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German Pages 486 Year 2020
Herrschaft und Repräsentation in der Habsburgermonarchie (1700–1740)
bibliothek altes Reich
Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal
Band 31
Herrschaft und Repräsentation in der Habsburgermonarchie (1700–1740) Die kaiserliche Familie, die habsburgischen Länder und das Reich Herausgegeben von Stefan Seitschek und Sandra Hertel
Mit freundlicher Unterstützung von
ISBN 978-3-11-066673-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067056-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066715-8 ISSN 2190-2038 Library of Congress Control Number: 2020942045 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Kaiserlicher Herold, Bildausschnitt einer Darstellung Karls VI. als römischer Triumphator, Kupferstich, Johann Andreas Pfeffel, Augsburg 1725 (Privatbesitz). Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Stefan Seitschek, Sandra Hertel 1 Vorwort
Teil I: Die kaiserliche Familie Leopold Auer Regierung und Persönlichkeit Karls VI. Umrisse einer Forschungsaufgabe
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János Kalmár Zur Erziehung Kaiser Karls VI. Sein Ajo, seine Lehrer und Mitschüler Charlotte Backerra Das kaiserliche Paar aus britischer Sicht
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Frank Göse „Es wird die Freundschafft hoffentlich nicht in bloßen Complimenten bestehen …“ Die Höfe Kaiser Karls VI. und König Friedrich Wilhelms I. in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung 87 Michael Pölzl Am Anfang und am Ende Die Mutter und die Schwägerin Karls VI.
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Teil II: Höfe und Residenzen Virginia León Sanz Der Hof und die Regierung von Karl VI. in Barcelona
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Susanne Fritsch-Rübsamen, Andreas Weigl Kaiser, Landesfürst und städtische Administration am Beispiel der Haupt- und 173 Residenzstadt Wien (ca. 1700 – 1740)
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Inhalt
Elisabeth Garms-Cornides Karl VI. und „seine“ Spanier Anmerkungen zu Exil, Integration und Ausgrenzung im Wien des 18. Jahrhunderts 193 Pia Wallnig Das vizekönigliche Paar und sein Personal Karrieren und Mobilität zwischen Neapel, Mailand und Wien
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Teil III: Herrschaftspraxis András Forgó Formen der politischen Kommunikation am Beispiel des ungarischen Landtags 1722/1723 233 Sabine Jesner Amtskommunikation und Personalwesen im habsburgischen Banat (1716−1740) 251 Stefan Meisterle Kaiserlich Ostindien – die indischen Niederlassungen Karls VI.
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Stefan Seitschek Zu verhütung nachtheiliger confusion und unordnung Die Geheime Finanzkonferenz 283 Manfred Zollinger Auf Kriegsfuß mit dem Zufall? Lotterien in der Habsburgermonarchie ca. 1700 bis 1751
Teil IV: Repräsentation von Herrschaft Friedrich Polleroß Karl VI. im Porträt – Typen & Maler
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Inhalt
Sandra Hertel Ein Herrscher – viele Kronen Die Insignien als Teil der Herrscherrepräsentation Karls VI. und seiner Familie 385 Anna Fabiankowitsch Constanter Continent Orbem Zur Repräsentation Karls VI. auf Münzen und Medaillen
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Andrea Sommer-Mathis/Danièle Lipp Neue Quellen zum Musiktheater am Hofe Erzherzog Karls in Barcelona 421 während des Spanischen Erbfolgekrieges (1705 – 1713)
Teil V: Epilog Thomas Wallnig Distant Reading Austria Ein Essay über die Habsburgermonarchie des langen 18. Jahrhunderts und die digitale Transformation der Geschichtswissenschaften 451 Abkürzungsverzeichnis Abbildungsnachweise
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Stefan Seitschek, Sandra Hertel
Vorwort
Kaiser und Landesfürst: Wir, Carl der Sechste … Erwählter Römischer Kaiser/ zu allen Zeiten Mehrer des Reichs/ in Germanien/ zu Hispanien/ Hungarn/ und Böheim/ Dalmatien/ Croatien/ Slavonien/ etc. König; Erz-Herzog zu Oesterreich; Herzog zu Burgund/ Steyer/ Kärnten/ Crain und Würtemberg; Graf zu Habspurg/ Flandern/ Tyrol/ und Görz/ etc. etc.
Die Titulatur Karls VI. steckt bereits den Raum ab, den es für seine Regierungszeit zu betrachten gilt. Neben Ländern über die er de facto Herrschaft ausübte, umfasst der Titel auch historische und aktuelle territoriale Ansprüche des Herrschers, wobei insbesondere die Anwartschaft auf den spanischen Thron das Leben des Erzherzogs bestimmte. Beschäftigt man sich mit der Zeit Karls VI. geht es folglich nicht nur um die Akteure am Kaiserhof, sondern auch um diese Länder und deren jeweiligen gewachsenen bzw. neu gestalteten politischen sowie administrativen Gegebenheiten. Schließlich etablierte sich gerade im Zuge der zumeist dynastischen Auseinandersetzungen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein europäisches Kräftegleichgewicht, das nicht zuletzt eine rege diplomatische Tätigkeit auslöste. Betrachtet man die Situation des Reiches und dessen exterritorialen politischen Verwicklungen, so ist vor allem die Doppelrolle vieler Reichsfürsten als Könige reichsfremder Länder zu betonen, die diese um 1700 einzunehmen begannen. Verlor der König von Schweden und Reichsfürst zwar im Zuge des Nordischen Krieg zunehmend an Einfluss an der Ostsee, stieg der Kurfürst von Brandenburg 1701 zum König in Preußen auf, wurde 1697 der sächsische Kurfürst zum König Polens gewählt oder gelang es den Kurfürsten von Hannover 1714 die englische Thronfolge für ihr Haus zu sichern. Nicht zuletzt waren es auch die habsburgischen Landesfürsten, die in ihren Konflikten mit dem Osmanischen Reich sowie den Friedensschlüssen von Karlowitz (1699) sowie Passarowitz (1718) ihre Ansprüche auf große Teile der außerhalb des Reichsverbands stehenden Länder des Königreichs Ungarn nunmehr auch faktisch durchsetzen konnten. Der weit gestreuten Herrschaft Karls VI., deren Durchsetzung und Repräsentation in der Praxis nähert sich vorliegender Band an. Dabei beschäftigen sich die Beiträge mit einzelnen Facetten der Regierungspraxis des Kaisers und seiner AmtsträgerInnen. Der gewählte Zeitraum von 1700 bis 1740 wird durch zwei Todesfälle bestimmt: Mit Karl II. starb am 1. November 1700 der letzte Habsburger der spanischen Linie, dessen Erbe und Herrschaft in Madrid aus Sicht des Wiener Hofes der junge Erzherzog Karl antreten sollte. Der Verstorbene hatte jedoch in https://doi.org/10.1515/9783110670561-001
