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German Pages 221 [222] Year 1986
JOHANN BAPTIST MÜLLER
Herrschaftsintensität und politische Ordnung
Beiträge zur Politischen Wissenschaft
Band 48
Herrschaftsintensität und politische Ordnung
Von
Johann Baptist Müller
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Müller, Jobann Baptist: Herrschaftsintensität und politische Ordnung I von Johann Baptist Müller.- Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 48) ISBN 3-428-06054-7
NE:GT
Alle Rechte vorbehalten & Humblot GmbH, Berlln 41 Druck: Alb. Sayffaerth • E. L. Krohn, Berlln 61 Printed in Germany
C 1986 Dunelter
ISBN 8 428·06054-7
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Der Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
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1. Die Heraufkunft des Zentralstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2. Das paternalistische Herrschaftsverständnis des Absolutismus . . .
13
3. Absolutismus, Partialliberalismus und Antidemokratismus
16
II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Antipaternalismus, Zentralstaat und Konstitutionalismus . . . . . . .
31
2. Liberalismus, Republik und Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
3. Das liberale System und seine politische Führung . . . . . . . . . . . . . .
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4. Der moderne Wohlfahrtsstaat: Repressiver Leviathan oder autori• tätsarme Verwaltungsmaschinerie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Der okzidentale Illiberalismus als extreme Monokratie . . . . . . . . . . . .
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1. Die Dialektik des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
2. Der "Totalitarismus" als neuartiges Herrschaftssystem .... .. .... 102 3. Herrschaftsintensität und Pseudodemokratie .... ........... .... . 115 4. Heilsstaat und Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5. MonokraUseher oder polykraUseher Illiberalismus? ............. 137 IV. Das Herrschaftssystem der Dritten Welt als illiberale Polykratie . . 160 1. Die Dialektik der Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
2. Die Staaten der Dritten Welt als illiberale Politiksysteme: Ursachen und Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Die Herrschaftsintensität im "Schwachen Staat" . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Patrimonialismus, Persönliche Herrschaft und Charismatische Führung 186 V. Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Literaturverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Einleitung Herrschaft ist bei jeder Art von Gemeinwesen unerläßlich, sei es auf der niedersten oder höchsten, der frühesten oder spätesten Stufe. Diese Herrschaft bestätigt sich vor der Gemeinschaft als Vorbedingung ihrer Ordnung. Reinhold Niebuhr
Das Ziel dieser Abhandlung ist es, die unterschiedliche Herrschaftsintensität der politischen Systeme des Absolutismus, des Liberalismus, des "okzidentalen Illiberalismus" und der sogenannten "Dritten Welt" in den Blick zu rücken. Dabei wird chronologisch und systematisierend verfahren. Die umfängliche Berücksichtigung der Geschichte der politischen Ideen dient dazu, die Bewertung des jeweiligen Systems aus den unterschiedlichen ideologischen Blickwinkeln aufzuzeigen. Dadurch kann gezeigt werden, daß die Evaluation der in Rede stehenden politischen Ordnungen höchst unterschiedlich ausfallen kann. Beispielsweise wird die Herrschaftsintensität des Sozialstaates sowohl als Versündigung am Geiste des Liberalismus angeprangert als auch als eine notwendige Voraussetzung der gesellschaftlichen Emanzipation gepriesen. In dieser Studie wird davon ausgegangen, daß Macht und Herrschaft1 zu den Grundgegebenheiten jeder politischen Ordnung gehören2. Sie sind weder durch Überlagerung3 entstanden, noch verdanken sie ihr Dasein irgendwelchen verschwörerischen Eliten, die ihre Repressionspraxis zu perpetuieren gedenken. Die akephale Politikordnung bleibt aus diesem Grunde eine Utopie. Das gilt nicht zuletzt für die liberale Politik. Gerade in ihr besteht zwischen der Freiheit 1 In dieser Arbeit werden die Begriffe Macht und Herrschaft manchmal auch synonym verwendet. 2 Vgl. dazu Dolf Sternberger: Autorität, Freiheit und Befehlsgewalt. Tübingen 1959; Raymond Aron: Macht, Power, Puissance: prose democratique ou poesie demoniaque? In: Archives europeennes de Sociologie 5 (1964), S. 27 ff.; D. M. White: The Problem of Power. In: British Journal of Political Science 2 (1972), S. 479 ff.; Ursula Schumm-Garling: Herrschaft in der industriellen Arbeitsorganisation. Frankfurt am Main 1972; Hannah Arendt: Macht und Gewalt. Aus dem Amerikanischen. Vierte Auflage. München 1981. 3 Vgl. dazu Hans Kammler: Der Ursprung des Staates. Eine Kritik der Überlagerungslehre. Köln und Opladen 1966.
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Einleitung
der Bürger und der Macht des Staates ein interdependenter Zusammenhang. Die Bürger schützen sich mit Hilfe rechtsstaatlicher Institutionen vor der Macht der Regierung. Diese wiederum erscheint notwendig, um die Menschenrechte überhaupt gewährleisten zu können. Die Kunst der liberalen Politik besteht deshalb darin, den Zentralstaat so zu gestalten, daß seine Macht weder ins Totalitäre ausgreift hoch polykratisch aufgelöst wird. Aus diesem Grunde ist die liberale Politie weder "sanft" 4 noch repressiv. Dieser für die Existenzerhaltung des freiheitlichen Gemeinwesens so grundlegende Sachverhalt ist leider bei vielen Zeitgenossen in Vergessenheit geraten. Umso wichtiger ist es, diese Grundvoraussetzung der liberalen Ordnung immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dazu soll auch diese Abhandlung beitragen. Sie ist dezidiert auf einen wertenden Ton gestimmt, von der Absicht getragen, einen Beitrag zur Stärkung des liberal-demokratischen Politiksystems zu leisten. Dabei ist sich der Verfasser durchaus bewußt, daß die Gründung und Perpetuierung liberaler Staaten an Voraussetzungen gebunden sind, die keineswegs überall vorherrschen. Diese Einsicht sollte allerdings nicht die Tatsache vergessen machen, daß die freiheitliche Politikordnung zu den wichtigsten Errungenschaften des menschlichen Geschlechtes gehört.
4 Anderer Auffassung sind: Freimut Duve, Heinrich Böll und Klaus Staeck mit dem von ihnen herausgegebenen Werk "Kämpfen für die sanfte Republik" (Reinbek bei Harnburg 1980).
I. Der Absolutismus als autoritäran tipolykra tisches Herrschaftssystem Der Fürst ist für den Staat dasselbe, was das Haupt für den Körper ist: er muß für die Allgemeinheit sehen, denken und handeln. Friedrich der Große Verglichen mit totalitärer Tyrannei war die unumschränkte Monarchie ein Paradies31 • Robert Ingrim 1. Die Heraufkunft des Zentralstaates Monokratisch-modeme Politikvorstellungen waren dem Mittelalter weitgehend fremd. Seine politische Ordnung zeichnete sich durch eine "sehr lockere Struktur"\ durch das "Überwiegen der persönlichen Herrschaftsmittel über die anstaltlichen" 2 , durch seine "Neigung zum Patrimonialismus" 3 aus. Was die Genesis des modernen Zentralstaates anlangt, so gebührt Friedrich II. das Verdienst, auf Sizilien das erste straff durchorganisierte Gemeinwesen des Okzidents geschaffen zu haben. Auf diese Weise kann er durchaus als "Vorläufer des späteren Fürstenabsolutismus" 4 angesehen werden. Bei der Analyse seiner t Otto Hintze: Feudalismus-Kapitalismus. Hrsg. von Gerhard Oestreich. Göttingen 1970, S. 22. 2 Ebd. 3 Ebd. Als Patrimonialismus wird die Neigung des absoluten Fürsten verstanden, "Land und Leute als Objekt eines persönlichen Besitz- und Herrschaftsrechtes, Offiziere und Beamte als ihm persönlich verpflichtete Diener anzusehen" (Ludwig Doebel: Maximilian von Montgelas und sein Prinzip der Staatssouveränität beim Neubau des "Reiches Bayern". In: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. Hrsg. von Hanns Hubert Hofmann. Köln und Berlin 1967, S. 276). Vgl. dazu Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. Die Grundlagen der politischen Wissenschaft. Aus dem Italienischen. München 1950, S. 309. 4 Vgl. dazu Kurt Schilling: Geschichte der sozialen Ideen. Individuum, Gemeinschaft, Gesellschaft. Stuttgart 1957, S. 181 f. Dabei darf die administrative Leistung der Kurie keineswegs außer acht gelassen werden. "Die Kurie hat als erste auf die Dauer das erreicht, was vorher nur einmal Friedrich II. in Sizilien geglückt ist und wonach alle Fürsten und Könige bis zum 17. Jh. in ständigen Kämpfen mit ihren Lehensträgern und Ständen streben: eine straff beamtenrechtlich durchorganisierte Zentralgewalt. Sie konnte die geistlichen Stellen am leichtesten als Ämter behandeln und besteuern" (ebd., s. 187).
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I. Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
Heraufkunft muß man zwischen der inneren und äußeren Souveränität unterscheiden. Schon sehr früh pochte der französische König auf die äußere Souveränität, d. h. auf die Unabhängigkeit von Kaiser und Papst5• Was die innere Souveränität anlangt, so bedeutete diese die Oberhoheit des Königs im Innern. Bodin war es, der das Souveränitätsprinzip zum erstenmal umfänglich konzipierte6 • Die Entwicklung hin zum souveränen Staat des Absolutismus ist identisch mit der Überwindung der "polykratischen" Verfassung und der Ausbildung einer "monokratischen" Staatsstruktur7. In geradezu klassischer Weise hat sie der englische Historiker G. N. Clark auf den Begriff gebracht. "The work of monarchy in the seventeenth century may be described as the substitution of a simpler and more unified government for the complexities of feudalism.... It was centralization, the bringing of local business under the Supervision or control of the government of the capital8." Dabei gestaltet sich die Entwicklung zum absoluten Zentralstaat hin äußerst langwierig. "Es brauchte etwas über sechs Jahrhunderte des Kampfes und langer, beständiger Mühen, um aus dem Feudalkönig einen absoluten Herrscher, aus der Feudalhierarchie eine bezahlte Bürokratie und aus dem Heer der Barone und ihrer Vasallen ein bezahltes stehendes Heer zu machen9." Die Politik des absolutistischen Fürsten umspannt in der Tat ein Ensemble der verschiedensten Interventionsaktivitäten, die sich alle zu einem einheitlichen Wohlfahrtszweck fügen. "Die Wehrverfassung mit den stehenden Soldheeren10, die innere Landeskulturpolitik, die merkantilistische 5 Vgl. dazu Albert Bleckmann: Zur Entwicklung des modernen Souveränitätsdenkens. In: auspolitikund Zeitgeschichte. B 43/85. 26. Oktober 1985, S. 3. 6 Jean Bodin: über den Staat. Aus dem Französischen. Hrsg. von Gottfried Niedhart. Stuttgart 1976. Bodin zufolge beinhaltet "der Begriff Souveränität ... die absolute und dauernde Gewalt eines Staates, die im Lateinischen majestas heißt" (ebd., S. 19). 7 Nach Hermann Heller muß die politische Machtverteilung des Mittelalters als ,pluralistisch' bzw. als ,Polyarchie' bezeichnet werden (Staatslehre. 2. Auflage. Leiden 1961, S. 126). 8 G. N. Clark: The Seventeenth Century. Second Edition. Oxford 1960, S. 91. 9 Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. S. 306. Daß diese Entwicklung kaum ökonomisch erklärt werden kann, betonen Robert T. Holt und John E. Turner in ihrer Abhandlung "The Political Basis of Economic Development" (Princeton N. J. 1966, S. 69 ff. und passim). Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller: Determinanten politischer Entscheidung. Berlin 1985, S. 23 ff. 10 Der Regent ist im absolutistischen System auch Chef des Heeres. Friedrich II. schreibt in seinem Politischen Testament von 1752: "Es ist weiter nötig, daß ein König von Preußen Soldat sei und der Chef der Armee" (Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752). In: Politische Testamente der Hohenzollern. Hrsg. von Richard Dietrich. München 1981, S. 221. Es sei "für den Thron eine Schande, wenn die Fürsten träge und faul sind, indem sie das Kommando ihrer Truppen den Generälen überlassen, zur selben Zeit ein stillschweigendes Eingeständnis ihrer Verzagtheit oder ihrer Unfähigkeit" (ebd., S. 221 f.).
1. Die Heraufkunft des Zentralstaates
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Wirtschaftspolitik, die umfassendere Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei des . . . Absolutismus und Despotismus werden lauter mächtige Faktoren einer gesteigerten öffentlichen und insbesondere Staatsverwaltungstätigkeit, daher vermehrten Finanzbedarfs und vermehrter Einnahmen" 11 • Das System der Bedürfnisse wird zum Objekt der staatlichen Wahlfahrtszwecke. Paul Mombert hat diesen Tatbestand am Beispiel der preußischen Wirtschaftsförderung exemplifiziert. "In Preußen hatte zunächst der große Kurfürst aus den einzelnen Teilen des Staates ein wirtschaftliches ~anzes gemacht. Seine Wirtschaftspolitik, ebenso wie die seiner nächsten Nachfolger, war in allererster Linie darauf eingestellt, den inneren Verkehr zu heben, die gewerbliche Tätigkeit zu fördern und für beide Ziele alle Machtmittel des Staates einzusetzen. Man kann sagen, daß in dieser Zeit das ganze wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben staatlich organisiert war. Der Staat hatte auf diese Weise ... die Gesellschaft gleichsam in sich verschlungenu." In wie starkem Maße der König höchstpersönlich die Aktivitäten seiner Wirtschaftsuntertanen dirigierte und koordinierte, geht augenfällig aus dem Reglement für das Generaldirektorium von Friedrich Wilhelm I. vom 20. 12. 1722 hervor. Es heißt in ihm: "Deklarieren wir hierdurch, daß Wir Selbst das Praesidium über gedachtes Generaldirektorium führen wollen, um demselben desto mehr Lüstre, Autorität und Nachdruck beizulegen, zugleich auch die besondere und ganz genaue Attention zu zeigen, so Wir auf die zu ermeldetes Direktorii Ressort gehörende Affairen, ihre äußersten Wichtigkeit nach, beständig und unermüdet zu nehmen Uns angelegen sein lassen13." In wie starkem Maße die ökonomischen Ordnungsvorstellungen des Absolutismus dem zentralistischen Geiste huldigten, geht nicht zuletzt aus der kameralistisch-merkantilistischen Literatur hervor. Um die Notwendigkeit einer monokratisch ausgerichteten Wirtschaftsordnung unter Beweis stellen zu können, preist Justi die Vorzüge der chinesischen Administration. Ganz im Gegensatz zu liberalen Autoren, die im Reich der Mitte das Negativbeispiel einer antifreiheitlichen Ordnung erblickten, lobt Justi dessen administrative und ökonomische Effizienz. Er schreibt: "Es ist ein besondrer Vorzug der Sinesischen Monarchie, daß alle ihre Grundsätze, Triebfedern, Verfassungen und 11 Adolph Wagner: Finanzwissenschaft und Staatssozialismus. Zweiter Artikel. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 43 (1887), S. 80 f. 12 Paul Mombert: Geschichte der Nationalöl{onomie. Jena 1927, S.l79. 13 Friedrich Wilhelm 1.: Instruktion und Reglement für das Generaldirektorium. In: Quellensammlung zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staates. Erster Band: Vom aufgeklärten Despotismus zur Restauration. Hrsg. von Alfred Maurer. Frankfurt am Main und Berlin 1912, S. 8.
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I. Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
Einrichtungen den Endzweck haben, die Staatsbedienten, oder daselbst so genanhten Mandarinen, zu bewegen und anzuhalten, daß sie sich in allen ihren Handlungen als Väter des Volkes betrachten, und sich auf diese Art bezeigen . . .. Es ist ... unter diesen Persohnen, die den Staat regieren, eine vollkommene Dependenz. Der geringste Mandarin hat in seiner Sphäre und Bezirk eine vollkommene Gewalt; aber er stehet wieder unter andern Mandarinen, deren Ansehen schon wieder größer ist. Und diese dependiren von den Oberaufsehern jeder Provinz; diese letzten stehen unter den Kaiserlichen Oberhofgerichten. Und die Präsidenten der Oberhofgerichte, vor welchen alle Mandarinen zittern und beben, stehen ihres Orts wieder mit Furcht und Zittern unter der Aufsicht des Kaisers, welcher allein die vollkommene Oberherrschaft in Händen hat14 ". Was die französische Entwicklung zum Zentralstaat anlangt, so hat Alexis de Tocqueville diesen Prozeß mit seinem Scharfsinn durchleuchtet. Er hat nachgewiesen, in wie starkem Maße sich der "Conseil du Roi" nach und nach zum zentralen Steuerungsorgan der politischen Willensbildung und der Rechtssprechung entwickelte. Der große französische Staatstheoretiker weist darauf hin, daß sich in der "Nähe des Thrones ... ein Verwaltungskollegium von eigentümlicher Macht gebildet" 15 hat, "in dessen Schoß sich alle Gewalten in neuer Weise vereinigen" 16• Der königliche Rat übt seine dirigierende Tätigkeit auf den verschiedensten Politikfeldern aus. "Er ist alles auf einmal: höchster Gerichtshof, denn er hat das Recht, die Urteile aller ordentlichen Gerichte zu kassieren; höchstes Verwaltungsgericht, denn ihm unterstehen die sämtlichen Spezialgerichte. Als Regierungsrat besitzt er überdies, nach dem Ermessen des Königs, die gesetzgebende Gewalt, die meisten Gesetze werden von ihm entworfen und vorgeschlagen, er bestimmt und veranschlagt die Steuern17." Dabei ist dieser Conseil du Roi engstens an den Thron gebunden. "So hat er denn auch selbst keihen Glanz, oder er verliert sich vielmehr in der Pracht des Thrones, dem er nahesteht18."
u Johann Heinrich Gottlob von Justi: Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und andern vermeintlich Barbarischen Regierungen. Berlin, Stettin und Leipzig 1762, S. 416 ff. 15 Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution. Hrsg. von J. P . Mayer. Aus dem Französischen. Bremen ohne Jahr (Sammlung Dieterich Band 232), S. 51. 18 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 52.
2. Das paternalistische Herrschaftsverständnis des Absolutismus
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2. Das paternalistische Herrschaftsverständnis des Absolutismus Fragt man nach dem ideologischen Selbstverständnis des absolutistischen Regenten, seiner ganz persönlichen Herrschaftslehre, so erkennt man unschwer, daß Legitimierungstopoi übernommen werden, die schon der Rechtfertigung der mittelalterlichen Herrschaft dienten. Friedrich der Große sieht sich beispielsweise als Steuermann19, der das Staatsschiff Preußens durch die gefährlichen Gewässer der Zeit zu lenken hat. "Ich habe keine andere Absicht bei der Abfassung dieses politischen Testamentes als der Nachwelt das, was ich durch Erfahrung gelernt habe, zu übermitteln; ähnlich einem Lotsen, der die stürmischen Gewässer des politischen Meeres kennt, unternehme ich es, ihr die Klippen zu zeigen, denen man ausweichen muß, und die Häfen, wo man Zuflucht finden kann20." Daß das entscheidende Aktionszentrum in der königlichen Person liegt, geht auch aus anderen Metaphern hervor. Von der Warte eines sich für das staatliche Ganze verantwortlich fühlenden Staatschefs weist Friedrich II. darauf hin, daß der Staat nur von einem Willenszentrum aus geleitet werden kann. Es sei wichtig, "daß der König von Preußen allein regiert. Ebensowenig wie es Newton möglich gewesen wäre, sein System von der Anziehungskraft zu erarbeiten, wenn er es mit Leibniz und Descartes zusammen gemacht hätte, ebensowenig kann ein politisches System aufgestellt werden und sich halten, wenn es nicht aus einem einzigen Kopf hervorgeht" 21 • Die Natur der absolutistischen Herrschaft läßt sich allerdings am besten verstehen, wenn man versucht, das zutiefst paternalistische bzw. patrimoniale Herrschaftsverständnis22 dieses Regimes aufzuschlüsseln. So begriff Robert 19 Schon Thomas von Aquin verweist auf den Kapitän eines Schiffes, um die Notwendigkeit der Monarchie unter Beweis zu stellen. "Denn das Streben eines jeden, der eine Herrschaft ausübt, muß darauf gerichtet sein, das, was er zu regieren übernommen hat, heil zu erhalten. So ist es die Pflicht des Steuermannes, das Schiff vor den Gefahren des Meeres zu bewahren und unversehrt in den sicheren Hafen zu geleiten" (Über die Herrschaft der Fürsten. In: Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre. Jena 1923, S. 19). Aus diesen Gründen sei es "wohl besser, daß gleich einer regiert als viele nur dadurch, daß sie sich einem angeglichen haben" (ebd., S. 21). Vgl. dazu auch Rudolf Stanka: Die politische Philosophie des Mittelalters. Wien 1957, S. 190 ff.; George H. Sabine: A History of Political Theory. Third Edition. New York 1961, S. 257 ff. 20 Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752). In: Politische Testamente der Hohenzollern. S. 132. 21 Ebd., S. 218. 22 Die Topoi des paternalistischen und patrimonialen Herrschaftsverständnisses wurzeln tief in der geschichtlichen Vergangenheit. Georg Jellinek schreibt dazu: "Daß der Staat geschichtlich aus der Familie hervorgegangen sei, sich als eine erweiterte Familie darstelle, ist eine Anschauung, d ie in
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I. Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
Filmer die Regentschaft des absoluten Monarchen als eine Regierungsform, in der ein wohlwollender Vater über seine unmündigen Kinder23 bestimmt. Für den englischen Staatsphilosophen weist sich die Monarchie gegehüber rivalisierenden Regierungsformen dadurch aus, daß sie sich im Einklang mit der natürlichen d. h. der patriarchalischen Ordnung befindet. "Wenn Gehorsam gegen die Väter unmittelbar aus einem natürlichen Gesetze folgt, und Untertänigkeit unter den Fürsten nur aus der Vermittlung einer menschlichen Einrichtung, welcher Grund ist dann, daß das Naturrecht den Gesetzen der Menschen nachstehen sollte, wie die Macht des Vaters über sein Kind der Macht der Obrigkeit nachzugeben hat und ihr unterworfen ist24 ?" Die familiäre Ordnung wird bei ihm zur Richtschnur der staatlichen Gesetze. "Wenn wir die natürlichen Rechte eines Vaters mit denen eines Königs vergleichen, finden wir, daß sie die gleichen sind ohne anderen Unterschied als den ihrer Weite und Ausdehnung. Wie der Vater über eine Familie, so sorgt der König, als Vater über viele Familien, für die Erhaltung, Ernährung, Kleidung, Bildung und Sicherheit des ganzen Gemeinwesens25." Auf diese Weise gehen"alle Pflichten eines Königs in einer den geschichtlichen Erinnerungen vieler Völker begründet ist. So stellten sich die Griechen den Staatsbildungsprozeß wesentlich als eine allmähliche Ausdehnung der Familie und als eine Zusammenschmelzung mehrerer dergestalt vergrößerter Familien zu einem Gemeinwesen dar. Nicht minder bewahrte Rom in seiner Organisation tiefgehende Spuren einer ursprünglichen Föderation von Familien. Namentlich aber zeigt sich der israelitische Staat auf Grund der biblischen Schriften als erwachsen aus den Nachkommen einer Familie" (Staatslehre. Berlin 1900, S. 175). Im Mittelalter hat vor allem Dante den Herrscher mit dem Hausvater verglichen. "Wenn wir ein Haus betrachten, dessen Bestimmung und Ziel ist, die Hausbewohner zum Gutleben vorzubereiten, so muß Einer sein, der maßgebe und regiere, den man Familienvater heißt, oder dessen Stellvertreter ... Wenn wir eine Nachbarschaft betrachten, deren Bestimmung das bequeme Sichaushelfen mit Sachen und Personen ist, so muß einer für die anderen maßgebend sein, der entweder von einem anderen gegeben ist oder mit Beistimmung der andern unter ihnen hervorragt ... Wenn wir eine Stadt ansehen, deren Bestimmung das gute und selbstgenügsame Leben ist, so muß das Regiment Eines sein" (Die Monarchie. Aus dem Italienischen. Breslau 1926, S. 34 f.). In besonderem Maße sei die Herrschaft des einzelnen in einem Staate vonnöten. "Wenn wir endlich ein teilhaftes Reich ansehen, dessen Bestimmung die der Stadt ist . . . so muß Einer König sein, der regiere und lenke: sonst verfehlen nicht bloß, die im Reiche leben, ihre Bestimmung, sondern es gleitet auch das Reich ins Verderben" (ebd.). Vgl. dazu auch Hubert us Tellenbach (Hrsg.): Das Vaterland in Mythos und Geschichte. Stuttgart 1976. 23 Dabei haben keineswegs alle Herrscher zu jeder Zeit für ihre Untertanen in paternalistischer Manier gesorgt. Potentaten, die ihre Landeskinder als Soldaten verkauften oder zum Pläsier ihrer Geliebten einen Schornsteinfeger vom Dach schossen, haben das väterliche Fürsorgeprinzip sicherlich verletzt. Derartige Vorkommnisse scheinen allerdings Ausnahmen gewesen zu sein. 24 Robert Filmer: "Patriarcha" oder die natürliche Gewalt der Könige. Aus dem Englischen. Halle a. S. 1906, S. 13. ~s Ebd.
2. Das paternalistische Herrschaftsverständnis des Absolutismus
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allgemeinen väterlichen Sorge für sein Volk" 26 auf. Nicht nur die englischen Vertreter des "Divine Right of the Kings" 27, auch die ideologischen Repräsentanten des französischen Absolutismus haben auf die zutiefst patriarchalische28 Natur der königlichen Herrschaft hingewiesen. Einer ihrer Vertreter, Bossuet nämlich, schreibt: "Nous avons vu que les rois tiennent la place de Dieu, qui est le vrai pere du genre humain. Nous avons vu aussi que la premiere idee de puissance qui ait ete parmi les hommes est celle de la puissance paternelle; et que l'on a fait les rois sur le modele des peres29." Daraus folgt, daß der König der Vater des Landes ist. "Il paroit, par tout cela, que le nom de roi est un nom de pere30." Der König übt seine Gewalt in der Manier eines Vaters aus. "La honte est le caractere les plus naturels des rois31 ." Dem König obliegt als Vater die Aufgabe, für seine Kinder zu sorgen. "Le prince qui travaille pour son Etat, travaille pour ses enfants; et l'amour qu'il a pour son royaume, confondu avec celui qu'il a pour sa famille, lui devient naturel32." Nicht nur in England und Frankreich, auch in Preußen und Österreich wurde auf die zutiefst väterliche Natur des absolutistischen Herrschers hingewiesen. Das patriarchalische Moment absoluter Herrschaft kommt nicht zuletzt im Politischen Testament des Großen Kurfürsten vom 19. Mai 1667 zum Ausdruck. In seiner "Väterlichen Vermahnung" heißt es: "Ewere von Gott vntergebene vnterthanen musset Ihr ohne ansehung der Religion als ein rechter Landes vatter lieben, Ihren nutzen vndt bestes, in billigen dingen alzeitt gerne zu beforderen Ebd. Die englische Royalisten beriefen sich zur Legitimierung ihrer Position vor allem auf den Franzosen Jean Bodin: "The English Crown .. . shared the tendency of Contineotal absolutism, and its intelligentsia was blatantly 'unEnglish' in its choice of a source from whom to shape its theory of sovereignty: Jean Bodin" (Mark Goldie: John Locke and Anglican Royalism. In: Political Studies 31 [1983], S. 69). Das gilt vor allem für einen ihrer einflußreichsten Vertreter, nämlich für Heylyn. "Heylyn made massive use of Bodin to demoostrate the central proposition that the King was the sole, omnicompetent and illimitable source of law" (ebd.). 28 Der französische König wurde von seinem Volk als "pere du peuple•· verehrt. Vgl. dazu Pierre Goubert: L'ancien regime. Tome II: Les pouvoirs. Paris 1973, S. 30 und passim. Die väterliche Fürsorgepflicht des französischen Königs schloß auch den Versuch mit ein, die Krankheiten seiner Untertanen zu heilen. "A l'issue du sacre, le roi touche donc les scrofuleux . .. par milliers, regnicoles ou non, et chacun est sur qu'ils sont gueris" (ebd., S. 29). So hat Ludwig der XIV. an einem Tag, am 22. März 1701, über 2400 Kranke berührt. Der junge Ludwig XIII. berührte im Jahre 1620 über 3000 kranke Menschen (ebd.). 29 Bossuet: Politique tiree des propres paroles de l'ecriture sainte. In: Oeuvres choisies. Tome deuxieme. Paris 1865, S. 42. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 34. 28 27
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I. Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
suchen33." Wie paternalistisch Friedrich Wilhelm I. von Preußen dachte, hat Hans-Joachim Schoeps zum Ausdruck gebracht. "Die lutherische Ableitung des Königtums aus dem Vaterturn stand ihm ... vor Augen, und er sah darin seine patriarchalische Aufgabe, wirklicher Landesvater zu sein, der nachsieht, wie das Korn steht, wie der Bauer sich nährt, ob eine Kammer auch wirklich zur Ausführung bringt, was ihr zum Besten des gemeinen Mannes befohlen ist34 ." Daß auch der "aufgeklärte" Absolutismus in den Kategorien der paternalistischen Fürsorge dachte, beweist das Beispiel Friedrichs des Großen. Aus seiner paternalistischen Staatsauffassung folgt, daß der Landesvater den Schwachen Schutz zu gewähren hat. "Endlich ist der Herrscher recht eigentlich das Oberhaupt dieser Familie von Bürgern, der Vater seines Volkes und soll daher bei jeder Gelegenheit den Unglücklichen zur letzten Zuflucht dienen: an den Waisen Vaterstelle vertreten, den Witwen beistehen, ein Herz haben für den letzten Armen wie für den ersten Höfling und seine Freigebigkeit gerade jenen zukommen lassen, die jedes Beistandes bar sind und allein bei ihm noch Hilfe finden35." Das Verhältnis des Fürsten zu seinen Untertanen wird sogar noch von Joseph von Sonnenfels als eine patriarchalische Beziehung ausgedeutet. Die Sorge des Fürsten für das Wohl seiner Untertanen, die Wohlfahrt des Gemeinwesens ist identisch mit der Sorge des Vaters gegenüber seinen Kindern. Seine "Sorgfalt ... schließt alle Beförderungen der Bevölkerung in sich: und wenn es auch andere Betrachtungen nicht zuwege brächten, so wäre sie es, die den Fürsten zu einem Vater machte, der in der Vermehrung seiner Kinder, die Gehülfen vermehren sieht, welche zur Erhaltung und Bereicherung der Familie mit vereinbaren Kräften arbeiten36."
3. Absolutismus, Partialliberalismus und Antidemokratismus Die Frage nach der Herrschaftsintensität des Absolutismus findet eine höchst unterschiedliche Beantwortung. Das gilt vor allem für das Problem, ob der absolutistische Staat als despotisch bezeichnet werden kann. Einerseits war es allen paternalistisch denkenden Herrschern des Absolutismus darum zu tun, eine Herrschaftsintensität zu vermeiden, 33 Politisches Testament des Großen Kurfürsten. In: Politische Testamente der Hohenzollern. S. 58. 3• Hans Joachim Schoeps: Die Ehre Preußens. 4. Auflage. Stuttgart 1951, S.10. ss Friedrich der Große: Regierungsformen und Herrscherpflichten (1777). Zit. in: Der Staat. Hrsg. von Walter Schätze!. Dritte Auflage. Bremen ohne Jahr, S. 231. 36 Joseph von Sonnenfels: Politische Abhandlungen. Wien 177.7, S. 13.
3. Absolutismus, Partialliberalismus und Antidemokratismus
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die seit altersher als despotisch bezeichnet wurde. Wie Friedrich der Große wollten sie unter keinen Umständen "mehr als Tyrann wie als Vater des Volkes" 37 angesehen werden. Das paternalistische Herrschaftsverständnis schließt in der Tat die despotische Willkür über die Landeskinder recht eigentlich aus. Sowenig der Vater der Freiheit seiner Kinder das Wort reden kann, sowenig wird er ihre Selbständigkeit und Freiheitsspielräume drakonisch ersticken wollen. Allerdings gingen diejenigen Autoren, die sich dieses Themas während der Zeit des Absolutismus angenommen haben, oft davon aus, daß wir es bei diesem Regimetypus um eine Renaissance der überkommenen Despotie zu tun haben. In der Vehemenz, in der etwa ein Justus Möser die Machtfülle des absolutistischen Herrschers und seiner Bürokraten beklagt, kommt die Verärgerung darüber zum Ausdruck, daß die polykratische Verfassung des Mittelalters einem rigide monokratischen System zu weichen hatte. Die von freien Geistern als endgültig überwunden geglaubte Despotie erhebe wieder ihr Haupt. Mösers Despotievorwurf wurzelt vor allem in seiner Behauptung, daß die Bürokratie des absolutistischen Staates die Freiheit der Bürger willkürlich beschränke. "Die Herrn beim Generaldepartement möchten gern Alles, wie es scheinet auf einfache Grundsätze zurückgeführet sehen. Wenn es nach ihrem Wunsche ginge, so sollte der Staat sich nach einer academischen Theorie regieren lassen, und jeder Departementsrath im Stande sein, nach einem allgemeinen Plan den Localbeamten ihre Ausrichtungen vorschreiben können.... Unser Jahrhundert, das mit lauter allgemeinen Gesetzbüchern schwanger geht, arbeitet ihren Hoffnungen so ziemlich entgegen. In der That aber entfernen wir uns dadurch von dem wahren Plan der Natur, die ihren Reichthum in der Mannigfaltigkeit zeigt, und bahnen den Weg zum Despotismus, der Alles nach wenig Regeln zwingen will, und darüber den Reichtum der Mannigfaltigkeit verlieret38." Der despotische Herrschaftsgrad steigert sich dabei in dem Maße, in dem die Rechtsregeln abstrakter und allgemeiner werden. "Je einfacher die Gesetze, und je allgemeiner die Regeln werden, desto despotischer, trockner und armseliger wird ein Staat39." Wie Möser so beklagt sich auch sein Gesinnungsgenosse Novalis über die Machtfülle des preußischen Staates. In seinem Staatsverständnis weiß er sich wie Möser der polykratischen Struktur des Mittelalters verpflichtet. Ausgangspunkt auch seiner Überlegungen ist die von der Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752), S. 172. Justus Möser: Patriotische Phantasien. Hrsg. von seiner Tochter J. W. J. v. Voigts, geb. Möser. Zweiter Teil. Berlin 1858, S. 20 f. (Sämtliche Werke Band II). 39 Ebd., S. 22. 37
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2 J. B. Müller
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Romantik nie aufgegebene Überzeugung, daß spätestens mit dem Beginn der absolutistischen Geschichtsperiode die poetische Vielfalt des Überkommenen zugunsten der kalten Staatskunst der Politikgeometer weichen mußte. Dabei gebraucht Novalis vor allem technische Metaphern, um seiner Abneigung gegen die Zentralisierung staatlicher Macht Ausdruck zu verleihen. "Kein Staat ist mehr als Fabrik verwaltet worden als Preußen, seit Friedrich Wilhelm des Ersten Tode. So nötig vielleicht eine solche maschinistische (kursiv von mir; J. B. M.) Administration zur physischen Gesundheit, Stärkung und Gewandtheit des Staates sein mag, so geht doch der Staat, wenn er bloß auf diese Art behandelt wird, darüber zugrunde40." Auch nach Radowitz ist die "zentralisierende Allesregiererei eine der gefährlichsten Krankheiten des modernen Staatswesens41 ." Aus diesem Grunde sei es dringend notwendig, "das Nessushemde des Staatsabsolutismus"42 abzustreifen, den "Verwaltungsdespotismus" 43 aufzugeben. Als Vorbild kann dabei durchaus das vom Absolutismus "überwundene" Mittelalter dienen. In seiner Periode sei viel herrschaftsärmer regiert worden als in der Zeit des Absolutismus. "Glauben Sie wohl, daß ein König in der blühendsten Epoche des Patrimonialstaates, daß etwa Ludwig der Heilige irgend eine große Regierungshandlung habe durchführen können, wenn er dabei im entschiedensten Widerspruche mit seinen Prälaten und Baronen gestanden hätte? oder ein etwas späterer König noch außerdem mit den Kommunen und Parlamenten? Würde er ein tief eingreifendes Gesetz erlassen, eine Änderung in der Thronfolge beliebt, einen großen Krieg unternommen, ja nur eine neue allgemeine Steuer ausgeschrieben haben, wenn eine solche Maßregel die bestimmte Mehrheit der Meistberechtigten in der Monarchie offenbar gegen sich gehabt hätte44?" Die im Vergleich zum Mittelalter ungleich ausgeprägtere Herrschaftsintensität des Absolutismus wurde auch von Autoren kritisiert, die sich in der Tradition des durch den Absolutismus inaugurierten Wohlfahrtsstaats45 wußten. Bedeutende Vertreter der sog. "Historischen 40 Novatis: Anthropologische Fragmente Nr. 964. In: Novalis' Werke. Hrsg. von Hermann Friedemann. Dritter Teil. Fragmente I. Berlin, Leipzig, Wien und Stuttgart o. J., S. 173. 41 Joseph Maria von Radowitz: Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche. In: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilhelm Corvinus. Band I. Regensburg o. J., S. 256. 42 Ebd., S. 269. 43 Ebd., S. 268; Radowitz spricht auch vom "administrativen Despotismus"
(S. 236).
