruck 1880, Nr. 725, S. 570 f.
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Mirko Breitenstein
EINLEITUNG: PLURALISIERUNG VON GERECHTIGKEIT Die Frühe Neuzeit ist zu ihrem Beginn von einer charakteristischen Doppelgesichtigkeit geprägt: Auf der einen Seite steht der programmatische Wiederanschluss an die Antike und an die in ihren Texten niedergelegten Konzepte, wie es dem Selbstverständnis einer ›Renaissance‹ entspricht. Nicht minder bleibt jedoch ein erhebliches Maß an Kontinuitäten und allenfalls langsamen Verschiebungen gegenüber Praktiken des Mittelalters festzustellen. Aus solcher Doppelorientierung erwachsen eine Fülle von Spannungsfeldern, deren Auflösung dann im weiteren Verlauf eine erhebliche Dynamik freisetzt. Dies kennzeichnet auch den frühneuzeitlichen Umgang mit Gerechtigkeit. Die konzeptionelle Auseinandersetzung mit ihr kreist, wie Bernhard Huss herausarbeitet, um die zentrale Frage, wie eine in der Praxis wirksame Gerechtigkeit metaphysisch oder religiös, d.h. in einer diese Praxis transzendierenden Weise abgesichert werden kann: Ein Problem, das vor allem daraus entsteht, dass die Verankerung von Recht und Gerechtigkeit im Göttlichen seine Selbstverständlichkeit verliert. Im Gegenzug ist ein steigendes Interesse an der Bestimmung von institutioneller und politischer Gerechtigkeit zu beobachten. Huss zeigt an vier Fallbeispielen die für die Renaissance spezifische Pluralisierung von Lösungsangeboten: Während Filelfo für einen komplett säkularisierten Gerechtigkeitsdiskurs steht, ist bei Coluccio Salutati zwar ein Absicherungsversuch im Göttlichen zu beobachten, der sich jedoch als sekundär erweist. Ganz anders wieder Ficino, bei dem Gerechtigkeit reibungslos in den göttlichen Weltenplan eingefügt wird. Sperone Speroni schließlich liefert einen Paradefall für die Auffassung, dass es nicht die eine Gerechtigkeit, sondern nur Gerechtigkeiten gebe. Sein Ausgangspunkt, eine jeweils von Staatsform, Region und Religion abhängige umfassende Wandelbarkeit von Recht und Gerechtigkeit anzunehmen, führt ihn, wie Huss hervorhebt, zu einer weit vorausweisenden Pragmatik der iustitia. Im italienischen giustizia, das aus dem lateinischen iustitia hervorgegangen ist, wird weit mehr als im Deutschen der Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit deutlich, insofern beide mit demselben Begriff bezeichnet werden. Denn giustizia steht zugleich für den institutionellen Rahmen, in dem beide – Recht wie auch Gerechtigkeit – ihren praktischen Bezug haben: den Bereich der Rechtspflege, der Justiz. Dieser gleichsam genetische Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis, zwischen Nachdenken über das, was Recht und Unrecht ist, und dem P l ura l i si e ru n g von G e re c ht i g ke i t | 115
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Bemühen, die bei diesem Nachdenken gewonnenen Erkenntnisse auch umzusetzen, kommt somit schon im Begriff zum Ausdruck. Recht und seine Anwendung sind Gegenstand des Beitrags von Giancarlo Andenna. Er beschreibt die Erfolgsgeschichte einer Institution, die sich im Spannungsfeld von Recht und Gerechtigkeit im Bereich der Rechtspflege entwickelte: Schiedsherren (arbitratores), die nicht einfach Recht sprachen, sondern – losgelöst von den Zwängen einer fixen Gesetzesordnung – die Umstände jedes einzelnen von ihnen behandelten Falles berücksichtigten; Schiedsgerichte, von denen kein Urteil erwartet wurde, sondern ein alle Beteiligten befriedigender Kompromiss. Gerechtigkeit, so macht Andenna deutlich, konnte auch im Verzicht auf Recht gründen. Der an dieser Stelle eingeführte Begriff ist jener der Billigkeit (aequitas). In den vorgestellten Fällen einigten sich die Konfliktparteien darauf, ihren Streitfall nicht durch einen Richter nach Recht und Gesetz lösen zu lassen, vielmehr strebten sie eine Entscheidung an, die beiden Seiten gerecht werden sollte. Während der ordentliche Richter seine Autorität aus dem Gesetz bezog, das er repräsentierte, erhielt der Schiedsherr seine Befugnisse von denen, die ihn beauftragten. Seine Legitimation war somit bereits Ergebnis eines Konsenses der Parteien, deren Streit er nicht nach Recht, wohl aber gerecht lösen sollte. In einer Zeit erblühender Städte mit sich ausweitenden Handelsbeziehungen und neuen Herrschaftsordnungen scheint mit dem Schiedsverfahren eine Form der Rechtspraxis gefunden worden zu sein, durch die sich neben der Rechtsanwendung durch Gesetzesvollzug ein neues und komplementäres Gerechtigkeitsprinzip etablieren konnte. Dieses Prinzip war nicht darauf orientiert, allgemeine Regeln durch formal gerechtes Handeln aufzustellen, sondern den Einzelfall als Einzelfall zu entscheiden. Man geht wohl kaum zu weit, wenn man diese Entwicklung als einen genuinen, dabei spezifischen Ausdruck des zu Eingang dieses Bandes thematisierten Verlangens nach Vollkommenheit bezeichnet. Denn am Beispiel des Schiedsverfahrens tritt auf der praktischen Ebene zutage, was bei der Suche nach übergeordneten Begründungsmustern für Gerechtigkeit von jeher gilt: Hierin wird ein Verlangen nach einer Gerechtigkeit deutlich, die mehr ist als das, was auf konventionellem Gerichtswege zu erwarten ist, ein Verlangen nach einer Gerechtigkeit, die Bestand hat, ein Verlangen nach einer Gerechtigkeit, die allen Beteiligten das Gefühl gibt, gerecht behandelt worden zu sein.
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Bernhard Huss
GERECHTIGKEITSKONZEPTIONEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT Wer versucht, sich der Frage, wie in der Frühen Neuzeit ›Gerechtigkeit‹ gedacht wird, mit Hilfe neuerer Überblicksdarstellungen anzunähern, wird schnell enttäuscht. Schlägt man beispielsweise das 2009 erschienene Büchlein Gerechtigkeit von Elisabeth Holzleithner auf, so ist man zunächst erfreut, im ersten Kapitel sogleich einen Abriss »Zur Geschichte der Gerechtigkeit« präsentiert zu bekommen. Hier wird zu Beginn die Antike mit Platon, Aristoteles und Cicero behandelt, sodann das Mittelalter, das im Wesentlichen aus Thomas von Aquin zu bestehen scheint. Nach ihm, also nach dem Mittelalter, kommen »Neuzeit und Aufklärung«, wobei an den 1274 gestorbenen Aquinaten gleich der 1588 geborene Thomas Hobbes anschließt. Eine Gerechtigkeitsdebatte der Frühen Neuzeit scheint es hier gar nicht zu geben, und in manchen anderen panoramatischen Darstellungen zur Gerechtigkeit ist das ähnlich. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Theoriebildung der Renaissance auf antike Texte und Konzeptionen zurückgreift, die uns Heutige allzu wohlvertraut anmuten können. So erscheint uns heute vielleicht so manch rinascimentale Theorie als schlicht ›nichts Neues‹, als etwas bereits in der Antike (womöglich tiefgreifender und trennschärfer) Verhandeltes, und von daher kaum der kritischen Behandlung wert. In der Frühen Neuzeit selbst musste das Bewusstsein des sachlichen Abstands und der zeitlichen Distanz zu den antiken Texten, die ja großenteils verloren oder beschädigt gewesen waren und erst allmählich wieder ans Tageslicht der kulturellen Aufmerksamkeit gezogen wurden, aber viel stärker sein. Daraus resultierend dürfte sich auch die Tatsache einer neuen Vielfalt in der Wahl der konzeptionellen und theoretischen Optionen, die eine reaktualisierte Antike erschloss, den Zeitgenossen der Renaissance erheblich stärker aufgedrängt haben als uns. Diese Vielfalt wurde ganz allgemein forciert durch das verstärkte Abbröckeln überkommener religiös-theologischer Legitimationsmuster von Autorität, die einen ordnenden und einheitsstiftenden Charakter gehabt hatten. All das gilt auch für die frühneuzeitlichen Konzeptionen von Gerechtigkeit: Kannte man schließlich einmal die antiken Grundlagentexte, so war deren je unterschiedliche Interpretierbarkeit der entscheidende Punkt. Das Phänomen einer Vervielfältigung des Wissens wird auch im Fall der Gerechtigkeitskonzeptionen an der Auslegungsarbeit mit den neu bekannt gewordenen oder in neuem Licht gedeuteten relevanten Basistexten der Antike greifbar. Am Umgang der Frühen Neuzeit Ge re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 117
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mit einem Thema wie der Gerechtigkeit ist letztlich nicht so sehr das theoretische ›Quellenmaterial‹ per se interessant, mit dem wir es zu tun haben, sondern die jeweils unterschiedliche argumentationsstrategische Ausrichtung, mit der dieses Material in unterschiedliche Gerechtigkeitskonzeptionen integriert wird. Was die grundsätzlichen Strategien betrifft, mit denen Gerechtigkeit in der Frühen Neuzeit konzipiert wird, scheint es mir hinsichtlich ihrer Unterschiede wesentlich um eine zentrale Frage zu gehen, nämlich um die Frage, ob eine im Bereich weltlicher Lebenspraxis wirksame Gerechtigkeit, also eine soziopolitisch sich manifestierende Gerechtigkeit, durch eine metaphysisch-religiöse Rückbindung abgesichert werden kann und soll – oder nicht. Als spätmittelalterliche Folie dieser Frage kann etwa Dantes Monarchia (Buch 1, Kap. 11) dienen, in der das Postulat einer Weltherrschaft des Monarchen u.a. durch den Verweis auf die normsetzende Wirkung der iustitia als regulativer Maßstab begründet wird, sofern »die Gerechtigkeit von sich aus und in ihrem Wesen betrachtet eine gewisse Geradheit oder ein Maßstab ist, welcher das Unrechtmäßige nach beiden Seiten von sich weist. Und deshalb lässt sie kein Mehr oder Weniger zu«.1 In Rückverweis auf die Kosmologie und Seinslehre des platonistischen Liber de causis (1.11.17), der von Dante zur Erläuterung der göttlichen Ordnung des Universums nicht nur hier herangezogen wird, wird deutlich, dass der Monarch in Entsprechung zu Gottes Ordnungswillen als »unter allen Sterblichen das lauterste Subjekt der Gerechtigkeit« bezeichnet werden kann.2 Gerechtigkeit als Richtschnur seinsmäßiger wie moralischer, politischer und sozialer Verteilung wird hier im Rahmen einer metaphysischen Argumentation ins Feld geführt, um die Struktur weltlicher Herrschaft an Gottes Willen festzumachen. Eine Verankerung von Recht und Gerechtigkeit im Göttlichen wird demgegenüber in der Frühen Neuzeit prekär. Sehr global gesprochen ist in der Renaissance eine ansteigende Tendenz zu einer Säkularisierung3 des Rechtsdenkens zu beobachten, in deren Rahmen »das Recht […] zunehmend aus dem Bezug zur göttlichen Transzendenz herausgelöst« wird.4 Im Verbund damit steigt das Interesse an der Definition der institutionellen und politischen Gerechtigkeit im Verhältnis zur personalen Gerechtigkeit, die (folgt man Otfried Höffe) für das Mittelalter noch im Zentrum der theoretischen Überlegungen stand.5 Wir sind in der Frühen Neuzeit, womit ich besonders das 15. und 16. Jahrhundert meine, allerdings noch entfernt von einer u.a. mit John Locke einsetzenden neuzeitlich-technizistischen Auffassung von Gerechtigkeit, die aus der theoretischen Aufwertung der Arbeit resultiert und in das Zentrum eine »Gerechtigkeit im engeren Sinn« stellt, d.h. ein Interesse »an der Regelung von Tausch und Verteilung unter Voraussetzung eines durch Arbeit gegebenen Anspruches aller auf Gerechtigkeit«.6 Erst recht fern ist die Ära, in der »das neue Naturrecht als Vernunftrecht«7 instauriert und Gerechtigkeit auf exklusiv rationalistischer Basis gefasst werden sollte. Vielmehr ist 118 | Bernhard H us s
die Frühe Neuzeit der Austragungsort von Verhandlungen zwischen vorwiegend, manchmal ausschließlich weltlich gerichteten Konzepten der Gerechtigkeit einerseits und andererseits Versuchen einer neuartigen metaphysischen Dogmatisierung des Gerechtigkeitsbegriffs. Dabei scheint die ›Vollstufe‹ eines komplett säkularisierten Diskurses über die Gerechtigkeit nicht unbedingt der Normalfall zu sein, aber doch zu existieren. Ein Beispiel ist der Sermone trattando di giustizia von Francesco Filelfo (1398–1481), der nicht datiert ist, aber möglicherweise auf eine frühe Phase in Filelfos Leben zurückgeht, in der er in Florenz zu den Gegnern der herrschenden Familie Medici gehörte. Es handelt sich um eine öffentlich vorzutragende Rede, in der die Gerechtigkeit ausschließlich als iustitia civilis (politische Gerechtigkeit) gefasst wird, und zwar in Orientierung an Aristoteles, der nicht nur namentlich genannt wird, sondern auch durch das Euripides-Zitat (aus der Melanippe, Frg. 486 N.) markiert ist, das im fünften Buch der Nikomachischen Ethik den Passus über die allgemeine Gerechtigkeit als die vollkommene Tugend garniert (»weder Abendstern noch Morgenstern sind derart wunderbar«8). Filelfo behandelt die iustitia civilis als soziales Bindemittel und Stabilisator staatlicher Strukturen unterschiedlicher Ausprägung:9 Gerechtigkeit ist also allein diejenige Tugend, die die Menschen in angenehmen und anständigen Gemeinschaften vereint, und durch die sich stolze, bisweilen von Natur aus gänzlich widerspenstige Charaktere bescheiden und sich zu einer für die Allgemeinheit akzeptablen Lebensart bereitfinden, im Einklang mit der Eleganz, der Würdigkeit und dem Glanz bewährter und akzeptierter Verhaltensweisen. Sie ist es, durch die prachtvolle Städte, erhabene und großartige Reiche, berühmte, triumphbeladene Mächte sich immerfort erhalten können.
Die Betonung staatspolitischer Stabilisierung als einer Funktion der Gerechtigkeit begegnet nicht etwa nur bei Filelfo. Vielmehr wird das Gesetz als Ausdruck des »öffentlichen Konsenses der Stadt, der schriftlich verordnet, was man tun muss und was man nicht tun darf«,10 in der Frühen Neuzeit häufig als fixer Orientierungspunkt für das Funktionieren der staatlichen Ordnung gesehen. Dabei wird typischerweise ein ›bürgerlicher‹ Ton angeschlagen, der aber auch dazu dienen konnte, das besitzende Bürgertum auf die Unterstützung monarchischer Herrschaftsträger (Fürsten, Herzöge, Könige) einzuschwören.11 Das allerdings auffällige Moment an Filelfos Sermone ist das Fehlen jeglichen Hinweises auf einen transzendenten Ursprung oder eine Form der Gerechtigkeit, die der weltlich-pragmatisch-politischen iustitia hierarchisch oder vom Ursprung her übergeordnet wäre. Stattdessen scheinen zwei andere Aspekte in seinem soeben zitierten Text auf: Zum einen sind es offensichtlich die ›Stärkeren‹, die sich der Gerechtigkeit Ge re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 119
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unterwerfen: d.h., Filelfo verhandelt in knapper Andeutung das epochal schwierige Verhältnis zwischen einem ›Recht des Stärkeren‹ und der Domestizierung dieses Rechts durch eine weltliche iustitia. Zum anderen werden in dieser Unterordnung der Stolzen und Widerspenstigen durch die Gerechtigkeit Formen der Macht produziert, an deren Wahrnehmbarkeit Filelfo ihr ästhetisches Maß hervorhebt: Resultat der Einwirkung der Gerechtigkeit auf die starken menschlichen Individuen sind menschliche Verbünde, die nicht nur moralisch hinsichtlich ihrer Anständigkeit, sondern auch ästhetisch hinsichtlich ihrer Annehmlichkeit perspektiviert (und positiviert) erscheinen, und Resultat ist ferner eine ›zivilisierte‹ Lebensweise nach Maßgabe von »Eleganz, Würdigkeit und Glanz« sozial kompatiblen Betragens. Dies sind Kategorien, die der zeitgenössische Diskurs insbesondere aus rhetorischen und poetologischen Zusammenhängen kennt. Iustitia hat hier also gewissermaßen ›stilistische‹ Effekte. Die Gerechtigkeit formiert mithin die menschliche Gesellschaft im Sinne jener ›Rhetorisierung der Ethik‹, die auf politisch-sozial effektvolle Außenwirkung des individuellen Verhaltens zielt und bereits des Öfteren als ein Merkmal der rinascimentalen Epochensignatur ausgemacht wurde.12 Dass mit jener Rhetorisierung der Ethik zugleich ihre philosophische Aushöhlung einhergeht, ist der tiefere Grund für das von uns beobachtete Wegfallen einer transzendenten Motivierung der iustitia bei Filelfo. Im Gegensatz hierzu tendieren viele theoretische Texte über die Gerechtigkeit dazu, ungeachtet einer soziopolitischen Schwerpunktsetzung den Versuch zu unternehmen, die jeweilige Konzeption der iustitia durch einen Rückbezug auf einen göttlichen Ursprungsbereich abzusichern. Dies gilt im 16. Jahrhundert für eine Rede wie De laudibus iustitiae von Marc Antoine Muret: In dieser akademischen Einführungsvorlesung von 1565 wird die Kommentierung des fünften Buchs der Nikomachischen Ethik mit allgemeinen Ausführungen über die staatliche und gemeinschaftsbegründende Funktion der Gerechtigkeit eingeleitet. Diese Erörterung rahmt Muretus aber durch eine Darstellung der Gerechtigkeit als Garantin der gesamten Weltordnung und durch einen Abschluss, der explizit auf platonistischpythagoreische Harmoniemodelle des Kosmos verweist und die iustitia als Manifestation einer solchen Harmonie ausweisen will. Während man das für eine Klitterung der verfügbaren Referenzsysteme halten kann, wie sie für die Hochrenaissance nicht untypisch ist, geht es viel früher, nämlich 1399, Coluccio Salutati in De nobilitate legum et medicinae um etwas anderes. Die für uns zentralen Passus aus diesem Text lauten wie folgt:13 Denn so wie die Kunst der Natur folgt und sie nachahmt, genauso blickt alles Menschliche auf das Göttliche hin; und weil das eine dem Menschen von Natur zukommt, das andere durch eigene Erfahrung – was gleichwohl auch von Gott stammt –, so ist es nicht ohne Stimmigkeit, daß es ein göttliches Gesetz gibt, sodann dessen Abdruck in der Natur und zuletzt 120 | Bernhard H us s
seine Verkündigung, die wir das menschliche Gesetz nennen. […] ist es folglich das Prinzip des Gesetzes, daß das göttliche Gesetz zu oberst steht und alles lenkt, daß aber ein jedes Geschöpf so von der Ordnung dieses Gesetzes gelenkt und bestimmt wird, daß es dieses Gesetzes selber teilhaftig wird und zu dem, was in diesem Gesetz enthalten ist, von sich aus neigt, und dies mit Verstand und in Freiheit, wenn es, wie der Mensch, des Verstandes teilhaftig und frei ist. Genau diese Neigung ist das natürliche Gesetz, das so unserem Geist eingepflanzt ist, daß unser spekulatives wie unser praktisches Erkenntnisvermögen von ihm in keiner Weise abweichen kann. […] Seinen wahren Ursprung hat das Gesetz in der Natur, nicht in der Verkündigung der Menschen, auch wenn man es menschliches Gesetz nennt. Denn keine menschliche Einrichtung kann Gesetz genannt werden, wenn sie nicht völlig mit dem natürlichen, das ein Abdruck des göttlichen Gesetzes ist, übereinstimmt. Das göttliche Gesetz nämlich prägt dem menschlichen Geist das natürliche Gesetz ein, das das gemeinsame Prinzip der menschlichen Handlungen ist und, indem es unserm Geist eingeprägt ist, uns zu dem geneigt macht, was jenes unveränderliche, göttliche, ewige Gesetz beschließt. […] Was das göttliche Gesetz beinhaltet und die Natur, gleichsam wie Wachs das Siegel, empfängt, das erhebt das von den Menschen gefundene Gesetz durch die Verkündigung zur Vorschrift und verkündet es den Menschen durch das Vorschreiben. Folglich ist das Gesetz, als menschliches betrachtet, eine allen gemeinsame Vorschrift des unvergänglichen Prinzips und der naturgegebenen Neigung, die der verkündet, in dessen Hände die legitime Sorge für die Gemeinschaft gelegt ist. Seine Vorschriften aber, wie der höchste Fürst sagt, lauten: ›Ehrenhaft leben, den andern kein Leid zufügen, jedem sein Recht gewähren.‹
Salutati, der in diesem Text Recht, Gesetz und Gerechtigkeit weitgehend unterschiedslos in eins fließen lässt,14 leitet menschliches Recht aus dem natürlichen Gesetz ab, und das natürliche Gesetz fasst er als eine Spur (vestigium) des göttlichen Gesetzes. Mit dieser Begründung, die das Göttliche ins Spiel bringt, ist es ihm aber nicht eigentlich darum zu tun, metaphysische Bereiche auszuloten. Vielmehr geht es ihm umgekehrt um die Fundierung sozialen Handelns und Lebens, wie die Gesetzgebung es regelt, und zwar durch den Verweis auf die Tatsache, dass natürliches Recht, dem das menschliche gerechte Tun zu korrespondieren hat, mit göttlichem Recht übereinstimmt und somit »menschliches Handeln ursprünglich und letztlich in Gott begründet ist«.15 Menschliches Handeln ist insofern weniger in einem einschränkenden Sinne abhängig vom Bereich des Göttlichen als vielmehr dadurch legitimiert. Zugespitzt gesagt: Salutati will etwas, das bereits verweltlicht ist und auch dementsprechend bezeichnet wird, nämlich das menschliche Gesetz (lex humana), zu einem diskurshistorisch bereits deutlich nachmittelalterlichen Datum noch göttlich absichern, indem er von ihm über das natürliche Gesetz (lex naturalis) auf das göttliche Gesetz (lex divina) zurückverweist. Salutatis Erörterungen zeigen zweierlei: Das ›wahre Gesetz‹ konnte zum einen zeitgenössisch längst ›säkularisiert‹ sein und also für sich genommen im Bereich weltlicher Lebenspraxis Ge re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 121
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angesiedelt sein, weswegen man es ohne Umschweife als ›menschliches Gesetz‹ titulieren mochte. Zum anderen aber war offensichtlich für einen grundsätzlich aufs Säkulare zielenden Gerechtigkeitsdiskurs die metaphysische Begründung nicht von vornherein abzudrängen. Es handelt sich bei Salutati mithin, wenn man das alte Schlagwort gebrauchen will, um eine ›bürgerhumanistische‹ Indienstnahme der Vorstellung vom göttlichen Gesetz (lex divina), wobei es eigentlich darum geht, ein menschliches Gesetz (lex humana) zu etablieren, ohne dabei autoritative Reibungsverluste in Kauf nehmen zu müssen. Ganz anders stellt sich dies bei dem platonistischen Dogmatiker Marsilio Ficino dar. Während Salutati säkular denkt und das Weltliche lediglich durch den Verweis auf eine legitimatorisch funktionalisierte lex divina absichern möchte, sieht Ficino das Göttliche als seinsmäßig basale Fundierungskategorie von Recht und Gerechtigkeit, der das Weltliche deutlich nachgeordnet ist. Menschliche Gerechtigkeit (iustitia humana) ist für Ficino eine niedere Analogie zu göttlicher Gerechtigkeit (iustitia divina). Dies steht im Kontext von Ficinos allgemeinem, weit ausgreifendem Versuch, angesichts der verstärkten Pluralisierung möglicher philosophischer Positionsbezüge durch Rückgriff auf platonistische Begründungsmuster Autorität neu zu etablieren und metaphysisch zu stabilisieren.16 Ficinos vereinheitlichende Konzeption von Gerechtigkeit soll nun in diesem Sinne kurz umrissen und abschließend mit der gänzlich anderen, skeptisch zugerichteten Position von Sperone Speroni kontrastiert werden. Ficino nimmt in seinen einschlägigen Texten17 eine klare Hierarchisierung unterschiedlicher Niveaus von ›Gesetz‹ vor, die im Verhältnis einer seinsmäßigen Abhängigkeit zueinander stehen. Sie emanieren auseinander und bedingen zugleich eine erkenntnistheoretische Rangordnung, die sich dem Menschen erschließt:18 Jenes göttliche Gesetz, durch das die Welt besteht und regiert wird, entflammt in unseren Intellekten bei ihrer Erschaffung das unauslöschliche Licht jenes natürlichen Gesetzes, nach dessen Maßstab Gut und Schlecht beurteilt werden. Von diesem natürlichen Gesetz, das eine Art Funke des göttlichen Gesetzes ist, rührt das geschriebene Gesetz her, ein Strahl aus solchem Funken. Diese drei Gesetze aber – das göttliche, das natürliche, das geschriebene – belehren die einzelnen Menschen, was die Gerechtigkeit ist. So bleibt denen, die sich verfehlen, nahezu kein Raum mehr für Entschuldigung, der in irgendeiner Weise den Eindruck gestatten würde, sie seien aus Unkenntnis schuldig geworden.
Das natürliche und das geschriebene Gesetz bestehen strikt abhängig von der göttlichen Quelle und weisen auf Gott als den Urheber aller Gesetzlichkeit hin. Da nach platonistischer Vorstellung Gott und somit die in ihm ruhende lex divina in höchstem Maße einheitlich gedacht sind, können die davon emanierenden seinsmäßig un122 | Bernhard H us s
tergeordneten Niveaus von Gesetzlichkeit im Kern keine Abweichungen kennen, sondern unterscheiden sich nur äußerlich voneinander. Alle Gesetze aller Völker und Zeiten gehen, wie Ficino in seinem Brief Lex et iustitia ausführt, auf denselben Ursprung zurück. Sie sind transhistorisch und transregional analog, was heißt: Es gibt für Ficino nirgends substanzielle Unterschiede von Gesetz und Gerechtigkeit. Auch die unterschiedlichen konstitutionellen Verfahren zur Regelung von Rechtsfragen, die unterschiedlichen juridisch relevanten Institutionen eines Staatswesens beeinträchtigen nicht die eigentliche Einheit des Gesetzes, das Ficino als die stets einheitliche »Seele der Staatsgemeinschaft« (civitatis anima) bezeichnet:19 Das Gesetz ist offenbar die Seele der Staatsgemeinschaft. Und obgleich es in der Staatsgemeinschaft viele Gesetze zu geben scheint, gibt es doch keine Vielzahl von Seelen der Staatsgemeinschaft. So wie nämlich viele professionelle Zuständigkeiten und unterschiedliche Rangstellungen der Staatsbürger nicht mehrere Staatsgemeinschaften erzeugen, sondern eine einzige, wenn sie auf ähnliche Weise nach demselben Ziel streben, mag es zwar viele administrative Regelungen in einem Staatswesen geben, dennoch ist das öffentliche Gesetz ein einziges: nämlich die gemeinsame Norm rechten Lebens, die zum Glück der Allgemeinheit führt.
Ficino sieht über die konkrete Vielfalt staatlich-rechtlichen Handelns, die er nur kurz anspricht, im Wesentlichen hinweg, weil es ihm um die metaphysische Begründung des überwölbenden Prinzips ›Gesetz und Gerechtigkeit‹ geht. Um das zu unterstreichen, hebt er hervor, dieses Prinzip gelte auch außerhalb jeder institutionell geregelten Rechtlichkeit, nämlich selbst in der Räuberhöhle (in contubernio […] latronum) – und außerdem auch in der Hölle (apud inferos) und im Himmel (inter beatos).20 ›Gesetz‹ ist für Ficino letztlich eine Chiffre für die Emanationsstruktur des göttlichen Weltenplans: Emanation in diesem Sinne heißt gerechtes Aufteilen – eine Art Verteilungsgerechtigkeit – des Kreierten auf die Niveaus des stufenhierarchisch organisierten Kosmos. Die entsprechende Verteilung sichert die ›gerechte‹ Ausstattung, die den einzelnen Bestandteilen der jeweiligen Kosmosgrade zukommt.21 ›Gerechtigkeit‹ besteht in diesem totalitären Entwurf schlicht in der widerspruchslosen und reibungsfreien Einfügung in jenen göttlichen Weltenplan, wobei es für Ficino zwischen der politischen und der metaphysischen Dimension angesichts seines analogistischen Denkens keine kategoriale Trennlinie, sondern nur seinsmäßige Niveauunterschiede gibt:22 Tatsächlich zeigen diese drei Lichter [das göttliche, natürliche und geschriebene Gesetz] den Augen des Intellekts, dass die Gerechtigkeit nichts anderes ist als eine Einstellung des Willens, die von der Vernunft so gelenkt und bekräftigt wird, dass sie Drohungen und VerGe re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 123
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lockungen unbeachtet lässt und den Vorsatz fasst, nicht anders zu handeln, als es die Göttlichkeit, die Natur und die Politik diktieren. Denn was schreibt die Göttlichkeit anderes vor, als dass wir alle Schärfe unseres Denkens, Streben unseres Willens, Kraft unseres Handelns, Früchte unseres Tuns auf Gott hin ausrichten, von dem wir alles haben? Ferner: Was lehrt die Natur anderes, als dass wir das Geld dem Körper, den Körper der Seele, die Seele der Vernunft, die Vernunft Gott unterordnen sollen? Die Politik schließlich verlangt doch offensichtlich, die einzelnen Staatsbürger sollten sich bewusst sein, dass sie eine Art Glieder des Staatswesens sind und dass man daher das Vaterland wie einen daraus bestehenden Gesamtkörper, die Staatsbürger aber wie die Glieder desselben Körpers zu achten hat.
Gerechtigkeit bringt zugleich als religiös umrissene Selbstbekräftigung der Positionierung des Menschen auf den Stufen des gottgeschaffenen Kosmosganzen seine Verehrung Gottes zum Ausdruck. Das göttliche Gesetz bedingt die kontemplative Konzentration des Menschen auf Gott. Das natürliche Gesetz verlangt die Ausrichtung aller materiellen und physischen Aspekte des Lebens auf die platonistische Aufstiegsbewegung, die durch die Linie Geld (d.h. materielles Gut) – Körper – Seele – Vernunft – Gott (pecunia – corpus – anima – ratio – Deus) markiert ist. Dies betrifft das menschliche Individuum. Das staatliche Gesetz (lex civilis) dagegen betrifft die menschliche Gemeinschaft und schreibt ihre soziale Beruhigung analog zur kosmologischen Hierarchisierung vor. Natürliches und staatliches Gesetz sind nur insofern von Interesse, als sie mimetische Abbildstufen des Waltens des göttlichen Gesetzes darstellen. Der Preis der Dogmatik ist, dass Ficino den Topos des ›Jedem-das-Seine-Zuteilens‹ (suum cuique tribuere) Ciceros und Ulpians der Aspekte praktischer Materialität weitgehend entkleidet (was übrigens zu seiner platonistischen Skepsis gegen die Besitzbegriffe ›mein‹ und ›dein‹ passt, die er als Grundübel darstellt23):24 Daher ist es Aufgabe des Gerechten, einem jeden zuzuteilen, was sein ist: den Höherstehenden Ehre und Achtung, den Ranggleichen einen gewissermaßen familiären Umgang, den Untergeordneten Unterstützung und Rat. Außerdem muss er, wenn er Ämter innehat, das Gesetz selbst gleichsam wie Gott ständig vor Augen haben und sich selbst nicht für den Herrn des Gesetzes, sondern für seinen getreuen Ausdeuter und pflichtbewussten Diener halten.
Das suum cuique tribuere heißt hier letztlich: Der Mensch nimmt analog zu Gott eine Zuteilung vor und installiert sich dementsprechend auf seiner (in sich wieder sozial hierarchisierten) Seinsstufe selbst, wodurch ein Beitrag zur Festigung der kosmischen Hierarchie insgesamt geleistet wird. Ferner verschiebt Ficino die von Aristoteles herrührende Verteilungsgerechtigkeit in Richtung des funktionalen Aufbaus des Weltgefüges (machina mundi) und macht sie zu einem auf allen 124 | Bernhard H us s
Ebenen des platonistischen Kosmos wirksamen Prinzip: »Diese Verteilung ist für das Weltgefüge derart notwendig, dass die Welt völlig zusammenbrechen würde, wenn man sie aufhöbe. So kann man mit Worten denn auch gar nicht ausdrücken, wie notwendig sie für das Leben der Menschen ist.«25 So gehört die Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr nur dem Menschen zu, sondern ist eine Voraussetzung für die geordnete Existenz der Welt. Auch der Jurist als Sachverständiger für die Gerechtigkeit qua Weltordnungsprinzip hat keine nur technisch-diesseitigen Aufgaben, sondern wird von Ficino in einen quasi-priesterlichen Rang erhoben: Er ist nicht nur öffentlicher Anwalt der Staatsbürger (publicus civium patronus), sondern auch »gemeinsames Orakel des Staatswesens« (commune civitatis oraculum) und wird gar sublimiert zum »Vermittler des göttlichen Intellekts und Willens« (divine mentis et voluntatis interpres).26 Ficinos metaphysische Überhöhung der Gerechtigkeit wird nicht allenthalben nachvollzogen. Wo Ficino göttliches, natürliches und menschliches Recht und die entsprechenden Verhaltensweisen des Gerechten hierarchisch gestaffelt hatte, tendiert im 16. Jh. Sperone Speroni (1500–1588) dazu, die spekulative und die soziopolitische Dimension der Diskussion um die Gerechtigkeit kritisch voneinander abzusetzen. Seine einschlägigen Texte stellen für die Sphäre menschlicher Erfahrung, der die Gerechtigkeit angehört, eine tiefe Instabilität fest. Ganz im Gegensatz zu Ficino geht Speroni, dessen Skepsis der neoplatonischen Tradition gegenüber notorisch ist,27 von einer umfassenden Wandelbarkeit von Rechts- und Gerechtigkeitskonzeptionen aus, die je nach Staatsform, Region und Religion massive Unterschiede aufwiesen. Die Varianz, die Speroni an ihnen feststellt, erinnert an Ficinos entsprechende Ausführungen, sie hängt aber nicht mehr von einem vertikal vereinheitlichenden übergeordneten Prinzip ab, sondern von horizontal diversifizierenden Faktoren klimatischer, religiöser und verfassungsmäßiger Art:28 Die Gesetze der Städte sind verschieden, so wie die Städte selbst verschieden sind. Und sie sind verschieden wegen des Klimas, oder wegen der geographischen Lage von Bergen, Ebenen, Meer, Sümpfen, wegen Kälte, Wärme, Trockenheit oder Feuchte; oder wegen der Religion, die hierin von großer Bedeutung ist, und das mit Grund. Die Städte sind auch hinsichtlich ihrer politischen Verfassung verschieden. Denn die Staatsformen, von denen gute wie schlechte in großer Vielfalt existieren, werden entweder vom Volk bestimmt, oder von wenigen, oder von nur einer Person. Und manche Städte sind frei und herrschen über andere, andere sind untertan; manche haben eine Adelsstruktur, während andere Gewerbe treiben. Ich sage daher, dass Ehre, Nutzen, Schaden, Schande, Tugend und Laster im staatlichen Zusammenhang verschiedenartig und unterschiedlich, unbeständig und unbestimmt sind; denn sie hängen von den Gesetzen ab, und die Gesetze von der Stadt, denn sie sind für die Stadt gemacht und nicht die Stadt für die Gesetze. […] Also ist der gerecht, der die Gesetze einhält: also gibt es so viele Gesetze, wie es Staatsformen gibt, und Regionen, und Ge re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 125
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Religionen; und davon gibt es viele, und nicht nur verschiedene, sondern gegensätzliche. So wäre also die Gerechtigkeit, die die wichtigste Tugend ist, verschieden und gegensätzlich: Daher wird in einer Region und Religion eine Handlung zur Gerechtigkeit zählen, die in einer anderen Region und Religion als Ungerechtigkeit gelten würde. Und als Gerechtigkeit wird in der Demokratie gelten, was in der Oligarchie und in der Monarchie als Ungerechtigkeit gilt. Das ist also die Unbeständigkeit und Unsicherheit der politischen Gerechtigkeit, die als oberste Tugend gilt.
Die politische Gerechtigkeit (›giustizia civile‹) gehört für Speroni der Sphäre des politischen Lebens (›vita civile‹) und damit dem Bereich des Menschlich-Gesellschaftlichen an, der durch eine substanzielle Struktur des Mangels charakterisiert sei:29 Diese Betrachtung [des politischen Lebens] betrifft also die Unvollkommenheit und nicht etwa die Vollkommenheit des Menschen. Es kann hier also nicht mehr um vollkommenes Glück oder vollkommenen Nutzen oder Ehre gehen, da von Dingen die Rede ist, die zur unvollkommenen Dimension des Menschseins gehören. Diese Dimension ist mit unserer menschlichen Gesellschaft verbunden, ohne die unsere unvollkommene Materialität uns nicht existieren lässt. Dass der Mensch mithin ein gesellschaftliches Wesen ist, geht auf seinen Mangel und seine Unvollkommenheit zurück, die in seiner Materialität begründet sind. Diese Unvollkommenheit bringt es mit sich, dass der Mensch sich selbst allein ohne die Hilfe anderer nicht genügen kann, sondern auf Gemeinschaft angewiesen ist. […] Wir werden nun also den Menschen als ein gesellschaftliches Wesen betrachten und davon ausgehen, dass er dies aufgrund seines Mangels ist. Diesem Mangel hilft er durch seine Gesellschaftsbildung ab. Daher hat die Gesellschaftsbildung nichts mit Vollkommenheit zu tun, sondern ist ein Heilmittel und ein Schutzmaßnahme für den Menschen.
Die bereits in der Antike verhandelten Theoreme vom Menschen als Mängelwesen30 und von seiner Anlage zum zôon politikón31 werden hier neu aufgegriffen und zu radikaler Konsequenz geführt: Der materiell begründete Mangelzustand als Fundament der menschlichen Gesellschaft bleibt die Sphäre, auf die sich die conditio humana verwiesen sieht, und bedingt so die Trennung des menschlich-sozialen Bereichs von der unerreichbaren Sphäre der (göttlichen) Perfektion. Die notgedrungene Notwendigkeit einer innerweltlichen austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit ist zugleich Indiz für den Wegfall der Möglichkeit einer metaphysischen Verankerung der Gerechtigkeit. In diesem Sinne hat die Gerechtigkeit als wichtigste politische Tugend (»la principale delle virtù cittadinesche«32) die Aufgabe, die handgreiflichen Ungleichheiten, die sich aus jener wesentlichen Mangelsituation ergeben, auszugleichen. Ihr ist gewissermaßen die Mängelverwaltung des Diesseitigen aufgetragen. Dabei ergibt sich die Schwierigkeit, dass im Diesseitigen 126 | Bernhard H us s
eine korrekte Wertsetzung und gerechte Bewertung der Dinge des Lebens zwar im Prinzip möglich ist, so dass »wahrer Anstand, wahrer Nutzen und wahre Tugend« (»vero onore, vero utile, e vera virtù«) durch die Befolgung der Gesetze sichergestellt sind. Ebenso gut ergibt sich jedoch in der menschlichen Gesellschaft der Fall, dass aufgrund der Nützlichkeitserwägungen der Gesellschaft der Moral zuwidergehandelt wird, weil der politische Nutzen (»utile della città«) vernunftwidrige (»contra ragione«) Handlungen nach sich ziehen könne. Die Ablösung der Gerechtigkeit von ihrer metaphysischen Rückbindung bei ausschließlicher Konzentration auf diesseitige Utilitarismen bringt also das Risiko moralischer Entgleisung mit sich, das menschliche Gesellschaften beständig bedroht. Die Sphäre des Mangels und der wechselnden und unsicheren Wertsetzung, wie sie im politisch-gesellschaftlichen Leben herrschen, wird aus Speronis Warte in der Tat nicht durch eine Bindung menschlicher Entscheidungsfindung an die religiöse Dimension saniert. Denn die Religion ist, wie aus dem oben zuerst zitierten Textabschnitt Speronis schon zu erschließen war, ebenfalls instabil. Neben dem politischen Leben und der von Speroni abschätzig und kurz behandelten ›vita appetitosa‹, zu der die irrationalen individuellen Bestrebungen des Menschen gehören, gibt es als einen potentiellen Garanten von Ordnung, Recht und Gerechtigkeit das natürliche Leben (›vita naturale‹) des Menschen. Es besteht in seinem menschengemäßen Handeln, »indem er nämlich kraft seines Intellekts begreift und handelt und sich dabei religionskonform verhält, im Wissen darum, was sich für ihn selbst und alles andere gehört«.33 In diesem Bereich gibt es wahre Moral (›vero onore‹), in ihm erfüllt sich die nicht an die verderbliche Materie gebundene wahrhaftige Form (›vera forma‹) des Menschen, hier befasst sich der Mensch mit »den Wissenschaften, wie sie unter dem Aspekt der Form auf die Natur des Menschen hin geordnet sind, nicht auf die Gesellschaftsbildung und auf die Natur des Menschen unter dem Aspekt der Materialität, woraus sich die Mängel ergeben«.34 Dies ist die Sphäre der Philosophen und Theologen (»filosofi e religiosi«). Mit der Zuweisung der ›vita naturale‹ und damit einer möglichen Gerechtigkeitsgarantie an diese Gruppe ist freilich die generelle Versicherung der Gerechtigkeit für das menschliche Gemeinwesen gerade unterlaufen. Wie aus dem soeben Zitierten klar wird, ist die intellektuelle Betätigung des Menschen im Sinne des natürlichen Lebens nicht gesellschaftsrelevant oder gemeinschaftssichernd, sondern eine Sache des Einzelnen. Dieser Einzelne hat hier weder eine notwendige Verbindung zur Transzendenz noch auch zur Pragmatik des menschlichen Sozialwesens. Denn Speroni, der unbarmherzig verkündet: »Gott und die Welt sind Gegensätze« (»Dio e il mondo sono contrarii«), spricht nicht von einer transzendenten Lebensform, die dieser auf Erden (»in terra«) angesiedelten ›vita naturale‹ noch übergeordnet wäre. Er weist den Philosophen und Theologen einen spekulativen Bereich innerhalb der Welt zu, lässt aber keinen Zweifel daran, dass der geordnete Ge re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 127
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Zusammenhang, in dem sie sich hier bewegen, ein der Pragmatik des menschlichen Zusammenlebens enthobener Bereich ist. Der rechtschaffene philosophische Mensch (vir probus) steht vom sozial eingebundenen guten Staatsbürger (bonus civis) weit ab, da der Staatsbürger eine Mangelexistenz führen muss, der der Philosoph enthoben ist (»essendo il bon cittadino sempre con difetto, e quello senza difetto«). Über die politische Gesellschaft (»questa società cittadinesca«) kann man folglich in den Kategorien des Diskurses jener Philosophen und Theologen gar nicht sprechen. Daher ist dieser Diskurs für Speroni mit der alltagspraktischen Ebene menschlicher ›Gerechtigkeitsentscheidungen‹ nicht zu vermitteln. Daran ändert die Tatsache nichts, dass Speroni dem solchermaßen isolierten philosophisch-religiösen Diskurs und seiner Thematik theoretisch die höhere Dignität zuschreiben möchte: Denn die im Gedanklichen sich vollziehende Verwirklichung des Menschen, genauer: des einzelnen Menschen, die sich abgelöst von den hässlichen Mängeln des menschlichen Zusammenlebens vollzieht und eine konfliktlose Klarheit jeder Wertsetzung impliziert, ist ihm nicht anders denkbar denn höherwertig. Aber eine Brücke zwischen den Sphären sieht Speroni, ganz anders als Ficino, nicht mehr. Damit ist Speroni nicht nur der pluralistische Antipode Ficinos mit dessen vereinheitlichender Vision der Gerechtigkeit, sondern er vollzieht auch den Prozess der Säkularisierung des Rechtsdenkens, den wir eingangs erwähnt haben, in einer für die Maßstäbe der Renaissance überaus kompromisslosen Art und Weise. Die Gerechtigkeit als ausgleichende Gesellschaftsfunktion, als kontrollierendaustarierende Haltung und generell altruistische Disposition35 ist aus Speronis Warte nur pragmatisch in Abhängigkeit von den politischen und sozialen Gegebenheiten zu bestimmen. Was die theoretische Konzeption der Gerechtigkeit im System der vier Kardinaltugenden betrifft, so erklärt sie Speroni schlechterdings für gar nicht möglich. Aus einer Reihe von unterschiedlichen Aspekten, nach denen Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung (›giustizia‹, ›prudenza‹, ›fortezza‹ und ›temperanza‹) zu definieren wären, zieht Speroni im zweiten Discorso Sopra le virtù den Schluss, dass eine systematische Ordnung dieser Tugenden nicht zu erreichen ist:36 Das sind also die vielen Weisen, wie man diese Tugenden betrachten kann. So erscheinen sie bald als unterschiedliche Arten, bald als Gegensätze, bald als Gemeinsamkeiten von Gattungen und Arten, bald als Gemeinsamkeiten von Mann und Frau, bald als nicht absolut gut, weil sie bisweilen etwas Schlechtes wie Krieg oder Unmoral voraussetzen. Und außerdem erscheint bald die eine, bald die andere Tugend als wichtigste von allen. Diese Unsicherheit in der Behandlung, Erkenntnis und Betrachtung der Tugenden beweist, dass wir sie nicht gut begreifen.
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Dies gilt bereits innerhalb des politischen Lebens. Kontrastiere man, so Speroni, nun aber überdies dessen Wertsetzungen mit den Werten in der philosophisch bestimmten ›vita naturale‹, so ergebe sich ein scharfer Gegensatz: Was für die Philosophen und Theologen ein Wert ist, kann nach Speroni für die im Staatsleben eingebundenen Menschen ein Unwert sein und umgekehrt:37 In einem solchen Fall kann das, was von Natur aus unmoralisch ist, unter gesellschaftlichem Aspekt zur Tugend werden; und andersherum kann das, was von Natur aus eine Tugend ist, aus gesellschaftlicher Warte zur Unmoral geraten. Denn das politische Leben beruht auf der Gesellschaft, und insofern ist es für den Menschen natürlich, nämlich aufgrund der Materie, aus der er zusammengesetzt ist und aus der die Unvollkommenheiten entstehen, welchen die Gesellschaft abhilft. Sofern es aber von einer Anzahl von Gesetzen und Meinungen eben dieser Gesellschaft bestimmt wird, ist es etwas Künstliches und voller Irrtümer, wie es unsere menschlichen Handlungsweisen zu sein pflegen.
Damit ist zugleich gesagt, dass den Regulierungsbemühungen innerhalb des Zusammenlebens im menschlichen Sozialwesen ein nahezu aleatorisches Moment innewohnt: Ist das politische Leben durch Normsetzung künstlich überformt und dem Irrtum ausgesetzt, so wird letztlich höchst fraglich, ob jener Ausgleich grundständigen Mangels, zu dem sich die Menschen gesellschaftlich zusammenfinden und nach Maßgabe einer Gerechtigkeitsvorstellung zu leben versuchen, jemals kontinuierlich funktionieren kann. Sperone Speroni beschreibt die Gerechtigkeit und insgesamt das System lebenspraktisch relevanter Tugenden also mit einem erkennbar skeptischen, illusionsfernen und antidogmatischen Blick. Die Analyse fällt ernüchternd aus; nach dem Wegfall der religiösen Begründungsinstanz scheint kein fester Maßstab mehr zuhanden, mit einer gewissen Allgemeinverbindlichkeit festzustellen, was als gerecht zu betrachten sei. Speroni selbst gelangt angesichts dessen nicht zu einem klaren Ergebnis in der Frage, wie man sich ohne einen solchen Maßstab in rechtlichen Angelegenheiten konkret zu verhalten habe. In seinem Trattatello Per le leggi contra la ragione vertritt er die kompromisslose Linie, in Rechtsfällen habe man unabänderlich an der eine Mehrheitsmeinung ausdrückenden ratio communis des geschriebenen Gesetzes festzuhalten: »Man soll nach ihm urteilen, nicht etwa indem man es erläutert oder auslegt. […] Das Gesetz muss nicht kommentiert oder erläutert werden, sondern es ist auszuführen.«38 Speroni warnt hier ausdrücklich vor einer Flexibilisierung des Gesetzesverständnisses durch eine am Einzelfall orientierte Auslegungspraxis der Juristen, die die Stabilität politischer Normsetzung untergrabe:39 Man kann nicht in jedem Einzelfall mit einer Diskussion über das rechte Verständnis des Gesetzes anfangen. Ansonsten wird es so viele Gesetzesänderungen geben, wie es einzelne Ge re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 129
4. KORREKTUR
Fälle gibt. So wird dann nicht mehr der Souverän, sondern der Anwalt der Gesetzgeber sein, und er wird der Herr der Stadt sein, wenn er in der Lage ist, mit seinen Plausibilitätsargumenten den Sinn des Gesetzes gegen seinen Wortlaut, mit dem seine Bedeutung fixiert ist, zu ändern.
Diese Zementierung der ›legge scritta‹ scheint mir eine drastische Kompensation des Ausfalls jeder metaphysischen Begründung von Gerechtigkeit zu sein. Eigentlich ist sie Speronis grundsätzlich skeptischer und erfahrungsorientierter Perspektive eher gegenläufig. Und so findet sich bei Speroni selbst auch (schöner Ausweis rinascimentaler Pluralisierung) die exakt gegenteilige Position, nämlich ein Plädoyer für die seit Aristoteles in der Diskussion befindliche Kategorie der Billigkeit. Man vergleiche u.a. den Trattatello Contra l’artificio dell’avogadore:40 Man darf nicht starr am Gesetz und seinem Wortlaut festhalten. Sonst herrschten ja das Gesetz und diejenigen, die das Gesetz gemacht haben, noch nach ihrem Tod tyrannisch über die Lebenden. Stattdessen muss man sich nach der Billigkeit richten, und nach der Vernunft und der Menschlichkeit, durch die wir Menschen sind. Wollt ihr denn, dass das Gesetz uns der Menschlichkeit beraubt?
Hier wird nicht mehr das geschriebene Gesetz verabsolutiert und verteidigt, sondern stattdessen eine Anpassung der Gesetze an die zeitlich veränderlichen konkreten Lebensumstände postuliert, wofür als Leitkategorien Billigkeit (»equità«), Vernunftorientiertheit (»ragione«) und eine Perspektive postuliert sind, die menschlichen Bedürfnissen gerecht werden könne (»umanità«). Im gleichen Sinn empfiehlt Speroni in seinem ausführlicheren Discorso dell’onore, utile e fin dell’uomo die fallweise und situationsadäquate Abweichung vom geschriebenen Gesetz. Mit der offiziellen Gesetzgebung nämlich könne das Gute und Gerechte (»bono ed equo«) niemals identisch sein, vielmehr gebe es zwischen den pragmatischen Anforderungen des konkreten Einzelfalls und dem Gesetz oft geradezu einen grundsätzlichen Widerspruch (»ripugnanza«).41 Das Gute und Angemessene, das das geschriebene Gesetz überschießt, ist demnach »unendlich, und von keinem Gesetz zu erfassen« (»infinito, e non comprensibile da alcuna legge«). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen geschriebenem Gesetz und der »reinen Natur« (»pura natura«) etwas Vermittelndes zu finden, für das Speroni kaum Worte hat (»un non so che mezzo«): ein Verhandlungsergebnis zwischen den gesellschaftlich Beteiligten. Gerechtigkeit ohne festen Boden unter den Füßen, sei er metaphysisch oder sozial fixiert, kann nur noch auf Aushandeln angewiesen sein. Was einst in Gott zu ruhen schien, muss jetzt von Fall zu Fall neu etabliert werden. Damit sind wir bei der Frage des konkreten Einrichtens ›gerechter‹ Lösungen im Sinne lebenspraktischen Aushandelns angekommen. Es kündigt sich hier eine über die Frühe 130 | Bernhard H us s
Neuzeit hinausweisende Pragmatik der iustitia an, die für die Rechts- und Gerechtigkeitsdebatte der Moderne weitreichende Folgen haben sollte.