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seinem Testament den bourbonischen Kandidaten und Enkel Ludwigs XIV. als Erben vorgesehen. Der Spanische Erbfolgekrieg, der die europäischen Mächte mehr als ein Jahrzehnt in Atem hielt, war die Folge. Am 20. Oktober 1740 verstarb der mittlerweile zum Kaiser und Herrscher der Habsburgermonarchie avancierte Karl VI., was trotz Pragmatischer Sanktion den Österreichischen Erbfolgekrieg auslösen sollte. Für die Regierungszeit sind gewisse Forschungsschwerpunkte auszumachen.¹ Traditionell gut erforscht ist die Periode des Spanischen Erbfolgekriegs und dessen Folgen. Dabei ist insbesondere auf die spanische und englischsprachige Forschungsliteratur zu verweisen.² Betrachtet man die modernen Biographien zu Karl VI., so sind diese für den deutschsprachigen Raum überschaubar.³ Sinnbildlich für die traditionell gute
In der Folge wird nur schlaglichtartig auf aktuelle Literatur verwiesen, die Zusammenfassung kann aufgrund der Breite der Forschungsthemen keine Vollständigkeit beanspruchen, zumal einige der Themenkomplexe in den nachfolgenden Beiträgen ausführlich behandelt werden. Zur Biographie Karls VI. und einigen weiteren Aspekte seiner Regierungszeit siehe hier insbesondere auch für weiterführende Literatur den Beitrag von Leopold Auer. Zum Spanischen Erbfolgekrieg zuletzt Joaquím Albareda Salvadó: La Guerra de Sucesión de España (1700 – 1714). Barcelona 2010; Katharina Arnegger/Leopold Auer/Friedrich Edelmayer/ Thomas Just (Hrsg.), Der Spanische Erbfolgekrieg (1701– 1714) und seine Auswirkungen (MÖStA Sb 16). Wien 2018; Matthias Pohlig/Michael Schaich (Hrsg.), The War of the Spanish Succession: New Perspectives. Oxford 2018; Siehe hier weitere Literaturverweise in den Beiträgen von Leopold Auer und Virginia Léon Sanz. Insbesondere im Umfeld des Gedenkens an die Eroberung Barcelonas 1714 bzw. allgemein das Ende des Spanischen Erbfolgekrieg entstanden neben Ausstellungskatalogen weitere Publikationen. Zu den Ausstellungen etwa Raquel Castellà/Isabel Ruiz (Hrsg.), 300 onzes de setembre 1714– 2014. Barcelona 2014; Bernardo J. García García (Hrsg.), En nombre de la paz. La Guerra de Sucesión española y los tratados de Madrid, Utrecht, Rastatt y Baden 1713 – 1715. Madrid 2013; Stadt Rastatt (Hrsg.), Der Friede von Rastatt. „…dass aller Krieg eine Thorheit sey.“ Aspekte der Lokal- und Regionalgeschichte im Spanischen Erbfolgekrieg in der Markgrafschaft Baden-Baden. Regensburg 2014. Siehe z. B. folgende Sammelbände Renger de Bruin/Maarten Brinkmann (Hrsg.), Friedensstädte. Die Verträge von Utrecht, Rastatt und Baden 1713 – 1714, Petersberg 2013; Renger de Bruin/Cornelis van der Haven/Lotte Jensen/David Onnekink (Hrsg.), Performances of Peace. Utrecht 1713. Leiden/Boston 2015; Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hrsg.), Utrecht – Rastatt – Baden 1712– 1714: Ein europäisches Friedenswerk am Ende des Zeitalters Ludwigs XIV. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Beiheft 98). Göttingen 2013. Zur englischsprachigen Literatur s. unten. Vgl. für die Forschungslage zum Leben des Kaisers hier ausführlich den Beitrag von Leopold Auer. Angemerkt soll an dieser Stelle werden, dass das Leben des Kaisers in mehreren zeitgenössischen Biographien dargestellt wurde. Z. B. Johann Rudolph Conlin: Glorreichiste Regierung und unvergleichliche Thatten Caroli VI. etc. Augsburg 1721; P. A. La Lande: Histoire de l′empereur Charles VI. de glorieuse memoire. 6 Bde. A la Haye 1743; [Johann Gottfried Mittag]: Ihro RömischKayserlichen und Koeniglichen-Catholischen Majestaet Carls Des Sechsten Leben, Thaten und
Vorwort
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Forschungslage für die spanische Zeit des Erzherzogs steht der erste und letztlich einzige Band zu einer Biographie Karls von Marcus Landau.⁴ Zum Beginn der Regierungszeit weilten drei Kaiserinnen am Hof Karls VI., zum Teil auch mit deren Töchtern, nicht zuletzt ein Grund für die Deklaration der Pragmatischen Sanktion 1713.⁵ Elisabeth Christine widmete Gerlinde Körper vor Jahrzehnten eine unpublizierte Studie, einzelne Beiträge beschäftigen sich nun mit ihrer Rolle als Kaiserin.⁶ Ähnliches kann zu Amalia Wilhelmine berichtet werden, die als Stifterin des Salesianerinnenklosters in Wien, das ihr in späteren Jahren auch als Auf-
Absterben. Erfurt 1741; Gottlob Benedict Schirach: Biographie Kaisers Carls des Sechsten. Halle 1776. Marcus Landau: Geschichte Kaiser Karls VI. als König von Spanien. Stuttgart 1889. Vgl. Pedro Voltes Bou: Barcelona durante el gobierno del Archiduque Carlos de Austria (1705 – 1714). 2 Bde. Barcelona 1963; Virginia León: Carlos VI. El emperador que no pudo ser rey de España. Madrid 2003. Hier den Beitrag von Virginia Léon Sanz. Zu den Kaiserinnen am Wiener Hof zuletzt Bettina Braun/Katrin Keller/Matthias Schnettger (Hrsg.), Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit (VIÖG 64). Wien/Köln/ Weimar 2016. Ein an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedeltes Forschungsprojekt insbesondere zur Kaiserinmutter Eleonora Magdalena lässt auf weitere wichtige Aufschlüsse zu dieser hoffen (s. entsprechende Blog-Beiträge zu Kaiserin und Reich https:// kaiserin.hypotheses.org/author/kaiserin). Siehe auch u. a. Michael Pölzl: Die Kaiserinwitwen in Konkurrenz zur regierenden Kaiserin am Wiener Hof (1637– 1750). Diss. phil. Wien 2017, und den Beitrag in diesem Band von Michael Pölzl (mit weiterführender Literatur). In einem Schreiben an Graf Wratislaw notierte Karl dazu (31.07.1711): „Der punct der sich movirt hat die precedenz meiner Schwestern vndt Maumben per conferenciam ceremonialem zu decidiren, ist etwas mehr als ceremonial, hat ein weites aussehen vndt ist nun gar haklich, dan durch die succession determinirt werdt, welchs nun zu publiciren nicht de tempore ist […] Die kayserin hat mir nichts dervon geschriben, also werdt auch dass best nicht nur davon nicht zu redten, sondern dass man nicht merken kone dass man in geringsten darauf gedacht hat […] vndt werdt ihr vbrigens in secreto den sayler sagen dass ich euch befohlen in gehaimb (vndt dass es sonst kein mensch weiss) die pactata des haus mit ihm zu vbersehen vmb dayber zu Meylandt mit euch redten zu konen“ (zitiert nach Alfred Arneth: Eigenhändige Correspondenz des Königs Karl III. von Spanien (nachmals Kaiser Karl VI.) mit dem Obersten Kanzler des Königreichs Böhmen, Grafen Johann Wenzel Wratislaw, in: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 16 (1856), S. 1– 224, hier 205). Zum Verhältnis innerhalb der kaiserlichen Familie anhand der Tagebuchaufzeichnungen des Kaisers zuletzt Stefan Seitschek: Der geforderte kaiserliche Körper und Geist. Karl VI. und Elisabeth Christine zwischen Krankheit, Sexualität und Frömmigkeit. In: Martin Dinges, Pierre Pfütsch (Hg.), Männlichkeiten in der Frühmoderne: Körper, Gesundheit und Krankheit (1500−1850). Stuttgart 2020, S. 349 – 376. Gerlinde Körper: Studien zur Biographie Elisabeth Christines von Braunschweig-LüneburgWolfenbüttel. Diss. phil. Wien 1975. Zur Konversion Ines Peper: Konversionen im Umkreis des Wiener Hofes um 1700 (VIÖG 55). Wien 2010. Siehe hier auch den Beitrag von Charlotte Backerra.