Ebd., S. 258. Vgl. dazu Paul Keller: Dogmengeschichte des wohlstandspolitischen Interventionismus. Wintertbur 1955, S. 14 ff. 44
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Schule" der Nationalökonomie haben darauf hingewiesen, daß die vom Absolutismus in Angriff genommenen Staatsaufgaben eine erhebliche Steigerung der staatlichen Macht erheischten. Für Schmoller war der absolutistische Staatsinterventionismus nicht ohne Gefahr für die Freiheit der Bürger. "Diese Polizeigewalt griff hart und unerbittlich durch; mit einem Zug eudämonistischer und socialistischer Wohlfahrtspolitik drohte sie die gesicherte private Sphäre individueller Freiheit zu vernichten48." Nicht nur konservativ-romantische Autoren haben die Herrschaftsintensität des Absolutismus beklagt, auch liberalen war es darum zu tun, die freiheitsgefährdende Politik dieser Staatsform anzuprangern. Dabei geht Georg Forster sogar so weit, dem Absolutismus eine Regierungspraxis anzulasten, wie sie allein im fernen China zu finden sei. Den Absolutismus habe eine Regierungsform etabliert, die es an Illiberalität und Repressionspotenz mit diesem fernöstlichen Staat aufnehmen könne. "Es gibt ein Land, dessen Regierung der hier beschriebenen sehr ähnlich ist; ihr fester Zusammenhang überläßt wenig oder nichts der Willkür und dem Ungefähr und wird von manchen Schriftstellern als ein Meisterwerk der Staatsklugheit bewundert. Untersucht man aber, was die Einwohner dieses Landes nach mehreren Jahrtausenden unter dem Schutz und Einfluß ihrer Despoten geworden sind, so findet man nur bis zur verworfensten Weichlichkeit verzärtelte Geschöpfe . . . deren Ausbildung lediglich in mechanisch erlernten Begriffen, Gewohnheiten und Fertigkeiten besteht; ... Man hat ehedem geglaubt, daß die Chinesen ... ihren hinreichenden Unterhalt hätten ... , allein jetzt weiß man ... , daß die Masse des Elends vielleicht in keinem Lande größer ist als bei jener gedrängten Bevölkerung . . . Vielleicht wird man fragen: wenn sich in Europa ein dem chinesischen ähnliches Regierungssystem endlich festsetzte, würden da die Folgen ganz dieselben sein? ... Wer kann bestimmen, welche Reihe von Jahrhunderten, welche exzentrische Bewegungen, welche Gärungen, kurz, welche Revolutionen die Menschenrasse im östlichen Asien zu ihrem gegenwärtigen Mechanismus vorbereiten mußten? ... Es wäre folglich nicht ungereimt, das gewaltsame Ringen, worin · die Kräfte der Menschheit seit ein paar tausend Jahren in Europa begrüfen sind, ebenfalls nur als Vorbereitungszustand anzusehen, welcher der vollkommenen Beherrschung der Menge vorangehen muß47." 48 Gustav Schmoller: Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. Leipzig 1898, S. 303. Jacob Burckhardt ist der Auffassung, daß man im 17. Jahrhundert "einer kolossalen Staatsmacht" in die Hände arbeitete (Historische Fragmente. Hrsg. von Werner Kaegi, Stuttgart 1957, S. 256). 47 Georg Forster: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit unci .andere Schriften. Hrsg. von Wolfgang Rödel. Frankfurt am Main 1966, S. 145 f. 2*
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Von einer anderen Perspektive aus betrachtet erscheint der Absolutismus jedoch keineswegs in einem so herrschaftsbetonten und freiheitsfeindlichen Licht. Vor allem der Vergleich mit den alten Despotien fördert die Einsicht zutage, daß diese eine ungleich stärkere Herrschaftsintensität aufgewiesen haben als die absolutistischen Regime. Ein so ausgewiesener Kenner der alten Despotien wie Karl A. Wittfogel hat nachdrücklich auf diese entscheidende Differenz aufmerksam gemacht. .,Im Zeitalter des europäischen Absolutismus standen die Herrscher den östlichen Despoten an Rücksichtslosigkeit nicht nach, und sie beseitigten ihre Gegner nicht weniger grausam. Aber ihre Macht, Personen zu verfolgen und Besitz zu beschlagnahmen, war beschränkt durch den Adel, die Kirche und die Städte, deren Autonomie die autokratischen Fürsten einengen, aber nicht vernichten konnten48." Daß sich im Absolutismus so verblüffend viele polykratische Tendenzen widerspiegeln, gilt sowohl für die französische als auch für die deutsche Ausprägung dieser Herrschaftsform. Was den französischen Absolutismus anlangt, so hat Wolfgang Mager auf die polyarchischen Strukturen hingewiesen, die sich in dem angeblich so monokratischen Absolutismus finden . .,Der begrenzte und vielfach nur subsidiäre Handlungsspielraum des monarchischen Regimentes bedingte das Wirken mannigfaltiger nichtköniglicher Gewalten herrschaftlicher und genossenschaftlich-korporativer Art. Hierunter sind hervorzuheben: die katholische Kirche; Dorf und Stadt; die über Landtage verfügenden Provinzen; die Seugnerien; Zünfte, Gilden, Ärzte-, Universitäts- und Richterkollegien; der Klerus als Korporation; die königliche Judikatur als teilautonome richterliche, administrative und polizeiliche Gewalt40." Auch im deutschen Absolutismus schien sich ein ausgeprägtes Maß an polykratischen Aktivitäten zu behaupten. Kurt von Raumer zufolge stieß wie in Frankreich auch in Deutschland der Machtanspruch des absoluten Herrschers auf die überkommenen Gewalten, die alten 48 Karl A. Wittfogel: Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung. Aus dem Englischen. Frankfurt/Main, Berlin und Wien 1977, S. 114. - Die Herrscher des Absolutismus seien an einer totalen Kontrolle über die Gesellschaft keineswegs interessiert gewesen. Pragmatische Überlegungen führten dazu, insbesondere die kapitalistischen Selbständigkeitsbestrebungen der Unternehmer nicht gänzlich zu inhibieren. .,Überdies fanden es zur Zeit des europäischen Absolutismus die Angehörigen der jungen Zentralregierungen vorteilhaft, die neuentstehenden kapitalistischen Formen des beweglichen Eigentums zu fördern ... Sie schützten gern die Vertreter des aufsteigenden kommerziellen und industriellen Kapitalismus, deren zunehmender Wohlstand auch ihren Schirmherren zunehmenden Vorteil brachte" (ebd., S. 114 f.). 49 Wolfgang Mager: Frankreich vom Ancien Regime zur Moderne. Wirtschafts-, Gesellschafts- und politische Institutionengeschichte (1630-1830. Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz 1980, S. 110.
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"Libertäten". Es existierte eine "breite Zone genossenschaftlichen, auf Privilegien, 'jura et libertates' gegründeten" 50 Eigenlebens. Dabei waren die partikulären Gewalten noch mächtiger als in Frankreich. Preußen habe sich als ein "Bündel einstiger Hoheiten und Seigneurien" 51 dargestellt, "die herrschaftlich zusammengefaßt, aber nur bedingt ein Staat geworden sind52." Vor allem der Adel habe als Zwischengewalt die totale staatliche Kontrolle der Bürger verhindert. "Wirklich er~ reicht hat östlich der Elbe der preußische Staat das eigentliche Volk aber doch nur durch das Heer. Dazwischen stand der preußische Adel, der mit der Gutsherrschaft ebenso Polizei wie niedere Gerichtshoheit wie in weitem Umfang die Verwaltung des Landes verband, das hier ja weithin plattes Land war53 ." Im Gegensatz zum heutigen Staatswesen gelang es der Bürokratie in der Zeit des Absolutismus nur unvollständig, die Gesamtheit der Bürgerschaft zu kontrollieren. Ihr Netz war einerseits zu grobmaschig, andererseits zu wenig penetrationskräftig, um alle Staatsbürger unter ihre Fittiche zu nehmen. Die Bürokratie hatte "nur ganz unzureichend die Breite des eigentlichen Volkes und Landes, die weithin in ihren historischen Bedingungen weiterlebte" 5\ erreicht. Welche Schwierigkeiten sich beispielsweise dem Versuch in den Weg stellten, die Daten der Wirtschaftsbürger statistisch zu erfassen, schildert Gerd Spittler. "Um Informationen zu bekommen, muß die Verwaltung eine Erhebung durchführen. Und hier türmen sich nun zahlreiche Probleme auf. Zunächst solche der Infrastruktur: eine verstreute Bevölkerung in kleinen Dörfern oder Weilern, ein schlechtes Wegenetz. Dann aber vor allem die Heterogenität. Wo jedes Dorf seine eigenen Bräuche hat, wo Sprach- und Dialektunterschiede von Region zu Region oder gar von Dorf zu Dorf ausgeprägt sind, wo ein Wort in verschiedenen Dörfern verschiedene Sachen bedeutet, und eine Sache mit verschiedenen Worten bezeichnet wird, wo jede kleine Stadt andere Längen-, Flächen-, Hohlmaße und Gewichte kennt, dabei aber jeweils dasselbe Wort gebraucht, wo die Bauern mit defensiven Strategien die Bürokratie hinters Licht zu führen versuchen, da kann sie nur schwer abstrakte Informationen sammeln55 ." 5° Kurt von Raumer: Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit. In: Hanns Hubert Hofmann: Die Entstehung des modernen souveränen Staates. Köln und Berlin 1967, S. 186. 51 Ebd., S. 187. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 188. H Ebd., S. 183. 55 Gerd SpittZer: Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), S. 578. Mohammed Rassem verweist auf die Kritik an der statistischen Erhebung, die aus den Kreisen der an der alten ,Libertät' hängenden Bevölkerung kam (Bemer-
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I.
Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
Der Vorwurf, der Staat des Absolutismus habe despotische Herrschaftspraxen angewandt, geht auch zu sehr an der Tatsache vorbei, daß das alte Recht keineswegs ungültig geworden war. Ganz im Gegensatz zu denjenigen Autoren, die von der unbegrenzten Machtfülle des absolutistischen Herrschers ausgehen, muß auf deren Einschränkung und Begrenzung durch rechtliche Kautelen hingewiesen werden. Wolfgang Mager hat recht, wenn er schreibt: "Wenn Bodin in seinem Traktat ausführt, daß die ,Maiestas' im Rahmen des unantastbaren göttlichen und natürlichen Rechtes und der sog. Grundgesetze (lois fondamentales) des Königreiches zu praktizieren sei, so bedeutete dies konkret: Der König und seine Regierung waren gehalten, Recht und Gerechtigkeit zu achten, grundlegende Verfassungsbestimmungen wie die Salische Erbfolge (Erbfolge ausschließlich über die männliche Linie), die Katholizität des Herrschers, die Unveräußerlichkeit der Domäne u. a. zu befolgen und die überkommenen ,Rechte und Freiheiten' ... zu respektieren56." Mit dem Modell des absoluten, alle Lebensbereiche kontrollierenden Staates ist es des weiteren kaum zu vereinbaren, daß der Absolutismus ein bei ihm kaum zu vermutendes Maß an weltanschaulicher Toleranz aufgewiesen hatte. Die absolutistischen Herrscher verzichteten weitgehend auf die Rolle des ideologischen Einpeitschers; ihre Herrschaftspraxis war auf einen toleranten, auf Meinungsvielfalt bedachten Ton gestimmt. Im Gegensatz zu totalitären Herrschern späterer Zeiten spricht sich Friedrich der Große gegen alle Versuche aus, eine Zivilreligion zu etablieren. "Dabei erhebt sich die Frage: müssen alle Bürger ein und dasselbe glauben, oder darf man jedem erlauben, nach seiner eigenen Weise zu denken? Geht man auf den Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft zurück, so ist es ganz augenscheinlich, daß der Herrscher keinerlei Recht über die Denkungsart der Bürger hat57 ." Weit davon entfernt, dem Staate zu schaden, fördert die Tolerierung verschiedener weltanschaulicher Einstellungen sogar die staatliche Sicherheit und Ordnung. "Die Toleranz ist für die Gemeinschaft, in der sie eingeführt ist, sogar so vorteilhaft, daß sie das Glück des Staates begründet. Sobald jeder Glaube frei ist, hat alle Welt Ruhe; während Glaubensverfolgung die blutigsten und langwierigsten Bürgerkriege verursacht hat58." Friedrich II. weiß sich keineswegs im Besitz der allgemeinen Wahrheit. "Ich bemerke nur zu sehr, daß ich Mensch bin, kungen zur "Sozialdisziplinierung" im frühmodernen Staat. In: Zeitschrift für Politik 30 [1983], S. 229 f.). 56 Wolfgang Mager: Frankreich vom Ancien Regime zur Moderne. Wirtschafts-, Gesellschafts- und Institutionengeschichte 1630-1830. S. 109. 67 Friedrich der Große: Regierungsformen und Herrscherpflichten (1777), s. 230. 58 Ebd.
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sozusagen eine Kreatur, zusammengesetzt aus einer Mischung von gut und böse, dem Irrtum unterworfen, und dessen Einsichten ebenso unsicher wie seine Talente beschränkt sind59." Auch aus diesem Grund kann es keine alle Bürger verpflichtende Staatsreligion geben. Die ausgeprägte weltanschauliche Toleranz des aufgeklärten Absolutismus kommt nicht zuletzt in der Behandlung der einzelnen Religionsgemeinschaften zum Ausdruck. Vom Geist der Toleranz beflügelt schreibt Friedrich II.: "Die Katholiken, die Lutheraner, die Reformierten, die Juden und eine Anzahl anderer christlicher Sekten wohnen in diesem Staat und leben dort in Frieden80." Wie sehr Friedrich II. tatsächlich Anwalt der konfessionellen Toleranz war, hat Hans Joachim Schoeps herausgearbeitet und betont. "Schon Friedrich des Großen Kirchenpolitik ist Ausdruck dieser Idee gewesen: Gleichberechtigung der Reformierten mit den Lutheranern, Aufnahme der französisch Reformierten, Toleranz gegen die Katholiken, die am Festungsgraben in Berlin auf königlichem Baugrund und mit Mitteln der königlichen Schatulle die Hedwigskirche bauen durften81 ." Das absolutistische Preußen habe sogar Toleranz gegenüber den Sekten geübt. "Im preußisch gewordenen Schlesien fanden ... die Anhänger von Caspar Schwenckfeld und Johann Hus eine Zuflucht62." Auf diese Weise sei Preußen "der vorbildliche Staat moderner Gewissensfreiheit und Religionstoleranz geworden63." Friedrichs religiöse Toleranz wurde vor allem von Autoren gepriesen, die Parteigänger der liberalen Ordnungsvorstellung waren. Eine besonders wohlwollende Beurteilung seiner Toleranz gegenüber den Kirchen erhielt Friedrich von dem großen englischen Liberalen Macaulay. Er wies darauf hin, daß religiöse "Verfolgungen ... unter seiner Regierung unbekannt" 84 waren. Am deutlichsten zeige sich dies bei seiner Politik gegenüber dem katholischen Volksteil. "Seine Behandlung der schlesischen Katholiken stellt einen rühmlichen Gegensatz dar zu der Politik, die man in England unter ähnlichen Umständen gegen die irischen Katholiken einschlug.... Der Jesuit, der nirgends sonst sein Gesicht zeigen konnte, der in England unter dem Strafgesetz stand, aus Frankreich, Spanien, Portugal und Neapel vertrieben und selbst vom Vatikan aufgegeben war, fand in Preußen Sicherheit und Unterstützung66 ." Friedrichs Toleranz erscheint 59 60 61
Politisches Testament Friedrichs des Großen (1768), S. 256. Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752), S. 167. Hans Joachim Schoeps: Preußen - gestern und morgen, Stuttgart 1963,
S.15. 63
Ebd. Ebd.
04
Thomas Babington Macaulay:
GS
Ebd.
62
Ulm 1947, S. 64.
Politik und Moral. Aus dem Englischen.
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in einem besonders hellen Licht, wenn man die Kritik des preußischen Hochkonservatismus an ihr berücksichtigt. Vor allem Carl Ludwig von Haller warf dem Preußenkönig vor, den katholischen Bevölkerungsanteil zu nachgiebig zu behandeln. "Seiner Gleichgültigkeit gegen die Religion ungeachtet, ließ er doch die catholische und protestantische Kirche bei ihrer Verfassung, ihren Gütern und Einkünften stehen, die Zudringlichkeit der französischen Philosophen vermochte ihn nicht einmal zur Vertreibung der Jesuiten aus Schlesien zu bewegen, die er vielmehr beschützte und als gelehrte Männer hochschätzte66." Friedrichs katholikenfreundliche Haltung zeigt sich Haller zufolge auch in seiner Ablehnung der sog. josephinischen Reformen67 • Darüber hinaus moniert der Berner Staatsphilosoph, daß Friedrich "im Jahr 1782 durch eine öffentliche Cabinets-Ordre der ganzen catholischen Geistlichkeit, allen Stiftern und Klöstern Schlesiens ihre volle ungetrübte Existenz zusichern" 68 ließ. Pierre Gaxotte macht darauf aufmerksam, wie wenig auch der französische Absolutismus die Meinungsfreiheit beschränkte. Die aufklärerischen Schriften konnten ungehindert verbreitet werden. "Die Überwachung der Grenzen ist vollkommen illusorisch geworden. Die an Höflinge geschickten aufrührerischen Broschüren werden nicht mehr untersucht; in den Häusern der Prinzen und des Malteserordens, in den Klöstern und kirchlichen Institutionen, ja sogar direkt im Versailler Schloß werden Verkaufsläden eröffnet, die jeder kennt und denen gegenüber nur die Polizei Unkenntnis vortäuscht69." Offen begeistert man sich für die neuen, antiabsolutistischen Theorien. "Auf diese neutrale Literatur folgt im 18. Jahrhundert die ehrgeizige und angriffslustige Kampfliteratur; die Schriftsteller werden zu berufsmäßigen Reformatoren, genießen aber für ihre neue Aufgabe noch die Achtung und Bewunderung, die man ihren Vorgängern entgegengebracht hatte. Sie, die gesuchten Tischgenossen und Salonlöwen, denen über jedes vorstellbare Maß hinaus geschmeichelt wird, leiten das Gewissen der verfeinerten und eleganten Aristokratie70 ." Dabei sind die aufklärerisch eingestellten Adligen recht eigentlich Verräter. "Diese Adeligen sind ... keine einfachen Privatpersonen, sondern die Diener des Staates und der Behörden. Offiziere, Gesandte und Minister! Ihre Philosophie ist in gewisser Weise ein Verrat, denn wie sollen die den König und die Monarchie verteidigen, wenn sie davon überzeugt sind, daß 68 Carl Ludwig von Haller: Restauration der Staatswissenschaft. Band I. Neudruck der 2. Auflage. Wintertbur 1820. Aalen 1964 (Scientia), S. Ül9. 87 Ebd. 68 Ebd. 89 Pierre Gaxotte: Die französische Revolution. Aus dem Französischen. Bergisch Gladbach 1977, S. 86 f. 70 Ebd., S. 81.
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die Demokratie die beste Regierungsform ist71 ." Beim Militär hatten sogar die Freimaurer Einfluß. "In den Regimentern gibt es 25 militärische Logen, in welchen Offiziere und Mannschaften sich im Kulte der Gleichheit verbrüdern72." Beim dem Versuch, die pluralistischen und liberalen Bestimmungsmomente des absolutistischen Systems ins Licht zu rücken, muß selbstverständlich auch auf die Tatsache eingegangen werden, daß der Staat von Friedrich II. ausgesprochen rechtsstaatliche Bestimmungsmerkmale aufwies. In seinem Politischen Testament von 1752 hat er zum Ausdruck gebracht, wie sehr er dem liberalen Ideal der Herrschaft der Gesetze anhing. "Ich bin entschlossen, niemals den Ablauf der Prozessführung zu stören: in den Gerichtshöfen müssen die Gesetze sprechen und der Souverän hat zu schweigen73 ." Und in seinem Politischen Testament von 1768 schreibt er: "Es steht dem Herrscher nicht zu, bei den Entscheidungen der Prozesse seine Autorität einzusetzen; die Gesetze sollen allein regieren und die Pflicht des Souveräns beschränke sich darauf, sie zu schützen. Sicherheit für Vermögen und Besitzungen ist die Grundlage jeder Gesellschaft und einer guten Regierung74 ." Auch der Souverän sei dem Gesetz unterworfen: "Dieses Gesetz gilt für den Souverän wie für den letzten Untertan; ersterer muß darüber wachen, daß es befolgt wird und mit der größten Strenge die Beamten bestrafen, die dagegen verstoßen75 . " Schoeps zufolge war der König von Preußen "durch die institutionelle Selbstbeschränkung . . . selber zum Garanten der Verwirklichung von Rechtsordnungen geworden" 76 • Mit Nachdruck hat auch Georg Jellinek darauf aufmerksam gemacht, daß die absolute Monarchie keine rechtlose Willkürherrschaft bedeutet. 71 Ebd., S. 85. 72 Ebd. 73 Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752), S. 133. 74 Politisches Testament Friedrichs des Großen (1768). In: Politische Testamente der Hohenzollern. S. 257. 75 Ebd. Alexis de Tocqueville hat nicht zuletzt das von Friedrich II. inaugurierte "Allgemeine Preußische Landrecht" gelobt. "Dieses Gesetzbuch ist eine wahre Verfassung im eigentlichen Sinne dieses Wortes ... Es beruht oder scheint vielmehr zu beruhen auf einer gewissen Anzahl allgemeiner Prinzipien ... , die wir in der Erklärung der Menschenrechte in der Verfassung von 1791 finden" (Der alte Staat und die Revolution. Anhang. S. 281). Pointiert würden die Rechte der Bürger betont. "Die allgemeinen Rechte der Menschen gründen sich auf die natürliche Freiheit, für sein eigenes Wohl zu sorgen, ohne die Rechte anderer zu verletzen. Alle Handlungen, die weder das natürliche Recht noch ein positives Staatsgesetz verbietet, sind erlaubt. Jeder Einwohner des Staates kann von diesem für seine Person und sein Eigentum Schutz verlangen und ist zur Selbstverwirklichung berechtigt, wenn der Staat ihm nicht zu Hilfe kommt" (ebd.). 76 Hans Joachim Schoeps: Preußen gestern und morgen, S. 7. Vgl. dazu auch Hermann Conrad: Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts. Köln und Opladen 1961.
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"Allein auch ihre öffentlich-rechtliche Ordnung ist Recht, nicht Willkür77." Der Grund hierfür liegt ihm zufolge in der bürokratisch-zentralistischen Organisation des absolutistischen Staates78 • Vor allem das Beamtenrecht hindert den Monarchen an der willkürlichen Ausübung seines Amtes. "In diesem, in der inneren Verfassung der Ämter, in der Herstellung geregelter Instanzen, in der Verwaltungstradition, die jede Behörde pflegt, liegen auch gewisse Garantien gegen willkürliche Verwaltung und Änderung amtlicher Kompetenzen79." Dazu kommt die Selbständigkeit der Justiz, die ein Kennzeichen des absoluten Systems ist. Auf diese Weise "hat denn auch die absolute Monarchie ihre ausgebildete Verfassung, deren Grundlage in der Delegation von, der Substanz nach dem Monarchen verbleibenden Zuständigen an mittelbare Organe besteht" 80 • So sehr sich einzelne Gelehrte und Herrscher im Absolutismus Verdienste um den Rechtsstaatsgedanken gemacht haben, so falsch wäre es, diese Herrschaftsform schon als genuin rechtsstaatlich zu bezeichnen. Die natürliche Freiheit des einzelnen ist im Absolutismus letzten Endes als Residuum aufzufassen, dessen Umfang allein von der Definition des absolutistischen Staatszweckes bestimmt wurde. Der Staat gewährte dem einzelnen einen Freiheitsspielraum, auf dessen strikte Abgrenzung größter Wert gelegt wurde81 • So weist Gustav Radbruch nach, daß der Landesherr, gegen den sich Anspruch und Klage richten können, wohl nicht der gebieterische Herrscher sei, sondern der allerdings bevorrechtigte Rechtsgenosse des Klägers. Diese Rechtsbeziehungen tragen zivilrechtliehen Charakter. Es gibt noch kein Verwaltungsrecht im eigentlichen Sinne. "Denn, von den äußeren Rechtsschranken ständischer Rechte und kaiserlicher Gerichte befreit, setzte sich die Herrschergewalt selbst zunächst keinerlei Rechtsschranken gegenüber den Untertanen82." Für die "Verwaltung war alles, was ihr im Staatsinteresse zweckmäßig erschien, auch rechtmäßig" 83 • Eine "rechtliche Bindung der Verwaltung konnte überhaupt im absoluten Staate nicht bis zu Ende, nicht bis zum Haupte der Verwaltung, dem Herrscher, 77 78
79 80
Georg Jeninek:
Ebd. Ebd. Ebd., S. 636.
Allgemeine Staatslehre. S. 635.
81 Günter B i rtsch: Gemäßigter Liberalismus und Grundrechte. Zur Traditionsbestimmtheit des deutschen Liberalismus von 1848/49. In: Wolfgang Schieder (Hrsg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz. Göttingen 1983, S. 26. 82 Gustav Radbruch: Einführung in die Rechtswissenschaft. 12. Auflage. Nach dem Tode des Verfassers besorgt von Konrad Zweigert. Stuttgart 1969,
s. 200. 83
Ebd.
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hinauf durchgeführt werden" 8'. Schließlich konnte "der absolute Herrscher, der als Haupt der Verwaltung vom Recht nicht abweichen dürfte, ... als Subjekt der Gesetzgebung jederzeit das Recht für diesen Einzelfall abändern, und der Akt, der als Verwaltungsakt unzulässig wäre, würde als Gesetzgebungsakt seine Geltung behaupten" 85. Dem "Rechtsstaat" des Absolutismus eignete vor allem deshalb ein defizienter Modus, weil den Untertanen alle Rechte an der Beteiligung an der staatlichen Willensbildung verweigert wurden. Die paternalistische Fürsorge verhinderte, daß die Staatsbürger nicht ganz ins liberale und damit für den Absolutismus gefährliche Fahrwasser gleiten88. Die Ausdehnung des Liberalen wird nicht bis zu dem Punkt fortgeführt, wo die politische Mitbestimmung der Bürger anfängt. So sehr der Absolutismus in sich liberale Strukturmomente birgt, sowenig sind in ihm demokratische Systemdeterminanten aufzuweisen. Das Volk lebt wohl in einem Rechtsstaat, über seine Ausgestaltung zu befinden, besitzt es jedoch nicht die moderatesten Rechte. Die Ausübung der staatlichen Macht geschieht ohne seine Kontrolle, von der Bildung des Willensbildungsprozesses bleibt es ausgespart. Obgleich sich Friedrich II. zum Anwalt des Rechtsstaates machte, lehnt er es entschieden ab, den politischen Willensbildungsprozeß dem Votum des Volkes zu unterwerfen. Insbesondere die römische Geschichte zeige, in wie starkem Maße die Demokratie von autodestruktiven Tendenzen bestimmt sei. "Die Demokratie der Römer wurde vom Volke selbst gestürzt; die blinde Masse der Plebejer ließ sich von ehrgeizigen Bürgern verführen, und alsdann unterdrücken und ihrer Freiheit berauben87." Eine derart abschätzige Beurteilung der Demokratie impliziert notwendigerweise einen Katalog politischer Tugenden, in dem die kritische Beurteilung des politischen Prozesses nicht gerade an erster Stelle steht. Friedrichs politische Tugendlehre atmet demgemäß eher quietistischen Geist. "Die größten Bürgertugenden sind Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Wachsamkeit und Arbeitslust: das schafft brauchbare Ebd. Ebd. 88 Der Absolutismus kennt auch kein Widerstandsrecht. So schreibt Gaetano Mosca: "Bossuet hatte zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts eine Lehre vom Gottesgnadentum vorgetragen, derzufolge die Völker sich niemals gegen ihre Fürsten erheben dürfen, auch wenn diese böse sind; denn die Fürsten seien über ihre Regierung nur Gott Rechenschaft schuldig. Im Mittelalter und bis zum siebzehnten Jahrhundert hatte man bekanntlich von dieser Lehre nichts gewußt. Der hl. Thomas z. B. anerkennt in seiner Summa in gewissen Fällen den Aufstand und vertritt das Recht der Völker, sich ihre Regierungsformen nach ihrem Gutdünken zu wählen" (Die herrschende Klasse. S. 309). 87 Friedrich der Große: Regierungsformen und Herrscherpflichten (1777), 84 85
s. 226.
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I. Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
Menschen für Zivil- und Militärdienst88." Die antidemokratische Einstellung Friedrichs kommt nicht zuletzt in seiner abgrundtiefen Verachtung der öffentlichen Meinung zum Ausdruck. Als wahrer Staatsmann und Anwalt seines Volkes erweise sich derjenige Herrscher, der die Auffassung der Öffentlichkeit negiere. "Wenn man euch ... anklagt ... was liegt daran? Man urteilt nach falschen Begriffen und wäre eurer Meinung, wenn man eure Gründe kennte. Man muß seinem System folgen, das man einmal als richtig erkannt hat, ohne sich von seinem Weg abzubringen zu lassen durch das Gezirpe der Grillen oder das Gequake der Frösche89. " Es gilt nicht zuletzt die Verwurzelung des absolutistischen Herrschers in einer äußerst skeptischen Anthropologie im Auge zu behalten, um diese vehemente Ablehnung jeglicher demokratischen Mitbestimmung verstehen zu könhen. Trotz einiger gegenläufiger Ansätze bleibt er einer Denkweise verpflichtet, die die politische Urteilskraft des Volkes äußerst gering einschätzt, seine Fähigkeit zur demokratischen Partizipation glattweg verneint. Alle Repräsentanten und Parteigänger des Absolutismus haben diese pessimistisch-skeptische Einstellung ungeniert zum Ausdruck gebracht. Schon für Bodin stand es unzweifelhaft fest, "daß es Menschen gibt, die weniger Einsicht haben als wilde Tiere" 90 • In den Volksversammlungen sei die "Zahl der Narren, Schlechten und Dummen ... tausendmal größer als der Ehrlichen" 91 • Auch Thomas Hobbes ist der Ansicht, daß das Volk politisch uninformiert sei. Öffentliche Versammlungen bestünden "zum größten Teil aus ... unerfahrenen, um nicht zu sagen unfähigen Leuten" 92 • "Das Mißtrauen und die Angst vor dem Pöbel kommt auch in der Abneigung des Absolutismus gegenüber allen pluralistischen Bestimmungsmomenten eines Staates zum Ausdruck93 ." Schon Bodin hegte ein ausgeprägtes Mißtrauen gegenüber den politischen Assoziationen. Es sei äußerst gefährlich, "alle Arten von Vereinigungen zu erlauben. Denn oft genug verbergen sich hinter ihnen Verschwörungen und Monopolbildungen, wofür es viele Beispiele gibt. Darin lag der Grund, warum mehrmals Vereinigungen durch Gesetz verboten wurden ... Es ist besser, die Schlechten wie Unkraut auszurotten als Gute und Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752), S. 170. Ebd., S. 172. 90 Jean Bodin: über den Staat. S. 108. 91 Ebd. 92 Thomas Hobbes. Vom Bürger. In: Vom Menschen. Vom Bürger. Aus dem Englischen. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlik. Harnburg 1959, S. 183. 93 _ Symptomatisch hierfür sind die Verbote der Gesellenvereinigungen. 88 89
3. Absolutismus, Partialliberalismus und Antidemokratismus
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Schlechte in gleicher Weise zu beseitigen94." Auch bei Hobbes ist nachzulesen, in wie starkem Maße der absolutistische Systementwurf allen pluralistischen Sozialprinzipien an der Wurzel fremd war. Ihm zufolge obliegt es den Herrschern, "die Parteisüchtigen im Zaume zu halten" 95 und die "Parteiungen selbst aufzulösen und zu zerstreuen" 96 • Ihnen muß deshalb der Kampf angesagt werden, weil aus ihnen "Auf.,. stände und Bürgerkriege hervorgehen" 97 • Auch Friedrich der Große hat seiner Besorgnis vor den politischen Gruppierungen Ausdruck gegeben. In seinem Politischen Testament von 1752 warnt er vor Parteien und Aufständen98 • Wie immer man die Herrschaftsintensität des Absolutismus bewerten mag, fest steht, daß dieses Politiksystem im Horizonte der modernen Erfahrungen kaum als totalitär betrachtet werden darf. Von der Warte desjenigen aus gesehen, der die menschenvernichtenden Greuel des Totalitarismus kennt, erscheint dieses Herrschaftssystem in einem weniger schrecklichen Licht als den kritischen Zeitgenossen. Die Herrschaftspraxis des Absolutismus war im Gegensatz zum Totalitarismus späterer Zeit in gar keiner Weise ideologisch-eschatologisch eingefärbt. Der Herrscher agierte nicht als Sinnstifter; er verstand sich nicht als diejenige Instanz, die dem privaten und sozialen Leben der Bürger den Weg wies. Das paternalistische Fürsorgedenken speiste sich wohl aus geistesgeschichtlichen Quellen, die von altersher den Machthaber verpflichteten, für seine Untertanen zu sorgen. Diesem Sorgegedanken eignete aber keineswegs der Erlöser- und Kampfgedanke, der den totalitären Regenten des 20. Jahrhunderts bestimmt. Augenfälligstes Symbol für diese weltanschaulich wenig aufgeladene Position ist der Toleranzgedanke, dem sich die meisten absolutistischen Herrscher verbunden fühlten. Um die relativ geringe Herrschaftsintensität des Absolutismus unter Beweis zu stellen, kann man mit Samuel P . Huntington zwischen der "Distribution of Power" 9 e und dem "Amount of Power" 100 unterscheiden. Im Absolutismus war die geringe Machtfülle konzentriert. Im Liberalismus dagegen hat die Gewaltenteilung die Macht des Staates 94 95
Jean Bodin: Über den Staat. S. 69. Thomas Hobbes: Vom Bürger. S. 212.