A n m e r kun ge n 1 Dante, Monarchia, lateinisch/deutsch, eingel., übers. und komm. von R. Imbach / C. Flüeler, Stuttgart 1989, cap. 1, 11, 3:»iustitia, de se et in propria natura considerata, est quedam rectitudo sive regula obliquum hinc inde abiciens; et sic non recipit magis et minus«. 2 Ebd. cap. 1, 11, 12: »sincerissimum inter mortales iustitie […] subiectum«. 3 Der in der Diskussion auf der Tagung nicht unumstrittene Begriff der ›Säkularisierung‹ meint hier nicht den späteren, üblicherweise so bezeichneten historischen Prozess, sondern im Wortsinn eine ›Verweltlichung‹, die im Rahmen einer pragmatischen, auf soziale Lebenspraxis hin orientierten Gerechtigkeitsauffassung in eben jener Auskoppelung der Legitimation der iustitia aus religiös-theologischen Kontexten besteht, wie sie oben von mir diskutiert wird. 4 So M. Senn, Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss, Zürich / Basel / Genf 42007, S. 192. 5 O. Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 2001, S. 31; vgl. O. Höffe, Art. »Gerechtigkeit II. Philosophisch«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 3 (42000), Sp. 705–709, hier Sp. 706. 6 B. Taureck, Art. »Gerechtigkeit VIII. Philosophisch«, in: Theologische Realenzyklopädie 12 (1984), S. 443–448, hier S. 445. 7 Senn, Rechtsgeschichte (o. Anm. 4), S. 235. 8 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 3, 1129 b 25–30 (Übersetzung nach: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übers. und komm. von O. Gigon, München 31998, S. 205). 9 F. Filelfo, »Sermone […] trattando di Giustizia«, in: Atti e Memorie della R. Deputazione di Storia Patria per le Provincie delle Marche 5 (1901), S. 40–44, hier S. 40: »È adunque la giustizia quella sola virtù la quale concilia gli umani ingegni alle gioconde et onestissime compagnie, e per cui gli animi fieri et alle volte di natura intrattabili, si umiliano o compongonsi al civile uso del vivere, secondo eleganza, gravità e splendore de probati costumi. Questa è colei per cui le magnifiche città e gli alti e grandi reami, gli incliti e triunfali imperi sono in perpetuità conservati.« 10 Filelfo, Sermone (o. Anm. 9), S. 41: »publico consentimento della città il quale per scriptura comanda che cosa si debba fare e che no«. 11 Vgl. Senn, Rechtsgeschichte (o. Anm. 4), S. 226–229. 12 Vgl. bes. K.W. Hempfer, »Rhetorik als Gesellschaftstheorie: Castigliones Il libro del Cortegiano«, in: ders., Grundlagen der Textinterpretation, hrsg. von S. Hartung, Stuttgart 2002, S. 137–155. 13 C. Salutati, Vom Vorrang der Jurisprudenz oder der Medizin. De nobilitate legum et medicinae, lat.-dt., hrsg., übers. u. komm. von P. M. Schenkel (Humanistische Bibliothek, Texte und AbGe re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 131
handlungen, Reihe II: Texte, Bd. 25), München 1990, cap. 3, S. 13–19: »Nam sicut ars sequitur imitaturque naturam, sic humana respiciunt ad divina; et quoniam hominis esse quedam natura, quedam inventione dicuntur, que tamen a Deo sunt, non est inconveniens legem esse divinam, et eius vestigium naturalem, et promulgationem eius quam legem appellamus humanam. […] est igitur ratio legis, quod divina lex presit et cuncta gubernet, et quod creatura sic huius legis ordine dirigatur et disponatur, quod fiat particeps illius legis, et ad ea que sint in ipsa per semet inclinetur, si rationis est particeps et libera, sicut homo, cum ratione et libertate; que quidem inclinatio lex est naturalis, sic nostris insita mentibus quod non possit intellectus noster, sive speculativus sive practicus sit, ab ea quomodolibet dissentire. […] Ortum habet a natura, non ab hominis promulgatione lex vera, licet dixeris eam humanam. Non enim legem esse dici potest humanum aliquod institutum, si naturali legi, que vestigium est divine, penitus non concordat. Imprimit enim divina lex humanis mentibus naturalem, que quidem communis est ratio actuum humanorum, queve mentibus nostris impressam nos inclinat ad ea, que lex illa immutabilis, divina et eterna, decernit. […] Verum quod divina lex habet, naturaque quasi sigillum in cera suscepit, hoc lex, quod humanum est inventum, promulgando precipit et precipiendo promulgat. Est igitur lex, prout humana est, communis quedam preceptio rationis eterne inclinationisque nature, quam ille promulget qui communitatis legitimam curam habet. Huius autem precepta sunt, ut optimus princeps ait [Dig. 1.1 (ex Ulpiano); Inst. 1.1.3], ›honeste vivere, alterum non ledere, et ius suum cuilibet exhibere‹.« 14 Vgl. P.R. Blum, »De necessitate facimus voluntatem. Willensfreiheit und Recht bei Coluccio Salutati«, in: R. Gröschner / S. Kirste / O.W. Lembcke (Hgg.), Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, Tübingen 2008, S. 63–71, hier S. 67. 15 Blum, De necessitate (o. Anm. 14), S. 69. 16 Vgl. B. Huss, Lorenzo de’ Medicis »Canzoniere« und der Ficinianismus. Philosophica facere quae sunt amatoria (Romanica Monacensia 76), Tübingen 2007, S. 15–42. 17 Vgl. C. Vasoli, »Juste, justice et loi dans les commentaires de Marsile Ficin«, in: C. Lauvergnat-Gagnière / B. Yon (Hgg.), Le Juste et l’injuste à la Renaissance et à l’âge classique. Actes du Colloque International tenu à Saint-Étienne du 21 au 23 avril 1983, Saint-Étienne 1986, S. 11–22. 18 M. Ficino, Lettere I. Epistolarum familiarium liber I, hrsg. von S. Gentile, Firenze 1990, S. 166 (Brief De lege et iustitia): »Divina illa lex, qua mundus constat et gubernatur, nostris mentibus, dum creantur, inextinguibile lumen legis illius naturalis accendit, ad quam boni malive refertur examen. Ab hac naturali lege, que divine scintilla quedam est, scripta lex proficiscitur, scintille eiusmodi radius. Tres autem he leges – divina, naturalis, scripta – singulos homines quid sit iustitia docent, ut nullus peccantibus ferme relictus sit excusationi locus, quasi deliquisse omnino propter ignorantiam videantur.« 19 Ficino, Lettere (o. Anm. 18), S. 17 (Brief Lex et iustitia): »[…] lex anima civitatis esse videtur. Et quamvis multe videantur esse leges in civitate, non tamen multe sunt civitatis anime: sicut enim multe artes variique civium gradus non plures civitates, sed unicam faciunt, si ad finem eundem 132 | Bernhard H us s
simili ratione proficiscantur, ita quamvis multe sint magistratuum constitutiones in urbe, unica tamen est publica lex, communis scilicet recte vivendi regula ad publicam conducens felicitatem.« 20 Ficino, Lettere (o. Anm. 18), S. 18 (Brief Lex et iustitia). 21 Zu Ficinos Neuinterpretation der aristotelischen Auffassung von Verteilungsgerechtigkeit in kosmologischem Sinn vgl. auch Vasoli, Juste, justice (o. Anm. 17), S. 12 f., ebd. S. 13 f. allg. zu Ficinos Umdeutung der aristotelischen Gerechtigkeitskategorien. 22 Ficino, Lettere (o. Anm. 18), S. 166 f. (Brief De lege et iustitia): »Profecto mentis oculis tria hec lumina [sc. lex divina, naturalis, scripta] monstrant iustitiam nihil aliud esse quam voluntatis habitum, sic a ratione directum et roboratum, ut minis illecebrisque contemptis non aliter agere statuat quam divinitas, natura civilitasque dictaverit. Quidnam divinitas precipit, nisi ut in Deum, a quo habemus omnia, omnem cogitationis aciem, voluntatis votum, operationis vim, operum merita referamus? Natura quoque quid aliud docet, nisi ut pecuniam corpori, corpus anime, animam rationi, rationem Deo subiciamus? Denique civilitas monere videtur, ut cives singuli esse se quedam civitatis membra meminerint ideoque decere patriam quidem tanquam universum corpus eorum, cives autem tanquam corporis eiusdem membra diligere.« 23 Siehe Ficino, Lettere (o. Anm. 18), S. 132 (Brief Quis dives iniustus sit, quis iustus). Dort wird unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit eine platonistische Sozialutopie eröffnet. 24 Ficino, Lettere (o. Anm. 18), S. 167 (Brief De lege et iustitia): »Proinde iusti officium est cuique quod est suum tribuere: maioribus honorem atque reverentiam, aequalibus domesticam quandam consuetudinem, inferioribus opem atque consilium; preterea, cum in magistratibus constitutus est, legem ipsam tanquam Deum ante oculos semper habere, se vero non legis dominum sed fidum interpretem diligentemque ministrum existimare.« 25 Ficino, Lettere (o. Anm. 18), S. 168 (Brief De lege et iustitia): »Que [sc. distributio] quidem, si usque adeo mundi machine necessaria est, ut hac sublata mundus sit protinus ruiturus, certe quantum sit vite hominum necessaria dici non potest.« 26 Ficino, Lettere (o. Anm. 18), S. 133 (Brief Iurisconsulti bonitas et dignitas). 27 Vgl. R. Belladonna, »Sperone Speroni and Alessandro Piccolomini on justification«, Renaissance Quarterly 25.2 (1972), S. 161–172, hier S. 163 f.; s. ebd. S. 161–165 zu Speronis antiplatonistischer Vorordnung der vita activa vor die vita contemplativa im Dialogo della vita attiva e contemplativa. 28 S. Speroni, »Discorso dell’onore, utile e fin dell’uomo«, in: ders.: Opere di M. Sperone Speroni degli Alvarotti, tratte da’ Mss. originali. Tomo terzo. Venezia 1740, S. 378–398, hier S. 380 f.: »Le leggi delle città sono varie, come son varie le città: ed esse son varie o per li climi, o per li siti di monte, piano, mari, paludi, freddo, caldo, secco, umido; o per la religione, la quale in ciò può assai, e meritamente. Le città anche son varie quanto allo stato loro: perciocchè le repubbliche sono o popolari, o di pochi, o di un solo; ed in queste sono varietà di bone e cattive: ed altre città sono libere e signore, ed altre serve, altre gentili, ed altre meccaniche. Dico adunque che l’onore, utile, danno, vergogna, virtù, e vizio cittadinesco, perchè segue le leggi, e le leggi Ge re cht igke it s ko nze pt ion e n i n de r Frü h e n N e u z e i t | 133
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la città, perchè son fatte per la città, e non la città per le leggi; son varii e diversi, inconstanti, indeterminati. […] Colui è adunque giusto, che serva le leggi: adunque leggi son tante, quante son le repubbliche, e le regioni, e le religioni; e queste son molte, e non pur varie, ma contrarie. la giustizia, che è la principal delle virtù, saria varia e contraria: onde in una regione e religione sarà giustizia una operazione, che nelle altre saria ingiustizia: e sarà giustizia nella repubblica popolare quel che sarà ingiustizia tra pochi, e nella monarchia. Ecco adunque la inconstanzia ed incertitudine della giustizia civile, la quale è prima delle virtù.« Speroni, »Discorso dell’onore« (o. Anm. 28), S. 379: »Adunque questa considerazione [sc. della vita civile] è della imperfezione, non della perfezione dell’uomo. Adunque più non può essere perfetta felicità, e perfetto utile e onore, poichè tutto ciò si tiene dalla parte imperfetta dell’uomo. Or questo modo è la nostra umana società, senza la quale la nostra materia imperfetta non ci lascia vivere. L’essere adunque l’uomo associabile è per suo difetto ed imperfezione, che nasce dalla sua materia: la quale imperfezione fa, che l’uomo non basta a se solo senza l’altrui ajuto, ma ha bisogno di compagnia […]. Consideraremo adunque ora l’uomo come cosa associabile, e che egli è tale per lo suo difetto, il quale difetto è adempito colla società sua: onde la società non è perfezione, ma è medicina e provisione dell’uomo.« Vgl. zu diesem Topos der antiken Kulturentstehungstheorien H. Heckel, Art. »Kulturentstehungstheorien II. Griechenland und Rom«, in: Der Neue Pauly Bd. 6 (1999), Sp. 910–914, bes. Sp. 910 f. zu Anaxagoras, Demokrit, Corpus Hippocraticum und Protagoras (mit weiterführender Literatur). Vgl. bes. Aristoteles, Politik 1, 2 (mit 3, 6). Der Mensch ist auch für Aristoteles vor allem (aber nicht ausschließlich) aufgrund seiner Mangelnatur ein staatenbildendes Wesen; vgl. die Anmerkungen von Gigon in Aristoteles, Politik, übers. und komm. von O. Gigon, Zürich / Stuttgart 21971, S. 344–347, und von Kullmann in Aristoteles, Politik, übers. und komm. nach F. Susemihl von W. Kullmann, Reinbek 1994, S. 359 f. Speroni, »Discorso dell’onore« (o. Anm. 28), S. 381. Die folgenden Zitate ebd. auf S. 381–383. Speroni, »Discorso dell’onore« (o. Anm. 28), S. 379; im Zusammenhang des Originals lautet die Stelle: »In questo modo [sc. della vita naturale] il vero onor dell’uomo è operare in quanto uomo, cioè in virtù dell’intelletto, intendendo ed operando, essendo religioso, e conoscendo il decoro suo e d’ogni cosa. E tale è l’uomo, benchè niuno il conosca, e stiasi da tutti separato: e questo è l’util suo, perchè in tal modo di considerare l’uomo non è diverso l’utile dall’onesto.« Speroni, »Discorso dell’onore« (o. Anm. 28), S. 382 (Kursivierung im Original): »le scienzie, come ordinate alla natura dell’uomo ex parte formae, non alla civiltà ed alla natura dell’uomo ex parte materiae, onde nascono li difetti«. Die folgenden Zitate ebd., S. 378, 380 und 383. Vgl. Speroni, »Sopra le virtù discorso secondo«, in: ders.: Opere di M. Sperone Speroni degli Alvarotti, tratte da’ Mss. originali. Tomo terzo. Venezia 1740, S. 399–402, hier S. 400 f. Ebd. S. 401: »Ecco in quanti modi si considerano queste virtù [sc. giustizia, prudenza, fortezza, temperanza]. imperò or pajono specie distinte, or pajono contrarii, or comuni a generi e specie, or comuni a maschio e femmina, or non assolutamente bone, presupponendo esse talora il male, come la guerra o il vizio: e par che or l’una, or l’altra sia tra tutte la principale. La quale
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incertitudine di trattarle, e conoscerle, e considerarle ci può far fede, che non bene le intendiamo.« Ebd. S. 402: »[…] in tal caso quel che è per natura vizio, può diventare per civiltà virtù; ed e contrario la virtù per natura si può far vizio per civiltà. perciocchè il vivere civile, in quanto è società, è naturale all’uomo, per la materia onde è composto, dalla quale nascono le imperfezioni, a cui provede la società; ma in quanto regolata da alcune leggi ed opinioni di essa società, è cosa artificiale, e piena di errori, siccome sono le nostre operazioni umane.« S. Speroni, »Trattatello Per le leggi contra la ragione«, in: ders.: Opere di M. Sperone Speroni degli Alvarotti, tratte da’ Mss. originali. Tomo quinto. Venezia 1740, S. 420 f.: »giudichisi secondo essa, non la chiosando, nè interpretando. […] la legge non si dee commentare, nè chiosare, ma eseguire.« Ebd. S. 421: »[…] a proposito di caso particolare non si dee lasciar disputar dello intelletto della legge: altrimenti ne seguirà, che la legge si variarà tante volte, quanti saranno i casi. E così non il principe, ma lo avvocato sarà lui il legislatore, e sarà lui il patron della città, se ello è bastante con sue ragioni verisimili fare alterar il senso della legge contra le parole scritte in lei, con le quali il suo concetto è significato.« S. Speroni, »Trattatello Contra l’artificio dell’avogadore«, in: ders.: Opere di M. Sperone Speroni degli Alvarotti, tratte da’ Mss. originali. Tomo quinto. Venezia 1740, S. 423 f., hier S. 424: »Non si dee seguire il rigor della legge, e le parole; perchè la legge, e coloro, che fecero essa legge, già morti sariano tiranni de’ viventi: ma si de’ seguire la equità, e la ragione, e la umanità, per la qual siamo uomini. Volete voi, che la legge ne privi d’umanità?« Weiter heißt es dort auch: »Le leggi si deono accomodare alle cose, e ai luoghi, non le cose alle leggi: ed è da dire d’accomodare le leggi alla natura; altrimenti non si serveranno, però altre leggi ha una città, ed altre un’altra.« Speroni, »Discorso dell’onore« (o. Anm. 28), S. 384. Die folgenden Zitate ebd. S. 385.
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Giancarlo Andenna
FORMEN DES PRIVATEN RECHTS Schiedssprüche im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben Norditaliens im Übergang zur frühen Neuzeit Klagen wurden im Mittelalter häufiger vor private Schiedsrichter gebracht, statt dass sie von Richtern entschieden worden wären. Der Untergang des Römischen Reiches und die Folgen der Völkerwanderung hatten die Entwicklung des Schiedsspruchs zu einem effektiven Verfahren zur Beilegung von Konflikten begünstigt, und dies nicht nur in zivilen oder politischen Angelegenheiten, sondern sogar im Strafrecht.1 In der Tat fand sich auch noch viele Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs, dessen Rechtssystem ebenfalls über eine Schiedsrichterinstitution verfügte, in den Quellen des Mittelalters eine außerordentliche Vielfalt an schiedsrichterlichen Urteilen.2 Im Römischen Recht, dem Codex Iustiniani, war festgelegt, dass Richter (iudex) und Schiedsrichter (arbiter) ihre jeweilige Gewalt (potestas) aus grundsätzlich verschiedenen Rechtshandlungen bezogen: Die Autorität des Schiedsrichters resultierte aus der Übereinkunft beider Parteien (consensus privatorum) und war nicht von einer staatlichen Institution garantiert, weshalb seine Entscheidungen auch nie die Autorität eines rechtskräftig ergangenes Urteils (res iudicata) besaßen.3 Der Schiedsrichter hatte also die Macht, Kompromisse zu schließen, die ihre Grundlage im Konsens beider Parteien und in seiner Amtsgewalt hatten; er verfügte jedoch über kein Instrument, mit dem er den Kontrahenten seinen Schiedsspruch aufzuzwingen vermochte. Zwar war seine Entscheidung für die beiden streitenden Parteien bindend, jedoch nicht aufgrund des förmlichen Verfahrens wie bei der Urteilsfindung (actio iudicati), sondern aufgrund einer von beiden Seiten bei Vertragsschluss zu treffenden Vereinbarung einer Strafe für den Fall, dass der Schiedsspruch von ihnen abgelehnt würde.4 Dies führte dazu, dass die Schiedssprüche durch die mittelalterlichen Notare sehr präzis formuliert wurden. In welcher Weise sich eine präzise notarielle Formulierung der verschiedenen Klauseln des Schiedsspruches im Laufe des 13. Jahrhunderts und insbesondere im »Kompendium der gesamten Notariatskunst« (Summa totius artis notariae) des Rolandino entwickelte, wurde in den letzten Jahren bereits herausgearbeitet. So wollten die Notare in Schiedsdokumenten, in denen sie die versöhnliche Haltung der Streitenden notariell beurkundeten, hervorheben, dass sie auf alle geeigneten Formulierungen zurückgegriffen hatten, um jede Verzögerung einer tatsächlichen Lösung der Streitfälle zu vermeiden. Daher waren 136 | Gianc arlo A nd e nna
die notariellen Klauseln vor allem daraufhin orientiert, die Kontrahenten an »die Einhaltung der Verpflichtung, die mit dem Kompromiss übernommen wurde«, zu binden, um auf diese Weise »das Verfahren durch die Ermächtigung eines außenstehenden Dritten im gerichtlichen Auftrag friedlich« zu Ende zu bringen. Dabei blieb es jedoch nicht: Die Notare waren auch bemüht, in die Kompromisse die Verpflichtung aller Beteiligten aufzunehmen, die Entscheidung des Schiedsrichters oder des Schiedsgerichtes zu akzeptieren und die Inhalte des Schiedsspruches umzusetzen. Dies wurde durch die Festlegung einer Folge von Strafen garantiert, die man bei der Ausfertigung des Kompromisses bestimmte.5 Dem erwähnten Rolandino zufolge setzten sich Vergleiche im zivil- wie auch im strafrechtlichen Bereich durch, und dies sowohl bei Klagen, für die bereits ein Beschluss durch einen Richter ergangen war, als auch bei Streitigkeiten, die vom Gericht noch nicht entschieden worden waren.6 Dies war möglich, weil im Mittelalter für lange Zeit Verbrechen gegen Personen »mit einer Verletzung persönlicher Rechte und die Strafe mit der angemessenen Genugtuung des Geschädigten« gleichgesetzt wurden. Deshalb konnte selbst ein Verbrechen durch Abmachung in einem Schiedsverfahren bereinigt werden.7 Warum aber wurde zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert so oft durch schiedsrichterliche Verfahren entschieden? Die Juristen erklären dies damit, dass gegenüber dem antiken Modell des Schiedsrichters (arbiter), wie er im Codex Iustiniani begegnet, im Laufe des 13. Jahrhunderts die neue Figur des arbitrator eine andersartige Aktivität entwickelt hatte. Der Jurist Wilhelm Durandus definierte am Ende des 13. Jahrhunderts in seinem Rechtsspiegel (Speculum iuris) den Unterschied zwischen arbiter und arbitrator wie folgt: Arbiter (Schiedsrichter) ist einer, den die Parteien wählen, damit er bei einer Klage oder einer Streitigkeit entscheide, und für ihn gilt: er muß die Rechtsordnung wahren. Arbitrator (Schiedsherr) hingegen ist ein Schlichter (,freundschaftlicher Ordner‘: amicabilis compositor), und er wird nicht beigezogen, um über eine Streitsache zu entscheiden, sondern um sie zu befrieden und um zuzuteilen, was unstrittig ist, und er ist nicht daran gebunden, die Rechtsordnung zu wahren.8
Mit anderen Worten: Das Vorgehen des arbitrator, das völlig auf einen Schiedsspruch, einen Friedensschluss gerichtet war, konnte nicht in ein Urteil münden, das dem Richter vorbehalten war, sondern in einen Vergleich. Bei einem solchen war er nicht verpflichtet, alle prozessrechtlichen Normen und Prinzipien, die dem römischen Recht entnommen waren und deren Einhaltung für das Urteil wesentlich war, zu beachten. Der letztendliche Erfolg der Arbeit des arbitrator war zweifellos mit der Frage verknüpft, ob die Parteien im Falle des anfänglich geschlossenen Kompromisses auf ihr Appellationsrecht oder die Anrufung eines Dritten (reductio Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 137
ad arbitrium boni viri) – sprich ein endgültiges Urteil nach Billigkeit – verzichteten oder nicht. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts betonten sowohl Rolandino als auch Wilhelm Durandus die Rechtmäßigkeit eines solchen Verzichts, sofern dies bei Abschluss des Kompromisses zwischen beiden Parteien vertraglich festgelegt worden war.9 Alles in allem erscheint die Anrufung von Schiedsgerichten im Mittelalter auf den ersten Blick als Reaktion auf ein Justizwesen, das die Starrheit des Rechts widerspiegelte, oder als Akt, der eine Behandlung nach dem Grundsatz der Billigkeit versprach. Der Rechtslehrer Bartolo da Sassoferrato erklärte in seiner Abhandlung über die Schiedsverfahren (Tractatus de arbitris), dass der Schiedsherr (arbitrator) gehalten war, eine ihm von den Parteien vorgetragene Frage nicht nach den Grundsätzen des Zivilrechts (secundum formam iuris civilis) zu verstehen, sondern nach denen der Billigkeit (ex equitate).10 Mit anderen Worten: Man war im Laufe des 14. Jahrhunderts darum bemüht, dem Schiedsherrenamt (arbitramentum) die Zielvorstellung der Billigkeit zu geben, um einen substanziellen statt eines nur formalen Ausgleichs der Parteien zu erreichen. Daher entwickelte sich die Billigkeit von einem rein abstrakten Prinzip zum Streben, den Kern eines Sachverhaltes offenzulegen und etwas von der inneren Natur der Geschehnisse zu offenbaren. Daher handelte es sich auch nicht um eine ausschließlich ethische Angelegenheit. Neben der ratio des Rechts existierte für die Rechtsgelehrten des späten Mittelalters eine Billigkeit. In der Gesetzgebung Iustinians noch unbekannt, war sie ein Kind der neuen Zeit: vernünftig und in der Anwendung unter neuartigen Umständen überzeugend. Dieses andersartige Konzept von Gerechtigkeit war nicht mehr auf einen »abstrakten Typ Mensch« bezogen, auf eine menschliche Qualität fern jeder Realität, sondern stattdessen in konkreter Weise auf ein bestimmtes Subjekt. Die Gerechtigkeit ging also von einem objektiven oder, wenn man will, einem metaphysischen Niveau über auf ein subjektives, weltliches, das am Menschen orientiert war – einem Menschen, der in dieser Zeit in den Städten lebte und handelte, und dessen Konflikte mit seinen Mitbürgern schnelle Lösungen verlangten. Ihm musste der Schutz seines Rechts gewährleistet werden, damit jedem das Seine gesichert war – dies alles jedoch ohne die Starrheit der Gesetze.11 Der arbitrator besaß somit die wichtige Funktion, die Kräfteverhältnisse zwischen den komplexen sozioökonomischen Institutionen, die bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wirkten und von da an in den städtischen Kommunen bis in das späte 15. Jahrhundert andauerten, auszugleichen. Darüber hinaus sah man sein Amt als ein wirksames Instrument zur schnellen Lösung von Streitfällen zwischen zwei Parteien an, die aus ökonomischen und sozialen Gründen nicht an lang anhaltenden Konflikten interessiert waren. Schließlich wurde im Laufe des 14. Jahrhunderts aus eben diesen Gründen die Verpflichtung eingeführt, Streitigkeiten zwischen Verwandten durch einen Ausgleich zu lösen.12 In all diesen Fällen war 138 | Gianc arlo A nd e nna
ein Schiedsspruch hilfreich, weil im Bereich der eben entstehenden städtischen Signorie Italiens viele Familienverbände die Notwendigkeit erkannten, komplexe und oft schwer durschaubare Ausgleiche zwischen Gruppen zu suchen – Gruppen, die sich anschickten, die politische Macht zu erobern, und solchen, die eher randständig waren. Beide jedoch waren immer darauf bedacht, eine einheitliche Position bezüglich sozialer und juristischer Privilegien wie auch des Vermögensrechts ihrer Familien zu finden.13 Tatsächlich wurde den Familienverbänden in den kommunalen Statuten der nord- und zentralitalienischen Städte das Recht zugesprochen, ihre Konflikte mittels eines von ihnen gewählten arbitrator zu lösen. Die Verpflichtung zur Kompromissfindung unter den politischen Parteien – der Kommune ebenso wie dem Fürsten – diente letztendlich dazu, Privilegien zu verteidigen oder zu stärken, welche die adligen Familien seit Generationen besaßen.14 Allerdings wurde das Schiedsverfahren auch von den dominierenden Gruppen norditalienischer Städte in der Auseinandersetzung mit politischen Rivalen bemüht, die zeitweilig aus den Kommunen verbannt wurden und zu befestigten Burgen im Umland oder auch in nahe gelegene verbündete Städte flohen. Die Anwendung der in den städtischen Statuten festgesetzten Gewaltstrafen war für niemanden von Vorteil, weil sich die Situation durch einen Wechsel der politischen Herrschaft rasch ändern konnte. In der Realität waren die Abmachungen zwischen den verschiedenen politischen Gruppen innerhalb der von Bürgerkriegen erschütterten Städte – unpassenderweise Friedensschlüsse genannt – meist Kompromisse, die versuchten, für kurze Zeit einen seltenen Moment von Ausgewogenheit und Gerechtigkeit zu erreichen.15 Schließlich wurden Schiedssprüche im 14. und 15. Jahrhunderts sogar getroffen, um richtige Kriege zwischen den Staaten zu beenden. Aber dies soll hier nicht Gegenstand sein. Betrachten wir nun einige Beispiele für die Handhabung von Schiedsgerichtsentscheidungen zur Lösung von Verwandtschaftsstreitigkeiten, bei geschäftlichen Kontroversen, bei komplexen Auseinandersetzungen zwischen kirchlichen Institutionen um Eigentumsfragen oder zivilrechtliche Probleme und schließlich in politischen Konflikten zwischen Staaten, die nicht selten in Kriege mündeten. Der Fokus soll dabei auf der statutarischen Gesetzgebung der Städte und dem Handelsrecht liegen. Die Verfassung der lombardischen und venetischen Städte erlaubte es, die Zuständigkeit eines ordentlichen Richters für eine präzis zu benennende Reihe von Prozessen auszuschließen, die folgendermaßen zusammengefasst werden können: So war es zunächst möglich – und in einigen Fällen auch nötig –, Angehörige oder gesellschaftlich hochstehende Verwandte einer Familie bis zum vierten Grad (entsprechend den Regelungen des kirchlichen Rechts) auf Anordnung des arbitrator in Rechtsfragen jederzeit vorzuladen. Ein anschauliches Beispiel für die Handhabung Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 139
des Schiedsverfahrens bei der Entscheidung von Klagen zwischen nahen Verwandten findet man im Statut CLXXXX des ersten Buches der Statuten von Novara aus dem 14. Jahrhundert.16 Hier wurde festgesetzt, dass das Stadtoberhaupt, der Podestà, im Falle eines Streits zwischen Vorfahren, Nachkommen oder Seitenverwandten bis zum vierten Grad die Pflicht hatte, diese zur Wahl eines oder mehrerer fähiger Schiedsherren zu drängen, um auf diese Weise die Streitigkeit schnellstmöglich ohne ein gerichtliches Verfahren beizulegen. In sehr ausführlicher Weise wurde in Rubrik 248 des Abschnitts »Von den Zivilfällen« (Delle cause civili) der Statuten von Como aus dem Jahr 1458 dargelegt, dass die Entscheidung der arbitratores unter keinen Umständen annulliert werden konnte, sobald die streitenden Parteien zu einem Kompromiss gekommen waren. Diese Vorschrift galt, wenn beide Parteien vor dem Schiedsspruch auf ihr Berufungsrecht ebenso verzichtet hatten wie auf das Recht, Zweifel an der Unbefangenheit des arbitrator zu äußern. Damit hatten sie keine Möglichkeit, sich ein weiteres Urteil einzuholen, welches ein bonus vir hätte aussprechen können. Im Gegenzug musste den Anordnungen umgehend und ohne weitere Verzögerung oder Berufung auf juristische Formalitäten Folge geleistet werden.17 Im eben erwähnten Statut aus Como legten die Gesetzgeber überdies fest, dass Entscheidungen, die vom arbitrator bei Streitigkeiten zwischen Verwandten getroffen worden waren, innerhalb eines Monats gemäß der Anordnung des Schiedsherren vollzogen werden mussten, ohne dass ein weiteres Appellationsrecht zulässig war.18 Großes Augenmerk legten diese Statuten auf Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn, Großvater und Enkel oder Mutter und Tochter. Auf Anfrage eines der am Streit Beteiligten musste der Podestà in diesen Fällen drei arbitratores benennen, die aus einer von beiden Parteien zusammengestellten Gruppe von Vertrauenspersonen (confidentes) auszuwählen waren. Von diesen Dreien wurde erwartet, den Fall innerhalb von drei Monaten zu entscheiden. Niemand konnte gegen ihr Urteil Widerspruch einlegen oder auch nur versuchen, es für ungültig erklären zu lassen. Konnten sie innerhalb der vorgeschriebenen Zeit zu keinem Schiedsspruch kommen, drohte ihnen eine Strafe von 25 Lire.19 Ähnliche Anordnungen galten zu Beginn des 16. Jahrhunderts in den Statuten der Kommunen Novara und Mailand. Sollten beide Parteien den Richter ersuchen, einen Kompromiss zu erwirken, wurde in den Statuten dieser Städte zudem bestimmt, dass sie binnen dreier Tage einen oder mehrere arbitratores zu wählen hatten, die dann innerhalb der folgenden zwei Tage einen Schiedsspruch treffen sollten.20 Es war somit niemals der Richter, der die arbitratores bestimmte – diese Aufgabe kam stets den im Streit liegenden Parteien zu. Pflicht des Richters war es, die Betroffenen zu einer Wahl zu zwingen und ihnen hierfür eine nur kurze Frist zu setzen. Es wird deutlich, dass der arbitrator zur zentralen Figur der gesamten Gesetzgebung der Städte Italiens geworden war. Ein Jurist des 13. Jahrhunderts, Rolandino Passeggeri, bestätigt dies in seinem Handbuch der Notariatskunst (Summa artis no140 | Gianc arlo A nd e nna
tariae), wo er den arbitrator folgendermaßen bestimmte: Er wird im Konsens der Parteien gewählt und dient nicht der Rechtsordnung, sondern entscheidet freundschaftlich die Streitfälle zwischen den Parteien.21 Oftmals handelte er auch, um die Einheit und die brüderliche Liebe zwischen den Parteien zu bewahren, insbesondere unter den Händlern.22 Gerade aus diesem Grund war seine Tätigkeit in großem Maße in wirtschaftlichen Streitfällen gefragt, in die Kaufleute, Handwerker oder deren Angestellte verwickelt waren. Darüber hinaus wurde er auch bei Klagen im Bereich des Arbeitsrechts eingesetzt, zum Beispiel um Probleme bei der Auszahlung von Löhnen, bei Kündigungen oder bei der Abwesenheit von Arbeitern aufgrund von Teilnahmen an militärischen Unternehmungen zu lösen. Schließlich waren Schiedssprüche auch bei Streitigkeiten zwischen Teilhabern einer Genossenschaft über den gemeinsamen Besitz und dessen Aufteilung vorgesehen. In diesen Fällen überschritt die Tätigkeit des Schlichters, der dem Schiedsspruch seine gerechte Bewertung ebenso zu Grunde legte wie seine Erfahrungen, die Bestimmungen des Rechts oder war sogar unabhängig von diesem. Es scheint an dieser Stelle sinnvoll zu unterstreichen, dass – ungeachtet der Rechtsvorschriften – der arbitrator keine Macht ausübte, die sich aus dem Gesetz ableiten ließ, sondern dass ihm seine Entscheidungsbefugnis kraft des Beschlusses der streitenden Parteien zukam, die ihn mit der Lösung ihres Konfliktes betraut hatten. Diese Feststellung hilft zu verdeutlichen, dass es eben die streitenden Parteien waren, die ihm das Mandat übergaben, eine Entscheidung zu treffen. Diese konnte auch unwiderruflich sein, wenn die Kontrahenten dies vor dem Schiedsspruch für notwendig gehalten hatten. Bei seiner Tätigkeit war der arbitrator einer Logik des Ausgleiches verpflichtet, auf deren Grundlage die Parteien ihre jeweiligen Interessen definitiv regelten. Darüber hinaus konnte sich derjenige, der den Kompromiss festsetzte, außerhalb des juristischen Systems bewegen; er konnte einen Ausgleich (equitas) erzielen, der nicht einfach subjektiv war, sondern ebenso aus vorangegangenen Fällen abgeleitet wurde. Seine Gerechtigkeit war somit ebenso an der Vernunft wie an den konkreten Umständen orientiert. Fragen wir uns nun, warum man im Laufe des 15. Jahrhunderts bei der Lösung von Konflikten immer häufiger einen arbitrator bemühte, und warum er auf manchen Gebieten in dem Maße nachgerade unersetzlich wurde, in dem sein Wirken in den Stadtstatuten oder für die Kanzleien der herrschenden Familien (Signorie) für unabdingbar erklärt wurde. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Kommunen und die neuen Herren den Familienverbänden große Spielräume im Hinblick auf ihre Autorität einräumen mussten, um so ihre eigene Macht aufrechtzuerhalten – sei es zum Schutz der »Familien«, sei es wegen der persönlichen Lage der Bürger und nicht zuletzt jener der Händler. Eine Maßnahme zur Wahrung eben dieser Ausrichtung war nun der Schiedsspruch: Es entspräche sehr der Ehre des Händlers, Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 141
sich die Wahrheit nicht durch Streit und Gewalt anzueignen. Es war also erforderlich, das Treueverhältnis (fides) der Händler gegenüber ihrem Herren zu schützen und sie der harten und repressiven Rechtsordnung des Podestà oder des Stadtherren (dominus civitatis) zu entziehen. Zugleich aber gehörte es zu den Aufgaben des im 15. Jahrhundert entstehenden Staates, eine schnelle Lösung von Konflikten als Ausdruck des von ihm zu verteidigenden gemeinen Nutzens durchzusetzen.23 Ein Beispiel: Der Geheime Rat (Consiglio Segreto) von Mailand, »di Porta Giovia« genannt, spielte während der Regentschaft der Herzogin Bona von Savoyen eine wichtige Rolle für deren Herrschaft. Aus den eben genannten Gründen nun ordnete der Rat im Februar des Jahres 1479 an, dass sich Giovanni Francesco dei Filiberti, der mit Melchiorre Mezzabarba wegen eines Lieferauftrags der Familie Caneparia für Salz aus Pavia im Streit lag, mit seinem Gegner versöhnen solle. Sie sollten sich auf einen von beiden Seiten geschätzten Gelehrten einigen, um ihm dann alle strittigen Unterlagen anzuvertrauen, die der Steuerbehörde Mailands, beziehungsweise den Verantwortlichen der Steuerkasse (Magistris Entratarum ordinariarum) vorlagen. Der Gelehrte in der Rolle des Schiedsherren sollte den Fall binnen zwei oder drei Tagen lösen,24 doch in Wirklichkeit zog sich die Angelegenheit, trotz der Intervention des arbitrator, über drei Monate hin, weil die Kammer der Steuerkasse des Herzogtums involviert wurde. Nach Ablauf der Frist, am 21. Mai 1479, ließ der Vermittler, Carlo da Trivulzio, den Geheimen Rat in Anwesenheit der regierenden Herzogin eine Lösung genehmigen, die einige Wochen zuvor gefunden worden war und sowohl den beiden Kontrahenten als auch der herzoglichen Kammer einen vollkommenen Ausgleich bei den gegenseitigen Verpflichtungen wie auch den geschuldeten Geldbeträgen garantierte. Die Lösung, der zufolge Melchiorre der Kammer 4.000 Dukaten schuldete und Giovanni Francesco, der neue Pächter, von allen finanziellen Belastungen freigesprochen wurde, erlaubte auch Mezzabarba, der Kammer den Hauptteil seiner Schulden zurückzuzahlen, indem er ihr die zweifelsfrei einklagbaren Verbindlichkeiten seiner eigenen Schuldner bis hin zum Betrag von 4.000 Dukaten in Gold abtrat.25 Der Einsatz eines arbitrator war vom selben Geheimen Rat der Stadt Mailand auch im Falle eines Streites zwischen einem Mailänder und einem mit dem Herzogtum verbündeten Staatsoberhaupt vorgesehen, in diesem Fall dem Herzog von Monferrato. Nach dem Tod des Mailänder Bürgers Cesare da Parma, der geschäftliche Beziehungen mit Wilhelm VIII., dem Herrn von Monferrato, gepflegt hatte, ernannten seine Erben Francesco Bolla zu ihrem Vertreter, um vom Herzog 400 Golddukaten einzufordern, die dieser jedoch nicht entrichten wollte. Der Streitfall wurde dem Geheimen Rat der Herzogin vorgetragen, der im Februar 1479 Pasino da Vimercate und Antonio Rabia ernannte, um sowohl die Forderung wie auch die Schulden des Verstorbenen zu bewerten sowie dessen wirtschaftliche Lage vor dem 142 | Gianc arlo A nd e nna
herzoglichen Rat zu beleuchten. In der Zwischenzeit wurde der Herzog gefragt, ob er einen Sprecher des Staats Mailand akkreditieren wolle. Am 18. Februar legte der Rat fest, dass sowohl Vimercate als auch Rabia in diesem Streit als arbitrator zu benennen waren. Für den Fall, dass der Herzog als Schuldner festgestellt wurde, sollten die Erben des Cesare da Parma ihr Geld vom Schatzmeister der Regentin Bona von Savoyen erhalten, der die Zahlung der 400 Dukaten den Männern Wilhelms VIII. vorenthalten hatte, die im Dienste der Mailänder standen.26 An dieser Stelle gilt es hervorzuheben, dass Schiedssprüche auch weiterhin eindeutig am häufigsten im wirtschaftlichen Bereich gesprochen wurden, weil die staatlichen Institutionen dort Konfliktlösungen durch einen Schiedsspruch bevorzugten und die Streitenden sogar dazu ermutigten. Damit versuchten sie zu verhindern, dass die unterlegene Partei ein Urteil für ungerecht erklärte und damit seine Vollstreckung verzögerte. So entschied der Große Rat von Venedig im Jahre 1433, nachdem er vorausgeschickt hatte, dass »Konflikte zwischen unseren Bürgern, die durch Schiedssprüche beendet wurden, zur Ehre und zum Nutzen der Unsrigen gereichen«, den maßlosen Gebrauch von Verfahrenstricks zu reglementieren; mit diesen erhoffte man sich, Schiedssprüche im Auftrag der unterlegenen Partei anzufechten, um ihren Vollzug zu blockieren. Alle Entscheidungen eines Schiedsgerichtes sollten umgehend von Richtern bestätigt werden, sofern der arbitrator oder die Mehrheit des schiedsherrlichen Kollegs nicht vor der Ratifikation des Spruchs bekannte, »dass sie getäuscht worden sind oder einen Fehler gemacht haben«.27 Die von reichen, aber unterlegenen Parteien angewandten Verzögerungstaktiken waren Ausdruck eines sich im Laufe des 15. Jahrhunderts entwickelnden echten Korruptionsproblems, das nun auch auf die Institution des arbitrator übergegriffen hatte. Als kritischer Punkt erwies sich hier insbesondere die Vollstreckung des Schiedsspruches. In einem Beschluss aus dem Jahr 1547 stellte der große Rat von Venedig den Sachverhalt wie folgt dar: Seit einiger Zeit besteht eine üble Korruption: Wenn die Richtersprüche unserer Räte ausgesprochen sind, dann sollten diese umgesetzt werden, wie es richtig und angemessen ist. Die der Korruption Schuldigen finden immer neue Gründe, um die Umsetzung des durch die Räte approbierten und ratifizierten Richterspruchs zu verhindern. Diese Gewohnheit führt dazu, dass ein Armer, wann immer er mit Mächtigen zu tun hat, die Schlechtes im Sinn haben, ohnmächtig ist und gezwungen wird, seine gerechtesten Absichten aufzugeben. Mit anderen Worten: Selbst wenn er im Recht ist, ist er wahrlich durch die Umstände gezwungen, zu seinem größten Schaden beizugeben.28
Um die Missstände zu beheben, die schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu Tage traten, beschränkte ein Gesetz aus Venedig vom 10. Mai 1444 Revisionsklagen gegen schiedsherrliche Entscheidungen. Selbst wenn dem arbitrator Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 143
in einem Teil des Urteiles ein Fehler unterlaufen war, sollte der nicht zu beanstandende Teil sofort approbiert und zur Vollstreckung gebracht werden können.29 Deswegen war es wohl vor allem das Problem der Unparteilichkeit, oder wenn man so will des Ausgleichs (equitas) zwischen den Parteien, das die venezianischen Gesetzgeber dazu veranlasste, den Mächtigen Verzögerungstaktiken zu untersagen. So war zum Beispiel der Richter, selbst wenn er einen Fehler in einem kleinen Teil des Schiedsspruches eingestehen musste, dazu anzuhalten, einen bereits beschlossenen Kompromiss auch zu vollstrecken. Abgesehen von solchen Spitzfindigkeiten erschien es den Repräsentanten des Großen Rates klar, dass man »der Gerechtigkeit dann Genüge tut, wenn jeder erhält, was ihm zusteht, und es nicht erlaubt ist, dass irgendjemand ungerechterweise schikaniert wird«.30 Ein interessantes Beispiel für die Weigerung, einen Schiedsspruch zu vollstrecken, der dann durch die Entscheidung der Richter des Venezianischen Petitionsgerichts gelöst wurde, ist in einem Dokument vom 11. Mai 1402 belegt. Das Gesuch um ein Eingreifen des Richterkollegs wurde von Filippino de Abbatibus gestellt, der darum bat, einen Schiedsspruch aus Mantua vom 29. April 1393 zu bestätigen, der von einem besonderen arbitrator – dem von den Parteien ausgewählten Herzog Francesco Gonzaga – ausgesprochen worden war. Bevor jedoch noch im Oktober des gleichen Jahres der Schiedsspruch vollstreckt werden konnte, widersetzte sich die unterlegene Partei, repräsentiert vom Bruder des Filippino, dem Mantuaner Iacopo. Er behauptete, dass der Schiedsspruch annulliert werden müsse, weil der Vater im Testament verboten habe, sich an einen arbitrator zu wenden. Die Entscheidung der Richter aus Venedig folgte umgehend, da Iacopo die Entscheidung des arbitrator zum Zeitpunkt des Schiedsspruches akzeptiert und auch die Strafe von fünf Dukaten im Falle einer Widersetzung durch seine Unterschrift bestätigt hatte. All dies war notariell beglaubigt. Die Entscheidung der Richter bekräftigte also den Schiedsspruch des Herzogs: Man verpflichtete Iacopo, sofort den Inhalt des Kompromisses zu erfüllen sowie nun auch die fünf Dukaten und die Kosten des Prozesses bei Androhung einer Haftstrafe (sub pena carceris) zu begleichen.31 Es ist nun an der Zeit, ein Beispiel für ein Schiedsverfahren aus dem Bereich des Handels vorzustellen: Es geht um einen Schiedsspruch, der im Jahre 1445 in Venedig von Marino Cappello erlassen wurde, der im Kompromiss von zwei ehemaligen Geschäftspartnern, Bernardo Zeno und Andrea Geno, am 25. August 1445 zum arbitrator gewählt wurde.32 Er erließ seinen Schiedsspruch einen Monat nach seiner Wahl, nachdem er den Forderungen beider Parteien aufmerksam zugehört und die Kassenbücher umsichtig geprüft hatte. Der Inhalt seines Spruchs war sehr facettenreich: Andrea wurde nämlich zur sofortigen Zahlung von 50 Golddukaten an Bernardo Zeno verpflichtet, da der Schiedsherr bei seiner Revision einen Fehlbetrag in der Bilanz gefunden hatte. In einem zweiten Schritt prüfte Cappello den Anspruch des Bernardo Zeno, der von Andrea eine Summe von 299 Dukaten 144 | Gianc arlo A nd e nna
und 14 Grossi forderte, die Bernardo wiederum einem Händler aus Florenz namens Angelo Gadi schuldete. Er legte fest, dass Andrea innerhalb von acht Monaten die Summe an Gadi übergeben müsse, damit Bernardo in dieser Sache nicht mehr gestört werden sollte. Gleiche Anordnungen wurden bezüglich einer anderen Summe von 123 Dukaten und 30 Grossi beschlossen, die Bernardo einem gewissen Loredan schuldete. In Bezug auf einen kostbaren Stein im Wert von 77 Dukaten, den Andrea dem Bernardo gegeben hatte, der von diesem aber an einen Dritten abgetreten worden war, wurde beschlossen, dass Bernardo innerhalb von vier Monaten den Edelstein auslösen müsse, um ihn dann an Geno zu übergeben, welcher wiederum Bernardo die Golddukaten erstatten sollte. Der arbitrator legte in weiteren 20 Absätzen, von denen jeder einzelne eine spezifische Lösung für Hunderte von Dukaten beinhaltete, Folgendes fest: Geno sollte bei Zeno Schulden begleichen, die vor allem für den Kauf von Pfeffer, von Alaun und von Seidentüchern aus Damaskus angefallen waren. Er hatte sie in der Levante gekauft und in der Stadt und auf dem Festland verkauft. Der Schiedsspruch kann damit zugleich als ein Beweis für die komplexen Handelsbeziehungen gesehen werden, die sich in Venedig beim Zusammenschluss und bei Auflösung von Handelsgesellschaften zwischen Geschäftsleuten der Mittelschicht entwickelten. Durch den hier analysierten Schiedsspruch wurde das Problem einer sehr verworrenen Kassenlage zwischen zwei Handelspartnern gelöst – eine Angelegenheit, die sich über drei Jahre hinzog und die nicht nur zum Ziel hatte, eine klare Trennung sowohl der Geschäfte als auch des Kapitals zwischen den beiden zu erreichen, sondern mit der auch alle Differenzen, die sich aus der Untersuchung der Kassenbücher ergeben hatten, überwunden werden sollten. Durch den Einsatz einer vertrauenswürdigen Person im Amt des arbitrator vermied man in diesem Fall, dass ein ordentlicher Richter in den engen Rahmen der Kassenbücher und Gewinne beider Partner eindrang, um diese zu trennen. Die für beide Konfliktparteien akzeptable Lösung des Konflikts zog sich überdies nicht lange hin. Aber kommen wir noch einmal auf die Verbindlichkeit des Schiedsspruches bei Streitigkeiten zwischen Verwandten zurück: So setzte der Große Rat von Venedig im Jahre 1433 fest – der Beschluss wurde am 19. Januar 1475 erneuert –, dass die nächsten Verwandten untereinander nicht vor ordentlichen Gerichten streiten sollen.33 Ein ordentliches Rechtsverfahren unter Verwandten würde einen Verstoß gegen das Naturrecht darstellen, weil in diesem Fall Streit und Hass trennen würden, was die Natur vereint hatte,34 auch wenn – sowohl im Hinblick auf die Ursachen der Konflikte als auch in Bezug auf die Befugnisse des Staates – der Schutz des Familienvermögens wohl im Zentrum des Interesses stand. Gleichwohl galt es, das Vorgehen der Schiedsgerichte so zu reglementieren, dass ein möglicher Zeitverlust vermieden wurde, durch den sowohl die Gerechtigkeit behindert als auch die Versöhnung unter den Verwandten verzögert worden wäre. Daher wurde durch Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 145
ein am 23. Juli 1475 vom Großen Rat verabschiedetes Gesetz angeordnet, dass die Parteien ihren Schiedsherren einem ordentlichen Richter vorstellen sollten. Die arbitratores wiederum wurden dazu angehalten, unmittelbar nach Annahme ihres Auftrags, vor demselben Gericht zu schwören, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden und Gerechtigkeit zu üben (facere iudicium et iusticiam bona fide et sine fraude), und dies innerhalb der in den Verträgen vorgegebenen Zeit von vier Monaten, wobei die Frist auf Antrag beider Parteien um einen weiteren Monat verlängert werden konnte. Für den Fall der Erfolglosigkeit der arbitratores war es beiden Parteien möglich, eine andere Gruppe von Schiedsherren zu wählen, was jedoch nur zwei weitere Mal erlaubt wurde, um zu vermeiden, dass die Streitfälle »unsterblich« wurden (lites fiant immortales). Dies nämlich wurde durch gerissene Anwälte zu erreichen versucht. Nach dem dritten erfolglosen Versuch der Streitschlichtung musste der Fall daher an einen ordentlicher Richter übertragen und durch diesen ein Rechtsspruch getroffen werden.35 Ein anschauliches Beispiel für die Schwierigkeiten einer Kompromissfindung bei Streitigkeiten zwischen engen Verwandten, die der Verwaltung des Stadtstaates Mailands nach wie vor große Probleme bereiteten, ist der Konflikt zwischen den beiden Brüdern Borromeo, Giovanni und Vitaliano, Söhnen des Filippo, des großen Bankiers des Herzogs Francesco Sforza, vom März 1479.36 Seit einiger Zeit versuchte der Zweitgeborene, Vitaliano, der keine Erben hatte, den immensen Familienbesitz zu teilen, während Giovanni wollte, dass das gesamte Erbvermögen an seine Kinder überging. Er behauptete, dass dies der Wille seines Vater Filippo und vor allem des Großvaters Vitaliano gewesen sei, jedoch war das Testament weder im Original noch in den Büchern der notariellen Protokolle auffindbar. Giovanni beschuldigte daraufhin den Bruder, ihn betrogen zu haben, während Vitaliano eine Teilung des Vermögens forderte, um seinen Anteil seinem Neffen Ludovico Visconti zu überlassen. Am 14. März 1487 unterbreiteten vier arbitratores einen Kompromiss, der Vitaliano die gewaltige Summe von 40.000 Fiorini zusprach, während den männlichen Nachkommen Giovannis dennoch der Großteil des Erbvermögens zugesichert wurde. Ohne Zweifel war sich das schiedsherrliche Kolleg der Tatsache bewusst, dass Giovanni mit seinem Sohn Giberto im selben Jahr auf der Brücke von Crevola d´Ossola eine Invasion der Vallesen zurückgedrängt hatte, die über den Pass von Sempione und das Tal von Sion in die Lombardei eingedrungen waren. Es bedachte wohl auch, dass er den gesamten Besitz der Familie Borromeo kontrollierte und verwaltete, der zu großen Teilen am Ufer des Lago Maggiore lag und zum Gebiet von Arona gehörte. Vitaliano lehnte den Schiedsspruch aber dennoch ab; er wurde dabei von Ludovico il Moro unterstützt und beharrte auf dem Standpunkt, dass kein Testament der Vorgänger bekannt sei, das eine Klausel enthalte, der zufolge der gesamte Besitz den männlichen Nachkommen zukomme. Die Aufteilung der Güter durch neue Schiedsherren erfolgte schließlich am 17. März 146 | Gianc arlo A nd e nna
1489 und wurde von beiden Brüdern akzeptiert. Der unerwartete Tod Vitalianos im September 1493 löste zwar das Problem der Erbteilung, eröffnete jedoch zugleich ein neues: das der Akzeptanz von Vitalianos testamentarischer Verfügung, der sein Vermögen seinem Neffen Ludovico Visconti überlassen hatte. Giovanni widersetzte sich dem Willen seines Bruders und forderte, das Testament für ungültig zu erklären, weil es nicht die Unterschrift eines dritten Notars trug – eine durch die Statuten der Stadt Mailand geforderte Bedingung. Da die Borromeo und die Visconti keine Blutsverwandten waren, wurde der Prozess vor einem ordentlichen Richter geführt, welcher beantragte, eine große Anzahl von Sachverständigen (sapientes) zu befragen, die er um Rat (consilia) ersuchte. Nach jahrelangen Diskussionen – unterbrochen noch vom Einfall Karls VIII. in Italien – gelangte man zu einem definitiven Rechtsspruch, der 1498 zu Gunsten von Ludovico Visconti ausgesprochen wurde. Auch in diesem Fall reichte der starke Druck des Herzogs aus, um Urteile der arbitratores zu beeinflussen, die zunächst Giovanni bevorzugt hatten, der als Held im Kampf gegen die Schweizer, als großer Bankier, als Politiker und als Botschafter der Stadt in den italienischen Zentren, aber auch als Anführer der ghibellinischen Partei in der Lombardei galt. Er war zweifellos eine herausragende Persönlichkeit, fähig, dem Stadtstaat Mailand Männer, Geld und bewaffnete Truppen zu garantieren. Als Gegenleistung verlangte er, sein Vermögen, die unzähligen Finanz- und Handelsgeschäfte, die Handwerksbetriebe und bäuerlichen Wirtschaften, die zuvor von seinem Vater verwaltet worden waren, nun selbst zu führen. Erst als nach 1488 Ludovico il Moro an Vitaliano herantrat und für ihn um einen Sitz im Geheimen Rat bat, zerbrachen die Beziehungen zu Giovanni, dessen Belehnung er nicht mehr erneuerte. Diese politische Wahl drängte die Borromeo nach 1495 in das Lager der Feinde der Sforza, welche die Ankunft des Herzogs Ludwig von Orleans in der Lombardei begrüßten.37 Andererseits konnten Ausgleich und nachfolgender Schiedsspruch den sich bekriegenden politischen Gruppierungen und Familien entsprechend der Gesetzgebung Mailands von 1480 auch verbindlich auferlegt werden. Tatsächlich war es innerhalb der regulären Schiedsverfahren möglich, dass der Podestà den sich mit Waffengewalt bekämpfenden städtischen oder ländlichen Gruppen befehlen konnte, Frieden zu schließen. In diesem Fall übte der Podestà kraft seines Amtes die Funktionen des arbitrator aus und konnte, wenn eine der beiden Parteien die Übereinkunft ausschlug, diese Renitenten verbannen. Allerdings bestimmte man auch, dass durch einen auf diese Weise erreichten Frieden Strafen für kriminelle Handlungen – sei es für begangene, sei es für solche, die noch begangen wurden – nicht aufgehoben waren.38 Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass das Schiedsverfahren im späten Mittelalter und der Neuzeit sehr verbreitet war, weil es gleichsam eine Antwort auf Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 147
drängende Fragen der Rechtspraxis darstellte: Zunächst ist hier die Möglichkeit zu nennen, eine zivile Klage nach Billigkeit (ex bono et equo) beizulegen, ohne das strikte Recht (ius strictum) beachten zu müssen. Des Weiteren konnten durch einen Kompromiss kurze und bisweilen auch sehr kurze Fristen für die Beilegung von Streitigkeiten festgesetzt werden, was im Bereich wirtschaftlicher Aktivitäten einen unschätzbaren Vorteil darstellte. Schließlich wurde dem Schiedsspruch innerhalb der Rechtsordnung zum Ende des Mittelalters die gleiche Bedeutung beigemessen wie dem Urteil eines ordentlichen Richters. Tatsächlich beschränkte sich der Richter, dem die Vollstreckung der Entscheidungen des arbitrator oblag, darauf, sie umzusetzen, ohne die Richtigkeit des Rechtsspruches zu überprüfen. Es ist gewissermaßen die Einführung eines privaten Rechts in die Bereiche von Handel, Arbeit und Vermögen der adeligen Familien. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um Recht im strengen Sinn, nicht um Recht seinem Wesenskern nach, wohl aber, so kann man sagen, in seinem Praxisbezug, denn dieses Recht sollte den Ausgleich zwischen zwei Streitenden garantieren, und es diente dazu, die soziale Geschlossenheit und den gemeinen Nutzen zu bewahren und dies in zügiger Weise. Die entstehenden Staaten des 15. Jahrhunderts, denen der Nutzen der Schiedsgerichtsentscheidungen und deren positive Folgen, die diese im Bereich der Öffentlichkeit (publicum), im sozialen wie im Wirtschaftsleben hervorbrachten, vor Augen standen, waren daher an ihnen interessiert, weil sie diese als ein Instrument begriffen, mit dem auf schnelle Art und Weise komplexe politische und finanzielle Probleme gelöst werden konnten, während sich die später entstandenen zentralistischen Nationalstaaten bei der Justizverwaltung mit aller Kraft gegen jegliche Formen eines privaten Rechts stellten.