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enthaltsort diente, hervortrat.⁷ Mehrere Studien widmen sich mittlerweile der Schwester des Kaisers, Maria Elisabeth, die ab 1725 als Statthalterin in den Österreichischen Niederlanden wirkte.⁸ Größerer Aufmerksamkeit erfreute sich in Form unzähliger Biographien hingegen der kaiserliche Feldherr Prinz Eugen. Neben den zeitgenössischen mehrbändigen Werken ist auf die dreibändige Biographie Alfred Ritter von Arneths, die Aufarbeitung der Dokumentation zu den Feldzügen Prinz Eugens bis hin zur fünfbändigen Biographie Max Braubachs zu verweisen.⁹ Breitenwirksam wurden dem Prinzen in den letzten Jahrzehnten mehrere Ausstellungen und damit verbundene Sammelbände gewidmet.¹⁰ Neben Karl VI. existieren auch über die anderen beiden Kaiser, für die der Prinz seine Feldzüge bestritt, Karls Vater Leopold I. und seinen Bruder Joseph I., wenige Biographien.¹¹ Literatur zu den verwitweten Kaiserinnen siehe hier den Beitrag von Michael Pölzl. Zum Salesianerinnenkloster zuletzt Helga Penz (Hrsg.), Das Kloster der Kaiserin. 300 Jahre Salesianerinnen in Wien. Petersberg 2017. Sandra Hertel: Maria Elisabeth. Österreichische Erzherzogin und Statthalterin in Brüssel (1725 – 1741) (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 16). Wien u. a. 2014; Margarethe Kalmár: Kulturgeschichtliche Studien zu einer Biographie von Erzherzogin Maria Elisabeth (1680 – 1741) aus Wiener Sicht. Diss. phil. Wien 1988; Franz Pichorner: Wiener Quellen zu den Österreichischen Niederlanden. Die Statthalter Erzherzogin Maria Elisabeth und Graf Friedrich Harrach (1725 – 1743) (Beiträge zur Geschichte und Kirchengeschichte 1). Wien/Köln 1990. Alfred Arneth: Prinz Eugen von Savoyen. 3 Bde. Wien 1858; Max Braubach: Prinz Eugen von Savoyen. 5 Bde. Wien 1963−1965; Ders.: Die Geheimdiplomatie des Prinzen Eugen von Savoyen (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NordrheinWestfalen 22). Köln 1962. Zu den Kampagnen: Feldzüge des Prinzen Eugen von Savoyen. Nach den Feld-Acten und anderen authentischen Quellen, hrsg.von der Abtheilung für Kriegsgeschichte des k.k. Kriegs-Archives. 21 Bde. Wien 1876 – 1892. Z. B. Karl Gutkas (Hrsg.), Prinz Eugen und das barocke Österreich. Salzburg/Wien 1985, zuletzt Agnes Husslein-Arco/Marie Luise von Plessen (Hrsg.), Prinz Eugen. Feldherr, Philosoph und Kunstfreund. Ausstellungskatalog Belvedere. Wien/München 2010. Ausstellungen haben sich dabei auch thematischen Schwerpunkten gewidmet, etwa der Medaillenprägung zu Prinz Eugen (Liselotte Popelka: Eugenius in Nummis. Kriegs- und Friedenstaten des Prinzen Eugen in der Medaille. Ausstellungskatalog Heeresgeschichtliches Museum Wien. Wien 1986) oder dessen Sammeltätigkeit (Otto Mazal (Hrsg.), Bibliotheca Eugeniana. Die Sammlungen des Prinzen Eugen von Savoyen. Wien 1986). Zur Rezeption Elisabeth Großegger: Mythos Prinz Eugen. Inszenierung und Gedächtnis. Wien/Köln/Weimar 2014. Von gewissen Aspekten der Regierungszeit abgesehen, wie etwa die Türkenbelagerung von 1683 oder den Spanischen Erbfolgekrieg, sind an Biographien zu nennen John P. Spielman: Leopold I. Zur Macht nicht geboren. Graz/Wien/Köln 1981; Charles W. Ingrao: Josef I. Der „vergessene“ Kaiser. Graz/Wien/Köln 1982. Siehe auch Karl Otmar Aretin: Kaiser Joseph I. zwischen Kaisertradition und österreichischer Großmachtpolitik, in: Historische Zeitschrift 215 (1972), S. 529 – 606. Für den Hof Leopolds etwa: Jean Bérenger: Finances et absolutisme autrichien dans
Vorwort
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Betrachtet man die mit dem Haus Österreich verbundene Seemacht England, so sind zahlreiche Überblickswerke und Studien zum Spanischen Erbfolgekrieg zu nennen.¹² Ähnlich wie zu Prinz Eugen liegen zum englischen Feldherren John Churchill Herzog von Marlborough (1650 – 1722) mehrere Biographien vor, nicht zuletzt jene des berühmten Nachfahren Winston Churchill (1874– 1965).¹³ Große Aufmerksamkeit haben auch einige andere führende Politiker der Zeit erhalten, etwa Sir Robert Walpole (1676 – 1745).¹⁴ Dagegen ist die Biographie der Herrscherin Königin Anne (1665 – 1714) weniger bekannt, auch wenn Aspekte ihres Lebens es unlängst sogar zu Oscar-Ehren gebracht haben.¹⁵ Nicht nur der Herrschaftsantritt des Hauses Hannover 1714 bildet einen wichtigen Markstein der englischen Geschichte, bereits der Thronwechsel im Rahmen der Glorious Revolution 1688 mit dem Ende der Herrschaft der katholischen Stuarts sowie dem Beginn der Regie-
la seconde moitié du XVIIe siècle. Paris 1975; Mark Hengerer: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne. Konstanz 2004; Stefan Sienell: Die Geheime Konferenz unter Kaiser Leopold I. Personelle Strukturen und Methoden zur politischen Entscheidungsfindung. Frankfurt 2001. Zur Repräsentation Jutta Schumann: Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I. (Colloquia Augustana 17). Berlin 2003. Zur kaiserlichen Politik Josephs Volker Press: Josef I. (1705 – 1711). Kaiserpolitik zwischen Erblanden, Reich und Dynastie, in: Ralph Melville (Hrsg.), Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar von Aretin zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 134). Stuttgart 1988, S. 277– 297. Siehe oben bzw. jeweils mit weiterführender Literatur Jeremy Black: British Politics and Foreign Policy, 1727– 44. Farnham 2014; Henry Kamen: The War of Succession in Spain 1700 – 1715. London 1969; John Brewer: The sinews of power. War, money and the English state, 1688 – 1783. London 1989; Julian Hoppit: A Land of Liberty? England 1689 – 1727. Oxford 2000; Brendan Simms: Three Victories and a Defeat. The Rise and Fall of the First British Empire, 1714– 1783. London 2008. Winston S. Churchill: Marlborough. His Life and Times. 4 Bde. London 1933 – 1938. Siehe weiterführende Literatur bei Matthias Pohlig: Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg. Wien e. a. 2016 oder Ophelia Field: The Favourite. Sarah, Duchess of Marlborough. London 2018 (TB). V. a. kann hier auf die Arbeiten Jeremy Blacks verwiesen werden. Etwa Jeremy Black (Hrsg.), Britain in the Age of Walpole. London 1984; Ders.: Robert Walpole and the nature of politics in early Eigteenth-century Britain. New York 1990; Ders.: British Diplomats and Diplomacy 1688 – 1800. Exeter 2001. Vgl. die Zusammenfassung bei Charlotte Backerra: Wien und London, 1727– 1735. Internationale Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert. Göttingen 2018, S. 163 – 179. Zu anderen Politikern der Zeit etwa Reed Browning: The Duke of Newcastle. New Haven 1975; Basil Williams: Stanhope. A Study in the 18th century War and Diplomacy. London 1932. Der Film „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ (2018) wurde mehrfach ausgezeichnet. Olivia Colman erhielt für Ihre Darstellung von Queen Anne 2019 den Oscar als beste Hauptdarstellerin.