96 Ebd. Dabei ist für Hobbes eine Partei "eine Anzahl Bürger, die sich durch gegenseitige Verträge untereinander oder durch die Macht eines einzelnen ohne Genehmigung des oder der Inhaber der höchsten Staatsgewalt verbunden haben" (ebd.). 97 Ebd., S. 184. 98 Politisches Testament Friedrichs des Großen (1752), S. 164. 99 Samuel P. Huntington: Political Power in Changing Societies. New Haven und London 1979, S. 144. too Ebd.
30
I. Absolutismus als autoritär-antipolykratisches Herrschaftssystem
diffundiert. Gleichwohl nahm sie im Vergleich zum Absolutismus beträchtlich zu. "The modern politiy simply has more power than the traditional polity101 ." Ähnlich argumentiert Emile Lousse102• "Die absolutesten Monarchien moderner Zeiten sind wahrscheinlich weniger totalitär103 als die demokratischen unserer heutigen Wohlfahrtsstaatento•."
Ebd. Emile Lousse: Absolutismus und Gottesgnadentum. In: Grundbegriffe der Geschichte. Hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Europarat und dem Internationalen Schulbuchinstitut Gütersloh 1964, S. 10. 103 Ob der Totalitarismusbegriff auf den Wohlfahrtsstaat der Gegenwart angewandt werden kann, soll später geklärt werden. Vgl. dazu S. 84. 104 Emile Lousse: Absolutismus und Gottesgnadentum. S. 10. Der absolute Monarch hat nach Lousse nichts Despotisches an sich "Für uns genügt es ... festzustellen, daß der absolute Monarch mit dem morgenländischen Despoten nichts Gemeinsames hat (ebd., S. 9)."Vgl. dazu auch Emmtmuel G. Mesthine: Technological Change. Its Impact on Man and Society. Boston Mass. 1971, 101
102
s. 83.
II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus Hydarnes, einseitig ist der Rat, den du uns gibst, Eines hast du erprobt und rätst du uns an, aber die Freiheit hast du nicht gekostet, ob sie süß ist oder nicht. Oh, wenn du sie gekostet hättest, würdest du uns raten, für sie zu kämpfen, nicht nur mit dem Speer, sondern mit dem Schlachtbeile. Herodot Auf der nationalen Ebene wird in demokratischen Gemeinwesen die Herrschaft überdeckt, weil Gewalt nur in Krisenzeiten und zur Unterwerfung widerstrebender Minderheiten angewandt wird. Reinhold Niebuhr
1. Antipaternalismus, Zentralstaat und Konstitutionalismus
Dem liberalen Politiksystem und seiner Ideologie war es von Anfang an darum zu tun, die liberalen Ansätze des Absolutismus zum ubiquitären Prinzip zu machen und dieselben mit dem demokratischen Gedanken zu verbinden. Dabei ließen die Anwälte des liberal-demokratischen Ordnungsgedankens keinen Zweifel daran, daß sie den vom Absolutismus so vehement vertretenen Paternalismusgedanken rundweg ablehnten. Der emanzipatorische Gedanke ist nun dominant geworden, der Sinn für die Unterordnung unter väterliche Autoritäten geschwunden. Führende Repräsentanten der liberalen Ordnungsidee haben sich gegen die paternalistische Staatsauffassung gewandt. Nach John Milton, John Locke und Immanuel Kant kann die Kritik am Absolutismus nur sinnvoll sein, wenn sie von einem klaren Bewußtsein eines antipaternalistischen, d. h. also grundlegend liberalen Staatsverständnisses bestimmt ist. Milton attackiert die Repräsentanten der paternalistischen Politiklehre mit der Behauptung, daß sie in unzulässiger Weise die Rolle des Hausvaters mit der des Königs verschmelzen. Beide Rollen seien grundsätzlich unterschiedlich strukturiert, der König verdanke sich gänzlich anderer Existenzursachen als der Vater. "König und Vater sind völlig von einander verschieden. Der Vater hat uns erzeugt, aber der König nicht1 .'' Während der Vater 1 John MUton: Verteidigung des englischen Volkes. In: Politische Hauptschriften. Hrsg. von Wilhelm Bernhardi. Band I. Aus dem Englischen. Berlin
1874,
s. 176.
32
II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
mit der Natur des Menschen unmittelbar gegeben sei, habe man den König als ein Kreationsorgan der Menschen zu betrachten. "Wir brachten den König hervor. Den Vater gab die Natur dem Volke, den König gab das Volk sich selbst2 ." Aus diesem Grunde hänge das Volk nicht von seinem Monarchen, sondern dieser von seinem Volke ab. "Also ist das Volk nicht des Königs wegen, sondern der König des Volkes halber da3." John Locke macht sich insbesondere seinen Landsmann Robert Filmer zur Zielscheibe seiner emanzipatorischen Kritik. Aus der Perspektive eines Bewußtseins heraus, dem es um die Abschüttelung überkommener Autoritätsinstanzen geht, wirft er Filmer vor, zu lange den Großteil der Menschen als unmündige Kinder rubriziert zu haben. Filmer, der die parternalistische Herrschaft von Adam, dem Urvater der Menschheit abgeleitet hatte, übersieht Locke zufolge, daß der Mensch sich aus seiner Kindheitsphase befreien könne. Es gehöre zu den anthropologischen Grundtatbeständen, daß das unmündige, von der väterlichen Fürsorge abhängige Kind zum Erwachsenen heranreife, der fähig sei, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und sich der paternalistischen Bande zu entledigen. Für jeden Menschen komme die Zeit, "wo das Kind von dem Gehorsam gegenüber Willen und Befehl des Vaters ebenso frei wird, wie der Vater selbst frei ist von dem Gehorsam gegenüber dem Willen irgendeines anderen Menschen" 4• Die Abhängigkeit vom Vater endet also definitiv "mit der Minderjährigkeit des Kindes" 5 • Aus diesem Grunde sei der Gedanke zu verwerfen, demzufolge "alle politische Gewalt nur väterliche Gewalt und beide in Wahrheit ein und dasselbe" 6 seien. Sie legitimierten sich völlig verschieden, wiesen einen gänzlich unterschiedlichen Wurzelgrund auf. "Diese beiden Gewalten ... , die politische und die väterliche, sind so völlig verschieden und unabhängig voneinander, sie sind auf so unterschiedlichen Grund gebaut und zu so verschiedenem Zweck bestimmt, daß jeglicher Untertan, der Vater ist, ebensoviel väterliche Gewalt über seine Kinder hat wie ein Fürst über die seinen7 ." Deshalb könne "die väterliche Gewalt ... nicht den geringsten Teil jener Art von Herrschaft enthalten. wie sie ein Fürst oder die Obrigkeit über ihre Untertanen besitzen" 8 • 2
3
Ebd. Ebd.
4 John Locke: Über die Regierung (The Second Treatise of Government). Hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch. Reinbek bei Harnburg 1966, S. 54. 5 Ebd., S. 55. 8 Ebd., S. 58. 7 Ebd. 8 Ebd.
1. Antipaternalismus, Zentralstaat und Konstitutionalismus
33
Wie Milton und Locke, so hält auch Kant dafür, daß sich die staatliche Herrschaft der paternalistischen Interpretation grundsätzlich verweigere. Der Versuch des Absolutismus, alle Staatsprobleme am paternalistischen Politikverständnis zu messen, müsse in die illiberale Zukunft und damit in die Irre führen. "Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, ... ist der größte denkbare Despotismus9." Hatte der Absolutismus den Aufbau des Rechtsstaates mit der Implementierung des paternalistischen Staatsgedankens zu verbinden gewußt, so will man sich nun nur noch unter das Joch des Gesetzes beugen. Alle anderen Formen von Herrschaft erscheinen illegitim, der historischen Obsoleszenz überantwortet. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die liberale Staats- und Gesellschaftslehre bis heute bestimmt, dann ist es die Idee der Herrschaft des Gesetzes10• Dabei ist es der generelle Charakter des Gesetzes, der vor der Willkür der politischen Herrschaft schützt. Die Liberalen haben nicht zuletzt die klassischen Schriftsteller zu Rate gezogen, um ihr Ideal von der Herrschaft der Gesetze zu legitimieren11 • F. A. Hayek macht darauf aufmerksam, daß schon im Jahre 1598 das Wort Isonomie im Englischen verwendet wurde12• Es 9 Immanuel Kant: Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht (Gegen Hobbes). In: Immanuel Kants populäre Schriften. Hrsg. von E. v. Aster. Berlin o. J., S. 64. Ähnlich: Adolph Freiherr von Knigge: Josephs von Wurmbrand Kaiserlich abyssinischen Ex-Ministers, jezzigen Notarii caesarii publici in der Reichsstadt Bopfingen, politisches Glaubensbekenntniß, mit Hinsicht auf die französische Revolution und deren Folgen. Hrsg. von Gerhard Steiner. Frankfurt am Main 1968, S. 78 f. 10 Historisch gesehen war es eine paternalistische Interventionsmaßnahme, die das englische Unterhaus dazu herausforderte, sich zum ersten Mal auf die Herrschaft der Gesetze zu berufen. "Es ist bezeichnend, daß der unmittelbare Anlaß für die erste formelle Erklärung des Parlaments über den Grundsatz der ,rule of law', über die Forderung gleicher und sicherer Gesetze für alle und die Beschränkung des administrativen Ermessens, die ,Petition of Grievances' des Unterhauses aus dem Jahre 1610, ein Versuch des Königs war, die Bauvorschriften für London und ein Verbot, Stärke aus Weizen zu erzeugen, im Verordnungswege zu dekretieren" (F. A. Hayek: Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideales. In: A. Hunold: Wirtschaft ohne Wunder. Erlenbach-Zürich 1953, S. 39). 11 Schon Platon hat geschrieben: "Die jetzt sogenannten Obrigkeiten nannte ich Diener der Gesetze, nicht des neugeprägten Ausdruckes wegen, sondern ich glaube, mehr als in irgendetwas liege darin des Staates Heil, und umgekehrt. Denn demjenigen Staate, in welchem das Gesetz etwas Abhängiges und Geltungsloses ist, einem solchen sehe ich den Untergang bereitet; in solchem es aber Herr der Obrigkeiten und diese Sklaven der Gesetze sind, da erkenne ich, daß Fortbestehen und alle Güter, welche irgend die Götter dem Staate verleihen, demselben zu Teil werden" (Die Gesetze. In: Platon's
3 ;r, B. Müller
34
11. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
meinte die "Gleichheit der Gesetze für alle Arten von Personen" 13• Besonders die englischen politischen Denker des 17. Jahrhunderts ließen sich von den klassischen Autoren entscheidend beeinflussen14 • Im Anschluß an Aristoteles und Livius hat James Rarrington "the empire of laws and not of men" 15 gefordert. Die Notion der Gesetzesherrschaft ist auch ein produktives Ferment in der Staatslehre von John Locke. Er wendet die Erkenntnis von der freiheitsnegierenden Herrschaftspraxis früherer Regenten in die Mahnung an seine Zeitgenossen, sich nur der Herrschaft des Gesetzes zu beugen. Ihre unpersönliche Natur garantiere ein Minimum an Zwang und ein Maximum an persönlicher Sicherheit. Aus diesem Grunde sollte die staatliche Macht nicht durch "willkürliche Maßnahmeverordnungen ... regieren, sondern ... nach öffentlich verkündeten stehenden Gesetzen" 16 • Das Ideal der Herrschaft des Gesetzes wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den unbefragten Leitsätzen und Ordnungsprinzipien des englischen Staates17• "Sie ist ein selbstverständlicher Bestandteil seiner politischen Überzeugungen geworden, der bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr ernstlich in Zweifel gezogen wird18 ." Was Frankreich anlangte, so schuf "das neue Verfassungsrecht, das aus den Stürmen der Revolutionszeit hervorging, ... neue Grundlagen auch für die öffentliche Verwaltung19• Die Anwendung des Montesquieuschen Gewaltenteilungsideals führte zur Ausbildung eines unabhängigen Rechtswesens. "Mit Hilfe der Lehre von der Trennung der Gewalten beseitigte Frankreich die Einmischung der Justiz in die Verwaltung, an der das Ancien regime gekrankt hatte, und die Verwaltung schloß sich streng von der Justiz ab20." Dabei wurde den "Zivilsämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Steinhart. Band VII. Leipzig 1859, S. 120). Später haben sich auch Aristoteles und Livius zu dieser Notion bekannt. 12 Vgl. dazu John Florio: World of Wordes (1598). 13 F. A. Hayek: Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideales. S. 35. 14 Ebd. 15 James Harrington: The Political Writings. Ed. by Charles Blitzer. New York 1955, S. 41. 16 John Locke: Über die Regierung. S. 109. Vgl. dazu auch Hermann Heller: "Frei ist der Mensch, wenn er nicht mehr Menschen, sondern nur noch Gesetzen gehorchen muß. Unter Gesetz aber versteht man je länger je mehr nicht den Willen eines ... gottbegnadeten Monarchen, sondern die über allen Willen und jedwede Willkür erhabene Norm" (Rechtsstaat oder Diktatur. In: Gesammelte Schriften. Band II. Leiden 1971, S. 448). 17 F. A. Hayek: Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideals. S. 45. 18 Ebd. 19 Fritz Fleiner: Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts. Adlte Auflage. Tübingen 1928, S. 35. 20 Ebd.
1. Antipaternalismus, Zentralstaat und Konstitutionalismus
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gerichten ... die Zuständigkeit zur Beurteilung von Rechtsverhältnissen, an denen die öffentliche Verwaltung beteiligt war, entzogen'121 • Im Jahre 1801 errichtete ein Gesetz innerhalb der Verwaltung "besondere Verwaltungsgerichte und übertrug diesen die Kompetenz, auf Beschwerde des Bürgers hin gesetzwidrige Verwaltungsakte aufzuheben"22. Auch Deutschland hat eine bemerkenswerte rechtsstaatliche Tradition aufzuweisen. Raymond Aron umschreibt diesen Sachverhalt mit folgenden Worten: "Deutschland ... hat ... politisch eine liberale Tradition, sowohl in Preußen wie in Südwest- oder Süddeutschland ... Zweifellos gibt es in der preußischen Tradition eine Form des Liberalismus für den einzelnen und einen großen Legalismus (kursiv von mir; J. B. M.), es gibt einen kaum ins Französische zu übersetzenden deutschen Ausdruck, der in der Diskussion eine beträchtliche Rolle spielte, den Ausdruck Rechtsstaat23." Dabei wird diese Rechtsstaatstradition zu Recht auf Kant24 zurückgeführt. F. A. Hayek weist allerdings darauf hin, daß der Rechtsstaat erst nach Kant zur Entfaltung kam. "Kant's Rechtslehre gibt in den für uns wesentlichen Punkten kaum mehr als er von Montesquieu und Rousseau übernommen hat. Der eigenartige Beitrag der deutschen Jurisprudenz zu der Entwicklung kam wesentlich später. Das Wort ,Rechtsstaat' scheint zum ersten Mal und noch ohne klare Bedeutung im Jahre 1813 aufzutauchen25 ." Seinen spezifischen Sinn nahm es aber erst an, als es in den dreißiger Jahren zum Kampfruf der liberalen Bewegung wurde26 • Die liberalen Kräfte in Deutschland fragten sich, "wie die Macht der Behörden der Kontrolle der Gesetze und damit in letzter Linie der Gerichte unterworfen wer21 22
Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 36.
23 Raymond Aron: Über die Demokratie in Frankreich und Deutschland. In: Dokumente 40 (1984), S. 107. 24 Kant bekannte sich ausdrücklich zur "Herrschaft des Gesetzes" und lehnte die persönlich bestimmte Machtausübung ab. "Dies ist die einzig bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist und an keiner besonderen Person hängt" (Die Metaphysik der Sitten. In: Kant's Werke. Band VI. Berlin 1914, S. 341). Es verwundert keineswegs, daß die Romantik diesen Grundsatz ablehnt. Sie spricht sich für die persönliche Herrschaft gegen die abstrakte Macht des unpersönlichen Gesetzes aus. So heißt es bei Schelling: "Auf dieser Unpersönlichkeit des Gesetzes beruht die Unvollkommenheit, die im Gesetz selbst ist" (Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie. In: Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von Manfred Schröter. 5. Hauptband: Schriften zur geschichtlichen Philosophie 1821-1854. München 1927, S. 736). 25 Cart Theodor Wetcker: Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker r echtshistorisch entwickelt. Gießen 1813, S. 25. 26 F. A. Hayek: Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideals. S. 49 f.
3*
36
II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
den konnte'127• Entscheidend war, daß die "Beziehungen zwischen den Behörden und den Staatsbürgern durchgehend durch gesetzliche Bestimmungen geregelt wurden, deren Anwendung in letzter Linie von Gerichten geprüft werden konnte" 28 • Die Entwicklung zum deutschen verwaltungs- und Rechtsstaat hat Fritz Fleiner29 augenfällig beschrieben: "Die Verfassungsurkunden beließen dem Rechte nach die ganze Staatsgewalt dem Monarchen. Aber dieser behielt nur die Verwaltung zu eigener Ausübung bei, unter Mitwirkung verantwortlicher Minister. Die Justiz wurde vom Monarchen unabhängig gestellt. Über Justiz und Verwaltung aber trat als oberste Gewalt im Staate die Gesetzgebung. Sie konnte vom Monarchen nur unter Mitwirkung einer Volksvertretung ausgeübt werden. Das Gesetz war der einseitigen Verfügung des Monarchen entrückt und erlangte damit Unverbrüchlichkeit auch für die Verwaltung. Dadurch gewann der Gesetzgeber die Möglichkeit, die Verwaltungsbehörden auch in ihrem Verkehr mit den Untertanen an feste Rechtsschranken zu binden. Die Verwaltungsnormen . .. banden den Verwaltungsbeamten nicht nur dem Vorgesetzten, sondern auch dem Untertan gegenüber30 ." Die in Rede stehende Kritik am paternalistisch-eudämonistischen Wohlfahrtsstaat des Absolutismus und die Forderung nach der Ausbildung des Rechtsstaates darf keineswegs zu der Annahme verleiten, die Repräsentanten des liberalen Ideenkreises sprächen sich für eine Abschaffung des Zentralstaates aus. Nirgends haben sich in der geschichtlichen Wirklichkeit der liberalen Staatswesen anarchistische Tendenzen durchgesetzt31 • Nirgends haben seine Anwälte zu erkennen ge27 28
Ebd., S. 50. Ebd.
Fritz Fleiner: Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts. S. 37 ff. Ebd. Ähnlich heißt es bei Gustav Radbruch: "Erst als der konstitutionelle Staat auf Grund der Gewaltenteilungslehre dem Landesherrn dem Haupte der Verwaltung, die Alleinausübung der gesetzgebenden Verwaltung entzieht, werden eine Bindung der Verwaltungsbehörden durch die Gesetzgebungsorgane, eine Bindung des verwaltenden durch den gesetzgebenden Staat, eine ,Selbstbindung des Staates', die ,Gesetzmäßigkeit der Verwaltung', und als deren Folge Rechte der Untertanen gegen den Staat als solchen, ,subjektive öffentliche Rechte', und entsprechende Rechtsschranken der Verwaltung - wird ein Verwaltungsrecht denkbar" (Einführung in die Rechtswissenschaft. S. 220). 31 Für die Maxime Silvio Gesells, "allen Ernstes das Faustrecht an die Stelle der bürokratischen Justiz zu setzen" (Der abgebaute Staat. Berlin 1927, S. 5), hat sich im Liberalismus kaum jemand erwärmt. Bei aller Betonung des Konkurrenzprinzipes wurde auch nie die Gesellsehe Idee akzeptiert, daß allein die elementare Kraft des Selbsterhaltungstriebs, der Egoismus des Menschen die ideale Gestaltung der Gesellschaft gewährleistet (ebd., S. 93). Wie wenig die Herrschaftsintensität in Wirklichkeit durch den Liberalismus reduziert wurde, läßt sich vor allem in den Schriften anarchistischer Autoren nachlesen. Peter Kropotkin zufolge "suchte die Bourgeoisie die Zentralgewalt noch mehr zu verstärken, sie mit Machtbefugnissen aus29
30
1. Antipaternalismus, Zentralstaat und Konstitutionalismus
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geben, daß sie den vom Absolutismus übernommenen Zentralstaat abschaffen wollten32• Das gilt nicht zuletzt für Frankreich. "Gerade die Jakobiner, welche am meisten von der Volkssouveränität sprachen, waren die ärgsten Zentralisationsmänneraa und halten bis diesen Tag an der Zentralisation festa 4 ." Extrem föderalistisch ausgerichtete Denker werfen der Franzustatten, an welche der König nie zu denken gewagt hätte, in ihren Händen alles zu konzentrieren, ihr von einem Ende Frankreichs zum anderen alles unterzuordnen und sich all dessen mittels der National-Versammlung zu bemächtigen" (Peter Kropotkin: Repräsentative oder parlamentarische Regierung?. In: Worte eines Rebellen. Aufsatzsammlung Band I. Aus dem Französischen. Frankfurt!M. 1978, S. 115). Vgl. dazu auch Barbara Goodwin und Keith Taylor: The Politics of Utopia. A Study in Theory and Practice. London 1982, S. 167 ff. und passim. a2 Auch die Amerikaner erkannten schon sehr früh, wie notwendig ein zentraler Staat war. Der amerikanische Bürger benötigte einen Staat, der seine Interessen wirksam zu schützen in der Lage war. Die Absenz einer Staatsspitze wurde allenthalben beklagt. Woodrow Wilson weist darauf hin, daß sogar Aufstände ausbrachen. "In Massachusetts brach . . . infolge der durch den Krieg verursachten Armut ein Aufstand von verschuldeten Farmern ... aus, und man fürchtete einen Augenblick, daß die Staatsbehörden nicht stark genug sein würden, ihn zu unterdrücken" (Der Staat. Aus dem Amerikanischen. Berlin und Leipzig 1913, S. 359). Überhaupt war es die Schwäche der Konföderation, die zu "der Errichtung der stärkeren und vollständigeren Regierung von heute" führte (ebd.). Das Fehlen einer zentralen Staatsgewalt führte sogar zu Rivalitäten zwischen den einzelnen Staaten. "Es kam zu Zollkriegen zwischen Nachbarstaaten, besonders zwischen New York und New Jersey, und zwischen Virginia und Maryland" (ebd.). Es gab deshalb kaum jemanden, der die Notwendigkeit eines starken Zentralstaates in Abrede gestellt hätte. "Concerning the nature of such a government there were differences, but there was at least a consensus of opinion in favour of a government that would be able to force Britain and Spain to fulfil their treaty Obligations, and to fix with authority the disputed state boundaries" (John A. Hawgood: Modern Constitutions since 1787. London 1939, S.15 f.). In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis nicht uninteressant, daß Alexander Rarnilton ein Bewunderer von Thomas Hobbes war. So schreibt Vernon Louis Parrington: "In certain of his principles Rarnilton was a follower of Hobbes" (Main Currents in American Thought. Volume One. New York 1954, S. 305). aa Der vom Absolutismus in Gang gesetzte Zentralisationsprozeß wurde von den Parteigängern der französischen Revolution begrüßt. Barnave lobt vor allem die homogenisierende Wirkung des stehenden Heeres. "Hier handelt es sich um einen Verband von Leuten, die ohne Unterschied aus allen Teilen des Staates kommen, zu ständigem Dienst verpflichtet sind und von der im Zentrum des Reiches präponderierenden Macht bezahlt und kommandiert werden. Eine solche Armee besteht aus Bewohnern aller Provinzen, sie ist die Armee der ganzen Nation und gehorcht einer einzigen Autorität. Sie ist immer bereit, jeden Teil dem Willen zu unterwerfen, der das Ganze regiert. Es ist deshalb leicht zu verstehen, daß sie ein mächtiges Band für die Einheit des Staates ist" (Antoine Barnave: Theorie der Französischen Revolution. Aus dem Französischen. Hrsg. von Eberhard Schmitt. München 1972, s. 63). 34 Konstantin Frantz: Masse oder Volk. Louis Napoleon. Hrsg. von Franz Kemper. Potsdam 1933, S. 55.
88
II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
zösischen Revolution heute noch vor, einer illegitimen Machtzentralisationsutopie verfallen gewesen zu sein. So schreibt Bertrand de Jouvenel: "Das, was man als Errichtung der Demokratie bezeichnet, ist nur die Übernahme der bestehenden Staatsgewalt durch andere Innehaber oder die Eroberung der Kommandozentrale durch eine neue Besatzung. Da diese Übernahme oder Eroberung zur Vernichtung oder Schwächung der sich dem Imperium widersetzenden Kräfte geführt hatte, steht die Staatsgewalt jetzt ziemlich allein in der Gesellschaft und ist infolgedessen noch mächtiger35 ." Mit Nachdruck ging der Liberalismus daran, den vom Absolutismus ererbten Zentralstaat zu konsolidieren bzw. auszubauen. Zu den augenfälligsten Beispielen für dieses Unterfangen zählt nicht zuletzt die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Sie hat in besonderem Maße den vom Absolutismus geerbten Zentralstaat homogenisiert, ihn zu einem schlagkräftigen Machtinstrument in den Händen liberaler Politiker gemacht38• Ohne Zweifel hat die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht auch zu einer Aufblähung des staatlichen Beamtenapparates beigetragen. Auch in anderen Politikbereichen hat der liberale Staat die Administration des Absolutismus keineswegs abgebaut, sondern ihren Tätigkeitsbereich eher erweitert. Wohl kam es zur Beschneidung bestimmter Kompetenzen, kaum aber zu einer durchgehenden Entbürokratisierung. Roman Schnur schreibt zu Recht: "Auch wo der Liberalismus die staatliche Macht eindämmte, beschränkte er allenfalls die Ausdehnung staatlicher Organisation, nicht aber die Intensität der Bürokratisierung. In demjenigen Bereich, in dem sich der Staat des sog. liberalen Zeitalter betätigte, wurde seine Bürokratie immer schlag35 Bertrand de Jouvenel: über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums. S. 282 f. Vgl. dazu auch Denis de Rougemont: Die Sakralisierung des souveränen Staates ist ... das Resultat einer doppelten Usurpation der Bodinschen, die die jakobinische rechtfertigt ... Ihre auf ein Zentrum ausgerichteten Strukturen waren und blieben monarchistisch" (Die Zukunft ist unsere Sache. Aus dem Französischen. Stuttgart 1980, S. 230). 38 Am 16. August wurde unter Carnots Leitung ein Memorandum ausgearbeitet, das als "Zweites Requisitionsgesetz" am 23. August Gesetzeskraft erlangte. Es führte die allgemeine Wehrpflicht ein. Seine Ausführungsbestimmungen "verpflichteten alle waffenfähigen Männer im Alter von 25 bis zu 40 Jahren zum Kriegsdienst in dem Maße, wie es sich als notwendig erwies" (Torsten Holm: Allgemeine Wehrpflicht, Entstehung, Brauch und Mißbrauch. Aus dem Schwedischen. München 1953, S. 31). Carnot hatte "im Mai 1793 ... die Streitkräfte insgesamt auf 400 000 Mann gebracht, im Oktober betrugen sie bereits über eine halbe Million" (ebd., S. 32). Gegen "Ende des Jahres 1794 zählte das französische Heer einen Mannschaftsbestand von einer Million Mann und zu Beginn des Jahres 1795 waren es 1,2 Millionen" (ebd.). Das bedeutete "auf eine Bevölkerung von 27 Millionen . . . einen Prozentsatz von 4,4% gegenüber 1,7 %, die nach dem ersten Requisitionsgesetz vom Februar 1793 ausgehoben wurden" (ebd.).
1. Antipaternalismus, Zentralstaat und Konstitutionalismus
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kräftiger. So wurde der Behördenaufbau verfeinert, die Kommunikationen beschleunigt, die Qualität der Bürokraten verbessert37 ." Karl Polanyi weist in diesem Zusammenhang nach, in wie starkem Maße das angeblich so manchesterliehe England seine Wohlfahrtsbürokratie ausbaute. "The thirties and forties saw not only an outhurst of legislation repealing restrictive regulations, but also an enormous increase in the administrative function of the state, which was now being endowed with a central bureaucracy able to fulfill the tasks set by the adherents of liberalism ... It was the task of the executive to collect statistics and information, to foster science and experiment, as well as to supply the inumerable instruments of final realization in the field of government. Benthamite liberalism meant the replacing of Parliamentary action by action through administrative organs38." Die Bejahung des Zentralstaates39 durch den Liberalismus läßt sich nicht nur an der Entwicklung der Bürokratie ablesen, sie wird auch durch die Lektüre der liberalen Klassiker unter Beweis gestellt. Von Anfang an hat sich die liberale Staats- und Gesellschaftslehre als eine Ordnungsdoktrin zu erkennen gegeben, die den vom Absolutismus geschaffenen Zentralstaat unter allen Umständen erhalten wissen wollte. Ihre Vertreter waren an einem Gemeinwesen interessiert, das eine starke Staatsführung sein eigen nannte. Schon John Locke hatte sich als Anwalt des machtvollen Staates geriert. Leo Strauss weist zu Recht darauf hin, daß an diesem Punkte der Unterschied zu Thomas Hobbes so groß gar nicht ist "Trotz der Beschränkungen, die Locke fordert, bleibt das staatliche Gemeinwesen für ihn wie für Hobbes ,der mächtige Leviathan': durch den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft ,verzichten die Menschen auf all ihre natürliche Gewalt zugunsten der Gesellschaft, in die sie eintreten'. So wie Hobbes läßt auch Locke nur einen Vertrag zu: der Vertrag zur Vereinigung, den jede Einzelperson mit jeder anderen Einzelperson aus der gleichen Gruppe abschließt, ist identisch mit dem Vertrag der Unterwerfung'0 ." Locke hatte sich für 37 Roman Schnur: Der Staat als Apparat. Entwicklungstendenzen von Bürokratisierung und Bürokratie. In: Wort und Wahrheit (1963), S. 353. 38 Karl Polanyi: The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time. Boston 1971, S. 139. 30 In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik erwähnenswert, die konservative Denker am Zentralstaat übten. Sie wußten genau, daß erst der Absolutismus die Voraussetzungen geschaffen hatte, um die ihnen verhaßte liberale Ordnung etablieren zu können. Wilhelm Mommsen zufolge ist es deshalb kein Zufall, "daß gerade die monarchisch konservativ legitimistischen Kräfte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einrichtungen des absolutistischen Staates, seine Allmacht und im besonderen seine Bürokratie noch wesentlich schärfer bekämpften als die Liberalen" (Größe und Versagen des deutschen Bürgertums. Ein Beitrag zur Geschichte der Jahre 1848-1849. Stuttgart 1949, S. 16).
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II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
einen Staat ausgesprochen, der seine Ideale durchzusetzen und seine Aufgaben zu erfüllen in der Lage ist41 • In wie starkem Maße er einem autoritätsbestimmten Staat das Wort redete, geht beispielsweise aus seiner Aufforderung hervor, die Gesetzesbrecher der Gesellschaft unnachsichtig zu bestrafen. Der Obrigkeit komme die Aufgabe zu, "Gesetze zu geben, Gehorsam zu empfangen und mit dem Schwerte zu zwingen" 42• Daher sei "die Obrigkeit mit der Kraft und Stärke aller ihrer Untertanen bewaffnet, um diejenigen zu bestrafen, die die Rechte eines anderen verletzen" 43 • Jeder Gesetzesbrecher sollte mit dem Verlust seiner bürgerlichen Existenz bestraft werden. "Wenn einer sich herausnehmen wollte, die Gesetze der öffentlichen Gerechtigkeit und Billigkeit zu verletzen, die für die Erhaltung dieser Dinge festgelegt sind, so muß seine Anmaßung durch die Furcht vor einer Bestrafung gehemmt sein, die ihn derjenigen bürgerlichen Interessen oder Güter beraubt oder sie vermindert, die er sonst genießen könnte oder müßte44 ." Unmißverständlich hat auch F. C. Dahlmann zum Ausdruck gebracht, daß er keineswegs für einen machtfreien, ichschwachen Staat plädiert. Dieser deutsche Anwalt des liberalen Ordnungsgedankens spricht sich für ein politisches Gemeinwesen aus, das zur Ordnungsstiftung in der Lage ist und sich zu verteidigen weiß. Gerade weil die Institutionen des liberalen Gemeinwesens eines effizienten Schutzes bedürften, müsse genügend Macht vorhanden sein, um diese verteidigen zu können. "Der Staat ... wird keine Macht in seinem Innern gestatten wollen, die sich gegen seine Rechtsanstalten erhebt45." Die Repräsentanten des liberalen Ideenkreises mußten auch aus demokratietheoretischen Gründen an der Idee des Einheitsstaates festhalten. Schließlich kann nur in einem halbwegs homogenisierten und zentralisierten Gemeinwesen der Wille des Volkes an die Staatsspitze transmittiert werden. Dabei war es offensichtlich, in wie starkem Maße die Implementierung ihrer Politikvorstellungen von der ideologischen und praktischen Vorarbeit abhing, die der Absolutismus geleistet hatte. Ihre Demokratie beruht in der Tat entscheidend auf der Homogenisierungsarbeit des Absolutismus. "Wir sind uns bisher nicht hinreichend 40
Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Aus dem Amerikanischen. Stutt-
gart 1953, S. 241.
41 John Locke: Ein Brief über Toleranz. Aus dem Englischen. 2. Auflage. Harnburg 1966. 42 Ebd., S. 173. 43 Ebd., S. 13. 46 Ebd. Vgl. dazu auch M. Seliger: The Liberal Politics of John Locke. London 1968, S. 332 f. 45 F . C. Dahlmann: Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Erster Band. Zweite verbesserte Auflage. Leipzig
1847,
s. 7.