A n m e r kunge n 1 A. Pertile, Storia del diritto italiano Bd. 6.1, Torino 1903, S. 169–174. 2 L. Garetto, »Arbitro e arbitratore (diritto intermedio)«, in: Nuovissimo Digesto Italiano, Bd. 1, Torino 1964, S. 928–930. 3 Codex Iuris Civilis, 3, 13, 3: Privatorum consensus judicem non facit eum, qui nulli praeest judicio: nec, quod is statuit rei iudicatae continet auctoritatem. 4 L. Martone, Arbiter-arbitrator. Forme di giustizia privata nell’età del diritto comune (Storia e diritto. Studi 13), Napoli 1984, S. 26–34. 5 C. Storti Storchi, »Compromesso e arbitrato nella Summa totius artis notariae di Rolandino«, in: G. Tamba (Hrsg.), Rolandino e l’Ars notaria da Bologna all’Europa, Milano 2002, S. 331–376, im Besonderen S. 366–367. 6 Rolandino, Summa totius artis notariae […],Venezia 1546 (Nachdruck: Bologna 1977), p. I. c. IV, De transactionibus et aliis modis quibus ab actione transigitur, f. 108r, Notula »Sed notan148 | Gianc arlo A nd e nna
dum est quod transactio fit de re dubia et lite incerta nondum finita et fit aliquo dato, retento vel promisso«. 7 Pertile, Storia (o. Anm. 1), S. 174 und vor allem F. Marella / A. Mozzato, Alle origini dell’arbitrato commerciale internazionale. L’arbitrato a Venezia tra Medioevo ed Età Moderna, Padova 2001 (Studi e pubblicazioni della Rivista di diritto internazionale privato e processuale 53), S. 6. 8 Guillelmi Durantis, Speculum iuris, Venezia 1566, Buch 1.1: De Arbitrio, 1, Nr. 7, S. 155: Arbiter est quem partes eligunt ad conoscendum de questione vel lite et debet iuris ordinem servare; arbitrator vero est amicabilis compositor, nec sumitur super re litigiosa ut cognoscat, sed ut pacificet et, quod certum est, dividat; nec tenetur iuris ordinem servare. Zu politischen Schiedssprüchen vgl. auch W.G. Grewe, Epochen der Völkergeschichte, Baden-Baden 1984 (englisches Original: The epochs of international law, Berlin / New York 2000, S. 93–104, im Bezug auf das Kapitel »The Judiciary: the Development and Structure of Medieval Arbitration«). 9 Rolandini Passagerii, »Contractus«, in: Summa totius artis notariae (o. Anm. 6), Kap. 6.1, Instrumentum compromissi »promittentes dicte partes sibi ad invicem contra predicta vel aliquod predictorum et contra eorum arbitrium, laudum et sententiam non facere vel venire et ab ipsorum laudo, arbitrio et sententia, compositione, dicto et precepto non appellare nec de nullitate opponere, nec petere reduci ad arbitrium boni viri«; Guillelmi Durantis, Speculum iuris, Venezia 1566, Buch 1.1, De Arbitrio, 1, Nr. 22: Alii dicunt quod licet non possit renunciari reductioni ad arbitrium boni viri tamen hoc bene potest pacto remitti, puta si partes conveniant quod si contingat inique arbitrari, non petet aliquis illud reduci ad arbitrium boni viri. Bezüglich dieser Fragestellungen siehe auch Storti Storchi, »Compromesso« (o. Anm. 5), S. 369–374. 10 Bartolo da Sassoferrato, Tractatus de arbitris, in: Omnia quae estant opera, Bd. 10, Venezia 1602, Arbiter ab arbitratore in quibus differat, Nr. 18, 146v.; zitiert bei Martone, Arbiter-arbitrator (o. Anm. 4), S. 108–109. 11 E. Cortese, La norma giuridica: spunti nel diritto comune classico, Milano 1962, S. 23–30. 12 Martone, Arbiter-arbitrator (o. Anm. 4), S. 16–17. 13 Zu den Problemen der Familienverbände im Mittelalter siehe: G. Duby / J. Le Goff (Hgg.), Famille et parenté dans l’Occident medieval, Roma 1977; die italienische Übersetzung trägt den Titel: Famiglia e parentela nell’Italia medievale, Bologna 1981; sowie D. Herlihy, Cities and Society in Medieval Italy, London 1980. 14 P. J. Jones, »Comuni e Signorie«, in: G. Chittolini (Hrsg.), La crisi degli ordinamenti comunali: la città-stato nell’Italia del Tardo-Medioevo, Bologna 1979, S. 99–125, im Besonderen S. 110–113; aber auch G. Tabacco, »La storia politica e sociale. Dal tramonto dell’impero alle prime formazioni degli stati regionali«, in: Storia d’Italia, Bd. 2.1, Torino 1974, S. 280– 282. 15 M. Sbriccoli, »Giustizia negoziata, giustizia egemonica. Riflessioni su una nuova fase degli studi di storia della giustizia criminale«, in: M. Bellabarba / G. Schwerhoff / A. Zorzi, Criminalità e giustizia in Germania e in Italia. Pratiche giudiziarie e linguaggi giuridici tra tardo medioevo ed età moderna, Bologna 2001 (Contributi dell’Istituto storico italo-germanico in Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 149
Trento), S. 345–364. Siehe auch A. Zorzi, »I conflitti nell’Italia comunale. Riflessioni sullo stato degli studi e sulle prospettive di ricerca«, in: A. Zorzi (Hrsg.) Conflitti, paci e vendette nell’Italia comunale (Reti Medievali. E-Book 14), Firenze 2009, S. 7–42. 16 Statuti di Novara del XIV secolo, kritische Edition, hrsg. von G. Cossandi / M. L. Mangini (International Research Center for Local Histories and Cultural Diversities, Fonti 6), Varese 2012, Buch 1, Spalte CLXXXX. 17 Statuta civitatis et episcopatus Cumarum (1458), hrsg. von M. L. Mangini (International Research Center for Local Histories and Cultural Diversities, Fonti 5), Varese 2008, S. 271–272. 18 Ebd., S. 271, Nr. 246. 19 Ebd., S. 271–272, Nr. 247. 20 Statuta Mediolani cum appostillis clarissimi viri iureconsulti mediolanensis domini Catellani Cottae, Milano 1552, Kap. CXV, f. 41r; siehe auch Martone, Arbiter-arbitrator (o. Anm. 4), S. 150–151. 21 Rolandino, Summa totius artis notariae (o. Anm. 6), I, cap. VI, Spalte I, »Instrumentum compromissi, Notae«, f. 156v: Qui de consensu partium eligitur et non servato iuris ordine cognoscit et diffinit amicabiliter causam inter partes. Siehe Martone, Arbiter-arbitrator (o. Anm. 4), S. 75, mit den Verbesserungen von Storti Storchi, »Compromesso« (o. Anm. 5), S. 334–335, Nr. 11. 22 Ad conservandum unionem et fraternum amorem inter partes, seu etiam inter mercatores: vgl. G. Bonolis, La Giurisdizione della Mercanzia in Firenze nel secolo XIV. Saggio storico-giuridico, Firenze 1901, S. 50; Martone, Arbiter-arbitrator (o. Anm. 4), S. 76, Nr. 33. 23 Vgl. Martone, Arbiter-arbitrator (o. Anm. 4), S. 135 mit Bezug auf M.A. Bianchi, Tractatus de compromissis faciendis, Lyon 1549, q. 1, »De validitate statuti«, ff. 6v–7r: Multum congruit fidei mercatorum non trahere per litigia directo ordinata ad violentam extorsionem veritatis. 24 Acta in Consilio Secreto in castello porte Jovis Mediolani, Bd. 3 (1. Januar 1479 - 20. Juli 1479), hrsg. von A.R. NATALE (Acta Italica Bd. 16), Milano 1969, S. 88, 11. Februar 1479, S. 90. 25 Ebd., S. 88, 90, 103, 107, 128, 134–135, 155, 164–165, 201–202. 26 Ebd., S. 98, 113. 27 Archivio di Stato di Venezia (ASVe), Compilazione Leggi, serie 1, b. 142, Giudici, sentenze arbitrarie e compromessi, c. 507r; der Text findet sich bei F. Marrella / A. Mozzato, Alle origini dell’arbitrato commerciale internazionale: l’arbitrato a Venezia tra medioevo ed età moderna (Studi e pubblicazioni della Rivista di Diritto Internazionale privato e processuale 53), Venezia 2001, S. 112. 28 ASVe, Compilazione Leggi, serie 1, b. 142, Giudici, sentenze arbitrarie e compromessi, c. 535r, 20. März 1547; hrsg. von Marrella / Mozzato (o. Anm. 27), S. 117–118: »Essendo introdutta una pessima corruttela, da poi laudate le sententie nelli nostri consegli, quando tal sententie si dieno mandar ad essecutione, sì come è giusto et conveniente, li sententiati si poneno ad interditto et con questo facillimo modo suspendeno che tal sententie laudate per gli consegli over da lor sententiate, approbate et debitamente ratificate, non hanno la sua debita essecutione et questo quante volte siano laudate talmente che sempre che un povero 150 | Gianc arlo A nd e nna
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ha da far con persone potente che voglino malignar, sono constretti dalla impotentia overo de abbandonar et cieder le giustissime ragion sue, overo astretti dalla necessità acordarsi con grandissimo danno.« ASVe, Compilazione Leggi, serie 1, b. 142, Giudici, sentenze arbitrarie e compromessi, c. 508r; hrsg. von Marrella / Mozzato, Alle origini (o. Anm. 27), S. 114–115. ASVe, Compilazione Leggi, serie 1, b. 142, Giudici, sentenze arbitrarie e compromessi, c. 535r; hrsg. von Marrella / Mozzato, Alle origini (o. Anm. 27), S. 119–120. ASVe, Giudici di Petizion, Sentenze a Giustizia, r. 9, c. 51v; hrsg. von Marrella / Mozzato, Alle origini (o. Anm. 27), S. 206–208, Nr. 79, 11. Mai 1402. ASVe, Cancelleria Inferiore, b. 105, Paolo de Liberali, reg. III, c. 35v; hrsg. von Marrella / Mozzato, Alle origini (o. Anm. 27), S. 192–199, Nr. 71, 24. September 1445. Archivio di Stato di Venezia (ASVe), Compilazione Leggi, serie 1, b. 142, Giudici, sentenze arbitrarie e compromessi, c. 527r: Inter se coram iudicibus ordinariis litigare non possent. Der Text findet sich bei Marrella / Mozzato, Alle origini (o. Anm. 27), S. 48, 116. Marrella / Mozzato, Alle origini (o. Anm. 27), S. 116: maxime convenit honestati et iuri ipsi naturali, quoniam quos natura coniunxit lites ipsas et odia que inde proveniunt non solum discidunt, sed oppositis faciunt. Archivio di Stato di Venezia (ASVe), Compilazione Leggi, serie 1, b. 142, Giudici, sentenze arbitrarie e compromessi, c. 531r; hrsg. von Marrella / Mozzato, Alle origini (o. Anm. 27), S. 117: tamen differentia si per tres manus arbitrorum non fuerit expedita, tunc ut lites non fiant immortales sicut per varias astutias huiusque factum est, iuditium differentiarum maneat in iudices proprii. Zur Geschichte der Familie in diesem Zeitraum sei verwiesen auf F. Catalano, »Il ducato di Milano nella politica dell’equilibrio«, in: Storia di Milano, Bd. 7: L’età sforzesca dal 1450 al 1500, Milano 1956, S. 227–310, im Besonderen S. 256 ff., sowie auch G. Chittolini, »Borromeo Giovanni«, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 13, Roma 1971, S. 53–55. Zu dieser Problematik siehe auch P. Frigerio (Hrsg.), Arona »porta da entrare in Lombardia« tra Medioevo ed Età Moderna, Atti del IX Convito dei Verbanisti (Arona, 28. Mai 1995), Verbania-Intra 1998; und G. Andenna, »Novara dagli Sforza alla Francia. Dimensioni internazionali e problemi quotidiani«, in: S. Monferrini (Hrsg.), Una terra tra due fiumi: la provincia di Novara nella storia. L’Età Moderna (secoli XV–XVIII), Novara 2003, S. 153–222. Statuta civitatis Mediolani (1480) impressus opera et impensa egregii magistri Pauli de Suardis, Milano 1480, f. 52v, Rubrica generalis de arbitramentis, arbitris et compromisis, rubrica 4, Quod potestas teneatur compellere habentes guerram ad paciscendum: »Potestas et eius iudices et quilibet eorum si inde fuerit requisitus teneat et debeat compellere omnes tam civitatis quam comitatus habentes guerram vel qui de cetero habeant guerram inter se ad pacisciendum et pacem faciendum; et si quis habens guerram noluerit hoc facere, potestas teneatur et debeat illum et illos contempnentem et contempnentes mittere in confinibus extra civitate Mediolani per zornatas tres infra dies octo post quam recusaverit facere illam pacem et debeat compellere omnes contempnentes facere pacem Form e n de s pri v at e n Re c ht s | 151
omnibus iuris remediis ad faciendum ipsam pacem. Et si potestas fuerit negligens in predictis condemnetur in libris quingentis tertiolorum de suo salario. Hoc intellecto quod propter talem pacem coacte factam non intelligatur facta remissio pene comisse nec comitende nec prosit ipsa pax ad remissionem pene ut supra.«
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Georg Kohler
EINLEITUNG: VERSCHIEBUNGEN DES GERECHTIGKEITSDISKURSES IN DER AUFKLÄRUNG I Gerechtigkeit ist ein komplizierter Begriff. Er ist ein Begriff, der als Name fungiert für verschiedene normative Verhältnisse, die alle zwar untereinander durch bestimmte Gemeinsamkeiten verbunden sind, zugleich aber nicht durchwegs als Arten und Unterarten einer gemeinsamen Gattung beschrieben werden können. Gerechtigkeit ist mithin ein Rhizombegriff: ein Geflecht von sich wechselseitig definierenden Unterscheidungen, das als Gesamtstruktur sich dennoch einigermaßen klar darstellen lässt. Denn diese Struktur bleibt als solche – jedenfalls im Kontext des europäischen Denkens seit Plato und Aristoteles – stabil. Explizit gemacht kann sie als Matrix dienen, auf welcher sich die in der historischen Perspektive wechselnden Schwerpunkte der Diskussion über Gerechtigkeit verorten lassen. So besitzt man einen Ordnungsrahmen, der auch die diversen Entwicklungen des Gerechtigkeitsdiskurses im »Zeitalter der Aufklärung« zu vergleichen gestattet. Im Folgenden will ich zuerst – sehr kursorisch – die Grundlinien des Strukturkonzeptes von Gerechtigkeit skizzieren, um dann mit seiner Hilfe die Ergebnisse der Beiträge von Edoardo Tortarolo und Joachim Eibach aufeinander zu beziehen. Fünf Leitdifferenzen bilden die Ausgangspunkte: Zu unterscheiden ist erstens die ›formale‹ von der ›materialen‹ Gerechtigkeit, zweitens (auf dem Feld der materialen Gerechtigkeit) die ›Tausch-‹ von der ›Verteilungsgerechtigkeit‹. Außerdem ist die ›subjektive‹ Gerechtigkeit als persönliche Tugend (des Richters oder des Herrschers) zu trennen von der ›objektiven‹ Gerechtigkeit, die Normen (z.B. staatlichen Gesetzen) oder normativen Urteilen (z.B. Gerichtsentscheidungen) zukommen soll. Schließlich ist die Vorstellung eines irgendwo (z.B. im ›göttlichen Verstand‹) quasi mathematisch festgeschriebenen Gerechtigkeitskodexes abzuheben von der Idee, dass gerechte Normen und Institutionen das Resultat kommunikativer Prozeduren sind, die auf der Basis intersubjektiv vorausgesetzter und verbindlicher Ausgangsbedingungen stattfinden (›Gerechtigkeitsrealismus‹ vs. ›Gerechtigkeitsprozeduralismus‹). Mit Blick auf den Gebrauch des Prädikats ›gerecht‹ gelangt man außerdem zu drei verschiedenen Klassen; es wird von gerechter Ve rs chie b unge n d e s Ge re cht igke it s d i sku rse s i n de r Au f k l äru n g | 155
›Rechtsanwendung‹, von gerechter ›Rechtssetzung‹ und von gerechter ›Grundordnung‹ (z.B. einer staatlichen Gemeinschaft) geredet. Allein auf das Problem der Güter- und Lastenverteilung ist der Begriff der Gerechtigkeit daher nie zu reduzieren. Vielleicht sollte man sich zuerst klarmachen, was formale im Gegensatz zur materialen Gerechtigkeit bedeutet. Formale Gerechtigkeit meint: ›Gleiches soll gleich, Ungleiches soll ungleich behandelt werden.‹ Was für das eine Gleiche gilt, das muss auch für das andere Gleiche gelten. Das ist trivial, aber keineswegs banal. Es ist die Voraussetzung dafür, dass Regelhaftigkeit in ein normatives System (oder noch elementarer: dass Normativität als solche) überhaupt eingeführt werden kann. In der Sprache des Rechts folgt daraus das ›Willkürverbot‹, welches eine der Elementarbedingungen von Rechtssicherheit und -staatlichkeit darstellt. Die materiale Gerechtigkeit ist zum einen das, was wir unter Tauschgerechtigkeit, zum anderen das, was wir unter der angemessenen Zuteilung von Vor- bzw. Nachteilen verstehen; kommutative vs. distributive Gerechtigkeit. Wie der Sinn der formalen ist auch der Sinn der kommutativen oder Tauschgerechtigkeit nicht schwer zu fassen: Zum gerechten Tausch gehören die Freiwilligkeit der Tauschenden, die Gleichwertigkeit der jeweiligen Informationsvoraussetzungen, die relative Gleichheit der Machtlagen, in und aus denen die Tauschenden handeln, etc. Dagegen ist die Bestimmung der gerechten Zuteilung und ihrer Kriterien eine immer neu zu diskutierende Angelegenheit. Soll nach ›Verdienst und Bemühen‹, soll nach ›gesellschaftlich relevanter Leistung‹ oder soll nach ›individuellem Bedürfnis‹ oder dem gesellschaftlichem ›Rang‹ verteilt werden oder nicht ...? In den Bereich dieser Auseinandersetzung fällt im Übrigen auch die im Zusammenhang der distributiven Gerechtigkeit stets auftauchende Frage nach dem Verhältnis von sozialer Gleichheit und individueller Freiheit (die sich allemal als Ursprung von sozialer Ungleichheit erweist). In den rechtsstaatlichen Demokratien der Gegenwart wird die Behandlung dieses Problems prozeduralistisch gelöst: Auf dem Fundament grundrechtlich garantierter Bedingungen der Gleichheit der Person wird es zum Thema der politischen Meinungs- und Entscheidbildung gemacht und innerhalb der entsprechenden Regel von Fall zu Fall entschieden. Am Rande sei vermerkt, dass in das Fundament des grundrechtlich gesicherten Prozeduralismus natürlich die Berücksichtigung jener Forderungen eingehen muss, die bereits mit den Konzepten der formalen und der kommutativen Gerechtigkeit vorgegeben sind. Mindestens in der Tradition des abendländischen Gerechtigkeitsdenkens ist mit dem Problem der Gerechtigkeit – und zwar in all seinen Aspekten – stets die Bezugnahme auf den basalen Anspruch verknüpft, wonach ›Menschen als freie Gleiche und gleiche Freie‹ zu behandeln sind. Das ist allerdings ein Sachverhalt, der um einiges verwickelter ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn die For156 | Georg Kohl e r
derung der Menschengleichheit wird in der Antike anders als im christlichen Mittelalter, durch die Aufklärung und die Moderne anders als in den Ständeordnungen des Feudalismus beantwortet. Ich möchte dazu an drei Dinge erinnern: Aristoteles spricht in der Politik von Menschen, die »natürlicherweise Knechte« sind; für sie müssen darum auch nicht gleiche Ansprüche gelten wie für diejenigen, die die nötigen Fähigkeiten besitzen, um als Herren anderer und ihrer selbst betrachtet werden zu können. Thomas von Aquin zweifelt nicht am göttlichen Auftrag der durch Genealogie zur Herrschaft Berufenen. Dass alle Menschen gleich vor Gott sind, besagt also nicht, dass ihnen schon auf Erden die grundsätzlich gleichen Rechte auf Regentschaft und Selbstbestimmung zukommen müssen. Und bekanntlich sind es erst die Französische Revolution und die mit ihr auftretenden Verfassungen gewesen, die die formale Rechtsgleichheit aller Menschen als den Standard jeder Rechtsordnung durchgesetzt haben.
II Das Postulat der primären Gleichheit aller Menschen – und zwar hier, ›auf Erden‹ – ist heute, jedenfalls in der normativen Theorie, universal gültig. Die Anerkennung dieser Geltung ist ohne Zweifel ein Resultat der Aufklärung. Damit ist die Brücke zu den Beiträgen von Tortarolo und Eibach geschlagen. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Edoardo Tortarolo die zeitgenössischen Debatten des 18. Jahrhunderts über das, was Gerechtigkeit heißen kann und soll. Drei Dinge sind hier wesentlich: der Gedanke der Vernunftnotwendigkeit und -natürlichkeit, der Menschengleichheitsidee (ein Prinzip, das tief in die alten Vorrechte der traditionellen Königsmacht eingreift); der zentralstaatlich durchgesetzte und im Namen allgemeingültiger Rechts-/ Gerechtigkeitsnormen beförderte Rationalisierungsprozess des Justizwesens (ein Vorgang, der die herkömmlichen Feudalgerichte und ebenso die alte Gerichtsmacht v.a. der katholischen Kirche in Frage stellt und schließlich zur Abschaffung kirchlicher Gerichte in säkularen Angelegenheiten führt); schließlich die Humanisierung des Strafvollzugs (deren Unabdingbarkeit Cesare Beccaria unmittelbar aus der fundamentalen für den Umgang mit allen Menschen verbindlichen Achtung der Menschenwürde ableitet). Charakteristisch für die Epoche der Aufklärung – darin stimmen beide Autoren überein – ist die Tatsache, dass in ihr die Spannung zwischen der Idee (oder vorsichtiger: dem Grundwort) der Gerechtigkeit und den Faktizitäten des hoheitlichen Justizsystems eine entscheidende Rolle spielt. Tortarolo untersucht dieses Verhältnis – zwischen dem für die Epoche typischen Ausbau der staatlich-administrativ geregelten Justiz und den natur- bzw. vernunftrechtlichen Deutungen der Ve rs chie b unge n d e s Ge re cht igke it s d i sku rse s i n de r Au f k l äru n g | 157
Menschengleichheit – am Leitfaden der Argumente einflussreicher Denker (Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Beccaria). Bei deren Beschäftigung mit den Tendenzen neuzeitlich-moderner, positivrechtlicher Rechtsetzung stößt man immer wieder auf die Beschäftigung einerseits mit den Kriterien guter Gesetzgebung (etwa auf die Forderung einer weitgehenden Entbindung des Rechts von religiösen Vorstellungen), andererseits auf das, was – durchaus nicht im kritischen Sinne Foucaults – als Humanisierung der Strafjustiz begriffen werden darf. Dass mit dem Praktischwerden dieser Emanzipationsbewegungen weg von der Tradition fürstlicher Gnadenmacht und peinlicher Strafgewalt auch ein umfassender staatlicher Kontrollanspruch – eben die Tendenzen der foucaultschen »Disziplinargesellschaft« – verbunden sind, wird von Tortarolo nicht bestritten, aber relativiert. Der Formierungsprozess der ›aufgeklärten Gerechtigkeit‹ ist mithin stets als ambivalent zu rekonstruieren: Beide Zielvorstellungen (die des Ancien Régime, die auf die Utopie des gerechten Herrschers setzt, wie die der beginnenden Moderne, die der Utopie gerechter Gesetzesherrschaft verpflichtet ist), verkörpern je auf ihre Weise das europäische Verlangen nach Vollkommenheit; und beide bezahlen dafür immer wieder und je auf ihre Weise mit Konsequenzen, die diesem Streben geradewegs zuwiderlaufen. Joachim Eibachs Aufsatz ist die komplementäre Fortsetzung von Tortarolos Betrachtung. Er arbeitet heraus, wie sich im Lauf der Zeit das Justizwesen1 als ein formal geregeltes, auf festgelegte Verfahren gestütztes System ausbildet. Eibachs Pointe besteht in der Feststellung, dass diese – als solche unbestrittene – Entwicklung nicht schlicht als Gerechtigkeitsfortschritt, sondern in erster Linie als Verschiebung der Leithinsichten zu verstehen ist. Der älteren Rechtsgeschichte will er nicht mehr umstandslos beipflichten; dass die Moderne »gerechter« geworden sei, ließe sich bloß dann behaupten, wenn »›Gerechtigkeit‹ schlicht gleichgesetzt [wird mit der] umfassenden und systematischen Ausformulierung des Rechts sowie der grundsätzlichen Reform der Verfahrensweisen um 1800«. Dieser Auffassung setzt Eibach die Einsicht entgegen, dass das Streben nach Gerechtigkeit während der europäischen Vormoderne auch im Fall der Rechtsprechung von eigenen Voraussetzungen ausging. Dank der neuen Forschung zur Gerichtspraxis in der frühen Neuzeit2 sei man heute in der Lage, ein differenzierteres Bild der Justiz vor dem Einfluss der Aufklärung zu zeichnen. So seien der alte Inquisitionsprozess und dessen Verfahren keineswegs derart »irrational« und intransparent gewesen, wie es die Aufklärungskritik zu schildern beliebt. Zweitens habe der vormoderne Umgang mit dem Problem der Gerechtigkeit primär – und aus plausiblen Gründen – auf die persönliche Tugend der Richter und der Herrscher abgestellt; entsprechend weniger sei die Formalität der Regeln und die Objektivität der Verfahren beachtet worden. Eibach zitiert aus der »Krönungs-Predigt« in »der Dohm-Kirchen zu Berlin« vom »XVIII. Januarii 1701« des Daniel Ernst 158 | Georg Kohl e r
Jablonski: Die gute Handhabung der »Gerechtigkeit gegen alle Menschen [sei] eigentlich der Zweck, warumb Gott Könige und Fürsten gesetzet hat«. Ein intensiver Diskurs im Kontext der Justiz existiert also bereits vor der Aufklärung; wobei die Überlegungen stets stark religiös konnotiert waren. Ihre Befürworter akzeptierten aus nachvollziehbaren Gründen (und nicht aus Blindheit) den Spielraum und die Chancen des Aushandelns von Urteilsentscheidungen; d.h. die Möglichkeit, zu konkreten, den jeweiligen Einzelfall berücksichtigenden Abwägungen zu kommen, die unter den Vorgaben stark formalisierter Verfahren von vornherein eingeschränkt sind. Eibach plädiert freilich nicht für den foucaultschen Umkehrschluss, wonach die Moderne im Gewand ihrer Humanisierungs- und Formalisierungsrhetorik die Zwangslogik der gesellschaftlichen Kontrollmächte verdecke. Er schlägt einen mittleren Weg vor: »Vielleicht boten die Vormoderne und die Moderne einfach je verschiedene Handlungsmöglichkeiten für Akteurinnen und Akteure. Die Art der Optionen, Sprechweisen und Verfahren ändert sich.« Zu beobachten sind demnach thematische Verschiebungen und neu gesetzte Prioritäten im diskursiven Feld, doch dabei entstehen weder eigentliche Gerechtigkeitsfortschritte noch die dazu spiegelbildlichen -regresse.
III Auf der Folie der genannten Differenzen und Verflechtungen des Rhizombegriffs der Gerechtigkeit lassen sich die von Tortarolo und Eibach konstatierten Erscheinungen des europäischen Gerechtigkeitsverlangens verorten. In beiden Perspektiven zeigt sich eine für die Aufklärungsepoche charakteristische Verlagerung der thematischen Schwerpunkte: weg von der Beschäftigung mit den ›subjektiven‹ Aspekten des Gerechtigkeitsproblems hin zu dessen ›objektiven‹ Elementen. Das heißt: Weg von der Gerechtigkeit als Tugend des Gerechten (i.S. des guten Richters oder Königs) hin zur Gerechtigkeit als Eigenschaft von Institutionen, wobei sowohl die ›formale‹ Gerechtigkeit (als regelgeleitete Verfahrenslogik) wie die ›materiale‹ Gerechtigkeit der die richterlichen Entscheidungen leitenden Gesetze im Blick stehen können. Mit solchen Verschiebungen ist dann fast notwendigerweise die Reflexion auf die Fragwürdigkeit (meist theologisch inspirierter) ›gerechtigkeitsrealistischer‹ Naturrechtsvorstellung verbunden; was in der Folge die Einsicht in die Wichtigkeit der Unterschiede zwischen je singulärer Rechtsentscheidung und allgemeiner Rechtsetzung befördert. An die Stelle des Richterideals tritt das Ideal des gerechten Gesetzes. Grundlegend bleibt in allen Diskursen der Aufklärung die Verteidigung und Vertiefung der säkular gedeuteten Menschengleichheit. Für die Wortführer aufkläVe rs chie b unge n d e s Ge re cht igke it s d i sku rse s i n de r Au f k l äru n g | 159
rerischen Gedankenguts muss die ›Würde der Person‹ von der Justiz nicht weniger respektiert werden als die Idee der Selbstbestimmung des Individuums. Diese wird schließlich verbindlich für das gesamte Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Auf vielen normativen Gebieten wird sie zur politischen Erbin der Aufklärungsphilosophie. Genau deshalb können aber gegen ihre Formationen wieder jene Umstellungen auf dem Diskursfeld ›Gerechtigkeit‹ kritisiert werden, die im Horizont der vorangegangenen Epoche den ›Fortschritt‹ markierten. Die lückenlose Gesetzesförmigkeit erscheint nun als »stählernes Gehäuse« des modernen Rationalitätszwanges (Max Weber) beziehungsweise als der Ausdruck anonymer Disziplinarmächte (Michel Foucault). Und entsprechend dazu entdeckt man noch einmal die alten Möglichkeiten flexibler Rechtsfindungsverfahren – vereinfacht gesagt: den guten Sinn der auf den Einzelfall zielenden Kategorie der ›Billigkeit‹. Zum Schluss ein Fazit: Was besagen die historischen Ergebnisse für das »europäische Verlangen nach vollkommener Gerechtigkeit«? Sicherlich nicht, dass es geboten wäre, auf es zu verzichten; was vermutlich ohnehin vergeblich wäre. Denn der Ausgriff auf absolute, d.h. die Wirklichkeit transzendierende Postulate gehört a priori zur Grundstruktur des (europäischen?) Gerechtigkeitsgedankens. Doch die historischen Befunde schärfen das Bewusstsein für das, was die innere Vielfalt und den Rhizomcharakter der Gerechtigkeitsidee bestimmt und beständig weiterentwickelt. Das Vollkommenheitsverlangen – und ebenso die Einsicht in seine Gründe – werden so zugleich reflexiv gebrochen und praktisch gestärkt: als ewige, stets an die eigene Zeit gebundene Suche nach zielführender Orientierung inmitten vielstimmiger Ansprüche an die Gerechten und ihre Gerechtigkeiten.
A n m e r ku nge n 1 Also nicht bloß die richterliche Entscheidung, sondern bereits die es vorbereitenden Untersuchungsprozesse. 2 Eben die Epoche, die für Modernisierer à la Beccaria oder Feuerbach als »barbarisches Zeitalter« gilt.
160 | Georg Kohl e r
Edoardo Tortarolo
AUFGEKLÄRTE GERECHTIGKEIT Einheit der Vernunft und Vielfalt der Lebensformen La Clemenza di Tito (Köchelverzeichnis 611), wohlbekannt als eine der Opern, die Mozart kurz vor seinem Tode komponierte, ist zwar nicht die berühmteste, und gewiss nicht die unterhaltsamste; doch wer sich für das Thema der Gerechtigkeit im Zeitalter der Aufklärung interessiert, sollte sich La Clemenza di Tito unbedingt aufmerksam anhören. Besonders aufschlussreich ist die Aria »Se all’impero amici dèi«. Der Kaiser Titus Vespasianus hat gerade entdeckt, dass eine Verschwörung gegen ihn angezettelt wurde, und sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder dem positiven Recht zu folgen, das der Humanität widerspricht, oder der Stimme des Herzens zu gehorchen und das Gesetz zu umgehen: entweder die Verschwörer mit dem wohlverdienten Tode zu bestrafen oder ihnen großzügig das Leben zu schenken. Eine schwierigere Wahl ist kaum vorzustellen. In einer musterhaften Salzburger Aufführung aus dem Jahr 20031 wird diese schwere Entscheidung zwischen Staatsräson und Menschlichkeit zur Veranschaulichung durch ein mit Blut beflecktes weißes Hemd des Titus Vespasianus symbolisiert. So singt der Kaiser:2 Wenn Macht, meine Freunde, ein strenges Herz verlangt, entweder nehmt von mir die Macht oder gebt mir ein anderes Herz. Wenn das Vertrauen meiner Königreiche Durch die Liebe nicht versichert ist, dann halte ich nichts von einer Gehorsamkeit, die die Furcht geboren hat.
La Clemenza di Tito war eine politische Oper. Politisch ist ihre Entstehung, politisch ihr Inhalt, stark politisiert auch ihr Kontext. Die Uraufführung fand im September 1791 am Nationaltheater in Prag statt und sollte die Krönung Leopolds II. zum König von Ungarn und Böhmen feiern. In dieser Aria und in der ganzen Oper können wir heute wie die zeitgenössischen Zuschauer 1791 wichtige Spuren der Aufklärungsdebatte über den Begriff der Gerechtigkeit verfolgen. Ihre Botschaft war nämlich, dass die Macht und das Gesetz nur zu rechtfertigen waren, wenn sie sich den Werten der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit anpassten. Wenn der Au f g e k l ärt e G e re c ht i g ke i t | 161
Konflikt zwischen Macht und Gerechtigkeit unlösbar ist, muss und will der gerechte Kaiser auf sein Amt verzichten. Zwei Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution und einige Monate nach dem gescheiterten Fluchtversuch Ludwigs XVI. war diese Botschaft besonders brisant. Außerdem hatte der neue Kaiser den Ruf, offener und menschlicher, weniger dogmatisch und eigensinnig als sein frühverstorbener Bruder Joseph II. zu sein. Als Großherzog von Toskana 1765 bis 1790 hatte sich in der Tat Peter Leopold für eine Reform des Justizwesens eingesetzt. Es wäre trotzdem falsch, La clemenza di Tito ausschließlich als ein Produkt der äußerst strengen josephinischen Regierung, der mit dem neuen Kaiser verbundenen Hoffnungen und des revolutionären Traumas in Frankreich zu deuten. Die Debatte um die Menschlichkeit der Justiz durchzog das gesamte Jahrhundert der Aufklärung und regte große wie kleinere Denker zur Reflexion an. Die Bedeutung der Gewissensbisse von Titus Vespasianus verwandelte sich während des Jahrhunderts, als die europäische Öffentlichkeit sich intensiv der Diskussion über die Aufgaben der Justiz und insbesondere der Herrscher widmete. Die Entstehungsgeschichte der Clemenza di Tito zeigt, wie Kontinuität und Wandlung sich mischten. Das Libretto der Oper wird traditionell dem zu Recht vergessenen Wiener Hofdichter Caterino Mazzolà zugeschrieben. Die Arie allerdings »Se all’impero amici dèi« stammt nicht von ihm, sondern von Pietro Metastasio,3 der den Text zu der Oper Tito Vespasiano, ossia La clemenza di Tito von Hasse (1735) geliefert hatte. Deren Anlass war die feierliche Krönung des nachmaligen spanischen Königs Karls III. zum König von Neapel: Die Erwartungen, die sich auf den jungen Herrscher richteten, waren auch in diesem Fall sehr hoch. Darüber hinaus war der Text sogar 1752 nochmals von Gluck in Musik gesetzt worden. Metastasio und später Mazzolà griffen dabei wiederum nicht zuletzt auf Suetons Kaiserviten oder auf Senecas Schrift De clementia (Über die Milde) zurück, die schon im 17. Jahrhundert von Corneille und Racine öfters benutzt worden waren.4 Wenn die Opern- und Theatergeschichte einen Leitfaden auch für die Entwicklung des politischen Denkens bieten kann, dann ist die Operngeschichte in diesem Fall der Beweis dafür, dass die Spannung zwischen Macht und Gerechtigkeit eine offene Frage vom Anfang des Jahrhunderts bis zum revolutionären Epilog und zum Fall des Ancien Régime blieb. Macht und Gerechtigkeit waren also Drehpunkte in einer Kultur, die sich gerne Symbole und historischer Persönlichkeiten bediente, um theoretische Engpässe und Aufsehen erregende Zukunftsvisionen zu veranschaulichen. Die Fortdauer der klassizistischen Modelle soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der politische Diskurs über den Begriff der Gerechtigkeit aus den politischen und kulturellen Gegebenheiten neue Inhalte und Impulse bekam. Der Topos des zwischen Menschlichkeit und Staatsräson zerrissenen Herrschers deutet auf eine ständig offene Frage im europäischen politischen Denken; dabei wurden ihm jedoch sehr unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. 162 | Ed oard o Tor t a ro l o
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die hervorstechenden Merkmale dieser Verwandlungen des Gerechtigkeitsbegriffs im Zeitalter der Aufklärung zu zeigen. Zum Ersten sei darauf verwiesen, dass das Thema der Gerechtigkeit über die Grenzen der juristischen Lehre, der fürstlichen Höfe und der Religion hinaus ein Thema der öffentlichen Debatte, der Verbreitung einer neuen Gesellschaftsvorstellung wurde, die sich der traditionellen entgegensetzte und sie zu beseitigen und zu ersetzen versuchte. Michel de Montaigne und Blaise Pascal hatten schon reichlich Zweifel an der Beständigkeit und Konsistenz des Rechts als angemessene Verwirklichung der angestrebten Gerechtigkeit ausgedrückt. Für Montaigne, der im Zeitalter der verheerenden Religionskriege in Frankreich schrieb, war klar, dass »die Gerechtigkeit an sich, die natürliche und allgemeingültige, in einem anderen und in einem vornehmeren Sinne als Gerechtigkeit zu bezeichnen ist als die besondere, national beschränkte Gerechtigkeit, die den Forderungen unserer politischen Wirklichkeit unterworfen ist«. Der Mathematiker Pascal war noch radikaler und seine Suche nach absoluten Werten kannte keine billigen Kompromisse: Was heute Recht ist, kann morgen Unrecht sein. Es gibt fast nichts Rechtes und Unrechtes, das nicht mit dem Wechsel der Himmelsgegend seine Natur wechselt; drei Grad Polhöhe stürzen die ganze Jurisprudenz um; ein Meridian entscheidet über die Wahrheit; nach wenigen Herrschaftsjahren ändern sich die Verfassungen; das Recht hat seine Epochen; eine lächerliche Gerechtigkeit ist es, die ein Fluss oder ein Berg begrenzt; Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits.5
Die in Montaignes und Pascals Überlegungen enthaltenen Elemente der Kritik wurden im 18. Jahrhundert zum Kern einer offenen, praxisorientierten Debatte.6 Diese Debatte, die sich durch einen intensiven Austausch von Meinungen und Gegenmeinungen entfaltete, hatte europäischen Umfang: von Paris bis Berlin und Wien, von Kopenhagen und Edinburgh bis Madrid und Neapel. Das führt auf die Frage, wie wichtig das Sprachmedium war und inwieweit die jeweilige Semantik eine Rolle spielte. Die gelehrte Diskussion fand vorwiegend auf Französisch statt: in einer Sprache, die zwischen Gerechtigkeit als Ideal und Gerechtigkeit als Praxis des Justizwesens sehr deutlich unterscheidet. Im 18. Jahrhundert hatte sich die gründliche Kritik an der existierenden Praxis Raum geschaffen und diesen Raum fortan behauptet.7 Zukunftsweisende Konzepte wurden in unterschiedlichster Form schon Ende des 17. Jahrhunderts formuliert und auf Probleme der Politik angewandt. Die Toleranz war eine wichtige Frage, die man unter dem Blickwinkel der Gerechtigkeit behandeln sollte. Bayle behauptete zum Beispiel in seinem aufsehenerregenden Dictionnaire historique et critique (1696), dass die Toleranz auf die natürliche Gerechtigkeit (équité naturelle) gründete.8 Kann aber die Natur deutliche Regeln der Au f g e k l ärt e G e re c ht i g ke i t | 163
Gerechtigkeit aus sich selbst heraus hervorbringen? Ende des 17. Jahrhunderts antwortete Thomasius auf diese Frage mit der Trennung zwischen äußerlicher und innerer Verpflichtung: Das Naturrecht sei daher für die Moral verbindlich, nicht aber für die Gesetzgebung.9 Eine solche klare und gewiss einflussreiche Trennung von Moral und Legalität stellte indes nicht alle Denker und Politiker zufrieden. Im Gegenteil, das Jahrhundert ist von einer wachsenden Spannung zwischen den beiden Polen gekennzeichnet. Gerechtigkeit war letztendlich keine Sache ausschließlich der Juristen, sondern ebenso der gebildeten Kreise. Typisch für die Aufklärung wurde die Herausarbeitung einer ständigen Wechselbeziehung von Moral und Politik, deren Grenzen fließend und daher immer wieder erklärungsbedürftig waren. Die Hobbes’sche Alternative »iustum quod iussum« oder »iussum quod iustum« stand im Hintergrund der Diskussion. Das berühmteste Werk der französischen Aufklärung scheute sich nicht, die Frage erneut aufzuwerfen. In der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert (1751–1765) wurde der Unterschied zwischen Naturrecht, also der Gerechtigkeit, und Zivilgesetz, d.h. dem positiven Recht, im Artikel »Juste« (»gerecht«) ausführlich erläutert. Diderot setzte diesen Artikel aus verschiedenen früheren Texten zusammen und musste wahrscheinlich den Forderungen der Zensur nachgeben; seine Thesen entsprechen dennoch wichtigen Grundvorstellungen Diderots auf diesem Gebiet.10 Équité und équitable beziehen sich auf den Begriff der Natur. Was juste bedeutet, gab Diderot zu, ist sehr unklar. Aber, im Grunde genommen, was juste ist, ist den Zivilgesetzen angemessen. Woraus équitable besteht, folgt aus den Naturgesetzen und kann ihnen nicht widersprechen. Andererseits ist der Begriff vom Gerechten nicht ausschließlich auf das Naturgesetz zurückzuführen, denn die positiven Gesetze sind notwendig, um ein vollkommenes Recht (droit parfait) zu erzeugen.11 »Das Gesetz macht das Gerechte« (juste), was dem équitable entsprechen muss. »Was die Natur verurteilt, kann nicht durch das Gesetz gerechtfertigt werden«. Im Artikel »Justice« wurde eine historische Perspektive verfolgt und die Tatsache anerkannt, dass der Aberglauben und das Laster die Stimme der Vernunft erstickt haben und daher Gewalt angewendet werden musste, um Gerechtigkeit durchzusetzen.12 Die verwirrende Vielfalt der Justizformen in der französischen Geschichte, die im selben Artikel sorgfältig beschrieben wurde, konnte nur durch eine idealisierte Vorstellung der regulativen Gerechtigkeit ausgeglichen werden. Das geschah in der Encyclopédie selbst auf indirekte Weise, um die strenge Vorzensur zu täuschen. Der Artikel »Astrée« greift, um eine anschauliche Personifizierung des Gerechtigkeitsbegriffs zu bieten, auf die griechische Mythologie zurück. Unter dem Mantel der chronologischen und geographischen Distanz wird Astraia zum Symbol der équité naturelle, der der Natur angemessenen Gerechtigkeit, die allen Menschen angeboren ist. Wie für Titus Vespasianus in Mozarts Oper ist diese Gerechtigkeit anderer Natur als die Furcht vor den menschlichen Gesetzen. Astraia 164 | Ed oard o Tor t a ro l o
lebte auf der Erde im goldenen Zeitalter und verließ sie, als die Laster die Menschheit endlich verdarben. Die Wiederkehr von Astraia hätte das Zeitalter der Gerechtigkeit wieder eingeleitet.13 Die Mythologie bot zwar viele Gelegenheiten zur Revision des Gerechtigkeitsbegriffs. Die Überzeugung, dass der Menschheit eine grundsätzliche Vorstellung der Gerechtigkeit angeboren ist, fand Ausdruck auch in der Beschreibung meistens fiktiver Natur in nicht-europäischen Kulturformen. So in Lessings Nathan der Weise: Recha will in den Augen des Sultans »den Abglanz ewiger Gerechtigkeit und Güte» erblicken.14 Diderot kontrastierte die Tahitianer und die Europäer im Supplement au voyage de Bougainville, wo die unzivilisierten Einwohner von Tahiti, auf sich selbst gestellt, einen korrekten Begriff von juste und injuste hatten, der ein glückseliges Leben ermöglichte, während die Europäer einer verkehrten Vorstellung von Gerechtigkeit zum Opfer gefallen sind. Der Tahitianer Orou, der nach Diderot die natürlichen unverdorbenen Tugenden verkörperte, glaubte fest an den naturgegebenen Unterschied von ›gerecht‹ und ›ungerecht‹, den die christlicheuropäische Religion verwischt hatte.15 Der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Glückseligkeit wurde in dieser nicht zur Veröffentlichung verfassten Schrift glanzvoll hergestellt. Im Zeitalter der Aufklärung ist die Spannung zwischen positivem Recht und Ideal der Gerechtigkeit enorm geworden, auch als Folge der wachsenden Konzentrierung auf die Glückseligkeit als Recht der Menschen und als Aufgabe der Herrscher.16 Dass diese Spannung der Öffentlichkeit bewusst wurde, ist das Novum der Aufklärung. Ius und aequitas sind im Laufe des 18. Jahrhunderts so auseinandergeraten, dass ein zentrales Element der Aufklärung eben die Polemik gegen das ungerechte positive Recht geworden ist. Diese Polemik entwickelte sich parallel zu einem Prozess von Rationalisierung der Jurisprudenz, die von den Staaten getragen wurde. Die Denker der Aufklärung nahmen an diesem Prozess der Rationalisierung teil und waren öfters zugleich Mitarbeiter und Kritiker. Die Rationalisierung des Justizwesens sollte sich entfalten als eine Befreiung der Menschen aus den Ketten der Vergangenheit, die sich in ungerechten Institutionen ausdrückten. Die tendenziell absolutistischen Herrscher leiteten die Revision der Gesetzgebung vor allem im Sinne einer Kodifizierung und partiellen Rationalisierung der überkommenen juristischen Traditionen ein und beförderten dadurch die Hoffnung der gelehrten Kreise auf eine durchgreifende Reform. Die Rationalisierung des Justizwesens setzte die Abschaffung von Organen der Rechtsprechung voraus, die vom Staat nicht kontrolliert wurden. Im Namen der Gerechtigkeit als équité wurden allmählich zwei Rechtsquellen abgeschafft oder stark und nicht umkehrbar reduziert: die Legitimität der rechtsprechenden Institutionen der katholischen Kirche und die Akzeptanz der feudalen Gerichte. Die Rhetorik der Rationalisierung wurde öfters mit dem Argument einer Au f g e k l ärt e G e re c ht i g ke i t | 165
wachsenden Gerechtigkeit untermauert. Die lange Kampagne für die Abschaffung der Inquisition in Italien im 18. Jahrhundert berief sich, um nur ein Beispiel zu nennen, auf das Argument einer ungerechten Behandlung der Bürger, die der moralisch illegitimen kirchlichen Macht ausgesetzt waren. Die Abschaffung der Inquisition in Sizilien 1782 war ein symbolischer Höhepunkt der Konsolidierung des Rechtswesens in den Händen des Staates.17 Aber schon vor 1782 hatte die gelehrte Welt in den katholischen wie in den protestantischen Ländern systematisch die ›ungerechte‹ Handhabung des Justizwesens der Kirchen- und Feudalgerichte angegriffen. Eine schwarze Legende entwickelte sich, die die alltägliche Praxis von den erwarteten Reformen scharf absetzte: Diese schwarze Legende drang bis in die Trivialliteratur ein, wie, im Falle der Inquisition, die zahlreichen Erzählungen über die spanische und portugiesische Inquisition deutlich machen.18 Eine entscheidende Rolle hat im Prozess der Rationalisierung bzw. Universalisierung des Rechtswesens die Lehre des Naturrechts gespielt, indem sie sich als implizite und öfters auch explizite Alternative zur christlichen Anthropologie darstellte. Sie entsprach den Grundvorstellungen der meisten Vertreter der Aufklärung. Die Konstruktion eines fiktiven unhistorischen Menschen im Naturzustand ermöglichte eine systematische Revision des Gerechtigkeitsbegriffs: Dieser fiktive Mensch im Naturzustand war die Folie, die eine Kritik an den Gesellschaftsverhältnissen einleitete und sie glaubwürdig und operativ machte. Ungeachtet ihres Erfolgs wurde die Naturrechtslehre allerdings so unterschiedlich interpretiert, dass die Auffassungen über eine Reform stark divergierten. Vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist ein systematisches Interesse dafür festzustellen, welche angeborenen Rechte auch in der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben wurden. Damit wurde das wichtigste Resultat der Naturrechtslehre, die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, als Bestandteil einer gerechten Gesellschaft anerkannt. Diese grundsätzliche Gleichheit wurde aber durch zahlreiche Bedingungen begrenzt, die sich auf die Vorrechte bestimmter Gruppen und Schichten (des Adels an erster Stelle, aber nicht ausschließlich) und auf die Bedürfnisse des Staats gründeten. Die klassischen Formulierungen des Naturrechts im 18. Jahrhundert, etwa von Barbeyrac und Vattel, wirkten daran mit, dass die Staaten den Kodifizierungsund Rationalisierungsprozess eifrig begannen und dann, trotz der Widerstände, fortsetzten. Es ist nicht zu übersehen, dass die neue Anthropologie eine erhebliche Dynamisierung der Debatte bewirkt. Diese dynamische Interaktion ist ein wesentlicher Bestandteil der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gerechtigkeit in der Aufklärung. Sie macht die angebliche Differenz zwischen dem Transzendentalismus der Hobbes-Locke-RousseauKant-Tradition und dem positiven sozialen Engagement der Reformatoren vom Schlage eines Smith, Condorcet oder Bentham unhaltbar.19 Diese wertbeladene Trennung ist fragwürdig und irreführend. Denn es war eben eine kontraktualisti166 | Ed oard o Tor t a ro l o
sche Begründung, die eine Kritik an der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der sozialen Strukturen ermöglichte. Der italienische Jurist Paolo Grossi hat jüngst in Bezug auf diese Entwicklung von einer Form des ›juristischen Absolutismus‹ gesprochen, die von der Aufklärung in Gang gesetzt worden sei und die das 19. und 20. Jahrhundert bestimmt habe. Grossi hat die These vertreten, dass der Untergang des ›lokalen Rechts‹, also der Vielfalt der Gerechtigkeitsvorstellungen, in der frühen Neuzeit zugunsten des Rechts als Ausdruck der politischen Macht eine dramatische Zäsur in der europäischen Geschichte darstellte. Die Konsequenzen seien katastrophal gewesen, so Grossi, denn das positive Recht wurde zum mythologisierten Werkzeug des herrschenden Bürgertums. Die von der Aufklärung ideologisch unterstützte Kodifizierung des Rechts kulminierte, so Grossi, in dem Code Napoléon. Grossi hat ferner darauf hingewiesen, dass die Kodifizierung des Rechts nicht nur und nicht primär eine grandiose Errungenschaft war, sondern auch ein unverzeihliches Zeichen von Anmaßung und zugleich die Verwirklichung eines totalen Kontrollanspruchs. Das ›civil law‹, so nochmals Grossi, habe triumphiert, das ›common law‹ und seine tiefen Wurzeln im traditionellen Gesellschaftsleben seien dagegen ausgerottet worden.20 Verantwortlich für diese Neugründung des juridischen Systems sei auch die Aufklärung gewesen. Diese These ist selbstverständlich ernst zu nehmen, übersieht allerdings wichtige historische Elemente der Aufklärungsdebatte, indem sie voraussetzt, dass die Kodifizierung das einzige Ziel der Aufklärung war. Die Vielfalt der Ziele der aufgeklärten Gerechtigkeitsbegriffe zeigt, dass die Debatte wesentlich von der jeweiligen politisch-institutionellen Konstellation abhing und dass das Postulat der angeborenen Naturrechte unterschiedlich interpretiert wurde. Wer dieses Postulat nicht akzeptierte, wie David Hume, konnte zu wichtigen Aspekten der Aufklärung beitragen, wie an erster Stelle zur Kritik der christlichen Religion, hatte aber einen letztendlich belanglosen Begriff der Gerechtigkeit, die sich auf funktionelle Rollen in der Gesellschaft begrenzte.21 Aus der Fülle der Aspekte und Ebenen des sozialen Lebens im 18. Jahrhundert, die unter die Lupe der Aufklärungskritik genommen wurden, seien einige im Folgenden dargestellt. Eine erste Ebene betrifft die Trennung von Recht und Religion, Moral und Metaphysik, die sich allmählich durchsetzte und eine neue Vorstellung von Gerechtigkeit mit sich brachte. Montesquieu, wahrscheinlich der bedeutendste Denker des 18. Jahrhundert am Schnittpunkt von Philosophie, Geschichtsschreibung und Jurisprudenz, hielt an der Überzeugung fest, dass die Fragen der Moral und der Gesellschaft am besten nach ihren Regeln gelöst werden. Die Vielfalt selbst der Religionen zeigt in den Lettres persanes (1721), inwieweit das positive Recht ungerecht ist, wenn es dem unumschränkten Einfluss einer einzigen priesterlichen Organisation ausgesetzt war (Brief 60 und 80). Im Meisterwerk Montesquieus, dem Geist der Gesetze (1748), war diese Trennung ein Aspekt des komplexen Gewebes Au f g e k l ärt e G e re c ht i g ke i t | 167
von vergleichenden Analysen und Überlegungen, die auf die Anerkennung gründeten, dass einerseits vor dem Bürgerlichen Recht Naturgesetze da waren, andererseits zahlreiche Faktoren, darunter die Religion, den tatsächlichen Inhalt der Justizsysteme bestimmten. Nur als soziologische Größe waren also die Religionen von Belang, und dann als Element einer genetischen Erklärung: In Buch 26, Kapitel 12 heißt es eindeutig, dass die göttliche Justiz (justice divine) radikal anders war als die menschliche Justiz (justice humaine), die, gegründet auf die Unschuldsvermutung, »nur die Taten der Menschen sieht und nur einen Vertrag mit den Menschen hat«. Diesem Prinzip war die Verflechtung von Recht und Religion zuwider. Alle Formen der Aufklärung waren sich darüber einig, dass Gerechtigkeit ein Maßstab der Justiz sein sollte: Der hermeneutische Akt war aber säkularisierter Natur. Diese Annahme wurde selbst von streng katholischen Denkern wie Ludovico Antonio Muratori unterschrieben: Sein ›aufgeklärter Katholizismus‹, wie man heute sagt, der diese Trennung offen anerkannte, war sehr einflussreich besonders im katholischen Deutschland und Österreich. Wer sich zu dieser Trennung radikal bekannte, setzte sich für eine Praxis der Justiz ein, die diese Dimension der Gerechtigkeit realisierte. Mehr als theoretische Schriften waren es Kommentare zu den Tagesbegebenheiten, die die Aufklärung kennzeichneten. Voltaires Traité sur la tolérance (1763) war das erfolgreichste Beispiel dieser voluntaristischen Einstellung: Das System der französischen Parlamente, in denen die Richterfunktionen käuflich waren, wurde zum Inbegriff der ungerechten Justiz, die Richter des Parlaments wurden systematisch als ›blutdurstige Tiger‹ angegriffen, die europäische öffentliche Meinung wurde von Voltaire zu einer dezidierten Stellungnahme aufgefordert, die nur das Ziel hatte, das Unrecht formell gutzumachen. Der Fall des französischen Hugenotten wäre ohne das Eingreifen Voltaires wohl unbemerkt geblieben: Der Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers hatte in Toulouse im Oktober 1761 Suizid begangen. Der Vater Jean Calas wurde des Mordes an dem jungen Mann angeklagt. Als Hugenotte hätte er die Konversion des Sohnes mit dem Tod bestraft. Im Frühjahr 1762 wurde er zum Tode durch das Rad verurteilt. Voltaire griff diesen Fall wieder auf, um den Fanatismus der Toulousaner und der Parlamentarier bloßzustellen. Sein publizistischer Angriff wurde zum Paradebeispiel einer neuen, zukunftsweisenden Öffentlichkeitsarbeit, die sich auf eine Vorstellung der Gerechtigkeit, die nur menschlich und konfessionsneutral sein sollte, berief. In der Erzählung des Falls Calas verglich Voltaire geschickt die moralische Unwürdigkeit des Toulouser Parlaments, das sich unmenschlich verhalten und Calas zum Tode verurteilt hatte, mit der sachgerechten Entscheidung des Königs, der Calas post factum rehabilitierte: Louis XV. verstand sich, nach Voltaire, als gerechter Interpret der von Voltaire mobilisierten Öffentlichkeit. In den Schlussworten jonglierte Voltaire mit einer durchaus optimistischen Vision der königlichen Macht als des Vollstreckers einer harmonischen Vorstellung der Gesellschaft: »Es gibt also Menschlichkeit 168 | Ed oard o Tor t a ro l o
und Gerechtigkeit unter den Menschen, vor allem im Rat des geliebten und liebenswürdigen Königs. […] Die Liebe zur Gerechtigkeit, das Interesse des Menschengeschlechts haben die Richter geleitet.«22 Definitorische Schärfe der Begriffe war nicht Voltaires Stärke. Sprachanalytische Genauigkeit interessierte seine zahlreichen Leser auch nicht an erster Stelle. Der Fall Calas wurde von Voltaire aber erfolgreich von einer Niederlage zu einem Sieg umgedeutet, der eine neue Zeit der Gerechtigkeit anbahne. Voltaires schillernde Rhetorik war möglicherweise konzeptionell unscharf, zeigt aber, wie der säkularisierte Diskurs der Gerechtigkeit die Öffentlichkeit erfolgreich ansprach, und betonte, wie verschieden die in der Gesellschaft zu verwirklichende Gerechtigkeit von der absoluten, metaphysischen Gerechtigkeit war, die auf Erden unerreichbar ist. Das Erdbeben von Lissabon 1755 bewies zwar die fundamentale Undurchsichtigkeit des individuellen Schicksals der Menschen: Wieso ein Mensch geboren wird oder stirbt, welchen Anteil er an der gesamten Glückseligkeit hat, das alles sind unbeantwortbare Fragen, die man nicht stellen sollte. Soziale Ungleichheit war mit dieser relativen, post-metaphysischen Gerechtigkeit kompatibel, wenn sie einer Anerkennung der angeborenen Rechte des Individuums entsprach. In der Voltaireschen Vorstellung der Gerechtigkeit spielte der Wille des Monarchen eine entscheidende Rolle, was sein maßloses (und, wie sich bald herausstellte, meistens sehr naives) Vertrauen in den Einfluss der Philosophen auf die Herrscher widerspiegelte. Bei anderen Denkern lag der Akzent eher auf der Transformation der Gesetze, die die den Menschen zuzubilligende Gerechtigkeit der Willkür der Herrscher entziehen sollten. Anwendbarkeit erga omnes war im Gerechtigkeitsbegriff der Naturrechtslehre potentiell mitenthalten. Auf die Säkularisierung des Gerechtigkeitsbegriffs berief sich auch die Diskussion über die Art und Weise, wie die Strafen vollgezogen wurden. Der Begriff der Würde der Menschen basierte auf der von der Naturrechtslehre entwickelten Vorstellung der angeborenen Rechte. Der Druck auf die Regierungen für eine Humanisierung der Prozeduren wuchs ständig und kulminierte im Aufruf des Mailänders Beccaria zur Abschaffung von Folter und Todesstrafe in seinem 1764 veröffentlichten Werk Von den Verbrechen und den Strafen. Die Abschaffung der Tortur in Staaten, die von angeblich aufgeklärten Monarchen regiert wurden wie Friedrich II. von Preußen und Katharina II. von Russland, stellten die Weichen für eine ausgedehnte europäische Diskussion über die moralische Legitimität der Folter. Die von Beccaria gegebene theoretische Begründung war aus einer Interpretation der Naturrechtslehre abgeleitet, die mit der stark emotionalen Philosophie Rousseaus verbunden war: Mitleid und Empathie waren von den Gesetzgebern verlangt, nicht aber von den Richtern selbst. Gerechtigkeit sollte anonym und entpersonalisiert bleiben. Eiserne Strenge und wohlwollende Humanität sollten sich nach Beccaria
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in den Richtern vereinigen, was von einem neuen Verständnis der Gesellschaft und dem ihr entsprechenden Gerechtigkeitsideal zeugte. Beccaria hatte keine juristische Bildung und daher keine Hemmung, die Tradition frontal anzugreifen. Ein Vergleich zwischen Beccaria und Montesquieu, der anders als der italienische Reformer zwölf Jahre als Magistrat im Parlament von Bordeaux tätig war, macht dies deutlich. Montesquieu hatte 1725 in einer Rede vor seinen Kollegen von der équité gesprochen als der Tugend, die die Richter den unglücklichen Opfern des Justizwesens bezeigen sollten:23 also eine Tugend der einzelnen Menschen, die die schwere Aufgabe der Justizvollstreckung auf sich nahmen. Für Beccaria dagegen muss die Gerechtigkeit auf die Gesetze gegründet sein, oder besser, sie muss in den neu zu formulierenden Gesetzen zum Ausdruck kommen. Beccaria lenkte die Aufmerksamkeit nachdrücklich auf das System der Gesetze, die die Würde der menschlichen Natur achteten. Für Beccaria ist gewiss die Emanzipation der Menschen aus der irrationalen Macht der juristischen Tradition ein wesentliches Ziel der angestrebten Reform; ebenso wichtig aber ist auch die Nützlichkeit des neuen juristischen Systems für die wohlgeordnete Gesellschaft. Verbrecher sind ausnahmslos menschenwürdig zu behandeln und dienen zugleich als Mahnung, als Beispiel, als lebende Ikone der schrecklichen Folgen eines lasterhaften Lebens, das immer zum existenziellen Scheitern verurteilt ist. Die Kehrseite der Emanzipation aus der negativ zu betrachtenden Tradition ist die erzwungene, potentiell lückenlose Anpassung an die Staatsraison. Der Verbrecher habe durch seine Tat das allgemeine Erhaltungsgesetz der Menschen verletzt; es sei deswegen, um das Gleichgewicht der menschlichen Zusammenhänge wiederherzustellen, so viel Gewalt nötig, wie zu ihrer vorübergehenden Zerstörung angewandt worden sei. Der Verbrecher muss so viel Übel leiden, wie er dem Anderen zugefügt hatte, um unter den Bürgern die allgemeine Überzeugung zu bewirken, dass dem Bestraften genau, was recht ist, widerfährt. Wer ein Verbrechen begeht, hebt das Gleichgewicht zwischen den menschlichen Wirkungen auf. Eine angemessene Strafe ist eine Pflicht, die keine Ausnahme duldet. Sie ist eben eine Verwirklichung des Staatszwecks, wenn man die Menschen nicht nutzlos plagt.24 Bei Beccaria und immer häufiger in der europäischen Öffentlichkeit spielte ferner von den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts an eine nicht-juristische Bedeutung von Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Diese Bedeutung der Gerechtigkeit kann als »Einspruch gegen die Gesellschaft« charakterisiert und auf den Konflikt »zwischen der realen Machtverfassung der Gesellschaft und dem reflexiv gewordenen Verständnis der Gestaltungshoheit, dem sie unterliegt«, zurückgeführt werden.25 In der Spätaufklärung ist dieser Konflikt zu vollem Ausdruck gekommen. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind dabei eng verbunden. Jean-Jacques Rousseau, der eine ganz zentrale Figur in der Geschichte des modernen Ungerechtigkeitsbegriffs ist,26 hat in der Tat eine wichtige Rolle gespielt in der Erweiterung 170 | Ed oard o Tor t a ro l o
und Intensivierung des Gerechtigkeitsbegriffs, indem er seine Vorstellung der Gesellschaft auf den Zusammenhang der durch den Gesellschaftsvertrag etablierten sozialen Ordnung und der Aufgabe gründet, eine »räsonierte Gerechtigkeit« als Merkmal der zivilisierten Ordnung durchzusetzen. Diese Neubewertung der Folgen einer ungerechten Gesellschaftsordnung wurde von Rousseau in seinen philosophischen Schriften entwickelt; von noch größerem Einfluss auf das Lesepublikum waren aber seine Romane und autobiographischen Werke, die die Opfer einer ungerechten Gesellschaft (unter die Rousseau sich selbst zählte) plastisch darstellten.27 Die Verfolgung der ungerechten Gesellschaftsordnung gegen irregeleitete Menschen ist seit der Spätaufklärung ein Bestandteil unserer nicht-juristischen Konzepte der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit geworden und hat sich offenbar auf die juristische Verarbeitung der entsprechenden Begriffe ausgewirkt. Die intellektuelle und politisch-soziale Bewegung, die mit dieser Verwandlung des Gerechtigkeitsbegriffs zusammenhängt, hat tiefgreifende Konsequenzen gehabt: kurzfristig, wie das Revolutionszeitalter am Ende des 18. Jahrhunderts zeigte, und langfristig in der Umgestaltung der europäischen Gesellschaft von einer grundsätzlich relativ stabilen Agrar- und Feudalstruktur zu einer extrem mobilen industriellen und dann post-industriellen Selbstorganisation der sozialen Verhältnisse. Noch vor dem revolutionären Umbruch haben sich Ansätze geltend gemacht, die die von der Aufklärung vorgetragenen Gedanken in die Gesetzgebung umsetzten. Eine Humanisierung der Rechtsvollstreckung wurde anvisiert, die Anwendung der Tortur wurde reglementiert, in der Toskana 1786 wurde die Todesstrafe aus dem neuen Gesetzbuch ausgeschlossen, die formelle Gleichheit aller vor dem einzigen Gesetz wurde in der Jurisprudenz zur bindenden Richtschnur erklärt. Vor 1789 wurden auch die inneren Widersprüche der von der Öffentlichkeit intensiv, wenn auch nicht systematisch diskutierten Interpretation der Gerechtigkeit offensichtlich: Nicht nur wurde, wie im Falle von Titus Vespasianus auf der Prager Bühne 1791, die Legitimität der königlichen Gnade in Frage gestellt, weil sie als eine die Gleichheit der Menschen störende Machtanmaßung erschien, vielmehr erstreckte sich dies auch auf soziale Bereiche, die eher zur Normalität gehörten, wenn sie den Absichten der neuen, aufgeklärten Gerechtigkeit zuwiderliefen. Die Frauen wurden selten und, mit wenigen Ausnahmen, nur zögernd als gleichberechtigte Mitglieder der aufgeklärten Gesellschaft betrachtet, die auch von den Vorteilen und nicht nur den Nachteilen der neuen Gerechtigkeit profitieren könnten. Die aufgeklärte, auf die Gleichheit der Rechte fundierte Gerechtigkeit blieb meistens eine männliche Sache. Condorcet war einer der wenigen Verteidiger der Rechte der Frauen, die sich für eine Radikalisierung des Aufklärungsgedankens im Sinne der formellen und aktiven Gleichheit einsetzten.28 Die aufgeklärte Gerechtigkeit sprach zudem fast ausschließlich westeuropäische Sprachen. AfrikaniAu f g e k l ärt e G e re c ht i g ke i t | 171
sche Sklaven in den amerikanischen Tabak- und Baumwollfeldern und die Leibeigenen Osteuropas kamen nur selten in den Blickwinkel der Aufklärer. Für sie blieb die aufgeklärte Gerechtigkeit lange Zeit eine rein theoretische Debatte, die erst langsam zur Verwirklichung gelangte. Das mit Blutflecken verschmierte Hemd des Titus Vespasianus zeigte also unmissverständlich die Zwiespältigkeit im Formierungsprozess der aufgeklärten Gerechtigkeit: von der für das Ancien Régime typischen Utopie einer gerechten und hierarchisch ungleichen Gesellschaft, deren Ungerechtigkeit vom Willen des Herrschers korrigiert wurde, durch eine schmerzhafte Transformation hin zur Utopie der auf formeller Gleichheit aller Menschen beruhenden, absolut gerechten liberalbürgerlichen Gesellschaft, die von unbeugsamen Gesetzen reguliert wird.29
A n m e r ku nge n 1 Die Aria, von Wolfgang Schade gesungen unter dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, ist unter http://www.youtube.com/watch?v=D4YO6Nhyk5o aufrufbar. 2 2. Akt, Szene 11, Nr. 20: »Se all’impero, amici dèi, / necessario è un cor severo, / o togliete a me l’impero, / o a me date un altro cor. / Se la fé de’ regni miei / coll’amor non assicuro, / d’una fede non mi curo / che sia frutto del timor.« 3 Pietro Metastasio, La clemenza di Tito, in: Tutte le opere. Drammi. A cura di B. Brunelli, Milano 1953, S. 740. 4 Eine detaillierte Analyse der Oper und ihrer Quellen in der Antike und in der frühneuzeitlichen Theaterliteratur ist in J.A. Rice, La Clemenza di Tito, Cambridge 1991, zu finden. Rice hebt die politische Bedeutung dieser Oper besonders hervor (S. 154). 5 Zitate aus Montaigne, Die Essais, hrsg. und eingel. von A. Franz, Stuttgart 1999, S. 283 (Buch III, cap. 1), und Blaise Pascal, Gedanken, Leipzig 1987, S. 43. Beide Zitate sind oft erwähnt worden, u.a. von H. Klenner, »Über die vier Arten der Gerechtigkeitstheorie gegenwärtiger Rechtsphilosophie«, in: Ch. Demmerling / Th. Rentsch (Hgg.), Die Gegenwart der Gerechtigkeit. Diskurse zwischen Recht, praktischer Philosophie und Politik, Berlin 1995, S. 135 und P. Prodi, Una storia della giustizia. Dal pluralismo dei fori al moderno costituzionalismo tra coscienza e diritto, Bologna 2000, S. 273 (deutsche Übersetzung: Eine Geschichte der Gerechtigkeit: vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003). 6 I. Birocchi, Alla ricerca dell’ordine. Fonti e cultura giuridica nell’età moderna, Torino 2002. 7 R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 112010. 8 Art. »Intolérans«, Dictionnaire ed. ARTFL, Bd. 4, S. 759. 9 Prodi, Una storia della giustizia (o. Anm. 5), S. 383 f. 10 L. Thielemann, »Diderot’s Encylcopedic article on Justice: its sources and significance«, Diderot Studies 4 (1963), S. 261–283. 172 | Ed oard o Tor t a ro l o
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Encyclopédie Bd. 9, S. 86. Ebd. Bd. 9, S. 89. F. Yates, Astraea: The Imperial Theme in the Sixteenth Century, London 2000. Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, Fünfter Aufzug, Siebenter Auftritt. »Supplément aux voyages de Bougainville«, in: Denis Diderot, Œuvres, publiées sur les manuscrits de l’Auteur par Jacques-André Naigeon, Paris, Deterville an VIII (1800), Bd. 3, S. 362 f. L. Hunt, Inventing Human Rights. A History, New York 2007. V. Sciuti Russi, Inquisizione spagnola e riformismo borbonico fra Sette e Ottocento. Il dibattito europeo sulla soppressione del ›terrible monstre‹, Firenze 2009. J. Israel, Democratic Enlightenment: Philosophy, Revolution, and Human Rights, 1750–1790, Oxford 2011. A. Sen, On Justice, London 2009. P. Grossi, Prima lezione di diritto, Bari 2009. Eine ähnliche Perspektive ist bei D. Quaglioni, La giustizia nel Medioevo e nella prima età moderna, Bologna 2004, zu finden. J. Harrison, Hume’s Theory of Justice, Oxford 1981. Traité sur la tolérance, Kap. 25: »Il y a donc de l’humanité et de la justice chez les hommes, et principalement dans le conseil d’un roi aimé et digne de l’être. […] L’amour de l’équité, l’intérêt du genre humain, ont conduit tous les juges«. Zum Discours sur l’équité qui doit régler les jugements et l’exécution des lois (1725) vgl. R. Kingston, Montesquieu and the Parlement of Bordeaux, Genève 1996 und S. MacDonald, »Problems with Principles: Montesquieu’s Theory of Natural Justice«, History of Political Thought 24.1 (2003), S. 109–130. Cap. 3: »Von der bürgerlichen Strafe und von dem Zwecke derselben«. G. Dux, Von allem Anfang an: Macht, nicht Gerechtigkeit. Studien zur Genese und historischen Entwicklung des Postulats der Gerechtigkeit, Weilerswist 2009, S. 17. Vgl. J. N. Shklar, The Faces of Injustice, New Haven / London 1990, besonders S. 33. E. Friedlander, J. J. Rousseau: An Afterlife of Words, Cambridge Ms. 2004. D. Williams, Condorcet and Modernity, Cambridge 2004. S. Cerutti, Giustizia sommaria. Pratiche e ideali di giustizia in una società di Ancien Régime (Torino XVIII secolo), Milano 2003.