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rung Wilhelms III. und Maria Stuarts bewirkte nachhaltige Veränderungen.¹⁶ Der mit Ludwig XIV. verbündete Jakob Stuart flüchtete nach Frankreich, wo sich ein Schattenhof etablierte. Nach einigen Jahren musste die Familie Saint-Germain-enLaye und Frankreich jedoch verlassen, die katholische Thronprätendentenfamilie fand schließlich Aufnahme im päpstlichen Rom.¹⁷ Mehrere Versuche der Stuarts, den englischen Thron zurückzugewinnen, die nicht zuletzt von den anderen europäischen Mächten als Faustpfand während der Erbfolgekriege des 18. Jahrhunderts eingesetzt wurden, schlugen fehl.¹⁸ Die wohl bedeutendste Landmacht Frankreich wurde bereits erwähnt, die Erforschung des Hofes und der Person Ludwigs XIV. muss an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden.¹⁹ Ergänzend kann auf die breitenwirksame Verfilmung des letztlich gescheiterten Eheprojekts der nach dem Spanischen Erbfolgekrieg nunmehr bourbonischen Höfe des jungen Ludwig XV. sowie Philipps V. verwiesen werden.²⁰ Dessen Scheitern hatte eine erneute Annäherung zwischen Wien und Madrid bewirkt, die 1725 im Wiener Frieden den Erbfolgekrieg um den spanischen Thron auch formell beendete. Betrachtet man die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts darf der Nordische Krieg mit dessen Protagonisten nicht unerwähnt bleiben. Verlor Schweden seine Z. B. Ragnild Hatton (Hrsg.), William III. and Louis XIV. Essays 1680 – 1720 by and for Mark A. Thomson. Liverpool 1968; John Miller: James II. New Haven/London 2000 (erstmals 1978); Steve Pincus: 1688. The first modern revolution. New Haven/London 2009 (mit weiterführender Literatur). Zu den Stuart-Höfen u. a. Edward Corp u. a.: A Court in Exile. The Stuarts in France, 1689 – 1718. Cambridge 2004; Ders.: The Stuarts in Italy, 1719 – 1766. A Royal Court in Permanent Exile. Cambridge 2011. Insbesondere kann an dieser Stelle auf die zahlreichen Studien Daniel Szechis verwiesen werden, z. B. Paul Monod/Murray Pittock/Daniel Szechi (Hrsg.), Loyalty and Identity. Jacobites at Home and Abroad. Basingstoke 2009; Daniel Szechi: The Jacobites. Britain and Europe 1688 – 1788. Manchester/New York 1994, zuletzt Ders.: Britain′s lost revolution? Jacobite Scotland and French grand strategy, 1701– 1708. Manchester 2015. Dazu auch Anja Bittner: Eine königliche Mission. Der französisch-jakobitische Invasionsversuch von 1708 im europäischen Kontext (Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam 6). Göttingen 2017. Neben den prägenden Arbeiten von Norbert Elias, Peter Burke oder Jeroen Duindam sei summarisch auf zuletzt erschienene deutschsprachigen Biographien verwiesen: Mark Hengerer: Ludwig XIV. Das Leben des Sonnenkönigs. München 2015; Lothar Schilling: Das Jahrhundert Ludwigs XIV. Frankreich im Grand Siècle 1598 – 1715. Darmstadt 2010; Anuschka Tischer: Ludwig XIV. Stuttgart 2017; Martin Wrede: Ludwig XIV. Der Kriegsherr aus Versailles. Darmstadt 2015. The Royal Exchange/Ein königlicher Tausch (2017). Zu dieser Episode etwa auch Leonhard Horowski: Das Europa der Könige. Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hamburg 2018 (Tb), S. 459 – 518. Zum Regenten Nancy Nichols-Barker: Brother to the Sun King: Philippe, Duke of Orléans. London 1998. Zu Ludwig XV. z. B. Klaus Malettke: Die Bourbonen, Bd. 2: Von Ludwig XV. bis zu Ludwig XVI., 1715 – 1789/92. Stuttgart 2008.
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Vormachtstellung während der Regierung des letztlich glücklosen Karls XII.²¹, gelang Russland unter Peter dem Großen die Orientierung nach Europa sowie die Etablierung als eine der bedeutenden europäischen Großmächte.²² Protagonisten in diesem Krieg waren aber auch die Kurfürsten von Brandenburg sowie Sachsen und damit die Könige Preußens und Polens. Schließlich engagierte sich auch Georg I. vermehrt am Ende dieses Krieges, um den russischen Einfluss in der Ostsee zu begrenzen.²³ Damit sind bereits Fragen der Reichspolitik berührt.
Karl VI. und das Reich „Das Leben des Kaisers Carls des Sechsten ist die Geschichte der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Alles merkwürdige bezieht sich auf ihn, oder steht mit ihm in einem gewissen Verhältnisse. Wenn wir Deutschen einen Geschichtsschreiber von Französischer Freimüthigkeit gehabt hätten, so würde man von keinem Jahrhunderte Ludwigs des XIV. und XV. wissen: es würde das Jahrhundert Carls des Sechsten heißen.“²⁴
Zu Karl XII. Otto Haintz: König Karl XII. von Schweden. 3 Bde. 2. Aufl. Berlin 1958; Ragnhild Hatton: Charles XII of Sweden. London 1968. Zum Nordischen Krieg Robert I. Frost: The Northern wars. War, State and Society in Northeastern Europe, 1558 – 1721. Harlow u. a. 2000. Zu Peter d. Großen immer noch Reinhard Wittram: Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit. 2 Bde. Göttingen 1964. Siehe auch Franz Pilss: Die Beziehungen des kaiserlichen Hofes unter Karl VI. zu Russland bis zum Nystädter Frieden (1711– 1721). Diss. Wien 1949, zu den Reisen Peters nach Europa (sowie weiterführende Literatur) Gwenola Firmin/ Francine-Dominique Liechtenhan/Thierry Sarmant (Hrsg.), Peter the Great. A Tsar in France 1717. Paris/Versailles 2017. Zum russischen Hof der Zeit (mit weiterführender Literatur) Jan Hennings: Russia and Courtly Europe. Ritual and the Culture of Diplomacy, 1648 – 1725. Cambridge 2016. Zur Wahrnehmung Russlands bzw. dessen Aufstiegs in den Zeitungen etwa Astrid Blome: Das deutsche Rußlandbild im frühen 18. Jahrhundert, Untersuchungen zur zeitgenössischen Presseberichterstattung über Rußland unter Peter I. Wiesbaden 2000; Stefan Seitschek: Das Ringen um einen Ausgleich in Europa. Die Flucht des Zarewitschs in Wiener Quellen (1716−1718), in: Iskra Schwarcz (Hrsg.), Die Flucht des Thronfolgers Aleksej. Krise in der „Balance of Power“ und den österreichisch-russischen Beziehungen am Anfang des 18. Jahrhunderts. Berlin 2019, S. 25 – 52. Dazu etwa Ragnild Hatton: Georg I. Ein deutscher Kurfürst auf Englands Thron. Frankfurt 1982 (erstmals London 1978), S. 259 – 267; Jörg Philipp Lengeler: Das Ringen um die Ruhe des Nordens. Großbritanniens Nordeuropa-Politik und Dänemark zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kieler Werkstücke A/13). Frankfurt a. M. u. a. 1998. Nicht zuletzt bedeutete das Platzen der SüdseeSpekulationsblase eine Einschränkung der Spielräume für den englischen König. Zu dieser zuletzt Stefano Condorelli/Daniel Menning: Boom, Bust and Beyond. New Perspectives on the 1720 Stock Market Bubble. Berlin/Boston 2019; Helen J. Paul: The South Sea Bubble: an economic history of its origins and consequences. London/New York 2011. Gottlob Benedict Schirach: Biographie Kaisers Carls des Sechsten. Halle 1776, S. 1.