1. Antipaternalismus, Zentralstaat und Konstitutionalismus
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bewußt geworden, daß die moderne demokratische Entwicklung erst dadurch ermöglicht worden ist, daß zuvor die absoluten Monarchien eine einheitlich gelenkte feste Staatsgewalt geschaffen und durch Einebnung der Unterschiede zwischen den Ständen scheinbar einheitliche Nationen geprägt haben46." Akzeptiert kann in der demokratischen Staatslehre nur das werden, was sich dem demokratischen Willensverband einfügt. Das Netz der Beziehungen muß sich so verdichtet haben, daß ein Mindestmaß an demokratischer Information und Kommunikation möglich wird. Mosca zufolge war es erst möglich, "die Volkssouveränität als Souveränität der einfachen zahlenmäßigen Mehrheit der Staatsangehörigen" aufzufassen47 , nachdem der "bürokratische Absolutismus des achtzehnten Jahrhunderts ... alle souveränen Zwischenglieder zwischen der obersten Gewalt und dem einzelnen Bürger beseitigt oder aller wirklichen Macht beraubt" 48 hatte. Es waren aber auch wirtschaftliche Überlegungen, die zum Festhalten an dem vom Absolutismus geschaffenen Zentralstaat führten. Die europäischen Liberalen wußten . genau, daß .die kapitalistische Wirtschaft sich entscheidend der Vorarbeit verdankte, die der Merkantilismus geleistet hatte. Die kapitalistische Ordnung gibt sich in der Tat als ein Wirkmechanismus zu erkennen, dessen Grundlage in der Zeit des Absolutismus gelegt wurde. Der systemtypische Wille des absolutistischen Herrschers zum Aufbau eines einheitlichen, homogenen Wirtschaftsgebietes schuf die Basis, auf der sich dann die liberale Wirtschaftsordnung entfalten konnte. Zu Recht schreibt Eduard Heimann: "Es ist höchst fraglich, ob sich bürgerliche Rechtsordnung und Kapitalismus ohne den mächtigen Schutz, den Ansporn und die Führung des Staates entwickelt hätten, denn der autonome Staat war es, der in der Forderung jener neuzeitlichen Organisationsformen voranging, die die Entwicklung des Kapitalismus erst ermöglichten49 . " Der absolutistische Staat hat auf diese Weise den Kapitalismus großgezogen 50• "Lokale Grundherren, die sich selbst zu Territorialfürsten erhöhten, unterwarfen ihre früheren Vasallen und Rivalen und fanden auf der Suche nach Mitteln zur Sicherung und Befestigung ihrer Herrschaft in den sich emporringenden Elementen der kapitalistischen Wirtschaft Möglichkeiten für die Begründung ihrer Macht und neue Einnahmequellen51 ." 46 Heinrich Herrfahrdt: Entwicklung der Staatsordnung. In: Entwicklungspolitik. Handbuch und Lexikon. Hrsg. von Hans Besters und Ernst E. Boesch. Stuttgart und Berlin 1966, S. 564. 47 Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. S. 310. 48 Ebd. 49 Eduard H eimann: Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen. Aus dem Amerikanischen. Frankfur t I M. 1949, S. 38 f. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 39.
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li. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
Staatsphilosophien wie Othmar Spann52 mißverstehen die liberale Politiktheorie deshalb gründlich, wenn sie diese als Angriff auf den zentralen, souveränen Staat interpretieren. Die liberale Theorie spiegelt die Absicht wider, gleichzeitig die Souveränität des Zentralstaats zu verteidigen und seine Macht zu dislozieren. Wie wenig die liberale Theorie einer einseitigen Konzentration auf einen der beiden Topoi erliegt, hat d'Entreves nachgewiesen. Sowohl Locke als auch Montesquieu hätten eine widerspruchsfreie Verbindung von Souveränität und Machtkontrolle angestrebt. "What the doctrine implied was a new and original view of the manner in which power could be distributed and organized within the state53." Ihr Hauptproblem läßt sich deshalb auf die Frage reduzieren: "How can power be controlled without contradicting the logic of sovereignty, with its emphasis on unity, indivisibility, and absoluteness54 ." Dem liberalen Gemeinwesen ist es Erich Kaufmann zufolge55 darum zu tun, einerseits "die Einheitlichkeit der Staatsgewalt gegenüber der mittelalterlichen Spaltung derselben in Fürsten und Stände, Kaiser und Reichstag zu unterstreichen" 56 und andererseits gleichzeitig "die Ideen des Verfassungsstaates ... in sich aufzunehmen und sich zu einem konstitutionellen Staate aus- und umzubilden"57. Dabei hat auch die Implementierung der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung58 niemals den Primat des Zentralstaates gefährdet. Selbst die radikalsten Vertreter der Pluralismustheorie59 haben keineswegs der Staatsauflösung das Wort geredet. In gleicher Weise hat der Liberalismus stets all diejenigen abgelehnt, die das föderalistische Prinzip ins Anarchistische hinein interpretierten60 • Die Repräsentanten der liberalen Gemeinwesen haben nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie und keine andere Macht im Besitz der Souvernität sind. Nirgends duldeten sie einen Rückfall in vorabsolutistische, polykratische Zeiten61 . Immer verteidigten sie diejenige poli52 Vgl. dazu Othmar Spann: Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft. Dritte Auflage. Jena 1931. 53 Alexander Passerin d'Entreves: The Notion of the State. Oxford 1967, S.l19. 54 Ebd., S. 114. 55 Erich Kaufmann: Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips. Gesammelte Schriften Band I. In: Autorität und Freiheit. Göttingen 1960. 56 Ebd., S. 5. 57 Ebd. 58 Vgl. dazu Karl Loewenstein: Verfassungslehre. 3. Auflage. Aus dem Amerikanischen. Tübingen 1975, S. 167 ff. Leewenstein unterscheidet zwischen Intra-Organ-Kontrollen und Inter-Organ-Kontrollen (ebd.). 59 Vgl. dazu Johann Baptist Müller: Pluralismus. In: Amerikastudien 24 (1979), s. 34 ff. 60 Vgl. dazu Wilhelm Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage. 2. Auflage. Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1958, S. 90 ff.
2. Liberalismus, Republik und Monarchie
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tische Ordnung, die neben der liberaldemokratischen Politikidee auch das Prinzip des Zentralstaates umfaßt. Die Notion der Gewaltenteilung, die Absicht, den Leviathan in liberaler Weise zu zähmen, hat also keinen "schwachen" Staat geschaffen. Sosehr der liberale Staat der Gewaltenteilung sich vom machtpotenten Staat des Absolutismus unterscheidet, sowenig hat er die Fähigkeit aus der Hand gegeben, souverän über das Geschick des ihm anvertrauten politischen Gemeinwesens zu bestimmen. Der liberale Staat war immer fähig, notwendige Ordnungsinterventionen zu exekutieren. Im Kontrapunkt zu seinen Kritikern von rechts haben seine Vertreter keineswegs die Staatsgewalt "zerredet", die staatlichen Imperative verleugnet. Zu Recht schreibt Franz Neumann: "Der liberale Staat war stets so stark, wie die Umstände es verlangten. Er eroberte große Kolonialreiche, hat Kriege geführt, Aufstände im Innern niedergeworfen und für lange Zeit seine Macht bewahrt62 . " 2. Liberalismus, Republik und Monarchie Die Besinnung darauf, wie ein liberal-demokratisches Gemeinwesen zu gestalten ist, schließt notwendigerweise auch die Beantwortung der Frage ein, ob die Monarchie83 dem freiheitlichen System feindlich gegenübersteht. Muß der Liberalismus, der sich einer antipaternalistischen Politikkonzeption verschrieben hat, der Gewaltenteilung das Wort redet, die monarchische Staatsform ablehnen? Die Antwort auf die Frage fällt in der Tat recht verschiedenartig aus. Auf der einen Seite wird die Monarchie als historisches Relikt empfunden, das den liberal-emanzipatorischen Politikvorstellungen der Neuzeit diametral entgegensteht. Andererseits gibt es in der liberal-demokratischen Ideologiesphäre von Anfang an Autoren , die sich als Anhänger der monarchischen Staatsspitze gerieren64 • Dabei neigen die Repräsentanten 61 Die Staatsfeindlichkeit eines Ludwig von Mises ist für den Liberalismus eigentlich untypisch. Die meisten Liberalen lehnen Sätze wie die folgenden ab: "Der Staat ist Zwangs- und Unterdrückungsapparat . .. Alles, was der Staat ist und vermag, ist Zwang und Gewaltanwendung" (Liberalismus. Jena 1927, S. 50). 62 Franz Neumann: Demokratischer und a utoritärer Staat. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt/M. 1967, S. 63. 63 Vgl. dazu Vladimi1· Volkoff: Incarnation et royaute. In: Commentaire 7 (1984), S. 430; Philipp Wolff-Windegg: Die Gekrönten. Sinn und Sinnbilder des Königtums. Stuttgart 1958. 84 Selbst im Sozialismus fanden sich Befürworter der Monarchie. So schreibt Anton Menger: "Man glaubt nicht, daß eine ... Verständigung der besitzlosen Volksklassen mit der Monarchie unmöglich ist" (Anton M enger: Neue Staatslehre. Jena 1903, S. 225). Die Bejahung der Monarchie durch die Arbeiter sei allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich: "Sollte das Proletariat, w as bei den germanischen Völkern wahrsc~einlich
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II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
des linken Spektrums des Liberalismus eher der republikanischen Lösung zu, während die Rechtsliberalen eher eine Verbindung von Parlamentarismus und Monarchismus vertreten65• Aus diesem Grunde ist es durchaus kein Zufall, daß sich Thomas Paine als scharfer Gegner der Monarchie erwies. Paine führt sowohl politikphilosophische als auch pragmatische Argumente ins Feld, um seine tiefsitzende Abneigung gegenüber der Monarchie zu legitimieren. Was seine philosophischen Überlegungen anlangt, so ist er der Ansicht, daß die Institution der Monarchie die homogene Einheit des Staatskörpers aufs Spiel setzt. Im Gegensatz zur Republik, in der die Politik ihr Zentrum in der Repräsentation hat, wird diese Einheit durch eine Institution gefährdet, die außerhalb des body politic angesiedelt ist. So sehr eine Nation sich als mit einem Körper ausgestattetes Wesen darstellt, sowenig bedarf diese Entität einer Einrichtung, der ein menschliches Wesen vorsteht und in Gegensatz zum Körper des Gesamtstaates gerät. "Eine Nation ist kein Körper, dessen Gestalt durch den menschlichen Körper repräsentiert werden muß, sondern sie gleicht einem von einem Kreis umschlossenen Körper, der einen gemeinsamen Mittelpunkt hat, in dem alle Radien zusammentreffen; und dieser Mittelpunkt wird von der Repräsentation gebildet. Die Repräsentation mit dem verbinden zu wollen, was Monarchie heißt, wäre exzentrische Regierung. Die Repräsentation ist selbst die bevollmächtigte Monarchie (delegated monarchy) einer Nation und kann sich nicht selbst dadurch herabsetzen, daß sie hierin mit einer anderen teilt88. " Darüber hinaus führten pragmatische Überlegungen Paine dazu, der Republik gegenüber der Monarchie den Vorzug zu geben. Der Monarchie sei vor allem anzulasten, daß sie stärker zum Kriege neige als die Republik. Dieser Tatbestand gehe schon aus der Bibel hervor. "In der Frühgeschichte dieser Welt gab es nach der Zeitrechnung der Bibel keine Könige und folglich auch keine Kriege; denn es ist allein der Stolz der Könige, der die Menschheit ins Unglück stürzt67 . " Auch die Geschichte Hollands zeige, daß die republikanische Staatsform die Staaten ungleich friedlicher stimme als die Monarchie. "Holland, das keine Könige hat, erlebte im letzten Jahrist, der Aufrechterhaltung der Monarchie bei der Einführung des volkstümlichen Arbeitsstaats zustimmen, so könnte dies nur unter gewissen Voraussetzungen geschehen" (ebd., S. 224). Die wichtigste wäre, daß "den besitzlosen Volksklassen am Hofe, im Heer und in dem Beamtenturn die entscheidende Macht eingeräumt und die gedachten Institutionen dementsprechend gründlich umgestaltet würden" (ebd.). 65 Vgl. dazu für die deutschen Verhältnisse Günter Birtsch: Gemäßigter Liberalismus und Grundrechte. Zur Traditionsbestimmtheit des deutschen Liberalismus von 1848/ 49. S. 37. 66 Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. Aus dem Englischen. Hrsg. von Wolfgang Mönke. Berlin 1962, S. 286. 67 Thomas Paine: Common Sense. Aus dem Englischen. Hrsg. von Lothar Meinzer. Stuttgart 1982, S. 16.
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hundert eine längere Friedenszeit als jede der monarchischen Regierungen Europas68 ." Will man also kennzeichnen, was das allgemeinste Charakteristikum der Monarchie darstellt, so muß man Paine zufolge auf all das Elend und Blutvergießen zu sprechen kommen, das die Monarchie bislang verursacht hat. "Kurz gesagt: Monarchie und Erbfolge (und dies nicht nur in diesem oder jenem Königreich) haben nichts anderes bewirkt, als die Welt in Schutt und Asche zu legen. Es ist eine Regierungsform, gegen die das Wort Gottes Zeugnis ablegt und die mit Blut befleckt ist69 ." Thomas Paine zufolge ist die traurige Bilanz dieser Staatsform durchaus kein Zufall. Gerade ihr widersinniger Auslesemechanismus verhindere, daß die Tüchtigen und moralisch Wertvollen an die Spitze des Staates gelangen. "Was die Menschheit beunruhigt, ist nicht so sehr die Absurdität als vielmehr die Übel der Erbfolge. Sicherte sie ein Geschlecht von guten und weisen Männern, so hätte sie das Siegel der göttlichen Vollmacht; aber da sie den Törichten, den Gottlosen und den Untauglichen die Tür öffnet, trägt sie das Wesen der Unterdrückung in sich. Menschen, die meinen, sie selbst seien zum Regieren geboren und die anderen zum Gehorchen, werden bald anmaßend; auserwählt gegenüber allen anderen Menschen, wird ihr Verstand bald durch Wichtigtuerei getrübf0." Seine Ablehnung der Monarchie, seine Zurückweisung der englischen Verfassung teilte Paine nicht zuletzt auch seinen französischen Freunden mit. Auf diese Weise erhielten viele revolutionär gesinnte Franzosen ein Englandbild vermittelt, das aus dem Geiste einer radikaldemokratischen Haltung heraus formuliert wurde. Einige Franzosen waren deshalb der Ansicht, daß Paine die englische Verfassungswirklichkeit falsch darstellte. So hat Etienne Dumont darüber geklagt, daß er insbesondere Condorcet und seinem Zirkel ein einseitiges Bild über die englische Politikverfassung vermittelte71 • Condorcet selber berichtet, wie sehr sein Freund Lafayette und er sich über die Painesche Schilderung der absurden Züge der englischen Erbmonarchie amüsiert haben72 • Thomas Paine wirkte mit seinem konsequenten Anti-Monarchismus auch auf die deutsche demokratische Bewegung ein. So weist Walter Grab darauf hin, daß diese in der Auseinandersetzung zwischen Edmund Burke und Thomas Paine über die Rechtmäßigkeit der franzöEbd., S. 16 f. Ebd., S. 27. 70 Ebd., S. 25 f. 71 Vgl. dazu David WiUiams : French Opinion Concerning the English Constitution in the Eighteen Century. In: Economica lO (1930), S. 305. 72 Condorcet: Fragment de Justification. In: Oeuvres publiees par A. Condorcet O'Connor et M. F. Arago, Tome Premier. Paris 1847-1849, S. 583. 68 69
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II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
sischen Revolution energisch für Paine Partei ergriff73 . Unter Georg Forsters Mitwirkung wurde sein republikanisches Glaubensbekenntnis, nämlich seine Abhandlung "The Rights of Man", ins Deutsche übersetzf4. Der konsequente Republikanismus der deutschen Aufklärer erreichte seinen Zenit vor allem in der Legitimierung der Guillotinierung des französischen Königs am 21. Januar 1793. Für die deutschen Jakobiner geriet diese Enthauptung zum Lehrstück eines konsequent republikanischen Glaubensbekenntnisses. Weit davon entfernt, beckmesserisch-liberal an diesem Tyrannenmord herumzunörgeln, feierten sie diesen Akt als notwendige politische Hygienemaßnahme75. Sie werde aufgewogen durch den politischen Gewinn, die die französische Revolution mit dieser Machtdemonstration gewann. Georg Forster ließ es sich nicht nehmen, die Enthauptung Ludwig XVI. als "Sicherheitsmaßregel"78 zu bezeichnen und zu behaupten, daß seine Verurteilung "nicht nach Gesetzbüchern, sondern nach dem Naturrecht" 77 geschehen mußte. Der historische Schwerpunkt im Kräftefeld von Monarchie und Republik verschob sich in der Neuzeit durch ein Ereignis, das vielen überzeugten Anhängern der Monarchie als die Todsünde wider die vernünftige, althergebrachte und deshalb natürliche Staatsform erschien. Die Rede ist von der amerikanischen Revolution. Hier wurde das Modell einer Ordnung realisiert, die ihren Sinn nicht mehr vom "Divine Right of Kings", sondern vom Willen des Volkes empfing76. Nun waren viele Politikanalytiker gezwungen, die schlichte Zurechnung von Monarchie und Natürlichkeit zu durchbrechen und sich die Frage vorzulegen, ob denn der Republikanismus auch Vernunftsgründe für sich reklamieren kann. Daß hinter der Gründung der Vereinigten Staaten ein gewaltiges historisches Einflußpotential steckte, war vielen einsichtigen und weitsichtigen Geschichtsphilosophen durchaus klar. Am hellsichtigsten hat sich dabei Leopold von Ranke erwiesen. Für Ranke geriet das amerikanische Politikexperiment zum Lehrstück über die 73 Walter Grab: Leben und Werke norddeutscher Jakobiner. Stuttgart 1973, S.17. 74 Ebd. 75 Ebd. 78 Brief Georg Forsters an seine Frau in Neufchatel (Mainz, den 28. Januar 1793). In: Georg Forster's sämtliche Schriften. Herausgegeben von dessen Tochter und begleitet mit einer Charakteristik Forster's von G. G. Gervinus. Band VIII: Briefwechsel. Leipzig 1843, S. 321. 11 Ebd. 76 Die USA waren ein durch und durch antifeudales, liberales Land. Zu Recht schreibt Hans Kohn : "From the beginning of its national existence the United States ... was a middle class nation in the tradition of Locke . .. Property and rank were based not primarily, as they were in eighteenth century continental Europe, on birth and inheritance, but on labor, on individual initiative, thrift and character" (Hans Kohn: American Nationalism. An Interpretative Essay. New York 1957, S. 18).
2. Liberalismus, Republik und Monarchie
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Obsoleszenz der Monarchie und die Modernität der republikanischen Staatsform. In rücksichtsloser Konsequenz habe es Amerika unternommen, dem monarchischen Prinzip den Kampf anzusagen. "Bisher hatte man in Europa gemeint, daß die Monarchie den Vorteil der Nation am besten verstehe, jetzt kam die Theorie auf, die Nation müsse sich selbst regieren. Jetzt erst bekam die Repräsentationstheorie ihre volle Bedeutung, nachdem sie einen Staat gebildet hatte; dahin zielten nun alle revolutionären Bestrebungen der späteren Zeit. Die junge Republik nahm durch die eigene Propagationsfähigkeit jener Generation und durch den fortwährenden Zuzug aus Europa einen ungemein raschen Aufschwung, so daß jetzt die Nordamerikaner eine der größten Nationen der Welt geworden sind, die unaufhörlich auf Europa einwirkt. Dies war eine größere Revolution, als früher je eine in der Welt gewesen war, es war eine völlige Umkehr des Prinzipes. Früher war es der König von Gottes Gnaden, um den sich alles gruppierte; jetzt tauchte die Idee auf, daß die Gewalt von unten aufsteigen müsse79." Die Besinnung auf den historischen Stellenwert des amerikanischen Politikexperimentes brachte auch Thomas Paine zu der Einsicht, daß in den USA eine neue Periode der Weltgeschichte begonnen hatte. Hier handele es sich um ein Politikexperiment, das keineswegs nur Wiederholungscharakter aufweise, sondern als Variation einer höheren Entwicklungsstufe der Menschheit aufzufassen sei. Paines Analyse der Gründung der amerikanischen Republik gerät zu einem panegyrischen Lobpreis einer Entwicklung, die die Menschheit endgültig von aller Unterdrückung und aller Knechtschaft befreien werde. Unter dem zukunftsorientierten Blick des demokratisch gesinnten Autors wird eine Geschichtskonzeption entwickelt, die die Gründung der USA als eine Renaissance altgriechischer Demokratievorstellungen und Politikpraxen begreift. "Auf dieses System ist die amerikanische Regierung gegründet. Sie ist Repräsentation, verpflanzt auf Demokratie. In ihr ist die Form so festgesetzt, daß sie in allen Fällen mit den Prinzipien einhergeht. Was Athen im kleinen war, wird Amerika im großen sein. Das eine war das Wunder der alten Welt, das andere wird zum Vorbild und Gegenstand der Bewunderung der gegenwärtigen80. " 79 Leopold von Ranke: Weltgeschichte. Neunter Teil. Erste Abteilung. Zeiten des Übergangs zur modernen Welt. Hrsg. von Alfred Dove und Georg Winter. Leipzig 1888, S. 215 f. 80 Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. S. 285. Paine wendet sich mit Verve dagegen, die Machtfülle des amerikanischen Präsidenten zum Anlaß zu nehmen, ihn mit den gekrönten Häuptern der alten Welt auf eine Stufe zu stellen. Da die amerikanische Ordnungsposition vom demokratischen Politikideal her konzipiert sei, weise sie keinerlei Ähnlichkeit mit dem Monarchismus auf. Die demokratische Art und Weise, wie er in sein einflußreiches Amt berufen wurde, unterscheide den amerikanischen Präsidenten grundsätzlich von jedem König der alten Welt. "Die Regierung Amerikas, die
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Das republikanische Prinzip, das in Amerika eine so glänzende Bestätigung gefunden hatte, rückte nun ins Zentrum des welthistorischen Interesses. Auch wenn die Monarchie in den übrigen Teilen der Welt keineswegs ausgerottet wurde, so hat die amerikanische Revolution auf lange Sicht gesehen, den Republikamsmus nachhaltig gestärkt Willhelm Mommsen zufolge wurden "die überkommenen politischen Anschauungen . . . jetzt überall recht fragwürdig und standen . . . in der Abwehr gegen neue politische Ideen" 81 • Für viele antimonarchistisch gesinnte Liberale stellte sich die weitere Entwicklung als eine stetige Zurückdrängung des monarchischen zugunsten des republikanischen Prinzips dar. In immer neuen Anläufen und Variationen haben die progressiven Kräfte versucht, dem monarchischen Staatsprinzip den Garaus zu machen und die politischen Gemeinwesen im Horizonte des weitaus liberaleren republikanischen Prinzipes anzusiedeln. Zu den Repräsentanten dieser Denkschule gehört auch der amerikanische Präsident Woodrow Wilson. Ihm zufolge läßt sich der unaufhaltsame Sieg des republikanischen über das monarchische Prinzip besonders deutlich an der französischen Verfassungsentwicklung exemplifizieren und demonstrieren. "Jeder Regierungswechsel, der in Frankreich seit der Revolution stattgefunden hat, brachte, und wenn er noch so gewaltsam war, einen weiteren Schritt zur Errichtung repräsentativer und wirklich republikanischer Einrichtungen82 ." Diese brachen sich gänzlich auf dem Repräsentativsystem beruht, ist ihrem Wesen und ihrer Praxis nach die einzig wirkliche Republik, die heutzutage existiert. Seine Regierung hat keinen anderen Zweck als die öffentlichen Angelegenheiten der Nation; daher ist Amerika eine Republik im eigentlichen Sinne; und die Amerikaner haben dafür gesorgt, daß stets dies und nichts anderes der Zweck ihrer Regierung sei, indem sie alles Erbliche verworfen und die Regierung allein auf das Repräsentativsystem begründeten" (ebd., S. 283). 81 Wilhelm Mommsen: Größe und Versagen des deutschen Bürgertums. S. 15. Wilhelm Rasbach macht auf die eigenartige Tatsache aufmerksam, daß der Anstoß zur Gründung eines republikanischen Großstaats nicht vom Kontinent kam. Dabei waren in Europa republikanische Staatswesen keineswegs inexistent. Offensichtlich war ihre Wirkkraft zu gering, um auf dem Kontinent einen Großstaat ins republikanische Lager ziehen zu können. Rasbach schreibt: "Im 18. Jahrhundert gab es ungefähr 70 Republiken: die etwa fünfzig deutschen Reichsstädte, die Republik der Vereinigten Niederlande, die Schweizer Republiken, Venedig und Genua, Lucca und San Marino. Die meisten waren aristokratische Republiken." (Wilhelm Hasbach: Die moderne Demokratie. Eine politische Beschreibung. Zweite Auflage. Jena 1921, S. 31). Allen diesen Republiken war es allerdings nicht möglich, aus sich heraus zum Aufstieg der modernen Demokratie beizutragen. "Nicht in ihnen ist die moderne demokratische Bewegung entstanden, sondern im Gebiete der heutigen Vereinigten Staaten, welche damals als englische Kolonien Einrichtungen besaßen, die man als konstitutionelle bezeichnen kann" (ebd.). 82 W oodrow Wilson: Der Staat. Aus dem Amerikanischen. Berlin und Leipzig 19131 S. 193.
2. Liberalismus, Republik und Monarchie
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allmählich und erfolgreich Bahn. "Obwohl Ludwig XVIII. hartnäckig an dem göttlichen Recht der Könige festhielt und für sich und seine Minister das ausschließliche Recht der Initiative in Fragen der Gesetz~ gebung beanspruchte, stimmte er doch der Einrichtung eines, aus zwei Kammern bestehenden Parlaments zu und machte sogar die weitere Konzession der Ministerverantwortlichkeit83." Ähnlich gab "Ludwig Philipp ... die Illusion vom Gottesgnadentum auf, erkannte die Souveränität des Volkes an und teilte sich mit den Kammern in das Recht der gesetzgeberischen Initiative"84 • Selbst "Napoleon III. hatte bereits der Bewilligung der Ministerverantwortlichkeit zugestimmt, als ihn der Krieg mit Deutschland vom Thron fegte und die heutige Republik geboren wurde" 85• Auch für Hermann Heller stellt sich die Geschichte der Monarchie im 19. Jahrhundert als die Geschichte des Verlustes ihrer Legitimität dar. Die Höhepunkte diese Legitimitätsverfalls sind in dem Versuch zu erblicken, diese Staatsform nicht mehr romantisch und transzendent zu rechtfertigen, sondern rein machtpolitisch. Dies sei bei Heinrich von Treitschke der Fall gewesen86• Dabei kreise das Selbstverständnis der modernen Demokratie zu sehr um den Gedanken der Selbstbestimmung des Volkes, als daß es sich mit der monarchischen Staatsidee abfinden könne. Augenfälliges Anzeichen für die Alters~ schwäche der monarchischen Ordnungsidee war für Heller die Einführung der parlamentarischen Monarchie im Deutschen Reich. "Damit war der Staat von unten konstruiert, das monarchische Prinzip gefallen; zu spät, um nicht nach wenigen Tagen auch die parlamentarische Monarchie mitzureißen87." Die schmale Legitimationsbasis, auf der die deutsche Monarchie ruhte, erwies sich als zu schwach, um in der Neu~ zeit diese Staatsform perpetuieren zu können. "Die nur noch auf dem Gedanken der politischen Zweckmäßigkeit fundierte Monarchie wa:r im Augenblick der Nichtbewährung ohne irgendwelchen nennenswerten Widerstand den demokratischen Gewalten erlegen88." Den Sieg der republikanischen Zeit dokumentiere auch die Tatsache, daß Rindenburg auf die Republik vereidigt wurde. "Wie sehr die nationale Idee den monarchischen Legitimitätsanspruch überwältigt hat, zeigte sich am 5. Mai 1925, als der repräsentativste Offizier des monarchischen Heeres den Eid auf die republikanische Verfassung leistete89. " 83 84 86
Ebd. Ebd. Ebd.
86 Hermann H eller: Die politischen Ideenkreise der Gegenwart. Breslau 1926, s. 43. 87
88 89
Ebd., S. 47. Ebd. Ebd.