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Joachim Eibach
IUSTITIA IM ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG: DISKURS UND VERFAHREN Bereits der Respekt gebietende Begriff Iustitia lässt alle Beteiligten wissen, dass es unter diesem Rubrum um nichts Geringeres als die Herstellung von Gerechtigkeit geht. Was jedoch ›Gerechtigkeit‹ eigentlich ist, erweist sich hier wie generell als voraussetzungsvoll, kontextabhängig und damit auch historisch veränderlich. Primär haben wir es mit einer moralisch-ethischen Kategorie zu tun, die als solche kaum ein Analyseinstrument und Maßstab für die historiographische Arbeit sein kann, ebenso wenig wie andere bedeutungsschwangere Konstrukte, zum Beispiel ›Wahrheit‹ oder ›Freiheit‹. Die Kategorie der ›Gerechtigkeit‹ kommt zudem – wohl bis heute – häufig mit einem gewissen Überschuss an Transzendenz daher. Aus guten Gründen vermeiden Historikerinnen und Historiker solche Begriffe bei ihren Analysen. Allerdings spielt ›die Gerechtigkeit‹ auch in einigen Quellengattungen als Referenzbegriff eine zentrale Rolle und ist für historische Akteure in vielen Situationen handlungsleitend. Verstanden als Sonde, mit der wir den Wandel von Diskursen, Verfahren und Praktiken der Vergangenheit untersuchen, wird ›Gerechtigkeit‹ attraktiv. Kaum eine zweite Institution ist sui generis so prädestiniert für das Walten von ›Gerechtigkeit‹ wie die Justiz, sieht man einmal ab vom fürstlichen Landesvater und vom himmlischen Vater, die ja bekanntlich beide auch als Richter wirkten. Dabei zeigen bereits die aufgefächerten Diskussionen und Quisquilien der Juristen, die ab dem 18. Jahrhundert immer ausgefeilter werden, vor allem eins: Es war hochgradig – und wohl zunehmend – problematisch, den Leitwert ›Gerechtigkeit‹ vor Gericht in konkrete Rechtsnormen – mehr noch: in Form und Verfahren – zu gießen. Das Verhältnis zwischen Justiz als sehr irdische Form herrschaftlicher Organisation und ›Gerechtigkeit‹ als Tugend, Leitwert und Versprechen ist prekär. Denn die real existierende Justiz kann unmöglich vollkommen sein, schwerlich jedem ›gerecht‹ werden, obwohl dies nachdrücklich von ihr von allen Beteiligten erwartet wird. Am Ende eines Prozesses muss jedes Gericht ein Urteil sprechen, und es gibt dann zwangsläufig Unzufriedene, Verlierer, Verurteilte und Bestrafte. Damit zum Ansatz dieses Artikels, in dem es vor allem um die Geschichte der Strafjustiz geht. Wenn das beanspruchte Etikett ›gerecht‹ zum Grundwert erklärt wird, ist es schon deshalb heikel und definitionsbedürftig, und es muss darüber immer wieder aufs Neue und ins Grundsätzliche gehend diskutiert werden. Dabei ändert sich durch Veränderungen von Gesellschaft und Herrschaft auch der Dis174 | Joachim E ib a ch
kurs über ›Gerechtigkeit‹. Möglicherweise intensiviert sich der Rekurs darauf in bestimmten Epochen oder aber er verliert irgendwann an Relevanz zugunsten von anderen Leitbegriffen. Zum anderen hat die Justiz aber aufgrund des latenten oder offenen Spannungsverhältnisses zwischen Gerechtigkeitsempfinden und Urteilspraxis ganz konkret dafür Sorge zu tragen, dass ihr Procedere bei den Adressaten ihres Handelns ›gerecht‹ erscheint und damit annehmbar ist. Sie muss also durch entsprechende Verfahrensweisen sicherstellen, dauerhaft soziale Akzeptanz zu erhalten. Als Kategorie hat soziale Akzeptanz nicht zuletzt den Vorteil, eher operationalisierbar und messbar zu sein als ›Gerechtigkeit‹. Im Diskurs vieler Zeitgenossen des 15. bis 18. Jahrhunderts waren allerdings ›gerecht‹ und ›ungerecht‹ zentrale Begriffe und semantisch erheblich weiter gefasst als bloße Einwilligung und Zustimmung. Mit einiger Sicherheit ist die Frühe Neuzeit als diejenige Epoche anzusehen, in der eine qua Recht festgelegte, formale Verfahrensgerechtigkeit sich langsam aus umfassenderen Gerechtigkeitsvorstellungen mit starken transzendentalen Bezügen herausschälte und – wenn man so will – emanzipierte, bis es dann irgendwann in erster Linie um ein faires Verfahren ging. Diese älteren Semantiken und historischen Entwicklungen werden leicht übersehen, wenn man so wie John Rawls eine Theorie der Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft auf der Lehre vom Gesellschaftsvertrag aufbaut und damit explizit die Debatte der europäischen Aufklärer weiterentwickeln will.1 »Gerechtigkeit« bzw. »Fairness« erscheint bei Rawls als ein unabdingbares Reservoir gemeinsamer Vorstellungen, als Konsens und Kitt, der die insgesamt säkular und westlich-demokratisch gedachte Gesellschaft zusammenhält.2 Um die ins Grundsätzliche gehenden Friktionen zwischen dem Anspruch der bzw. an die Justiz auf Vollkommenheit – d.h. hier: Gerechtigkeit – einerseits, ihrer Praxis und Funktion andererseits zu verdeutlichen, seien im Folgenden zwei Aspekte kurz skizziert. 1) Bereits zu Beginn der Frühen Frühneuzeit, also in der Hochzeit der Ständegesellschaft, versprach Iustitia allen Untertanen in Strafsachen Rechtsgleichheit. Generell war im Bereich des Strafrechts die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz bemerkenswert ausgeprägt, ausgeprägter als in anderen Rechtsbereichen. So sollten laut Art. 3 der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. (Carolina) von 1532 die Richter qua Eid verpflichtet werden, zu »richten vnnd vrtheylen, dem armen als dem reichen, vnd das nit lassen, weder durch lieb, leyd [Abneigung], miet [Belohnung], gab, noch keyner andern sachen wegen.«3 Das Postulat der Gleichheit im Sinne des Ausblendens des Ansehens der Person und das Verbot der Vorteilsannahme in einem Kernbereich des Rechts entsprachen konkreten Ermahnungen an Richter und Amtsträger im Alten und Neuen Testament. Insgesamt sind vor allem für das 16. Jahrhundert, das Zeitalter der Reformation, die biblische Vorlage und die Bedeutung des theologischen Aspekts des iustitiaIustitia i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 175
Verständnisses kaum zu überschätzen.4 Schließlich würden auch vor dem nahen Jüngsten Gericht als letztgültigem Forum der Gerechtigkeit alle Menschen gleich sein. Gleichheit vor Gericht gilt bis heute als ein hohes Gut und niemand kann hier den Richtern a priori die besten Intentionen in Abrede stellen. Auch für Rawls ist die Gleichheit der Menschen, im Naturzustand wie in der modernen Gesellschaft, in puncto Rechte, Pflichten, Freiheiten und soziale Güter ein zentraler Bestandteil von ›Gerechtigkeit‹.5 Faktisch aber – dies hat die Erforschung der Praxis vor Gericht während der Frühen Neuzeit in den letzten Jahren gezeigt – war die Funktion der Justiz als Ergebnis von Selektions- und Aushandlungsmechanismen vor und während des Verfahrens viel eher die Her- und Sicherstellung von Ungleichheit in verschiedenen Dimensionen: soziale Ungleichheit, Ungleichheit zwischen Einheimischen und Fremden, Ungleichheit der Geschlechter. Die zuerkannten Strafen folgten sogar in hohem Maße einer Logik der Ungleichheit. Dies gilt übrigens auch noch in der liberalen Ära nach 1800.6 Ob Gleichheit vor Gericht heute in jedem Fall erwartbar ist, sei dahingestellt. Jedenfalls ist eine Diskrepanz zwischen der Gleichheitsnorm und der Praxis der Justiz zu konstatieren. 2) Die Richter sollten und sollen nichts Geringeres als die ›Wahrheit‹ feststellen. Wie heikel dieses Unterfangen selbst bei einer wissenschaftlich elaborierten Indizienlehre, professionellen Experten und technisch neuartigen Methoden ist, zeigt sich immer wieder auch in Prozessen der Gegenwart. Erinnert sei an den langwierigen Prozess gegen den Fernsehmoderator Jörg Kachelmann wegen des Verdachts der Vergewaltigung seiner Ex-Lebensgefährtin. In der Praxis kann es wohl nur um die formal korrekte Feststellung von Plausibilität und Wahrscheinlichkeit gehen. Zu diesem Zweck bedarf es – nicht erst heute – ausgeklügelter Verfahrens- und Beweistechniken. So regelte bereits die Carolina 1532 sehr ausführlich, unter welchen Umständen die ›peinliche Frage‹ zur Ermittlung eines Geständnisses, das den ultimativen Beweis im Zeitalter des Inquisitionsprozesses darstellte, angewendet werden durfte.7 Mehr noch: Die direkt oder indirekt an dem Fall Beteiligten müssen in bestimmten Rollen in das Procedere um ›Wahrheit‹ und ›Gerechtigkeit‹ eingebunden werden. Erst dadurch wird die notwendige Akzeptanz, oder wie es Niklas Luhmann formuliert hat: »Legitimation durch Verfahren«, erzeugt.8 Der Aspekt der Beteiligung am Verfahren mag vielleicht im Hinblick auf den unter Regie der Obrigkeit geführten Inquisitionsprozess der Vormoderne, der ja geheim und hinter verschlossenen Türen stattfand, überraschen, ist aber wichtig. Denn auch der Inquisitionsprozess, der dann von den Aufklärern vehement kritisiert werden sollte, kam ohne bestimmte Formen der Beteiligung von außen nicht aus: Anzeigen und Gerüchte, Zeugenaussagen und Konfrontationen, Bittgesuche (Suppliken), Expertengutachten, unter Umständen die formelle Verteidigung, 176 | Joachim E ib a ch
schließlich bei öffentlichem Urteilsvollzug das anwesende Publikum, das rituell seine Zustimmung gab.9 Mit einem normenorientierten Fokus auf Rechtsideen und positives Recht hatte die ältere Rechtsgeschichte die Praxis des Verfahrens vor Gericht und seine Einbettung in spezifische soziokulturelle Kontexte außer Acht gelassen. Typisch war zudem, und ist teilweise immer noch, die Auffassung, die Epoche der Aufklärung habe für die Justiz ein entscheidendes Mehr an ›Gerechtigkeit‹ oder überhaupt erst ›das Recht‹ gebracht. So figurieren in einer 2009 erschienenen Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte die Abschnitte zur Strafrechtslehre und -gesetzgebung im Zeitalter der Aufklärung unter der Überschrift »Strafrecht am Beginn der Rechtsepoche«.10 Die Aufklärung erscheint in dieser Perspektive als zentrale Ingangsetzung des Fortschritts hin zu einer gerechteren Moderne. ›Gerechtigkeit‹ wird dabei gleichgesetzt mit einer umfassenden und systematischen Ausformulierung des Rechts sowie der grundsätzlichen Reform der Verfahrensweisen um 1800. Es geht damit in der modernen juristischen Perspektive im Kontrast zum Rechtsverständnis vor der Aufklärung primär um eine reine Verfahrensgerechtigkeit. Das Streben nach Gerechtigkeit in der Rechtsprechung während der europäischen Vormoderne ging von anderen Voraussetzungen aus. Zudem wird die durchaus vorhandene Logik der Verfahrensweisen vor 1800 mit dem Zweck, soziale Akzeptanz zu gewährleisten, unterschätzt. Darüber hinaus übernimmt das klassische, identitätsstiftende Narrativ der Rechtsgeschichte ungeprüft die Sichtweise der aufgeklärten Rechtsreformer vor und nach 1800 im Hinblick auf die ›alte Justiz‹ und die eigenen Reformziele. Diese Perspektive war vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts rezipiert, fortgeschrieben und weitergereicht worden.11 Denn für all die Beccarias und Feuerbachs war die vergangene Rechtsepoche ein ›barbarisches‹ oder auch ›fanatisches‹ Zeitalter der ›Tyrannei‹. Der italienische Rechtsreformer Cesare Beccaria kritisierte in seinem europaweit rezipierten, späterhin klassischen Bestseller Von den Verbrechen und von den Strafen (Dei delitti e delle pene) von 1764 die älteren Gesetze als »das Werkzeug der Leidenschaften«. Die Epoche der aufgeklärten Regierungen eröffnete dagegen für Beccaria durch den Verzicht auf Gewalt und »Fanatismus« und die Anwendung von dessen Gegenteil – Vernunft – die Hoffnung auf ein ganz neues Recht der »Milde und Menschlichkeit«.12 Eine Generation später (1799) lobte Anselm von Feuerbach unter Berufung auf Beccaria die inzwischen gemachten »glücklichen Fortschritte« im peinlichen Recht, die »die wohlthätige Frucht einer aufgeklärten Philosophie […], besonders aber der Aufklärungen in der Criminal-Politik« seien. Allerdings gäbe es im Strafrecht noch viel Reformbedarf, ehe die Einflüsse falscher Auslegungen, »übel angewendeter Philosophie« und – mit ausdrücklichem Hinweis auf den wichtigsten deutschen Rechtsdenker der voraufklärerischen Epoche des Gemeinen Rechts Benedikt Carpzov – »Carpzovischer Tyrannei« endgültig überwunden seien.13 Iustitia i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 177
Dank der systematischen Erforschung der Gerichtspraxis in der Frühen Neuzeit auf der Grundlage von Vernehmungsprotokollen und anderen Arten von Gerichtsakten sind wir heute in der Lage, ein differenzierteres Bild von der Justiz vor dem Einfluss der Aufklärung zu zeichnen. Zweierlei ist festzuhalten: 1) Das Verfahren des Inquisitionsprozesses, das vielerorts bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Gültigkeit blieb, also bereits durch seine Dauerhaftigkeit, auch über Epochengrenzen hinweg, auffällt, war – wie bereits angesprochen – keineswegs nach außen so hermetisch verschlossen und irrational, wie es die Propaganda der Aufklärung und in deren Gefolge auch lange Zeit die moderne Forschung sah. Vielleicht kann man das viel kritisierte Strukturmerkmal der Uneinheitlichkeit der vormodernen Rechtsprechung auch als einen Vorteil betrachten. Zudem gab es Möglichkeiten der Einflussnahme für die außergerichtlichen Akteure, trotz deren Status als ›Untertanen‹, die für das faktische Aushandeln von ›Gerechtigkeit‹ relevant waren. In mancher Hinsicht hat die neuere Forschung die ›alte Justiz‹ geradezu rehabilitiert. Dies gilt zum einen für die Verschränkung von formellen und informellen Faktoren der Sozialkontrolle zur Regulierung von Devianz in der Gesellschaft und zum anderen für den dem vormodernen Rechtsdenken inhärenten Aspekt der Gnadegewährung, der Abweichungen von Rechtsvorschriften nach dem Prinzip ›Gnade vor Recht‹ zuließ.14 Nicht nur die Möglichkeit der Gnade, sondern auch die Logik der Urteilssprechung, die die jeweiligen ›Umstände‹ von Tat und Täter berücksichtigte, lassen die alte Rechtsprechung in neuer Sicht als flexibles Instrumentarium im Kontext einer Gesellschaft verstehen, die Unterschiede zwischen den Menschen ganz anders bewertete als die auf Einheitlichkeit setzende Moderne.15 2) Selbstverständlich gab es bereits vor der Aufklärung ›Recht‹ und einen Diskurs über die ›Gerechtigkeit‹ im Zusammenhang mit der Justiz, der eigene Teilnehmerkreise und Sprechweisen aufwies. Als langfristig wirksame Folge der Aufklärung sollte aber sowohl die alte religiös konnotierte Semantik ›der Gerechtigkeit‹ als auch das nicht immer so drakonische, sondern für spezifische Arten des Aushandelns offene Verfahren vor Gericht einem grundlegenden Wandel unterworfen werden. Der Wandel der Justiz durch aufklärerisch inspirierte Reformen steht außer Frage. Insofern figuriert das Denken der Aufklärung ab Mitte des 18. Jahrhunderts in der Geschichte des Rechts durchaus korrekt als Scharnier zwischen Vormoderne und Moderne. Noch einmal zur Ausgangsüberlegung: Das Verhältnis zwischen der Justiz als höchst irdischer Institution mit alltäglichen Entscheidungszwängen und ihrem postulierten Leitwert ›Gerechtigkeit‹ ist heikel. Angesichts dieses Dilemmas zwischen Norm und Alltag muss die fragile ›Gerechtigkeit‹ umso mehr diskursiv beschworen und in der Praxis soziale Akzeptanz hergestellt werden. Ins Zentrum der Analyse rücken folglich der Diskurs über ›Gerechtigkeit‹ und die Verfahrens178 | Joachim E ib a ch
weisen der Justiz. Beide Aspekte sollten durch den Einfluss der Aufklärung einen grundlegenden Wandel erfahren. Zuerst zum Diskurs! Ich übernehme hier von Michel Foucault eine gewisse Skepsis gegenüber der älteren rechts- wie auch ideengeschichtlichen Vorstellung, dass die Moderne notwendigerweise und per se einen Fortschritt an Humanität und Freiheit bedeutet.16 Diskurs als Prinzip der Produktion von Wahrheit und der Verknappung von Sprechweisen basiert auch immer auf dem Ausschluss oder der Marginalisierung anderer Positionen. Der Foucault’sche Umkehrschluss, der die Moderne auf eine quasi unentrinnbare Kontrolle und durchdringende Disziplinierung der Akteure festlegt, kann indes auch nicht überzeugen. Vielleicht boten die Vormoderne und die Moderne einfach je verschiedene Handlungsmöglichkeiten für Akteurinnen und Akteure. Die Art der Optionen, Sprechweisen und Verfahren änderte sich. Dies lässt sich jedenfalls am Beispiel der Justiz gut zeigen. Vorstellungen von der ›Gerechtigkeit‹ fanden in Alteuropa ihren Niederschlag nicht nur in Texten, sondern auch auf Bildern, Fresken sowie Statuen, welche die Kardinaltugend iustitia zur Darstellung brachten. Laut einer neuen Studie zur Geschichte der Rechtsikonographie ist Iustitia die im öffentlichen Raum am häufigsten anzutreffende allegorische Gestalt in Europa.17 Dabei steht die Kombination der heute typischen Symbole Waage, Schwert und Augenbinde erst seit der Zeit um 1500 fest. Mit dem Hinzufügen der Augenbinde zu den älteren Symbolen Waage und Schwert, erstmals durch Albrecht Dürer in wahrscheinlich ironischer Absicht im Jahr 1494 auf einer Illustration der Iustitia in Sebastian Brants Narrenschiff, wurde dem Betrachter in Aussicht gestellt, Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person walten zu lassen.18 Auch die Carolina hielt 1532 die Richter dazu an, Strafen aufzuerlegen allein »auß lieb der gerechtigkeyt, vnd vmb gemeynes nutz willen zu ordnen vnd zu machen«.19 Dies sollte, wie gesehen, explizit nicht nur ständeübergreifend gelten, sondern »dem armen als dem reichen«.20 Natürlich ist es kein Zufall, dass wir zahlreiche Justitia-Ikonen an Orten der Rechtsprechung vorfinden, etwa bei Richtstühlen oder vor Gerichtsgebäuden, meistens in Städten mit Herrschaftsrechten. Hier wurde und wird für das Publikum gut sichtbar und zumeist von oben herab auf ›Gerechtigkeit‹ insistiert. Man kann dies wohl zugleich als Behauptung und als Versprechen an die Untertanen interpretieren. Deutlich wird jedenfalls, dass die Idee der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Herrschaft oder Justiz nicht eine Erfindung der Aufklärung oder der Moderne ist. Darüber hinaus verweist die große Verbreitung von Ikonen der Iustitia im 16. Jahrhundert auf einen performativen Aspekt der Justiz, der sich auch in zahlreichen Ritualen findet, zum Beispiel bei dem ›Endlichen Rechtstag‹ mit der Urteilsverkündung oder den notorischen öffentlichen Strafpraktiken, insbesondere Hinrichtungen, aber auch bei Schandstrafen sowie Stadt- und Landesverweisen. Offensichtlich musste die fragile ›Gerechtigkeit‹ visualisiert und immer wieder aufs Iustitia i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 179
Neue inszeniert werden, um glaubhaft zu sein. In dieser Perspektive passt der Hinweis von Rudolf Schlögl, der eine notwendige rituelle Abstützung von relativ neuartigen Verfahren im Allgemeinen in der sog. Anwesenheitsgesellschaft zu Beginn der Neuzeit konstatiert. Das Vordringen der Prinzipien rein rationaler, rechtsorientierter ergebnisoffener Verfahren ermöglichte demnach im Verlauf der Frühen Neuzeit den zunehmenden Verzicht auf Rituale.21 Der Diskurs über Gerechtigkeit während des 18. Jahrhunderts weist keineswegs nur nach vorne, in die säkularisierte Moderne. So sind auch die Teilnehmer an diesem Diskurs im Jahrhundert der Aufklärung nicht nur Juristen oder typische ›Aufklärer‹ vom Schlage eines Voltaire oder Kant. ›Gerechtigkeit‹ erweist sich vielmehr als Begriffsschablone, die von verschiedenen Akteuren in verschiedenen Medien verwendet wurde und Unterschiedliches bedeutete. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts kommt es dabei zu semantischen Verschiebungen. So benutzen die berühmten Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts diese Schablone jeweils anders. Der Artikel »Gerechter« in Zedlers Universal-Lexikon aus dem Jahr 1735 beginnt folgendermaßen: Ein Gerechter »ist ein solcher, der durch das Verdienst Christi von aller Verdammniß frey gesprochen, und das Recht zur Seeligkeit erhalten hat, der auch, wie es der Gerechtigkeit geziemet, würdiglich wandelt, von Bösen ablässet und Gutes thun lernet.«22 Gegenüber diesem rein theologischen, auf das Jüngste Gericht abzielenden Verständnis zeigt der Artikel »Gerechtigkeit« bei Zedler deutlichere Spuren der Aufklärung: Gerechtigkeit würde »entweder Gott, oder dem Menschen zugeschrieben«. Die »Gerechtigkeit der Menschen« im engeren Sinne diene letztlich der »göttlichen natürlichen Ordnung«. Aber diese »will« wiederum, »daß die Glückseeligkeit aller Menschen durch allerseitige Hülffe und Beytrag aller Menschen soll befördert werden, siehe [Artikel] Geselligkeit. Ist also die Gerechtigkeit ein Innbegriff aller geselligen Tugenden«. Und insofern sei auch die »Gerechtigkeit« zu unterscheiden von der »Frömmigkeit«, die eine »Beobachtung der Pflichten gegen Gott ist«.23 Dreißig Jahre später sind die theologischen Bezüge bei der Definition von »justice« in Diderots Encyclopédie bereits viel geringer ausgeprägt. »Justice« wird im Bd. 9 (1765) zuerst als »morale«, dann im literarischen Sinne als allegorische Gottheit und schließlich mit direktem Bezug auf die Jurisprudenz als Kardinaltugend (»une des quatre vertus cardinales«) sowie in Hinblick auf Rechtsprechung definiert. In den Zeiten des Naturzustands sei die Justiz noch »sans aucun appareil« von den Familienvätern ausgeübt worden, die zugleich Vater, König und Richter (»le pere, le rois & le juge«) waren. Heute sei dies zuvorderst Sache des Königs und der Gerichte. Vor allem aber: Anders als in den früheren »siecles les moins éclairés & le plus corrompus« gelte heute, in der Zeit der Aufklärung, »la voix de la raison«.24 Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurde der Artikel bei Zedler von einem Theologen verfasst. Insbesondere für das frühe 18. Jahrhundert ist die Rolle der Geist180 | Joachim E ib a ch
lichkeit im Reden über die Gerechtigkeit nicht zu unterschätzen. Dies lässt sich gut anhand der politischen Predigten zeigen, die 1701 aus Anlass der Verleihung der Königskrone an das Kurfürstentum Preußen gehalten wurden. Dem Monarchen wurde dabei von seinen geistlichen Beratern eine Agenda guter, ›gerechter‹ Herrschaftsausübung präsentiert. Hofprediger und Superintendenten priesen ›Gerechtigkeit‹ als eine Herrschertugend und machten sie so zur Leitschnur der Regierung des neuen Königs Friedrich I.25 Vor dem Hintergrund der reformatorischen politica christiana, in deren Kontext Geistliche als Wächter und Mahner über einigen Freiraum verfügten, ist iustitia durchaus mehr als ein Topos und kann sich auch konkret auf die Handhabung der Justiz beziehen. Dies gilt quasi lagerübergreifend. Für Daniel Ernst Jablonski, der 1700 mit Gottfried Wilhelm Leibniz die Preußische Sozietät der Wissenschaften begründet hatte und später deren Präsident wurde, sind »Frömmigkeit« und »Gerechtigkeit« die »Säulen […] einer glücklichen Regierung« des Monarchen.26 Dieser habe nicht nur Pflichten gegenüber Gott, in dessen Auftrag er handelte. Vielmehr sei die gute Handhabung der »Gerechtigkeit gegen alle Menschen, sonderlich die Unterthanen« für Jablonski »eigentlich der Zweck, warumb Gott Könige und Fürsten gesetzet hat«.27 Aus dem göttlichen Auftrag erwüchsen Ansprüche und Pflichten. Philipp Jacob Spener, zu dieser Zeit Propst in Berlin, wird konkreter, wenn er ausführt, Aufgabe des Königs sei die »Bestellung der Gerechtigkeit, daß wo unter den Unterthanen Zwist entstehet über Güter oder andere Dinge, Gerichtstätte seyen, da die Sachen gehandelt werden, um jeden bey seinem Recht zu schützen, daß er sich nicht selbs Recht schaffen, aber auch nicht von andern mit Unrecht belästiget werden, dörffte«.28 Bemerkenswerterweise bedient sich der Pietist Spener 1701 zur Begründung des Zwecks der Herstellung von Sicherheit im Lande eines naturrechtlich-universalistischen Arguments: »Dieser Zweck ist so wesentlich dem Oberkeitlichen Ammt, daß auch die wildeste Völcker erkennen, solchen nöthig zu seyn, indem sonst ohne die Obrigkeit und durch sie erhaltende Sicherheit, der Menschen Leben nicht anders untereinander seyn würde, als der Löwen, Tyger, Parden, Bären, Wölffe, einander zu zerreissen und auffzureiben.«29 Der Generalsuperintendent und Hofprediger Günther Heiler gab Friedrich I. explizite Ratschläge zur Regelung der Justiz mit auf den Weg. Neben dem klassischen Appell »In Urtheilen versperre deine Augen ohne Ansehung der Person« und der Ermahnung, dass »der Beklagte genugsam gehöret« werden möge sowie zuerst sorgfältig »(n)ach allen Umbständen zu fragen« sei, bevor es zu Exekutionen komme, findet sich in Heilers Predigt noch folgender Hinweis: »verstatte auch nicht große Weitläufftigkeit in Processen«.30 Dieser Ratschlag wirkt nebensächlich und unscheinbar, kann aber als Kritik an der zunehmenden Autonomisierung des Verfahrens vor Gericht gelesen werden. Denn zu Beginn des 18. Jahrhunderts dauerten komplizierte Prozesse vor der Hochgerichtsbarkeit mit schriftlichen Iustitia i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 181
Zeugenvernehmungen, Gegenüberstellungen von Kläger und Beklagtem, Stellungnahmen von Syndizi, Suppliken sowie eventueller Aktenversendung an Juristenfakultäten zur Einholung von Rechtsgutachten häufig mehrere Monate oder länger. Diese zunehmend elaborierten, aktengestützten Verfahren zur Hervorbringung von ›Gerechtigkeit‹ standen in einem deutlichen Kontrast zum traditionellen Bild des milden, weisen, entschlossenen Herrschers in der alten politica christiana. Der Diskurs über Gerechtigkeit in der Justiz wird im 18. Jahrhundert auf europäischer Ebene geführt. So wurde die berühmte Kritik Voltaires an der ›Willkür‹ der Richter im Fall des Justizmords an dem Protestanten Jean Calas in Toulouse im Jahr 1762 europaweit rezipiert. Voltaire benutzte das gravierende Fehlurteil gegen den am Selbstmord seines Sohns unschuldigen Familienvater, um religiöse Voreingenommenheit der Richter und Geheimniskrämerei im Verfahren anzuprangern. Der auf dem Rad hingerichtete Calas sei hilflos »dem Irrtum, der Leidenschaft oder dem Fanatismus« der Justiz ausgeliefert gewesen.31 Voltaire produzierte durch seine Briefe und Traktate über den Fall ein frühes Beispiel für einen Justizskandal. In den Diskurs über die Justiz sollten sich zukünftig auch Intellektuelle einmischen, die nicht mehr nur als Ratgeber von Fürsten oder für den Austausch mit anderen Gelehrten schrieben. Indes ist die Frage, was ›europäisch‹ im 18. Jahrhundert eigentlich heißt. Oft kamen die Stichwortgeber der Debatten wie Voltaire und Montesquieu aus Frankreich oder wie Beccaria aus Italien. Der englische Philanthrop John Howard reiste durch halb Europa und beschrieb systematisch die Missstände in Gefängnissen mit dem Ziel einer Reform des Strafvollzugs. Die Juristen in Deutschland reagierten eher, als dass sie aktiv Impulse auf diesen internationalen Diskurs ausübten. Wenig erforscht ist bislang, wie weit die Gelehrtenrepublik der Aufklärer nach Ost- und Nordeuropa oder in andere katholische Länder Südeuropas reichte. Erst recht gilt dieses Desiderat für die Wirkungen über Europa hinaus. Der Diskurs über Gerechtigkeit und Justizreform ist ein gutes Exempel für die histoire croisée. Nur müssten die Transfers auch stärker unterhalb der Ebene der Ideen untersucht werden. Kehren wir zurück zu den Stichwortgebern und ihrem Gebrauch von ›Gerechtigkeit‹. Eine eingehende Analyse der juristischen Argumentation auf mittlerer Diskursebene, wie sie Michel Porret für Genf vorgelegt hat, steht für Deutschland noch aus. Das Quellenmaterial dafür wäre durchaus vorhanden. Aber nicht nur von Geistlichen oder Juristen, sondern auch von einfachen Untertanen wurde bei Klagen und Bittgesuchen vor Gericht im Rahmen ihrer »Justiznutzung« (Martin Dinges) explizit ›Gerechtigkeit‹ eingefordert. Dies zeigt ein Blick in die Akten des Peinlichen Verhöramts der Reichsstadt Frankfurt Mitte des 18. Jahrhunderts. Dort konnte zum Beispiel selbst ein dem unteren Bürgersegment zuzurechnender Gärtner namens Johannes Knodt nach einer Körperverletzung an seiner Magd durch den zudringlichen Sohn des Nachbarn vor Gericht auftreten, um eine »hochobrig182 | Joachim E ib a ch
keitl. gerecht Straffe« für den Nachbarn zu fordern.32 Ob und wie solche lebensweltlich situierten Vorstellungen von der ›Gerechtigkeit‹ mit Expertendiskursen verknüpft waren, ist bislang kaum erforscht. An dieser Stelle können nur die Entwicklungslinien auf der gleichsam obersten Diskursebene skizziert werden. Unter Rechtstheoretikern sind im 18. Jahrhundert naturrechtliche Bezüge fast schon eine Selbstverständlichkeit. Interessant ist dabei, dass die Vorstellung eines göttlichen Rechts bis gegen Ende des Jahrhunderts nicht völlig aufgegeben wird. So nannte Cesare Beccaria 1764 in seinem bahnbrechenden Werk Von den Verbrechen und von den Strafen drei Quellen für normative Grundsätze: »Offenbarung, Naturgesetz und künstlich geschaffene gesellschaftliche Übereinkünfte«.33 Indes ist die für Beccaria letztlich entscheidende »Gerechtigkeit« gesellschaftsimmanent definiert und kommt ganz ohne transzendentale Bezüge aus: Sie ist »das notwendige Band, um Einzelinteressen zusammenzuhalten, die ohne dieses Band sich zum alten Zustand der Ungeselligkeit lösen würden«. Er erläutert: »Gerechtigkeit« hat nichts zu tun mit der Vorstellung »einer physischen Kraft oder eines wirklichen Wesens […]; noch weniger verstehe ich darunter jene andere Art von Gerechtigkeit, die von Gott kommt«.34 Vier Jahre später teilte auch Wiguläus Xaver von Kreittmayr bei seinem – für die Aufklärung charakteristischen – Unternehmen einer umfassenden Kodifizierung des bayerischen Rechts im Compendium Codicis Bavarici das Recht ein in »göttlich-natürlich und menschliches Recht«. In einem zeittypischen Begriffsmix erläutert Kreittmayr: »Das erste heisset darum das natürliche oder vernünftige, weil es von Gott auf die menschliche Natur gegründet ist«; und der Mensch könne »solches durch die blosse Vernunft begreifen«.35 Demgegenüber sollte sich das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 nach einer Kabinettsorder Friedrichs II. am Römischen Recht orientieren, das am vollständigsten und auch »dem Rechte der Natur und der Billigkeit gemäß« sei.36 Zukünftige Zusätze zum neuen Recht sollten, sofern sie nicht aus den älteren Landesgesetzen stammten, zuerst einer »vernünftigen Erwegung« unterzogen werden.37 Insgesamt verliert ›Gerechtigkeit‹ als Leitbegriff und regulative Kategorie in Rechtstexten um 1800 quantitativ wie qualitativ an Relevanz.38 Bereits Voltaire hatte den so heiligen Begriff ironisiert: Der unschuldige Calas sei in Toulouse »mit dem Schwerte der Gerechtigkeit« ermordet worden.39 Dieser Bedeutungsverlust könnte neben der – wie gesehen – vielgestaltigen Semantik und Dehnbarkeit des Begriffs, die den nach Exaktheit und Systematisierung des Rechts strebenden Juristen aufstieß, seinen Grund in der langfristigen Tendenz zur Säkularisierung haben. Die starke religiös-theologische Tradition der Semantik von ›Gerechtigkeit‹ erschwerte eine Neuformulierung, weswegen man den Begriff oft einfach wegließ. Der Gießener Juraprofessor Karl Grolman postulierte in diesem Sinne 1798: »Strafe ist nicht Rache, sondern Kalkulation der ruhigen Vernunft. Ein Recht zur Iustitia i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 183
Rache kann nicht deducirt werden.« Seine Ausführungen zum Sinn und Zweck der Strafe kommen einer Abrechnung mit einem vergangenen Zeitalter des Rechtsdenkens gleich: »Ihr denkt euch eure Gerechtigkeit als eine Göttin, und vergeßt, daß es der niedrigste Anthropomorphism ist, wenn ihr behauptet, daß sie nur durch Strafe versöhnt werden könne.«40 Vor diesem Hintergrund kann es dann auch nicht überraschen, dass Feuerbach 1799 zwar den Begriff ›Gerechtigkeit‹ benutzt, ihn aber schlicht, strikt und formalistisch an den Buchstaben des Gesetzes knüpft. Gerechtigkeit hatte in seinem Verständnis nichts mit Milde zu tun, sondern verlangte in der Ausführung von Gesetzen »unerbittlich und streng einen unbedingten Gehorsam«. Der transzendentale Überbau und die ›Politik aus der Bibel‹ sind verschwunden. »Das Gesetz ist heilig, solange es noch Gesetz ist.«41 Darüber hinaus gibt es keinen letzten Grund mehr. Feuerbachs Ansatz, der für viele Zeitgenossen eine Provokation sein musste, entsprach dem modernen Typus einer nurmehr »formalen Gerechtigkeit«, die sich laut John Rawls durch eine für alle Seiten erwartbare »Gesetzesherrschaft« auszeichnet.42 Die massive Kritik und Bedeutungsverschiebung im Diskurs der Aufklärer machte eine grundsätzliche Revision des Verfahrens notwendig. ›Formale Gerechtigkeit‹ als Prinzip widersprach dem – je nach Lesart – schwankenden bzw. flexiblen Usus des Abwägens der Umstände. Die älteren Verfahrensweisen des Aushandelns vor Gericht galten der den Diskurs nun gänzlich dominierenden Gruppe der gelehrten Juristen und Intellektuellen als inadäquat. Aber wie waren diese älteren Verfahrensweisen überhaupt beschaffen und worin bestand die Innovation? Auch unter dem Regime des Inquisitionsprozesses gab es verfahrenstechnisch abgesicherte Austauschprozesse zwischen Justiz und Umwelt mit der Funktion der Herstellung von sozialer Akzeptanz. Und diese Möglichkeiten der Einflussnahme und des Aushandelns von Entscheidungen blieben während des 18. Jahrhunderts trotz vieler Reformideen grundsätzlich bestehen. Zwar war die Verhandlungsmacht im Inquisitionsprozess äußerst ungleich verteilt. Aber ein Blick auf die Praxis der Justiz anhand von Vernehmungsprotokollen zeigt, dass die weitaus meisten Konflikte durch Klagen oder Anzeigen aus der Gesellschaft vor Gericht gebracht wurden, ohne irgendwelchen Zwang. Über Verurteilung und sodann Strafe oder Milde (›Gnade‹) entschied daraufhin nicht zuletzt der sog. ›Leumund‹ und damit das soziale Kapital des Angeklagten. Guter ›Leumund‹ war auch ein prozessrechtliches Kriterium, um als Zeuge zugelassen zu werden.43 Aus Sicht der Herrschaft war ein weiter Spielraum des Ermessens für die Richter zudem relevant, weil man sich so mal als exemplarisch hart, mal als gnädig erweisen konnte. In beiden Fällen wurde Herrschaft als unumschränkt mächtig und mit höherem Segen ›gerecht‹ inszeniert. Das Zusammenspiel galt natürlich nicht als Widerspruch. 184 | Joachim E ib a ch
Die Praxis des Aushandelns hatte einen sozialen Kontext. Denn der entscheidend wichtige ›Leumund‹ des Angeklagten wurde im Verfahren vor Gericht eruiert anhand von Zeugenaussagen und Suppliken aus dem unmittelbaren Umfeld des Angeklagten. Dieses Verfahren legt schon nahe, dass durch derartige Umweltbeziehungen nicht unbedingt die Gleichheit vor Gericht befördert wurde. Eher trifft das Gegenteil zu. Die soziale Praxis der ›Inquisition‹ war ein Einfallstor für verschiedene Ungleichheiten, die auf normativer Ebene nicht fassbar sind. Der Einfluss des sozialen Umfelds und der ›Umstände‹ von Tat und Täter konnte sich zu dessen Vorteil oder aber, wie im Fall Calas, der als calvinistischer ›Ketzer‹ in Toulouse unter ›Rechtgläubigen‹ lebte, gravierend zu dessen Nachteil auswirken. Einheimische bzw. rechtlich Integrierte zogen allgemein öfter vor Gericht, und sie hatten bessere Chancen, Zeugen für sich zu organisieren oder Klagen abzuwenden, als Ortsfremde und ›Ketzer‹. Frauen, die ab der Reformation zahlreich ihre Ehemänner vor geistliche Gerichte brachten, wussten strategisch auf die Pflichten von ›Hausvater‹ und ›Hausmutter‹ zu rekurrieren und eine entsprechende eigene Rolle zu spielen. Ähnliche Mechanismen wirkten in Unzuchtsverfahren. Auf diese Weise wurden auch ungleiche Geschlechterstereotype vor Gericht ausgehandelt.44 Die Wirkungskraft von Suppliken auf jeder Stufe des Verfahrens ist ein vielfach belegtes Faktum. Sie begünstigte zumindest teilintegrierte Einheimische gegenüber fremden Beschuldigten. Thesenartig zugespitzt, ist ›Gerechtigkeit‹ in der Frühen Neuzeit vor allem aus der Sicht privilegierter außergerichtlicher Akteure zu unterscheiden von Rechtsgleichheit. Die Herstellung von sozialer Akzeptanz in der Praxis stand im Kontrast zu zahlreichen normativen Statements. Erinnert sei an die vielerorts an Gerichtsstandorten anzutreffende Göttin mit der Augenbinde, die als tugendhafter Beistand Urteile ohne Ansehen der Person in Aussicht stellte. Relativ unerforscht ist übrigens die Praxis des Verteidigers im Zeitalter des Gemeinen Rechts. Neuere rechtshistorische Arbeiten plädieren dafür, die Rolle auch der förmlichen Verteidigung durch einen ›Defensor‹ im Zeitalter des Inquisitionsprozesses nicht zu unterschätzen.45 Für die Aufklärer hatte das alte Procedere seine Legitimität eingebüßt, ebenso dessen Einbettung in transzendentale Bezüge. Konkret galt insbesondere das weit gesteckte Ermessen der Richter zwischen nachgiebiger Milde und drakonischer Härte als ›Willkür‹. Die Wurzel des Übels war die weithin unklare, wenig elaborierte und nicht systematisierte normative Basis des Rechts. In der Tat war das schriftliche Recht unter Einschluss der Policey-Ordnungen ausgesprochen unübersichtlich, vor allem, aber nicht nur für Laienrichter. Um nicht die harschen ›ordentlichen‹ Strafen der Carolina auferlegen zu müssen, konsultierten Syndizi und Ratskonsulenten im 18. Jahrhundert die Rechtskommentare der gelehrten Juristen. Versuche einer neuen, systematischen Kodifizierung des Strafrechts gab es Iustitia i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 185
im Reich aber nur in den größeren Territorien. Die alten Körper- und Todesstrafen, die, wie man heute weiß, immer nur einen zahlenmäßig kleinen Teil der tatsächlich ausgesprochenen Urteile ausmachten – dies im Kontrast zu den Annahmen Foucaults –, galten im 18. Jahrhundert nicht nur als ›barbarisch‹, sondern auch als ›unnützlich‹ für das Gemeinwesen. Strafen am Körper versprachen weder eine ›Besserung‹ des Delinquenten noch die ›Sicherheit‹ der Gesellschaft zu befördern. Bei den öffentlichen Strafspektakeln konnte es für die Aufklärer nicht mehr darum gehen, einen erzürnten Gott rituell zu versöhnen, sondern höchstens noch um Abschreckung. Aber auch dieser Sinn wurde zunehmend in Zweifel gezogen. Zwar erklärte der bekanntermaßen sittenstrenge Landesvater Friedrich Wilhelm I. noch in der Vorrede der Kriminalordnung von Brandenburg 1717 im Stil einer Predigt, die Strafjustiz müsse dergestalt im Lande eingerichtet werden, »daß denen Sünden und Lastern gesteuret, Missethaten und Verbrechen bestraffet, wider Recht aber niemand beschweret, noch Blut und Seufftzen auf das Land gebracht werde, so, daß der allerhöchste Gott einen Gefallen daran haben möge«.46 Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte diese Art der Argumentation aber unter den Reformern ausgedient. Die Kritik der Aufklärung am Inquisitionsprozess setzte in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Dabei geriet die bibelorientierte Sichtweise der Geistlichkeit, aber auch vieler Juristen, aus der Epoche des Gemeinen Rechts ins Hintertreffen. Der Hinweis auf ›göttliches Recht‹ in den Einleitungen gelehrter Abhandlungen und Vorreden neuer Strafgesetzbücher wurde im letzten Drittel des Jahrhunderts immer mehr zu einem Topos. Die praktische Umsetzung der auf ›Besserung‹ und Gemeinnutz abzielenden aufklärerischen Ideen und Reformprojekte sollte sich jedoch sehr lange hinziehen. So finden sich in Deutschland im 18. Jahrhundert mit der Einschränkung und dann Abschaffung der Folter sowie der Entkriminalisierung einiger ›überkommener‹ Tatbestände im materiellen Strafrecht nur relativ geringe Spuren des Wandels. Bekanntlich stellte in Frankreich die Revolutionszeit einen Einschnitt dar, der sich rechtlich auch auf das Rheinland auswirkte. Zentrale Aspekte aufgeklärter Strafrechtsreform wie die Prinzipien der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverhandlung sowie das Anklageprinzip wurden im rechtsrheinischen Deutschland aber nicht in der Reformzeit um 1800, sondern erst Mitte des 19. Jahrhunderts verwirklicht, als der politische Liberalismus sich zunehmend durchsetzte.47 An einigen Orten in Deutschland, Österreich und auch der republikanischen Schweiz wurden öffentliche Hinrichtungen vor Massenpublikum, die bereits Beccaria wegen ihrer Nutzlosigkeit für das Gemeinwesen kritisiert hatte,48 bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts praktiziert. Schließlich sollte das zweckorientierte Vernunftdenken der Aufklärung ein neues System der Strafjustiz begründen. ›Gerechtigkeit‹ hieß am Ende der Entwicklung – wenn man den Begriff überhaupt weiterhin benutzte – vor allem: 186 | Joachim E ib a ch
konsequentes und einheitliches Verfahren durch formal korrekte Anwendung von Recht.49 Davon unbenommen, gab und gibt es außerhalb des gelehrten Diskurses weiterhin moralische, ja transzendentale Bezüge der Semantik, die gerade gegen eine reduzierte ›formale Gerechtigkeit‹ ins Felde geführt werden. Die herkömmliche Strafjustiz musste schon deshalb ins Zielfeld der Aufklärer geraten, weil sich an ihrem Beispiel trefflich die beiden aufklärerischen Prinzipien par excellence, Traditionskritik und Herrschaftskritik, anwenden ließen. So korrespondierten die diskursleitenden Begriffe und die Vorschläge zur Reform des Gerichtsverfahrens eng mit der allgemeinen Herrschaftskritik der Aufklärung. Die neue, naturrechtliche Begründung der Strafjustiz entsprach der Tendenz zur Säkularisierung. Der Kardinalvorwurf der ›Willkür‹ an die Adresse der kaum kontrollierten Richter spiegelte das ›Despotismus‹-Verdikt gegen die Fürsten. Vor dem Hintergrund der Kritik an Willkür und Allmacht von Herrschaft mussten auch die Funktionen des Richters im alten Inquisitionsprozess aufgeteilt werden. Und wohl nicht aus Zufall wählte die Aufklärung ein Gefängnis, also ein Strafinstrument der Obrigkeit, zum steinernen, finsteren Symbol des ›Despotismus‹ schlechthin, nämlich die Bastille. Die alten Verfahrenspraktiken waren mit dem neuen Gesellschaftsentwurf der Aufklärung nicht mehr vereinbar. Deshalb hatte die Justiz bei der neuen, im Diskurs tonangebenden Elite ihre Akzeptanz verloren. So genügten auch das Prinzip von Bitte und Gnade und die impliziten Möglichkeiten des Aushandelns nicht mehr dem übergreifenden Ziel der Emanzipation der Gesellschaft. Die Forderungen nach Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens sowie Geschworenengerichten verwiesen auf die Genese eines Publikums aus autonomen Staatsbürgern, das politisch mitreden wollte. Die angestrebte Kodifzierung des Strafrechts im Verbund mit der kritischen Durchforstung alter Straftatbestände kann mit den Verfassungsbewegungen um 1800 verglichen werden. Noch in der Revolution von 1848 sollten Geschworenengerichte zu den ›Märzforderungen‹ der Liberalen gehören. Vielleicht spiegelt eine sehr früh umgesetzte Reform im 18. Jahrhundert, nämlich die Abschaffung der Folter, am prägnantesten den utopischen Charakter der Aufklärung. Gegen das Beweismittel der Folter hatte sich zwar bereits lange vor der Aufklärung Widerstand geregt, vor allem in Westeuropa. Indes ist es kein Zufall, wenn die Phase der sukzessiven Abschaffung der Folter in den deutschsprachigen Staaten in der Ära der Hochaufklärung einsetzte, nämlich erstmals in Preußen 1740/1754. Es konnte nicht mehr darum gehen, mit kruder physischer Gewalt Geständnisse zu erpressen, wenn das Endziel eine Gesellschaft der Zukunft war, deren Beziehungen eben nicht auf Gewalt und alten Ritualen gründen sollten, sondern ausschließlich auf zweckmäßiger ›Vernunft‹ und auf vernunftmäßigen Verfahren. Die alte Semantik der ›Gerechtigkeit‹ brauchte man dafür nicht mehr.