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Diese Worte stehen am Beginn der von Gottlob Benedict Schirach 1776 in Halle veröffentlichten Biographie Kaiser Karls VI. Aufgrund des Macht- bzw. Gebietszugewinns Karls VI. nach dem Spanischen Erbfolgekrieg sowie den Erfolgen im Osten warnte der Schweizer Diplomat SaintSaphorin in Diensten des englischen Königs nicht zuletzt wegen der Bemühungen des Ausbaus des Handels nach Übersee vor dem Machtanstieg des Kaisers im Reich, der bei einer weiteren entsprechenden Entwicklung „in kurzem ebenso Souverän im Reich wie in seinen Erblanden“ sein würde.²⁵ Da Georg I. auch Kurfürst von Hannover war, ist diese Formulierung von gewisser Brisanz. „Within the Empire, Charles VI. appeared as an intensive ruler, determined to use the instrument of Imperial authority, such as the Aulic Council, to enhance Austrian power. Charles was widely accused of seeking to establish a despotism within the Empire.“²⁶ Das Heilige Römische Reich und seine Institutionen haben in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Dies gilt für Überblicksdarstellungen²⁷ ebenso wie für Fokussierungen auf Einzelereignisse²⁸ oder Institutionen des Reiches. Traditionell gut erforscht ist die Reichsjustiz, für Wien ist insbesondere auf den Reichshofrat zu verweisen.²⁹ Lothar Gross’ Werk zur Reichskanzlei ist Braubach, Eugen 4, S. 287; vgl. Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994, S. 211 f. Gestrich, Absolutismus, S. 316, Anm. 59 (nach Jeremy Black: British Foreign Policy 1727– 1731. Diss. phil. Durham 1982, S. 21). Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648 – 1806, Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684– 1745). 2. Aufl. München 2005; Robert J. Evans/Michael Schaich/Peter H. Wilson (Hrsg.), The Holy Roman Empire 1495 – 1806. Oxford 2011; Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire, Bd. 2: From the peace of Westphalia to the dissolution of the Reich 1648 −1806. Oxford 2012; Peter H. Wilson: A thousand years of Europe′s History. London 2016. Kompakt Peter C. Hartmann: Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur (Studien zu Politik und Verwaltung 72). 2. verb. Aufl. Wien/Köln/Graz 2011; Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806. 6. Aufl. 2018. Insbesondere kann hier auf Ausstellungen und Publikationen anlässlich der Jubiläen von Reformation (2017) oder zum Dreißigjährigen Krieg (2018) verwiesen werden, zu welchen Anlässen nicht nur Neuauflagen sondern auch zahlreiche neue Studien erschienen. Allg. sowie für weiterführende Literatur siehe die entsprechenden Beiträge in der neuen Verwaltungsgeschichte: Anette Baumnann: Das Reichskammergericht, in: Michael Hochedlinger/ Petr Maťa/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Band 1/ 1– 2: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen (MIÖG Erg.-Bd. 62). Wien 2019, hier 1/2, S. 333 – 337; Eva Ortlieb: Der Reichshofrat, in: ebd., S. 311– 319. Allg. Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter.Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. 2 Bde. (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 26). Köln/Weimar/
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zwar schon älter, jedoch nach wie vor mit Gewinn zu lesen.³⁰ Hugo Hantsch hat sich ausführlich mit dem Wirken von Friedrich Karl Graf Schönborn beschäftigt, der im Rahmen der Herrschaft Karls VI. bis 1734 die Funktion des Reichsvizekanzlers wahrnahm (danach bis 1740 Johann Adolf Graf Metsch).³¹ Untersuchungen der Inszenierung des Reiches im Rahmen von Krönungen, Wahlen oder Reichstagen verdeutlichen das Selbstverständnis der einzelnen Akteure sowie deren Haltung zueinander.³² Größere Gebiete der habsburgischen composite monarchy ³³ lagen außerhalb der Reichsgrenzen. Selbst Böhmen genoss auf Grundlage mehrerer Privilegien, etwa der Sizilianischen Goldenen Bulle von 1212, einen gewissen Sonderstatus, der sich nicht zuletzt im Beitrag zu den Reichssteuern niederschlug.³⁴ Waren die Länder der ungarischen Krone nicht Teil des Reiches, gab es mit den Königreichen Sizilien und Neapel eine Abhängigkeit zur Kurie. Die Belehnung für das Königreich Neapel erfolgte etwa durch den Papst.³⁵ Ähnlich wie bei den nunmehr „königlichen“ Kurfürsten von Brandenburg, Sachsen oder Hannover lagen Teile
Wien 2003 – 2011. Zum Personal Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich. Köln/Weimar/Wien 2003. Zur Regierungszeit Karls VI. insbesondere Michael Hughes: Law and Politics in Eighteenth century Germany. The Imperial Aulic Council in the reign of Charles VI. (Royal Historical Society. Studies in History 55). Woodbridge 1988. Lothar Gross: Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806 (Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs V/1). Wien 1933. Vgl. zuletzt die kompakte Zusammenfassung bei Michael Hochedlinger: Die Reichshofkanzlei, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, hier 1/1, S. 323 – 332. Allg. zu Kaiser und Reich aus verwaltungsgeschichtlicher Perspektive die Beiträge ebd., S. 265 – 374. Hugo Hantsch: Reichsvizekanzler Friedrich Karl Graf von Schönborn (1674– 1746). Einige Kapitel zur politischen Geschichte Josefs I. und Karls VI. (Salzburger Abhandlungen und Texte aus Wissenschaft und Kunst 2). Augsburg 1929. Vgl. dazu insbesondere die Studie Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008. Einen facettenreichen Blick auf das Reich bietet Heinz Schiling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806: Essays. Dresden 2006, dazu gleichnamiger Katalog hrsg. von Hans Ottomeyer/Jutta Götzmann/Ansgar Reiss. Dazu John Huxtable Elliott: A Europe of Composite Monarchies. Past&Present 137 (1992), S. 48 – 71. Allg. der Überblick bei Petr Maťa: Die Habsburgermonarchie, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, hier 1/1, S. 29 – 62, hier 35 – 39. 1708, und damit nur kurz vor der Regierung Karls VI., war schließlich die Introduktion zum Kurfürstenkolleg erfolgt. Dazu Aretin, Reich 2, S. 179 – 182. Vgl. dazu Matthias Schnettger: Das Ende der Chinea-Präsentation und der Zusammenbruch des päpstlichen Lehnswesens, in: Ders. (Hrsg.), Kaiserliches und päpstliches Lehnswesen in der Frühen Neuzeit. Zeitenblicke 6/ Nr. 1 (2007), www.zeitenblicke.de/2007/1/ (20.04. 2020).