4 J. B. Müller
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Il. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
Mögen auch einige Autoren des liberalen Ideenkreises sich noch so antimonarchistisch gebärden, mag die Republik die typische Staatsform vieler liberaler Gemeinwesen sein, es wäre doch ein großer Fehler, wollte man die starken monarchischen Tendenzen in der liberalen Demokratie übersehen. So gibt es nicht wenige liberale Autoren, die im Gegensatz zu Thomas Paine in der Monarchie keine von vorneherein antidemokratische Staatsform erblickten, sondern durchaus der Auffassung sind, daß sich demokratische, liberale und monarchische Bestimmungselemente zu einem sinnvollen Ganzen verbinden lassen. Die antipaternalistische Grundhaltung kann sich also durchaus mit einem herzhaften Bekenntnis zur Monarchie vertragen. Was die Frühzeit des Liberalismus00 anlangt, so haben sich so einflußreiche Vertreter dieses Ideenkreises wie J ohn Locke91 und Immanuel Kant92 für eine monarchische Staatsspitze ausgesprochen. Diejenige monarchische Verfassungsordnung, die von Locke entscheidend geprägt wurde, wurde nicht zuletzt von freiheitlich gesinnten Franzosen als vorbildlich angesehen. In der englischen Ordnung schien es gelungen zu sein, die Prinzipien der Freiheit und der starken Staatsführung auf glückliche Weise miteinander zu verbinden93 • Lord Acton hat darauf hingewiesen, in wie starkem Maße dieser Aspekt des englischen Systems liberal gesinnte Franzosen beeindruckte9'. Die Wert90 Die französische liberale Ideologie des 18. Jahrhunderts votierte eher für die Monarchie. "Die Vorstellung von der Heiligkeit des Königtums hat sich so tief in die Seelen eingeprägt, daß nicht ein einziger von den französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Abschaffung der Monarchie verlangte" (Walter Sulzbach: Imperialismus und Nationalbewußtsein. Frankfurt/M. 1959, S. 148). Zum Monarchieverständnis Voltaires vgl. Peter Gay: The Enlightenment in the History of Political Theory. In: Political Science Quarterly 69 (1954), S. 385 f. 91 Sosehr Locke die absolute Monarchie ablehnte, sowenig konnte er sich einen Staat ohne königliche Spitze vorstellen. Er war ein dezidierter Parteigänger der "gemäßigten Monarchie" (über die Regierung. S. 128). Dabei dachte sich der Befürworter des Gewaltenteilungsprinzips die Position des Monarchen keineswegs machtlos. Wenn der König Locke zufolge in Übereinstimmung mit dem Parlament handelt, kann er kaum mächtig genug sein. "Ein guter Fürst nämlich, eingedenk des in seine Hände gelegten Vertrauens und auf das Wohl seines Volkes bedacht, kann gar nicht genug Prärogativgewalt, d. h. Macht, Gutes zu tun, haben" (ebd., S. 131). 92 Republikanismus und Monarchie lassen sich Kant zufolge durchaus miteinander verbinden. Vgl. dazu seine Abhandlung: Zum ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf. Königsberg 1795, S. 25 ff. und passim. 93 Woodrow Wilson schreibt nicht ganz zu Unrecht, daß "alle großen Nationen unserer Zeit einen großen Teil ihres politischen Denkens und noch mehr ihrer politischen Praxis" dem Beispiel Englands entnommen haben (Der Staat. 1913, S. 414 f.). Neben dem römischen Volk, das der Erde die Grundlage der Rechtssysteme gegeben habe, gebühre den Engländern das Verdienst, der Welt gezeigt zu haben, wie man eine liberale Demokratie praktiziert (ebd.). 94 Lord Acton: Sozialismus. Aus Briefen an Mary Gladstone. 1880-1881. In: Revolution oder Freiheit. Stuttgart 1952, S. 29 (Klassiker der Staatskunst
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schätzung der englischen Institutionen war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders groß 95 • Es war Montesquieu, der den entscheidenden Anstoß zur Englandverherrlichung gab. Das Studium der englischen Institutionen führte ihn dazu, die Monarchie zu akzeptieren. "Er war ursprünglich von der Meinung ausgegangen, daß Könige ein Übel seien, und nicht einmal ein notwendiges, und daß ihre Zeit abgelaufen sei96." Seine Reise nach England hatte sein Urteil über die Monarchie verändert. Er lernte im "England Walpoles ... ein System kennen, durch welches das Königtum gerechtfertigt werden konnte" 97 • Dabei bekannte er sich "nach wie vor zu dem Grundsatze, daß die Republik die Herrschaft der Tugend bedeute, wobei er unter ,Tugend' die Liebe zur Gleichheit und Selbstverleugnung verstand. Doch nun hatte er eine Monarchie gesehen, die durch Korruption blühte, und erklärte darauf, das unterscheidende Merkmal der Monarchie sei nicht die Tugend, sondern die Ehre98 ." England erschien Montesquieu nicht Band 9). Vgl. dazu auch Joyce Appteby: "Educated Frenchmen had lang honored England as the most free of all European nations ... Frenchmen associated England with parliamentary government and public freedom. For travelling Frenchmen, a visit to England was an exhilarating experience. Englishmen seemed to have the best of two worlds: vigorous political institutions capable of accomodating change blended with a popular respect for tradition that invested English forms with an awesome, dignified beauty" (America as a Model for the French Radical Reformers. In: William and Mary Quarterly 28 [1973], S. 270). 95 David WiHiams: French Opinion Concerning the English Constitution in the Eighteenth Century. In: Economica 10 (1930), S. 296. Nicht zuletzt war es VoUaire, der in dem englischen politischen Gemeinwesen dasjenige Maß an politischer Freiheit verwirklicht sah, nach dem er in Frankreich umsonst verlangt hatte. Er schreibt: "Ce fut Ht l'epoque de la vraie liberte de l'Angleterre. La nation, representee par son parlement, fixa les bornes, si longtemps contestees, des droits du roi et de ceux du peuple" (Siecle de Louis XIV. Edition Classique. Paris 1856, S. 178). Ähnlich schreibt de Lotme: "Quant au philosophe, chaque fois que ses reflexions tombent sur le sort constant des societes civiles parmis le!! hommes, et qu'il observe en soupirant les causes nombreuses et puissantes qui paraissent les entrainer tous inevitablement a un etat incurable d'esclavage politique, il peut se consoler en voyant que la liberte a enfin decouvert son secret au genre humain, et s'est assure un asile" (Constitution de l'Angeleterre. Cinquieme Edition. Paris 1819, S. 535). 9e Lord Acton: Sozialismus. S. 29. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 29 f. Mau1·ice Duverger hat den modern-liberalen Charakter der Monarchiekonzeption Montesquieus zu Recht betont. Er schreibt: "An den Ideen Montesquieus läßt sich diese Besonderheit sehr gut illustrieren, denn sie sind die Theorie einer beschränkten Monarchie, beschränkt durch Repräsentativversammlungen, in denen die ,Noblesse de robe', die aus dem Großbürgertum hervorgeht, einen bedeutenden Platz einnehmen soll. Montesquieu stellt in gewisser Weise den Übergang zwischen dem Herzog von Saint-Sirnon und dem modernen P arlamentarismus dar, doch sind der objektive Geist dieses Begründers einer politischen Wissenschaft, die auf der Beobachtung der Tatsachen beruht, . .. dem modernen Liberalismus näher als der altertümliche Feudalismus von Saint-Simon, dem Autor der ,Me-
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zuletzt deswegen als das freieste Land der Erde, weil die Macht der Krone entscheidend geschwächt, weil das Parlament ihren Herrschaftsgelüsten erfolgreich entgegenzutreten in der Lage war. "L'Angeleterre est a present le plus libre pays qui soit au monde, je n'en excepte aucune republique; j'appelle libre, parce que le prince n'a le pouvoir de faire aucun tort imaginable a qui que ce soit, par la raison que son pouvoir est contröle et borne par un acte; mais, si la chambre devenoit maitresse, son pouvoir seroit illimite, parce qu'elle auroit en meme temps la puissance executive; au lieu qu'a present le pouvoir illimite est dans le parlament et le roi, et la puissance executive dans le roi, dont le pouvoir est borne. Il faut donc qu'un bon Anglais eherehe a defendre la liberte egalerneut contre les attentats de la couronne et ceux de la chambre99 ." Die Bejahung der liberalen Monarchie Englands durch die kontinentalen Liberalen hat ihr Pendant in der Forderung, auch auf dem Kontinent die monarchische Staatsform mit freiheitlichen politischen Institutionen zu verbinden. Ihre Perspektive ist gerichtet auf jene Politikpraxis, die in England zu einer vernünftigen Verbindung von überkommenen Prinzipien und modernen Ordnungsvorstellungen geführt hat100• Sie sind zugleich überzeugte Anhänger der Monarchie als auch der liberalen Ordnungskonzeption. Diese Verbindung der beiden Topoi wird besonders bei M. Mounier überdeutlich in den Blick gehoben. Daß er die Monarchie als die beste aller Staatsformen empfindet, darüber läßt er keinen Zweifel. "Quel gouvernement convient donc le plus a une grande Nation? Il est impossible d'hesiter dans la reponse: c'est le gouvernement Monarchique101 ." Und genauso überzeugungsstark hält er dafür, daß die Monarchie mit den Prinzipien einer liberalen Staatsverfassung verbunden werden muß. Ganz auf einen freiheitlichen Grundton gestimmt, fordert er die Beschränkung der monarchischen Macht durch liberale Institutionen. "Quels moyens doivent etre destines a empecher le Roi d'abuser de la force publique, pour faire executer ses volontes particulieres, pour s'emparer exclusivement de la puissance legislative? Ces moyens sont tres-simples & tres-connus; la permanance ou le retour annuel des Assemblees Nationales . . . la liberte de la presse102." moires"' (Demokratie im technischen Zeitalter. Das Janusgesicht des Westens. Aus dem Französischen. München 1973, S. 47). 89 Montesquieu: Notes sur l'Angleterre. In: Oeuvres completes de Montesquieu. Tome deuxieme. Paris 1880, S. 444. 1oo Vgl. dazu auch H. J. Laski: The English Constitution and French Opinion, 1789-1794. In: Politica 3 (1938), S. 32 und passim. 101 M. Mounier: Considerations sur les gouvernemens. Versailles 1789, S. 21. 102 Ebd., S. 25. In der Revolutionszeit waren es allerdings nur wenige liberal und demokratisch gesinnte Franzosen, die die englische Verfassung als
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Der italienische Historiker Guido de Ruggiero ist der Auffassung, daß die französische Juli-Monarchie von demjenigen Geiste inspiriert gewesen sei, der in England die Glorious Revolution und ihre Verfassungsvorstellung beherrscht hatte. Frankreich holte also die englische Entwicklung nach, versuchte wie das Inselvolk die Monarchie mit liberalen Institutionen zu verbinden. "Die Revolution des Jahres 1830, von der die Dynastie der Bourbonen vom Thron verdrängt und die jüngere Linie der Orleans eingesetzt wird, ist sozusagen eine konservative Revolution, die mit der englischen von 1688 eine nicht geringe Verwandtschaft besitzt ... Das Bürgertum erhält von Louis Philipp die konstitutionelle Charte, die sich von der vorhergehenden aus dem Jahre 1814 darin unterscheidet, daß die ungern gesehene Prämisse eines einseitigen Zugeständnisses des Königs fällt und durch die Idee eines zweiseitigen Vertrags zwischen Monarch und Volk ersetzt wird 103." Dabei wird "jede Beziehung zum Legitimismus der Restauration ... abgebrochen; das Bürgertum hat endlich eine Regierung, die ganz ihm gehört" 104 • Die englische Monarchie der Neuzeit und die französische JuliMonarchie waren von einem Geist geprägt, der kaum mehr auf die Formel des "Divine Right of Kings" gebracht werden konnte. Von der allgemeinen Demokratisierungsbewegung blieb auch die Monarchie nicht verschont. Sie wurde Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Allerdings repräsentierte sie auch die Gleichzeitigkeit des Nichtgleichzeitigen. Es bleibt dem einzelnen Interpreten überlassen, ob er die Monarchie als diejenige Kraft definiert, die sich auch in der bürgerlichen Gesellschaft zu behaupten weiß, oder als eine Institution, die nun dem modern-demokratischen Sog der Neuzeit anheimgefallen ist. Karl Loewenstein scheint zu den Autoren zu gehören, die die Monarchie lediglich als Appendix der bürgerlichen Gesellschaft interpretieren. Ihm zufolge hat die Monarchie einen entscheidenden Gestaltwandel erfahren. Nun beherrscht auch das liberale das monarchische Prinzip. "Die französische Julirevolution von 1830 und die belgisehe Verfassung (Charte) von 1831 legten jedoch für die westliche Welt - und damit vorbildlich priesen. "This small group of admirers of England soon lost whatever power they may once have had" (David Williams: French Opinion Concerning the Constitution in the Eighteenth Century, S. 307). In der Revolutionszeit war dann das Bekenntnis zur englischen Verfassung identisch mit der Unterstützung der Reaktion. "By the time that the Jacobins had arrived at power, the profession of enthusiasm for English constitutions was alsmost equivalent to the expression of counter-revolutionary sentiments" (H. J. Laski: The English Constitution und French Public Opinion, 1789-
s. 31). Guido de Ruggiero: Geschichte des Liberalismus in Europa. Aus dem Italienischen. München 1930, S. 168. 104 Ebd., S. 169. 1794, 103
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letztlich für die gesamte- Welt das Übergewicht des Parlaments über den Herrscher endgültig fest105 ." Der Volkswille bestimmte nun seine Rechtmäßigkeit. "Seine Legitimität fußte von nun an nicht mehr auf göttlichem und ererbtem Recht, sondern auf dem Volkswillen. Aus dem Herrscher von Gottesgnaden wurde der Fürst von Volkes Gnaden106 .'' Allerdings ist es keineswegs der radikaldemokratische, sondern der rechtsliberale Geist, der die neuen Monarchien bestimmt. Es macht in der Tat die Eigenart der liberalen Verbindung von Monarchie und demokratischen Institutionen aus, daß dieses Amalgam zur Verteidigung der besitzbürgerliehen Ordnung gegen sozialistische Angriffe geschaffen wurde. Die Juli-Monarchie versucht, die sozialistische Bewegung zu inhibieren, ihre Ausbreitung im Kern zu ersticken. Gerade aus dem Blickwinkel des besitzbürgerliehen Interesses geben sich interessante Einblicke in die Legitimierung der Julimonarchie. Irene Collins hat darauf hingewiesen, in wie starkem Maße dem König die Aufgabe zukam, die Angriffe auf die Eigentumsrechte der besitzenden Klasse Frankreichs abzuwehren. Der Bürgerklasse ging es darum, die Monarchie mit liberalen Bestimmungsmomenten zu versehen, so daß sie als Garant der bürgerlichen Ordnung fungieren konnte. "They recognised the value of kings as centres of loyalty, as permanent heads of society, as defenders of government institutions against popular attack107.'' Sie rangen dem absoluten Monarchen ihren Anteil an der Gesetzgebung ab und verlangten vom konstitutionellen König die Verteidigung der bürgerlichen Ordnung. "What they really wanted to do was ... to grant parliaments and other free institutions and then help in defending themtos.'' Diese besitzbürgerliche Einfärbung der Monarchie hat die französischen Liberalen keineswegs davon abgehalten, der englischen Verbindung von bürgerlichem Staat und Monarchie weiterhin das Wort zu reden. Vor allem die Erfahrung mit der Revolution von 1849 und mit dem Kaiserreich Napoleons III. veranlaßten sie, die englische Verfassung als vorbildliche Konstitution zu preisen. Erschüttert von der illiberalen Entwicklung in seinem Heimatland, bekennt sich Montalerobert zur englischen Konjunktion von Monarchie und Demokratie. "Ich 105 Kart Loewenstein: Die Monarchie im modernen Staat. Frankfurt am Main 1952, S. 25. tou Ebd. 107 lrene CoHins: Liberalism in Nineteenth-Century Europe. London 1971, S. 11. Ähnlich hat Kropotkin darauf hingewiesen, daß die französische Bourgeoisie unter den Fittichen des Königtums ihre ökonomische Herrschaft stabilisieren wollte. "Allmacht der Bourgeoisie durch das Parlament unter dem Deckmantel des Königtums - dies war ihr Ziel" (Peter Kropotkin: Worte eines Rebellen. S. 115). 108 Ebd.
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ziehe das englische System vor, welches noch heute den stolzesten Aristokraten wie den wildesten Liberalen zwingt, vor der Königin auf ihrem Throne das Knie zu beugen, um ihr die Rede zu überreichen, welche die Minister der parlamentarischen Majorität ihr in den lVIund legen, und welches diese demüthige Stellung wählt, um dem Königtume die Grenzen seiner lVIacht und die Bedingungen seiner Dauer ins Gedächtniß zurückzurufen109." Entgegen anderslautenden Auffassungen teilte sich der liberale Geist auch der konstitutionellen Monarchie Deutschlands mit. Diese Entwicklung wurde besonders genau von denjenigen diagnostiziert, die ihr ablehnend gegenüberstanden. So schreibt Carl Schmitt: "Die liberale Demokratie stieß im 19. Jahrhundert außerhalb Deutschlands, in Europa und in der ganzen Welt, wie auch innerhalb Deutschlands mi,t schicksalhafter Unwiderstehlichkeit vor. Viele Beobachter erwarteten schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, daß sie jeden Damm zerreißen werde110." Schon Carl von Rotteck war der Auffassung, daß sich die Institution der Monarchie mit der liberalen Ausgestaltung eines politischen Gemeinwesens vereinbaren läßt. Er ist sogar der Meinung, daß die republikanische Gesinnung sich in einem monarchischen Staat besser aufgehoben fühlen kann als in einem nichtmonarchischen. Es vertrage sich "der republikanische Geist . .. gar wohl mit monarchischer Form" 111• Bei Lichte besehen herrsche dieser "in wohlgeregelter Monarchie weit sicherer ... als in der Demokraten sturmbewegtem Reich"m. In wie starkem Maße sich der Liberalismus mit dem monarchischen Ordnungsgedanken aussöhnte, dafür ist auch F. C. Dahlmann ein augenfälliges Beispiel. Seine Bejahung der Monarchie nährt sich zu einem 109 Graf von Montalembert: Über die politische Zukunft Englands. Aus dem Französischen. Augsburg 1857, S. 38. 11° Carl Schmitt: Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches. Harnburg 1934, S. 16. An einer anderen Stelle seiner Abhandlung schreibt Schmitt: "Die ganze liberale Litanei von Rechtsstaat gegen Polizeistaat, Volksstaat gegen Obrigkeitsstaat, Genossenschaft gegen Anstalt, Verfassung gegen Diktatur ... setzte ihre Sprach- und Denkweise in den verschiedenen Schichten des geistigen und gesellschaftlichen Lebens durch" (ebd., S. 18). 111 Carl von Rotteclc: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten. Für denkende Geschichtsfreunde bearbeitet. Neunter Band. Siebte Auflage. Freiburg im Breisgau 1830, S. 867 f. 112 Ebd., S. 868. C. F. D. Schubart hat die englische Verfassungswirklichkeit gepriesen. Er war der Meinung, daß in diesem Lande Liberalität und Monarchie in einer vorbildlichen Weise verbunden wurden. "Hartsinnig halten sie auf ihre Regierungsform; setzen sich dem Strom der Neuerungen entgegen, und wagen es mit unbeugsamen Mute, die Wahrheit dicht vor den Schranken des Gerichts, oder am Fuße des Throns zu sagen" (C. F . D. Schubart: Des Patrioten, gesammelte Schriften und Schicksale. Sechster Band. Stuttgart 1839, S. 150.
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nicht geringen Grad aus der stabilitätsspendenden Kraft der monarchischen Staatsverfassung. "Die Mehrzahl des Volks bedarf zu allen. Zeiten dieser verständlichsten und gemüthvollsten aller Regierungsweisen, und unzählige Male hat sich an die alte Treue für ein angestammtes Haus die Erhaltung des ganzen Staats geknüpft113." Die Monarchie zügelt aber nicht nur den Machthunger des Volkes. Sie ist auch ein Palliativ gegen die Machtgelüste der Oberschicht. "Die gebildete Minderzahl bedarf aber ihrer vielleicht noch mehr, als einer unübersteiglichen Schranke für persönlichen Ehrgeiz, dieser Wucherpflanze der Bildung114." Seine Kritik am radikal republikanischen Gedanken bezieht ihren Antrieb aus der Ansicht, daß die Monarchie in unüberbietbarer Weise die beiden Ordnungsprinzipien Freiheit und Ordnung in ein staatsstabilisierendes, genuin liberales Gleichgewicht bringt. "Wer ... die Monarchie entwurzeln möchte, der vergißt, daß zwar oftmals aus der Ordnung die Freiheit, niemals aber aus der Freiheit die Ordnung hervorgegangen ist115." Nicht zuletzt Friedrich Julius Stahl116 redete vehement und eindringlich einer Verbindung von Demokratie und Monarchie das Wort. Ein unparteilicher und unparteiischer Analytiker wird und muß zu dem Schluß kommen, daß sich Stahl der neuen Zeit, dem Gedanken von der Souveränität des Volkes keineswegs verschlossen hat, sondern ihm weit entgegengekommen ist. Stahls "Progressivität" zeigt sich nicht zuletzt in der Ablehnung aller Patrimonialstaatskonzeptionen, wie sie vor allem von C. L. v. Haller und dem preußischen Hochkonservatismus vertreten wurden. "Der innerste Lebenstrieb des Zeitalters ist gerade die Überwindung jenes älteren Charakters des Ständewesens, der Fortschritt vom ständischen Partikularismus zur nationalen Einheit, vom patrimonialen Charakter der Verfassung zum staatlichen oder konstitutionellen117." Der geschichtliche Fortgang hat die Anhänger ins histo113 F. C. Dahlmann: Die Politik, S. 114 f. Dahlmann bezeichnet die Monarchie als eine "tiefsinnige Verfassung" (ebd., S. 114). Aus diesem Grunde lobt Dahlmann nicht von ungefähr die englische Politikordnung. "Dergestalt hat England, dem Manne gern vertrauend, der für die Sache der Freiheit auch edel zu leiden verstanden hatte, sich das freiheitliche Element aus Lockes Theorie bewundernd angeeignet, und sich durch seinen Familiensinn, durch die sittliche Kraft seines gediegenen Mittelstandes, durch den Tact der Einsicht, der das Ganze durchdringt, vor der Anwendung der Corrective bewahrt, auf welche seine Bürger stolz sind, die aber ins Leben übergetragen, einen alles verschlingenden Abgrund unter ihnen öffnen würden" (ebd.,
s. 225).
Ebd., S. 115. Ebd. 116 Vgl. dazu Christian Wiegand: Über Friedrich Julius Stahl (1801-1862). Recht, Staat, Kirche, Faderborn 1981. 117 Friedrich Julius Stahl: Das monarchische Prinzip. Eine staatsrechtlichpolitische Abhandlung. Mit einem Nachwort von Mario Krammer. Berlin o. Jahr, S. 6. 114
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rische Unrecht gesetzt, ihre Ordnungsvorstellungen ins absolute Abseits gedrängt. "Die ständische Verfassung nach der konsequenten Theorie der Hallersehen Schule hat deshalb keine praktische Bedeutung in sich, sondern nur in der Abwehr des neueren Ständewesens. Ein System aber, daß bloß in seiner negativen Seite Realität hat, dessen positive Seite dagegen nie eine Wahrheit werden kann und werden soll, kann einem lebendigen, realisierbaren, wenn auch noch so irrigen System nicht gegenübergestellt werden. Damit, daß man ihm ein anderes Bette ankündigt, das man doch nicht bereiten kann, leitet man den mächtig anwogenden Strom nicht abn8 ." Auf der Suche nach historischen Beispielen für eine sinnvolle und geglückte Verbindung von monarchischen und demokratischen Wirkprinzipien darf auch der deutsche Konstitutionalismus nicht außer acht gelassen werden. Viele Autoren machen den Fehler, durch die Konzentration auf die zweifellos vorhandenen autoritären Bestimmungsmerkmale dieses Systems die durchaus auch vorhandenen liberalen und demokratischen nicht wahrzunehmen. Bei genauerem Hinsehen erblickt man, daß im Bismarckreich auch parlamentarische Bestimmungsmomente aufzuspüren sind. Zum Beweis für die parlamentarischen Merkmale dieses Systems wurde und wird immer wieder die einflußreiche Rolle des Reichstags gegenüber der Exekutive angeführt. Er war von Anfang an weit mehr als ein reines Notariat, das dem Willen der Regierung Gesetzeskraft verlieh. Er war ein eigenständiges Willensbildungsorgan, der Regierung keineswegs in blindem Gehorsam ergeben. So hat der Konservative Hans Delbrück darauf verwiesen, daß "der Reichstag bei der Ausarbeitung und Gestaltung der Gesetze sehr eingreifend mitwirkt119 ." Es brauche nicht extra unter Beweis gestellt werden, "daß er auch eigene Ideen durchsetzt, daß er wichtige Vorlagen der Regierung ablehnt und dadurch dauernd verhindert" 120 • Sein Einfluß gehe aber weiter. "Der Reichskanzler Fürst Bülow mußte zurücktreten, als ihm der Reichstag die Erbschaftssteuer ablehnte121 ." Letzten Endes habe 118 Ebd., S. 9 f. Auch der liberale Dahlmann ist der Auffassung, daß Stahl zu den Repräsentanten der neuen Zeit zu r echnen ist. Er hat in ihm den konsequenten Gegendenker zur patrimonialen Ordnungsvorstellung erkannt. "Man muß diesem die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er die Scheidelinie zwischen unserem Staate und dem des Mittelalters mit Sicherheit zu ziehen weiß und darum an der kindischen Verketzerung des Repräsentativsystems keinen Teil nimmt" (Die Politik. S. 235). Allerdings "verschreibt er politische Freiheit in homöopathischen Tropfenteilchen" (ebd.). 119 Hans Delbrilck: Regierung und Volkswille. Eine akademische Vorlesung. Berlin 1914, S. 60. 120 Ebd. 121 Ebd. Delbrilck v erweist auch auf das allgem eine Wahlrecht des Bismarckreiches. "Deutschland ist derjenige Staat, der zuerst von allen euro-
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Bismarck äußerst schmerzlich erfahren müssen, daß das Parlament einen Kanzler sogar zum Rücktritt zwingen könne. "Der Reichstag hat eine ungeheure Einwirkung auf unsere inneren Zustände gehabt und hat den Gründer des Reichs und seinen eigenen Schöpfer schließlich am Abend seines Lebens zum Rücktritt gezwungen122." Aus diesem Grunde sei die Vorstellung, "der Reichstag sei bei uns eigentlich nur eine Dekoration, grundfalsch" 123• Statt den angeblich kontradiktatorischen Gegensatz zwischen der englischen parlamentarischen Monarchie und der deutschen konstitutionellen Monarchie zu betonen, sollte man darauf hinweisen, daß das deutsche System in sich Bestimmungsmerkmale aufwies, die es notwendigerweise zum Vorläufer der Parlamentarisierung machten. Auf diese Weise erscheint der 28. Oktober 1918 in einem Licht, das die in Rede stehenden Gegensätze eher einebnet als betont. Diese Ansicht teilt auch Ernst Wolfgang Böckenförde, wenn er schreibt: "Die Bedeutung der konstitutionellen Monarchie liegt ... nicht in der (angeblichen) Verbindung von monarchischem Prinzip und Repräsentativprinzip zu einer eigenen, deren Gegensatz aufhebenden politischen Form ..., sondern in der Ermöglichung eines kontinuierlichen, auf einer Reihe von Kompromissen beruhenden Übergangs von monarchischer zu parlamentarischer Regierung, von der Monarchie zur Volkssouveränität124." Die liberalen Elemente in der Bismarckschen Verfassung haben nicht zuletzt auch dazu beigetragen, die Herausbildung eines cäsaristischen Regimes zu verhindern. Dem Monarchen standen so viele Gegengewalten gegenüber, daß jeglicher Versuch zur Ausbildung eines derartigen Systems zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. "In Preußen-Deutschland, wo der Prozeß der Reichsgründung die Monarchie zugleich stärkte päischen Großstaaten das allgemeine, gleiche, geheime Stimmrecht, verbunden mit freiem Versammlungs- und Vereinsrecht, eingeführt hat. Frankreich hat das Stimmrecht seit 1851, aber ohne Versammlungs- und Vereinsrecht, das erst 1871, nach dem Sturz Napoleons III., eingeführt wurde. England, Italien, Belgien, Holland haben heute noch nicht das allgemeine, gleiche Stimmrecht" (ebd., S. 147). Darüber hinaus ist auch Deutschland das Land, "das die weitgehendste und in den meisten Gebieten früheste, organische Sozialpolitik gehabt hat, wodurch für die unteren Stände eine Fürsorge getroffen ist, die man jetzt anfängt, in anderen Ländern einigermaßen nachzuahmen" (ebd.). 122 Ebd., S. 64 f. 123 Ebd., S. 65. Vgl. dazu auch Werner Frauendienst: Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms !I. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 113 (1957), S. 721 ff. 124 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert. In: Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Werner Conze. Stuttgart 1967, S. 89.
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und ihre alten Grundlagen beiseite schob, war der Raum für eine auf den charismatischen Staatsmann zugeschnittene Herrschaftsform schmaP25 ." Der Cäsar wäre gezwungen gewesen, mit Erbmonarchie, Staatsbürokratie und Parteienparlament in Kompromissen zu leben125 • Im großen und ganzen blieb deshalb die "Suche nach einem Cäsar im 19. Jahrhundert für Deutschland unerfüllt und unerfüllbar" 127• In Deutschland stellte die anticäsaristische, konstitutionelle Monarchie den Normaltyp der Verfassung dar128• Diese Situation hat sich mit der Weimarer Verfassung allerdings grundlegend geändert. "Die plebiszitäre Ersatzmonarchie, vordem nach latenter Bestandteil der deutschen Verfassungstradition, wird Reserveverfassung für den Notfall129." Im Hintergrunde stehe nun "ohne das Dekorum der Tradition, der omnipotente Ordnungsstifter, durch direkte Volkswahl zur Entscheidung berufen, Ersatzkaiser und Reichspräsident" 130• In Zeiten der Not rekurriert er auf die ungeteilte, durch keine monarchische Traditionen eingeengte Macht. "Wenn die bösen Zeiten kommen, wird er sich auf Reichswehr, Ausnahmezustand und Reichsbürokratie stützen und dabei, gegen Parlament und Parteien, vom Cäsar-Mythos des 19. Jahrhunderts zehren131." Trotz des verminderten Einflusses der Monarchien in der modernen Politikordnung gewinnt für nicht wenige Autoren die monarchische Ordnung ihren Sinn als überzeitlicher Stabilitätsfaktor und als Garant liberaler Politikgestaltung. Wenn es stimme, daß zu den determinierenden Elementen der Monarchie die Sicherheit und die Kontinuität gehöre132, dann müsse man diese positiven Merkmale auch für die Demokratie reklamieren. Walter Lippmann weist darauf hin, daß "die konstitutionellen Monarchien Skandinaviens, die Niederlande und das Vereinigte Königreich viel größere Freiheit zum Beharren und zur Bewahrung von Ordnung und Freiheit gezeigt haben als z. B. die Re125 Michael Stürmer: Die ratlosen Europäer auf der Suche nach dem neuen Cäsar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 179, 14. August 1976. t2s Ebd. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd. 1ao Ebd. 131 Ebd. 132 Dagegen behauptet Reinhard Bendix, daß sich die Monarchie von anderen Staatsformen durch ihre Instabilität unterscheidet. "Die Länder, die von Königen beherrscht wurden, mögen sich in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht nur langsam gewandelt h aben: politisch waren sie der Schauplatz blutigen Unfriedens" (Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat. Erster Teil. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt am Main 1980, S. 320). Bendix spricht von der "fast universellen politischen Instabilität" der Monarchien (ebd.).
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publiken von Frankreich und Deutschland" 133• In einem republikanischen Gemeinwesen büße "die Regierungsgewalt, weil gänzlich säkularisiert, viel von ihrem Ansehen" 134 ein. Ähnlich argumentiert Graf von Krockow: "Über alle Einzelfragen hinaus aber wird mit der zeitlichen Dimension als Kontinuität eine wesentliche Funktion der Monarchie in der Demokratie sichtbar. Gerade der parlamentarischen Demokratie ist ja in gewissem Sinne das kurzfristige Denken vorprogrammiert ... Aber unverkennbar gibt es ... Gefahren des kurzfristigen Denkens ... Ganz allgemein droht die Auflösung von Geschichte und Zukunft in der Erfolgsmaximierung des Augenblicks135. " Die Monarchie verleihe der auf das Aktuelle ausgerichteten demokratischen Prozedur "Identität durch Kontinuität" 136• Sie sei "das sinnfällige Symbol solcher Kontinuität, ein Zeichen des Vertrauens auf das, was über alle Konflikte hinaus und in allem vordergründigen Wandel noch bleibt" 137• Dabei gewinne die Monarchie in dem Maße an Vertrauen, indem sie sich aus den aktuellen Händeln heraushält und auf diese Weise imstande sei, als politischer Schiedsrichter über den Parteien die Homogenität und Stabilität des Gemeinwesens zu gewährleisten. "Die Institution des Vertrauens muß von allen Trägern der Macht und des Machtkampfes glaubwürdig geschieden sein. Sonst mißrät sie verdeckt zur Partei im Parteienkonflikt, ja verkehrt sich bösartig in ihr Gegenteil. Historisch gesehen handelt es sich um langfristige, manchmal dramatische, meist aber kaum merkliche Entwicklungen, mit denen im Demokratisierungsprozeß Nord- und Nordwesteuropas die Monarchien sich von der Macht lösten und zu zentralen Vertrauensinstitutionen wurden138." Dabei meint Graf von Krockow scharf zwischen der demokratisch eingefärbten Monarchie englischer Provenienz und der antidemokratischen deutschen Monarchie unterscheiden zu müssen. Während die englische Monarchie den demokratischen Emanzipationsprozeß ermöglichte und stabilisierte, sei es der deutschen darum zu tun gewesen, die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft möglichst zu bremsen bzw. zu verhindern. "In Deutschland hat man den Sinn der westlichen Entwicklung niemals recht verstanden, schon gar nicht sie zeitgemäß mit- oder nachvollzogen. Die Monarchie war und blieb eine mächtige Institution ... Sie wurde, auch und gerade nach der Reichsgründung, zum Deckmantel all jener Kräfte, die sich selbst 133
Walter Lippmann: Philosophia Publica. Aus dem Amerikanischen. Mün-
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Christian Graf von Kroclww: Monarchie in unserer Zeit. In: Die Zeit
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chen 1957, S. 69. 134 Ebd., S. 70.
Nr. 19, 2. Mai 1980, S. 16. 137 138
Ebd.
Ebd.
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als ,staatserhaltend' proklamierten, um damit gegen ,Reichsfeinde', ,vaterlandslose Gesellen' und alle Arten von ,Schwarzsehern' zu Felde zu ziehen139." Ebenso nachhaltig und gründlich reflektiert Hans Joachim Schoeps den Zusammenhang zwischen den Gefahren der Demokratie und ihrer notwendigen Eindämmung durch eine monarchische Gegenmacht Wenn es zu den entscheidenden Kennzeichen der Demokratie gehöre, daß sie gelegentlich und tendenziell zu Extremen neige, werde man kaum umhin können, nach einer Ordnungsmacht Ausschau zu halten, die das Überschäumen demokratischer Exzesse effizient zu verhindern in der Lage sei. "Heute haben wir unsere Erfahrungen mit der Revolution, den Staatsformen und Exzessen der Volkssouveränität so weit hinter uns, um zu wissen, daß es wirkliche Rechtsordnung nur geben kann, wenn den Repräsentanten des Volkswillens eine Ordnungsmacht anderer Herkunft gegenübersteht und diesen eine Grenze setzt140." Die Monarchie ist der Repräsentant der Dauer, der Garant der Stabilität. "Im Zeitalter der eingetretenen Volkssouveränität erscheint sie ... als der Schutzdamm für die Legislative gegen zu häufigen Wechsel, gegen ,dynamische' Politik und plötzliche Exzesse141 ." Die Monarchie trage die Demokratie. "Gerade durch ihre traditionelle Amtsautorität vermag heute eine Monarchie den demokratischen Staatsaufbau zu stützen und absolutistische oder faschistische Gefahren abzuwehren 142 ." Sie garantiere vor allem das Funktionieren des liberalen Parteiwesens. "Eine neutrale und moderierende Gewalt an der Spitze des Staatsaufbaus ist dem Funktionieren der Parteiendemokratie ungemein zuträglich, weil im Widerstreit der politischen Kräfte, im ewigen Hin und Her der öffentlichen Meinung ein ruhender Pol durch sie gegeben wird143." Im Horizonte dieser Einsichten habe sich die Einführung der Republik als ein gravierender historischer Irrtum erwiesen. "Die Abschaffung der Monarchie in Deutschland und in Österreich, das dem Innendruck seiner aufgehetzten Nationalitäten unterlag, hatte weltgeschichtliche Folgen144." Die Republik habe "das Vakuum an der Staatsspitze niemals auffüllen können; auf den Ruf ,Mehr Macht dem Reichspräsidenten' kamen dann die in ihrem Zustandekommen immer noch nicht ganz durchsichtigen letzten beiden Präsidialkabinette des Notstandsparagraphen 48 und schließlich der ,Führer und Reichskanzler' Adolf HitEbd. 4° Hans Joachim Schoeps: Kommt die Monarchie? Wege zu neuer Ordnung im Massenzeitalter. Ulm 1953, S. 50. 141 Ebd., S. 51. 142 Ebd. 148 Ebd. 144 Ebd., S. 19. 139
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ler mit einem totalitären Herrschaftssystem der Rechtlosigkeit und des Despotismus. Das Führerturn von Volkes Gnaden enthüllte sich aber bald als das äußerste Gegenstück zur legitimen Monarchie von Gottes Gnaden145." Allein eine Monarchie sei auf Dauer in der Lage, vor aufkeimenden rechtsextremen Machtansprüchen zu schützen146• Es mache auch die Eigenart der Bundesrepublik aus, daß eine republikanische Staatsspitze als Damm gegen die rechtsextremen Fluten kaum ausreiche. Allein die Monarchie schützt nach Schoeps nachhaltig gegen den Rechtsextremismus. "Nur sozial orientierte und geprägte Monarchien sind noch vorzustellen, die als solche die Demokratie stützen und sichern können gegen absolutistische und totalitäre Entwicklungen, in denen schließlich der Wille eines Führers oberstes Gesetz wird. Deutschland ist gegen die Gefahren eines neuen Führerturns so lange nicht immunisiert, als es nicht gelingt, eine legitime oberste Staatsspitze sicherzustellen, dem heutigen gesellschaftlichen Zustand angepaßt141." In einer konstitutionellen deutschen Monarchie werde es darum gehen, "die Ausübung der Regierungsrechte in der Gemeinschaft von Krone und Parlament zum Zwecke wechselseitiger Beschränkung und Kontrolle bindend festzulegen und die Regeln des Zusammenspiels von Monarch und Volksvertretung staatsrechtlich zu fixieren" 148• Auch wenn die Monarchie im herkömmlichen Sinne kaum mehr eine entscheidende Rolle in den modern-liberalen Politiksystemen spielt, so darf dabei doch nicht übersehen werden, in wie starkem Maße selbst 14 ~
146 lU 148
Ebd. Ebd. Ebd.,
s. 67 f.
Hans Joachim Schoeps: Die Ehre Preußens. S. 40. Für eine Verbindung
von Monarchie und Demokratie haben allerdings auch Autoren plädiert, die nicht unbedingt dem liberalen Politikbegriff Reverenz erwiesen. Was Wilhelm Stapel 1928 forderte, entsprang einem Politikbild, das sich wesentlich aus antidemokratischen und antiliberalen Vorurteilen speiste. Bei ihm hat die Monarchie keineswegs die Funktion, die liberale Monarchie auf Dauer zu stellen, sondern eine weitgehend entdemokratisierte Ordnung zu gewährleisten. Wenn Stapel eine "echte konstitutionelle Monarchie für weit demokratischer" (Die Fiktionen der Weimarer Verfassung. Hamburg, Berlin und Leipzig 1928, S. 6) hält als "eine nur durch taktische Rücksichten und WahlzufäHigkeiten gemilderte Partei- und Fraktionsdespotie" (ebd.), dann zeigt allein sein Duktus, daß er einer radikalen Entdemokratisierung von Staat und Gesellschaft das Wort redet. Daß er sich für einen illiberalen Demokratiebegriff ausspricht, gibt Stapel unzweideutig zu erkennen. "Die von Frankreich herüberschlagende, demokratische Bewegung ist aus liberalem Fühlen und Denken entstanden, die deutsche Demokratie aber ... ist volkskonservativer Art" (ebd., S. 8). Typische Vertreter dieser volkskonservativen Demokratiekonzeption seien Adam Müller, Faul de Lagarde, Görres und WHhelm Heinrich Riehl (ebd., S. 8 f.). Infolge des Zusammenbruchs Deutschlands habe die "liberale (westliche) Demokratie ... den Sieg davongetragen" (ebd., S. 12). Die Weimarer Verfassung sei eine "Vergewaltigung des organischen Volkslebens" (ebd.).