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A n m e r ku nge n 1 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 12. 2 Zum Begriff der ›Fairness‹ Rawls, Theorie (o. Anm. 1), S. 19 ff. und pass. 3 F.-Ch. Schroeder (Hrsg.), Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, Stuttgart 1991, S. 24, Art. 3: »Des Richters eyde über das blut zurichten«. 4 Genauer dazu J. Eibach, »Versprochene Gleichheit – verhandelte Ungleichheit. Zum sozialen Aspekt in der Strafjustiz der Frühen Neuzeit«, Geschichte und Gesellschaft 35/4 (2009), S. 488–533; hier 492 f.; vgl. die einschlägigen Bibelstellen: Die Offenbarung des Johannes 20, 12; 5. Mose 1, 17; 5. Mose 16, 19; Jesaja 11, 4; 1. Petrusbrief 1, 17; vgl. auch A. Griesebener, »Justiz und Gerechtigkeit. Anmerkungen zu religiösen und säkularen Gerechtigkeitsmaximen«, in: dies. u.a. (Hgg.), Justiz und Gerechtigkeit. Historische Beiträge (16.-19. Jahrhundert), Innsbruck 2002, S. 23–31. 5 Rawls, Theorie (o. Anm. 1), S. 28 ff. und 81 ff. 6 Ch. von Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen. Der Liberalismus der preußischen Richterschaft 1815–1848/49, Göttingen 1996, S. 193 ff.; M. Bors, Injurien. Funktionen des juristischen Ehrschutzes zwischen Ancien Régime und Moderne, Habil. jur., Univ. Freiburg i.Ue. 2008, S. 353 ff. 7 Peinliche Gerichtsordnung (o. Anm. 3), Art. 20–29, v.a. Art. 23, S. 34: »Wie die gnugsam anzeygung eyner mißthat, bewisen werden sollen«; vgl. zum Beweisrecht in der Carolina auch Art. 62 ff., S. 53 ff. 8 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a. M. 1983. 9 K. Härter, »Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation«, in: A. Blauert / G. Schwerhoff (Hgg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 459–480. 10 Th. Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, Berlin 2009, S. 25. 11 Vgl. R. Habermas, »Von Anselm von Feuerbach zu Jack the Ripper. Recht und Kriminalität im 19. Jahrhundert. Ein Literaturbericht«, Rechtsgeschichte 3 (2003), S. 128–163. 12 C. Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen, 1764 (ND Berlin 2005), S. 6 und 2 (in der Reihenfolge der Zitate). 13 P.J.A. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Erfurt 1799 (ND 1966), S. XI, XII und XVII (in der Reihenfolge der Zitate). 14 Zusammenfassend G. Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen, Bd. 9), Frankfurt a. M. 2011, S. 90–95. 15 M. Porret, Le crime et ses circonstances. De l’esprit de l’arbitraire au siècle des Lumières selon les réquisitoires des procureurs généraux de Genève, Genf 1995. 16 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 121998. 17 S. Behrisch, Die Justitia. Eine Annäherung an die Allegorie der Gerechtigkeit, Weimar 2006, S. 9 ff. 188 | Joachim E ib a ch
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Ebd., S. 74 ff. Peinliche Gerichtsordnung (o. Anm. 3), Art. 104, S. 70. Ebd., Art. 3, S. 24. R. Schlögl, »Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit«, Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224, hier: S. 195 f. J.H. Zedler (Hrsg.), Grosses Vollständiges Universal-Lexikon, Halle / Leipzig, Bd. 10, 1735, Sp. 1079. Alle Zitate aus: Zedler, Universal-Lexikon (o. Anm. 22), Sp. 1080. Art. »Justice«, in: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Art et des Métiers, hrsg. von D. Diderot, Bd. 9, 1765, S. 89. Vgl. näher zu den Predigten; J. Eibach, »Preußens Salomon. Herrschaftslegitimation und Herrscherpflichten in Predigten anläßlich der Krönung Friedrichs I.«, in: J. Kunisch (Hrsg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Beiheft 6), Berlin 2002, S. 135–158; vgl. zuletzt Ph. Hahn u.a., Der Politik die Leviten lesen. Politik von der Kanzel in Thüringen und Sachsen, 1550–1675, Gotha 2011. D.E. Jablonski, »Krönungs-Predigt, gehalten in der Dohm-Kirchen zu Berlin, am XVIII. Januarii 1701, Da an selbigem Tage der Allerdurchlauchtigste, Großmächtigste Fürst und Herr, Friedrich, Erster Christlicher König in Preussen, zu Königsberg in Preussen, gekrönet und gesalbet worden«, in: ders., Christliche Predigten, über verschiedene Auserlesene Sprüche, Heil. Schrifft, zu verschiedenen Zeiten gehalten, Teil 2, Berlin 1727, S. 89–120, hier: S. 104. Ebd. S. 117. P.J. Spener, Getreuer Unterthanen Gebet vor ihre Regenten, Auff gnädigst angeordnetes solennes Crönungs-Fest [...], In Berlin zu St. Nicolai der versamleten Gemeinde, zu ihrem Unterricht und Einschärffung ihrer Pflicht aus dem Worte des Herrn vorgetragen, Berlin [1701] (vorhanden in der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle), S. 2. Ebd. S. 2 f. G. Heiler, Concio inauguralis, Frolockende Krönungs-Predigt, am 18. Januarii 1701 uber die Text-Worte I. Reg. I. v. 38,39, Gott zu Ehren, und dem Allerdurchlauchtigsten Großmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friderich, König in Preussen, Marggraffen zu Brandenburg [...], Stargardt [1701] (vorhanden in der Staatsbibliothek Berlin Unter den Linden) S. 13. Voltaire, »Über die Toleranz; Veranlasst durch die Hinrichtung des Johann Calas im Jahre 1762«, in: I. Gilcher-Holtey (Hrsg.), Voltaire. Die Affäre Calas, Berlin 2010, S. 111–247, hier S. 113. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Criminalia 5266 (1741). Beccaria, Verbrechen (o. Anm. 12), S. 2; im Original (C. Beccaria, Dei Delitti e delle Pene, Milano 1997, S. 57): »La rivelazione, la legge naturale, le convenzioni fattizie della società.« Alle Zitate Beccaria, Verbrechen (o. Anm. 12), S. 11; im Original (Beccaria, Dei Delitti [o. Anm. 33], S. 66): »nemmeno intendo quell’altra sorta di giustizia che è emanata da Dio«. Iustitia i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 189
35 W.X.A. Freiherr von Kreittmayr, Compendium Codicis Bavarici (1768), ND München 1990, S. 3. 36 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, hrsg. von H. Hattenhauer, Berlin 31996, Art. 3, S. 42. 37 Allgemeines Landrecht (o. Anm. 36), Art. 7, S. 43. 38 So fehlen die Begriffe »gerecht« und »Gerechtigkeit« auch im ausführlichen Sachregister bei Ernst F. Klein, Grundsätze des Gemeinen Deutschen und Preußischen Peinlichen Rechts, 1796 (ND 1996). 39 Voltaire, Über die Toleranz (o. Anm. 31), S. 113; vgl. aber Dictionnaire de la pensée de Voltaire par lui-même, hrsg. von A. Versaille, Bruxelles 1994, S. 720 ff. 40 K. Grolmann, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der deutschen Criminalgesetze, Gießen 1798 (ND Glashütten 1970), S. 9 und 12. 41 Alle Zitate Feuerbach, Revision (o. Anm. 13), S. XXV. 42 Rawls, Theorie (o. Anm. 1), S. 79. 43 Peinliche Gerichtsordnung (o. Anm. 3), Art. 63, S. 53: »Von vnbekanten zeugen«; diese sollen »redlich vnd vnuerleumbt« sein; die Strafgesetzbücher des 18. Jahrhunderts enthalten ähnliche Bestimmungen; vgl. zum Ruf bzw. Leumund A. Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien 2000, S. 164 ff.; K. Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, Frankfurt a. M. 2005, S. 492. 44 U. Gleixner, ›Das Mensch‹ und ›der Kerl‹. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760), Frankfurt a. M. 1994; J. Eibach, »Männer vor Gericht – Frauen vor Gericht«, in: Ch. Roll u.a. (Hgg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2010, S. 559–572. 45 A. Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz, Paderborn 2002, S. 135 ff. 46 Zit. nach Ignor, Geschichte (o. Anm. 45), S. 131. Die Vorrede der Kriminalordnung von Hannover übernahm 1736 diese Formulierung. 47 Vgl. Ignor, Geschichte (o. Anm. 45), S. 211 ff. 48 Beccaria, Verbrechen (o. Anm. 12), S. 48 ff. 49 Vgl. die Definition von ›formaler Gerechtigkeit‹ bei Rawls, Theorie (o. Anm. 1), S. 78–81.
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Friedrich Wilhelm Graf
EINLEITUNG: GERECHT 1827 veröffentlicht Wilhelm Traugott Krug, der Nachfolger Immanuel Kants auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Albertus-Universität zu Königsberg und später dann Ordinarius für Philosophie an der Leipziger Universität, in vier Bänden ein Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Krug, philosophisch ein sog. Spätrationalist und politisch ein Frühliberaler, der für Rechtsstaat und starke Bürgerrechte eintritt, bietet im Zweiten Band auch einen Artikel über »gerecht« sowie einen eigenen Artikel über »Gerechtigkeits-Pflege«. »Gerecht ist soviel als gemäß dem Rechte oder überhaupt angemessen.« Krug betont die hohe Vieldeutigkeit und Interpretationsoffenheit des Begriffs. Zunächst weist er auf eine alltagssprachliche Bedeutung hin: »Denn selbst von einem Kleide sagt man, daß es gerecht sei, wenn es für den Körper dessen passt, der es tragen will oder soll«. Streng genommen sei der Begriff allerdings auf »menschliche Handlungen« und deren Subjekt, den Menschen als moralischen Akteur zu beziehen. Krug unterscheidet nicht allein »äußere und innere Gerechtigkeit«, sondern hebt auch einen juridischen Begriffsgebrauch von einem allgemeinen ethischen Gehalt des Begriffs ab. »Die bekannte Erklärung: Gerechtigkeit ist diejenige Handlungsweise, welche jedem das Seine giebt (quae suum cuique tribuit) d.h. welche das Recht eines Jeden achtet, nimmt den Begriff bloß juridisch.« Für diese rein rechtliche »Gerechtigkeit« sei insbesondere »die Rede von der Handhabung der Gerechtigkeit« kennzeichnend. Mit Blick auf Themis, die Göttin der Gerechtigkeit, die von alters her als »Frau mit verbundnen Augen und mit dem Schwerte in der einen Hand und der Wage in der andern Hand« dargestellt wird, sucht Krug sodann zu zeigen, dass juridische Gerechtigkeit unausweichlich durch »Billigkeit« – zu diesem Begriff gibt es dann ebenso wie zu den Begriffen »Recht« und »Unrecht« einen eigenen Artikel – ergänzt werden müsse. Zu Recht werde vom Richter erwartet, dass er unparteiisch und ohne Ansehen der Person Recht spreche oder »die Gerechtigkeit handhabe«. »Weil aber das strenge Recht zuweilen etwas hart ist, so daß es uns auf einem höheren Standpuncte wohl gar als Unrecht d.h. als etwas Unbilliges erscheint: so verlangt man auch, daß der Gerechtigkeit die Billigkeit zur Seite stehe und jene gleichsam mildere oder bessere.« Zugleich verweise Gerechtigkeit nicht allein auf die Unterscheidung von »Billigkeit« und »Unbilligkeit«, sondern auch auf ethische Grundbegriffe wie »Tugend«, »Pflicht«, »Achtung« und »Menschenwürde«. »Nimmt man nun die Gerechtigkeit in jenem bloß juriG e re c ht | 193
dischen Sinne, so ist sie zwar an sich eine lobenswerthe Eigenschaft, jedoch noch keine eigentliche Tugend, wenn sie nicht aus innerer Achtung gegen das Recht überhaupt hervorgeht. Wer aber das Recht überhaupt achtet, wird es in jeder Beziehung achten. Er wird eben so gerecht gegen sich selbst als gegen Andre und umgekehrt sein; und er wird dieß sein aus Achtung gegen die Menschenwürde oder die Vernünftige Natur des Menschen im Allgemeinen, woraus am Ende alle Pflichten hervorgehn.« Genau hier, beim Rekurs auf die Vernunftnatur des Menschen bzw. die Menschenwürde, weist für Krug der rein juridische Gerechtigkeitsbegriff über sich hinaus zur allgemeinen »Gerechtigkeit« der praktischen Vernunft. »Daher kommt nun die höhere oder ethische Bedeutung des W.[ortes] Gerechtigkeit, wo man eine wirkliche Tugend darunter versteht, und zwar diejenige, welche aus Achtung gegen die Menschenwürde alles vermeidet, was den Zwecken der Vernunft in und außer uns Abbruch thun könnte. Diese Gerechtigkeit, die die Moralisten zu den vier Cardinaltugenden [...] zählen, hat nun die Billigkeit von selbst in ihrem Gefolge. Denn nie wird der, welcher diese Gerechtigkeit hat oder übt, sich erlauben, auf seinem strengen Rechte zu bestehn, wenn er dadurch Andre unglücklich machen würde, wie der harte Gläubiger seinem bedrängten Schuldner.« Mit Blick auf den Begriffsgebrauch der Stoiker verweist Krug sodann auf jene alteuropäische Überlieferung, die den Begriff der Gerechtigkeit »im weitesten Sinne zuweilen für Tugend überhaupt« gebrauchte. Zudem stehe »Gerechtigkeit« im Neuen Testament »oft [...] für sittliche Vollkommenheit«. Als theologischer Begriff, speziell in der Lehre von den Eigenschaften Gottes, in der iustitia »analogisch« als Attribut Gottes gedacht werde, gewinne »Gerechtigkeit« erneut einen ganz eigenen Gehalt: »In dieser Beziehung kann man auch sagen, die Gerechtigkeit sei das Gesetz der Gesetze und die Gebieterin aller Gebietenden«. Damit ist Krugs Interesse an prägnanter Fassung des Begriffs und dessen innerer Differenzierung aber noch nicht erschöpft. Über die skizzierten Distinktionen hinaus müsse man »die Gerechtigkeit« noch strikt von den vielen »Gerechtigkeiten« unterscheiden: »Ist von Gerechtigkeiten die Rede, so versteht man darunter nichts anders als Rechte, besonders solche, die einer Person vor andern zukommen, also Vorrechte, die aber doch zuweilen Unrechte sind«. Auch wer Krugs teils aristotelisch – etwa in der Verknüpfung von Gerechtigkeit und Billigkeit – inspirierten, teils an Kant orientierten Fassungen des Begriffs und speziell seinen Unterscheidungen nicht zu folgen vermag, kann erkennen: Gerechtigkeit ist für ihn ein überaus voraussetzungsreicher, schnell in elementare Probleme führender Begriff. Indem der Kantianer Krug auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles verweist, gibt er zudem zu erkennen: Der Streit darum, was denn wirklich »gerecht« sei, wird keineswegs erst in der Gegenwart geführt, sondern prägt Gerechtigkeitsdiskurse schon in der Antike.
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In der Moderne seit 1800 haben sich die Kontroversen um die Auslegung des Begriffs vielfältig verschärft. Dazu trägt zunächst bei, dass ›Gerechtigkeit‹ schon seit der Antike in ganz unterschiedlichen diskursiven Kontexten verhandelt wurde. ›Gerechtigkeit‹ war und ist immer auch ein zentrales Symbol religiöser Sprache, und dies sowohl im Judentum als auch im Christentum und Islam. Kaum ein heiliger Text in den drei großen monotheistischen Religionen, in dem nicht von der ›Gerechtigkeit Gottes‹ die Rede ist oder von den Frommen ein ›gerechter‹, gottwohlgefälliger Lebenswandel eingeklagt wird. »Der Herr hat Gerechtigkeit lieb«, heißt es in den Psalmen, und »wer Gerechtigkeit sät, hat sicheren Lohn«. Die »Sonne der Gerechtigkeit« kann in der Hebräischen Bibel zugleich eschatologisch vorgestellt werden, eng verknüpft mit der Vorstellung vom göttlichen Weltenrichter, der dereinst, am Ende der Zeiten, »den ganzen Erdkreis«, alles Geschaffene, speziell seine »Menschenkinder« in Gerechtigkeit richten werde. Auch kann das »Reich Gottes« im Alten wie im Neuen Testament imaginiert werden als unbegrenzte Gerechtigkeit, die jedem das Seine gewährt und die Menschen »umschafft« nach dem Bilde Gottes »in wahrer Gerechtigkeit«. Der gnädige Gott des Paulus gewährt jene »Gerechtigkeit allein aus Glauben«, die keinerlei Werke zur Bedingung hat, und bietet auch dem sündhaft auf sich selbst Fixierten die »Krone der Gerechtigkeit«. Diese starken, aber zugleich interpretationsoffenen religiösen Vorstellungen prägten in vielfältiger assoziativer Verknüpfung mit Gerechtigkeitsvorstellungen der antiken Philosophie, von Platon und Aristoteles bis hin zu den Stoikern, Konzepte gerechter Herrschaft, wie sie von den Kirchenvätern, besonders folgenreich von Augustin, entwickelt wurden. Gerade wegen der religiösen Gehalte der ›Gerechtigkeit‹ wurde sie zu einem Grundbegriff in den alteuropäischen Debatten um eine gute politische Ordnung und die Legitimation der Machtausübung einer Obrigkeit, die Frieden sichern und dem bonum commune, dem gemeinen Wohl aller dienen soll. Auch prägten religiöse Ideale der guten, an Gottes ewigem Gesetz orientierten Lebensführung der ›Gerechten‹ theologische wie philosophische Debatten um Pflicht, Tugend, Sittengesetz und besseres, weil moralisch reflexionsstarkes Leben. Doch ließen sich elementare Spannungen zwischen überschießenden religiösen Gehalten in Gerechtigkeitsvorstellungen und den ethischen Konzepten eines guten Lebens in einem auf Gerechtigkeit hin ausgerichteten Gemeinwesen niemals auflösen. In seinem spezifischen Eigensinn stellt religiöses Bewusstsein sich wahre Gerechtigkeit eben existentieller, ›ganzheitlicher‹, wirklich allumfassender vor als eine ethische Reflexion, die immer auch Grenzen der innerweltlichen Verwirklichung von Gerechtigkeit in den Blick nehmen muss. Der Streit um den Begriff ist insoweit nichts spezifisch Modernes, sondern prägt die Gerechtigkeitsdiskurse seit den Anfängen von Judentum und Christentum.
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Seit der konfessionellen Pluralisierung des lateinischen, westlichen Christentums infolge der reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts haben diese Deutungskämpfe jedoch deutlich an Schärfe gewonnen. Denn seit dem reformatorischen Protest gegen eine kirchliche Heilsanstalt, die nicht nur mit dem sakramentalen Gnadenschatz den Zugang zum Seelenheil des Sünders zu verwalten, sondern in der Orientierung an der lex divina bzw. der lex aeterna zugleich über ein allein ihr erschlossenes Wissen um die wahre, gute Institutionenordnung des weltlichen Lebens zu verfügen beanspruchte, geriet nun das genuin Christliche selbst in den permanenten Streit zwischen den Theologen der konkurrierenden Konfessionskirchen. Auch traten nun, gerade in Reaktion auf die theologisch dauernd umstrittenen und darin fragilen Legitimitätsgrundlagen politischer Ordnung, Philosophen des Politischen und Rechtsgelehrte verstärkt mit dem Anspruch auf, rein rational, gleichsam more geometrico, Institutionen gerechter Herrschaft entwerfen zu können. Wie alle anderen Grundbegriffe der politisch-sozialen Sprache gewinnt der Deutungsstreit um ›die Gerechtigkeit‹ seit der Sattelzeit um 1800 allein schon dadurch an neuer polemischer Intensität, dass nun neben alten Akteuren, etwa den Gelehrten in den Theologischen und Juristischen Fakultäten oder den Philosophen, neue Interessenten sich des Begriffs zu bemächtigen versuchen, d.h. ihre je partikulare Fassung des Begriffs aus legitimem Eigeninteresse zur einzig geltenden, allgemeingültigen zu machen versuchen. Zwar bieten die entscheidend von Reinhart Koselleck inspirierten Geschichtlichen Grundbegriffe keinen eigenen Artikel zur »Gerechtigkeit«. Begriffsgeschichtliche Studien zu den modernen ideenpolitischen wie theologisch-philosophischen und juristischen Kontroversen um den Begriff fehlen. Doch lässt sich, ähnlich wie bei anderen wichtigen politischethischen und religiösen Begriffen, eine doppelte, in sich spannungsreiche Tendenz erkennen: Im politischen Diskurs machen sich seit 1800 ganz unterschiedliche, einander heftig bekämpfende Akteure überkommene Gerechtigkeitsvorstellungen zu eigen, um in den äußerst krisenreichen, teils revolutionären, teils reformerischen Übergängen aus den feudal-ständischen Gemeinwesen hin zur modernen bürgerlichen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft den als ungerecht erlittenen Status quo zu kritisieren und ihren je eigenen Ordnungsentwurf als Schritt hin zur Realisierung einer wirklich ›gerechten Gesellschaft‹ durchzusetzen. Hier wird der Begriff politisch positionell pluralisiert, sodass nun Gerechtigkeit gegen Gerechtigkeit steht. Zur Differenzierung und positionellen Pluralisierung des Begriffs tragen zudem die Gerechtigkeitsdiskurse im Wissenschaftssystem bei. Neben die alteuropäischen Leitwissenschaften Theologie und Philosophie sowie die Jurisprudenz treten nun neue Disziplinen zur Vermessung und idealen Ordnung des Sozialen, die ihrerseits an überkommene Gerechtigkeitssprachen anknüpfen und ihre mehr oder minder sozialutopisch neuen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe über die Reformulierung älterer Gerechtigkeitsvisionen zu legitimieren suchen. In dieser 196 | Fried ric h W il he l m Gra f
disziplinären Pluralisierung der Gerechtigkeit gewinnt diese zunehmend die Gestalt vieler fachspezifischer, besonderer Gerechtigkeiten. Marie Theres Fögen hat am 14. März 2006 bei ihrem Münchner Vortrag über »Das Lied vom Gesetz« – es war einer der intellektuell faszinierendsten Abende, die ich jemals in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung erlebt habe – eine erste Liste der vielen neuen Komposita zur Diskussion gestellt, die diese Spezialisierungsprozesse spiegeln: Beitragsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit, Sachgerechtigkeit, Kostengerechtigkeit, Einzelfallgerechtigkeit, Systemgerechtigkeit, Belastungsgerechtigkeit, Typengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Lohngerechtigkeit und Steuergerechtigkeit. In der sog. »empirischen Gerechtigkeitsforschung« der Soziologen wird zudem, wie der Beitrag von Holger Lengfeld über den Wandel von Gerechtigkeitsvorstellungen in der deutschen Bevölkerung seit Mitte der 1980er Jahre zeigt, zwischen »Belohnungsgerechtigkeit« und »Prinzipiengerechtigkeit« unterschieden. In genau dem Maße, in dem »Gerechtigkeit« wieder zu einem zentralen Thema der Politischen Philosophie geworden ist – dies ist seit John Rawls Theory of Justice der Fall –, gewinnt ›die Gerechtigkeit‹ zunehmend vielerlei Gestalt. Hans Vorländer kann in seinem souveränen Überblick über die neuen normativ orientierten Gerechtigkeitsdebatten denn auch Marie Theres Fögens Liste um weitere Gerechtigkeitskomposita wie »Klimagerechtigkeit«, »Generationengerechtigkeit« und »Ressourcengerechtigkeit« ergänzen. Zu nennen sind auch die »Einkommensgerechtigkeit« und, in demokratisch verfassten und auf Sozialstaatsprinzipien verpflichteten Gesellschaften besonders wichtig, die »Chancengerechtigkeit«. Doch trotz all dieser Versuche zur Spezifizierung der Gerechtigkeit – sie bleibt ein äußerst interpretationsoffener Begriff, der Hoffnungen auf ein ganz anderes, besseres Leben ebenso auszudrücken vermag wie die Kritik an einem Status quo, der, innerhalb Europas wie erst recht mit Blick auf außereuropäische Lagen, als zutiefst ungerecht empfunden wird. Aber die lange Geschichte der vielen Gerechtigkeitsdiskurse lässt auch erkennen, dass subjektiv erlittene Ungerechtigkeit theoretische Sensibilität schärft und die Suche nach einer gerechteren Ordnung des Gemeinwesens stimuliert. Wie diese Suche in der Praxis verläuft, demonstriert Gerhard Amend aus der Sicht des dem Recht – nicht notwendig der Gerechtigkeit – verpflichteten Richters. Die Vielfalt der Vorstellungen des Gerechten und Hoffnungen auf mehr Gerechtigkeit, die sich dabei zeigt, lässt sich nicht nur mit den Mitteln der Sozialwissenschaften empirisch beobachten, sondern prägt auch die modernen Theoriedebatten, in denen Klassiker wie Aristoteles und Kant, Augustin und Thomas in neuen Begriffsmasken ihre Renaissancen feiern. Immer spielen im Streit um die Gerechtigkeit kontroverse Sichtweisen des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft, Gleichheit und Freiheit, Staat und Gesellschaft mit. Das macht die Debattenlage oft unübersichtlich. Doch das Grundproblem bleibt: Die einen beschwören einen für alle geltenden substantiellen Begriff ›guten Lebens‹ in G e re c ht | 197
Gerechtigkeit, den die anderen als nur mehr partikular verbindlich ablehnen und erklären, weshalb sie entschieden auf formale Rationalität zur Begründung einer gerechteren Ordnung setzen. Hier wie dort freilich sucht man an die hohen emotiven Gehalte des Gerechtigkeitsbegriffs anzuknüpfen, also an jene überschießenden Elemente, die, nicht zuletzt aufgrund seiner religiösen Imprägnierung, mindestens implizit mit im Spiel sind, wenn eine Ordnung als ungerecht erlebt (oder erlitten) wird und man deshalb eine gerechtere zu entwerfen sucht.
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Hans Vorländer
GERECHTIGKEITEN IM THEORIEDISKURS DER GEGENWART Gerechtigkeit! War sie ein anbetungswürdiger Begriff ? Ein göttlicher? Ein Begriff ersten Ranges? Gott und Natur waren ungerecht, sie hatten Lieblinge […] Gerechtigkeit war selbstverständlich eine leere Worthülse der Bürgerrhetorik.1 Die Idee der Gerechtigkeit im juristischen Denken [hat] ihre operative Bedeutung und damit ihre Normativität verloren.2 Man muss der Gerechtigkeit gegenüber gerecht sein.3
In seiner hohen Wertigkeit korrespondiert der Gerechtigkeitsbegriff in paradoxer Weise mit seiner frappierenden Unbestimmtheit. Konnte mit der Nikomachischen Ethik von Aristoteles noch zwischen ausgleichender / richtender und verteilender Gerechtigkeit, zwischen iustitia regulativa und iustitia distributiva, unterschieden werden,4 so sorgt die semantische Ubiquität des Gerechtigkeitsbegriffs heute für den Verlust seiner unterscheidbaren Bestimmungen. Kaum ein alltäglicher oder politischer Sachverhalt, dessen streitige Diskursivierung nicht mit der Frage der Gerechtigkeit verbunden würde. Gerechtigkeit wird zu einem catch all-Begriff, einem Containerbegriff, der Aspirationen, Sehnsüchte und Hoffnungen genauso zu transportieren wie Kritik an Verhältnissen zu mobilisieren vermag. Gewiss, Gerechtigkeit ist schon immer ein Kardinalbegriff in den Diskursen der politischen Philosophie gewesen, und er war auch in seinen Bestimmungen nie eindeutig. Platons gesamte politische Philosophie kreist dialogisch um das, was Gerechtigkeit ist, eine »dummedle Gutmütigkeit« etwa oder ein Konzept für eine gute und gerechte politische Ordnung.5 Die heute anzutreffende Semantik der Gerechtigkeitskomposita6 von Beitragsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit, Sachgerechtigkeit, Kostengerechtigkeit, Einzelfallgerechtigkeit, Systemgerechtigkeit, Belastungsgerechtigkeit, Typengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Lohngerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, Generationengerechtigkeit oder Ressourcengerechtigkeit lässt aber den Schluss zu, dass nahezu jeder soziale Tatbestand unter Gerechtigkeitsprätentionen – und Ungerechtigkeitsvermutungen – gestellt wird, folglich seine Ge re cht igke it e n im T he ori e di sku rs de r G e g e nwart | 199
Regulierung als gerecht, vor allem als sozial gerecht im Sinne umverteilender, redistributiver Gerechtigkeit auszuweisen ist. Zudem ist eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten: Einerseits scheint die Gegenwartsmoderne Gerechtigkeiten in den Semantiken ausdifferenzierter und autogenerativer Systemlogiken, vor allem in solchen, die sich der Steuerungsmedien von Macht, Recht und Geld bedienen, verhandeln und abarbeiten zu können. Andererseits hat sich mit den systemischen Gerechtigkeiten der Diskurs um die Gerechtigkeit keineswegs obsolet gemacht, im Gegenteil: Er ist intensiver denn je. Es werden gesamtgesellschaftliche und nun vor allem globale Gerechtigkeitskonzeptionen entworfen, die Teil eines kulturübergreifenden Geltungsdiskurses sozialer und politischer Ordnungen sind. Der Theoriediskurs der Gegenwart rekurriert dabei in den jeweiligen Begründungslogiken auf unterschiedliche – antik-philosophische, liberale, libertäre, kommunitäre, kontraktualistische, utilitaristische u.a. – Bestände. Der Geltungsanspruch dieser Gerechtigkeitstheorien ist universal, deren Gerechtigkeitsprinzipien sind entweder auf Vorstellungen kosmopolitischer Moral, individuelle Rationalitätsannahmen oder auf Kontexte politisch-institutioneller Ordnungen ausgelegt.7 Der Gegenwartsbefund ist mithin ein doppelter: Gerechtigkeitsdiskurse haben sich veralltäglicht, sie ›spielen‹ auf der Ebene von systemischen, bereichsund politikspezifischen Problemlagen, von der Rentenfrage, der Steuersätze über die Gleichstellungsproblematik bis zur Bildungspolitik; sie strukturieren zugleich aber auch die ›großen‹ Fragen nach der Legitimität der sozialen und politischen Ordnung, Gerechtigkeit ist die idée directrice einer guten und zustimmungsfähigen Ordnung. Im ersten Fall kann von Formen und Semantiken prozessualer Gerechtigkeitsbearbeitungen in gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen gesprochen werden, in zweiter Hinsicht wird Gerechtigkeit in den Diskursen um die Geltung der normativen Grundlagen politisch-sozialer Ordnung verhandelt. Dabei ist historisch zu beobachten, dass der umfassende normative Gerechtigkeitsdiskurs seine Bedeutung erst in den letzten vier Jahrzehnten (wieder) gewonnen hat, nachdem zuvor die ›Gerechtigkeiten‹ systemisch kleingearbeitet wurden: im Rechtssystem, welches das Gerechtigkeitsproblem als Frage der guten oder richtigen Gesetzgebung oder der einzelfallangemessenen Entscheidungspraxis in der Rechtsprechung thematisiert; im politischen System, das Politiken im Prozess von Deliberation und Dezision als sozial gerecht auszuweisen hat. Das Gerechtigkeitsthema taucht hier vornehmlich als solches des legalen Verfahrens und/oder der fairen Interessen- und Anspruchsakkomodierung auf. Erst die krisenhafte Differenzerfahrung von Verhältnissen, die als ungerecht wahrgenommenen werden, und umfassende Gerechtigkeitsintuitionen haben den Diskurs um die Gerechtigkeiten wieder in einen Diskurs um die Gerechtigkeit überführt. 200 | Hans Vorlä nd e r
Im Folgenden wird nicht der Anspruch erhoben, den zeitgenössischen Diskurs um die Gerechtigkeiten umfassend analysieren zu wollen. Das wäre angesichts der Vielzahl an Publikationen und der filigranen Ausdifferenzierung von Theorieansätzen eine Herkules-Aufgabe. Hier werden Schlaglichter geworfen auf unterschiedliche Gerechtigkeitsdiskurse und Theorierichtungen, die einerseits eine gewisse Prominenz für sich reklamieren können und andererseits das Diskursfeld zu strukturieren helfen.8
G e re c ht i gke it im D iskurs um die G run dstruktur m o de r n e r G e se ll sc haft e n Die Renaissance umfassender Gerechtigkeitstheorien ist 1971 eingeleitet worden. Zentral ist hier das Werk von John Rawls A Theory of Justice.9 In Rezeption, Kritik und Weiterentwicklung der Rawlsschen Theorie – zum Teil auch durch ihn selbst10 – hat sich das zeitgenössische Diskursfeld weiter strukturiert: in kontraktualistische, kommunitaristische und aristotelische Ansätze, die in ihren Folgerungen, was als Grundsätze der Gerechtigkeit gefasst werden kann, keineswegs so weit auseinander liegen, wie die partiell differierenden Theoriekonstruktionen vermuten lassen (sieht man einmal von libertären Varianten ab).11 Für den deutschsprachigen Theoriekontext bedeutsam ist sicherlich auch die diskurstheoretische Gerechtigkeitskonzeption von Jürgen Habermas, die dieser dann 1992 in Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates vorlegte.12 Habermas und – der späte – John Rawls liegen ebenfalls nicht weit auseinander.13 Bestimmend für die internationale, nunmehr: globale Diskussion aber ist allein John Rawls’ Konzeption geworden. Kennzeichen der Renaissance gegenwartsmoderner Gerechtigkeitstheorien ist ihr umfassender Anspruch. Das wird an John Rawls’ Theorie besonders deutlich. Es ist eine Theorie, die auf die Grundstruktur moderner Gesellschaften abzielt. Unter der Grundstruktur einer Gesellschaft versteht Rawls die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft, denen eine außerordentliche Rolle bei der Verteilung von Lebenschancen zukommt.14 Zur Grundstruktur einer Gesellschaft gehören die in der Verfassung festgehaltenen Grundrechte und -freiheiten, die Eigentums- und Wirtschaftsordnung und sogar die Familiengesetze. Im Ergebnis definiert Rawls zwei Grundsätze der Gerechtigkeit:15 1. Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.
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2. Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) Sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen (Differenzprinzip). Rawls versucht mit seinen beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen das Problem von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu lösen. Vor allem in der amerikanischen Gesellschaft, aber nicht nur dort, war Ungleichheit zu einem sozialen Problem geworden. Auch die Benachteiligung von Minderheiten hatte soziale Bewegungen initiiert, die nunmehr auf den verfassungsmäßig garantierten, politisch jedoch nicht eingelösten Versprechen rechtlicher, politischer und sozialer Gleichbehandlung bestanden. Rawls’ großer Theorieentwurf muss als Antwort auf diese Problemlagen verstanden werden. Dementsprechend sollen seine zwei Gerechtigkeitsprinzipien als Leitlinien dienen, wie die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft die beiden grundlegenden Werte von Freiheit und Gleichheit miteinander vereinbaren kann. Die Grundstruktur muss danach so verfasst sein, dass sie moralisch handelnden Bürgern eine faire Chance zur Teilhabe an den Grundgütern einräumt, und dies unabhängig von ihrer tatsächlichen sozialen Position in der Gesellschaft. Rawls’ Lösung lautet: Eine Gesellschaft, in der Statuspositionen ungleich verteilt sind, muss, damit sie überhaupt gerechtfertigt werden kann, eine institutionelle Grundstruktur aufweisen, die den beiden Gerechtigkeitsprinzipien entspricht. Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien regulieren die Verteilung der grundlegenden sozialen Güter einer Gemeinschaft. Diese sind »Dinge, von denen man annimmt, dass sie ein vernünftiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst noch haben möchte«16. Die zentralen Arten gesellschaftlicher Grundgüter sind dementsprechend Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen. Das erste Gerechtigkeitsprinzip ist eine Verteilungsregel für die nichtmateriellen Güter, wie sie in Rechten und Freiheiten bestehen. Das zweite Prinzip wiederum ist eine Verteilungsregel für die materiellen Güter und Werte, wie sie Eigentum, Position und Einkommen betreffen. Dem ersten Gerechtigkeitsprinzip kommt nach Rawls eine Priorität gegenüber dem zweiten zu. Mit seinem zweiten Prinzip geht Rawls jedoch über jene individualliberalen Positionen des frühen Kontraktualismus, beispielsweise eines Lockes,17 auch über eine liberale Gerechtigkeitstheorie, wie sie Hayek vorgeschlagen hat,18 weit hinaus, weil er es als eine Frage der Gerechtigkeit betrachtet, wie eine Gemeinschaft mit sozialer Ungleichheit umgeht. Gerechtigkeitsprinzipien sind also nicht allein auf den Austausch von Individuen bezogene Regeln der wechselseitigen Nutzenerzielung, sie sind Verteilungsregeln 202 | Hans Vorlä nd e r
gesellschaftlicher Grundgüter angesichts sozialer Ungleichheit. Danach muss also, erstens, jedermann, somit auch die sozial und ökonomisch benachteiligten Mitglieder einer Gesellschaft, die Möglichkeit besitzen, alle Ämter und Positionen zu besetzen und alle Rechte und Freiheiten beanspruchen zu können. Rawls’ Prinzip der fairen Chancengleichheit besagt, dass Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten ähnliche Lebenschancen haben sollten, das heißt im Umkehrschluss auch, dass Menschen mit nicht-ähnlichen Fähigkeiten notwendigerweise nicht-ähnliche Lebenschancen erhalten werden. Darüber hinaus, zweitens, muss es den am schlechtesten gestellten Mitgliedern der Gesellschaft möglich sein, ihre soziale Position zu verbessern. Daran müssen sich die Grundstrukturen und die Politiken einer sozialen politischen Gemeinschaft ausweisen. Im Unterschied also zu den liberalen oder libertären Gerechtigkeitstheorien besteht Rawls auf der Einsicht, dass eine spontane, allein durch das Handeln von autonomen Individuen zustande gekommene Ordnung keineswegs, wegen der entstehenden Ungleichheiten, als gerecht oder fair anzusehen ist. Rawls revidiert das klassische liberale Paradigma, weil er nunmehr das Problem sozialer Ungleichheit zu einem der fundamentalen Gerechtigkeitsprobleme moderner Gesellschaften erklärt. Rawls Begründungszusammenhang, sein auf entscheidungs- und spieltheoretischen Grundannahmen beruhender Gesellschaftsvertrag, nimmt zwar einen individualistischen Ausgang, aber zugleich sieht er die Grundordnung einer Gesellschaft nur dann als gerechtfertigt und legitim an, wenn sie ein faires Maß an Grundgütern für alle gewährleistet. Rawls hat damit zu einer Konzeption von Gerechtigkeit gefunden, die Freiheit und soziale Gleichheit in einem System von Rechten und Grundgütern miteinander vereinbar macht. Rawls’ Theorie stellt ein grand design für eine auf Individualrechten basierende Gesellschaft dar, die das Problem der sozialen Ungleichheit und der ungleich gewährleisteten Rechtspositionen durch Maßnahmen moderater Umverteilung zum Zwecke tatsächlicher Chancengleichheit und Statusverbesserung bearbeitet. Rawls’ Entwurf konnte als Blaupause des modernen Sozialstaates gelesen werden. Rawls’ Konzeption ist eine solche der individuellen Rechte. Sein individualistischer Ausgang hat Rawls Kritik von den Kommunitaristen eingetragen,19 sein sozialliberales, auf moderate Umverteilung setzendes Differenzprinzip ist auf die Kritik libertärer Positionen gestoßen.20 Während letztere eine weitaus geringere Resonanz erfahren hat, hat die kommunitaristische Kritik vor allem zur Weiterentwicklung der Rawlsschen Position beigetragen. Der Kommunitarismus hatte den Individualismus der Rawlsschen Konzeption in Frage gestellt, dem die Gemeinschaft als konstitutives Moment von Gerechtigkeitsüberlegungen gegenübergestellt wurde. Kommunitaristen bestanden auf der Vorrangigkeit gemeinschaftlich begründeter Vorstellungen des Guten als Grundlage von Gerechtigkeit, während Rawls seine Gerechtigkeitsprinzipien aus kontraktualistischen Annahmen über RechtspositiGe re cht igke it e n im T he ori e di sku rs de r G e g e nwart | 203
onen des Einzelnen entwickelt hatte. Was das Individuum dem Anderen schuldet, ist bei den Kommunitaristen Teil eines ethisch-moralischen Verpflichtungszusammenhangs, den erst die Gemeinschaft der Bürger ausbildet. Rawls hingegen lässt seine Gerechtigkeitsprinzipien aus der rationalen Überlegung autonomer, moralisch handelnder Personen erwachsen, die ihre individuellen Grundbedürfnisse kennen21 und eine für alle notwendige, »faire« Verteilungsregel für gemeinschaftliche Grundgüter definieren. Der Streit zwischen kommunitaristischen und liberalen Positionen hat bis in die 1990er Jahre hinein die gerechtigkeitstheoretische Diskussion bestimmt, ohne in der Sache zu neuen Ergebnissen zu führen. Im Grunde hat sich Rawls’ Ansatz durchsetzen können, wenngleich er sich in seinen Begründungszusammenhängen auf kommunitaristische Überlegungen hat einlassen müssen. So arbeitete er heraus, dass seine Gerechtigkeitsprinzipien auch für einen overlapping consensus unterschiedlicher Konzeptionen des Guten zustimmungsfähig sein müssen, ja durch ihn erst ihre fortwährende Geltung in einer auf soziale Kooperation beruhenden politischen Gemeinschaft erfahren. Schon 1984 hatte er klargestellt, dass justice as fairness eine politische, keine metaphysische Konzeption sei. Im Grunde war schon bei genauer historisch-kontextueller Lektüre der 1971 erschienenen Theory of Justice erkennbar, dass es sich bei Rawls’ großangelegter Gerechtigkeitstheorie um eine hermeneutisch-rekonstruktive Selbstexplikation der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung handelte. Ihr kontraktualistischer Begründungsgang hob sie zugleich als ein Gerechtigkeitsmodell westlicher, demokratischer und rechtstaatlich verfasster Gesellschaften heraus und verlieh ihr einen normativen Rang, der sie theoretisch wie politisch nachhaltig attraktiv machte. In der Auseinandersetzung mit Rawls haben sich weitere Abschattierungen des Rawlsschen kontraktualistischen Begründungsansatzes ergeben, die entweder in Richtung eines liberalen oder eines egalitären Kontraktualismus ausgelegt werden können.22 Ethische wie kontextorientierte Varianten (Scanlon, Walzer),23 auch Entwürfe im utilitaristischen Paradigma,24 haben jedoch kaum die Diskussion so maßgeblich beeinflussen und prägen können, wie es Rawls getan hat. Rawls war, ist und bleibt der zentrale Referenzpunkt im zeitgenössischen Diskursfeld der Gerechtigkeiten.
Ge re c ht igke it im Diskurs um m e nschli che Gr un dbe dürf nisse Eine Ausnahme davon bildet ein neo-aristotelischer Ansatz, der sich in der Auseinandersetzung mit Rawls herausgebildet und sich deutlich auch von Rawls abgesetzt hat, wenngleich er sich im Ergebnis selbst auch zu den liberalen Gerechtigkeitsthe204 | Hans Vorlä nd e r
orien rechnet. Es handelt sich hierbei um den sog. capabilities approach (Fähigkeitenansatz), der in seiner ökonomietheoretischen Variante von Amartya Sen und in seiner philosophischen Variante von Martha C. Nussbaum entwickelt worden ist.25 Sens Absicht ist es vor allem, die Gerechtigkeitsdimension von den Parametern Vermögen und Einkommen abzukoppeln und über Fähigkeiten und Tätigkeiten des Menschen neu zu bestimmen, denn für Sen ist eine faire Verteilung von Grundgütern keine Garantie für eine substantielle Form der Gleichheit.26 Martha Nussbaum setzt sich mit den Monita und Desiderata der prozeduralistischen Gerechtigkeitstheorie, zu der Rawls gezählt wird, kritisch auseinander und versucht, ähnlich wie Sen, eine Gerechtigkeitstheorie zu entfalten, die die Fähigkeiten des Menschen über eine interkulturell gewonnene »Liste von Grundfähigkeiten« bestimmt, die Ausdruck menschlicher Würde sei und den Kern grundrechtlich verbürgter Menschenrechte darstelle. Dabei knüpft Nussbaum an die aristotelische Bestimmung des »guten Lebens« und an Hugo Grotius’ naturrechtliche Bestimmung der Würde an. Nussbaums Gerechtigkeitstheorie ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie den Gerechtigkeitsdiskurs in gegenwartsbezogene Problemdimensionen erweitert. Sie argumentiert, dass es in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie drei ungelöste Probleme gebe.27 Rawls’ individualistisch-kontraktualistischer Ausgang setze voraus, dass die Menschen unabhängig, frei und gleich seien. Diese im Übrigen auf Humes’ Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit zurückgehenden Annahmen seien konstitutiv für die Konstruktion seines Überlegungsgleichgewichtes, welches das entscheidende Medium der Gewinnung der Gerechtigkeitsgrundsätze ist. Dagegen argumentiert Nussbaum, dass eine Gerechtigkeitstheorie des kontraktualistischen Paradigmas nicht das Problem adressiere, wie wir Menschen mit Behinderungen begegnen und was wir ihnen schulden. Behinderungen stellen eine faktische Ungleichheit dar. Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie weiß keinen Grundsatz anzugeben, der dies in Rechnung stellt. Behinderte sind, so Nussbaum, keine »lebenslang uneingeschränkt kooperativen Gesellschaftsmitglieder«,28 von denen aber Rawls ausgehe und für die er die Gerechtigkeitsgrundsätze etabliere. Auch die gegenseitigen Vorteile als Zweck der sozialen Kooperation seien nicht wirklich auf den Kontext behinderter Menschen anwendbar. Hingegen, so Nussbaum, muss das Nachdenken über grundlegende Prinzipien von einer Vorstellung des Menschen als Wesen ausgehen, dem Würde und moralischer Wert zukommt. Der zweite Einwand von Nussbaum bezieht sich darauf, dass die gerechtigkeitstheoretische Annahme, der Mensch sei ein animal rationale, immer nur im Hinblick auf die Rationalität, aber nicht auf die Spezieszugehörigkeit des Menschen als Tier hin ausgelegt werde. Deshalb seien Gerechtigkeitstheorien blind gegenüber dem Begriff von Würde und der Konzeption von Rechten gegenüber menschlichen Mitgeschöpfen. Schließlich, drittens, haben kontraktualistische GeGe re cht igke it e n im T he ori e di sku rs de r G e g e nwart | 205
rechtigkeitstheorien enorme Schwierigkeiten, das Problem transnationaler oder globaler Gerechtigkeit zu bestimmen. Ungleichheiten von Reichtum und Armut, Probleme der Klima- und Umweltpolitik, ungleiche Verteilung von Ressourcen und Lebensmitteln etc. stellen Differenzerfahrungen zu einer globalen Gerechtigkeitsintuition dar; klassische, kontraktualistische, individualistische und prozeduralistische Theorien der Gerechtigkeit aber hätten keine Antwort darauf. Die Kontingenz der Herkunft und der nationalen Zugehörigkeit werde von solchen gerechtigkeitstheoretischen Annahmen wie Unabhängigkeit, Freiheit und Gleichheit ignoriert. Wo Amartya Sen, der in seiner Kritik ganz ähnlich verfährt, wenngleich er stärker politisch und ökonomisch argumentiert, nunmehr die vergleichende Messung von Lebensqualität in den Mittelpunkt seiner Gerechtigkeitstheorie stellt,29 geht es Martha Nussbaum um die philosophischen Grundlagen einer Theorie grundlegender menschlicher Ansprüche, die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes absolutes Minimum geachtet und umgesetzt werden sollten.30 Sie ist davon überzeugt, dass sich die Idee eines basalen sozialen Minimums am besten von einem Ansatz umsetzen lässt, der menschliche Fähigkeiten – »was die Menschen tatsächlich tun und zu tun in der Lage sind« – in den Mittelpunkt stellt und der von der intuitiven Idee eines der Menschenwürde gemäßen Lebens ausgeht.31 Sie schlägt deshalb eine »Liste wesentlicher menschlicher Fähigkeiten« vor, die ihres Erachtens alle in der Idee eines menschenwürdigen Lebens enthalten sind. Damit ist eine Alternative zugleich zu ökonomisch-utilitaristischen Theorien entwickelt wie auch zu den kontraktualistisch-prozeduralistischen Theorien, wie sie John Rawls vertritt. Die Liste zentraler menschlicher Fähigkeiten umfasst:32 1. Leben; 2. körperliche Gesundheit; 3. körperliche Integrität; 4. die Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlussfolgern; 5. Gefühle; 6. praktische Vernunft; 7. Zugehörigkeit; 8. Anteilnahme an anderen Spezies; 9. Spiel; 10. Kontrolle über die eigene Umwelt (politisch/inhaltlich). Nussbaum ist überzeugt, dass eine solche Liste zentraler menschlicher Fähigkeiten eine breite kulturübergreifende Zustimmung finden kann. Zudem handele es sich dabei um eine Variante des Menschenrechtsansatzes. Damit ist der Fähigkeitenansatz »im vollen Sinne universell«,33 die Normen sind kulturübergreifend, zugleich achten sie den Pluralismus. Die Liste wird von ihr als offen und abstrakt und als politisch begründbar bezeichnet: Sie kommt ohne eine Fundierung in metaphysischen Ideen aus.34 An anderer Stelle hat Nussbaum ihren Fähigkeitenansatz auch als eine »starke vage Konzeption« bezeichnet.35 Vage nennt sie ihren Ansatz insofern, als es sich hierbei nicht um eine umfassende moralische Lehre, sondern »nur« um eine politische Theorie elementarer Ansprüche handelt. Er führe einige notwendige Bedingungen für eine annähernde 206 | Hans Vorlä nd e r
gerechte Gesellschaft auf, und zwar in Form einer Liste der grundlegenden Ansprüche aller Bürgerinnen und Bürger.36 Wenn diese Ansprüche nicht gewährleistet seien, hätten wir es mit einer besonders schweren Verletzung der elementaren Gerechtigkeit zu tun, »weil sie als in den Ideen der Menschenwürde und des menschenwürdigen Lebens selbst enthalten aufgefasst werden«.37 Eine solche Fähigkeitenliste könnte in einer Liste verfassungsmäßig verbürgter Ansprüche zum Ausdruck gebracht werden, und zwar kulturübergreifend, so etwa gleichermaßen in den Grundrechten der indischen Verfassung wie in der Bill of Rights der USamerikanischen Verfassung. Die Ansprüche würden dann im Rahmen von Gesetzgebung und Rechtsprechung umgesetzt. Der Liste liege ausdrücklich eine intuitive Idee zugrunde, nämlich die Idee der Menschenwürde, die bereits als Grundlage der Verfassungsordnung zahlreicher Staaten fungiere (Indien, Deutschland, Südafrika). Die Konkretisierung ist juristischer Auslegung und gesetzgeberischer Tätigkeit überantwortet. Mit dem Verweis auf die verfassungsstrukturellen Grundlagen wird deutlich, dass es sich auch bei Nussbaums Gerechtigkeitskonzeption, ähnlich wie bei Rawls, um eine Theorie gesellschaftlicher Grundgüter handelt, die aber nicht auf dem Wege einer individualistischen und kontraktualistisch begründeten Theorie gewonnen, sondern aus den alle Kulturen übergreifenden Vorstellungen guten Lebens und moralischer Intuition ›geschöpft‹ ist. Nussbaums Gerechtigkeitskonzeption vermeidet abstrakte Theoriekonstruktion, sie legt das Fundament in intuitiven Grundüberzeugungen vom guten Leben und der Würde von Lebewesen an. Das sind indes hoch normative Prämissen, deren Geltung behauptet, aber kaum im Verweis auf universelle, verfassungsrechtliche Verbürgungen faktisch untersetzt werden können. Der Charme ihrer Konzeption besteht darin, dass sie die Frage der Gerechtigkeit auf die gesamte Liste der Grundfähigkeiten des Menschen, vom Leben über die Gefühle bis zum Spiel, erstreckt und diese damit all inclusive gerechtigkeitsdiskursfähig werden lässt. Der Vorteil wird indes durch den Nachteil erkauft, nahezu jeden Diskurs unter Gerechtigkeitsrechtfertigung setzen zu müssen. Wie soll beispielsweise eine politisch-soziale Ordnung die Fähigkeiten unterstützen und fördern, »zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und berechtigten Zorn zu fühlen«38 oder »zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen«?39 Ein weiterer Einwand tritt hinzu: Eine kulturübergreifende Gerechtigkeitstheorie, wie sie Nussbaum vorgelegt hat, entkoppelt sich in ihrer normativen und globalistischen Stoßrichtung von einem spezifischen Kontext, durch den die Begründung erst möglich und die Implementation denkbar wird.40 Denn zum einen ist es fraglich, dass ein globaler Diskurs zu ein und derselben Liste von Fähigkeiten führt, zumal die Vorstellungen guten Lebens aufgrund unterschiedlicher historischer, kultureller, ökonomischer und politischer Entwicklungen stark divergieren. Und zum anderen bleibt in Nussbaums Konzeption völlig offen, wer Ge re cht igke it e n im T he ori e di sku rs de r G e g e nwart | 207
ihre Gerechtigkeitsprinzipien formuliert, umsetzt, über ihre Einhaltung wacht und gegebenenfalls Verletzungen sanktioniert.
Ge re c ht igke it im Diskurs um die g lobale Ordnung Nussbaums Theorie gehört zu jenen Diskursen um transnationale oder globale Gerechtigkeit, die in den letzten zwei Jahrzehnten das Bild der Gerechtigkeitsdiskussion zunehmend bestimmt haben. Traditionellerweise sind Fragen der internationalen Gerechtigkeit als Fragen von Krieg und Frieden behandelt worden, so als ius ad oder ius in bellum. Auch hatte Thomas Hobbes das Paradigma vorgegeben, wonach sich das Verhältnis der Staaten zueinander als ein bloßer Naturzustand verstehen ließ, der nicht einfach mittels Verträgen in einen internationalen Rechtszustand zu überführen ist. Einzig ein internationaler Vertrag hätte eine übergeordnete Gewalt autorisieren können, das war aber weitgehend für unrealistisch oder gefährlich gehalten worden. Letztlich galt für Hobbes: extra rempublicam nulla iustitia. »Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit.«41 Erfahrung und Beobachtung einer »Welt voller Ungleichheiten«42 werden jedoch in den letzten zwei, drei Jahrzehnten als Problem der Gerechtigkeitstheorie thematisiert, globale Ungleichheit wird intuitiv als ungerecht empfunden. Das seit den späten 1970er Jahren wachsende Interesse für Theorien der globalen Gerechtigkeit lässt sich sowohl theorieimmanent als auch vor dem Hintergrund politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ereignisse erklären. Globalisierung bedeutet in diesem Kontext die Entfaltung eines Diskurses globaler Gerechtigkeit, der machtpolitische, ökonomische und soziale Asymmetrien in der Verteilung von Ressourcen, Chancen und Macht adressiert und Prinzipien zu begründen sucht, nach denen Ungleichheit nach Grundsätzen einer allgemein zustimmungsfähigen globalen distributiven Gerechtigkeitstheorie aufgehoben werden kann. Die ersten Anstöße zu Forschungen im Bereich der globalen Gerechtigkeit kamen aus den Reihen der Anhänger von Rawls. Brian Barry,43 Charles Beitz44 und Thomas Pogge45 haben Rawls’ Gerechtigkeitstheorie in strenger Orientierung an den methodischen Vorgaben des moralischen Individualismus zu einer kosmopolitischen Gerechtigkeitstheorie umgebaut. Sie vertreten die Ansicht, dass nationale Grenzen und Nationalitäten – moralisch gesehen – willkürliche Faktoren sind, die keine Rolle bei der Verteilung von globalen Grundgütern spielen dürfen. Für sie ist es daher nur konsequent, wenn Rawls’ Urzustand die Gesamtheit der Weltbevölkerung umfasst und das Differenzprinzip auf die ›globale Ordnung‹ angewandt wird.46 Für die Globalisierung von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie sprechen freilich nicht nur theoretische, sondern auch empirische Gründe. Aufgrund der zuneh208 | Hans Vorlä nd e r
menden weltweiten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verflechtungen erscheint Rawls idealtypische Vorstellung der Staaten als ›geschlossene Systeme‹, die wir im Gegensatz zu freien Vereinigungen mit der Geburt betreten und nur durch den Tod verlassen, unrealistisch. Zudem tragen Migration und die Verbreitung elektronischer Medien zu einer breiteren Wahrnehmung von Armut und Menschenrechtsverletzungen bei oder, mit Kant gesprochen, sie ermöglichen, dass »die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird«.47 In den Diskursen um globale Gerechtigkeit lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden, zum einen der gerechtigkeitstheoretische Kosmopolitismus,48 zum anderen der gerechtigkeitstheoretische Partikularismus.49 Der Erste geht von einem moralischen Universalismus aus, gründet methodisch auf dem Individualismus und vertritt normativ eine bestimmte Version politischer globaler Herrschaft, die vor allem dazu dienen soll, bestehende Strukturen globaler Herrschaft zu reformieren und globale Gerechtigkeit sichernde Institutionen neu einzurichten. Der gerechtigkeitstheoretische Partikularismus hingegen verteidigt normativ die partikularistische Prioritätsthese, wonach im Fall konfligierender nationaler und globaler Hilfspflichten die eigenen Mitbürger Vorrang genießen. Die Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wird mit Blick auf besondere Beziehungsformen konzeptualisiert; sie betreffen entweder die Mitglieder desselben Staates, derselben Nation, derselben Gemeinschaft oder einer bestimmten Machtordnung. Geschlussfolgert wird daraus, dass es auf globaler Ebene keine globalen Gerechtigkeitsprinzipien, vor allem aber keine staatsanaloge Form globaler Herrschaft und Souveränität geben kann, auf deren Grundlage Gerechtigkeitsforderungen in globale Grundstrukturen institutionell umgesetzt werden können. Im gerechtigkeitstheoretischen Kosmopolitismus stellt sich die Frage, ob die Gerechtigkeitskonzeption politisch oder moralisch ist. Der Unterschied bemisst sich danach, ob auf eine politische Institutionalisierung von Gerechtigkeitsprinzipien abgestellt wird, die sich dann in den Institutionen einer global geordneten, demokratisch legitimierten Herrschafts- und Institutionenordnung abbildet, oder ob es moralische Grundsätze, menschliche Grundbedürfnisse und interkulturell bestimmbare Fähigkeiten gibt, die Grundlage einer moralischen Weltordnung sind und die ihren Ausdruck – vor allem – im universellen Grundprinzip der Menschenrechte finden. Legen partikularistische Ansätze den größten Wert auf institutionelle Formen der Gerechtigkeit, so argumentieren kosmopolitische Ansätze eher mit anthropologischen Annahmen oder gerechtigkeitstheoretischen Postulaten, die aus dem Faktum sozialer Verbundenheit und moralischer Verantwortung gewonnen werden. Der moralische Kosmopolitismus zeichnet sich als moralischer Individualismus aus. Dementsprechend sind Menschen die legitimatorische Letztinstanz politischer Ordnungen. Dem moralischen Kosmopolitismus geht es daher nicht so sehr um institutionelle Mechanismen, sondern um die grundlegende Ge re cht igke it e n im T he ori e di sku rs de r G e g e nwart | 209
Frage, wie politische Ordnungen begründet werden. Wenn allen Menschen grundsätzlich der gleiche moralische Wert zugesprochen wird, ist die ungleiche Verteilung von Rechten und Ressourcen begründungsbedürftig. In die gleiche Richtung argumentiert auch der sog. Glücksegalitarismus – luck egalitarianism –, der Ungleichheiten für inakzeptabel hält, die auf dem bloßen Faktum der Geburt und Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land basieren und die die Lebensaussichten eines jeden erheblich bestimmen. Nur bewusste individuelle Entscheidungen, die zu Ungleichheiten führen, sind zu rechtfertigen.50 Der Diskurs um Formen, Prinzipien und Institutionen globaler Gerechtigkeit ist ein Reflex der rapiden ökonomischen, technologischen und kommunikativen Globalisierung, d.h. der Interaktionen und Interdependenzen von territorialen Räumen und funktionalen Sektoren, die bislang als getrennt, vor allem durch Grenzen, beschrieben worden waren. Die Prozesse sich beschleunigender Entgrenzungen haben die Relevanz traditioneller Ordnungskontexte in Frage gestellt, in denen die Institutionalisierung gerechtigkeitsrelevanter Regularien möglich erschien. Nunmehr werden Gerechtigkeitsdiskurse nicht nur auf das Problem weltumfassender Gerechtigkeit fokussiert, sondern selber globalisiert. Sie teilen damit das gleiche Problem wie jene Diskurse um Strukturen transnationaler Regime, um Institutionen und Prozesse globaler Demokratie oder um Formen einer globalen Verfassung: ihre normative Relevanz ist kaum bestreitbar, ihre theoretische Reflexionspräzision ist kaum noch zu übertreffen, ihre politische Wirkung bleibt jedoch fraglich, weil sie sich selten oder nie auf die handlungspragmatischen Realbedingungen ihrer Implementation einlassen.