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oder sogar ein Hauptteil der Herrschaft außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches, was letztlich die Dynamik der europäischen diplomatischen Beziehungen in diesen Jahrzehnten erklärt. Mit der Repräsentation von Kaiser und Reich im unter Karl VI. errichteten Reichskanzleitrakt hat sich Franz Matsche auseinandergesetzt, die programmatische Inszenierung in diesen neu geschaffenen Räumlichkeiten ist nicht zuletzt aufgrund der ambivalenten Rolle des Reichsvizekanzlers Schönborn sowie der Lage der Räumlichkeiten innerhalb des Hofburgareals und gegenüber den kaiserlichen Appartements von besonderem Interesse. Im großen Festsaal wird das Verhältnis zwischen Kaiser und den Kurfürsten sowie anderen Gliedern des Reichs in einem Deckenfresko inszeniert (Darstellung von Wahl, Krönung, Belehnung, ersten Ritterschlag). Die Gemälde-Ausstattung in den Zeremonialappartements bildete die Hierarchie ab, denn diese zeigte nach einer zeitgenössischen Schilderung Reichsfürsten und Landgrafen (Speisesaal), die Kurfürsten (Audienzzimmer) und schließlich Kaiserporträts (Retirade). Am Dachfirst dieses Trakts prangt nicht von ungefähr beinahe besitzergreifend das als Brustschild von einem Doppeladler getragene österreichische-spanische Wappen Karls VI., das von der Reichskrone bekrönt wird.³⁶ Für die Regierungszeit Karls VI. sollte aber nicht auf die Behandlung des Reiches im Rahmen der Friedensschlüsse im Spanischen Erbfolgekrieg vergessen werden, im Frieden von Baden schloss sich das Reich dem davor erfolgten Friedensschluss von Rastatt an. Ähnlich wie Utrecht und die Vorverhandlungen dazu Karl VI. vor vollendete Tatsachen gestellt hatten, geschah es nun im Schweizer Kurort, der lange Schauplatz der eidgenössischen Tagsatzungen gewesen war.³⁷ Bereits 1711 hatte der Mainzer Kurfürst und Reichserzkanzler im Rahmen der Aushandlung der Wahlkapitulation seine Forderungen nicht zuletzt zur Stärkung
Franz Matsche: Caesar et Imperium. Die Fassadendekoration und das Deckenbild im Festsaal der ehemaligen Reichskanzlei in der Wiener Hofburg. Wien 2011. Zur Bekrönung des Mittelrisalits mit dem Adlerwappen ebd., S. 31– 35. Zu der Ausstattung der Gemälde ebd., S. 131 f. Zum Deckengemälde und die Auseinandersetzung zu „Kaiser und Reich“ bzw. „Caesar et Imperium“ S. 132– 144. Ähnlich wie das kaiserliche, von zwei gegenseitig aufeinander ausgerichteten „C“ (für Carolus) umschlossene Wappen verwiesen auch die Herkulesstatuen auf den Kaiser (Ebd., S. 47– 79).Vgl. auch Manuel Weinberger: Die Vollendung der Reichskanzlei durch Joseph Emanuel Fischer von Erlach, in: Hellmut Lorenz/Anna Mader-Kratky (Hrsg.), Die Wiener Hofburg 1705 – 1835. Die kaiserliche Residenz vom Barock bis zum Klassizismus (Veröffentlichungen zur Bauund Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg 3). Wien 2016, S. 88 – 97. Rolf Stücheli: Der Friede von Baden (Schweiz) 1714. Ein europäischer Diplomatenkongress und Friedensschluss des „Ancien Régime“ (Historische Schriften der Universität Freiburg Schweiz 15). Freiburg 1997. Vgl. hier Anm. 2.
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der von seinem Verwandten geleiteten Reichskanzlei nicht durchsetzen können.³⁸ Kurzum zeigen diese Schlaglichter, dass der Kaiser durchaus im Reich seine Vorstellungen auch gegen den einflussreichen Mainzer Kurfürsten umsetzen konnte. Kaiserliche Gebiete waren dem österreichischen und burgundischen Reichskreis zugeordnet, einen böhmischen gab es nicht. Am Reichstag in Regensburg war der Kaiser durch seinen böhmischen Gesandten, einen österreichischen Direktorialgesandten und den Prinzipalkommissar vertreten. Kaiserliche Vertreter waren zudem in anderen Reichskreisen sowie den Städten und an den Höfen im Reich aktiv.³⁹ Auch im Rahmen der gerichtlichen Tätigkeit des Reichshofrats in Wien konnte das Reichsoberhaupt Einfluss ausüben, ohne dabei natürlich seine Schiedsrichterrolle durch offene Parteistellung zu gefährden. Im Rahmen der Belehnungen wurden immer wieder die Hierarchieverhältnisse sowie das Reich als Lehensverband demonstriert.⁴⁰ Über diese übte man am Reichstag und im Reich selbst Einfluss aus und war bemüht diesen auszubauen, was Durchführungen von Reichsexekutionen oder Überlegungen zu Reichssteuern in Wien deutlich machen. Den Reichstag nutzten aber nicht zuletzt auch die evangelischen Reichsstände zur Betonung ihrer Anliegen. Im selben Jahr wie Kaiser Karl VI. verstarb der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. am 31. Mai 1740. Ein Gutteil der Herrschaft des Kurfürsten von Brandenburg, seit 1701 bekanntermaßen König in Preußen, übte dieser außerhalb der Reichsgrenzen aus. Ist Friedrich III. bzw. I. v. a. durch die repräsentative Demonstration seiner neuen Würde bekannt, ist Friedrich Wilhelms I. Sparsamkeit und die dennoch geschaffene vorbildliche Armee in Erinnerung geblieben, die dann Friedrich II. im Österreichischen Erbfolgekrieg entsprechend einsetzen konnte.⁴¹
Aretin, Reich 2, S. 183 f., 225−228; Matsche, Caesar, S. 138 f. Als Nachschlagewerke für die kaiserlichen Diplomaten immer noch unverzichtbar Ludwig Bittner/Lothar Groß (Hrsg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), Bd. 1: 1648 – 1715. Berlin 1936; Friedrich Hausmann (Hrsg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder, Bd. 2: 1716 – 1763. Zürich 1950, hier 50 – 89. Dabei bediente sich Karl und seine diplomatischen Vertreter natürlich bewährter Strategien seines Vaters und Bruders, wie etwa auch der Entsendung von Kommissionen, die letztlich erst nach 1740 an Wirkung verloren. Dazu zusammenfassend Volker Press: Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740, in: Johanns Kunisch (Hrsg.), Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze von Volker Press (Historische Forschungen 59). Berlin 1997, S. 189 – 222. Zu den ersten beiden preußischen Königen zuletzt Frank Göse: Friedrich I. (1657−1713). Ein König in Preußen. Regensburg 2012; Ders.: Friedrich Wilhelm I. Die vielen Gesichter des Soldatenkönigs. Darmstadt 2020. Zum Berliner Hof siehe auch die Ausstellungskataloge Deutsches Historisches Museum/Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hrsg.), Preußen 1701. Eine europäische Geschichte. 2 Bde. Berlin 2001; Hans-Ulrich Kessler: Andreas Schlüter und das barocke Berlin. München 2014; Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Bran-