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im genuin republikanischen Staat ein monarchisches Moment zu respektieren ist. Eine Vielzahl von Autoren geht deshalb davon aus, daß der Präsident eines republikanischen Systems die Rolle eines "Ersatzmonarchen" spielt. Auch in der konstitutionellen Monarchie des englischen Typs liegt die wahre Macht beim Premier und nicht beim Monarchen. Schon bei Georg Jellinek 149 ist nachzulesen, daß es dem monarchischen Ordnungsgedanken gelungen ist, einen entscheidenden Einfluß auf das republikanische System auszuüben. "Wie innig die moderne Welt mit dem Gedanken der Monarchie verknüpft ist, geht nicht zum geringsten daraus hervor, daß die bedeutsamste, am meisten verbreitete Form der heutigen Demokratie, die Präsidentschaftsrepublik, ihrer politischen Seite nach auf einer Abschwächung des monarchischen Gedanken ruht 150." So sei der "amerikanische Präsident ... bewußt nach dem Vorbild des englischen Königs geschaffen worden" 151 • Immer wieder wurde darauf hingewiesen, daß die amerikanische Verfassung zutiefst durch das monarchische Vorbild Englands beeinflußt sei. So schreibt Henry Maine152 über die amerikanischen Verfassungsväter: "Sie nahmen sich den König von England zum Vorbild, untersuchten seine Rechte und beschränkten dieselben, wo sie ihnen übermäßig oder den Umständen der Vereinigten Staaten unangemessen schienen153." Hätte Maine zufolge Alexander Rarnilton hundert Jahre später gelebt, so würde er gesehen haben, daß der amerikanische Präsident ungleich mächtiger ist als der englische König. "Er hätte sehen müssen, daß das königliche Veto, welches im Jahre 1789 noch nicht für ganz veraltet galt, unwiederbringlich verloren gegangen ist. Er hätte bemerken müssen, daß die Rechte, welche der Präsident mit dem Senate teilt, dem König ganz entzogen sind. Der König kann weder Krieg noch Frieden machen, weder Botschafter noch Richter ernennen, nicht einmal seine Minister. Er kann keinen vollziehenden Akt vornehmen. Alle diese Befugnisse sind auf Herrn Bagehots parlamentarisches Comite übergegangen154." Eine Mehrheit des Senates forderte sogar, den Präsidenten mit dem Titel "His Highness, the President of the United States 149 Georg JeUinek: Allgemeine Staatslehre. 150 Ebd., S. 671. 151 Ebd., S. 670. Vgl. dazu auch Marcus Cuntiffe über George Washington: "He was the prime native hero, a necessary creation for a new country ... For America he was originator and vindicator, both patron and defender of faith, in a curiously timeless fashion, as if he were Charlemagne, Saint Joan and Napoleon Bonaparte telescoped in one person" (George Washington. Man and Monument. New York 1960, S. 20 f.). 152 Henry Summer Maine: Die volkstümliche Regierung. Aus dem Englischen. Berlin 1887. 153 Ebd., S. 137. 154 Ebd., S. 138.
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of America, and Proteetor of their Liberties" 155 anzusprechen. Der Senat stieß allerdings auf den Widerstand des Repräsentantenhauses. Er gab nach, weil er die Beziehungen zum "Unterhaus" nicht über Gebühr belasten wollte156• Es war also keineswegs die Rückbesinnung auf republikanische Prinzipien, die zur Aufgabe der in Rede stehenden Forderung führten 157 • Auch zeitgenössische Politologen und Historiker verweisen auf die zutiefst monarchische Struktur des amerikanischen Präsidentialismus. So schreibt D. W. Brogan: "It is important again to insist on the monarchical character of the American presidency. It is monarchical in two ways: monarchical because of the concentration of power in the hands of one man, monarchical because he, more than any other institution ... embodies 'We the People of the United States'. In the President, in any President, the American people see their embodied power and see their own driving force personified158 ." Brogan zufolge übt der amerikanische Präsident die Funktion eines Erbmonarchen aus. "The President is a monarch. For he performs many of the ritual functions of an hereditary monarch. He is the universal patron of good causes, ... His precedence is as automatic as that of the Queen. He lives in the most historical building in Washington, the only one that has an aura of majesty about it. ... Under the easy and democratic exterior, the protocol of the White House is as severe as the protocol of Buckingham Palace. The presidential inauguration is a kind of quadrennial coronation159." Ähnlich heißt es bei Maurice Duverger: "Das von den Vereinigten Staaten entwickelte institutionelle Modell stellt eine Republikanisierung der konstitutionellen Monarchie Großbritanniens zu Beginn des 18. Jahrhunderts dar. An die Stelle des Königs tritt ein Präsident, an die Stelle der erblichen Lords ein gewählter Senat160." Duverger zufolge handelt es sich bei der amerikanischen Präsidentschaft um die demokratische Transformation des englischen Königs161 • Auch im zeitgenössischen Journalismus wird auf die monarchischen Bestimmungsmerkmale der amerikanischen Präsidentschaft hingewiesen. Dabei verläßt William Pfall den Boden kühl-wissenschaftlicher Analyse, wenn er dem gegenwärtigen Präsidenten der USA vorwirft, 155 Douglas Southall Freeman: George Washington. A Biography. Volume six: Patriot and President. Clifton 1975, S. 186. 156 Ebd. 157
Ebd.
us D. W . Brogan: The Presidency. In: Encounter 22 (1964), S. 3. 159 16 0 161
Ebd.
Maurice Duverger: Demokratie im technischen Zeitalter, S. 51.
Ebd., S. 72.
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sich wie der Sonnenkönig zu benehmen. "Today, in fact but not in name, the United States has a king (or an emperor) surrounded by pomp, protocol and protection that would have astounded le Roi Soleil and appalled the authors of the American constitution162 ." Die Funktion der Aristokraten am französischen Hofe üben jetzt die Journalisten, die modernen Hofberichterstatter aus. "Ostensibly these reporters are the proxies and protectors of the people, like the aristocrats always present at royal births to witness to legitimacy; actually they give further testimony to the quasi-divinity of the figure to whom their professional lives are devoted163 ." Die republikanischen Amerikaner weichen Pfaff zufolge sogar nicht davor zurück, in den früheren Kult zurückzufallen, den König als gottgleiches bzw. göttliches Wesen zu verehren, ihre Präsidenten zu deifizieren. "Why are they treated like gods? Who is being flattered or appeased? The people themselves? ... Is it national ego, self-adoration, self-aggrandizement? I don't know, but I think it is timethat it stopped184 ." Maurice Duverger· warnt davor, das monarchische Element nur in der präsidenHellen Republik aufzuspüren. Er verweist mit Nachdruck darauf, daß auch der Ministerpräsident des parlamentarischen Systems monarchische Züge aufweist. Letzten Endes stelle sich heute jedes liberale politische System des Westens als eine republikanische Monarchie dar165• "Les regimes politiques des Etat-Unis, de la Grande Bretagne et de la France sont tres differents en apparence: presidentiel a Washington, parlementaire a Londres, mixte a Paris. Maisune meme realite fondamentale les rapproche, derriere la diversite des visages constitutionnels: tous les trois ont pour centre d'impulsion un monarque elu, auquel le parlament sert seulement de contrepoids, plus ou moins lourd suivant les cas166." Duverger zufolge wurden die erblichen Moharchien durch die vom Volke ausgewählten bzw. "erwählten" abgelöst. Alle Republiken "tend partout a prendre une forme monarchique. Les rois elus succedent aux rois hereditaires187." Dabei ist nicht jedes republikanische Regime eine republikanische Monarchie. Allein in einem 18 2 William Pfaff: Lo, America's President Turns into a King. In: International Herald Tribune, 20. Mai 1985. 183 Ebd. 184 Ebd. 165 Raymond Aron weist darauf hin, daß der französische Staatspräsident heute über mehr Macht verfügt, "als sie ein institutioneller Monarch besaß" (Über die Demokratie in Frankreich und Deutschland. In: Dokumente 40 [1984], S. 106). Allerdings bestehe ein Unterschied: "Er war König für immer und auf Lebenszeit, im Gegensatz zum Präsidenten, der das Amt nur sieben Jahre ausübt" (ebd.). 168 Maurice Duverger: La monarchie republicaine ou comment les democraties se donnent des rois. Paris 1974, S. 11 f. 187 Ebd., S. 15.
5 J. B. Müller
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liberalen Staatswesen kann sich jener Verfassungstyp herausbilden, der von Duverger als republikanische Monarchie bezeichnet wird. "Nous appelons monarchies republicaines les seuls regimes ou l'homme qui concentre dans ses mains l'autorite gouvernementale la re!;oit et la perd par des procedures reellement democratiques, c'est-a-dire par des elections libres et competitives168." Duverger verweist mit Nachdruck darauf, daß neben den präsidentiellen Regimen der USA und Frankreichs auch die parlamentarische Monarchie Englands eine republikanische Monarchie ist. Dabei ist es selbstverständlich nicht die Königin, sondern der Prime Minister, der als republikanischer Monarch zu bezeichnen ist. Gladstone und Disraeli waren die wahren Monarchen Englands und nicht Queen Victoria. "Pendant que Disraeli faisait de la reine Victoria une imperatrice des Indes, il devenait en fait le souverain de la Grand-Bretagne: lui-meme ou son rival Gladstone, en alternance, dans cette neo-monarchie ou le roi elu ne l'est que pour un mandat temporaire que peuvent revoquer a intervalles reguliers les electeurs qui l'ont depose entre ses mains169." Heute ist es Frau Thatcher und nicht Elisabeth II., die als wahrer Souverän des Inselstaates fungiert. 3. Das liberale System und seine politische Führung Während es kaum Schwierigkeiten bereitet, die tatkräftige Führung mit vorliberalen Systemen zu verbinden, stellt sich in der Neuzeit die entscheidende Frage, wie denn diejenigen Autoren das Führerproblem170 bewertet haben, die wohl den zentralen Staat des Absolutismus übernommen, ihn aber liberal ausgestaltet haben. Wie haben sich diejenigen Staatsphilosophen dem Problem der Führung des Gemeinwesens gestellt, die die Souveränität des modernen Zentralstaates bejahen und dessen Macht durch die Teilung der Gewalten begrenzen wollten? 171 168 Ebd., S. 15 f. m Ebd., S. 20.
170 Zum Begriff der politischen Führung vgl. Thomas E!lwein: Regierung und Verwaltung. 1. Teil. Regierung als politische Führung. Stuttgart 1970, S. 40 ff. und passim; Walter Leisner: Der Führer. Persönliche Gewalt-Staatsrettung oder Staatsdämmerung?, Berlin 1983; Giovanni Sartori unterscheidet zwischen "leadership" und "rulersip". "I shall use leadership ... in connection with a democratic system and rulership ... for autocratic systems" (Democratic Theory. Aus dem Italienischen. Westpoint Conn. 1962, S. 112). Diese Differenzierung ist wenig überzeugend. Sie ignoriert, daß es auch Herrschaft im liberalen System und Führung im illiberalen gibt. Nicht die Tatsache, daß Menschen geführt werden, sondern wie und zu welchen Zielen sie geführt werden, unterscheidet das illiberale vom liberalen System. Ob es sinnvoller ist, mit Adolf Grabowsky zwischen "echtem und unechtem Führertum" zu unterscheiden, ist ebenfalls fraglich (Demokratie und Diktatur. Zürich 1949,
s. 155).
3. Das liberale System und seine politische Führung
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Was die radikal-demokratisch bzw. linksliberal eingestellten Repräsentanten der neuen Ordnung anlangt, so waren sie so sehr auf die Kritik des absolutistischen Herrschers ausgerichtet, daß ihnen der Gedanke an die Führungsnotwendigkeit des demokratischen Gemeinwesens kaum in den Sinn kam172 • Dies ist die Konsequenz einer Auffassung, die der Führung des liberalen Staatswesens genau so mißtraute wie dem volkssouveränitätsfeindlichen Herrscher der absoluten Monarchie173 • Die radikalen Demokraten unterstellten, daß "das Volk mit genügend Entschlußkraft und Intelligenz begabt sei, um sozusagen aus sich selbst heraus die Initiative zu erzeugen, die sowohl für eine erfolgreiche Revolution wie auch danach für eine wirksame Regierung notwendig sei174." Bei einer derartigen Sichtweise gerät die Führung des Volksverbandes notwendigerweise aus dem Blick. So heißt es bei Thomas Paine: "Die Regierung eines freien Landes besteht, genaugesagt, nicht in den Personen, sondern in den Gesetzen175 ." 111 Zu dieser ideologischen Familie zählten selbstverständlich nicht die Anarchisten. In dem Maße, in dem sie sich gegen den Zentralstaat aussprechen, lehnen sie auch jegliche politische Führung ab. Eine Ideologie, die so auf die urdemokratische Selbststeuerung politischer Gemeinwesen vertraut, muß dem Konzept der demokratischen Führung ablehnend gegenüberstehen. So schreibt Erich Mühsam folgerichtig: "Wir Anarchisten verabscheuen eine Führerschaft mit Befehlsgewalt und auf Dauer gesicherter Wirksamkeit" (Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Berlin 1975, S. 55). Die Menschen seien von Natur aus mit all den Fähigkeiten ausgestattet, die eine führerlose Politie als realistische Möglichkeit erweist. Dabei gibt Mühsam allerdings auch zu erkennen, daß das Phänomen der Führung kaum gänzlich aus der Gesellschaft verbannt werden kann . .,Wir leugnen weder die Nützlichkeit des Spielleiters im Theater noch des Vorsitzenden einer Versammlung oder des Kapitäns auf dem Schiff" (ebd.). Dasselbe gelte letzten Endes auch für den politischen Kampf, beim Aufruhr und der Abwehr bewaffneter Angriffe. "Es gibt Wortführer, es gibt Rädelsführer, das sind Personen, denen gefolgt wird, weil sie am klarsten den Willen aller zum Ausdruck bringen oder am entschlossensten ans Werk des Handeins gehen" (ebd., S. 56). Bei dieser Art von Führung handelt es sich allerdings "um eine Führerschaft im Augenblick der Tat und ohne Anspruch auf Dauer" (ebd., S. 56). 172 Nach Alfred Weber wurden in der "Installationsperiode des modernen Mehrheitsstaates" (Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa. Stuttgart, Berlin und Leipzig. 1925, S. 52) die "Führungsnotwendigkeit und ihre Analyse" einfach übersehen. Der Hauptgrund dafür liege in dem Umstand, daß es den Liberalen in dieser Zeit um die "Beseitigung der bisherigen Gewalt- oder Autoritätsprinzipien" (ebd.) ankam. 173 Aus diesem Grunde ist es sicherlich kein Zufall, wenn Georg Forster den Begriff des politischen Führers allein im Zusammenhang mit der Herrschaft des absoluten Monarchen gebraucht. Er spricht von den "ihrer Führung anvertrauten Wesen" (Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften. Hrsg. von Wolfgang Rödel. Frankfurt am Main 1966, S. 159). Die Fürsten betrachteten ihre Untertanen als "ewige Kinder" (ebd., S. 142). Die Menge habe sich in diesem System daran gewöhnt, "ihre Führer und Lehrer für Wesen einer höheren Art, für Wundertäter und Götter zu halten" (ebd.). · 174 Arthur Schlesinger jr.: Demokratie und heldisches Führerturn im 20. Jahrhundert. In: Die Bewährung der Demokratie im 20. Jahrhundert. Zürich 1961, s. 87.
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Die Vertreter der radikalen Demokratiekonzeption bewegen sich so sehr in einem obrigkeits- und führungsfeindlichen Vorstellungssystem, daß sie sogar machtnegierende Ordnungsentwürfe entwickeln. Georg Forster hofft, daß die "Zucht des Vaters und Lehrers in den sanften Rat des Freundes" übergeht176, und daß damit "endlich alle Spur von Herrschaft auf der einen, von Gehorsam auf der anderen Seite" 177 verschwindet. Dagegen weigerten sich die Fürsten, ihr unmündiges Volk in die Freiheit zu entlassen und vom paternalistischen Zwang zu befreien. "Welchem Fürsten könnte es je einfallen, dem Zepter zu entsagen und das Volk seiner eigenen Tugend und Weisheit zu überlassen178." Der mit Bekennerstolz erarbeiteten radikalen Demokratiekonzeption fehlt sehr oft das notwendige Maß an Wirklichkeitsverbundenheit John Flamenatz wirft ihren Vertretern zu Recht vor, die pragmatischen Details der Politikwirklichkeit zugunsten dogmatischer volkssouveränitätstheoretischer Reflexionen vernachlässigt zu haben. "They have as little to say about the citizen as they have about the leader - that they come no nearer to giving a full and realistic account of his political role ... They do not consider in any detail how 'the people' act. They speak vaguely of 'the will of the people' or 'the general interest' without troubling to enquire how either the one or the other comes to be formulated what the citizens or their leaders contribute to making or to achieving it178." Weit weniger führungsfeindlich war der rechtsliberale Ideenkreis eingestellt. Die Skepsis seiner Vertreter gegenüber den radikaldemokratischen Politikentwürfen ließ bei ihnen jenen Toleranzspielraum entstehen, in dem über den Zusammenhang von Volkssouveränität und Führung nachgedacht werden konnte. Zu denjenigen rechtsliberalen Demokratietheoretikern, die dem Verhältnis von Führern und Geführten einen entscheidenden Raum in ihrer Politikkonzeption einräumen, gehören die Verfasser der Federalist Papers. Dabei sind es insbesondere James Madison und Alexander Ha175 Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. S. 290. Hans Kelsen hat darauf hingewiesen, daß die Theorie der radikalen Demokratie ausgesprochen führungsfeindlich ist. "Für eine Führernatur ist in der Idealdemokratie kein Platz" (Vom Wesen und Wert der Demokratie. Aalen 1963, S. 79). ArthuT Schlesinger zufolge zeichnet sich die "populistische" Demokratie durch einen "gewissen Neid auf höhergestellte Personen" aus (Die Bewährung der Demokratie im 20. Jahrhundert. S. 87). 11e Georg Forster: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften. S. 158. 171 178
Ebd.
Ebd.
179 John Plamenatz: Democracy and Illusion. An Examination of Certain Aspects of Modern Democratic Theory. London 1973, S. 118.
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milton, die ein wirklichkeitsadäquates, das heißt das Funktionierei). der amerikanischen Demokratie berücksichtigendes Konzept der demokratischen Führerschaft entwerfen. Wie niemand vör ihnen haben sie die Spannung zwischen dem demokratischen Führer und dem Prinzip der Volkssouveränität reflektiert. Sie drangen zu einer freiheitlichen Politikkonzeption vor, in der der Gedanke des Führerturns kein dysfunktionales Moment mehr darstellt. Für Rarnilton ist es das augenfällige Kennzeichen eines gut funktionierenden politischen Gemeinwesens, mit einer entscheidungsfreudigen und führungsstarken Exekutive versehen zu sein. "Energy in the Executive is a leading character in the definition of good government180." Zur energischen Führung des republikanischen Gemeinwesens gehört auch, daß sich die leitenden Staatsmänner nicht sklavisch der Meinung des Volkes anheimgeben. "The republican principle demands that the deliberate sense of the community should govern the conduct of those to whom they intrust the management of their affairs; but it does not require an unqualified complaisance to every sudden breeze of passion, or to every transient impulse which the people may receive from the arts of men, who flatter their prejudices to betray their interests161 ." Was Alexander Rarnilton im 18. Jahrhundert emphatisch betont, drückt Hermann Heller 160 Jahre später ähnlich aus. Beide, der Amerikaner wie der Deutsche halten dafür, daß eine funktionierende Demokratie einer effizienten Führung bedarf. Heller schreibt: "Aber auch in der Demokratie mit gleichen sozialen Chancen kann das Volk nur herrschen mittels einer Herrschaftsorganisation. Jede Organisation bedarf aber einer Autorität, und alle Machtausübung unterliegt dem Gesetz der kleinen Zahl; immer müssen diejenigen, welche die organisatorisch vereinigten Machtleistungen aktualisieren, über ein gewisses Maß von Entscheidungsfreiheit und damit von demokratisch nicht gebundener Macht verfügen. Das gilt für die Staatsorganisation ebenso wie für den Machtaufbau der politischen Parteien, welche in der Demokratie die Willenskundgebungen der Wähler organisieren. In den Parteien konzentriert ein sehr enger Führerring zusammen mit der Parteibürokratie die Macht um so leichter in einer Hand, je größer und verwickelter die Organisation und je geringer das politische Sachverständnis und Interesse der Wähler ist162." 180 Alexander Hamilton. In: The Federalist No. LXX (March 18, 1788). In: The Federalist or, The New Constitution. London und New York 1948, S. 357. 181 Alexander Hamilton. In: The Federalist No. LXXI (March 18, 1788),
s. 365.
182 Hermann Heller: Staatslehre. S. 247 .. Dagegen spricht sich Sidney Hook vehement gegen die demokratische Führungsidee aus. "Eine Demokratie sollte die Dinge nicht so ordnen, daß nur einem oder einigen die Möglichkeit
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Der pragmatische Sinn der Angelsachsen hat schon sehr früh Führerpersönlichkeiten hervorgebracht, die ihren Demokratien den Weg wiesen. In den USA gelten die ersten Präsidenten, vor allem George Washington, als geradezu idealtypische Ausprägungen von politischen Führerfiguren. Schon Guizot hat darauf hingewiesen, daß das Prinzip der liberal-demokratischen Führerschaft am reinsten durch George Washington verkörpert werde. Er hebe sich vor allem vorteilhaft von Napoleon ab. "Washington ne ressemble point a Napoleon; celui-la n'etait pas un despote183 ." Ganz im Kontrapunkt zum Korsen habe der Amerikaner die Prinzipien der politischen Freiheit verwirklicht. "Il a fonde la liberte politique184 ." Im Gegensatz zu Napoleon habe Washington in genuin demokratischer Manier seinen politischen Kommandoposten verlassen. "Monte sans ambition au pouvoir supreme, i1 en est descendu sans regret, des que la salut de sa patrie le lui a permis185." Aus diesem Grunde repräsentiere er in idealtypischer Vollendung den demokratischen Führer. "Il est le modele des chefs de republique democratique186." Ähnlich schreibt Albert Mabileau : "Pour la democratie moderne, ce sont les Etats-Unis qui offrent le premier exemple de leadcrship democratique187." Zur Signatur der amerikanischen Republik gehört allerdings auch, daß sie führungsarme Perioden aufweist188. Die amerikanische Demokratie zeichnet sich vor allem auch durch ihre Fähigkeit aus, in nationalen Krisen große Führerpersönlichkeiten hervorzubringen. Obgleich die Mehrzahl der amerikanischen Präsidenten eher durch ihre Durchschnittlichkeit auffälW 89, hat die amerikageboten wird, zu heldischer Größe emporzuwachsen, sondern sollte vielmehr die Losung ,Jedermann ein Held' zur Richtschnur machen" (Sidney Hook: Der Held in der Geschichte. Aus dem Amerikanischen. Nürnberg 1951, S. 252 f.). Die Demokratie sollte davon ausgehen, daß ihre eigentlichen Helden die großen Vertreter des Geisteslebens sind. "Die Helden in einer Demokratie sollten die großen Gestalten im Pantheon des Geistes sein, die Menschen der Ideen, der sozialen Erkenntnisse, der wissenschaftlichen Leistungen und der Kraft künstleris.c her Gestaltung" (ebd., S. 251). 183 M. Guizot: De la democratie en France. Paris 1849, S. 28. 184 Ebd. 18s Ebd. 186 Ebd., S. 28 f. Vgl. dazu auch Peter Karsten: Patriot-Heroes in England and America. Political Symbolism and Changing Values over Three Centttries. Madison, Wisc. 1978, S. 83 ff. und passim. 18 7 Albert Mabileau: La Personnalisation du Pouvoir dans les Gouvernements Democratiques. In: Revue Fran!;aise de Science Politique (1960), S. 41. 188 Vgl. dazu James Bryce: The American Commonwealth Val. I (1888). Ed. by Louis Hacker. New York 1959, S. 34. 189 Vgl. dazu Carleton Kemp Atzen: Democracy and the Individual. London 1943, S. 37. James Bryce hat sogar einem Kapitel seines Buches "The American Commonwealth" den Titel gegeben: "Why Great Men are not Chosen Presidents". Das englische System sei eher in der Lage, große Führungspersönlichkeiten hervorzubringen. "It would seem that the natural
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nische Demokratie immer wieder Not-wendende und notwendige Führerpersönlichkeiten kreiert. "At every great crisis in American history, the individuaP90 seems to have emergedm." Ähnlich argumentiert James Bryce. "When the hour comes, they say, it will bring the man192 ." Ihm zufolge gehören Washington, Jefferson, Lincoln und Grant zu den überragenden Präsidentenpersönlichkeiten der USN 93 • Im 20. Jahrhundert waren es vor allem die reformistisch orientierten Amerikaner, die von führungsstarken Präsidenten die Durchsetzung sozialpolitischer Maßnahmen erhofften. Die beiden Roosevelts wurden als Präsidenten gefeiert, die die lange ersehnte Gesellschaftsreform in die Tat umsetzten. Sie gewährleisteten das, was Samuel P. Huntington als "leadership for progressive reform" 10' bezeichnet. Einer der Wortführer des amerikanischen Progressismus, Woodrow Wilson nämlich, sah es als die Aufgabe eines energischen Führers an, gegenüber der besitzenden Oberschicht die legitimen Interessen des gesamten Volkes zu vertreten. Dem Prinzip der Führung wachsen auf diese Weise klassenkämpferische Qualitäten zu. Wilson zufolge benötigte das amerikanische Volk in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Führer, "der das Denken des ganzen Volkes verstand und verkörperte, im Gegensatz zu jener Sonderklasse, die sich als Vormund für die Wohlfahrt des Landes"195 ansah. Das Volk wollte eine Stimme hören, die es dazu aufrief, "seine Rechte und Prärogativen bei der Ausübung seiner eigenen Regierung geltend zu machen" 196• Das Paradebeispiel für eine sozial eingefärbte, demokratisch legitimierte Führung stellt das Beispiel Franklin D. Roosevelts dar. Er war es, der als charismatisch197 begnadeter Präsident Reformen in die Tat umsetzte, die das Leben des Durchschnittsamerikaners entscheidend verbessern sollten. F. D. Roosevelt verband in seinem Amte die Kategorien der energischen Führung mit dem Prinzip der demokratischen Legitimierung. Herman Finer zufolge war seine Führungsleistung die notwendige Voraussetzung zur Beselection of the English parliamentary system . . . has more tendency to bring the highest gifts to the highest place than the more artifical selection of America" (The American Commonwealth. Vol. I, S. 34). 190 Gemeint ist das rettende, überragende "Emergent Individual". 1 9 1 Carleton Kemp AUen: Democracy and the Individual. S. 37. 192 James Bryce: The American Commonwealth. Vol. I, S. 34. 1ea Ebd. 1o4 Samuel P . Huntington: The United States. In: Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democrades to the Trilateral Commission. Published by the New York University Press. New York 1975, S. 94. 196 Woodrow Wilson: Die neue Freiheit. Ein Aufruf zur Befreiung der edlen Kräfte eines Volkes. Aus dem Amerikanischen. München 1914, S. 80. 196 Ebd. 197 Vgl. dazu Robert Tucker: The Theory of Charismatic Leadership. In: Daedalus 97 (1968), S. 744 und passim.
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wältigung der sozialen Krise, in und Politiksystem geraten war. und Inspiration sowie richtiger Kräfte, wurde benötigt, wenn sollte198."
die das amerikanische Gesellschafts"Führertum, d. h. Initiative, Streben Einsatz aller der Sache dienenden die Aufgabe durchgeführt werden
Was die englische Demokratie anlangt, so hat auch sie Persönlichkeiten die Führung übertragen, die bis heute als überragende und beeindruckende Politikergestalten gelten. Besonders augenfällig stellen sich die Beispiele von Gladstone und Disraeli dar. Nach den Wahlrechtsreformen von 1867 und 1884 führten die englischen Premiers eine Politik, in der neue Wählerschichten mit den Fragen der Res publica vertraut gemacht werden mußten. Dieser Aufgabe hatten sich vor allem die Regierungschefs Englands zu stellen. Walter Bagehot zufolge obliegt ihnen die Pflicht, "die neuen Wähler bei der Ausübung des Wahlrechts"1911 zu lenken. Sie sind es, die "durch eine oder zwei große Reden bestimmen, was für lange Zeit danach gesagt und was geschrieben" 200 wird. Statt sich von der Öffentlichkeit führen zu lassen, haben sie sie zu führen 201 . Dabei bedienen sich die Premiers bei ihrer Führungsaufgabe effizient agierender Parteiorganisationen. Sowohl die liberale als auch die konservative Partei stellen nach Wilhelm Rasbach "eine dem Leader zu Verfügung stehende gehorsame Armee" 202 dar. Der Aufstieg der Parteiorganisation bedeutet eine Minderung des Abgeordnetenstatus. "Die Stellung des Abgeordneten ist durch die Parteiorganisation erheblich verschlechtert worden. Der Ministerpräsident hat sich hoch über ihn erhoben; der einfache Abgeordnete ist zu seinem Gefolgsmann ... herabgesunken. Wenn er dem Führer nicht gehorcht, wird er zur Rechenschaft von seinen Wählern gezogen203." Darüber sollte allerdings nicht vergessen werden, daß das englische Parlament mit seinen Ausschüssen die Pflanzstätte der englischen Führerequipe darstellt. Max Weber hat darauf hingewiesen, in wie starkem Maße der britische Parlamentarismus im Gegensatz zur deutschen konstitutionellen Monarchie die Führerauslese begünstigt und ermöglicht. Weber zufolge ist "keiner der bedeutenden englischen Parlamentsführer ... in die Höhe gekommen, ohne sich in der Arbeit der Komitees ge198 Hermann Finer: Die Zukunft der Staatsform. Aus dem Amerikanischen. Bonn 1947, S. 139. 199 Walter Bagehot: Die englische Verfassung (1867). Aus dem Englischen. Hrsg. von Klaus Streifthau. Neuwied und Berlin 1971, S. 256. 2oo Ebd. 201 Ebd., S. 257. 202 Wilhelm Hasbach: Die parlamentarische Kabinettsregierung. Stuttgart und Berlin 1919, S. 110. 203 Ebd., S. 112.
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schult zu haben" 204 • Die "parlamentarische Auslese der Führer" 205 ist das Unterpfand, das dem parlamentarischen System Kraft und Stärke verleiht. Im parlamentarischen System, in dem der "Vertrauensmann der ... Mehrheit mit der Leitung der Politik betraut ist" 20 ~, kämpfen Persönlichkeiten "mit großem politischen Machtinstinkt und mit den ausgeprägtesten politischen Führerqualitäten" 207 um die staatlichen Spitzenpositionen. Die Notwendigkeit demokratischer Führung ergab sich besonders während des Zweiten Weltkrieges. Am Beispiel Churchills manifestiert sich äußerst einprägsam, daß entschlossene demokratische Führung das Überleben einer liberalen Politik zu sichern imstande ist. "Thus in the state of threatened national existence experienced by the people of Britain in 1940, when their island lay open to German invasion, there was no doubt some charismatic response to the war leadership of Sir Winston Churchill, who personified the will never to surrender and the determination to fight on to victory208." Churchill verfügte über alle Attribute, die den demokratisch-charismatischen Führer auszeichnen. "The mere fact of his charismatic quality, personifying the transcendent state of 'their finest hour', became in effect a real and significant force upon the outcome of the war and a major determinant of history209 . " Eine der Hauptaufgaben des charismatischen Führers in der liberalen ist es überhaupt, dieser historische Ausblicke zu eröffnen und genuin freiheitliche Geschichtsziele zu vermitteln. "In the mundane workings of Western social ideologies charismatic authority has provided the living symbols that give presence to the alter-ego and thereby has bridged, psychologically, the existing historical conditions and the Poli~ik
204 Max Weber; Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studienausgabe. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Zweiter Halbband. Köln und Berlin 1964, S. 1087. 205 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, S. 1081. 2o& Ebd. 207 Ebd. Zum Webersehen Konzept demokratischer Führung vgl. Johann Baptist MüUer: Max Webers Demokratiekonzeption. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 51 (1977), S. 1 ff. 208 Robert C. Tucker: The Theory of Charismatic Leadership. S. 744. Max Imboden hat darauf hingewiesen, daß in der Neuzeit die legale Herrschaftslegitimität über die traditionale siegte. Jedoch sei dieser Sieg nicht von Dauer gewesen. "In dem Maß, als die sichtbaren sozialen Institutionen ... vielfach auf dem Wege des sogenannten Motivwandels - eine ausschließlich vernunftgemäße Begründung erhielten, wandte sich das ungestillte Bedürfnis nach traditionell-personenbezogener und nach charismatischer Erfüllung der menschlichen Verhältnisse anderen Gemeinschaftsformen und anderen Bewußtseinsstufen zu" (Staatsformen. Politische Systeme. Basel und Stuttgart 1974, S. 181 f.). 209 John T. Marcus: Transcendence and Charisma. In: The Western Political Quarterly (1961), S. 238.