J ur i s t i s c he Diskurse : G e re c ht igke it als Tra n s ze nde nzf igur, Kont inge nzformel und B e o ba c ht ungsbe grif f Zwei Diskursfelder strukturieren die juristische Frage nach der Gerechtigkeit. Zum einen bestehen Natur- und Vernunftrecht in der Auseinandersetzung mit dem Positivismus auf der Idee der Gerechtigkeit als dem ›letzten‹ Grund für die Geltung des Rechts. Zum anderen bestreiten systemtheoretisch informierte Diskurse den zentralen Stellenwert von Gerechtigkeit für die operativen Funktionen des Rechtssystems. Auch wenn das Rechtssystem im binären Schema von Recht/Unrecht arbeitet, taucht die Gerechtigkeitsfrage allein als eine prozedurale auf, nämlich in der Regelhaftigkeit der gleichen bzw. ungleichen Behandlung von Fällen. Eine außerhalb des Rechtssystems stehende, übergreifende, normativ ausstrahlende Idee der – ethischen, moralischen, gesamtgesellschaftlichen oder politischen – Gerechtigkeit gibt es nicht. 210 | Hans Vorlä nd e r
Im Paradigma des Rechtspositivismus gilt Recht, weil es gemäß den Regeln des Rechts gesetzt worden ist: Es sind die Verfahren, die beachtet und eingehalten werden müssen, damit das gegebene, positive Recht seinen Anspruch auf Geltung und Befolgung erheben kann. Es ist, in institutioneller Hinsicht, der Rechtsstaat (oder in angelsächsischen Kreisen: die Rule of Law und due process), in dessen Formen das Recht gesetzt und durchgesetzt wird. Der Rechtsstaat stellt die prozeduralen und prozessualen Mechanismen bereit, die über Recht und Unrecht entscheiden. Gerechtigkeitsfragen werden verfahrensmäßig behandelt und beantwortet. Das führt zu zwei Paradoxien. »Wir hofften auf Gerechtigkeit, bekommen haben wir den Rechtsstaat«51 – das in Bärbel Bohleys kritischer Sentenz aufscheinende – erste – Paradox bezeichnet die im Recht latent angelegte Spannungsstruktur zwischen Geltungsanspruch des positiven Rechts und außerpositiven Gerechtigkeitserwartungen. Die zweite Paradoxie besteht in der rechtspositivistischen Annahme, dass Recht sich nur aus Recht begründet, damit aber die Frage nach dem Ursprung des Rechts offen lässt bzw. als irrelevant behauptet. Die Gründungsparadoxie des Rechtsgesetzes überführt die Legalitätsannahme der Genese des Rechts in die Frage nach der Legitimität des Rechts, seiner Geltung als rechtens. In beiden Paradoxien kommt eine als problematisch erfahrene Grundkonstellation zum Ausdruck: Das Recht steht unter dem Legitimitätsvorbehalt der Gerechtigkeitserfüllung: Recht muss gerecht sein. In der Normalitätslage des Rechtsstaates wird dieser Zusammenhang solange verdeckt, als rechtliche Normen gesetzt oder in Konfliktfällen – auch vor Gericht – angewendet werden und diese den Gerechtigkeitserwartungen entsprechen. Dort aber, wo Normen oder normgestützte Entscheidungen, auch durch weitere prozedurale Bearbeitung im Instanzenweg, nicht akzeptiert oder als »ungerecht« erfahren werden, wird die Gerechtigkeitsproblematik, die den Rechtsetzungs- und Rechtsfindungsprozessen unterliegt, sichtbar und wird die Frage nach den außer- bzw. vor- bzw. überpositiven Geltungsgrundlagen des Rechts virulent.52 Das Gleiche ist im rechtstheoretischen Diskurs beobachtbar. Die Paradoxie, dass Recht sich nur aus Recht begründet, hat immer wieder zu – sehr unterschiedlichen – Versuchen ihrer Entparadoxierung geführt. Hans Kelsen entwickelte die Figur der sog. Grundnorm, zuvor »Ursprungsnorm« genannt, auf die sich die Geltung des gesetzten Rechtes zurückbeziehen ließe: »Ihre Geltung kann nicht mehr von einer höheren Norm abgeleitet, der Grund ihrer Geltung nicht mehr in Frage gestellt werden.«53 Die Grundnorm, inhaltlich nicht weiter bestimmt, wird bei Kelsen zum Geltungsgrund des positiven Rechts, selbst liegt sie aber »außerhalb des positiven Rechts«.54 Kelsen hat nicht die einzige, wenngleich bis heute doch sehr nachwirkende Antwort auf die Frage nach dem Geltungsgrund des (positiven) Rechts gegeben. Vor einiger Zeit hat Marie Theres Fögen in einer bemerkenswerten kleinen Schrift Ge re cht igke it e n im T he ori e di sku rs de r G e g e nwart | 211
Kelsen mit Kafka in Relation gesetzt, mit Walter Benjamin und Jacques Derrida konfrontiert.55 Das Gesetz ist bei Kafka unzugänglich; dem Mann vom Lande, der Einlass in das Gesetz begehrt, wird der Eintritt vom Türhüter verwehrt. Das Tor zum Gesetz steht zwar offen, aber der Mann wartet bis zum Ende seines Lebens geduldig auf seinem Schemel, bis dass der Türhüter ihn bescheidet: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«56 Die Antwort ist teuflisch, Kafkas Erzählung irritierend. Das Gesetz bleibt im Dunkeln, und doch geht von ihm ein »Glanz« aus, »der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht«.57 Die Geltung des Gesetzes bleibt letztlich unergründlich. Benjamin und Derrida, so Marie Theres Fögen, »haben in die Gründungsparadoxie des Gesetzes hineingehorcht und ein Lied von Gewalt vernommen.«58 Benjamin aber habe das Chaos beendet und die Gerechtigkeit als den Grund des Gesetzes bezeichnet, und Derrida habe es ihm gleich getan. Benjamins Gerechtigkeit sei göttlich, Derridas Gerechtigkeit sei die Dekonstruktion. Wo die göttliche Gerechtigkeit dem Menschen entzogen sei, ist die dekonstruktivistische »von dieser Welt, ›machbar‹ und zu praktizieren«. Das Schlüsselwort bei Derrida ist »Verantwortlichkeit«, Die Verantwortung des Einzelnen und des Richters vor der Vergangenheit und dem Zukünftigen, vor dem Anderen und dem Unsichtbaren: »Man muss der Gerechtigkeit gegenüber gerecht sein.«59 Der Gerechtigkeitsbegriff bei Benjamin, aber nicht nur bei ihm, sondern besonders in naturrechtlich argumentierenden Rechtstheorien, nimmt eine das positive Recht überschreitende, es transzendierende Bedeutung an. Hier wird die Geltungsparadoxie von Recht durch Recht aufgelöst, indem Gerechtigkeit zur obersten, außerhalb des geltenden Rechts verorteten regulativen Leitidee bestimmt wird, die dem positiven Recht Grund, Geltung und Sinn gibt. Als Transzendenzbegriff wird hier die Gerechtigkeit zugleich auch wieder zu einem Perfektionsbegriff, weil es das System des Rechts unter eine Vollkommenheitserwartung stellt, nämlich, dass es den Prinzipien der Gerechtigkeit zu entsprechen habe, widrigenfalls es nicht als legitimes Recht bezeichnet und angesehen werden kann. Luhmann hat in seinem Versuch, den Begriff der Gerechtigkeit theoretisch neu zu platzieren,60 bestritten, dass es in modernen Gesellschaften überhaupt noch möglich sei, Gerechtigkeit als einen Perfektionsbegriff verstehen zu können. Die Voraussetzungen eines naturrechtlichen Gerechtigkeitsbegriffs seien entfallen, die »alteuropäische«, traditionelle Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts habe jede praktische Bedeutung verloren.61 Vielmehr schlägt er vor, den Gerechtigkeitsbegriff als »Kontingenzformel« des Rechtssystems so zu fassen, wie »Gott« als Kontingenzformel in der Religion fungiere. Gerechtigkeit hilft, die Kontingenz jeder Entscheidung im Rechtssystem zu überbrücken. Gerechtigkeit verweist aber nicht auf außerrechtliche, gesamtgesellschaftliche, moralisch-ethische oder politi212 | Hans Vorlä nd e r
sche Maximen, sondern fungiert als rechtseigene Selbstkontrolle des Rechts, indem es die »adäquat komplexe interne Entscheidungskonsistenz des Rechts« sichert.62 Das Rechtssystem reproduziert sich selbst – autopoetisch – durch Sequenzierung von selbstreferentiellen Operationen, durch Kommunikationen, deren Zugehörigkeit zum System des Rechts durch die Codierung Recht/Unrecht sichergestellt wird und in denen die Konsistenz der Entscheidungen nach der Maßgabe von Gleichheit/Ungleichheit verschiedener Fälle besteht. Die immanente Gerechtigkeit des Rechts, die Konsistenz des Rechtssystems, wird durch Präjudizienbindung und Dogmatik bewirkt und in der »Einheit des Systems als System«63 repräsentiert. In dieser Lesart der Luhmannschen Rechtssoziologie hat das Rechtssystem keinen Platz für einen normativen, das Recht transzendierenden Gerechtigkeitsbegriff, wie es das Naturrecht kennt. Gerechtigkeit als Kontingenzformel des Rechtssystems kann aber auch weitergehend verstanden werden, wenn darunter das Gebot der Umweltangemessenheit des Rechts, also die Responsivität gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen verstanden wird.64 Gerechtigkeit würde in diesem Verständnis die Frage provozieren: »Muss dieser Fall nicht anders entschieden werden, weil eine Gleichbehandlung nicht gesellschaftsadäquat wäre? Gerechtigkeit als ein gegenüber Dogmatik und Präjudiz eigenständiges Rechtskriterium hat also eine eingebaute Präferenz für Varietät, für Innovation, für Änderung des Rechts. Gerechtigkeit liefert selbst kein Kriterium, aber sie stellt eine Dauerprovokation dar für die einfache Kontinuierung alten Rechts.«65 Teubner formuliert pointiert und bestimmt die systemtheoretisch verstandene Gerechtigkeit als ein »subversives Element«,66 welches die positivistische Präjudizien- und Gesetzesbindung »unterminiere«. Gleichwohl handele es sich um ein rechtsinternes, keineswegs um ein rechtsexternes, politisches oder moralisches Kriterium, welches auf eine außerrechtlich existierende Normordnung zurückgreife.67 Diese Gerechtigkeitssemantik sei als eine »Suchformel« innerhalb der Eigennormativität des Rechtssystems zu verstehen, mit deren Hilfe auf das Empfinden von Ungerechtigkeit der Gleichbehandlung reagiert werden kann: Gerechtigkeit »ist auf Beseitigung ungerechter Zustände, nicht auf Perfektion gerechter Zustände gerichtet«.68 Gerechtigkeit im systemtheoretischen Diskurs des Rechts hat also mehrere Funktionen: Als Kontingenzformel des Rechts repräsentiert sie die Einheit des Systems im Rechtssystem, sie sichert konsistentes Entscheiden, indem sie auf die formale Gleichheit hin operationalisiert. Damit wird die Kontingenz jeder Entscheidung überbrückt und verdeckt. Sie verschafft dem Rechtssystem Kontinuität, »stellt sein endloses Weiterlaufen sicher, von Operation zu Operation, ohne dass es dabei jedesmal reflektieren muss, was es tut und – schlimmer – was es nicht tut, obwohl es so vieles tun könnte«.69 Gerechtigkeit vermeidet mithin, wie jede Kontingenzformel, die Reise »ins Endlose«.70 Zugleich steigert Gerechtigkeit als Ge re cht igke it e n im T he ori e di sku rs de r G e g e nwart | 213
Kontingenzformel die Komplexität, weil sie »eine Dauerprovokation […] für die einfache Kontinuierung alten Rechts«71 darstellt. Als »gerecht« mag sich somit das Recht bezeichnen, »das die Zumutungen seiner Umwelt weder kaltschnäuzig ignoriert noch besinnungslos integriert«.72 In diesem Sinne wird Gerechtigkeit zu einem Beobachtungsbegriff (zweiter Ordnung) des Rechtssystems selbst,73 eine Aufgabe, die dem Gesetzgeber und als »rechtseigene Rechtskontrolle des Rechts« der eigenständigen Rolle den Gerichten und dem Richterrecht zugewiesen wird.74 Auch im systemtheoretischen Diskurs des Rechts bleibt die Idee der Gerechtigkeit nicht bedeutungslos, ja, eigentlich bewahrt sie auch eine praktische Funktion, von der Luhmann meinte, dass sie mit dem Obsoletwerden naturrechtlicher Vorstellungen ebenfalls verschwinde. Als Beobachtungsbegriff ›legitimiert‹ die Idee der Gerechtigkeit in den Operationen des Rechtssystems die Tätigkeit der Gerichtsbarkeit und weist ihr eine funktional notwendige Bedeutung, nämlich die der Selbstkontrolle, zu. Insofern erscheint sie als Garant jenes Zusammenhangs, den auch Luhmann, der die Differenz von naturrechtlichen und positivistischen Rechtstheorien überwunden glaubt, nicht in Abrede zu stellen beabsichtigt: »Das Rechtssystem will sich selbst, was immer die Fakten, als gerecht.«75 Der Geltungszusammenhang des Rechts, die Frage nach der Geltung positiven Rechts, weist somit auch der Kontingenzformel von der Gerechtigkeit einen symbolischen Überschuss zu. Gerechtigkeit »funktioniert« nur, weil dem Begriff eine Normativität zugeschrieben wird, die dem Recht selbst seinen Geltungsgrund verleiht. Insofern ist Gerechtigkeit das »Programm der Programme« oder der »Supercode« des Rechts.76 Gerechtigkeit wird somit zum symbolischen Fluchtpunkt, zur Leitidee der Geltung des Rechts. Auch die Systemtheorie kann sich damit contra intentionem nicht dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs um die Gerechtigkeit entziehen. Aber das wäre auch verwunderlich, lebt doch gerade das Recht von jenen lebensweltlichen wie gelehrt-diskursiven Sakralisierungen der Gerechtigkeitsidee, die seine Geschichte immer begleitet haben.77
A n m e r kunge n 1 Naphta in Thomas Mann, Der Zauberberg. Frankfurt a. M. 1924 (52005), S. 950. Dieses Zitat und die nachfolgenden zwei verdanke ich der anregenden Studie von M. T. Fögen, Das Lied vom Gesetz, München 2006. 2 N. Luhmann, »Gerechtigkeit in den Rechtsystemen der modernen Gesellschaft«, Rechtstheorie 4 (1973), S. 131–167; Neudruck in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Frankfurt a. M. 1999, S. 374–418, hier 377. 214 | Hans Vorlä nd e r
3 J. Derrida, Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt a. M. 1991, S. 40. 4 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 5-7, 1130b–1133a, übers. v. F. Dirlmeier, Berlin 1969 ff., S. 100–104. 5 Platon, Der Staat (Politeia) 348a-d, übers. und hrsg. v. K. Vretska, Stuttgart 1994, S. 108. 6 M. T. Fögen, Lied (o. Anm. 1), S. 108 (dort die Liste, von mir ergänzt um die letzten drei Komposita, HV). 7 Der universale Geltungsanspruch von Gerechtigkeitstheorien wird indes in Frage gestellt von A. MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, London 1988. Vgl. zuvor schon Ders., After Virtue, London 1981. 8 Für zahlreiche wertvolle Hinweise danke ich Oliviero Angeli. 9 J. Rawls, A Theory of Justice, Cambridge Mass. 1971; dt. = Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979. Rawls Werk läutete auch eine ›Renaissance der praktischen Philosophie‹ ein, wie sie oftmals in Deutschland definiert wurde, so z.B. O. Höffe, »Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit«, in J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, hrsg. v. O. Höffe, Berlin 2006, S. 5. Vgl. auch H. Vorländer, »Die Wiederentdeckung der Gemeinschaft in der politischen Theorie: Brauchen wir eine neue politische Philosophie für demokratische Gesellschaften?«, in: K. Rohe (Hrsg.), Die Integration politischer Gemeinwesen in der Krise?, Baden-Baden 1999, S. 66–83. 10 Vgl. J. Rawls, »Justice as Fairness – Political, not Metaphysical«, Philosophy and Public Affairs 3 (1985), S. 223–251 bis zu Ders. Political Liberalism, New York 1993. 11 R. Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974. 12 Zu den Diskurstheorien der Gerechtigkeit sind auch zu rechnen: K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1990; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a. M. 1991; im Überblick: A. Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, Baden-Baden 2000. Nach Habermas kann keine Gerechtigkeitstheorie die Legitimität von politischen Regelungen ohne diskursive Einbettung bzw. Auseinandersetzung mit den Betroffenen verlässlich erörtern, vgl. diesbezüglich auch M. Walzer, Philosophy and Democracy, Frankfurt a. M. 1981. 13 Vgl. R. Forst, »Unterwegs zu einer Diskurstheorie der Gerechtigkeit: Jürgen Habermas und John Rawls«, Blätter für deutsche und internationale Politik 6 (2009), S. 61–63. 14 Vgl. J. Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 76. 15 Rawls, Theorie (o. Anm. 9), S. 81. 16 Ebd. S. 112. 17 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt a. M. 1992. 18 F. A. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971. 19 Zuerst M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge, Mass. 1982. 20 Zuerst R. Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974, zuletzt D. Schmidtz, The Element of Justice, Cambridge 2006.
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21 Wenngleich sie in der Lage sind, zum Zeitpunkt der Aufstellung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze von ihrer aktuellen sozialen Position – mittels eines veil of ignorance – absehen zu können. Zur Problematik des »Schleiers des Nichtwissens« vgl. Rawls, Theory (o. Anm. 9), S. 136 ff. 22 Hier kann man – etwas zugespitzt – zwischen ›Links- und Rechts-Rawlsianismus‹ unterscheiden. Zu der ersten Gruppe gehört neben Rawls’ Schüler N. Daniels (Just Health Care, Cambridge 1985) und P. van Parjis (Real Freedom for All: What (if Anything) Can Justify Capitalism?, Oxford 1995) auch G.A. Cohen, der sich in seinem letzten Werk, Rescuing Justice and Equality, Cambridge 2008, selbst ›Links-Rawlsianer‹ nennt (S. 12). D. Gauthiers Morals by Agreement, Oxford 1986 könnte man als Beispiel eines ›Rechts-Rawlsianismus‹ betrachten. 23 Vgl. T. Scanlon, What We Owe to Each Other, Cambridge Mass. 1999 und M. Walzer, Spheres of Justice New York 1983. 24 Vgl. P. Singer, Practical Ethics, Cambridge 1979. 25 Vgl. A. Sen, The Idea of Justice, Cambridge Mass. 2009; dt. = Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 und M. Nussbaum, Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, Oxford 2007; dt. = Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2010. 26 Für Sen sind Gerechtigkeit und Gleichheit nicht voneinander trennbar. Was Gerechtigkeitstheoretiker voneinander unterscheide, sei einzig die Frage, was die Währung (»currency«) der Gerechtigkeit sei. In Frage kommen »Grundgüter« (Rawls), Ressourcen (vgl. R. Dworkin, »What is Equality. Part 2: Equality of Ressources«, in: Philosophy and Public Affairs, 10 [1981], S. 283–345; Van Parijs, Real Freedom [o. Anm. 22]) und die »Gleichheit der Chance, Wohlergehen zu erlangen« (»equality of opportunity to welfare« [vgl. J. E. Roemer, Equality of Opportunity, Cambridge 1998]). Sen selbst hält die Gleichheit der Funktionsfähigkeit (»equality of capability to function«) für bedeutungsvoll und kritisiert damit die Ausrichtung anderer Theorien auf Güter als »Fetisch«. – Nicht alle Theorien teilen diese Grundausrichtung. H. Frankfurt, J. Raz, A. Krebs und M. Nussbaum sind der Ansicht, dass Gerechtigkeit mit Gleichheit wenig oder nichts zu tun habe. Zentral für sie ist allein die Frage, wie jedes Individuum absolut – und nicht wie es im Verhältnis zu anderen – dasteht. Nicht-egalitäre Gerechtigkeitstheorien sind bemüht, den Neidvorwurf zu entkräften, und basieren oftmals auf dem Prinzip der Hinlänglichkeit (»sufficiency«): Jede Person sollte erhalten, was ihr für ein anständiges Leben ausreicht. Eine Überblicksdarstellung der Debatte zwischen egalitären und nicht-egalitären Gerechtigkeitstheorien findet sich in A. Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit: Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt a. M. 2000. 27 Nussbaum, Grenzen (o. Anm. 25), Kap. 1, insbesondere S. 44–48. 28 Ebd. S. 142. 29 Sen, Idee (o. Anm. 22). 30 Nussbaum, Grenzen (o. Anm. 25), S. 104. 31 Ebd. S. 104 f. 216 | Hans Vorlä nd e r
Nussbaum, Grenzen (o. Anm. 25), S. 112 ff. Ebd. S. 115. Ebd. S. 116. M. C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt a. M. 1999, S. 45 ff. Nussbaum, Grenzen (o. Anm. 25), S. 218 f. Ebd. S. 218. Ebd. S. 113. Ebd. S. 114. Dies aber zum Ausgang seiner Überlegungen nehmend: R. Forst, »Zu einer kritischen Theorie transnationaler Gerechtigkeit«, in: C. Broszies / H. Hahn (Hgg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Berlin 2010, S. 439– 464. 41 J. Cohen / Ch. Sabel: »Extra Rempuplicam, Nulla Justitia?«, Philosophy and Public Affairs 34 (2006), S. 147–175; Zitat von T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt a. M. 1994, S. 97. Vgl. auch Ch. Beitz, wonach politische Philosophen »have accepted uncritically the conception of the world developed by Hobbes […]. As a result, other pressing questions of contemporary international relations have been neglected, and the current debate about new structures of world order has taken place without benefit of the insight and criticism that political philosophers should provide«. (Ch. Beitz, Political Theory and International Relations, 1979, S. VII). 42 Nussbaum, Grenzen (o. Anm. 25), S. 310. 43 B. Barry, The Liberal Theory of Justice. A Critical Examination of the Principal Doctrines in A Theory Of Justice by John Rawls, Oxford 1973. 44 Beitz, Political Theory (o. Anm. 41). 45 T. Pogge, Realizing Rawls (Ithaca 1989) und World Poverty and Human Rights: Cosmopolitan Responsibilities and Reforms (Cambridge 2002; dt. = Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen, Berlin 2011). 46 Rawls selbst plädiert in Das Recht der Völker (Berlin / New York 2002) für ein zweistufiges vertragstheoretisches Modell (einen ersten Vertrag schließen die Individuen jedes Volkes unter sich ab; einen zweiten Vertrag schließen die Völker unter sich ab). Zugleich lehnt er das ›globale Differenzprinzip‹ ab und spricht sich für Unterstützungspflichten (duties of assistance) aus. 47 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Berlin 2011, S. 33. 48 Prominenteste Vertreter sind, neben Ch. Beitz und Th. Pogge, H. Shue und P. Singer. 49 Hier und im Folgenden in enger Anlehnung an C. Broszies / H. Hahn: »Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext«, in: Dies. (Hgg.): Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Berlin 2010, S. 9–54; vgl. zum Partikularimus: D. Miller, On Nationality, Oxford 1995, und National Responsibility and Global Justice, Oxford 2007. 32 33 34 35 36 37 38 39 40
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50 Vgl. zu diesen Ansätzen R. Dworkin, Sovereign Virtue: The Theory and Practice of Equality, Cambridge 2000 und B. Barry / R. E. Goodin: Free Movement: Ethical Issues in the Transnational Migration of People and of Money. Pennsylvania 1992. 51 Zit. n. R. Leicht, »Vielmehr recht und billig«, Die Zeit 53 (1999). 52 Vgl. hierzu auch die ›Radbruchsche Formel‹: G. Radbruch, »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«, Süddeutsche Juristenzeitung, 1 (1946), S. 105–108. Exemplarisch für das gegenwärtige Erstarken des Naturrechtsdenkens sei hier auf die Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 hingewiesen (http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede.html – letzter Zugriff: 31.1.2012). 53 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 21960, S. 196. 54 Ebd. Anhang II, S. 442–444. 55 Vgl. zum Folgenden Fögen, Lied (o. Anm. 1). 56 Franz Kafka, »Der Proceß«, in: Ders.: Gesammelte Werke, hrsg. von H.-G. Koch, Frankfurt a. M. 1994, S. 227. 57 Kafka, Proceß (o. Anm. 56). 58 Fögen, Lied (o. Anm. 1), S. 102. 59 Derrida, Gesetzeskraft (o. Anm. 3), S. 40. 60 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 217. 61 Ebd. S. 216, 219. 62 Ebd. S. 214. 63 Ebd. S. 217. Vgl hierzu auch R. Dreier, »Niklas Luhmanns Rechtsbegriff«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 3 (2002), S. 305–322, insbesondere 315 ff. 64 G. Teubner, »Dreiers Luhmann«, in: R. Alexy (Hrsg.): Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, Tübingen 2005, S. 199–211, bes. 201 ff.; Luhmann, Recht (o. Anm. 60), S. 225, 235 ff. 65 Teubner, Dreiers Luhmann (o. Anm. 64), S. 206. 66 Ebd. S. 206. 67 So auch Luhmann selbst in Luhmann, Recht (o. Anm. 60), S. 217 f. 68 Teubner, Dreiers Luhmann (o. Anm. 64), S. 206. 69 Fögen, Lied (o. Anm. 1), S. 92. 70 Ebd. S. 92. 71 Teubner, Dreiers Luhmann (o. Anm. 64), S. 206. 72 Fögen, Lied (o. Anm. 1), S. 113. 73 Luhmann, Recht (o. Anm. 60), S. 235, 237. 74 Ebd. S. 236; Teubner, Dreiers Luhmann (o. Anm. 64), S. 206 f. 75 Luhmann, Recht (o. Anm. 60), S. 217. 76 Fögen, Lied (o. Anm. 1), S. 109. 77 Vgl. nur die große Darstellung von P. Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 22005. 218 | Hans Vorlä nd e r
Holger Lengfeld
VON DER ERGEBNISGLEICHHEIT ZUR CHANCENGLEICHHEIT? Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung der Gegenwart im Wandel 1 Im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert sind Fragen sozialer Gerechtigkeit vorrangig Verteilungsfragen. Daher beziehen sich Gerechtigkeitsvorstellungen von Menschen auf Verteilungsprozesse und -entscheidungen, die in einer sozialen Gruppe, Organisation oder Gesellschaft ablaufen bzw. getroffen werden. Doch wie sehen diese Vorstellungen in der Gegenwart aus und wie haben sie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert? Um diese Fragen zu beantworten, kann die soziologische Forschung Aufschluss vermitteln. Um empirische Phänomene auf Ursachen und Folgen zu untersuchen, benötigt man jedoch präzise Begriffe. Genau hier aber macht der Begriff der Gerechtigkeit Schwierigkeiten. Einerseits ist er auf ganz unterschiedliche Weise im Alltagsverständnis der Menschen verankert – es gibt also ein umfassendes Vorverständnis in der Bevölkerung –, und andererseits ist er außerhalb der empirischen Forschung, vor allem aber in der politischen Philosophie, seit Jahrzehnten Gegenstand umfassender Erörterungen. Das oftmals diffuse Alltagsverständnis von Gerechtigkeit stellt jedoch die Grundlage des empirischen Begriffs der Gerechtigkeit dar, widerspricht aber dem Begriffsverständnis der politischen Philosophie zumeist.2 Trotz dieses unterschiedlichen Begriffsverständnisses werde ich hier einige grundlegende begriffliche Anforderungen an Verteilungsgerechtigkeit vorstellen, die ich der Philosophie entlehne und die auch für einen gehaltvollen erfahrungswissenschaftlichen Gerechtigkeitsbegriff wichtig sind. Aus Sicht der Soziologie geht es dann vor allem um die soziale Strukturiertheit von in Gesellschaften real existenten Gerechtigkeitsüberzeugungen. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem so genannte ordnungsbezogene Einstellungen zur Verteilungsgerechtigkeit, d.h. moralische Überzeugungen darüber, nach welchen Prinzipien, mit welchen Verfahren und mittels welcher Instanzen Verteilungsentscheidungen herbeigeführt werden sollen, damit sie dem individuellen Gerechtigkeitsempfinden entsprechen. Die ergebnisbezogenen Gerechtigkeitsvorstellungen, d.h. Einstellungen zum eigenen Anteil an Güterverteilungen, wie z.B. die Gerechtigkeitsbewertung des eigenen Lohns, die ebenfalls ausführlich in der empirischen Forschung behandelt werden, werde ich im Folgenden nicht berücksichtigen.3 In diesem Beitrag stelle ich zwei ordnungsbezogene Konzepte zur Beschreibung und Ge re cht igke it svo rs t e ll unge n d e r B evöl ke ru n g de r G e g e nwart | 219
Erklärung von Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung der Gegenwart vor und präsentiere Ergebnisse einer eigenen empirischen Analyse über den Wandel dieser Vorstellungen in den letzten 30 Jahren.
1 . D i e n orm at ive Pe rspe kt ive auf Gerechti gkei t Um herauszufinden, was im 20. Jahrhundert unter dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit verstanden werden kann, gibt uns die politische Philosophie Auskunft. Zu ihren Aufgaben gehört es, darüber nachzudenken, was wir aus moralischen Erwägungen heraus als sozial gerecht ansehen sollten und wie die Struktur unseres Gemeinwesens aussehen müsste, damit die in ihr ablaufenden Verteilungsprozesse dem Gebot der Fairness entsprechen. Methodisch zielt die normative Gerechtigkeitstheorie darauf ab, mit den Mitteln der rationalen Abwägung zwischen Argumenten möglichst stichhaltig anzuführen, warum gerade bestimmte Regeln und nicht andere Gerechtigkeit befördern sollen.4 Unabhängig von den substantiellen Annahmen einer Gerechtigkeitstheorie werden dabei zugleich Annahmen über die grundlegenden Elemente des Gerechtigkeitsbegriffs, wie er für die Moderne unterstellt wird, gemacht. Folgt man diesen Annahmen, so werden Fragen sozialer Gerechtigkeit stets in Situationen sozialer Ungleichheit aufgeworfen, also unter Zuständen, in dem die verfügbaren Güter und Lebenschancen zwischen den Menschen ungleich verteilt sind. Aber nicht in jeder Ungleichheitssituation wird der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Nur wenn Ungleichheiten aus vollzogenen oder unterlassenen Entscheidungen resultieren, beginnen wir offenbar auch über Gerechtigkeit nachzudenken. In diesem Sinne scheint die Möglichkeit der Zuschreibung von Verantwortung entscheidend zu sein, um überhaupt von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit sprechen zu können. Wie der Moralphilosoph David Hume darlegt, wird Gerechtigkeit nur dann zu einem relevanten Thema, wenn in einer Gesellschaft weder extremer Mangel am Notwendigsten zum Überleben besteht, noch wenn alles im Überfluss vorhanden ist: Da aber, wo die Gesellschaft im Begriff steht, durch äußerste Not zugrundezugehen, ist von Gewalttat und Ungerechtigkeit ein noch größeres Unheil nicht zu befürchten, und jeder darf dann mit allen Mitteln, die ihm die Klugheit, die Menschlichkeit gestatten mag, für seine eigene Person sorgen.5
Weil Menschen nun unter den Bedingungen gemäßigter Knappheit kooperieren, entsteht ein Verteilungskonflikt um das Produkt ihres gemeinsamen Schaffens. Da sie aber häufig nicht bereit sind, sich dem ungezügelten Spiel der Marktkräfte auszuliefern oder Entscheidungen über Haben und Nicht-Haben durch Gewalt 220 | Holger Lengfe l d
auszutragen, suchen die Menschen nach einer gerechten Regelung. In modernen Gesellschaften ist es jedoch nicht möglich, dass jedes einzelne Verteilungsproblem von allen Betroffenen besprochen und gemeinsam entschieden wird. Dies geschieht vielmehr im Rahmen sozialer Institutionen, die den Einzelnen von der Notwendigkeit ständiger Einzelentscheidungen entlasten. In der gegenwärtigen Gerechtigkeitsphilosophie finden sich dazu sehr unterschiedliche Vorschläge. Zwar gelten Chancengleichheit oder die Gleichbehandlung von Personen einhellig als notwendige, in ihrer Allgemeinheit aber noch nicht hinreichende Regeln, um gerechte Zustände erreichen zu können. Hinsichtlich der konkreten Verteilungsprinzipien besteht dafür große Uneinigkeit.6 John Rawls hat eine Verteilungsregel vorgeschlagen, die er als »Differenzprinzip« bezeichnet. Demzufolge sind materielle Ungleichheiten zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft nur dann zulässig, wenn der Wohlstandszuwachs einiger weniger Reicher zugleich auch die Lage der am schlechtesten Gestellten verbessern würde. Demgegenüber vertritt z.B. Ronald Dworkin ein Gerechtigkeitskonzept, das die Eigenverantwortlichkeit von Personen betont. Beiden wiederum hält Michael Walzer entgegen, dass sie die Rolle der gemeinschaftlich geteilten Wertvorstellungen, wie sie etwa durch eine gemeinsame Geschichte oder Kultur vermittelt werden, nicht ausreichend berücksichtigen. Dies bedeutet, dass Regeln der Gerechtigkeit jeweils nur auf der Grundlage eines für jede Gemeinschaft oder Gesellschaft spezifischen Wertevorrats bestimmt werden können. Eine für alle Gesellschaften einheitliche Verteilungsordnung sei deshalb nicht sinnvoll. Viele dieser Vorschläge klingen durchaus überzeugend. Problematisch ist an ihnen jedoch, dass sie vielfach auf einem hoch abstrakten und allgemeinen Niveau formuliert sind. Ihnen fehlt damit häufig das Potential, zur Lösung konkreter gesellschaftlicher Verteilungsprobleme beizutragen – was ihnen man aufgrund der Notwendigkeit zur Abstraktion berechtigterweise aber schwerlich vorwerfen kann. Gleichwohl kann man mit ihrer Hilfe kaum entscheiden, ob es gerecht sei, dass Familien die gleichen Sozialabgaben zahlen sollen wie Alleinstehende, wie hoch eine gerechte Besteuerung von Arbeitseinkommen, Kapitalerträgen oder Erbschaften sei, oder ob es im Namen der Gerechtigkeit wäre, Diskriminierungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt durch geschlechtsspezifische Quotierung von Stellen höherer Hierarchiestufen entgegenzuwirken. Auf diese Fragen kann man von der normativen Gerechtigkeitstheorie nur sehr allgemeine Hinweise erhalten.7
2 . Ge re c ht igke it svorst e ll unge n de r Bevölkerung Im Unterschied zur normativen Gerechtigkeitstheorie geht es in der empirischen Forschung darum herauszufinden, welche Gerechtigkeitsvorstellungen Menschen faktisch haben, von welchen psychischen Bedingungen und sozialen Kontexten Ge re cht igke it svo rs t e ll unge n d e r B evöl ke ru n g de r G e g e nwart | 221
die Einnahme eines bestimmten Gerechtigkeitsstandpunkts abhängt und welche Rolle Gerechtigkeitsvorstellungen sowie Ungerechtigkeitsempfindungen für das alltägliche Handeln spielen. In der empirischen Forschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass es ein relativ überschaubares Repertoire an Regeln gibt, nach denen Menschen eine Verteilung als gerecht oder als ungerecht beurteilen.8 Das Beitrags- oder Leistungsprinzip, das Bedürfnisprinzip und das Gleichheitsprinzip – in den Ausformungen der Ergebnis- und Chancengleichheit – sind drei der wichtigsten Regeln, die unser Gerechtigkeitsempfinden leiten. Zugleich ist jedoch bekannt, dass diese Regeln nur in für sie jeweils typischen Sphären als gerecht angesehen werden. Demnach wird das Leistungsprinzip vor allem dort bevorzugt, wo Menschen in Kooperation mit anderen oder in Konkurrenz zueinander versuchen, bestimmte Ziele möglichst effektiv zu erreichen; etwa unter Kollegen im Unternehmen oder zwischen Konkurrenten auf dem Markt. In emotional geprägten Nahverhältnissen wie Freundschaften, Partnerschaften oder Eltern-Kind-Beziehungen halten wir es dagegen für gerecht, wenn jeder das erhält, was er für die Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse benötigt. Im politischen Bereich wiederum erscheint es uns als selbstverständlich, Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Bildungsund Lebenschancen einzufordern. Doch zugleich kommt es vor, dass sich die Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Position innerhalb der durch Ungleichheit gekennzeichneten Sozialstruktur einander angleichen. Betrachtet man beispielsweise die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland, so zeigen Studien, dass sozial bessergestellte Personen eher das Prinzip der individuellen Leistung als gerecht erachten. Demgegenüber findet diese Verteilungsregel bei Personen am unteren Ende der gesellschaftlichen Schichtung weniger Zustimmung. Diese sprechen sich im Vergleich zu den Angehörigen der oberen Schichten stärker für Gleichheit sowie für staatliche Interventionen in die Einkommensverteilung aus.9 Ein recht komplexer Vorschlag zur systematischen Ableitung von Gerechtigkeitsvorstellungen aus sozialen Kontexten geht auf die Soziologen Bernd Wegener und Stefan Liebig zurück.10 Sie betrachten Vorstellungen zur Verteilungsgerechtigkeit als die entscheidenden Werte, mit denen Menschen soziale Institutionen, die die Lebenschancen des Einzelnen maßgeblich beeinflussen, bewerten und legitimieren. Ein Teil dieser Vorstellungen sind »Gerechtigkeitsideologien«; sie bringen die subjektive Seite der objektiv bestehenden Verteilungsordnung zum Ausdruck, indem sie mitteilen, inwiefern die gesellschaftlichen Institutionen Akzeptanz und Unterstützung der Gesellschaftsmitglieder finden. Um Vermutungen darüber anzustellen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Menschen welche Gerechtigkeitsideologien vertreten, greifen Wegener und Liebig auf kulturanthropologische Überlegungen zurück, wonach unsere Sicht auf die Welt davon 222 | Holger Lengfe l d
abhängt, wie die sozialen Beziehungen strukturiert sind, die wir zu anderen unterhalten. Verkürzt gesprochen, bilden sich unsere Weltsichten in Abhängigkeit von den sozialen Positionen heraus, die in der Struktur der jeweiligen Gesellschaft angelegt sind. Diese sozialen Positionen legen unsere moralische Weltsicht nicht fest, lassen jedoch bestimmte Sichtweisen auf Güterverteilungen aus Sicht der Betroffenen moralisch plausibler erscheinen als andere. Auf dieser begrifflichen Basis leiten Wegener und Liebig vier idealtypische Gerechtigkeitsideologien ab. Die Ideologie des Individualismus wird von Menschen präferiert, deren Handlungsmöglichkeiten nur schwach von hierarchiebedingten Restriktionen und sozialen Gruppennormen begrenzt werden. Ihnen gelten Güterverteilungen dann als gerecht, wenn sie allein die Leistungen und Anstrengungen des Einzelnen widerspiegeln. Dabei gilt der Markt als diejenige Institution, die das Leistungsprinzip am wirkungsvollsten zur Geltung bringt. Fatalismus ist ein Einstellungsmuster, das Personen unter den Bedingungen hoher hierarchischer Kontrolle und geringer Einbindung in soziale Gruppen übernehmen. Fatalisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Glauben an die Möglichkeit der Herstellung sozial gerechter Verhältnisse verloren haben. Da sie sich nicht auf die Solidaritätsbereitschaft und die Identitätsquellen einer Gruppe stützen können, sehen sie auch keine soziale Kraft, die die Herstellung gerechter Verhältnisse durchsetzen könnte. Im Falle hoher hierarchischer Kontrolle als auch starker Gruppeneinbindungen übernehmen Menschen die Einstellung des Askriptivismus. Aus dieser Sicht gilt es als gerecht, dass jeder das erhält, was ihm nach seiner Stellung in der Hierarchie der sozialen Gruppen zukommt. Nicht die Verantwortlichkeit für das eigene Tun, sondern zugeschriebene Statusmerkmale der jeweiligen Bezugsgruppe definieren hier gerechte Verhältnisse. Unter den Bedingungen geringer hierarchischer Zwänge und starker Einbindung in Gruppenzusammenhänge ist zu erwarten, dass Personen die Ideologie des Egalitarismus einnehmen. Gemäß diesem Einstellungsmuster werden den Inhabern von höheren hierarchischen Positionen keine besonderen Rechte an der Güterverteilung eingeräumt. Entsprechend sind Verteilungen dann gerecht, wenn jeder annähernd das Gleiche bekommt. Zugleich sehen Egalitaristen im Staat diejenige Institution, die für die Reduktion sozialer Ungleichheit sorgen soll. In Umfragestudien haben die Autoren die Gültigkeit ihres Modells mehrfach nachgewiesen.11 Zugleich haben sie gezeigt, wie sich die Struktur der Gerechtigkeitsideologien im Zeitverlauf gewandelt hat.12 Demzufolge erfuhren in Westdeutschland die Vorstellungen des Individualismus und des Askriptivismus im Jahr 1991 noch die höchsten Zustimmungsraten, haben jedoch bis Mitte der 2000er Jahre deutlich an Zustimmung verloren. Der Vorstellung des Egalitarismus hingen im gesamten Zeitraum mit Abstand die wenigsten Menschen an. Hier war die Zustimmung von Anfang bis Ende der 1990er Jahre sogar rückläufig, hat sich dann aber im Jahr 2006 deutlich erhöht. Bemerkenswert ist auch die Zunahme der MeiGe re cht igke it svo rs t e ll unge n d e r B evöl ke ru n g de r G e g e nwart | 223
nung, dass Gerechtigkeit nicht herstellbar sei (Fatalismus). Erst seit dem Jahr 2000 ist diese Ideologie wieder rückläufig. Auffällig ist auch, dass in Westdeutschland die Zustimmungen zu den Ideologien im Jahr 1991 noch recht breit streute, 2006 jedoch nahe beieinander lagen. Für Ostdeutschland zeigt sich zwar eine Verschiebung der moralischen Überzeugungen von 1991 bis 2006, aber, wie oft vermutet, keine Angleichung der Überzeugungen an die westdeutsche Teilbevölkerung. Wegener und Liebig zeigen weiterhin, dass ein Teil dieser Veränderungen auf den demografischen Wandel zurückzuführen ist. So vertreten Angehörige jüngerer Altersgruppen häufiger individualistische und seltener egalitäre Vorstellungen. Nun sind demografische Veränderungen sicherlich nur eines der möglichen Ursachenbündel für den Wandel von Gerechtigkeitsvorstellungen im Zeitverlauf. Eine zweite Ursache kann sich auf Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt beziehen. Seit Mitte der 1990er Jahre ist es in Deutschland zu einer Zunahme an Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen gekommen.13 Insbesondere haben so genannte »atypische«, vom auf Dauer angelegten Vollzeitnormalarbeitsverhältnis abweichende Beschäftigungsformen wie Vertragsbefristungen, Leiharbeit, Teilzeitarbeit und Minijobs zugenommen. Zugleich sind die Beschäftigungschancen der gering Qualifizierten gesunken; für sie ist die Gefahr der Dauerarbeitslosigkeit deutlich angestiegen. Leider fehlen Studien, die uns zeigen könnten, wie diese Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sich auf den Wandel der individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen auswirken könnten. Jedoch gibt es vereinzelt Hinweise auf diesbezügliche Effekte. So wurde beispielsweise gezeigt, dass mit der Dauer der Arbeitslosigkeit einer Person die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diese Person fatalistische Gerechtigkeitsvorstellungen übernimmt, Sie befürchtet, dauerhaft von der Erwerbswelt ausgeschlossen zu sein, und verliert den Glauben an die Existenz von Gerechtigkeit in der Gesellschaft.14 Daher kann man vermuten, dass zumindest ein Teil der problematischen Arbeitsmarktentwicklung zwischen 1990 und Mitte der 2000er Jahre den von Wegener und Liebig beschriebenen Anstieg des Fatalismus begründet.
3 . Te i l h abe ge re c ht igke it al s ne ue s Vertei lungspri nz i p? Neben den oben beschriebenen Veränderungen in der Zustimmung der Menschen zu den einzelnen Gerechtigkeitsideologien gibt es weitere Hinweise darauf, dass sich Ende des 20. Jahrhunderts die gesamte Struktur der Gerechtigkeitsvorstellungen verändert. Dies betrifft vor allem die Verdrängung von egalitären, an Ergebnisgleichheit orientierten Vorstellungen durch ein auf Chancengleichheit bezogenes Prinzip der Teilhabe. Hierzu werde ich im Folgenden ein Argument des Bielefelder 224 | Holger Lengfe l d
Soziologen Lutz Leisering ausführen und es anschließend mit eigenen Befunden aus Analysen gängiger Umfragedaten illustrieren.15 Leisering untersucht keine allgemeinen, verschiedene Verteilungsfelder umfassenden Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern er bezieht seine Argumentation auf den Wohlfahrtsstaat. Er geht davon aus, dass die Existenz des Wohlfahrtsstaats nur im Zusammenspiel mit den Interessen gesellschaftlicher Gruppen und den von ihnen verkörperten Wertideen zu verstehen ist. Sein Interesse gilt den gesellschaftlichen Diskursen um die Reform des Wohlfahrtsstaats seit den 1990er Jahren und hierbei den in diesen Diskursen vertretenen »Paradigmen sozialer Gerechtigkeit«. Mit dem Begriff des Paradigmas ist gemeint, dass Gerechtigkeitsvorstellungen sich nicht nur in den Verteilungsprinzipien unterscheiden, auf die sie sich beziehen, sondern auch darin, auf welchen Adressatenkreis sie fokussiert sind, welche Institutionen Verteilungen steuern sollen und welche gesellschaftliche Trägergruppe dies durchsetzen soll. Jedes Paradigma strukturiert die Interessen der sozialen Gruppe, die es vertritt, und prägt damit den Diskurs um den Umbau des Wohlfahrtsstaats seit den 1990er Jahren.16 Leisering unterscheidet vier Gerechtigkeitsparadigmen, die jeweils bestimmte Anforderungen an den Wohlfahrtsstaat richten. »Bedarfsgerechtigkeit« besagt, dass im gegenwärtigen Diskurs sozial Bedürftige, insbesondere Arme, sozialstaatlich unterstützt werden sollen. Diese Vorstellung wird von den Befürwortern des überkommenden Wohlfahrtsstaats, vor allem von den Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und sozialen Bewegungen, in Anschlag gebracht. Begründet wird es unter Verweis auf die Würde des Einzelnen; die Idealform des Wohlfahrtsstaats ist jene des versorgenden Staats. Das Paradigma der »Leistungsgerechtigkeit« fordert, dass Verteilungen allein nach der Leistung des Einzelnen erfolgen sollen. Ihm zufolge gilt es als gerecht, wenn der Bezug von Sozialleistungen eingeschränkt wird und der Zugang zu ihnen eng an den Markterfolg des Einzelnen (z.B. über Beiträge) gekoppelt ist. Zugleich wird gefordert, dass die Leistungen der breiten Mittelschichten der Gesellschaft (vom Facharbeiter bis zum Gymnasiallehrer) gegenüber unteren (Sozialleistungsempfänger) und oberen gesellschaftlichen Gruppen (Vermögensbesitzer) stärker berücksichtigt werden muss. Träger dieses Paradigmas sind vor allem Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie alle politischen Parteien bis auf »die Linke«. Das Idealbild ist das eines residualen, die größten Erwerbsrisiken abfedernden Wohlfahrtsstaats mit starker Kopplung von Sozialleistungen an zuvor an die Sozialkassen entrichtete Beiträge. Leisering bezeichnet Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit als Paradigmen der Verteilungsgerechtigkeit im engeren Sinne, weil sie sich auf die Aufteilung eines bestehenden Wohlstandsvolumens richten. Das dritte, gewissermaßen utilitaristische Paradigma ist die »produktivistische« Gerechtigkeit, die auf die Erhöhung des gesamten Wohlstandvolumens abzielt. Ihr zufolge gilt als gerecht, was zu mehr Ge re cht igke it svo rs t e ll unge n d e r B evöl ke ru n g de r G e g e nwart | 225
Wohlstand für alle führt, auch wenn dadurch die gesellschaftliche Ungleichheit ansteigen sollte. Auch hier geht es um Leistung, jedoch nicht die des Einzelnen für sich selbst, sondern die für das Kollektiv. Adressat des Paradigmas ist die gesamte Gesellschaft, sein Träger sind die Verbände der Arbeitgeber und der freien Berufe sowie alle Parteien außer die »Linke«. Das Idealbild des Verteilungssystems ist das des durch Sanktionen zu Leistung »negativ-aktivierenden« Wohlfahrtsstaats. Das vierte Paradigma ist das aus Sicht von Leisering neue in der Reformdebatte der Gegenwart. Die »Teilhabegerechtigkeit« basiert auf einer Neudefinition von Chancengleichheit, und zwar in zwei Hinsichten. In der ersten, partikularistischen Hinsicht sollen Menschen, die aufgrund von bestimmten zugeschriebenen Merkmalen von der Wohlfahrtsproduktion als gesellschaftlich benachteiligt gelten, aktiv gefördert werden. Dies sind kinderreiche Familien, die die Last des Aufzugs der künftigen Beitragszahler auf sich nehmen, (alleinstehende) Frauen, die aufgrund des geringeren Lohnniveaus (wegen höherer Teilzeittätigkeit) besonders unter der Absenkung der durchschnittlichen Altersrente zu leiden haben, und junge Erwerbstätige, die zukünftig hohe Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung bei durchschnittlich geringeren Leistungen im Vergleich zu ihren Vorgängergenerationen leisten werden. Weitere, über den engeren Kontext des Wohlfahrtsstaats hinausgehende Gruppenansprüche sind denkbar, wie die von Migranten, die ethnisch am Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden. Leisering betont, dass Teilhabegerechtigkeit in dieser partikularistischen Hinsicht eine so genannte »askriptive« Gerechtigkeitsvorstellung ist: Sie zielt nicht auf die Schaffung eines allumfassenden wohlfahrtsstaatlichen Steuerungsmechanismus ab, sondern es soll nur dann interveniert werden, wenn gruppenspezifische Benachteiligungen auftreten. In der zweiten, universalistischen Hinsicht zielt das Paradigma der Teilhabegerechtigkeit nach Leisering auf ein Konzept der Grundsicherung. Grundsicherungskonzepte sehen vor, Sozialleistungen, die auf Beitragszahlungen basieren, durch ein einheitliches Grundeinkommen zu ersetzen, das nicht mehr an vorhergehende Erwerbsleistungen geknüpft ist. Damit verfügt ein jeder über eine Basissicherung, die durch Erwerbseinkommen dann ergänzt werden kann. Benachteiligungen im Zugang zum Arbeitsmarkt sind damit weitgehend ausgeglichen. Das wohlfahrtsstaatliche Ideal ist das eines »aktiv-aktivierenden« Staats. Seine Befürworter sind vor allem verschiedene soziale Bewegungen. Welche Verschiebungen in der Verbreitung der vier Paradigmen sind seit den 1990er Jahren bis in die Gegenwart zu erwarten? Leisering geht davon aus, dass das Paradigma der Leistungsgerechtigkeit seit den 1990er Jahren an Zustimmung in Deutschland gewinnt.17 Als Grund für diese These führt er unter anderem die Einführung und zunehmende Akzeptanz von privaten Formen der Altersvorsorge (»Riester«-/»Rürup«-Rente, kapitalbildende Altersrente) an. Zugleich gewinne das Paradigma der produktivistischen Gerechtigkeit an Bedeutung. Anzeichen 226 | Holger Lengfe l d
hierfür waren die Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland in den 1990er Jahren sowie die weitgehende Akzeptanz der Forderung nach Senkung von Lohnnebenkosten auf der Arbeitnehmerseite. Drittens würden Vorstellungen der Teilhabegerechtigkeit an Legitimität zunehmen. Leisering betont, dass dieses Paradigma aufgrund seines Bezugs auf individuelle Lebenslagen dem Paradigma der Bedarfsgerechtigkeit nahe stehe, anders als dieses aber keine Umverteilung fordere. Leisering hebt zwar nicht ausdrücklich hervor, dass die Zunahme der Akzeptanz der drei genannten Paradigmen die Legitimität der Bedarfsgerechtigkeit zurückdrängt. Dies scheint jedoch plausibel, da sowohl die individualistische Leistungs- als auch die kollektivistische produktivistische Gerechtigkeit fordern, Sozialleistungen an ökonomisch unproduktive Personen zu begrenzen. Weiter könnte man vermuten, dass Bedarfsgerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit neu interpretiert und damit der Bezug auf Umverteilung, der im ursprünglichen Bedarfsparadigma konstitutiv war, gelockert wird.
4. E m pi r i s c he Hinwe ise aus e ine r B evölkerungsumfrage Inwiefern ist es zu der von Leisering vermuteten Veränderung in der Struktur der Gerechtigkeitsvorstellungen seit Beginn der 1990er Jahre gekommen? Da Leisering selbst keine empirischen Befunde präsentiert, möchte ich im Folgenden Befunde einer eigenen Analyse vorstellen. Hierzu ziehe ich Daten der öffentlich finanzierten »Allgemeinen Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften (ALLBUS)« heran, in der seit 1980 wahlberechtigte Personen in zweijährigem Abstand zu unterschiedlichen Themen der Sozialstruktur und damit verbundenen Einstellungen und Handlungsweisen der deutschen Bevölkerung interviewt werden.18 Da die im ALLBUS enthaltenen Fragen nicht zum Zwecke der Messung von Gerechtigkeitsparadigmen entwickelt worden sind, besteht die Schwierigkeit darin, gestellte Fragen auszuwählen, die dem von Leisering gemeinten Sinn der vier Paradigmen zumindest weitgehend entsprechen.19 Ich habe hierfür folgende Antwortmöglichkeiten ausgewählt. Auf die Frage nach Bedarfsgerechtigkeit: »Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat«. Nach Leistungsgerechtigkeit: »Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistung«. Nach produktivistischer Gerechtigkeit: »Die Wirtschaft funktioniert nur, wenn die Unternehmer gute Gewinne machen. Und das kommt letzten Endes allen zugute«. Nach Teilhabegerechtigkeit: »Das Einkommen sollte sich nicht allein nach der Leistung des Einzelnen richten. Vielmehr sollte jeder das haben, was er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht.«20 Ge re cht igke it svo rs t e ll unge n d e r B evöl ke ru n g de r G e g e nwart | 227
Die Ergebnisse sind in Abbildung 1 wiedergegeben. Darin wird der Verlauf der Zustimmung zu den vier Paradigmen zwischen 1984 und 2010 grafisch wiedergegeben. Da nicht jede Frage in jeder einzelnen Umfrage gestellt wurde, fehlen für manche Erhebungszeitpunkte Angaben. Blicken wir zunächst auf den Ausgangspunkt im Jahr 1984. Zu sehen ist, dass die Bedarfsgerechtigkeit mit 90 Prozent Zustimmung als ganz überwiegend von allen geteiltes Paradigma anzusehen ist, gefolgt von der produktivistischen Gerechtigkeitsvorstellung mit gut zwei Dritteln Zustimmung. Dem Muster der Leistungsgerechtigkeit stimmt zu diesem Zeitpunkt mehr als die Hälfte der Befragten zu. Das Paradigma der Teilhabegerechtigkeit, hier in seiner universalistischen Variante, findet zwar die geringste Zustimmung, ist aber mit rund 45 Prozent dennoch innerhalb der deutschen Bevölkerung gut verankert. Vergleichen wir nun den Start- mit dem (nach Einstellungsmuster variierenden) Endpunkt der zeitlichen Beobachtung. Man sieht, dass sich die Rangfolge nicht verändert hat. Bedarfsbezogene Einstellungen liegen vor leistungs- und produktivitätsbezogenen Vorstellungen und das teilhabebezogene Muster findet nach wie vor relativ gesehen den geringsten Zuspruch. Dies verweist darauf, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat, bekanntlich eine Verbindung aus leistungsbezogenen Beiträgen und Grundsicherungselementen, in der Bevölkerung nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden ist. Die Unterschiede zwischen Paradigmen sind jedoch im Zeitverlauf deutlich geringer geworden. Insbesondere die stetige Abnahme der Zustimmung zur Bedarfsgerechtigkeit (von 91 auf 82 Prozent) bei leicht ansteigender Zustimmung zur Leistungs- und konstanter Verbreitung von Einstellungen zur produktivistischen Gerechtigkeit deutet darauf hin, dass die Frage der Bekämpfung der klassischen Erwerbsrisiken wie Armut und Arbeitslosigkeit aus Sicht der Befragten offenbar zunehmend daran geknüpft werden sollte, dass die Betroffenen sich eigenverantwortlich um die Verbesserung ihrer Lage bemühen. Weiterhin wird deutlich, dass das universalistische Teilhabeparadigma, also die leistungsunabhängige staatliche Alimentierung aller Gesellschaftsmitglieder, unstetig an Zustimmung gewonnen hat (von 46 Prozent im Jahr 1984 bis 57 Prozent im Jahr 2010). Man kann darüber spekulieren, ob diese Parallelität des Aufwärtstrends des Teilhabe- und der Abwärtsbewegung des Bedarfsparadigmas als Kompensationsprozess zu verstehen wäre: Anstatt der punktuellen Bearbeitung zeitweise nachteiliger Lebenslagen sollte der Wohlfahrtsstaat zum Grundeinkommen auf Dauer übergehen. Damit würde das Teilhabekonzept das Konzept der Bedarfssicherung möglicherweise langfristig ablösen. Ein Beleg für diese Kompensationsthese ist aus diesen empirischen Ergebnissen aus methodischen Gründen aber nicht ableitbar.21 Nichtsdestotrotz geben diese, wenn auch methodisch sehr simplen, Analysen Hinweise darauf, dass es einen Gegentrend von sinkender Bedarfsgerechtigkeit auf der einen und steigender Teilhabegerechtigkeit auf der anderen Seite gibt. Zugleich bleiben die beiden auf individuelle und kollektive Leistung abzielenden Paradig228 | Holger Lengfe l d
Abb. 1: Gerechtigkeitsparadigmen im Wandel (Zustimmung in %) 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30%
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Bedarfsgerechtigkeit
Leistungsgerechtigkeit
Produktivistische Gerechtigkeit
Teilhabegerechtigkeit
2010
Quelle: ALLBUS 1984–2010; eigene Berechnungen.
men zwar dauerhaft konstant im Moralhaushalt der deutschen Bevölkerung verankert, haben aber entgegen der Vermutung Leiserings keine deutliche Steigerung erfahren. Die voranstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gegenwart weder zwischen den Einzelnen beliebig variierende Glaubensmuster sind, noch ist die Gesellschaft von einem bestimmten Vorstellungsmuster dominiert. Vielmehr hat sich parallel zur Ausdifferenzierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert ein Pluralismus von Einstellungsmustern ausgebildet. Diese Muster lassen sich zumeist auf die soziale Position eines Individuums bzw. einer sozialen Gruppe zurückführen. Der argumentative Bezug auf Gerechtigkeit dient den Menschen dazu, die aus der jeweiligen sozialen Position folgenden materiellen Interessen anderen gegenüber zu legitimieren. Dennoch sind Gerechtigkeitsvorstellungen kein Element der strategischen Verschleierung des eigenen Nutzens. In ihnen kommt auch der Anspruch auf die Durchsetzung von moralischen Forderungen zum Ausdruck, von denen ein Urteilender meint, jeder an einer Verteilung Beteiligter müsse ihnen mit guten Gründen zustimmen. Nicht die objektive Fähigkeit, tatsächlich unparteilich urteilen zu können (wie es der eingangs geschilderte Gerechtigkeitsbegriff der Philosophie voraussetzt), sondern der subjektive Anspruch des Einzelnen darauf kennzeichnet die Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen. Ge re cht igke it svo rs t e ll unge n d e r B evöl ke ru n g de r G e g e nwart | 229
Zugleich unterliegen Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung der Gegenwart dem Wandel. Anhand des Konzepts der Gerechtigkeitsparadigmen kann man sehen, dass Einstellungen zur Umverteilung (Bedarfsgerechtigkeit) an Zustimmung tendenziell verlieren, während universalistische (Teilhabegerechtigkeit) und an Leistung bzw. kollektiver Produktivität orientierte Muster an Zustimmung gewinnen. Dieser »ideelle« Wandel folgt auf komplexe Weise dem Wandel der materiellen Struktur der Gesellschaft. Kurz gesagt, scheint sich die mit Beginn der 1990er Jahre einsetzende partielle Verschlankung der sozialen Sicherungssysteme zu Gunsten einer stärker auf Selbstverantwortung zielenden Sozialpolitik im Bewusstsein der Deutschen niederzuschlagen. Allerdings hat hier wahrscheinlich weniger eine Einstellungsänderung im Bewusstsein der einzelnen Personen im Zeitverlauf stattgefunden. Zu vermuten ist, dass diese Veränderungen durch den Generationenwandel hervorgerufen werden. So sind jüngere Kohorten stärker individualistisch geprägt und hängen (möglicherweise, denn hierfür fehlen empirische Befunde) stärker dem Teilhabe- als dem Bedarfsparadigma an. Sie wachsen in einer anderen, in höherem Maße durch Konkurrenz und geringere Solidarität geprägten Welt auf. Das hinterlässt Spuren in ihrem Moralhaushalt.