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1714 folgte Georg I. aus dem Haus Hannover auf den englischen Thron. Die Braunschweig-Hannoveraner prägten die englischen Geschicke bis in das 20. Jahrhundert.⁴² Auch deren Doppelrolle als Herrscher Großbritanniens und damit Könige von England, Irland sowie Schottland und als Kurfürsten Hannovers stellte diese vor ähnliche Probleme wie insbesondere Karl VI. nach Erlangen der Königreiche Neapel und Sizilien sowie der Österreichischen Niederlande.⁴³ Nicht vergessen werden soll der für die damalige Reichspolitik nicht unwichtige Familienzweig Braunschweig-Wolfenbüttel, aus dem Kaiserin Elisabeth Christine stammt. Insbesondere deren Großvater Anton Ulrich pflegte eine aufwändige Hofhaltung, sympathisierte vor der Ehe Elisabeths mit dem aus habsburgischer Sicht designierten spanischen König offen mit Frankreich, weshalb er aus seinem Herzogtum auch für einige Zeit flüchten musste.⁴⁴ Nicht zuletzt opponierte er lange gegen die Kurwürde seiner Verwandten aus dem Haus Hannover.⁴⁵ denburg (Hrsg.), Sophie Charlotte und ihr Schloß. Ein Musenhof des Barock in BrandenburgPreußen. München/London/New York 1999. Vgl. Hatton, Georg I; Andrew C. Thompson: George II. King and Elector. New Haven/London 2011. Zur Dynastie Hannah Smith: Georgian Monarchy. Politics and Culture, 1714– 1760. Cambridge 2006 sowie die Sammelbände anlässlich mehrerer Ausstellungen 2014 in Hannover und London, insbes. Katja Lembke (Hrsg.), Als die Royals aus Hannover kamen: Hannovers Herrscher auf Englands Thron 1714– 1837. Dresden 2014; Jochen Meiners (Hrsg.), Als die Royals aus Hannover kamen: Reif für die Insel – Das Haus Braunschweig-Lüneburg auf dem Weg nach Hannover. Ausstellungskatalog. Dresden 2014; Desmond Shawe-Taylor: The first Georgians. Art & Monarchy 1714– 1760. London 2014. Zur Rolle Hannovers vor 1714 ausführlich Georg Schnath: Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674−1714, 5 Bde. Hildesheim 1938−1982. Zur doppelten Hofhaltung Benjamin Bühring: Regieren mit Brief und Siegel. Administrative Kommunikation im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg zwischen London und Hannover, in: Steffen Hölscher/Sune Erik Schlitte (Hrsg.), Kommunikation im Zeitalter der Personalunion (1714– 1837). Prozesse, Praktiken, Akteure. Göttingen 2014, S. 233 – 258; Uta Richter Uhlig: Hof und Politik unter den Bedingungen der Personalunion zwischen Hannover und England. Die Aufenthalte Georgs II. in Hannover zwischen 1729 und 1741 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 107). Hannover 1992. Allg. Rex Rexheuser (Hrsg.), Die Personalunion von SachsenPolen 1697– 1763 und Hannover-England 1714– 1837. Ein Vergleich. Wiesbaden 2005. Zu den Akteuren sowie Rahmenbedingungen mit weiterführender Literatur auch Backerra, Wien, S. 152– 300. Siehe oben bzw. auch Volker Press: Kurhannover im System des Alten Reiches 1692– 1803, in: Adolf M. Birke/Kurt Kluxen (Hrsg.), England und Hannover (Prinz Albert Studien 4). München 1986, S. 53 – 79. Zu diesem mit weiterführender Literatur etwa Stefan Seitschek: Archivalien zu Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg im Österreichischen Staatsarchiv (1665 – 1714). Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 95 (2014), S. 25 – 67. Zuletzt die Zusammenschau in Jochen Luckhardt (Hrsg.), „…einer der größten Monarchen Europas“?! Neue Forschungen zu Herzog Anton Ulrich. Wolfenbüttel 2014. Zur Introduktion u. a. Aretin, Reich 2, S. 180−182; Schnath, Geschichte.
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Schließlich hatte auch der sächsische Kurfürst 1697 eine Königskrone erlangt, auch wenn es sich dabei „nur“ um eine Wahlmonarchie handelte und er auf diese kurzfristig verzichten musste. Der Polnische Thronfolgekrieg nach dem Tod Augusts des Starken 1733 am Ende der Herrschaft Karls VI. mit der Unterstützung des sächsischen Kandidaten bedeutete für diesen schließlich einen militärischen Rückschlag sowie den Verlust der süditalienischen Königreiche. Die Habsburger waren mit den Wettinern nicht zuletzt durch die Hochzeit des sächsischen Kurprinzen und späteren polnischen Königs Friedrich August II. mit Maria Josepha, Tochter Josephs I., verbunden. Nicht nur deshalb wurde von Ereignissen am Dresdner Hof, etwa Geburten von Söhnen des Kurprinzenpaars, in der regelmäßig erscheinenden Wiener Zeitung berichtet. Auch August der Starke inszenierte seine Herrschaft durch eine aufwändige Repräsentation, die in zahlreichen Publikationen Beachtung fand und eine wichtige Vergleichsebene zum habsburgischen Kaiserhof darstellt.⁴⁶ Zwar gelang es dem bayerischen Kurfürsten Max Emanuel II. nicht eine Königskrone zu erlangen, immerhin heiratete er aber die Tochter Kaiser Leopolds I., die deren Sohn im Spiel der europäischen Mächte wenige Jahre vor dem Tod Karls II. von Spanien zu dessen bevorzugten Nachfolgekandidat werden ließ. Nach dem Tod Joseph Ferdinands 1699 blieb diese Königskrone dem Haus Wittelsbach verwehrt, die Allianz mit Frankreich und die militärische Niederlage im Spanischen Erbfolgekrieg zwang den Kurfürsten, der in den Kriegen mit den Osmanen für die kaiserliche Sache gekämpft hatte, ins Exil. Seine Kinder wurden sogar unter Aufsicht der Habsburger erzogen.⁴⁷ Max Emanuels Sohn Karl Albrecht, der Neben den politischen Ereignissen bietet insbesondere die Festkultur am Dresdner Hof, die Kunstsammlungen Augusts (Grüne Gewölbe) oder die Etablierung des europäischen Porzellans in Sachsen Anlass für Forschungen. Siehe zum Hof in Dresden etwa Jutta Bäumel: Auf dem Weg zum Thron. Die Krönungsreise Augusts des Starken. Dresden 1997; Rieke Buning/Beate-Christine Fiedler/Bettina Roggmann (Hrsg.), Maria Aurora von Königsmarck. Ein adeliges Frauenleben im Europa der Barockzeit. Köln/Weimar/Wien 2015; Karl Czok: Am Hofe Augusts des Starken. Stuttgart 1990; Stefan Hertzig: Das barocke Dresden. Architektur einer Metropole des 18. Jahrhunderts. Petersberg 2013. Zur Diplomatie Judith Matzke: Gesandtschaftswesen und diplomatischer Dienst Sachsens 1694– 1763. Leipzig 2011. Vgl. zur Lage im Norden des Reiches Anm. 43 sowie auch die breitenwirksamen Ausstellungskataloge Frank Göse u. a. (Hrsg.), Preussen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft. Dresden 2014; Jutta Kappel/Claudia Brink (Hrsg.), Mit Fortuna übers Meer. Sachsen und Dänemark – Ehen und Allianzen im Spiegel der Kunst (1548 – 1709). München 2009. Zur Erziehung bzw. Ausbildung Andrea Zedler: Alle Glückseligkeit seiner Education dem Allermildesten Ertz-Hause Oesterreich zu danken. Hofstaat, Bildung und musikalische Unterweisung des bayerischen Kurprinzen Karl Albrecht in Graz (1712– 1715), in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 42 (2012), S. 337– 366; Andrea u. Jörg Zedler (Hrsg.), Prinzenrollen 1715/1716. Wittelsbacher in Rom und Regensburg. München 2016; Dies. (Hrsg.), Prinzen auf Reisen. Die Itali-