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II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
teleological ideaJ210." Die charismatisch begnadete Führerpersönlichkeit weise der westlichen Tauschgesellschaft den Weg, erinnere sie an ihre historischen Verpflichtungen. "The individual here finds fulfillment in the conviction of contributing to the irresistible approach of a higher, but still historical, state of being. Thus, by associating transcendence with historical Heroes, charisma has played in the West a crucial role in fashioning from the consciousness of history a significant and distinctive perspective of values211 ." Während die angelsächsischen Demokratien den demokratischen Führer mit großer Selbstverständlichkeit als Wesensmerkmal ihrer Verfassungsordnung betrachteten, wurde diesem Topos auf dem Kontinent mit unverhohlenem Argwohn begegnet. Besonders in Frankreich hielt sich beharrlich die Auffassung, daß die überragende Politikerpersönlichkeit eine Gefahr für die liberale Republik darstellt212 • Dieses Urteil bzw. Vorurteil ist angesichts der bonapartistischen Tradition dieses Landes allerdings auch verständlich213 • Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches hatte vor allem die Dritte Republik eine ausgesprochene Abneigung gegen die Konzeption des liberal-demokratischen Führerturns entwickelt. Die Führungsschwäche der Dritten Republik wurde nicht zuletzt vom Engländer Walter Bagehot ins Bewußtsein gehoben. Das französische Parlament könne sich "weder für Männer noch für Maßnahmen entscheiden" 214 • 1931 hat der Franzose Joseph-Barthelemy seine Landsleute darauf aufmerksam gemacht, in wie starkem Maße ihre Republik einer überzeugenden Führung entrate. "Le parlementarisme actuel souffre d'une crise d'autorite gouvernementale, d'une crise de Ebd., S. 241. Ebd. 212 Vgl. dazu Albert Mabileau: La Personnalisation du Pouvoir dans les Gouvernements Democratiques. S. 39 ff. 213 Kar! Loewenstein macht darauf aufmerksam, daß der Begriff Bonapartismus im 19. Jahrhundert "der allgemein gebräuchliche Ausdruck für das regime personnel" gewesen sei (Verfassungslehre. 3. Auflage. Aus dem Amerikanischen. Tübingen 1975, S. 149 Fn. 24). Heinrich von Treitschke hat die Regierung Napoleons III. als "demokratische Tyrannis" bezeichnet (Politik. Band II. Vierte Auflage. Leipzig 1918, S. 206). Sie sei als Übergangsstadium zur Republik aufzufassen. "Besitzt auch der Erwählte der Nation eine schrankenlose, unbestimmte Gewalt, wie sie einem legitimen König in unserer Zeit niemals zustehen kann, immer ist der Wille des Volkes förmlich oder tatsächlich der Rechtsgrund seiner Macht; sie ist eine übertragene und kann ihm immer wieder entzogen werden" (ebd.). m Walter Bagehot: Die englische Verfassung. S. 277. Bagehot führt nicht zuletzt auch institutionelle Gründe für die Führungsschwäche der Dritten Republik an. Die französische Politik w erde "sehr bald unkontrollierbar", weil Thiers das P arlament nicht auflösen könne (ebd., S. 278). In Frankreich b esteht die Gefahr, "daß die Versammlung ständig die Regierung wechselt . .. , da sie die Strafe, die aus diesem Wechsel in England meistens folgt, nicht zu fürchten braucht" (ebd.). 210
211
3. Das liberale System und seine politische Führung
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leadership215." Die Führungskrisen der Dritten Republik haben in der Tat augenfällig gemacht, daß auch der Parlamentarismus den starken demokratischen Führer benötigt. "Le regime parlementaire ne peut fonctionner que si a la tete du gouvernement, il y a veritablement un chef216." Herman Finer zufolge ist sogar der Niedergang der Dritten Republik Frankreichs eindeutig auf den Mangel an geeigneten Führerpersönlichkeiten zurückzuführen. "Nach dem Tode Clemenceaus und Poincares fehlte es in der Dritten Republik an Führern, die für den Fortbestand in einem vom Faschismus und noch mehr von dem maßlosen und verhängnisvollen Ehrgeiz und der rücksichtslosen technischen Tüchtigkeit der Nazis bedrohten Europa ausgereicht hätten217." Diese Führer hätten die Aufgabe gehabt, die Franzosen zur Überwindung ihres "persönlichen und Gruppenegoismus" 218 aufzurufen. Stattdessen hinterließ Clemenceau ein führerloses Vakuum219 • "Keiner konnte des toten Clemenceaus Mischung von Scharfblick und Verständnis, seinen Zynismus, seine Rauheit, jakobinische Energie, seinen unbedingten Patriotismus und seine wunderliche Art durch etwas Gleichwertiges oder Besseres zu ersetzen220." Albert Mabileau zufolge zeichnete sich auch die Vierte Republik Frankreichs durch eine "anarchie parlementaire" und eine "instabilite ministerielle" 221 aus. ln dem Jahre, in dem Joseph-Barthelemy die Franzosen auf das Führungsdefizit ihrer Republik hinwies, stellte sich die Weimarer Republik als äußerst labiles Staatswesen dar. Die Schwäche der ersten deutschen Republik resultierte ebenfalls aus dem Mangel an überzeugenden Führungspersönlichkeiten. Augenfällig und klarsichtig hat Kurt Sontheimer den Untergang Weimars im Lichte dieser Problematik analysiert. "Die Weimarer Demokratie litt an bedeutenden Führergestalten. Allenfalls Stresemann war eine solche Führerpersönlichkeit, aber auch er war nicht mit der persönlichen Ausstrahlungskraft ausgestattet, die man ihm gewünscht h ätte. Als die Republik ihrem Ende zusteuerte, hatte sie keine wirklichen Führer 222." Wie Kurt Sontheimer, so kommt auch Julius 215
1931, 218 217 218 219 22o
Joseph-Barthelemy: La crise de la democratie contemporaine. Paris
s. 139. Ebd., S. 141.
Herman Fine1·: Die Zukunft der Demokratie. S. 74.
Ebd., S. 75. Ebd. Ebd.
221 Albert Mabileau: La Personnalisation du Pouvoir dans les Gouvernements Democratiques. S. 41. 222 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München 1968, S. 221. Sontheimer zufolge machten "die Antidemokraten ... aus d er an sich richtigen Einsicht, daß eine Demokratie im Massenzeitalter nicht der Führungsper sönlichkeiten entraten kann, ein extremes Prinzip" (ebd.).
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IL Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
Leber auf der Suche nach den Gründen für den Untergang der Weimarer Republik zum Schluß, daß diese in dem Versagen ihrer Führungspersönlichkeiten begründet liegen. "Das Versagen einzelner Führer macht selten Geschichte, das Versagen dagegen einer ganzen Führergeneration ist Geschichte und nur als zeitgeschichtliche Bedingtheit zu erklären223." Auf dem Kontinent hat man eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg damit begonnen, dem demokratischen Führer denjenigen Rang im liberalen politischen System einzuräumen, der ihm im angelsächsischen Raum immer schon zukam. Albert Mabileau machte auf diese Veränderung aufmerksam. "Les regimes democratique connaissent ... une transformation dans la devolution du Pouvoir. A leur tete se trouve place un leader, qui exerce effectivement le Pouvoir et domine la vie politique. . . . Cette personnalisation du Pouvoir est nouvelle dans les democraties continentales224 . " Vor allem mit Konrad Adenauer und Charles de Gaulle habe sich der Kontinent nun dem angelsächsischen Vorbild angepaßt. "Le leadership anglosaxon a desormais submerge les rives de l'Europe continentale225 . " Sowohl die Verfassung der V. Republik Frankreichs als auch die staatstheoretischen Schriften De Gaulies sind in der Tat von der Überzeugung geprägt, daß die liberale Demokratie einer energischen, zielbewußten Führung bedarf. Unmißverständlich schreibt De Gaulle: "Die Menschen können im Grunde ebenso wenig darauf verzichten, geführt zu werden, wie zu essen, zu trinken oder zu schlafen226." Die anthropologische Grundverfassung des Menschen227 erheische "Organisation ... Ordnung und Führer" 228 • Diese in Rede stehende Heraufkunft einer führungsstarken Demokratie hat aber auch dazu geführt, daß namhafte Politikwissenschaftler vor den Gefahren einer zu führungsbetonten Ausgestaltung der liberalen Gemeinwesen warnen zu müssen glaubten. Sie weisen darauf hin, daß diese allzuschnell in eine antidemokratische Bewegungsrichtung umschlagen könne. Diese Kritiker knüpfen dabei an die Autoren an, die vor zweihundert Jahren ihre grundsätzlichen Bedenken gegenüber einem 223 Julius Leber: Schriften, Reden, Briefe. Hrsg. von Dorothea Beck und Wilfried F. Schoeller. München 1976, S. 185. Leber bezeichnete August Bebel als den "ersten großen Führer" der Sozialdemokratie (ebd., S. 187). In einer von der SPD herausgegebenen Schrift steht der Satz: "Die moderne Demokratie braucht Führungsgruppen" (Mobilisierung der Demokratie. Hrsg. von Waldemar von Knoeringen u. a. München 1966, S. 60). 224 Albert Mabileau: La personnalisation du Pouvoir dans les Gouvernements Democratiques. S. 39. 22s Ebd. 228 Charles De Gaulle: Le fil de l'epee. Staatsmacht und Persönlichkeit. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main und Bonn 1961, S. 60. 227 Ebd. 228 Ebd.
3. Das liberale System und seine politische Führung
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führungsbetonten Staate artikulierten. Es gehört zu den Ausdrucksformen dieses Protestes, daß er den Ruf nach dem starken demokratischen Führer als einen Rückfall in paterhalistische Politikvorstellungen begreift. Maurice Duverger zufolge ist dieses "Bedürfnis der Rückkehr zur Vatergestalt zum Retter, zum starken Mann229 mit den rationalen Prinzipien eines demokratischen Politikverständnisses unvereinbar. Ein Zug submissiver Gesinnung tue sich darin kund, die Rückkehr zu überholten Politikvorstellungen. "Die Personalisierung in der Politik ist eine Regression zu einer irrationalen und charismatischen Macht, die der liberalen Konzeption einer empirischen und rationalen Macht entgegengesetzt ist230." James Burnham befürchtet sogar, daß sich die führungsbetonten westlichen Demokratien in die Richtung eines neuen Bonapartismus entwickeln könnten. "In jeder fortschrittlichen Nation beobachten wir die Bildung einer Regierungsform, in der eine kleine Gruppe von Führern oder ein einziger Führer den Anspruch erhebt, das ganze Volk zu repräsentieren und in seinem Namen zu sprechen231 ." Dieser betrachte "alle zwischengeschalteten Körperschaften, wie Parlamente und lokale Regierungen, als vollständig abhängig von der zentralen Souveränität, die allein die legale Vertretung des Volkes sein kann" 282 • Neben den totalitären Staaten sei dieser in Rede stehende Bonapartismus schon in den USA und in England verwirklicht233 • Dabei behauptet Burnham, daß dieses letzten Endes illiberale und undemokratische Politikprinzip "der logische und historische Höhepunkt der demokratischen Formel" 234 sei. Der "bonapartistische Führer kann sich selbst als Inbegriff der Demokratie ansehen und als solcher angesehen werden; sein Despotismus drückt nur die allmächtige Herrschaft und Disziplin des Volkes aus" 235 • Die Existenz führungsbetonter Demokratien und die Kritik an den dieser Entwicklung innewohnender Gefahren sollten allerdings nicht vergessen machen, daß es zahlreiche Autoren gibt, die die Fähigkeit der Demokratie, geeignete Führungspersönlichkeiten hervorzubringen, mehr oder weniger grundsätzlich in Zweifel ziehen. So ist Walter Lippmann der Auffassung, daß die Forderung, alle politischen Entscheidungen am Wählerwillen zu messen, die Herausbildung politischer Führer erschwere, wenn nicht gänzlich verhindere. Mutige, führungsfreudige 229
!so 2st
Maurice Duverger: Demokratie im technischen Zeitalter. S. 139.
Ebd.
James Burnham: Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit. Aus
dem Amerikanischen. Zürich 1949, S. 240. m Ebd. 233 Ebd. 234 Ebd. 2ss Ebd.
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II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
Gestalten wie Winston Churchill seien heute zur Ausnahme geworden. "In der Regel tut ein demokratischer ,Politiker' besser daran, nicht zu früh recht zu haben. Sehr oft ist die Strafe dafür politischer Tod236." Das Meinungsklima in der modernen Demokratie lasse die demokratischen Politiker "keine große Lust empfinden, sich laut zu äußern" 237• Sie zögen es vielmehr vor, "im Gleichschritt der öffentlichen Meinung mitzumarschieren" 238 • Karl Mannheimzufolge gewährleistet die Tendenz zur Führungslosigkeit in den liberalen Demokratien Demokratiefeinden die Möglichkeit, ihren Einfluß geltend zu machen. "Man muß . .. sehen, daß die so entstehende allgemeine Rat- und Führungslosigkeit den diktatorischen Gruppen eine Chance gibtm." Die Feinde des Liberalismus stießen deswegen auf "keinen wesentlichen Widerstand, weil alle willensbildenden, geschmacksbildenden und urteilsbildenden Elitezentren sich vorher schon gegenseitig aufgerieben haben" 240 • Die zunehmende Fundamentaldemokratisierung der westlichen Gemeinwesen hat sogar eine Vielzahl von Politologen bewogen, vor der drohenden "Unregierbarkeit" dieser Staaten zu warnen. Vor allem die Repräsentanten des Neokonservatismus haben vor dieser Entwicklung gewarnt. Einer ihrer bekanntesten Vertreter schreibt: "The essence of the democratic surge of the 1960's was a general challenge to existing systems of authority, public and private. In one form or another, this challenge manifested itself in the family, the university, business, public and private associations, politics, the governmental bureaucracy, and the military services241 ." Der Sinn für Über- und Unterordnung, für das "deferential behaviour" im Sinne von Walter Bagehot sei geschwunden. "People no Ionger felt the same obligation to obey those whom they had previously considered superior to themselves in age, rank, status, expertise, character, or talents. Within most organizations, discipline eased and differences in status became blurred242." Dieser allgemeine Niedergang autoritätsbestimmter Strukturen habe besonders nachhaltig und nachteilig die Sphäre der Politik getroffen. "In politics, it manifested 236 Walter Lippmann: Philosophia Publica. Vom Geist des guten Staatswesens. S. 35. 237 Ebd. 238 Ebd. In ähnlicher Weise hat in den fünfziger Jahren Arnold J. Zureher die Führungsschwäche der westlichen Demokratien beklagt. Er sprach von der "growing paralysis in democratic leadership" (Democracy's Declining Capacity to Govern. In: The Western Political Quarterley 8 [1955], S. 529 f. 239 Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Aus dem Englischen. Darmstadt 1958, S. 103. ~ 40 Ebd. 241 Samuel P . Huntington: The Democratic Distemper. In: American Commonwealth (1976). Ed. by Nathan Glazer and Irving Kristol. New York 1976,
8.15. 242
Ebd.
4. Der moderne Wohlfahrtsstaat
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itself in a decline in public confidence and trust in political leaders and institutions, a reduction in the power and effectiveness of political institutions such as the political parties and the Presidency, a new importance for the 'adversary' media und 'critical' intelligentsia in public affairs, and a weakening of the coherence, purpose, and selfconfidence of political leadership243." Vor allem die Stellung des Präsidenten sei durch diese antiautoritäre Entwicklung in Leidenschaft gezogen worden. "The effectiveness of the President as the principal leader of the nation also declined as a result of the diminished effectiveness of leadership at other levels in society and government244 ." Die Unregierbarkeit der westlichen Demokratien habe ihren Wurzelgrund auch in der Notwendigkeit, in der pluralistischen Politikordnung die Macht mit anderen Akteuren teilen zu müssen. In einem System, dessen Regierung sich aus heterogenen Interessengruppen zu einer äußerst komplexen Koalition füge, müsse die Führungsmacht auf verschiedene "Schultern" verteilt werden. Dieses sog. "Power sharing" spiegelt Dennis Kavanagh zufolge eine Politikrealität wider, die mit den Führungsansprüchen starker Führungspersönlichkeiten inkommensurabel ist. "The hold, directive leader is likely to perform poorly in such a system245." In einer derartigen Politikordnung werden eher Persönlichkeiten benötigt, die das Geschäft des politischen Ausgleichs, die Kunst der Koalitionsbildung beherrschen. "Power-sharing is likely to accentuate the skills of the coalition-monger, the political entrepreneur or broker able to harness different talents and interests248." Aus diesem Grunde sei es unangebracht, vom demokratischen Führer allzuviel zu erwarten. "We will therefore err on the side of wisdom if we do not expect too much of leaders247." 4. Der moderne Wohlfahrtsstaat: Repressiver Leviathan oder autoritätsarme Verwaltungsmaschinerie?
In dem Maße, in dem der Rechtsstaat des Liberalismus zum Sozialstaat ausgebaut wurde, erhoben sich warnende Stimmen, die einen Rückfall in den nach vielen Kämpfen und Anstrengungen überwundenen Paternalismus befürchteten. Dabei waren es vor allem rechtsliberale Politikanalytiker, die schon sehr früh ihrer Sorge Ausdruck verliehen. 24s
244
Ebd. Ebd., S. 26.
245 Dennis Kavanagh: Political Leadership. The Labours of Sisyphus. In: Richard Rose (Ed.): Challenge to Governance. Studies in Overloaded Politics. Beverly Hills and London 1980, S. 230. 248 Ebd. 247 Ebd., S. 231.
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Il. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
Im Gegensatz zu den linksliberalen Autoren, die zusammen mit sozialkonservativen und sozialistischen Kräften einem Ausbau der modernen Sozialprotektion das Wort redeten, fürchteten sie einen Rückschritt in dasjenige System, das ihre Gesinnungsgenossen im 18. Jahrhundert erfolgreich überwunden hatten. Von der Warte einer radikal liberalen Gesellschaftsanalyse aus erscheint die Umwandlung des Rechtsstaats in einen sozialen Rechtsstaat in der Tat als eine Entwicklung, die freiheitsbedrohenden Tendenzen Tür und Tor öffnet. Im modernen Wohlfahrtsstaat begegnet uns rechtsliberaler Ansicht zufolge jene Variante des illiberalen Staatswesens, das seine Unfreiheit weniger augenfällig als die ausgesprochen autoritären oder totalitären Regime unter Beweis stellt, dessen Freiheitsgefährdung aber nicht weniger ernst zu nehmen ist. Die Menschen haben mit dem Linsengericht der Staatsprotektion248 recht eigentlich ihr liberales Erstgeburtsrecht verkauft. Untrügliches Zeichen dessen sei das beängstigende Wachstum der Sozial- und Wirtschaftsbürokratie. Schon Adolf Wagner2411 hat auf das merkwürdige Paradoxon aufmerksam gemacht, daß der Siegeszug der liberalen Nationalökonomie mit dem zügigen Ausbau des Sozialstaates einherging250. Im Bereich der praktischen Politik zog man es aus philanthropisChen, christlichen und pragmatischen Gründen vor, die Ärmsten zu schützen, statt sie dem Gesetz des Sozialdarwinismus auszusetzen251 • Zum stetigen Ausbau der Sozialbürokratie hatte vor allem der Gedanke 248 Dabei waren es in der Tat "paternalistisch" denkende Persönlichkeiten, die sich für sozialpolitische Aktivitäten einsetzten. Das gilt nicht zuletzt für England. Nach dem Motto "Noblesse oblige" waren es Konservative, die dem modernen Wohlfahrtsstaat den Weg ebneten bzw. ihn gründeten Karl Polanyi schreibt in diesem Zusammenhang: "Disraeli grounded Tory socialism on a protest against the Poor Law Reform Act, and the conservative landlords of England forced radically new techniques of life upon an industrial society. The Ten Hours Bill of 1847, which Kar! Marx hailed as the first victory of socialism, was the work of enlightened reactionaries" (The Great Transformation. The Political and Economic Origins of our Time, S. 166). Vgl. dazu David Roberts: Tory Paternalism and Social Reform in Early Victorian England. In: American Historical Review 63 (1957 /58), S. 323 ff. 249 Ihm zufolge wächst die staatliche Protektionsbürokratie just in der Zeit, wo "der ökonomische Individualismus zeitweilig in der Theorie fast ganz zur Herrschaft kommt" (Finanzwissenschaft und Staatssozialismus 43 [1887],
s. 102).
250 Vgl. dazu Johann Baptist Müller: Zum Beitrag der Politischen Wissenschaft im Studium des Sozialwesens. In: Wolf Rainer Wendt (Hrsg.): Studium und Praxis der Sozialarbeit. Stuttgart 1985, S. 72 ff. 251 Adolf Wagner schreibt: Trotz alles theoretischen Strebens nach Beschränkung der Staatstätigkeit (wuchs) diese letztere immer weiter an: intensiv auf alten Gebieten, voran demjenigen der Verwirklichung des Rechtszwecks durch Präventiv- und Repressiveinrichtungen und Maßregeln ... extensiv auf allen jenen alten und so vielen neuen Gebieten, welche man doch am einfachsten unter dem Namen derjenigen des Kultur- und Wohlfahrtszwecks zusammenfassen kann" (Finanzwissenschaft und Staatssozialismus. S. 98 f.).
4. Der moderne Wohlfahrtsstaat
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geführt, daß das vom Staate unbehelligte freie Spiel der Marktkräfte amoralische, gesellschaftszerstörende Züge aufweise. V. A. Dicey zufolge ist der moderne Wohlfahrtsstaat recht eigentlich aus der Idee heraus geboren, daß es keine "invisible hand" gibt, die die Wirtschaftsakte der Staatsbürger zu einem harmonischen Akkord vereinigt und die Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren garantiert. "This doctrine involves ... the denial that laissez faire is in most cases, or even in many cases, a principle of sound legislation252." Aus dieser Ablehnung der wirtschaftlichen Autoharmonievorstellungen resultiere notwendigerweise die Forderung, der Staat habe die von der freien Marktwirtschaft verursachten sozialen und politischen Schäden zu reparieren, für den sozialen Ausgleich zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Klassen zu sorgen. Die moderne Sozialstaatsideologie basiere auf dem irrigen Grundgedanken, daß der Staat verpflichtet sei, zur Wohlfahrt seiner Bürger beizutragen. Dicey beklagt diesen "belief in the benefit of governmental guidance or interference" 253 • Nichts kennzeichne die neue Protektionsdoktrin so sehr als die Tatsache, daß ihre Repräsentanten bewußt die Einschränkung der menschlichen Freiheit in Kauf nähmen254 • Aus diesem Grunde verschwenden die Anhänger der Sozialstaatsidee auch wenig Mühe auf den Gedanken, die Sozialstaatsintervention könnte einer Willkürherrschaft Tür und Tor öffnen. Die Idee der staatlichen Fürsorge habe sich in ihrem Denken so stark in den Vordergrund geschoben, daß sie die Gefahren einer unkontrollierten Staatsbürokratie ganz einfach übersähen. "The fundamental principle which is accepted by every man who leans towards any form of socialism or collectivism, is faith in the benefit to be derived by the mass of the people from the action or intervention of the State even in matters which might be, and often are, left to the uncontrolled management of the persans concerned255." Dagegen schlägt Dicey zufolge die Sozialprotektion notwendigerweise in eine paternalistische Bevormundung der Bürger um. "'Protection' in the first place, is tacitly transformed into 'guidance' and is applied to classes who, though not in any strictness 'incapable' of managing their own affairs, are, in the opinion of the legislature, unlikely to provide as well for their own interest as can the community256." 252 V. A. Dicey: Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England During the Nineteenth Century. Second Edition. London 1962, s. 259. 253 Ebd. 254 Ebd. 25s Ebd. 256 Ebd., S. 262.
6 J. B. Müller
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II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
Während Dicey vor den Gefahren des "Kollektivismus" warnt, haben sich andere Gegner des modernen Sozialstaates einer ungleich klassischeren Terminologie bedient, um die angeblich freiheitsvernichtende Qualität der Sozialstaatsintervention ins Bewußtsein zu heben. Eine Vielzahl von Autoren beschwört nämlich die Illiberalität der alten asiatischen und amerikanischen Reiche herauf, um vor den Gefahren des Wohlfahrtsstaates zu warnen. Herbert Spencer zufolge trägt dieser alle Züge einer Politikordnung, wie sie schon für den Despotismus des InkaReiches kennzeichnend gewesen sei251• Es bedürfe der Besinnung auf diese in Rede stehenden Repressionsstaaten, um die herrschaftsnegierende Qualität des neuen Sozialstaates begreifen zu können. Mit Pathos ruft er aus: "Judge what must under such conditions become the despotism of a graduated and centralized officialism, holding in its hands the resources of the community, and having behind it whatever amount of force it finds requisite to carry out its decrees and maintain what it calls order258." Unter den Zeitgenossen ist es vor allem Bertrand de Jouvenel, der den modernen Wohlfahrtsstaat mit den alten Despotien vergleicht. Für ihn wurde das pharaonische Ägypten zum abschreckenden Vergleich. "Der Ruf nach dem Staat gegen die Ausbeuter menschlicher Arbeit endet damit, daß er sich an ihre Stelle setzt. Wir nähern uns dem in einer Hand vereinigten politischen und ökonomischen Monopol, das heißt einem absoluten Imperium, das sich unsere Vorfahren nicht einmal vorzustellen vermochten, und für das es Entsprechungen nur in anderen ZivilisaHonen gibt, etwa in der ägyptischen259." Das moderne "Sozialprotektorat"280, der moderne "Minotaurus"281 habe die Menschen dazu überredet, in einem "pactum subjectionis" 262 individuelle Rechte zugunsten der Sozialrechte einzutauschen. Bedeutet de Jouvenel zufolge der moderne Wohlfahrtsstaat einen Rückfall in die asiatische Despotie, so ist Horst Baier der Auffassung, daß die moderne wohlfahrtsstaatliche Demokratie eine Herrschaftsintensität aufweist, die der des Absolutismus gleichzusetzen ist. Mit dem heutigen Sozialstaat manövrieren wir uns in Zustände hinein, die dem illiberalen Paternalismus des absoluten Staates entsprächen. "Wir haben seit Kant wahrhaft einen dialektischen Fortschritt hinter uns: Die Idee der Mün267 Herbert Spencer: The Man versus the State. Edited with an Introduction by Donald MacRae. Harmondsworth 1969, S. 110. 258 Ebd., S. 107. 258 Bertrand de Jouvenel: Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums. S. 403. 280 Ebd., S. 424. 28 1 Ebd., S. 423. 262 Ebd., S. 418.
4. Der moderne Wohlfahrtsstaat
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digkeit hat alle Köpfe erobert und bestimmt als Ideal die tägliche Lebensführung; die Mittel, mit denen wir sie verwirklichen wollen, binden aufs neue unsere Leiber und Seelen an die öffentlichen Einrichtungen der Wohlfahrt, liefern uns einer neuen Vormundschaft des Staates aus263." Allerdings sei der neue wohlfahrtsstaatliche Despot ungleich schwieriger zu überwinden als derjenige, den Kant ins kritischliberale Visier genommen hatte. "Freilich halte ich . . . vom Standort unseres Jahrhunderts Kant entgegen: ein Despot der allgemeinen Wohlfahrt und des sozialen Glücks, dem man als Tyrannen, als Vater264 des Staates von Unmündigen entgegentreten kann, ist viel menschlicher und viel leichter abzuwerfen als die gesichtslosen Funktionäre des Sozialstaats mit ihren Heeren von anonymen Bürokraten265." Um seiner Ablehnung des Wohlfahrtsstaates Ausdruck zu verleihen, um seine freiheitsbedrohende Gefahr augenfällig unter Beweis zu stellen, verweist Wilhelm Röpke sogar auf die Zukunftsutopie Aldous Huxleys. Die durch den Sozialstaat erniedrigten "Staatssklaven" lebten in einem politischen Gemeinwesen, dessen Bild der englische Dichter prophetisch an die Wand gemalt hatte. "Diese über proletarisierte Massen triumphierende Kollektivität ... verspricht eine Zukunft, die man sich kaum schwarz genug ausmalen kann, wenn man die freie Menschlichkeit für das Letzte und Höchste hält und sich als ein selbstverständliches Ideal in diese ,Brave New World' hinübergerettet hat266." Die in Rede stehende Herrschaftsintensität des modernen Sozialstaates hat einige Politikanalytiker sogar zu der Behauptung veranlaßt, dieser passe sich immer mehr den totalitären Ordnungen an. In dem Maße, in dem die Herrschaftsintensität des westlichen Systems seine liberalen Bestimmungsmerkmale negiere, komme es folglich zu einer Annäherung an die illiberalen politischen Regime. Schon Karl Mannheim hat die Behauptung aufgestellt, daß die sozialen Interventionsplanungen der liberalen Staaten in diesen eine Regierungsvollmacht erzwinge, die eindeutig als totalitär bezeichnet werden könne. "Sobald die westlichen Staaten dieses fundamentale Problem für die allgemeine 263 Horst Baier: Die Entmündigung des Menschen im Wohlfahrtsstaat. In: Gesunde Medizin. März 1978, S. 52. 264 Gegen die paternalistischen Elemente des Sozialstaates hat sich schon Max Weber gewandt: Der ,Wohlfahrtsstaat' ist die Legende des Patrimonialismus, erwachsen nicht auf der freien Kameradschaft angelobter Treue, sondern auf der autoritären Beziehung von Vater und Kindern: der ,Landesvater' ist das Ideal der Patrimonialstaaten. Der PatriarchaUsmus kann daher Träger einer spezifischen ,Sozialpolitik' sein und dies überall da geworden, wo er hinreichend Anlaß hatte sich des Wohlwollens der Massen zu versichern" (Wirt»chaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. S. 829). 285 Horst Baier: Die Entmündigung des Menschen im Wohlfahrtsstaat. S. 57. 266 Wilhelm Röpke: Civitas Humana. Erlenbach-Zürich 1946, S. 255.
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II. Der gewaltenteilende Zentralstaat des Liberalismus
Sicherheit, d. h. die Lenkung des Konjunkturzyklus, aufgreifen, werden sie Schritt für Schritt gezwungen werden, alle gesellschaftlichen Kontrollstellen zu lenken, wie dies die Diktaturen von Anfang an getan haben287." Dies stelle überdeutlich unter Beweis, "daß die modernen halbtotalitären Demokratien dieselbe Grundstruktur haben wie die nach außen hin totalitären Staaten"268 • Für den unvoreingenommenen Politikanalytiker werde die "zunehmende Ähnlichkeit zwischen den liberal-demokratischen und den totalitären Staaten" 269 immer offensichtlicher. In verwandter Weise behauptet heute Roland Huntford, die Schweden würden als Protagonisten des modernen Wohlfahrtsstaates dem Totalitarismus Tür und Tor öffnen. "Als Pioniere des neuen Totalitarismus dienen die Schweden zur Warnung vor dem, was vielleicht uns allen bevorsteht270." Dabei sei dieser "neue Totalitarismus" weit wirkungsvoller als der alte. Er stütze sich nicht mehr wie früher auf die Gewalt, sondern komme durch Überzeugung und Manipulation zustande271 • Die repressive Natur des Sozialstaates wurde allerdings nicht nur von rechtsliberalen und konservativen Autoren angeprangert, sie geriet auch in das Fadenkreuz der linken Gesellschaftskritik. Linken Autoren stellt sich der Sozialstaat als Instrument dar, um minderbemittelten Schichten der Gesellschaft kapitalistische Werte aufpropfen zu können. Seine Repressivität zeigt sich darin, daß "Klienten nicht nur ihre ,Bedürftigkeit' beweisen müssen, um sich für Unterstützungsleistungen und Sozialstaatsdienste zu qualifizieren, sondern auch als solcher Leistungen ,würdige' Klienten auftreten müssen, die sich den herrschenden ökonomischen, politischen und kulturellen Standards und Normen der Gesellschaft anpassen" 272• Dabei würden die Anforderungen um so strenger ausgelegt, je größer die Bedürftigkeit ist. Claus Offe zufolge kann der "Sozialstaat als ein Austauschverhältnis angesehen werden, in dem materielle Leistungen für die Bedürftigen gegen ihre unterwürfige Anerkennung eben jener ,Moralordnung' einer Gesellschaft getauscht werden, die solche Bedürftigkeit erzeugt" 273 • Die zunehmende Macht des modernen Interventionsstaates wird allerdings nicht hur in einem negativen Sinne bewertet. Viele Autoren 287
Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus.
s. 393 f. 268
269
Ebd., S. 394. Ebd., S. 391.
270 Roland Huntford: Wohlfahrtsdiktatur. Das schwedische Modell. Aus dem Englischen. 2. Auflage. Frankfurt/Main, Berlin und Wien 1973, S. 280. 271 Ebd. 272 Claus Offe: "Arbeitsgesellschaft": Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven. Frankfurt am Main und New York 1984, S. 333. 273 Ebd.
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erblicken in ihm keineswegs einen Feind der Freiheit, sondern vielmehr ihren Garanten. Weit davon entfernt, seine negativen Seiten zu übersehen, weisen sie doch mit Nachdruck darauf hin, daß der Sozialstaat die notwendige Voraussetzung eines humanen Gemeinwesens sei. Er schränke den Freiheitsspielraum nicht ein, sondern trage dazu bei, diesen entscheidend zu erweitern. So schreibt Herman Finer zu Recht: "It is amazing what an enormaus sphere of private freedom has been added to men by the increase of economic goods, especially in the leisure made available by shorter working hours and the inventions which make available to all the opportunities of pleasure, recreation, travel, the seven arts, reading, speculation, conversation, and electronic listening and seeing274." Der Behauptung, der moderne Wohlfahrtsstaat bedeute einen Rückfall in despotische Zeiten, wird gerade auch von Autoren entgegengetreten, die ihren politischen Standort im konservativen Lager haben. So wendet sich der Engländer Warsthorne mit Vehemenz gegen die Auffassung, daß der englische Sozialstaat die Unterdrückung der Briten bewirke. "My guess is, however, that a great majority of British citizens today feel much freer, much less coerced, than their grandfathers275." Vor allem der Arbeiter habe durch die moderne Sozialgesetzgebung keine Beeinträchtigung seines Freiheitsspielraums erfahren. "The worker is free to work or not, to work as he pleases, to knock off or on at will, to determine his own rules275." Der Arbeiter sei heute nicht mehr gezwungen, auch der willkürlichsten Anordnung seines Vorgesetzten zu gehorchen. Dank der fortschrittlichen Gestaltung des Arbeitsrechtes könne er nun Mitspracherechte beanspruchen, die vorher weitgehend unbekannt waren. "Nowhere else has the power of the boss to coerce the worker been so greatly diminished as in contemporary Britain277." In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis vonnöten, daß die von den Rechtsliberalen so vehement gerügte Freiheitsbeschränkung durch den Sozialstaat auch Befürworter findet. Ein so prononciert argumentierender Linksliberaler wie Arthur M. Schlesinger weist darauf hin, daß dieses repressive Moment durchaus auch seinen emanzipatorischen Stellenwert hat. Was bei den Rechtsliberalen als unverzeihliche Sünde wider den liberalen Geist perhorresziert wird, die Einschränkung der Individualrechte durch den Sozialstaat nämlich, gerät bei ihm zur vorbildlichen Tat. Im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts sei es durchaus angebracht, bestimmte Individualrechte einzuschränken. Die 274 275
Hermann Finer: Road to Reaction. Boston 1945, S. 223. Peregrine Worsthorne: Too much Freedom. In: Conservative
Ed. by Maurice Cowling. London 1978, S. 145. 276 Ebd. 277 Ebd.
Essays.