A n m e r ku nge n 1 In diesem Beitrag werden an einigen Stellen Auszüge aus folgenden Quellen verwendet: H. Lengfeld, Mitbestimmung und Gerechtigkeit. Zur moralischen Grundstruktur betrieblicher Verhandlungen, München / Mering 2003, S. 88 ff.; ders., »Soziale Gerechtigkeit und politische Entscheidungen. Perspektiven der Interdisziplinären Gerechtigkeitsforschung«, Diskurs 12 (2004), S. 24–32. Ich danke Martin Carillo Aravena für die Unterstützung bei der Datenrecherche. 2 Vgl. S. Liebig / H. Lengfeld (Hgg.), Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung. Zur Verknüpfung empirischer und normativer Perspektiven, Frankfurt/M. / New York 2002. 3 Vgl. zum Überblick über ergebnisbezogene Gerechtigkeitseinstellungen S. Liebig, Soziale Gerechtigkeitsforschung und Gerechtigkeit in Unternehmen, München / Mering 1997; B. Wegener, »Belohnungs- und Prinzipiengerechtigkeit. Die zwei Welten der empirischen Gerechtigkeitsforschung«, in: U. Druwe / V. Kunz (Hgg.), Politische Gerechtigkeit, Opladen 1999, S. 167–214 und Lengfeld (o. Anm. 1) für unterschiedliche Anwendungskontexte. 4 Siehe zu diesem Abschnitt J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993 sowie J.N. Shklar, Über Ungerechtigkeit, Berlin 1992; U. Steinvorth, Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit, Berlin 1999. 5 D. Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 1972, S. 23. 6 Zum Überblick über das Folgende siehe O. Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 2007 sowie Steinvorth, Gleiche Freiheit (o. Anm. 4). 230 | Holger Lengfe l d
7 Für Versuche, die Fallhöhe zwischen normativer Theoriebildung und konkreten politischen Gestaltungsproblemen zu überwinden, vgl. unter anderem S. Blasche / D. Döring (Hgg.), Sozialpolitik und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. / New York 1998 und Liebig / Lengfeld, Gerechtigkeitsforschung (o. Anm. 2). 8 Vgl. hierzu J.L. Hochschild, What’s Fair? American Beliefs about Distributive Justice, Cambridge (Mass.) 1981; Liebig, Gerechtigkeitsforschung (o. Anm. 3); T. Schwinger, »Gerechte Güter-Verteilungen. Entscheidungen zwischen drei Prinzipien«, in: G. Mikula (Hrsg.), Gerechtigkeit und soziale Interaktion, Bern 1980, S. 107–140. 9 B. Wegener / B. Lippl / B. Christoph, »Justice Ideologies, Perceptions of Reward Justice, and Transformation: East and West Germany in Comparison«, in: D.S. Mason / J.R. Kluegel (Hgg.), Marketing Democracy. Changing Opinion about Inequality and Politics in East Central Europe, Lanham 2000, S. 122–160. 10 Vgl. für das Folgende B. Wegener / S. Liebig, »Eine Grid-Group-Analyse sozialer Gerechtigkeit. Die alten und neuen Bundesländer im Vergleich«, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45 (1993), S. 668–690. 11 Vgl. Wegener / Liebig, »Grid-Group-Analyse« (o. Anm. 10); B. Wegener / S. Liebig, »Dominant Ideologies and the Variation of Distributive Justice Norms. A Comparison of East and West Germany, and the United States«, in: J.R. Kluegel / D.S. Mason / B. Wegener (Hgg.), Social Justice and Political Change. Public Opinion in Capitalist and Post-communist States, Berlin et al. 1995, S. 239–259. 12 B. Wegener / S. Liebig, »Gerechtigkeitsvorstellungen in Ost- und Westdeutschland im Wandel: Sozialisation, Interessen, Lebenslauf«, in: P. Krause / I. Ostner (Hgg.), Leben in Ost- und Westdeutschland: Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010, Frankfurt/M. 2010, S. 83–102. Grundlage sind Daten von vier Umfragestudien der Jahre 1991, 1996, 2000 und 2006, die von Bernd Wegener und seinem Team durchgeführt wurden. 13 H. Lengfeld / T.-M. Kleiner, »Flexibilisierung von Beschäftigung und soziale Ungleichheit. Eine Review des Stands der Forschung«, Arbeit – Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung, Arbeitspolitik 18 (2009), S. 46–62. 14 S. Liebig, »Arbeitslosigkeit und Moralökonomie. Zu den Folgen des Verlusts moralischer Anregungs- und Anerkennungskontexte«, in S. Liebig / H. Lengfeld / S. Mau (Hgg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. / New York, S. 197–221. 15 L. Leisering: »Paradigmen sozialer Gerechtigkeit. Normative Diskurse im Umbau des Sozialstaats«, in: Liebig / Lengfeld / Mau, Verteilungsprobleme (o. Anm. 14) S. 29–68. 16 Obschon sich der Paradigmabegriff bei Leisering ausschließlich auf Rechtsfertigungsmuster im Diskurs um die Reform des Wohlfahrtsstaats bezieht, sind durchaus Parallelen zum Begriff der Gerechtigkeitsideologie erkennbar. 17 Leisering , »Paradigmen« (o. Anm. 15), S. 52 ff. 18 Die im Folgenden dargelegten Auswertungen basieren auf kumulierten ALLBUS-Erhebungen 1984–2008 sowie dem ALLBUS 2010. Es werden relative Häufigkeiten von itembasierten Ge re cht igke it svo rs t e ll unge n d e r B evöl ke ru n g de r G e g e nwart | 231
Fragen wiedergegeben (Mehrfachantworten waren möglich). Da in den einzelnen Befragungswellen unterschiedliche Methoden zur Stichprobenziehung verwendet werden, steht im ALLBUS zur Korrektur der daraus entstehenden Verzerrung eine Gewichtungsvariable zur Verfügung. Da die Verwendung dieses Gewichts jedoch umstritten ist, verzichte ich im Folgenden auf die entsprechende Gewichtung der Daten. 19 Alle Items sind mit einer vierstufigen Zustimmungsskala verbunden (»1 = Stimme voll zu«; 2 = Stimme eher zu; 3 = Stimme eher nicht zu; »4 = Stimme gar nicht zu«). Aufgeführt sind die kumulierten Zustimmungen (Skalenpunkte 1 und 2). Die weiteren Fragetexte sind in den Codebüchern dokumentiert, die unter den Bestellnummern ZA4570 und ZA4610 unter http://www.gesis.org/allbus/recherche/ erhältlich sind (abgerufen am 08.01.2012). 20 Während die ersten drei Antwortvorgaben hinsichtlich des Verteilungsprinzips und des Referenzsystems weitgehend mit den Ausführungen Leiserings übereinstimmen, bildet die vierte nur einen Ausschnitt des Konzepts der Teilhabe ab, nämlich die universalistische Perspektive des allgemeinen Grundeinkommens, und dies auch nur teilweise, weil weder der Begriff des Grundeinkommens genannt wird, noch die Konsequenzen der radikalen Reform der Sozialversicherung thematisiert werden. 21 Der Grund ist, dass die untersuchten Daten der Zusammenfassung von mehreren einzelnen Umfragen stammen, in der jeweils andere Personen befragt wurden. Daher sind keine Aussagen über Veränderungen in der Zeit auf der Ebene des Einzelnen möglich. Zugleich ist nochmals zu betonen, dass der analysierte empirische Indikator für Teilhabegerechtigkeit lediglich die universalistische Seite von Teilhabe abdeckt und die bei Leisering mindestens ebenso zentrale partikularistische Seite der Bearbeitung von askriptiven Lagemerkmalen (Familiensituation, Kohortenzugehörigkeit, Geschlecht) nicht messen kann.
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Gerhard Amend
GERECHTIGKEIT KANN MAN NICHT ERWARTEN – NUR EIN URTEIL Gerechtigkeit gehört zu den Tugenden, die schon in der Kunst des Altertums als Figur – meist als Frau, die in einer Hand eine Waage und in der anderen ein Schwert hält – dargestellt wurde. Das Schwert deutet an, dass Justitia auch straft. Die Waage soll zeigen, dass sie gerecht entscheidet. Seit der Renaissance trägt sie meist eine Augenbinde, um dem Betrachter zu versichern, dass sie ihre Urteile ohne Ansehen der Person spricht.1 Angelika Nußberger, Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, führte in einem Interview aus, Gerechtigkeit sei für sie, mehr zu erreichen als Streit zu schlichten. Es gehe darum, einen sachlich rechtfertigbaren und für den Einzelnen annehmbaren Ausgleich zwischen verschiedenen Wünschen, Forderungen, Erwartungen und Ansprüchen, gleich ob sie artikuliert würden (könnten) oder nicht, zu schaffen. Und Bärbel Bohley, Symbolfigur der Bürgerbewegung in der DDR, stellte in ihrem berühmten Satz zur Wiedervereinigung resigniert fest: »Wir erwarteten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.« Friedrich Schorlemer konterte: »Natürlich hatte auch ich ein bisschen mehr erwartet als den Rechtsstaat, doch mindestens gab es dann diesen Rechtsstaat und nicht die Herrschaft der vermeintlich Gerechten.«2 Damit wird deutlich, dass Gerechtigkeit mehr ist als richtige Anwendung der Gesetze. Vielmehr geht sie über das hinaus, was der Rechtsstaat zu leisten imstande ist, auch wenn das Rechtsstaatsprinzip wiederum Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält und das Recht, insofern es die Wirklichkeit darstellt, lediglich den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen.3 Dem Richter obliegt die Aufgabe, dem Willen des Gesetzes Geltung zu verschaffen. Aber hat er im Radbruchschen4 Sinne nur die Berufspflicht, dem Willen des Gesetzes zu folgen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritären Rechtsbefehl zu opfern und nur zu fragen, was rechtens ist, und niemals, ob es gerecht sei? Reicht Gesetzestreue aus, um ein gerechter Richter zu sein? Im Zivilrecht hat der Richter Konflikte zwischen Parteien zu entscheiden, im Verwaltungsrecht staatliches Handeln zu kontrollieren, im Sozialrecht für Bedürftige ihren Anspruch auf Sozialleistungen gegen den Staat durchzusetzen. Ein Strafrichter hat Schuldige zu bestrafen und Unschuldige freizusprechen. Er hat Opfern von Straftaten Genugtuung als Ausgleich für erlittenes Unrecht zu verschaffen, aber auch die Aufgabe, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu sichern und dadurch Rechtsfrieden und soziale Kontrolle auszuüben.5 Ge re cht igke i t k an n m an n i c ht e rwart e n | 233
Die Bevölkerung verlangt lautstark – verbreitet durch die Medien6 – den Schutz vor Straftätern. Damit erleben wir eine Renaissance des repressiven Strafrechts. Philosophische Überlegungen spielen in der strafrechtlichen Diskussion keine Rolle. Das Feld beherrschen Sicherheitspolitiker und Polizei. Der Rechtsstaat bewegt sich hin zum Sicherheits-, zum Präventionsstaat. Damit tritt das materielle Recht bei der Frage der Gerechtigkeit in den Hintergrund und das Strafverfahren gewinnt immer mehr an Bedeutung.7 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts,8 das die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht9 erklärte, hat nicht zu einer Wende der Rechtspolitik geführt.
Ve r fa h re nsge re c ht igke it Für einen gerechten Strafprozess sind Verfahrensrechte, die den Angeklagten vor der Einflussnahme Dritter, vor der Willkür des Gerichts schützen, von elementarer Bedeutung. Sie geben dem Angeklagten die Gewissheit, dass der gesamte Strafprozess unter dem Leitgedanken der Rechtsstaatlichkeit, der Achtung von Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts steht. John Rawls hat mit seinem Werk Theorie der Gerechtigkeit10 das totgesagte Thema der Gerechtigkeit auch in der Wissenschaft wieder gesellschaftsfähig gemacht.11 Seine Grundsätze zur Verfahrensgerechtigkeit könnten für die Weiterentwicklung eines gerechten Strafverfahrens dienen. Den Grundsatz des fairen Verfahrens gewährleistet auch das Rechtsstaatsprin12 zip. Dieses allgemeine Prozessgrundrecht ist im materiellen Verfassungsrecht in den Grundrechten der Freiheitsrechte13 und in der verfassungsrechtlich verbürgten Menschenwürde14 verortet. Das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren, d.h. ein an den Grundsätzen der Gerechtigkeit orientierter Strafprozess, findet in der Strafprozessordnung und in der Menschenrechtskonvention15 seinen besonderen Ausdruck.16 Dort sind Mindestgarantien17 normiert, wie die freie Wahl eines Verteidigers, das Recht, Fragen an Belastungszeugen stellen zu können oder stellen zu lassen, die unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher, die Eingang in das deutsche Strafprozessrecht gefunden haben. Die Verletzung von Verfahrensrechten,18 die den Beschuldigten zum bloßen Objekt herabwürdigen, führt zu einem Beweisverwertungsverbot. Werden grundlegende Verfahrensrechte verletzt, dürfen die gewonnenen Beweise nicht berücksichtigt werden. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn eine Aussage unter Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden (Misshandlung, Ermüdung, körperliche Eingriffe, Verabreichung von Mitteln, Quälerei, Täuschung oder Hypnose), 234 | Gerhard Am e nd
ohne Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht,
unter Verletzung des Rechts, einen Verteidiger befragen zu können,
zustande gekommen ist.
Wesentlich ist auch, dass der Verkehr zwischen Verteidiger und Beschuldigten bzw. Angeklagten vor staatlichen Eingriffen geschützt ist. Es darf weder der Kontakt zwischen Verteidiger und Angeklagtem überwacht noch der Schriftverkehr zwischen ihnen beschlagnahmt werden. Die Rechte des Beschuldigten bzw. Angeklagten begrenzen jedoch den Staat in seiner Aufgabe, seine Bürger zu schützen und seinen Strafanspruch durchzusetzen. Deswegen führen nicht alle Verstöße gegen Beschuldigten- bzw. Angeklagtenrechte zu einem Beweisverwertungsgebot. Es kommt auf die Schwere der Gesetzesverletzung und auf die Bedeutung der verletzten Rechtsposition für ein faires Verfahren an.19 So dürfen bei Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss gefundene Beweismittel in der Regel verwertet werden, wenn die Durchsuchung bei ordnungsgemäßer Vorgehensweise vom Richter angeordnet worden wäre.20
Wa h r h e i t al s G rundl age ge re c ht e r St rafe Das Streben nach Wahrheit ist Aufgabe des Strafverfahrens. Gerechtigkeit ist im materiellen Strafrecht verortet. Aber beide, Wahrheit und Gerechtigkeit, sind untrennbar miteinander verbunden.21 Einen Sachverhalt aufzuklären, gehört zu den Pflichten des Gerichts.22 Die Aufklärungspflicht stößt jedoch auf tatsächliche und rechtliche Grenzen.
Ta t s ä c h l i che G re nze n So stehen bei einem Tötungsdelikt als Beweismittel zur Verfügung: Sachverständige, die das Opfer obduzieren und Spuren des Täters am Opfer und Tatort untersuchen, Polizeibeamte, die den Tatort beschreiben. Die Aussage eines Täters ist meist wenig hilfreich. Er kann oder will über die Tat nicht reden. Seine Aussage ist nach Besprechungen mit dem Verteidiger häufig von taktischen Überlegungen geprägt. Motive der Tat, die Gefühlswelt des Täters sind nur erfassbar, wenn der Täter offen und ehrlich aussagt. Gleichwohl muss der Richter versuchen, den Sachverhalt aufzuklären, um eine materiell gerechte Strafe zu finden, aber auch um den Angehörigen Gewissheit über die Umstände des Verbrechens zu verschaffen. Ge re cht igke i t k an n m an n i c ht e rwart e n | 235
Wahrnehmungsfähigkeit und Merkfähigkeit von Zeugen und Beschuldigten sind begrenzt. Wer ist schon in der Lage, einen in wenigen Sekunden ablaufenden Verkehrsunfall so wahrzunehmen und im Gedächtnis zu behalten, dass er in der Hauptverhandlung ein Jahr später den Unfall so wiedergeben kann, wie er sich tatsächlich ereignet hat?
Re c ht l i che G re nze n Beweise, die unter Umgehung von Beschuldigtenrechten gewonnen worden sind, dürfen im Strafprozess nicht eingeführt werden.23 So kann die Aussage eines Kraftfahrers – »er sei eingeschlafen« – wenn sie unter Verletzung der Belehrungspflicht zustande gekommen ist, nicht bei der Verurteilung wegen Straßenverkehrsgefährdung herangezogen werden.24 Der Angeklagte muss eventuell sogar freigesprochen werden. Zeugen sind nicht verpflichtet, bei der Erstellung von medizinischen oder wissenschaftlichen Gutachten zur Glaubhaftigkeit ihrer Aussage oder Aussagetüchtigkeit mitzuwirken. Zeugen, nahe Verwandte, Ehegatten oder Verlobte des Angeklagten müssen nicht aussagen.25 Eine frühere Aussage darf nur verwertet werden, wenn sie vor einem Richter erfolgt ist.26 Es kommt nicht selten vor, dass der Schwager oder die Schwiegermutter eine Zeugin zum Ermittlungsrichter begleiten und die Zeugin dann von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Die Schilderungen von körperlichen und sexuellen Übergriffen des Ehemanns in der polizeilichen Aussage müssen wegen des Beweisverwertungsverbotes der früheren Aussage unberücksichtigt bleiben. Der Schutz von Ehe und Familie und die mit einer wahrheitsgemäßen Aussage verbundene Zwangslage lassen die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit zurücktreten. Auch Rechte von Opferzeugen können die Wahrheitsfindung erschweren. Sie sind in den letzten Jahren27 von einer politisierten Öffentlichkeit und einem nach Beifall schielenden Gesetzgeber immer mehr in den Mittelpunkt des Strafverfahrens gerückt. Eine Bild-Ton-Aufzeichnung der Vernehmung eines Zeugen unter 18 Jahren vor dem Ermittlungsrichter darf in Sexualstrafverfahren in der Hauptverhandlung anstatt einer Vernehmung des Zeugen vorgespielt werden, wenn der Angeklagte oder sein Verteidiger die Gelegenheit hatten, an dieser mitzuwirken.28 Das erkennende Gericht muss sich in der Hauptverhandlung mit ergänzenden Fragen begnügen. Eine Konfrontation der Zeugen mit der Aussage des Angeklagten in der Hauptverhandlung ist nur beschränkt möglich. Eine wesentliche Erkenntnisquelle, einen Zeugen authentisch zu erleben, muss im Interesse des Opferschutzes zurücktreten. Wird ein Opferzeuge in der Hauptverhandlung vernommen, so entsteht manchmal der Eindruck, die Aussage des Zeugen sei einstudiert. Da Opfer236 | Gerhard Am e nd
anwälte als Nebenklägervertreter das Recht auf Akteneinsicht besitzen, können sie den Zeugen auf Einwände und Vorhalte der Verteidigung vorbereiten. Das Gericht erlebt einen von Nebenklägervertretern oder Mitarbeitern von Opferschutzverbänden präparierten Zeugen.
M a t e r i e ll rec ht l ic he G re nze n ge re c ht er Strafe Angebote des Gesetzgebers in den Strafgesetzen, die dem Angeklagten Strafmilderung versprechen, wenn er einen Täter-Opfer-Ausgleich29 durchführt oder Aufklärungshilfe bei schweren Straftaten leistet,30 reduzieren die Straferwartung. Durch den Täter-Opfer-Ausgleich soll das Interesse beim Angeklagten geweckt werden, dem Tatopfer Schadenskompensation zu leisten, aber auch die Bereitschaft gefördert werden, Verantwortung für seine Tat zu übernehmen. Die Stärkung der Rechtspositionen von Tatopfern erschwert die Wahrheitsfindung und entfernt sich von einer schuldgerechten Strafe. Das sozialpädagogische Konzept der Konfliktbewältigung ist nur schwer mit dem Schuldprinzip als Maßstab gerechter Strafe vereinbar. Ebenso schwer mit dem Schuldprinzip ist die Möglichkeit vereinbar, dass ein Straftäter Straferlass bzw. eine Strafreduzierung erhält, wenn er den Ermittlungsbehörden Hilfe bei der Aufklärung schwerer Straftaten leistet. Die Regelung des § 31 BtMG ist erstmalig im Betäubungsmittelrecht 198231 in Kraft getreten. Dies führte zu einer wesentlich verbesserten Aufklärung von Betäubungsmittelstraftaten und hat bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit eine hohe Bedeutung erlangt.32 Seit 1.9.2009 hat diese Milderungsmöglichkeit auch im allgemeinen Strafrecht Einzug gehalten.33 Dies führt u.a. dazu, dass ein Großdealer, der seine Abnehmer auffliegen lässt, teilweise eine geringere Strafe erhält als ein Abnehmer. Für einen in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten ist es nur schwer vermittelbar, wenn der Großdealer bei seiner Zeugenaussage sich noch in Freiheit befindet. Die Milderungsmöglichkeiten führen in der Praxis häufig auch dazu, dass sogenannte Kronzeugen den Tatbeitrag Anderer übertreiben. Die bei der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des deutschen Bundestags geäußerten Bedenken im Hinblick auf das Schuldprinzip hat der Gesetzgeber als nicht durchgreifend erachtet.34 Die Sicherheitspolitiker haben sich gegen gerechte Bestrafung zugunsten Tataufklärung entschieden. Diese Entwicklung wird durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begünstigt. Das Bundesverfassungsgericht hat es vermieden, klar Stellung zu beziehen, welchen Zweck Strafe besitzt. Es hat dem Strafrecht die allgemeine Aufgabe zugewiesen, elementare Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen, SchuldGe re cht igke i t k an n m an n i c ht e rwart e n | 237
ausgleich zu betreiben, die Resozialisierung des Täters zu ermöglichen, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht zu erreichen, aber auch generalpräventiv zu wirken.35 Eine Aussage zur Strafhöhe bzw. zur schuldgerechten Mindeststrafe trifft das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht.
D e r Ri c ht e r al s G arant ge re c ht e r Strafe Der Richter hat die Berufspflicht, dem Willen des Gesetzgebers Geltung zu verschaffen. Er hat nicht zu fragen, was rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei. Auch wenn er aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er immer noch Diener der Rechtssicherheit.36 Diese von Radbruch beschriebene Pflicht des Richters haben viele Interpreten als positivistisch eingestuft.37 Sie haben die richterliche Aufgabe nicht auf die Schaffung von Rechtssicherheit verkürzt und verlangen, dass ein Richter unparteiisch entscheidet und Recht und Unrecht auch aus der Sicht des Täters beurteilt.38 Ein Richter muss auch die Fähigkeit zur Fairness besitzen. Er darf eigene Präferenzen nicht als unbedingt gültigen Maßstab für den tatsächlichen Wert der zu beurteilenden Interessen betrachten. Der gerechte, unparteiliche Richter soll über genügende Intelligenz, eine gewisse Lebenserfahrung und über Weltwissen verfügen, aber auch über die Tugenden der intellektuellen Revisionsbereitschaft und der moralischen Einsichtsfähigkeit.39 Die Gerichte orientieren sich bei der Festsetzung der Strafe nicht immer an unparteilichen Maximen. Der Grundgedanke unparteilicher Abwägung bei der Strafzumessung wird manchmal zur Illusion. Bei der Festsetzung der Strafe spielen Arbeitsbelastung des Gerichts, regionale Gepflogenheiten, mediale Einflussnahme auf Gerichte und Gesetzgeber eine Rolle. Die Zunahme umfangreicher, schwieriger Strafverfahren, die personelle Ausstattung von Staatsanwaltschaft und Gerichten und das Beschleunigungsgebot haben zu Verständigungen im Strafverfahren geführt. Der Angeklagte bekennt sich schuldig im Sinne der Anklage, Staatsanwaltschaft und Verteidigung handeln die Strafe aus, das Gericht segnet den Handel ab, alle Verfahrensbeteiligten sind zufrieden: An der Stelle von zehn Tagen Hauptverhandlung zwei Stunden, anstelle von vier Jahren Freiheitsstrafe zwei Jahre zur Bewährung, eine Win-Win-Situation für alle. Obergerichtliche Rechtsprechung, Kritik aus der Wissenschaft, selbst die gesetzlichen Regelungen seit dem 4.8.200940 sind nicht in der Lage, die seit 20 Jahren bestehende Praxis in den Griff zu bekommen. Der Deal über die Gerechtigkeit begünstigt die Straftäter, bei welchen der Nachweis der Straftaten schwierig ist. Ein Einbrecher, dessen Täterschaft durch Spuren nachgewiesen ist, kann in der Praxis nur einen geringen Straferlass bei Verständigungsbereitschaft erreichen. Gerechtigkeit, die gleiche Strafe bei vergleichbarem Unrecht verlangt, bleibt auf der Strecke. 238 | Gerhard Am e nd
Wolfgang Janisch41 kommentiert das Dilemma eines Richters so: Auf der einen Seite stehen Wahrheit und Gerechtigkeit – doch auf der anderen Seite wächst der Aktenberg auf seinem Schreibtisch, wenn er sich auf lange Prozesse einlässt. Auch regional unterschiedliche Bewertungen von Schuld führen zu deutlichen Unterschieden bei der Bestrafung. Ein Angeklagter, dem Vergehen oder Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz vorgeworfen werden, kann bei vergleichbarer Schuld beim LG Meiningen mit einer Strafe von zwei Jahren sechs Monaten, beim LG Coburg mit einer von vier Jahren und beim LG Nürnberg mit einer von fünf Jahren rechnen. Rauschgifthändler aus Thüringen, die Ware in den Raum Coburg liefern, verlangen einen Risikoaufschlag auf den Kaufpreis.42 Der Gesetzgeber hat in den letzten 15 Jahren auf Forderungen der Öffentlichkeit nach härteren Strafen reagiert. Die Mindeststrafe für gefährliche Körperverletzung wurde von drei Monaten auf sechs Monate Freiheitsstrafe, die Höchststrafe von fünf Jahren auf zehn Jahre Freiheitsstrafe angehoben.43 Die Mindeststrafe des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern beträgt nunmehr zwei Jahre Freiheitsstrafe.44 Beim minderschweren Fall des Totschlags wurde die Höchststrafe von fünf auf zehn Jahre angehoben.45 Dies sind nur einige Beispiele, wie der Gesetzgeber auf mediale Wirkung in der Öffentlichkeit reagiert. Auch das Rechtsgefühl ist bei der Bestrafung von nicht unerheblicher Relevanz. Mediale Einflussnahme hat zu höheren Strafen geführt. Dieselbe Tat – sexueller Missbrauch von Kindern –, die 1990 mit sechs Monaten Freiheitsstrafe geahndet worden ist, würde heute bei denselben Strafzumessungserwägungen wegen geänderten Strafrahmens und geänderter Bewertung des Tatunrechts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten führen. Nicht nur die Höhe der Strafe, auch die Beurteilung der Schuld erfuhr aufgrund medialer Einflüsse in einigen Bereichen Umorientierungen – der Leser erinnert sich sicherlich noch an die Fernsehberichte über Anschläge Rechtsradikaler auf Asylantenunterkünfte. Die Richter hatten plötzlich den Mut, Angeklagte wegen versuchten Mordes zu verurteilen, auch wenn keine konkrete Gefährdung von Menschen festzustellen gewesen war. Auch die Tritte Jugendlicher gegen den Kopf eines Rentners im Untergeschoss der Münchner U-Bahn haben einige Leser vielleicht noch vor Augen. Die Jugendkammer des LG München I verurteilte alle wegen eines versuchten Tötungsdelikts. Der BGH hat diese rechtliche Bewertung gebilligt. Dies führt auch dazu, dass vermehrt Fußtritte gegen den Kopf eines Wehrlosen als versuchter Totschlag anstatt nur gefährliche Körperverletzung geahndet werden. Ich selbst muss eingestehen, dass wir vor sechs Jahren Tritte gegen den Kopf eines am Boden liegenden jungen Mannes als schwere Körperverletzung gewertet haben. Wir hatten damals nicht den Mut oder vielleicht auch Skrupel, Tötungsvorsatz anzunehmen.
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Si c h e r ungsve rwahrung – St rafe oh ne Schuld Richter müssen entscheiden, rechtzeitig und angemessen. Dies fällt bei Verfahren, bei denen Sicherungsverwahrung im Raum steht, nicht immer leicht. Denn Sicherungsverwahrung ist losgelöst von Schuld. Sie dient im Gegensatz zur Strafe nicht dem Zweck, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen. Sicherungsverwahrung schließt sich der verbüßten Strafe an. Ihr Ende ist nicht absehbar. Sie wird ausgesprochen, wenn die Anlasstat mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe beträgt und der Täter bereits mindestens zweimal zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist. Bei den Straftaten handelt es sich um Taten gegen das Leben, gegen die persönliche Unversehrtheit, gegen die Freiheit, gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Sicherungsverwahrung setzt voraus, dass der Täter den Hang besitzt, die genannten Straftaten zu begehen, und für die Allgemeinheit gefährlich ist.46 Die Prognose über die Gefährlichkeit muss ein Psychiater stellen. Glaubte man Anfang der 1990er Jahre noch, Sicherungsverwahrung sei ein auslaufendes Rechtsinstitut, so ist Sicherungsverwahrung zu einem Eckpfeiler der derzeitigen Sicherheitspolitik geworden. Befanden sich 1996 noch 176, 2003 306, 2005 350 Straftäter in Sicherungsverwahrung, so waren es 2010 ca. 500.47 Die Zahl der Untergebrachten hat sich in 15 Jahren verdreifacht, während die Zahlen der Straftaten zurückgegangen sind. Grund dafür ist der Gesetzgeber, der die Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung verbreiterte,48 aber auch der Druck, den die Medien ausüben und den die Justizverwaltung über die Staatsanwaltschaften auf die Gerichte weitergibt. Dass der mediale Druck erheblich ist, zeigt ein Vorfall im Januar 2004. Die Bildzeitung hat unter den Überschriften »Saustall Justiz« und »Skandalrichter« BGH-Richter wie Verbrecher mit Augenbalken versehen abgebildet, weil sie eine Sicherungsverwahrung aufgehoben hatten und der Straftäter kurz nach seiner Entlassung eine junge Frau in Hamburg vergewaltigte. Der Focus titelte am 16.8.2009 »Ist unser Staat zu feige? – Der Skandal um Freilassung von 100 Sexverbrechern«. Grund dafür war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der eine Verschärfung der Sicherungsverwahrung im Jahre 1998 als einen Verstoß gegen Art. 5 MRK ansah. Nach der Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009,49 der in der Aufhebung der zeitlichen Begrenzung wegen des Rückwirkungsverbots einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 MRK erblickte, erklärte das Bundesverfassungsgericht am 4.5.2011,50 dass die gesetzlichen Regelungen über die Sicherungsverwahrung mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2, 20 Abs. 3 und 104 Abs. 1 GG unvereinbar sind.51 Diese Entwicklung der Sicherungsverwahrung ist ein Musterbeispiel für eine Rechtspolitik, die Sicherheitsinteressen in den Vordergrund stellt und dabei die grundrechtliche Orientierung verliert. 240 | Gerhard Am e nd
Aus bl i c k Die aufgezeigte Entwicklung, dass sich Strafe immer mehr von der Schuld entfernt, hat in der jüngsten Vergangenheit dazu geführt, dass sich Wissenschaft, Staatsanwälte, Verteidiger und Richter vermehrt die Frage nach der Gerechtigkeit im Strafverfahren stellen. Der Richtertag 2011 in Weimar hat u.a. eine Ethikdebatte geführt. Wolfgang Janisch beschreibt in seinem Kommentar52 die Diskussion als ein Bedürfnis der Richterschaft nach ethischen Normen, als Gegenbewegung zu einer Justizpolitik der vergangenen Jahre, bei der wenig von Gerechtigkeit und Wahrheit, dafür sehr viel von Effizienz und Sparzwang die Rede war. Die Evangelische Akademie in Loccum veranstaltete Anfang März 2011 eine Tagung unter dem Motto »Mehr Gerechtigkeit im Strafverfahren«. Die vermehrte Beschäftigung mit dem Thema »Gerechtigkeit« ist eine Gegenreaktion auf die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Sie führt hoffentlich dazu, dass Werte wie faires Verfahren, Wahrheit, gleiche Behandlung der Angeklagten mehr in den Mittelpunkt gerückt werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
A n m e r kun ge n 1 J. Eibach, »Versprochene Gleichheit – versprochene Ungleichheit«, Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 488–533; M. Kriele, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, Münster 22004, S. 25–28. 2 F. Schorlemmer, »Gerechtigkeit und Utopien der Bürgerbewegung«, in: U. Wickert (Hrsg.), Das Buch der Tugenden, München 2009, S. 265. 3 G. Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hrsg. v. R. Dreier / S. L. Paulson, Heidelberg 22003, S. 34–38. 4 Ebd., S. 84 f. 5 H. Landau, »Strafrecht nach Lissabon«, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 31 (2011), S. 537–544. 6 H. Prantl, »Drinnen und draußen«, Süddeutsche Zeitung vom 21./22.4.2012 V 2/1 stellt fest, dass die horrende Kriminalitätsangst nicht zuletzt auf die Darstellung der Kriminalität zurückgehe, es somit einen medialen Verstärkerkreislauf gebe. 7 W. Hassemer, »Was ist Gerechtigkeit im Strafverfahren?«, in: J. Goldenstein (Hrsg.), Mehr Gerechtigkeit. Aufbruch zu einem besseren Strafverfahren (= Loccumer Protokolle 09/11), Loccum 2011, S. 13–27, hier S. 14f. und 26. 8 BVerfG, Urteil v. 11.5.2011, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 31 (2011), S. 1981. 9 Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG. 10 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979. 11 J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert – Die Rückkehr zur Gerechtigkeit, München 2001, S. 121 ff. Ge re cht igke i t k an n m an n i c ht e rwart e n | 241
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Art. 20 Abs. 2 GG. Art. 2 Abs. 2 GG. Art. 1 Abs. 1 GG. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) v. 4.11.1950 (BGBl. 1952 II, S. 1004) ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedsstaaten des Europarats. 16 G. Pfeiffer / R. Hannich, »Einleitung«, in: Karlsruher Kommentar (KK), StPO, München 62008, Randnummern 28–31. 17 Art. 5 und 6 MRK. Ein Verteidiger wird bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr, bei einem Verbrechen oder bei einem Verfahren vor dem Landgericht vom Staat gestellt (§ 140 StPO). 18 §§ 136 a und 136 StPO. 19 Pfeiffer / Hannich, »Einleitung« (o. Anm. 16), Randnummern 117 f. 20 L. Senge, in: Karlsruher Kommentar (o. Anm. 16), Randnummer 21 zu § 105 StPO. 21 Hassemer, »Was ist Gerechtigkeit« (o. Anm. 7), S. 13, 20 f. 22 § 244 Abs. 2 StPO. 23 Zur Entwicklung des Beweisverwertungsrechts L. Senge, in: Karlsruher Kommentar (o. Anm. 16), vor § 48 StPO. 24 H. Diemer, in: Karlsruher Kommentar (o. Anm. 16), Randnummer 26 zu § 136 StPO. 25 § 52 StPO. 26 H. Diemer, in: Karlsruher Kommentar (o. Anm. 16), Randnummern 1 f. zu § 252 StPO. 27 Zur Entwicklung des Opferschutzes und seiner Kritik H. Schöch, »Der Verletzte als Hindernis für Gerechtigkeit?« in: Goldenstein (Hrsg.), Mehr Gerechtigkeit (o. Anm. 7), S. 41–47. 28 § 255 Abs. 2 StPO. 29 § 46 a Strafgesetzbuch (StGB). 30 § 31 Betäubungsmittelgesetz (BtMG), § 46 b StGB. 31 Fassung vom 28.7.1982, BGBl. I, S. 287. 32 Th. Fischer, Strafgesetzbuch (StGB), München 592012, Randnummer 2 zu § 46 b StGB. 33 § 46 a StGB durch Art. 1 Nr. 2 des 43. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2288, eingeführt. 34 Fischer, Strafgesetzbuch (o. Anm. 32), Randnummer 3 zu § 46 b StGB. 35 Ebd. Randnummer 2a zu § 46 StGB. 36 Radbruch, Rechtsphilosophie (o. Anm. 3), S. 84 f. 37 Ebd. S. 237, 245 f. 38 Kriele (o. Anm. 1), S. 25 f. 39 Der Autor bedankt sich bei G. Kohler (Zürich), dass er ihm zur Veranschaulichung dieser Aspekte sein Manuskript über »Beweislast und Entscheidungszwang« (bereits am 17.2.2007 erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung, Beilage »Literatur und Kunst«) zur Einsicht überlassen hat. 40 Absprachen zwischen den Prozessbeteiligten und dem Gericht sind seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 4.8.2009 (BGBl. I, S. 2274) 242 | Gerhard Am e nd
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gesetzlich geregelt (§ 257 c StPO); gleichwohl wird diese Vorschrift von den Verfahrensbeteiligten unterlaufen. W. Janisch, »Kommentar zum Deutschen Richtertag 2011«, Süddeutsche Zeitung vom 05.04.2011, S. 4. Festgestellt bei Verkaufsgesprächen von Betäubungsmittelhändlern im Rahmen von Telefonüberwachungen. § 224 Abs. 1 StGB geändert durch 6. Strafrechtsänderungsgesetz vom 26.1.1998, BGBl. I, S. 164. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wurden seit dem 33. Strafrechtsänderungsgesetz vom 1.7.1997 mehrfach, teilweise in Abständen von einem Jahr (6. Strafrechtsänderungsgesetz vom 26.1.1998, BGBl. I, S. 164) umgestaltet und die Strafandrohung erhöht. So betrug die Mindeststrafe vor dem 1.7.1997 sechs Monate; vgl. dazu Fischer, Strafgesetzbuch (o. Anm. 32), Randnummern 2 f. vor § 174 StGB. § 213 StGB geändert durch das 6. Strafrechtsänderungsgesetz vom 26.1.1998, BGBl. I, S. 164. § 66 StGB. Fischer, Strafgesetzbuch (o. Anm. 32), Randnummer 1 zu § 66 StGB. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 (BGBl. I, S. 60) wurde die Höchstfrist der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufgehoben und die Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung erweitert. Durch Gesetz vom 23.7.2004 (BGBl. I, S. 513) ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt worden. Neue Juristische Wochenschrift 63 (2010), S. 2495. Neue Juristische Wochenschrift 64 (2011), S. 1981. Bis zur Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung durch den Gesetzgeber, spätestens jedoch bis zum 30.5.2013 blieben einige Regelungen noch anwendbar. In Bayern sind von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts 34 Personen betroffen; sieben Personen sind weiterhin in Sicherungsverwahrung, acht Personen nach § 63 StGB und zwölf Personen nach dem Therapieunterbringungsgesetz vom 22.12.2010 (BGBl. I, S. 2300, 2305) in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Sieben Personen wurden aus der Sicherungsverwahrung entlassen (Auskunft des Leiters der Justizvollzugsanstalt Straubing Matthias Konopka). Seit 1.5.2013 gilt das geänderte Recht zur Sicherungsverwahrung. Janisch, »Kommentar« (o. Anm. 41), S. 4.
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Carlos Ruta
EINLEITUNG: GERECHTIGKEIT OHNE VERLANGEN NACH VOLLKOMMENHEIT Verlangen nach Vollkommenheit setzt ein Bewusstsein für die eigene Unzulänglichkeit voraus. Sich selbst und die eigenen Umstände als mangelhaft wahrzunehmen bedingt, eine Vorstellung davon zu haben, dass eine bessere als die eigene Welt möglich ist. Erst die erkannte Diskrepanz von Sollen und Sein ermöglicht jenes Streben, das jeder Vorstellung von Fortschritt zugrunde liegt und das in seinen vielfältigen Dynamiken als Motor gesellschaftlicher Veränderungen fungiert. Jede Artikulation eines Verlangens nach einer wie auch immer gedachten Vollkommenheit ist damit zugleich Ausdruck für ein Pluralitätsdenken. Die Ziele wie auch die Wege, die zum jeweiligen Erreichen eingeschlagen werden können, sind nicht vorgegeben, sondern müssen gefunden werden. Tilman Nagels Blick ist nun auf eine Kultur gerichtet, für die ein solches Verlangen nach Vollkommenheit prinzipiell unverständlich bleiben musste, da sie den Status der Vollkommenheit nach eigenem Verständnis bereits besaß. Die Berufung Mohammeds zum Propheten habe, so Nagel, die arabische Gesellschaft in ihrer Selbstdeutung radikal verändert: Sie sei direkt aus dem Zustand der Barbarei und der rohen Gewalt in eine der edlen Gesittung und vollkommenen Gerechtigkeit übergetreten. Gerechtigkeit habe, wie Nagel verdeutlicht, in der islamischen Eigensicht keinerlei vorislamische Wurzeln oder Bezüge; vielmehr verdanke sie sich einem Stiftungsakt Allahs, der für sein Volk auf diese Weise eine neue, allein wahre und daher vollkommene Ordnung schuf. Weil dies so sei, solle der Islam auch über die Welt herrschen. Während andere Religionen die Vollkommenheit im Jenseits suchten, besäße sie der Islam bereits im Diesseits. Das Jenseits war in islamischer Sicht nur die Fortsetzung dessen, was auf Erden bereits erreicht war: die beste aller möglichen Ordnungen. Gerechtigkeit als eines der postulierten Merkmale der vollkommenen, d.h. der islamischen Gesellschaft kann daher nicht aus der Erwägung der gegebenen irdischen Verhältnisse durch juristischen oder philosophischen Sachverstand heraus gewonnen werden. Sie ist allein aus dem ›Wissen‹ ableitbar, das Allah seinem Propheten übergab. Dieses ›Wissen‹ präsentiert sich als Ausfluss göttlicher Weisheit, die in gleicher Weise für alle Nachfahren Adams verbindlich ist. Die Vernünftigkeit einer Ordnung – und darin gleicht der Islam den anderen großen Offenbarungsreligionen – ist somit stets nur eine sekundäre Begründung für ihre Sinnhaftigkeit: Wichtigstes Kriterium für die Geltung bestehender Normen, und damit auch für das Prinzip der Gerechtigkeit, war ihre Stiftung durch Allah. Ge re cht igke it o hne Ve r l a n g e n n ac h Voll kom m e n h e i t | 247
Ungeachtet der herrschenden Vollkommenheit ist dennoch ein Zustand des Menschen als Mängelwesen zu konstatieren, was jedoch von Allah selbst so eingerichtet wurde, um das Abhängigkeitsverhältnis der Schöpfung vom Schöpfer zu demonstrieren. Zugleich liegt in der Defizienz des Menschen auch die Notwendigkeit seiner Sozialität begründet. Der richtige Gebrauch der durch Allah bereitgestellten Hilfsmittel ermöglicht es dem Gläubigen somit nicht nur, in seinem Handeln die Schöpfung zu bewundern, sondern zugleich als Geschöpf die inhärente Weltordnung zu vollziehen. Und gerechtes Handeln entsprach Allahs Willen. Weil dieses Handeln, wie Nagel hervorhebt, dem Wissen – sprich: der geoffenbarten Wahrheit – entsprechen musste, wurde verstärkt seit dem 11. Jahrhundert begonnen, jedes Handeln auf seine Konformität mit dem ›Wissen‹ zu überprüfen. Sowohl das Wirken der Interpreten als auch die Gebote der Vernunft wurden dabei zu Schlüsselelementen für eine besondere Qualität von Gerechtigkeit. Es war nun Aufgabe der Muftis, verbindliche Aussagen über die Rechtmäßigkeit von Handlungen zu treffen, denen dann als Fatwa allgemeine Verbindlichkeit für den Gläubigen zukam. Die Verbindlichkeit speiste sich dabei nicht aus einer Vollzugsgewalt, die dem Mufti zur Durchsetzung seiner Entscheidungen zur Verfügung gestanden hätte, sondern aus seiner Rolle als Verkünder von Allahs Wissen. Er war kein Deuter, sondern ein Verkünder der göttlichen und daher gerechten Ordnung. Als Manifestation ebendieses höchsten und universalen Weltgesetzes wurde das islamische Recht, die Scharia, verstanden. Die vollkommene Gemeinschaft in einem irdischen ›Haus der Vergänglichkeit‹ zu errichten, setzte voraus, dieses als ›Haus des Handelns‹ zu begreifen und nicht nur als ›Haus der Belastung‹. Gerechtigkeit ist mithin zwar ein Zentralbegriff der islamischen Weltdeutung, doch fehlen ihm, so Nagel, sowohl der diskursive Charakter als auch das dynamische Potential. Insofern die islamische Gesellschaft für sich in Anspruch nahm, dass sie die göttliche Ordnung in höchster Vollkommenheit repräsentiert, musste ihr jeder Mangel schlicht als Abweichung vom Kern der eigenen Identität erscheinen. Es konnte somit zu keiner Zeit um ein Verlangen nach Vollkommenheit als Ausdruck eines progressiven Strebens nach Vollendung gehen; diese Vollendung war ja bereits mit dem Akt der Stiftung des Islam erreicht. Worum es gehen musste, war die Restauration dessen, was war. Die Frage jedoch, was war, was Gerechtigkeit ist, konnte nicht deutend, sondern einzig wissend beantwortet werden: Gerechtigkeit, das war Islam.
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Tilman Nagel
GERECHTIGKEIT UND VOLLKOMMENHEIT DER IRDISCHEN VERHÄLTNISSE IN ISLAMISCHER SICHT 1 . D e r Spr ung von de r B arbare i zur Vollendung Im 10. Jahrhundert blühte in der Mitte und im Osten des Abbasidenreiches eine Reihe geistvoller Literaten, die, in den Lehren des Islams versiert und virtuos im Gebrauch der ihn tragenden Sprache, des Arabischen, ihre iranischen Wurzeln keineswegs verleugneten. Sie versuchten vielmehr, deren Wert im Hinblick auf jenen im unzivilisierten Arabien aufgekommenen Glauben zu ermitteln, der jetzt auch der ihrige war, und sie bereicherten ihre Debatten über das Wesen des Menschen mit Anleihen bei der griechischen Philosophie, die durch die Arbeiten al-Kindīs (gest. ca. 870) und al-Fārābīs (gest. ca. 950) eben erst mit einem islamischen Anstrich versehen worden war. Einer von diesen Literaten, der als »Philosoph von Nischapur« zu Ruhm gekommene al-ʿĀmirī (gest. 992), machte sich tiefschürfende Gedanken über den Gewinn, den die Annahme des Islams den Völkern eingetragen habe. Unter dem Titel Kundgabe der Vorzüge des Islams fasste er die Ergebnisse seiner Überlegungen zusammen. Die Iraner und die Araber leben, so führte er aus, in der Mitte der bewohnten Welt1 und sind schon allein dadurch im Vorteil, zumal ihre Herrscher, jetzt die Kalifen, von den Mächtigen der umliegenden Weltgegenden Anerkennung erfahren. Die Erfassung des Gewinns, den sogar die von Natur aus Begünstigten noch aus dem Islam zogen, stellt einen von der Aufgabe frei, eigens zu ergründen, wie nützlich erst jenen Gegenden am Rande der Welt der Weg in die einzig wahre Religion wäre. Und so beschreibt al-ʿĀmirī die Wende, die das Auftreten Mohammeds bei den Arabern auslöste: »Vor dem Islam lebten sie in der rohesten Barbarei, in finsterem Irrtum; sie vergossen Blut, machten die Wege unsicher, raubten Güter, begingen schreckliche Untaten«, kurz, es herrschten bei ihnen Anarchie und Gewalt; »dann aber wurden sie mit einem Gesandten von seiten Allahs beschenkt, der zum Überbringen der Wahrheit und der Rechtleitung geschickt worden war. Er sollte sie die ›Schrift‹ und die ›Weisheit‹ lehren,2 ihnen Gerechtigkeit und rechtes Handeln befehlen« und ihnen das Verwerfliche verbieten, vor allem den ungestümen Parteigeist. Die durch Allah mittels seines Gesandten bewirkte wurzeltiefe Veränderung ermöglichte die atemberaubenden arabisch-islamischen EroberunGe re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 249
gen: Dank dem Islam wurden die Araber zu den Herren der umliegenden Länder, nachdem sie sich zuvor kaum gegen Übergriffe hatten wehren können (vgl. Sure 8, Vers 26). Was nun die Iraner betreffe, so sei deren Reich zwar jenen Kriegern erlegen. Gleichwohl seien die Vorteile unübersehbar. Denn die zoroastrischen Priester hätten die breite Masse daran gehindert, sich mit der göttlichen Weisheit vertraut zu machen; ferner habe es in Iran eine abgeschottete Oberschicht gegeben, die die übrige Bevölkerung wie Sklaven behandelt habe. Beiderlei Übel hätten mit der Beseitigung des alten Regimes durch den Islam ihr Ende gefunden. Die göttliche Weisheit sei jetzt jedermann zugänglich; das Blut eines jeden Muslims habe den gleichen Wert. Die Iraner seien in den schützenden Schatten dieser glückhaften Dynastie – der Abbasiden – gelangt; sie seien aktiv am Dschihad gegen die umwohnenden Völkerschaften beteiligt.3 Unter zwei Gesichtspunkten führen uns al-ʿĀmirīs Gedanken unmittelbar zum Kern unserer Untersuchung. Zum einen hat die Gerechtigkeit der islamischen Gesellschaft keinerlei vorislamische Wurzeln, sie verdankt sich vielmehr einem Stiftungsakt Allahs, der aus einem barbarischen Volk mit einem Schlag dasjenige mit der unübertrefflich richtigen, einzig wahren Lebensordnung macht. Diese hat auch zu der alten iranischen Zivilisation keinerlei Verbindung, in der die breite Masse von der göttlichen Weisheit – sofern man die Lehren Zarathustras mit diesem Begriff charakterisieren will – völlig abgeschnitten war. Im Islam hingegen wird diese Weisheit, und das ist der zweite Gesichtspunkt, einem jeden kundgegeben, denn jeder ist vor Allah ein gleichberechtigter Nachfahre Adams. Was Gerechtigkeit sei, erfährt man ausschließlich durch das Studium von »Schrift« und »Weisheit«, die mit dem Vorgang der Offenbarung zunächst Mohammed und durch diesen dann allen Arabern und der Menschheit überhaupt zur Verfügung gestellt wurden. »Schrift« und »Weisheit« als Begriffspaar werden nur in medinensischen Suren gebraucht. Sie bilden eine Wendung, die die Doppelfunktion ausdrückt, die Mohammed seit seiner spätmekkanischen Zeit für sich beansprucht: War er im ersten Jahrzehnt seines Auftretens lediglich der Gesandte Allahs, der in der »Schrift« die Botschaft von dem einen niemals ruhenden Schöpfer und von dessen Endgericht überbrachte, so erklärte er sich nun auch zum Propheten, der die Menschen auf Allahs Anweisung lehrt, welche Normen sie befolgen müssen, um im Endgericht zu bestehen. Diese Normen sind vor allem ritueller Natur, wie sie Sure 2 verkündet, die älteste medinensische; diese enthält aber auch schon einige Regelungen profaner Art (z.B. Vers 282: Niederschrift von Schuldverhältnissen).
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2 . D i e Ve r wirkl ic hung de s Wisse ns Von der Inanspruchnahme des Prophetentums durch Mohammed bis hin zu alʿĀmirīs These vom radikalen Bruch zwischen der Barbarei und der wenigstens potentiell vollkommenen irdischen Gerechtigkeit war es ein weiter Weg. Der Koran, die »Schrift«, verstanden als die durch Allah selber so und nicht anders geäußerte Rede, musste erst als die eine unüberbietbar wahre Quelle der Scharia entdeckt und ausgewertet werden.4 Ähnliches galt für die in etlichen Koranversen erwähnte »Weisheit«, die mit dem Inhalt der »Schrift« nicht identisch ist (vgl. Sure 2, 129 und 151). Mohammed scheint im Koran mit »Weisheit« die Regeln eines guten Betragens zu meinen (vgl. z.B. Sure 17, Vers 39); wenngleich sie anscheinend, anders als der Inhalt der »Schrift«, nicht durch Allah wörtlich verkündet werden müssen, so betrachtet Mohammed sie in Medina doch als »herabgesandt«. Erst im 9. Jahrhundert wurde diese »Weisheit« als ein neben dem Koran gegebenes Repertoire göttlicher Normen interpretiert – was die vorhin genannten Verse nicht zuletzt deshalb gar nicht meinen können, da zu Mohammeds Zeit außer dem Koran gar kein weiterer Referenztext existierte. Ein solcher begann erst nach Mohammeds Tod in der Gestalt des Prophetenhadith heranzuwachsen, und zwar keineswegs zu dem ihm später unterlegten Zweck, inhaltlich unzureichende Aussagen des Korans zu ergänzen und auf dem Umweg über den angeblich fortwährend von Allah rechtgeleiteten Propheten für solche Ergänzungen ebenfalls göttliche Autorität zu beanspruchen.5 Es blieb dem Rechtsgelehrten aš-Šāfiʿī (gest. 820) vorbehalten, die dem Islam eigentümliche Literaturgattung des Hadith mit jener im Koran neben der »Schrift« genannten »Weisheit« zu identifizieren.6 Unter dem mit dem Prophetentum Mohammeds verknüpften Themenkreis, der einst zu demjenigen der durch den Gesandten überbrachten »Schrift« hinzugetreten war, verstand man nun ein nichtkoranisches Korpus von autoritativen Aussagen. Deren schariaspezifischer Gehalt war wie beim Koran durch bestimmte Verfahren zu ermitteln. Waren »Schrift« und »Weisheit« zu Mohammeds Lebzeiten wegen ihrer unterschiedlichen Thematik auseinanderzuhalten, so nunmehr wegen ihres unterschiedlichen Autoritätsranges: Aussagen der ›Schrift‹, des Korans, zu welchem Gegenstand auch immer, sollten, da es sich um Allahs ureigene Rede handele, ungleich höheres Gewicht haben als solche der ›Weisheit‹, des Hadith. Freilich galt auch das, was das Hadith enthielt, als unter dem Siegel der Wahrheit mitgeteilt; denn waren das Handeln und Sprechen Mohammeds nicht stets unmittelbar durch Allah angeleitet worden? In dem Maße, wie sich diese Vorstellungen verfestigten, verlor der juristische Sachverstand mit seinen Billigkeitserwägungen – die »Einsicht«, wie man sagte – seine Legitimität. In der islamischen Gesellschaft, die doch den unmittelbaren Gesetzeswillen Allahs verwirklicht, gebiert solcher Sachverstand allenfalls Meinungen, niemals jedoch das unanfechtbare Ge re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 251
Wissen von Allahs Normen und Wertungen. Jenes Wissen aber ist das Entscheidende; es allein verbürgt die Scharia, die prinzipiell nicht durch den Menschen und seine Verstandesschlüsse geschaffen werden kann. Dass an jedem Tag fünf rituelle Gebete vollzogen werden müssen, nicht vier und nicht sechs, entzieht sich jeder plausiblen Begründung. Und selbst wenn schariatische Vorschriften aus der Sicht des Menschen vernünftig sein sollten – etwa die Ahndung des Diebstahls –, so sind sie gleichwohl nicht wegen dieser Vernünftigkeit in Kraft, sondern nur weil Allah sie erlassen hat. Die islamische Gesellschaft formiert sich hier auf Erden bis zur Vollkommenheit, indem in ihr das nicht durch Menschen erzeugte, sondern gottgegebene Wissen (arab.: al-ʿilm), das der Koran und das Hadith bereithalten, uneingeschränkt zur Geltung gebracht wird. Zu al-ʿĀmirīs Zeit ist diese Vorstellung im Sunnitentum und auch in weiten Teilen der Schia Allgemeingut geworden. Es ist die Aufgabe der Sachwalter dieses Wissens, der ʿulamāʾ, die innere Islamisierung, die Unterwerfung aller Lebensbereiche unter die Scharia, voranzutreiben und zu stabilisieren. Allerdings erkannten die ʿulamāʾ etwa zur selben Zeit, dass es eine Sache ist, diese Forderung theoretisch zu begründen, eine ganz andere aber, sie im Alltagsleben durchzusetzen. Ja, es stand zu befürchten, dass jenes großartige Konzept einer ganz am Gesetzeswillen Allahs ausgerichteten Gesellschaft scheitern könnte. Das war die schreckliche Angst, die die ʿulamāʾ des 11. Jahrhunderts umtrieb.
3. U nt e rwe gs zur »be st e n G e m e inschaft« Al-Māwardī (gest 1059), Rechtsgelehrter und Diplomat im Dienste des Bagdader Kalifen, fasste in einigen seiner Schriften zusammen, wie die islamische Gesellschaft aufrechterhalten werden sollte und welche Aufgaben dabei dem »Imam«, dem islamischen Machthaber, oblagen. Auf den zweiten Gesichtspunkt werde ich nicht näher eingehen. Nur so viel sei gesagt, dass »Imam« der Terminus technicus für die durch Allah legitimierte höchste religiös-politische Instanz ist, die in al-Māwardīs Tagen nach sunnitischer Überzeugung der abbasidische Kalif innehatte. »Imam« meint aber zugleich einen jeden, der einer zum Vollzug des rituellen Gebets versammelten Gruppe von Muslimen vorbetet, und das heißt, während des betreffenden Zeitraums deren Hinwendung zu Allah gewährleistet. Eben diese Aufgabe, jedoch potentiell auf die ganze Menschheit ausgerichtet und deren ganzen Lebensvollzug umgreifend, nimmt der »Imam« als höchste Instanz wahr oder, um al-Māwardīs Staatstheorie anklingen zu lassen: Er stellt die Wahrnehmung dieser allumfassenden Aufgabe durch die Delegierung regional oder inhaltlich definierter Teilbereiche an geeignete Funktionsträger sicher. Nebenbei bemerkt, be252 | Tilman Nag e l
steht einer dieser Teilbereiche, wie auch al-ʿĀmirī schrieb, in der Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebiets durch den Dschihad. In seiner noch heute vielgelesenen Abhandlung über das rechte Verhalten in profanen und rituellen Angelegenheiten beschäftigt sich al-Māwardī eingehend mit den »Wissenden«, den ʿulamāʾ, und arbeitet ihre, wenn ich so sagen darf, staatstragende Rolle heraus. Der Verstand sowie das Wissen im vorhin dargelegten Sinn sind die Voraussetzung für das Glück im Diesseits und auch nach dem Endgericht im Jenseits. Denn der Verstand spornt den Menschen an, jenes Wissen zu suchen, um es sich so vollständig wie möglich anzueignen.7 Damit sich nun die diesseitigen Verhältnisse ersprießlich gestalten, müssen neben bestimmten Eigenschaften des Individuums, die hier nicht zu erörtern sind, sechs Bedingungen erfüllt sein: Es muss eine Glaubensordnung geben, der man gehorcht; eine die Gewalt innehabende Staatsmacht muss für die Einhaltung dieser Ordnung sorgen; dann entsteht die dritte Voraussetzung, nämlich eine allumfassende Gerechtigkeit, die viertens Eintracht und fünftens Gehorsam herbeiführt und so sechstens das Aufblühen des Landes ermöglicht. Die vierte bis sechste Bedingung ergeben sich aus der dritten; es sind die innere Sicherheit, der materielle Wohlstand und eine, wie al-Māwardī sagt, »weitgespannte Hoffnung, die einen dazu veranlasst, Dinge in Angriff zu nehmen, für deren vollständige Ausführung die Lebenszeit des einzelnen zu kurz ist«. Angesichts der verhängnisvollen politischen Instabilität der islamischen Welt ist dies ein frommer Wunsch des Verfassers, der aber mittelbar, wie sich zeigen wird, ebenfalls mit unserem Thema zu tun hat. Die erste und wichtigste Voraussetzung, die Glaubensordnung, hindert die Seele daran, ihren Begierden zu frönen.8 Der Verstand ist die dem Menschen anerschaffene Kraft, die ununterbrochen gegen die dem Menschen ebenfalls anerschaffenen Begierden zu kämpfen hat. Gäbe es die offenbarte Glaubensordnung nicht, wie würde dieser Kampf wohl ausgehen? Wer die eigene Neigung zu seinem Gott erhebt, der ist durch die wahre, von Allah ausgehende Rechtleitung nicht mehr zu erreichen, heißt es in Sure 45, Vers 23. Der Verstand vermag die Begierden zu kontrollieren,9 aber er ist nicht in der Lage, den Menschen eine Ordnung aufzuzeigen, innerhalb deren sie diese ungestümen Kräfte fruchtbar machen könnten. Dies leistet allein die offenbarte Religion, genauer: das »Wissen«, das dank ihrer den Menschen zur Verfügung steht. Darum eben nötigt der Verstand den Menschen zum Erwerb dieses Wissens. Die Streitfrage, ob der Verstand oder die Scharia eher geschaffen worden sei, braucht al-Māwardī nur noch zu streifen: Wer wollte in Abrede stellen, dass jeder Verständige sich an das hält, was ihm im Diesseits frommt und zu einem glücklichen Jenseits verhilft?10 Die allumfassende Gerechtigkeit, die entsteht, wenn die Staatsmacht für die Beachtung der Glaubensordnung sorgt, wird nun zunächst von ihrem Gegenteil aus definiert: Nichts verdirbt die Menschen und die Welt so schnell und so tief wie das Unrecht. »Drei Dinge gibt es, die zur Ge re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 253
Errettung führen, drei Dinge die ins Verderben führen«, soll Mohammed gesagt haben. »Zur Errettung führen die Gerechtigkeit zwischen Zorn und Wohlwollen, die insgeheim und offen bekundete Gottesfurcht, der Mittelweg zwischen Armut und Reichtum. Ins Verderben führen die Anlage zum Geiz, der man nachgibt, die Begierde, der man folgt, die eitle Selbstbewunderung.« Hieraus leitet al-Māwardī die Forderung ab, man müsse gerecht gegen sich selber sein und Gerechtigkeit gegen andere üben. Diese Gerechtigkeit gegen andere teilt er in drei Spielarten ein: Gerechtigkeit gegen Geringe, gegen Hochgestellte, gegen Menschen gleichen Ranges.11 Dieser knappe Überblick lehrt uns, dass Gerechtigkeit keine Gegebenheit ist, die einer eigenständigen, von der Tatsache der Offenbarung abgelösten intellektuellen Durchdringung offen wäre; nirgends findet sich die Spur eines Verlangens, Gerechtigkeit als ein wesentliches Element des Daseins des Menschen zu ergründen. Auch bei al-Māwardī ist der Mensch ein Mängelwesen und daher auf das Zusammenleben mit den Artgenossen angewiesen. Die Richtung, in die sich al-Māwardīs Gedanken bewegen, indem er sich diesem Umstand widmet, führt ihn aber nie zu Ideen, die sich an Aristoteles’ »von Natur aus nach Gemeinschaft strebenden Wesen« anschlössen: Als zōon politikon besitzt der Mensch einen Sinn für gerecht und ungerecht; Recht und Gerechtigkeit lassen sich nur in der Polis verwirklichen, und sobald der Mensch sich von ihr löst, verfehlt er seine Bestimmung und entartet zum schlechtesten aller Lebewesen.12 Schauen wir nun, was al-Māwardī zu diesem Thema mitzuteilen hat: Wisse, dass Allahs Kraft stets zur Geltung kommt, seine Weisheit stets ihr Ziel erreicht. Er schuf die Kreaturen nach seinem Plan und gestaltete sie nach seiner Bestimmung. Zu seinem sinnreichen Vorgehen gehört, dass er die Kreaturen so schuf, dass sie bedürftig und schwach sind, damit ihm allein Eigenständigkeit und Kraft vorbehalten seien. So gibt er uns durch seine Kraft zu verstehen, dass er der Schöpfende ist, lehrt uns durch seine Eigenständigkeit, dass er uns ernährt. Deswegen gehorchen wir ihm ohne Säumen, sei es aus eigenem Wunsch, sei es aus Furcht, und bekennen unsere Mangelhaftigkeit, da wir schwach und bedürftig sind. Nun schuf Allah den Menschen so, dass dieser bedürftiger als (alle) anderen Lebewesen ist; denn unter ihnen gibt es einige, die von ihren Artgenossen unabhängig sind. Der Mensch aber bedarf seiner Natur nach der Artgenossen; auf deren Hilfe angewiesen zu sein, ist eine seiner Natur anhaftende Eigenschaft, eine Eigenart seines Wesenskerns […] Allah bestimmt dem Menschen ein so großes Maß an Bedürftigkeit und klar erkennbarer Schwäche, weil er ihm wohlwollte und mit ihm freundlich verfuhr. Denn die Demütigung, die in der Bedürftigkeit liegt, und die Erniedrigung, die die Schwäche mit sich bringt, sollen ihn daran hindern, in den Übermut der Unabhängigkeit und das Aufbegehren der Stärke zu verfallen. Beides ist ja in seiner Natur angelegt […] Allah selber teilte dies (im Koran) mit, indem er sprach: ›Nein! Der Mensch ist aufsässig, da er sich eigenständig dünkt!‹ (Sure 96, 6 f.). 254 | Tilman Nag e l
Indem Allah den Menschen als einen Bedürftigen schuf, gab er ihm jedoch auch Mittel der Abhilfe an die Hand, zu deren Gebrauch der Verstand anzuleiten vermag – ein Sachverhalt, den al-Māwardī ohne Umschweife unter Verweis auf Sure 87, Vers 3 mit der göttlichen Rechtleitung gleichsetzt. Der richtige Gebrauch der durch Allah bereitgestellten Hilfsmittel ermöglicht jedem Menschen, sich den Teil an irdischen Gütern zu verschaffen, den Allah für ihn vorsieht. Dies wiederum gelingt nur im Zusammenwirken mit den übrigen Menschen. Die sechs Bedingungen, unter denen sich dieses nutzbringend und dem göttlichen Gesetzeswillen gemäß entwickelt, kennen wir schon.13 Dank Allahs Eingreifen wird der Mensch befähigt, dem einem Mängelwesen nun einmal aufgegebenen politischen Moment der irdischen Existenz Genüge zu tun. Die Gerechtigkeit und das Recht entstehen nicht aus dem praktischen Zusammenwirken der Menschen in einer Gemeinschaft, sondern werden durch Allah zusammen mit den übrigen Mitteln der Lebensfristung bereitgestellt. Diese selber ist, so muss man im Einklang mit dem islamischen Konzept des alles lenkenden und niemals ruhenden Schöpfers formulieren, eine Erscheinungsform der göttlichen Rechtleitung: Richtig genutzt, führt sie den Menschen durch das der Vervollkommnung fähige Diesseits in ein seliges Jenseits. Das Diesseits ist, insofern der Mensch es sich durch sein gottgelenktes Handeln zur Lebensfristung nutzbar macht, ein »Haus der Belastung« (arab.: at-taklīf), der Belastung nämlich mit den Vorschriften der Scharia:14 Das Handeln hat seinen Maßstab nicht in den Billigkeitserwägungen eines zōon politikon, sondern in jenem gottgegebenen Wissen, zu dessen Aneignung und Befolgung der Verstand rät. Und damit kommen wir zur lebenspraktischen Seite der Überlegungen al-Māwardīs. Die Wissenden, die ʿulamāʾ, sind verpflichtet, ohne Wenn und Aber gemäß jenem Wissen ihr Dasein zu führen und sich an all das zu halten, was sie auf Allahs Autorität den Mitmenschen vorschreiben. »Diejenigen, denen die Tora aufgebürdet wurde, die sie dann aber nicht tragen konnten, gleichen einem Esel, der Schriftrollen trägt«, liest man in Sure 62, Vers 5. »Wissen« und »Handeln« müssen aufeinander abgestimmt sein. Durch viele Aussprüche der Altvorderen belegt al-Māwardī die Dringlichkeit dieses Grundsatzes.15 Studiert man dieses Kapitel ganz, dann erkennt man freilich, dass die Ausbreitung des »Wissens« durch Unterweisung den Vorrang vor dem Wirken durch ein gutes Beispiel hat. Was gänzlich fehlt, ist die agonale Rechtsfindung im Prozess, in dem der Vertreter des Angeklagten den verhandelten Sachverhalt aus der Sicht seines Mandanten und unter Hervorhebung etwaiger für diesen sprechender Indizien und Bestimmungen darlegen könnte.16 Die Regelungen der Scharia sind, da göttlichen Ursprungs, unantastbar; sie umgreifen den gesamten Daseinsvollzug, um diesen zu islamisieren. Nicht nur vor dem Kadi, sondern immer trägt der Muslim die »Belastung«, über deren Einzelheiten er sich im Idealfall sein Leben lang belehren lässt. – Denken Ge re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 255
wir an al-ʿĀmirī zurück, der eben hierin den wesentlichen Vorzug des Islams vor dem Zoroastrismus zu erkennen glaubte!
4. D i e Mühe n de r Wirkl ic hke it Der Fortgang der Schariawissenschaft im 11. Jahrhundert deckte jedoch schonungslos auf, dass es eine Selbsttäuschung sei, auf eine bruchlose Umsetzung jenes »Wissens« in die Praxis und auf die hierdurch zu erreichende Errichtung und Bewahrung der vollkommenen, der gottgewollten Gesellschaft zu zählen. Allah hatte den Muslimen einst zugesagt: »Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je unter den Menschen gestiftet wurde. Ihr gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist, und glaubt an Allah!« (Sure 3, 110). Zwar durfte man an der Gültigkeit dieser Aussage nicht zweifeln. Aber was mochte sie angesichts einer Metaphysik bedeuten, die mittlerweile dem Menschen jegliches eigene Handlungsvermögen absprach? Alles, was im Diesseits geschieht, ist in jedem Augenblick so und nicht anders durch Allah gewirkt, und selbst die Kraft, einen Stein aufzuheben, ist nicht dem Menschen inhärent, sondern wird durch Allah im Augenblick des Hochhebens so und nicht anders in dem betreffenden Menschen geschaffen. Hatte in einer solchen Welt ein Gesetz, selbst wenn es von Allah stammte, überhaupt einen Sinn? Al-Māwardī umschiffte in seiner Abhandlung geschickt diese Frage, indem er das Diesseits als das »Haus der Belastung« definierte, zugleich auch als das »Haus des Handelns«, dem er das Jenseits als das »Haus des Entgelts« gegenüberstellte. Dies waren Anleihen bei der seit 200 Jahren durch die Sunniten überwunden geglaubten rationalistischen Strömung des Islams, bei der Muʿtazila. Diese hatte das Jenseitsschicksal des Einzelnen als den gerechten Lohn für seine diesseitigen Leistungen angesehen. Wenn diese Welt und der Mensch in ihr aber durchgängig dem unauslotbaren Ratschluss Allahs anheimgegeben waren, musste der Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits anders beschrieben werden, und das war auch schon geschehen: Das Diesseits wurde zum »Haus der Vergänglichkeit«, nach dem Endgericht würde das »Haus des (ewigen) Bleibens« folgen. Wer dort der Hölle und wer dem Paradies zugewiesen würde, das entschied Allah souverän und ohne Berücksichtigung der nach schariatischem Urteil guten oder bösen Taten.17 Man musste darauf vertrauen, dass einen die Zugehörigkeit zum Islam vor der Verdammnis bewahren würde. Aber auch die Schariawissenschaft erkannte, dass sie ihr Versprechen, für jede Lebensregung des Menschen eine eindeutige göttliche Bewertung aufzuzeigen, nicht erfüllen konnte. Was Recht eigentlich sei, verschwamm im Ungewissen. Wie viele konkrete, unmittelbar anwendbare Rechtsvorschriften gab es denn im Koran, wie viele im Hadith? Beklagenswert wenige, viel zu wenige, um jenes Versprechen 256 | Tilman Nag e l
auch nur annähernd einzulösen! Überdies musste man häufig auf nur von einem Tradenten verbürgte Überlieferungen zurückgreifen, deren Autoritätsgrad man für gering hielt, und man musste zur Beantwortung von vielen Fragen mangels irgendeines autoritativen Textes den consensus der Gefährten Mohammeds oder gar der späteren ʿulamāʾ einer bestimmten Generation heranziehen. Das führte zu Antworten, deren göttliche Herkunft angezweifelt werden konnte; überdies bewegte man sich hier in einem Feld voller Widersprüchlichkeiten. In der Theorie konnte man auf die Analogie ausweichen: Eindeutige Bestimmungen des höchsten Autoritätsgrades sollten zur Beurteilung analoger Sachverhalte fruchtbar gemacht werden. Was aber ist ein analoger Sachverhalt? Wenn Allah den Genuss des ḫ amr (d.h. Wein) genannten Getränks verboten hat, dann doch wohl auch denjenigen des nabīd- (d.h. vergorener Dattelsaft)! Denn als Grund des Verbots lässt sich die berauschende Eigenschaft des ḫ amr ausmachen, die den Verstand, eines der fünf nach Allahs Willen geschützten Rechtsgüter, verwirrt und dadurch den Menschen am Vollzug seiner vornehmsten Pflichten, der Riten, hindert. Also ist auch der Genuss des nabīd- verboten. Viele Gelehrte wollten eine solche Analogie nicht gelten lassen und beriefen sich auf einen anderen Fall. Wenn Wasser zur rituellen Reinigung fehlt, darf man sich laut Sure 5, Vers 6, mit Sand behelfen. Wäre beispielsweise Essig vorhanden, der viel besser reinigt als Wasser, sollte man dann nicht im Notfall lieber Essig verwenden, der genau das bewirkt, worauf es Allah beim Erlass der Regeln der rituellen Reinigung ankam? Auf keinen Fall, meinten die Verfechter der im 11. Jahrhundert siegreichen Richtung der Jurisprudenz. Es gilt Allahs Wort, und dieses nennt den Sand. Wendet man dieses Prinzip auf die Frage des Verbots des nabī an, so ist dieses nicht zu rechtfertigen, selbst wenn man den Grund des Verbots des ḫ amr genau kennt. Das durch Allah in jedem Augenblick souverän gelenkte Diesseits ist eben kein Kosmos, dessen Aufbau und Erscheinungen durch den Menschen ergründet werden könnten. Erblickt man in der Ferne schwarze Schwaden, dann schließt man daraus, dass dort ein Feuer brenne. Was aber, wenn es sich in Wahrheit um eine Staubwolke handelt? Kurz, die Analogie, bis dahin ein Herzstück der Schariawissenschaft, geriet in Misskredit, eben weil das Diesseits nicht mehr als ein Kosmos interpretiert werden durfte und weil zudem Analogien selbst unter Beachtung strenger methodischer Maßstäbe von einem bestimmten Ausgangstext in ganz unterschiedliche Richtungen führen können.18 So kommt es, dass die sogenannten Rechtsschulen einander in der Methodik der Erschließung des schariatischen Gehalts der autoritativen Texte ähnlich werden: Zunächst sind der Koran, dann das Hadith, und zwar zuerst die auf vielen Wegen verbürgten Überlieferungen, dann auch die Einzelüberlieferungen, danach der consensus der Prophetengenossen zu befragen, und wenn alle diese Quellen auf die jeweilige Frage keine Antwort bieten, dann ist diese zuletzt über Analogien zu Ge re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 257
suchen. Wenn man also in vielen Fällen keineswegs mit Sicherheit wissen konnte, was Allah vorschrieb, dann hat man sich auf eine Generalklausel zu berufen, die der einflussreiche Rechtsgelehrte al-Ğuwainī (gest. 1085) so formulierte:19 Die Einzelnachrichten und die juristischen Analogien begründen aus ihrem Wesen heraus noch keine Notwendigkeit, in bestimmter Weise zu handeln; diese entsteht erst aus dem mit Notwendigkeit gegebenen Wissen, dass man so handeln muss. Dies aber liegt in den eindeutigen Beweisen für die Notwendigkeit, beim Vorliegen von Einzelüberlieferungen oder Analogien diesen entsprechend zu handeln.
Die Ergebnisse konnten, wenn man sich auf so schwankendem Boden bewegte, bei ein und derselben Frage unterschiedlich ausfallen, und es entwickelten sich innerhalb der einzelnen Schulen Traditionen, die zum Teil im Inhalt erheblich voneinander abweichen. Dabei versteht es sich von selbst, dass eine jede Schule behauptet, im Besitze der einzig wahren Auslegung des göttlichen Gesetzeswillens zu sein; der Zwist etwa der Gefolgsleute der Hanafiten und der Schafiiten konnte zu blutigen Kämpfen führen, wie sie im 11. Jahrhundert aus Nischapur berichtet werden. Es ist nur zu verständlich, dass genau zu der Zeit, da die Widersprüchlichkeit des aufgedeckten schariatischen Gehalts der autoritativen Texte unübersehbar wurde, sich selbst in der hanafitischen Rechtsschule, die dem Verstand des Fachmannes am meisten zutraute, der Zug zur Sicherung aller Aussagen durch die Überlieferung erheblich verstärkte.20
5. D i e Mac ht de r ʿ ulamā ʾ und die Morali tät der Schari a Die Staatsmacht verfügte über keinerlei Kompetenz zur inhaltlichen Ausgestaltung des gottgegebenen Rechts.21 Verstanden als eine unablässig vorangetriebene Verfeinerung der den autoritativen Texten abgewonnenen göttlichen Normen, wurde diese Gestaltung allein von den ʿulamāʾ verantwortet, die allerdings durch den Staatsapparat, häufig jedoch auch durch private Stiftungen, alimentiert wurden. Im Amt des Muftis, das im 11. Jahrhundert aufkam, entstand die dem totalen Geltungsanspruch der Scharia Rechnung tragende Institution. Die Aufgabe des Muftis war und ist es, Auskünfte über die Schariakonformität aller nur denkbaren Angelegenheiten zu geben, angefangen von Fragen der Staatspolitik bis hin zum Alltagsleben des Einzelnen. – Die seit etwa drei Jahrzehnten zu beobachtende Islamisierung der Gesellschaft islamischer Länder wird vor allem durch in billigen Heftchen verbreitete Fetwa-Sammlungen und durch Rundfunksendungen getragen, die einen etwa darüber unterrichten, ob ein halbwüchsiges Mädchen einen Brieffreund haben darf oder ob ein Ehemann es gestatten soll, dass seine Frau, um 258 | Tilman Nag e l
eine Freundin zu besuchen, in parfümiertem Zustand ins Taxi steigt. – Der Mufti verfügt zwar über keine Vollzugsgewalt, doch sollte man seine Erkenntnisse, zumal wenn man selber um Auskunft gebeten hat, tunlichst befolgen, wenn man das Jenseitsheil nicht aufs Spiel setzen will. Für den gemeinen Mann geht von den Fetwas ein starker Druck hin zu einem schariakonformen Handeln, Reden und Denken aus; den Herrschern dienen Fetwas meist zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen, die der Bewahrung ihrer Macht dienen und deswegen als im übergeordneten Interesse des Islams liegend charakterisiert und dadurch legitimiert werden. Nun wusste man, wie bereits mehrfach anklang, schon im 11. Jahrhundert, dass die schariatische Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts sehr unterschiedlich ausfallen konnte – und die Befolgung solcher Aussagen sollte heilswichtig sein? Bis in jene Zeit hatten sich die ʿulamāʾ meist energisch geweigert, Fetwas zu erteilen, weil sie fürchteten, bei einer fehlerhaften Auskunft am Ende aller Zeiten auch für die hierdurch aufgehäuften Sünden des Fragers geradestehen zu müssen. Mit der Institutionalisierung des Muftiamtes setzte ein Umdenken ein. Bei einer gegen Allahs Gesetzeswillen verstoßenden Antwort galt nun die subjektive Ehrlichkeit als entscheidend: Wenn sich der Mufti selber an seine Auskunft hielt, würde Allah ihm seinen Fehler nicht anrechnen, und dem folgsamen Frager ohnehin nicht.22 Wir stehen somit vor der absurden Tatsache, dass die »beste Gemeinschaft« (Sure 3, 110), zu deren Verwirklichung man das Muftiamt schuf, aus den subjektiven Auslegungen der autoritativen Texte durch die ʿulamāʾ hervorgehen soll.23 Ein letzter wesentlicher Charakterzug der Scharia tritt im 11. Jahrhundert in verhängnisvoller Weise zutage und gefährdet bis in die Gegenwart hinein das System der Ermittlung gottgewollter Normen aus autoritativen Quellen und der Verwirklichung dieser Normen in der »besten Gemeinschaft«. Die Rechtsprechung einerseits und die Ethik der koranischen Botschaft andererseits waren bis weit in das 8. Jahrhundert hinein zwei voneinander getrennte Gegebenheiten. In der Rechtspflege der Omaijadenzeit, soweit sie in Quellen überliefert ist, war die Bezugnahme auf den Koran eher selten.24 Abhandlungen über den Streit zwischen Rechtskennern der späten Omaijaden- und frühen Abbasidenzeit zeigen ferner, dass die mit der Rechtspraxis befassten unter ihnen viel weniger dazu neigten, Verse aus dem Koran oder gar das in der Herausbildung begriffene Prophetenhadith in ihre Überlegungen einzubeziehen, als dies die Theoretiker taten.25 Der Übergang des Kalifats auf die Abbasiden, die in ihrer Propaganda versprochen hatten, das angeblich widergöttliche Regime ihrer Vorgänger durch ein islamisches zu ersetzen, schuf ein geistiges Klima, das dem Werk aš-Šāfiʿīs, der Verankerung des Rechts in den autoritativen Texten, günstig war. Indem dieser Schritt im 9. Jahrhundert vollzogen wurde, erweiterte sich geradezu zwangsläufig der Gegenstandsbereich der Scharia, und zwar über das im engeren Sinne der Rechtspflege Anheimgegebene hinaus auf die Gesamtheit der in jenen Texten angesprochenen ethischen Themen. Ge re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 259
Der Unterschied zwischen Rechtsnormen, die in Gerichtsverfahren durchsetzbar sind, und der stets auch auf das Jenseitsschicksal des Muslims verweisenden Ethik verwischte sich. Die inhaltlich nicht eingegrenzte Zuständigkeit des Muftis spiegelt diesen Umstand wider. Die Folge war, dass von den Schariakennern stets auch erwartet wurde, dass ihr Lebenswandel jenen ethischen Grundsätzen entsprechen musste, die in den Texten, auf die sie ihre Entscheidungen oder Fetwas stützten, als die Verhaltensweisen der wahrhaft frommen Altvorderen gepriesen wurden: Die wahren Sachwalter des »Wissens« handelten immer nach Maßgabe dieses »Wissens«.
6. D i e H arm onie von »Wisse n« und H andeln Das war aber mitnichten der Fall, wie al-Ġazālī (gest. 1111), Lehrer an der Bagdader Niz.āmīja-Hochschule um 1095, mit tiefer Verstörung erkannte. Wie konnten unter solchen Voraussetzungen die Islamisierung, der Aufbau und die Bewahrung der »besten Gemeinschaft« gelingen? Er gab seinen Lehrstuhl auf, reiste über Damaskus und Jerusalem nach Mekka, kehrte dann in seine ostiranische Heimatstadt Tus zurück und begann mit der Niederschrift eines der wirkmächtigsten Bücher der islamischen Geschichte, der Belebung der Wissensarten von der Glaubenspraxis. Desgleichen verfasste er den Erretter aus dem Irrtum, einen Traktat, in dem er den Bruch in seinem Lebenslauf rechtfertigte. Der Irrtum, in dem er bis 1095 befangen gewesen war, hatte in der Ansicht bestanden, man könne über die methodengerechte Auslegung der Texte, also nach der Art der ʿulamāʾ, zu einem gottgefälligen Leben gelangen, nämlich »Wissen« und Handeln zur Übereinstimmung bringen. Er erkennt, dass auch die Philosophen dies nicht vermögen, ebenso wenig die Schiiten, die hinter dem Text des Korans einen verborgenen Sinn annehmen, der nur ihnen dank der Unterweisung durch ihre Imame eröffnet werde. Allein die Anhänger des Sufismus, der einst mit dem Sunnitentum eng verbundenen Frömmigkeitsbewegung, erziehen sich zu solch einem Lebenszuschnitt. Von den Argumenten der als Textwissenschaft betriebenen schariatischen Jurisprudenz waren sie nicht abhängig – was sie zum Handeln gemäß dem »Wissen« anleite, sei ein Licht, das ihnen im Herzen aufscheine: Wahrheit bzw. Richtigkeit der Normen des zu praktizierenden Glaubens und Befolgung dieser Wahrheit wurzeln gemeinsam in einem Erkennen, das dem Muslim den Einblick in den der sinnlichen Wahrnehmung entzogenen Seinsbereich aufschließt, an den zu glauben laut Sure 2, Vers 3, Pflicht ist. Dort kommt Allahs unablässig schaffendes und gesetzgeberisches Walten unmittelbar, d.h. frei von den durch die Materialisierung verursachten unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten, zur visionären Anschauung und drängt dann in die Verwirklichung.26 260 | Tilman Nag e l
Auf der Ebene der individuellen Religiosität schien damit die Aufgabe der Errichtung der »besten Gemeinschaft« einer Lösung nahegebracht. Al-Ġazālī hatte im Grunde die weitverbreitete Anschauung aufgegriffen, die besagte, dass die Altvorderen, die Prophetengenossen, einer Erschließung des schariatischen Gehalts des Korans und der diesbezüglichen helfenden Winke Mohammeds nicht bedurft hätten. Denn dank der Nähe zu ihm seien sie in der Lage gewesen, unter allen Umständen spontan gemäß den Vorgaben des göttlichen Gesetzes zu verfahren. Auf dieser Annahme beruhte ja auch das Postulat der die Scharia entbergenden Funktion des überlieferten consensus der Altvorderen. Mittels der sufischen Spiritualität wurde diese Spontaneität gleichsam in die Gegenwart hinein verlängert. Al-Ġazālī wusste allerdings, dass diese These allein die Nöte der »besten Gemeinschaft« nicht beheben werde. In der Belebung beschrieb er, wie das Aufleuchten der Erkenntnis im Herzen zu einem völlig neuen Verständnis des Schöpfungshandelns Allahs führen müsse. Dieser war, das blieb gewiss, der eine in jedem Augenblick das Diesseits souverän gestaltende Gott, er konnte von einem Augenblick zum anderen alles in gänzlich unvorhersehbarer Weise verändern. Dem Geschöpf aber ziemt es, nicht in Furcht oder Argwohn jedem nächsten Augenblick entgegenzuzittern, sondern auf Allah zu vertrauen, z.B. darauf, dass er bewirken werde, dass die Aussaat eine Ernte hervorbringen werde. Denn gerade weil die Welt in jedem Augenblick durch Allah gelenkt wird, zeuge sie in jedem Augenblick ihres Bestehens von seiner unerschöpflichen Weisheit und sei daher die beste aller denkbaren Welten; sie war ein Kosmos, nicht das Werk eines unausrechenbaren Tyrannen. Unter dieser Prämisse hatte al-Ġazālī in der Belebung den ganzen Islam neu durchdacht und systematisch dargestellt, wobei er vielfach die Standards der Textwissenschaft beiseiteschob. Hier hakten deren Verfechter ein, denn sie bemerkten, dass seine Art zu denken ihnen den Boden unter den Füßen wegzog. Wenn die Welt ein Kosmos war, dann war die Ermittlung der Scharia nicht mehr allein auf die Auslegung der autoritativen Texte verwiesen, sondern durfte das innerweltliche Geschehen selber in die Betrachtung einbeziehen. Wütende Einsprüche gegen alĠazālīs Belebung führten im islamischen Westen sogar zur öffentlichen Verbrennung dieses Werkes. Starke Sprengkraft entfaltete ferner al-Ġazālīs Idee, dass man durch das Schauen in das Verborgene die autoritativen Texte gleichsam überspringen und sich ohne die Sorge um eine möglicherweise entstellte Überlieferung das »Wissen« an der Quelle verschaffen könne. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte die als Textwissenschaft betriebene Jurisprudenz gegen die seit dem 12. Jahrhundert in die Gesellschaft hineinwirkenden Gottesfreunde zu kämpfen, die sich anheischig machten, ihrer Anhängerschaft den unverfälschten Willen Allahs kundzutun und darüber hinaus auch zu schauen, was die Zukunft bringen werde. Die herkömmliche Schariawissenschaft verachteten sie als eine Beschäftigung mit Worten von Toten, die von Toten tradiert worden seien. In den Kreisen der GottesGe re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 261
freunde kam im 16. Jahrhundert der Gedanke auf, man müsse den gemeinen Mann von der Last der widersprüchlichen Normen der einzelnen Rechtsschulen befreien, eine Absicht, die an die Pfründen und an den gesellschaftlichen Vorrang der ʿulamāʾ rührte. Die Herrscher taten nicht eben viel, um diese zu verteidigen; denn auch sie wussten den Einfluss der Gottesfreunde auf die breite Masse zu schätzen und zu nutzen. Dem Osmanischen Reich gelang es, Schariagelehrsamkeit und Gottesfreundschaft zu einer Symbiose zu vereinen, die erst am Ende des 19. Jahrhunderts durch den sogenannten Reformislam zerstört wurde. Die textgebundene Schariawissenschaft ihrerseits suchte sich einen ihr angemessenen Weg aus den Aporien, in die sie im 11. Jahrhundert geraten war. Wenn auch der Grund, weshalb Allah eine bestimmte Vorschrift erlassen hat, durch die Menschen nicht in Erfahrung gebracht werden könne, so sei immerhin unbestreitbar, dass Allah den Sieg seiner Religion anstrebe. Der Nutzen für den Islam sei somit ein über die Ungewissheiten der Analogien hinausreichendes Prinzip, das stets zu beachten sei, wenn man sich bei der Auslegung der Texte in scheinbar unauflösbare Schwierigkeiten verstricke. Um dieses Prinzip aufrechtzuerhalten, musste man sich stillschweigend von der occasionalistischen Metaphysik lossagen, und das geschah auch. Nicht, dass man sie verworfen hätte! Aber man räumte ein, dass sie bei der Auslegung der Texte außer Acht bleiben dürfe. Aš-Šāt.ibī (gest. 1388), ein heute wieder viel studierter andalusischer Gelehrter, erklärte: »Da man in der Wissenschaft von den Grundlagen der islamischen Jurisprudenz gezwungen ist, Gründe für die schariatischen Urteile zu affirmieren, geschah dies auch, allerdings unter der Annahme, dass die Gründe die Bedeutung von Zeichen hätten, durch die spezielle Bewertungen kundgegeben wurden.« Die Behauptung eines Kausalverhältnisses zwischen Entitäten wurde auf diese Weise vermieden, formal wahrte man die sunnitische Metaphysik der Diskontinuität des geschaffenen Seins,27 ohne auf deren Relativierung durch al-Ġazālī zurückzugreifen. Durchforschte man die autoritativen Texte nach solchen Zeichen und hielt man sich an die Bewertungen, auf die sie verwiesen, dann musste die »beste Gemeinschaft« Wirklichkeit werden. Mit dieser Methode, verspricht aš-Šāt.ibī, wird sich die durch Allah dem Menschen zugesagte Stellvertreterschaft des Schöpfers auf Erden (Sure 2, 30) erfüllen. »Glaubt an Allah und seinen Gesandten und spendet von dem, worüber er euch als Stellvertreter eingesetzt hat!« (Sure 57, 7), »Er setzt euch auf der Erde als seine Stellvertreter ein, um dann zu schauen, wie ihr handelt« (Sure 7, 129). – Auch die Gottesfreunde strebten die Stellvertreterschaft Allahs an; nach ihrer Überzeugung vermochten sie sie für kurze Augenblicke zu erreichen, indem sie, ihr Selbst abstreifend, die Eigenschaften des alles lenkenden Allah annahmen und sogar in den Vorgang des Lenkens eingriffen, eine Behauptung, die weithin geglaubt wurde und ihnen erheblichen Zulauf sicherte.28
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7 . Aus bl i c k Das an der Unzulänglichkeit der Textauslegung, am totalen, auch die Ethik einbeziehenden Regelungsanspruch der Scharia und am Fehlen des Konzepts eines selbständig handelnden Menschen scheiternde Versprechen der islamischen Jurisprudenz, die »beste Gemeinschaft« hier und jetzt zu errichten, wurde trotz allem über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart hinein gerettet. Das Muftiamt täuschte und täuscht eine allumfassende Verwirklichung der Scharia vor, und zwar unabhängig von den fast immer instabilen politischen Verhältnissen. Weniger als je zuvor ist die heutige Schariawissenschaft darum bemüht, die Kluft zwischen ihrem Anliegen und dem vorwaltenden muslimischen Menschenverständnis zu überbrücken. Ganz vordergründig wird der zur Phrase erstarrte, aber politisch vielseitig verwendbare Grundsatz des Nutzens des Islams eingesetzt, um Gegebenheiten der Moderne dem allumfassenden Regelungsanspruch der Scharia unterzuordnen. Dies geschieht nicht selten, indem man die vermeintliche Verdorbenheit des menschengemachten Rechts der westlichen Welt denunziert und die Scharia als das Allheilmittel für die Leiden der Zeit anpreist. Die vorhin angesprochene Ausdehnung der schariatischen Regelungen auf die Ethik gilt dabei als ein unschätzbarer Vorzug, während das westliche Recht es sich nicht angelegen sein lasse, die Menschen zur Tugend aufzurufen; es beziehe sich eben nur auf das Diesseits und schweige von den Jenseitsfolgen menschlicher Verfehlungen.29 Die verhältnismäßig strengen Methoden der Textwissenschaft, der gewaltige Fundus scharfsinniger Argumentationen, alles dies gilt dem heutigen sogenannten Reformislam freilich nur noch als der Schutt der Vergangenheit, den man beiseiteschaffen müsse. In plattester Weise pflegt man inzwischen den Koran und das Hadith einzusetzen, um zu »beweisen«, dass Allah den Triumph des Islams beabsichtige. Falls nötig, lassen sich durch das Zitieren einiger aus dem Zusammenhang gerissener Sätze der autoritativen Texte bestimmte westliche Zivilisationsgüter und Rechtsformen, beispielsweise die als Risikogeschäfte nach der Scharia eigentlich verbotenen Versicherungen, dann doch als urislamische Errungenschaften darstellen und rechtfertigen. Zu einer Einsicht in das, was der Begriff Gerechtigkeit meinen könnte, dringt man dabei auch heute nicht vor. Sie ist in der Scharia gegeben und durch Allahs Worte verbürgt. Gerechtigkeit sei der Gegensatz zu Unrecht; man benenne mit diesem Wort den geraden, mittleren Weg, die Mitte zwischen Übertreibung und Missachtung; als Adjektiv verwendet, bezeichne das arabische Wort den Status der Unbescholtenheit, durch die sich jemand auszeichnen muss, wenn er als Vorbeter, als Zakat-Einzieher, als Sachwalter bei anderen rituellen Pflichten, als Vormund beim Ehevertrag, als Kadi oder als Staatsoberhaupt seines Amtes walten soll.30 So steht es in der in Kuweit verlegten und 2007 abgeschlossenen Enzyklopädie des Schariarechts. Die in dem Satz summum ius summa iniuGe re cht igke it und Vo ll ko mme n h e i t i n i sl am i sc h e r Si c ht | 263
ria verborgene Problematik ist unbekannt.31 Denn summum ius, die gottgegebene Scharia, ist doch die ewig wahre Grundlage der »besten Gemeinschaft«! In der mohammedschen Urgemeinde von Medina war dieses summum ius uneingeschränkte Wirklichkeit gewesen. Nicht zuletzt damit es wieder so komme, betreibt man die Schariawissenschaft und schuf man jene Enzyklopädie.
A n m e r kunge n 1 Entsprechend der Lehre von den sieben Klimata, die al-ʿĀmirīs Lehrer al-Balḫ ī (gest. 937) den Gegebenheiten seiner Zeit angepasst hatte und die zu einer Grundlage der im 10. Jahrhundert schnell aufblühenden geographischen Literatur wurde. Vgl. A. Miquel, La géographie humaine du monde musulman jusqu’au milieu du 11e siècle, Bd. 1, Paris 1967 sowie B. Radtke, »Das Wirklichkeitsverständnis islamischer Universalhistoriker«, Der Islam 62 (1988), S. 59 ff. 2 Vgl. Sure 2, Verse 129, 151, 231; Sure 3, Verse 48, 81, 164; Sure 4, Verse 54 und 113; Sure 5, Vers 110; Sure 62, Vers 2. 3 Al-ʿĀmirī, Muḫ ammad b. Jūsuf, Kitāb al-iʿlām bi-manāqib al-islām, hrsg. von Ah. mad ʿAbd al-H . amīd Ġurāb, Kairo 1967, S. 171–177. 4 Ein Beispiel aus aš-Šāfiʿīs Aḫ kām al-qurʾān, zusammengestellt von al-Baihaqī (gest. 1066), hrsg. von Muh.ammad Zāhid b. al-H . asan al-Kaut-arī, Beirut 1980, S. 159 f.: Sure 8, Vers 47, lautet: »Wenn ihr die Ungläubigen (in der Schlacht) trefft, dann ab mit dem Kopf ! Wenn ihr sie schließlich niedergekämpft habt, dann legt sie in Fesseln! Danach mögt ihr Gnade walten lassen – bis (endlich) der Krieg seine Lasten ablegt.« Diese Redensart meine: »Bis der Krieg vorüber ist«, erklärte aš-Šāfiʿī. Aus diesem Vers leitet er die Bestimmung ab, dass jegliches Eigentum der Feinde, das diesen als Beute abgenommen wird, also auch Frauen und Kinder, gemäß den Regeln zu verteilen ist. Ausgenommen sind nur die wehrfähigen Männer, die der islamische Machthaber töten, gegen Lösegeld freikaufen lassen oder als Gefangene versklaven darf. So habe der Prophet nach der Schlacht bei Badr gehandelt, obwohl der Krieg gegen Mekka noch nicht beendet gewesen sei. 5 Es ging vielmehr darum, den Fortbestand der heilswichtigen prophetischen Rechtleitung, die Vergegenwärtigung seiner übermächtigen, Existenzsicherheit vermittelnden Person zu gewährleisten (vgl. T. Nagel, Im Offenkundigen das Verborgene. Die Heilszusage des sunnitischen Islams, Göttingen 2002, S. 496–654). Erst als unter den Juristen die Idee um sich griff, Entscheidungen möglichst durch Zitate aus autoritativen Texten abzusichern, wurde die Nützlichkeit des Hadith für diesen Zweck erkannt. Die vollständige Islamisierung der muslimischen Gesellschaft und des Staates erschien nunmehr möglich und von Allah gewünscht (vgl. J. Schacht, The Origins of Muhammadan Jurisprudence, Oxford 31959, S. 190–227; T. Nagel, Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, S. 155–216). 6 J. Schacht, Origins (o. Anm. 5), S. 11–20; T. Nagel, »aš-Šāfi‘īs Konzept des Wissens«, in: Festschrift für Werner Ende zum 65. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 307–314. 264 | Tilman Nag e l
al-Māwardī, Adab ad-dunjā wad-dīn, hrsg. von Mus.t.afā as-Saqqā, Kairo 41973, S. 52–55. Ebd., S. 136. Ebd., S. 33–35. Ebd., S. 136. Ebd., S. 141–144. Art. »Mensch«, Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5, S. 1067. al-Mawardi, Adab ad-dunjā wad-dīn (o. Anm. 7), S. 132–136. Ebd., S. 133, Zeile 15. Ebd., S. 84. Das klassische islamische Recht kennt den Prozessbevollmächtigten, der, wenn der Kadi es zulässt, einen Angeklagten oder eine Prozesspartei vertreten kann. In der Literatur über die Rechtspflege steht er im Verdacht, die Findung eines der Scharia entsprechenden Urteils verhindern zu wollen; dass er zur Rechtsfindung beitragen könnte, wird nicht angenommen (E. Tyan, Histoire de l’organisation judiciaire en pays d’Islam, Leiden 1960, S. 262–275). Erst mit der Einführung europäischer Rechtsformen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildete sich nach europäischem Vorbild der Beruf des Rechtsanwalts heraus. 17 Um wenigstens einen Anschein von Werkgerechtigkeit zu bewahren, ersann man im sunnitischen Islam die These von der Abschlusshandlung: Entsprach diese den Bestimmungen der Scharia, würde der Betreffende in das Paradies eingehen, selbst wenn er sein Leben lang gegen Allahs Gesetz verstoßen hätte – und umgekehrt (T. Nagel, Die Festung des Glaubens, München 1988, S. 110). Dies war der folgerichtige Schluss aus der Annahme, dass die Bestimmungen der Scharia ohnehin nicht dazu von Allah gestiftet worden seien, um dem Menschen die Möglichkeit des Heilserwerbs zu eröffnen, sondern lediglich um ihm zu zeigen, ob Allah ihn gerade schariakonform oder schariawidrig handeln lasse (ebd., S. 155). 18 Vgl. T. Nagel, Die Festung des Glaubens (o. Anm. 17), S. 198–270. 19 al-Ğuwainī, Kitāb al-burhān, hrsg. von ʿAbd al-ʿAz.īm ad-Dīb, Kairo 21400 h, S. 3 ff. 20 T. Nagel, Das islamische Recht (o. Anm. 5), S. 247. 21 Es entstand im 13. Jahrhundert ein eine Art Herrscherrecht, das zum Teil den schariatischen Bestimmungen erheblich widersprach. Es diente dem Machterhalt und wurde dadurch legitimiert, dass man argumentierte, ohne Herrschaft ginge die islamische Gemeinschaft zugrunde; insofern waren auch widerschariatische Bestimmungen zu rechtfertigen. Die Rechtsgelehrten haben aber immer wieder gefordert, dass auch dieses Herrscherrecht inhaltlich an die Scharia rückgekoppelt werden müsse. Diese Problematik, die besonders scharf zutage trat, als islamische Herrscher seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert westliche Militärtechnik und westliche Methoden der Verwaltung übernahmen, kann hier nicht erörtert werden. 22 T. Nagel, Die Festung des Glaubens (o. Anm. 17), S. 324–329. 23 Man lebt mit dem Widerspruch, dass es ein einziges, offenbartes Recht gebe, das jedoch einer objektive Maßstäbe anstrebenden Rechtsentwicklung entzogen bleibt. Man weiß, dass allenfalls einer der Schariakenner die Wahrheit findet, lehrt aber auch, dass ein jeder, der sich darum bemüht, recht hat, und begnügt sich von Fall zu Fall mit dem, was Allahs Vorgaben am näch7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
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sten zu kommen scheint (N. Oberauer, Religiöse Verpflichtung im Islam. Ein ethischer Grundbegriff und seine theologische, rechtliche und sozialgeschichtliche Dimension, Würzburg 2004, S. 289–291). 24 P. Dannhauer, Untersuchungen zur frühen Geschichte des Qadi-Amtes, phil. Diss., Bonn 1975, S. 66. Eine gute Einführung in die Entwicklung des islamischen Rechts bis in die Zeit der Entstehung der Rechtsschulen bietet W. Hallaq, The Origins and Evolution of Islamic Law, Cambridge 2005. B. Jokisch, Islamic Imperial Law, Berlin 2007, nimmt an, dass das islamische Recht in seiner frühen Zeit stark vom römischen Recht des Byzantinischen Reiches geprägt worden sei. Diese These taucht in der Forschung immer wieder einmal auf, ohne dass sie hinreichend abgesichert worden wäre. Das gelingt auch Jokisch nicht. Denn einige Analogien in der Fachterminologie und manche inhaltliche Parallelen wirken nur dann überzeugend im Sinne der These, wenn man, wie Jokisch es tut, von ganz weit oben auf seine Gegenstände schaut. Aus der Vogelperspektive ähneln einander viele Städte, aber daraus darf man nicht schließen, dass ihre Bewohner eine gleichartige religiöse und geistige Tradition pflegen. Jokischs Arbeit ist ein Beispiel für eine bestimmte Gattung orientalistischer Literatur, die unbedingt zeigen will, dass das undankbare Europa alles und jedes aus der islamischen Welt übernommen hat; in diesem Falle soll es die »Scholastik des Rechts« sein, die sich nach H. Berman, Recht und Revolution, Frankfurt/Main 1991, S. 247, schließlich von der religiösen Kontrolle befreit habe; der Islam, so Jokisch, habe schon viel früher als Europa über Imperial Law verfügt und daher die europäische Entwicklung zum säkularen Staat angestoßen ( Jokisch, Imperial Law, S. 616). Berman schloss zwar, wie Jokisch zitiert, islamischen Einfluss auf das europäische Recht aus, aber Jokisch schreibt unbeirrbar: »But the main factors, which gave rise to Western legal tradition (i.e. 1. discovery of the Florentina in Pisa, 2. scholasticism, 3. foundations of universities) prove to be closely connected with Islamic law« ( Jokisch, Imperial Law, S. 263, Anmerkung 85). 25 Vgl. z.B. G. Matern, Ibn abi Laila. Ein Jurist und Traditionarier des frühen Islam, phil. diss. Bonn 1968, S. 38–42. 26 Al-Ghazali, Der Erretter aus dem Irrtum, übers. von Abd-Elsamad Abd-Elhamid Elschazli, Hamburg 1988. 27 T. Nagel, Das islamische Recht (o. Anm. 5), S. 267. 28 T. Nagel, Im Offenkundigen das Verborgene (o. Anm. 5), S. 301. 29 T. Nagel, Das islamische Recht (o. Anm. 5), S. 337. 30 al-Mausūʿa al-fiqhīja, 45 Bände, Online-Ausgabe, Bd. XXX, s.v. al-ʿadl. 31 Cicero, De officiis 1, 33; dazu in diesem Band G. Vogt-Spira o. S. 44 f.
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REGISTER Aegidius Romanus 77 aequitas (aequum) 20, 41f., 49, 58, 62, 67, 130, 141, 144, 163f., 170 Al-ʿĀmirī 249f., 253 Al-Ġazālī 260f. Al-Ǧuwainī 258 Al-Māwardī 252–256 D’Alembert 164 Alkuin 86 Allgemeine Bevölkerungsumfrage 227 Altes Testament 99, 195 Ambrosius 84, 98 Aristoteles 19, 33, 44, 54, 59, 77, 81, 87, 119f., 124, 157, 194, 197, 199, 205, 254 Arnold von Lübeck 105 Aš-Šāfiʿī 251, 259 Aš-Šāṭibī 262 Augustinus 82, 84f., 90, 195, 197 Aushandeln 97, 105-107, 130, 159, 184 Bartolo da Sassoferrato 138 Bayle 163 Beccaria 169f., 177, 183, 186 Bernhard von Clairvaux 88–91 Billigkeit 41, 45, 58, 62, 78, 86, 116, 138, 148, 160, 193f., 201 Bundesverfassungsgericht 234, 237f., 240 Caesar 63–65 Cicero 21, 45–52, 58f., 65–67, 86, 90 Clemens II. 98, 108 Condorcet 171 Cyprian 84 Dante Alighieri 80, 118 Diderot 164f., 180 Digesten 40f., 49–55, 90, 121, 137 Wilhelm Durandus 137f. Ehre (honor) 52, 63, 101
Emotionen 27–29, 127, 177, 182, 198, 206, 204 fides 20f., 43, 47f., 51, 98, 142, 195 Feuerbach 177, 184 Ficino 122–125 Filelfo 119f. Freiheit 28, 97, 156, 197, 201–206, 234 Friedrich I. (Barbarossa) 102–105 Friedrich I. (Preußen) 181 Friedrich II. (Staufer) 86, 106f. Friedrich Wilhelm I. 186 Geld 26-28, 124, 142–148, 200, 202, 206, 219–223, 253 Gemeinwohl 37, 50f., 77, 86–89, 195 Gerechter Krieg 58f., 81, 208 Gerechtigkeit – ausgleichende 17, 54, 59, 67, 88, 126, 138f., 141, 146, 148, 170, 199, 233 – Begriff von 11–13, 17f., 40f., 80, 117f., 155, 174, 193–199, 214, 219–226, 233, 248, 250, 263 – formale 45, 156, 184, 187 – fortschreitende 158–160, 177, 179 – globale 208–210 – gegenüber Gott 43, 82 – Gottes 83, 90, 99, 118, 121f., 124f., 180, 183, 186, 194f., 212, 248, 255 – des Herrschers 41, 78, 80, 83–87, 92, 100, 102, 106f., 158, 161f., 169, 171, 181f. – Pluralisierung von 10-12, 17f., 42–44, 97, 107, 117f., 125f., 128, 130, 161, 163, 167, 174, 178f., 194, 196f., 200, 207, 219, 223, 226f., 229f., 239, 247 – Rhetorisierung von 120 – soziale 202f., 219-221, 223, 225f., 228, 230 Re g i st e r | 267
– als Tugend 25–31, 41, 50–52, 67, 77, 80, 82, 84, 86–90, 98, 108, 119, 125f., 128f., 155, 158, 170, 174, 179f., 193–195, 233 – Verfahrens- 17, 40, 62, 103–107, 155, 174–187, 197, 200, 205, 210f., 234 – Verteilungs- 54, 59, 64–68, 123f., 125f., 155f., 197, 199, 202f., 208, 219–223, 225, 230 – weitere Kompositabildungen 197, 199, 225–228 Gewissen 88f., 91 Gilbert von Tournan 86 Gleichheit 17, 20f., 43, 54, 58, 60, 62, 67, 156f., 159, 166, 171f., 175f., 185, 197, 201–203, 206, 210, 213, 221–224, 238 Glück 32–35, 165, 169, 180, 210 Gnade 78, 81, 99–103, 105, 158, 171, 178, 184, 187 Goldene Regel 83, 90f. Gregor VII. 78, 86, 99 Grotius 205 Habermas 201 Hayek 202 Hedith 251f., 256f. Heinrich der Löwe 104f. Hesiod 18f. Hobbes 164, 208 Homer 18, 30f. Hugo von St. Viktor 85, 89 Humanität 98, 130, 161f., 168f., 171, 177, 220 Hume 167, 205, 220 Inquisition 166, 176, 178, 184–186 Islam 12, 195, 247–264 Iustitia – Allegorie 41, 179, 184f., 233 – Wortgeschichte 41f., 58 Jedem das Seine (suum cuique) 20, 27, 35–37, 40, 50–54, 68f., 90f., 124, 138, 195, 222f. Justinian → s. Digesten 268 | Register
Justizwesen (→ s. auch Recht) 157–159, 162–165, 170, 174–187, 197, 214, 233–241, 259f. Kafka 212 Kant 44, 180, 193f., 197 Karneades 46, 59 Kelsen 53, 211 Koran 250–262 Kreittmayr 183 Krug 193 Lessing 165 Liebe 83, 88f., 98 Livius 59–62 Locke 118, 202 Luhmann 212–214 Milde (clementia) 40, 78, 101, 177, 162, 237 Mohammed 247, 250f., 254, 261 Montaigne 163 Montesquieu 167, 170 Mozart, La clemenza di Tito 161f. Mufti 258f., 263 Muratori 168 Muret 120 Naturrecht 46–48, 89, 118, 121, 124, 127, 159, 163f., 166f., 169, 181, 183, 187, 210, 212f. Neues Testament 82f., 91, 99, 194 Neuplatonismus 81f., 122 Nussbaum 205–208 Otto von Freising 102 Pascal 163 Platon 19, 25–39, 44, 59, 53, 195, 199 Privilegien 62, 139, 166, 185, 194 Positives Recht 47–50, 161, 164–167, 177, 210f., 214, 238 Rawls 175f., 197, 201-206, 208f., 221, 234 Recht 17, 20, 40f., 43–50, 59–63, 86, 97, 103, 115f., 121, 125, 128f., 136-148, 156, 161, 167, 171, 193, 210, 233–241, 257–260, 262f.
Religiose 87–92 Rolandino 136–138, 140f. Rousseau 169–171 Säkularisierung 118f., 128, 169, 180, 183, 187 Salutati 120–122 Schiedsverfahren 116, 136–148 Sen 205f. Sicherheit 51, 156, 181, 186, 234, 238, 240, 253 Solon 19 Sorge 53, 101 Spener 181 Speroni 125–131 Stoa 50, 53, 194f. Strafe 17, 107, 137, 139f., 147, 157, 169f., 187, 233–241 Thomas von Aquin 77, 87, 98, 157, 197 Thomasius 164 Transzendenz 92, 97, 99, 107, 115, 118, 120, 122, 125, 127, 130, 166, 74f., 185, 187, 206, 210f., 214
Ungerechtigkeit 27, 44f., 64, 84, 99, 126, 165f., 168, 170-172, 175, 197, 200, 208f., 211, 213, 220, 222, 263f. Utilitarismus 46, 127, 148, 202, 204-206, 225, 229 Vergeltung → s. Gerechtigkeit, ausgleichende Vernunft 28-31, 34-36, 90, 123f., 130, 141, 161, 177, 180, 183, 186f., 194, 202, 205f., 210, 247f., 252f., 255, 260 Vollkommenheit 7–11, 32f., 53, 79f., 82, 85, 91f., 116, 126, 158, 160, 164, 169, 175 Voltaire 168f., 182f., 194, 212f., 247f., 252, 256, 260–264 Wahrheit 59, 99, 176, 179, 235–237, 239, 241, 248, 260 Wille 25, 29f., 34f., 40, 50f., 88, 123, 169, 233, 238 Wipo 100f. Wohlfahrtsstaat 225f., 228 Würde (dignitas) 21f., 50, 54, 62–65, 68, 156, 160, 170, 193f., 205–207, 234 Zedler 180 Zwölf-Tafel-Gesetz 46–48
Re g i st e r | 269
ZU DEN AUTOREN Gerhard Amend, Vorsitzender Richter am Landgericht Coburg Prof. Dr. Giancarlo Andenna, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand und Brescia Dr. Mirko Breitenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Prof. Dr. Joachim Eibach, Dozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bern Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf, Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Karl-Joachim Hölkeskamp, Professor für Alte Geschichte an der Universität zu Köln Prof. Dr. Bernhard Huss, Professor für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Martin Jehne, Professor für Alte Geschichte an der Technischen Universität Dresden Prof. Dr. Georg Kohler, emeritierter Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich Prof. Dr. Roberto Lambertini, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Università di Macerata Prof. Dr. Holger Lengfeld, Professor für Soziologie insb. Makrosoziologie und Politische Soziologie an der Universität Hamburg Prof. Dr. Gert Melville, Direktor der Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte in Dresden Prof. Dr. Tilman Nagel, emeritierter Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Carlos Ruta, Rektor der Universidad Nacional de San Martín, Argentinien Prof. Dr. Arbogast Schmitt, Professor für Klassische Philologie an der Philipps-Universität Marburg Prof. Dr. Bernd Schneidmüller, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Edoardo Tortarolo, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Università degli Studi del Piemonte Orientale “Amedeo Avogadro” in Vercelli Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira, Professor für Klassische Philologie an der Philipps-Universität Marburg Prof. Dr. Hans Vorländer, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden
270 | Zu d en Aut o re n
EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE IM WANDEL: VERLANGEN NACH VOLLKOMMENHEIT HERAUSGEGEBEN VON GERT MELVILLE, GREGOR VOGT-SPIRA UND MIRKO BREITENSTEIN
In der europäischen Kultur ist die Vorstellung tief verankert, dass es optimale Formen des individuellen und sozialen Lebens gebe. Dadurch wird ein dynamisierendes Potential freigesetzt: ein stetes Streben nach etwas noch Vollkommeneren. In diesem Sinne werden hier die europäischen Grundwerte betrachtet: als Leitbegriffe, die immer wieder neu ausgehandelt, angepasst und korrigiert werden. Die Bände der Reihe befassen sich mit sechs Grundbegriffen, die in der europäischen Geschichte intensiv diskutiert worden sind: Gerechtigkeit, Sorge, Freiheit, Erkenntnis, Schönheit und Glückseligkeit. In jedem Band werden von der Antike bis in die Gegenwart solche Epochen oder Zäsuren vergleichend behandelt, die für Prägungen und Ausgestaltungen der Begriffe besonders entscheidend waren. Dabei werden immer sowohl die Seite des Konzepts wie die konkrete historische Verwirklichung in den Blick genommen. BD. 1 | GERECHTIGKEIT
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