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gesellschaftliche Emanzipation der Unterschichten erheische die Einflußreduktion der Oberschicht. Mit einer gehörigen Portion an Ironie macht Schlesinger darauf aufmerksam, daß es von den Rechtsliberalen geschätzte Freiheiten gibt, die keineswegs verteidigenswert sind. "Die individuellen Freiheiten, die in unserem Jahrhundert durch den Machtzuwachs der Zentralgewalt beeinträchtigt wurden, sind im wesentlichen die Freiheit, unsere natürlichen Hilfsquellen zu plündern und zu vergeuden, die Freiheit, einem Zehntel der Nation seine Bürgerrechte zu verweigern, die Rechte, kleine Kinder in Fabriken und Einwanderer unter unmenschlichen Bedingungen zu beschäftigen, die Freiheit, Hungerlöhne zu zahlen und barbarische Arbeitszeiten zu verlangen, die Freiheit, in der Werbung und beim Verkauf von Wertpapieren zu betrügen - alles Freiheiten, so möchte man annehmen, die ein anständiges Land leicht entbehren kann278." Von den Befürwortern des Wohlfahrtsstaates wird nicht nur auf die notwendigen Dienste hingewiesen, die dieser in einer hochkomplexen Gesellschaft leistet, es wird von ihnen auch die Stärkung der politischstaatlichen Institutionen begrüßt, die das Wachstum des Sozialstaates im Gefolge hat. Ohne jegliche Einschränkung bejaht z. B. Arthur M. Schlesinger, daß die vermehrte Sozialaktivität des amerikanischen Staates zu einer bislang unbekannten Steigerung der Macht seiner Regierung, insbesondere seines Präsidenten, geführt hat. "Vor drei Jahrzehnten bewirkte der New Deal eine außerordentliche Zentralisierung der Macht und der Entscheidungen in Washington. Diese war angesichts der dringenden Notwendigkeit von Reform und wirtschaftlicher Gesundung in der Depression unerläßlich. Sie wurde zwangsläufig durch den Zweiten Weltkrieg intensiviert. Aber wenngleich man die Tendenz zur Zentralisierung des New Deal nicht überschätzen sollte, regte er die Amerikaner zweifellos dazu an, sich auf der Suche nach Lösungen an Washington zu wenden279." Dabei war die Stärkung der Regierung, der Machtanstieg des amerikanischen Präsidenten notwendig, um den sozial Behachteiligten zu helfen, die soziale Emanzipation voranzutreiben. "Das Wachstum der Zentralgewalt in diesem Jahrhundert hat nicht etwa die Bedeutung des einzelnen Bürgers verringert, sondern im Gegenteil einer Mehrheit von Individuen- Arbeitern, Negern, Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten, sogar Intellektuellen - weit mehr Bedeutung verliehen, als sie sonst gewonnen hätten280. " 278 Arthur M. Schlesinger jr.: Das erschütterte Vertrauen. Aus dem Amerikanischen. Bern, München und Wien 1969, S. 225. 279 Ebd., S. 222. 280 Ebd., S. 225. Die starke Stellung des Präsidenten war auch notwendig, um die von tiefen Zerwürfnissen heimgesuchte amerikanische Gesellschaft zusammenzuhalten. "Kennedy erblickte in der persönlichen Führung ein unentbehrliches Mittel, um auseinanderstrebende Gruppen hinter einem ge-
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Während eine Vielzahl von Autoren aus den unterschiedlichsten ideologischen Lagern den mächtigen, starken sozialinterventionistischen Staat attackieren bzw. verteidigen, ist es einer anderen Gruppe darum zu tun, umgekehrt seine Machtlosigkeit aufzuzeigen und zu beanstanden. Sie sind der Überzeugung, der ehemals autoritätsbewußte und loyalitätsheischende Staat sei heute zu einem wenig Respekt abnötigenden Verwaltungsmoloch verkommen. Zu den schärfsten Kritikern des Autoritätsverlustes des modernen liberalen Staates zählen die Parteigänger des amerikanischen Neokonservatismus. Was mit dem Anspruch auf unbedingte Autorität antrat und nicht selten auch Gefahr lief, diese zu sehr zu betonen, sei heute nur noch das Beweisstück einer deformierten, gänzlich aller Würde entkleideten Exekutive. Der oft so selbstbewußte Gestus heutiger Regierungen täusche. Insbesondere der amerikahischen sei die Fähigkeit abhanden gekommen, stetig, selbstbewußt und effizient zu agieren. Samuel P. Huntington zufolge ist daran vor allem diejenige Tendenz schuld, die er als "upsurge of democratic fervor" 281 bezeichnet. In dem Maße, in dem der Staat in der Anspruchsdemokratie immer stärker in das System der Bedürfnisse eingegriffen habe, sei er seiner Autorität verlustig gegangen. "The vitality of democracy in the United States in 1960's produced a substantial increase in governmental activity and a substantial decrease in governmental authority282. " Vor allem die Exekutive habe unter dem allgemeinen Autoritätsverlust gelitten. "The questioning of authority ... manifested itself in a decline in public confidence and trust in politicalleaders and institutions283." Auch in der Bundesrepublik Deutschland haben die Repräsentanten des konservativen Ideenkreises zum Ausdruck gebracht, in wie starkem meinsamen Ziel zu sammeln. Außerdem betrachtete er eine starke Präsidentschaft nicht nur aus politischen, sondern auch aus sachlichen Gründen als unerläßlich ... Wenn die Macht des Präsidenten allgemein geschmälert würde, so vergrößerte sich nur die Ohnmacht der Nation gegenüber ihrer tiefen Spaltung. Kennedy glaubte, daß unserer Nation gefährliche Zeiten bevorstehen, daß die Bande, die Amerika mit Mühe zusammenhalten, einer fast unerträglichen Belastung ausgesetzt sind und daß eine Verringerung der Autorität des Präsidenten ein verhängnisvoller Fehler wäre, wo nur ein starker Präsident uns die Möglichkeit bietet, unser schwierigstes und dringlichstes innenpolitisches Problem zu lösen; die Gleichberechtigung der Rassen herbeizuführen" (ebd., S. 246). 281 Samuel P . Huntington: The Democratic Distemper. S. 9. 282 Ebd., S. 11. 283 Ebd., S. 15. Huntington ist allerdings zuversichtlich. Seiner Ansicht nach wird der Staat diese Herausforderung annehmen und sich auf seine Kräfte besinnen. "The tensions likely to prevail in a postindustrial society will probably require a more authoritative and effective pattern of governmental decision-making" (Samuel P. Huntington: Postindustrial Politics: How Benign Will it Be? In: Comparative Politics. January 1974, S. 190).
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Maße der Staat einem allgemeinen Autoritätsverfall anheimgefallen sei. Im Horizonte einer Staatslehre, für die der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft bestimmend ist, wird über den Sieg des Systems der Bedürfnisse über den Staat geklagt. Das Gemeinwesen der Bundesrepublik liquidiere die Voraussetzung für eine wohlfunktionierende Ordnung in dem Maße, in dem der Staat zum Parteigänger der anspruchsheischenden Gesellschaft wird. Pointiert beklagt Ernst Forsthoff die Entstaatlichung der Bundesrepublik "Der harte Kern des heutigen sozialen Ganzen ist nicht mehr der Staat, sondern die Industriegesellschaft, und dieser harte Kern ist durch die Stichworte Vollbeschäftigung und Steigerung des Sozialproduktes bezeichnee84 ." Eine vorurteilsfreie Analyse der Bundesrepublik zeige augenfällig "den kontinuierlichen Abbau aller auf souveräne Eigenständigkeit hindeutenden Strukturen und die weitgehende Eliminierung hoheitlich-herrschaftlicher Elemente"285. Aus diesem Grunde entspreche "die Bundesrepublik den Kriterien der Staatlichkeit, die seit Jahrhunderten gelten, nicht mehr" 286. Ein sinnfälliger Beweis für die reduzierte Autorität des Staates sei auch die Tatsache, daß dieser seine Souveränität mit den unterschiedlichsten Interessenverbänden zu teilen habe. Einer pointiert zugespitzten Argumentationsweise befleißigt sich der Staatsrechtier Werner Weber. Er behauptet und bedauert, daß "ein Pluralismus . . . oligarchischer Herrschaftsgruppen" 287 die Herrschaftsorganisation der Bundesrepublik Deutschland bestimme. Während sich die Weimarer Republik "aus der Tradition der konstitutionellen Monarchie noch viel an eigener staatlicher Substanz bewahrt habe" 288, sei die Bundesrepublik ganz den staatszersetzenden Parteien und Verbänden preisgegeben. "Heute ist von jener ganzen eigenständigen Staatlichkeit nicht viel mehr vorhanden als die Erinnerung und damit nichts, an dem sich die Macht der Gruppen brechen könnte289." In ähnlicher Weise beklagt Winfried Martini die "Privatisierung des Staates" 290. Er moniert, "daß die organisierten natürlichen Interessen in zunehmendem Maße zu mehr oder minder autonomen Gebilden führen, die sich nun auf Kosten der staatlichen 284 Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage. München 1971, S. 164. 285 Ebd., S. 165. 286 Ebd. 287 Werner Weber: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem. Stuttgart 1951, S. 49. 288 Ebd., S. 50. Die Weimarer Republik "hatte eine geschlossene Bürokratie, eine Wehrmacht, eine respektgebietende Staatsapparatur, gedeckt und abgeschirmt durch die neutrale Position des Reichspräsidenten" (ebd.). 289 Ebd. 290 Winfried Martini: Freiheit auf Abruf. Die Lebenserwartung der Bundesrepublik. Köln und Berlin 1960, S. 346 f.
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Herrschaftsfunktionen entfalten und den Staat auf die Rolle eines Dachverbandes mit begrenzten schiedsrichterlichen Funktionen verweisen" 291 • Vor allem in Deutschland sei seit 1945 "die Bereitschaft gewachsen, die Staatlichkeit zugunsten der Verbände zu ,demontieren"' 282 • Um die Pathologie der Verbandmacht im modernen Sozialstaat unter Beweis stellen zu können, werden sogar historische Beispiele beschworen. So ist es Theodor Schieder darum zu tun, auf die Gefahr eines Rückfalles in polykratische mittelalterliche Verhältnisse hinzuweisen. Der Aufstieg der Verbände und die dadurch bewirkte Autoritätsreduktion des Staates habe die geschichtliche Entwicklung umgekehrt. "Die ... Verbände, zu denen längst nicht mehr nur die Unternehmerverbände und Konzerne gehören, sondern ebenso die mächtigen Gewerkschaften der Arbeitnehmer, nehmen in der Industriegesellschaft eine ähnliche Stellung ein wie im mittelalterlichen öffentlichen Leben die feudalen Gewalten, die sich der königlichen Rechte und Einkünfte, auch des Königsguts im territorialen Sinne bemächtigten, die Königsmacht ihrer Basis berauben und sie auf formale Funktionen zu beschränken suchen293." Deshalb sei es legitim, sich die Frage zu stellen, "ob das Ergebnis der Entwicklung im modernen Industriestaat etwas Ähnliches wie eine neue ,Feudalisierung' des Staates zu werden droht, der dann zu einem nur noch formal wirksamen Instrumentarium gesellschaftlicher Kräfte wird, die ihn faktisch beherrschen" 294 • Dabei ist Schieder der Ansicht, daß "die völlige Auflösung eines Ganzen wie des mittelalterlichen Reiches in staatliche Teilgewalten oder Polens in die nicht einmal staatlich verfaßte Herrschaft der Adelsgesellschaft" 295 droht. Beschwörend ruft auch Werner Weber die politische Leistung all derjenigen ins Gedächtnis, die in mühevoller Arbeit zur Überwindung der mittelalterlichen Polykratie beigetragen haben und verweist auf die heutige Gefährdung ihrer Leistungserfolge. Was in jahrhundertalter, mühevoller Arbeit erreicht wurde, drohe heute zerstört zu werden. "So ergibt sich für uns die Frage, ob es unser Schicksal ist, in die politische Rolle des ausgehenden Mittelalters hinabzusinken, dessen auseinanderstrebende politische Stände: Kurfürsten, weltliche und geistliche Fürsten und Städte in den erwähnten Oligarchien unserer Tage ihr Gegenstück haben296." 291 292
Ebd., S. 346 f . Ebd., S. 347.
293 Theodor Schieder: Einmaligkeit oder Wiederkehr. Historische Dimensionen der heutigen Krise. In: Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung. Band I. Hrsg. von Wilhelm Hennis, Peter Graf Kielmansegg und Ulrich Matz. Stuttgart 1977, S. 34 f. 294 Ebd., S. 35. 29a Ebd. 298 Werner Weber: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem. S. 63.
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Die Machtreduktion des Staates wird nicht nur mit dem Hinweis auf die Einflußmöglichkeiten der Interessenverbände zu beweisen versucht. Auch die zunehmende Interventionsaktivität des Staates wird zum Anlaß genommen, seine Autoritätsminderung zu erklären. Im Fokus der Aufmerksamkeit vieler Autoren steht die Tatsache, daß ein interventionsfreudiger Staat keineswegs ein starker Staat sein muß. Zum Anwalt dieser Argumentationsweise hat sich insbesondere Ernst Forsthoff gemacht. "Die Weimarer Republik, die den Staatsbürger finanziell in sehr viel höherem Maße in Anspruch nahm, über ein Vielfaches der Einnahmen des Staates der monarchischen Zeit verfügte, war trotzdem schließlich ein schwacher Staat297." Es sei falsch, den Interventionsgrad eines Gemeinwesens zum Maßstab seiner Stabilität und seiner Stärke zu machen. "Es ist also nicht so, daß da, wo ,wenig Staat' ist, der Staat schwach sein muß, uhd daß da, wo ,viel Staat' ist, der Staat notwendig stark wäre. Staat und Staat bedeuten ... nicht immer das Gleiche298." So sei es grundfalsch, aus der ökonomischen Performanz eines Gemeinwesens seine Stabilität abzuleiten. "Es gibt eine Staatlichkeit, die man aus keinem Staatshaushalt ... entnehmen kann299." Von der Warte eines an ganzheitlichen Staatstheorien geschultenDenkensaus verweist Forsthoff auch auf den eigenartigen Tatbestand, daß die Steigerung der Interventionsaktivität des Staates keineswegs zu einer Stärkung der staatlichen Homogenität und der gemeinschaftlichen Qualität der Politie führt, sondern ganz im Gegenteil das Einzelinteresse befördert. Für Forsthoff demohtiert die Staatsintervention die Souveränität des Staates in dem Maße, in dem die Bürger die sozialpolitischen Wohltaten als Ausfluß ihrer individuellen Bedürfnisse interpretieren. Das Band zwischen dem Ganzen und dem einzelnen werde nur noch durch pragmatische Versorgungsüberlegungen geknüpft, "idealistischere" Reflexionen durch diesen Pragmatismus verdrängt. "Das ganze Staatswesen wird durch die sozialstaatliehen Aufgaben in diesen ... Niederungen der alltäglichen Vorsorge für die Lebenssicherung geradezu festgehalten. Ein solches Staatswesen hat als Ganzes wenig werbende Kraft. Es spricht das Ethos kaum an. Ein solcher Staat ist eine Sache, die ordentlich erledigt werden muß ..., aber möglichst durch andere, - eine Sache, um die man sich nicht weiter kümmert, als es die individuellen Interessen und Bedürfnisse jeweils geboten erscheinen lassen300." In diesem Zusammenhang beklagt Klaus Hornung, daß das sozialeudämonistische Staatsdenken nicht zuletzt auch die außenpolitischen Probleme in einem falschen Licht 297 Ernst Forsthoff: Haben wir zuviel oder zuwenig Staat? In: Josef Winschuh und Ernst Forsthoff: Selbständigsein und Staat. Bonn 1955, S. 26. 2os Ebd. 299 Ebd. 300 Ebd., S. 28.
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erscheinen läßt. Statt sich um die internationale Position seines Gemeinwesens zu kümmern, gehe es dem Bürger der sozialen Anspruchsdemokratie zuvörderst um die Befriedigung seiner ureigensten Bedürfnisse. "Diese introvertierte Wohlstandsgesellschaft ist schwer in der Lage, ihre sicherheitspolitische Situation im internationalen Kräftefeld zu vermessen, zureichend einzuschätzen und daraus politische Folgerungen zu ziehen301." Da uns die Gefahr drohe, zwischen der Szylla der totalitären Gewaltherrschaft und der Charybdis der pluralistischen Staatsauflösung zerrieben zu werden, muß dem liberalen Staat jene Würde wiedergegeben werden, die ihm als Hüter des Gemeinwohls notwendigerweise zukommt. Werner Weber ruft dazu auf, den "Pluralismus der Oligarchien in einer überhöhenden Einheit aufzuheben" 302. Dabei ist er sich durchaus der Tatsache bewußt, daß die Entfeudalisierung und Entpluralisierung der staatlichen Struktur der Bundesrepublik ein schwieriges Unterfangen ist. "Es wird freilich nicht leicht sein, die gegenwärtigen oligarchischen Machthaber dazu zu bringen, daß sie zugunsten einer sie überwölbenden Regierungsautorität ihre herrschende Rolle mit einer dienenden vertauschen303." Es gehöre zu den schwierigsten Aufgaben überhaupt, dem Staate "gegen starke soziale Mächte aus dem Nichts heraus ... wieder eine eigene Mitte zu geben, in der obrigkeitliche Autorität und demokratisches Vertrauen sich gegenseitig bestätigen" 304 . Das kann allerdings nicht heißen, den Wohlfahrtsstaat zu demontieren. Die Gefahr für die Eigensubstanz des Staates deszendiert kaum aus der sozialen Intervention des modernen Gemeinwesens. Es ist einfach unwahr, daß der Wohlfahrtsstaat die Grundlagen des freiheitlichen Politiksystems gefährdet. Die Fortentwicklung des Rechtsstaates zum sozialen Rechtsstaat, die Verleihung nicht nur politischer, sondern auch sozialer Bürgerrechte305 garantieren vielmehr die politischen Errungenschaften des Liberalismus. Der liberale Wohlfahrtsstaat ist deshalb nicht aus dem 301 Klaus Hornung: Friedensreden im Schlaraffenland. Die Wurzeln der Unfähigkeit, politisch zu denken. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt Nr. 47. 25. November 1983. Hornung führt nicht zuletzt die Friedensbewegung auf die Unterordnung der Außenpolitik durch die Innen- und Umverteilungspolitik zurück. "Die Philosophie des Wohlfahrtsstaats wie seine relativ lange Dauer in Europa verführten ... zu der Meinung, es sei ganz normal und völlig in Ordnung, wenn er, wie etwa in Dänemark, 2,5 Prozent vom Sozialprodukt für die Verteidigung ausgibt, jedoch 90 Prozent Arbeitslosengeld vom letzten Bruttolohn zahlt" (ebd.). 302 Werner Weber: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem. S. 63. 303 Ebd., S. 64. ao4 Ebd. 305 T. H. MarshaH: Sociology at the Crossroads and other Essays. London 1963,
s. 67 ff.
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Gegensatz zum Rechtsstaat geboren, sondern erweist sich als dessen zuverlässigste Stütze. Aus diesem Grunde ist es kaum vertretbar, wenn dem liberalen Sozialstaat totalitäre Qualitäten imputiert werden. Der Wohlfahrtsstaat hat den Totalitarismus, statt ihn zu befördern, recht eigentlich verhindert. Gerade daß sich in ihm so viele individualistische und pluralistische Tendenzen finden, macht seine antitotalitäre Natur aus. Es gibt keine notwendige Verbindung zwischen der sozialpolitischen Aktivität eines Staates und seiner allgemein-politischen Qualität. Ein Wohlfahrtsstaat kann beispielsweise politisch liberal und ein ökonomischer "Nachtwächterstaat" politisch illiberal sein. Das sozialpolitisch nicht unbedingt rückschrittliche Regime des Nationalsozialismus war totalitär, der schwedische Wohlfahrtsstaat ist liberal. Obgleich die Bundesrepublik im Gegensatz zum totalitären Staat Hitlers ihren sozialpolitischen Interventionsgrad entscheidend erhöhte, ist sie ein genuin liberales Gemeinwesen. Im Horizonte der philosophischen Anthropologie erweist sich die moderne Sozialpolitik als diejenige Institution, die den weltoffenen, die Schranken seiner Umwelt durchbrechenden Menschen schützt. Dabei gehört es zu den Besonderheiten der liberalen Sozialpolitik, totalitäre Verhaltensregulierungen zu verhindern. Der aus seiner Umweltstruktur entlassene Mensch trifft im liberalen Interventionsstaat auf solche Institutionen, die ihm gleichzeitig Schutz und Freiheit gewähren. Es ist nicht das geringste Verdienst des Wohlfahrtsstaates, die liberaldemokratischen Regierungen unserer Zeit stabilisiert zu haben. Die sozialpolitische Aktivität des Staates mindert die Attraktionskraft endzeitlicher Politikvorstellungen, verhindert, daß in Not geratene Bürger sich radikalen politischen Richtungen zuwenden. Eine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik hätte wahrscheinlich den Aufstieg Hitlers verhindert.
111. Der okzidentale Illiberalismus als extreme Monokratie Die fortschreitende Verwirklichung der Idee der Freiheit in der Geschichte zu erblicken, mochte vielleicht vor 100 Jahren noch möglich sein; auf den heutigen Betrachter wirkt es wie ein Hohn. Walter von Loewenich Fiele mir die Aufgabe zu, aus den Zeugnissen unseres Jahrhunderts Material für den Historiker und Archäologen der Zukunft auszuwählen, so würde ich gewiß den Gaskammern von Auschwitz und den Protokollen der Moskauer Prozesse einen wichtigen Platz einräumen. Richard Löwenthai 1. Die Dialektik des Liberalismus
Nichts kennzeichnet die politische Geschichte der Menschheit so sehr wie die Tatsache, daß in ihr Diktatur, Despotie und Tyrannei ein immer wiederkehrendes Motiv darstellen. "Von den griechischen Tyrannen bis Cäsar, von Cäsar bis Savonarola, von Savonarola bis Kalvin, von Kalvin bis Cromwell, von Cromwell bis Robespierre, von Robespierre zu den beiden Napoleon, von den beiden Napoleon bis Mussolini, Hitler und Stalin begleitet die Diktatur die Entwicklungsphasen der Menschheit1 . " Duverger macht allerdings auch darauf aufmerksam, daß sich die Diktaturen ungleichmäßig in der Geschichte verteilen. "Es hat fast zu jeder Zeit Diktaturen gegeben, aber es handelt sich meist um Einzelfälle. Manchmal treten ... mehr oder weniger dauerhafte Diktaturen gleichzeitig in einer größeren Anzahl von Ländern auf2 ." Duverger unterscheidet in der Menschheitsgeschichte zwei große Diktatur-Epidemien. "Erstere breitete sich im VII. und VI. Jahrhundert vor Chr. in den Mittelmeerstädten aus3 ." Die zweite große Diktatur-Epidemie "begann mit der französischen Revolution im Jahre 1789 und ist noch nicht zu Ende"'. Dieser Befund Duvergers widerspricht diametral allen optimi1 Maurice Duverger: über die Diktatur. Aus dem Französischen. Wien, Stuttgart und Basel 1961, S. 14 f. 2 Ebd., S. 15. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 16. Dabei war die Herrschaft Cromwells die einzige Diktatur, die "in der Zeit zwischen dem römischen Kaiserreich und Robespierre in einem
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III. Der okzidentale Illiberalismus als extreme Monokratie
stisch getönten Zukunftsprognosen, die dem fortschrittlichen Geist der Neuzeit verpflichtete Denker in den letzten 200 Jahren artikuliert haben. Für sie war die politische Geschichte der Zukunft von der Notwendigkeit diktiert, der Menschheit immer antidespotischere politische Institutionen zu verschaffen, Ausfluß der Hoffnung, daß das Zeitalter der Unfreiheit endgültig der Vergangenheit angehört. Für Benjamin Constant ist die despotische Regierung dazu verdammt, über kurz oder lang die Herrschaft den liberalen Kräften zu überlassen. Alle Regierungen, die sich mit dem Despotismus einließen, wurden gestürzt. "Die unumschränkte Macht ist stets in dem Augenblick zusammengebrochen, da lange, erfolggekrönte Anstrengungen sie von jeglichem Hindernis befreit hatten und ihnen eine friedliche Dauer zu versprechen schienen6 ." Sie gruben sich einen Abgrund, "in den sie zuletzt immer hineinstürzten" 8• In dem Maße, in dem die Menschen Bildung erlangen und sich der Aufklärung verpflichteten, erhöhte sich die Chance, daß sich ein antidespotisches System etablieren kann. Unkenntnis über den Staat ist dagegen das Unterpfand jeglicher Tyrannei. "Solange das Menschengeschlecht tief in Unwissenheit und Erniedrigung steckt, fast aller moralischen Kräfte beraubt und bar aller Kenntnisse und damit auch ohne materielle Hilfsmittel, folgen die Völker wie Herden nicht bloß dem, den eine glänzende Eigenschaft auszeichnet, sondern jedem, den irgend ein Zufall an die Spitze der Menge wirfe." Die stetige Steigerung der Bildungsanstrengungen dagegen weise dem freiheitlichen Regime den Weg. "In dem Maße als die geistige Entwicklung fortschreitet, stellt die Vernunft die Rechte des Zufalls in Frage; und das vergleichende Nachdenken entdeckt eine Gleichheit der Menschen, die aller ausschließlichen Oberherrschaft widerstrebt8 ." Dabei sei es nicht so sehr "die Ausbreitung als die gleichmäßige Verteilung geistiger Aufklärung ... die der Oberhoheit eines Einzigen ein Hindernis entgegenstellt" 9 • großen Staat errichtet wurde" (Über die Diktatur, S. 18). In der Zeitspanne zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit ist die Diktatur eher ein Ausnahmephänomen. "Vom Mittelalter bis zum XVII. Jahrhundert gibt es in der westlichen Welt nur einige Beispiele, in den italienischen oder nordischen Städten, insbesondere die Diktaturen des Savonarola in Florenz, des Johannes von Leiden in Münster, des Kalvin in Genf, des Prinzen von Oranien in Brüssel usw." (ebd.). Alle diese Versuche aber seien "in Raum und Zeit begrenzt" gewesen (ebd.). Sie "waren kurzlebig und überschritten nicht den Rahmen der Stadtgemeinden" (ebd.). ~ Benjamin Constant: über die Gewalt. Aus dem Französischen. Bem 1942, S.l49. I Ebd. 7 Ebd., S. 86. 8 Ebd., S. 87. 9 Ebd.
1.
Die Dialektik des Liberalismus
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Genauso optimistisch schrieb Henry Maine: "Eine ziemliche Anzahl französischer und spanischer Legitimisten und ein paar alte Höflinge aus der Umgebung entthronter deutscher oder italienischer Fürsten glauben vielleicht noch, daß die Demokratie ein vorübergehendes Übel sein wird. Ihre Hoffnungen sind vielleicht ebenso töricht wie ihre Trauer um vergangene Zeiten10." In ganz Europa herrschte ausgesprochene Zukunftszuversicht "So freuten wir uns des überlegenen Wissens unserer Zeit und unserer gesicherten Freiheiten. Das Versprechen des Friedens und der Freiheit, das die französische Aufklärung der Welt gegeben hatte, war gegen Ende des 19. Jahrhunderts wunderbar eingelöst worden. Man konnte durch ganz Europa und Amerika ohne Paß reisen und seinen Wohnsitz aufschlagen, wo immer man wollte. Außer in Rußland konnte man in ganz Europa, ohne einer Zensur unterworfen zu sein, drucken, was man wollte, und konnte ungestraft jede Regierung und jeden Glauben aufs schärfste angreifen11 . " Politische Verfolgung war beinahe unbekannt. "In Europa befanden sich nicht mehr als einige hundert Menschen in politischem Exil12." Aus diesem Grunde hielt man es für selbstverständlich, optimistisch in die Zukunft blicken zu können. Die große Mehrzahl der Gebildeten des europäischen Kontinents war der Auffassung, "der Sieg der modernen Aufklärung werde zu universalem Frieden und universaler Toleranz führen" 13• Begriffen und akzeptiert wurden eigentlich nur diejenigen politischen Ordnungsvorstellungen, die auf ein liberales Modell zu bringen waren und mit den Kategorien des Antidespotischen korrespondierten. Dieser Optimismus teilte sich nicht zuletzt auch amerikanischen Historikern und Politologen mit. In Übereinstimmung mit denjenigen Persönlichkeiten, die ihre Republik begründet hatten, schauten sie ausgesprochen optimistisch in die Zukunft und hofften, daß despotische Herrschaftssysteme über kurz oder lang endgültig der Vergangenheit angehören. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson schrieb: "Während die Aristokratie zu verschwinden scheint, bereitet sich offenbar die Demokratie überall darauf vor, die Herrschaft anzutreten14." Wilson zufolge gehörten die russische Regierungsform sowie die der Türkei eindeutig zu den historisch überholten Politiksystemen16• George Kennan weist darauf hin, daß die Amerikaner auch in Rußland die politische Entwicklung unter einem demokratischen Vorzeichen 10
(1950), 18 13
14
u
Volkstümliche Regierung. S. 4. Die Autorität der freien Gesellschaft. In: Zeitwende 22
Henry Sumner Maine:
u Michael Potanyi:
s. 196.
Ebd. Ebd.
Woodrow Wilson:
Ebd., S. 434.
Der Staat. S. 435.
9ö
III. Der okzidentale Illiberalismus als extreme Monokratie
sahen. "Es gab ... nichts, was in ihnen Zweifel erregt hätte, daß der Beseitigung des Systems etwas anderes folgen konnte als eine rasche Entwicklung zu parlamentarischer Demokratie16 ." Das Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit für Rußland "hatte sich in der Hauptsache darauf beschränkt, den Kampf gegen die autokratische Herrschaft mit Wohlwollen zu verfolgen" 17• So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß der amerikanische Botschafter in Petersburg, David R. Francis in der Februarrevolution den Anfang einer liberal-demokratischen Entwicklung erblickte. "Francis sah in den Ereignissen zwischen dem 12. und 18. März 1917 ... den Anbruch einer Ära des demokratischen Liberalismus. Er glaubte, daß nun ein freies politisches Leben beginnen würde, das den ganzen pompösen Rahmen änderte18." Deramerikanische Botschafter habe mit einem politischen Gemeinwesen zu verhandeln, "das alle Brücken zur Monarchie abgebrochen hatte und sich auf dem gleichen Weg demokratischer Regierung befand, den die Vereinigten Staaten schon lange eingeschlagen hatten" 19• Auch die Kriegserklärung an Deutschland wurde unter dem Aspekt betrachtet, die Ausbreitung der Demokratie zu beschleunigen und zu fördern. So schreibt der amerikanische Außenminister Lansing an seinen Präsidenten: "I believe that our future influence in world affairs, in which we can no Ionger refuse to play our part, will be materially increased by prompt, vigorous and definite action in favor of Democracy and against absolutism ... It is my belief that the Ionger we delay in declaring against military absolutism which menaces the rule of liberty and justice in the world, so much the less will be our influence in the days when Germany will need a merciful and unselfish foe20." Die Kriegserklärung "would encourage and strengthen the new democratic government of Russia, which we ought to encourage and with which we ought to sympathize. If we delay, conditions may change and the opportune moment when our friendship would be useful may be lost. I believe that the Russian Government founded on its hatred of absolutism and therefore of the German Government would be materially benefited by feeling that this republic was arrayed against the same enemy of liberalism21 ." 18 George F. Kennan: Amerika und die Sowjetmacht Der Sieg der Revolution. Band I. Stuttgart o. J., S. 21. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 25. 19 Ebd. 20 Robert Lansing am 19. 3. 1917. In: Papers Relating to Foreign Relations of the United States. The Lansing Papers 1914-1920. Vol. I. Washington 1939,
s. 628. 21
Ebd., S. 627.
1.
Die Dialektik des Liberalismus
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Noch im Jahre 1925 meinte Benedetto Croce der Ansicht Ausdruck verleihen zu können, auch die Gegner des Liberalismus würden sich letzten Endes auf die Vorzüge der freiheitlichen Politikverfassung besinnen. Die Reflexion darauf, wie eine genuin humane Politie zu gestalten sei, werde immer wieder zur Einsicht führen, daß alle illiberalen Ordnungen dem wahren Wesen des Menschen widersprechen. "It is ... certain ... that our Socialists and our authoritarians will gradually turn to Liberalism, in proportion as they gain experience, and as thoughtfulness and a sense of responsibility resume sway over their policies22." Weit davon entfernt, ein Moribundus zu sein, werde der Liberalismus zu neuem Leben erweckt werden. Die Grablieder, die von seinen politischen Feinden auf ihn gesungen werden, klängen durchaus nicht überzeugend. So mancher Sänger sei sogar von heimlichen Zweifeln heimgesucht. "I have often suspected, indeed, that the litanies which many of our young men are singing over the corpse of Liberalism are intoned to quiet the many doubts and perplexities they are harboring deep down in their souls23." Nichts konnte den in Rede stehenden Optimismus beeinträchtigen, die Hoffnung auf den endgültigen und weltweiten Sieg der Demokratie schmälern. "From the standpoint of the early twentieth-century Bonapartism appeared a strange aberration, a flying in the face of the secular trend of modern history. All over the world parliaments were springing up like mushroo~s. The fall of the surviving autocratic dynasties, Hapsburgs, Hohenzollerns and Romanovs, during and after the World War, seemed to put the seal on the triumph of democracy24." Im Chor der Geschichtspropheten der Neuzeit gab es allerdings immer schon Stimmen, die sich weigerten, die auf einen optimistischen Ton gestimmten Lieder mitzusingen. Sie verwiesen hartnäckig auf die antifreiheitlichen Tendenzen, die in der Geschichtsentwicklung am Werke seien und die illiberalen Potenzen, die darauf warten, von Volksverführern aktualisiert zu werden. Mit geradezu visionärer Erkenntniskraft hat der Spanier Cortes darauf aufmerksam gemacht, daß die Weltentwicklung keineswegs mit einem freiheitlichen Vorzeichen versehen sei. So fragwürdig wir seine politische Theorie auch empfinden mögen, über die Treffsicherheit seiner Geschichtsprophetie läßt sich leider kaum streiten. "Die Welt, meine Herren, geht mit eilendsten Schritten der Einrichtung eines Despotismus 22 Benedetto Croce: Has Liberalism April 29, 1925, S. 258. zs Ebd. 24 Altred Cobban: Dictatorship. Its S.lll.
7 J. B. Mül'ler
a Future? In: The New Republic. History and Theory. London 1948,
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111. Der okzidentale Illiberalismus als extreme Monokratie
entgegen, des gigantischsten und zerstörerischsten, dessen sich die Menschen erinnern können25." Alle Entwicklungslinien deuten auf die Heraufkunft einer a priori unfreiheitliehen Ordnung hin. "Meine Herren, die Wege sind für einen gigantischen, kolossalen, universellen, unermeßbaren Tyrannen bereitet; alles ist dafür vorbereitet; meine Herren, betrachten Sie es genau; schon gibt es keinen Widerstand mehr, weder einen physischen noch einen moralischen; es gibt keinen physischen Widerstand mehr, weil es für die Dampfer und die Eisenbahnen keine Grenzen mehr gibt; und es gibt keinen moralischen Widerstand mehr, weil alle Geister gesondert sind, und alle Vaterlandsliebe toe6." Auch Jacob Burckhardt hat die Begrenztheit des demokratischen Fortschrittsoptimismus geliehen, die Unfähigkeit der liberalen Historiographie erkannt, illiberale Tendenzen in der modernen Gesellschaft und Politie aufzuspüren. In einem Brief vom 13. April 1882 behauptet er, "daß die Welt der Alternative zwischen völliger Demokratie und absolutem, rechtlosem Despotismus entgegentreibt" 27 • Dieser we11de freilich nicht mehr von Dynastien betrieben werden, "sondern von angeblich republikanischen Militärkommandos" 28 • Dabei waren die Pessimisten durchaus verschiedener Meinung darüber, welche Länder und Erdteile als erste der Gefahr eines neuen Despotismus anheimfallen werden. Wilhelm Roseher etwa ging davon aus, daß die USA am bedrohtesten seien. Er befürchtete, die Vereinigten Staaten würden einer "proletarisch-kommunistischen Gefahr" 29 erliegen, in den USA ein cäsaristisches Regime errichtet30• Carl von Rotteck dagegen war der Auffassung, daß eher die Europäer am Geist der Freiheit Verrat üben werden. Im Gegensatz zu den Amerikanern seien diese ungleich freiheitsmüder und despotieanfälliger. Seine Sorge war, der Niedergang der europäischen Politien werde "stufenweise .. . uns zum Loose der Chinesen führen'