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schließlich die Tochter Kaiser Josephs I. heiratete (1722), folgte also durchaus mit einer jüngeren Vorgeschichte sowie damit verbundenen Ansprüchen dem verstorbenen Karl VI. als Karl VII. in der Kaiserwürde nach.⁴⁸ Kaisertreu verhielt sich hingegen der Pfälzer Kurfürst, der bis 1716 regierende Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg war der Vater von Kaiserin Eleonora Magdalena, der Mutter Karls VI.⁴⁹ Dennoch nützte auch dieser seine Funktion als Reichsvikar nach dem Tod Josephs I. aus, was Karl kurz vor seiner Reise ins Reich in einem Schreiben an Graf Wratislaw zu kritischen Äußerungen veranlasste.⁵⁰ Aber auch einige andere Reichsfürsten, die ihre Territorien nicht zuletzt mit eindrucksvollen Bauwerken prägten, haben in den letzten Jahren nicht nur in groß angelegten Ausstellungen Beachtung gefunden, die letztlich auch eine Standortbestimmung zur Forschungslage der jeweiligen Herrschaft darstellen.⁵¹ Im Zusammenhang von Konfliktlinien im Reich durch Bündnisse bzw. Nahever-
enreise von Kurprinz Karl Albrecht 1715/16 im politisch-kulturellen Kontext. Köln/Weimar/Wien 2017. Zu Max Emanuel Hubert Glaser (Hrsg.), Kurfürst Max Emanuel. Bayern und Europa um 1700. Ausstellungskatalog. 2 Bde. München 1976; Ludwig Hüttl: Max Emanuel. Der Blaue Kurfürst, 1679 – 1726. Eine politische Biographie. 3. Aufl. München 1976. Siehe zuletzt die kulturgeschichtlichen Studien zum Münchner Hof Eva-Bettina Krems: Die Wittelsbacher und Europa. Kulturtransfer am frühneuzeitlichen Hof. Wien/Köln/Weimar 2012; Sebastian Werr: Politik mit sinnlichen Mitteln. Oper und Fest am Münchner Hof (1680 – 1745). Köln/Weimar/Wien 2010. Zu Karl VII. Aretin, Reich 2, S. 413 – 469; Peter Claus Hartmann: Karl Albrecht – Karl VII. Glücklicher Kurfürst, unglücklicher Kaiser. Regensburg 1985. Zur Krönung Peter Claus Hartmann: Karl Albrecht – Karl VII. Glücklicher Kurfürst, unglücklicher Kaiser. Regensburg 1985; Rainer Koch/Patricia Stahl (Hrsg.), Wahl und Krönung in Frankfurt am Main. Kaiser Karl VII. 1742– 1745. Ausstellungskatalog. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1986. Allg. Alfred Wieczorek u. a. (Hrsg.), Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim 60). Regensburg 2013. Zu Johann Wilhelm, dem Bruder Eleonore Magdalenas und Onkel des Kaisers, etwa Reinhold Baumstark (Hrsg.), Kurfürst Johann Wilhelms Bilder. 2 Bde. München 2009; Clemens von Looz-Corswarem: Kurfürst Johann Wilhelm II. von der Pfalz und seine Residenzstadt Düsseldorf, in: Elias H. Füllenbach/ Antonin Walter (Hrsg.), St. Andreas in Düsseldorf. Die Hofkirche und ihre Schätze. Zum 350. Geburtstag des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz. Düsseldorf 2008, S. 25 – 53. Arneth, Correspondenz, S. 201. Z. B. die Ausstellungskataloge Badische Landesmuseum (Hrsg.), Karl Wilhelm Markgraf von Baden-Durlach, 1679 – 1738. Karlsruhe 2015; Gisela Bungarten u. a. (Hrsg.), Groß gedacht! Groß gemacht? Landgraf Carl in Hessen und Europa. Petersberg 2018; Daniel Hohrath/Christoph Rehm: Zwischen Sonne und Halbmond. Der Türkenlouis als Barockfürst und Feldherr. Rastatt 2005; Museum für Naturkunde und Vorgeschichte Dessau u. a. (Hrsg.), Fürst Leopold I. von AnhaltDessau (1676 – 1747). „Der Alte Dessauer“. Ausstellung zum 250. Todestag. Dessau 1997; Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg (Hrsg.), Extra Schön. Sibylla Augusta und ihre Residenz. Eine Ausstellung anlässlich des 275. Todestages der Markgräfin Sibylla Augusta von Baden-Baden in Schloss Rastatt. Petersberg 2008.
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hältnisse ausländischer Mächte gab es neben den bayerischen Wittelsbachern auch andere Fürsten, wie den bereits genannten Anton Ulrich, den Großvater der späteren Kaiserin, der am Ende seines Lebens zum Katholizismus konvertierte (1709). In den Jahren des Nordischen Kriegs heiratete Karl Leopold von Mecklenburg (1678 – 1747) 1716 Katharina Iwanowa, die Nichte Peters des Großen. Gegen Karl Leopolds Herrschaft formierte sich im Land eine ständische Opposition, nicht zuletzt die Gewährung der Stationierung russischer Truppen in seinem Herzogtum und damit im Reich bewirkten die durch Hannover und Preußen umgesetzte Reichsexekution (1719) sowie seine Absetzung (1728), gegen die er lange zu intervenieren versuchte, nicht zuletzt am Kaiserhof in Wien und dort auch mit einer in den Raum gestellten Konversion zum Katholizismus Unterstützung erhoffte.⁵² Nordische königliche Dynastien wie Dänemark und Schweden mit ihrer Anbindung bzw. Einflussnahme im Reich müssen an dieser Stelle nicht näher thematisiert werden, prägten aber nicht zuletzt aufgrund des Nordischen Kriegs die kaiserliche Politik.⁵³ Ein wichtiger Faktor der kaiserlichen Machtausübung im Reich blieb die Reichskirche, der sich zahlreiche Studien widmen. Hugo Hantsch hat hier mit seiner Biographie zu einem der entscheidenden Akteure und Protagonisten von Reichsagenden am Wiener Kaiserhof, Karl Friedrich Graf Schönborn, einen bedeutenden Beitrag geleistet, der das Zusammenspiel zwischen Wien und dem Reich in manchen Fragen veranschaulicht.⁵⁴ Insgesamt ist gerade diese reichsritterliche Familie und deren Verhältnis zum habsburgischen Kaisertum bedeut-
So bemühte er etwa den Beichtvater Karls, den Jesuiten Veit Georg Tönnemann (1659 – 1740), als Vermittler. Dazu Georg Korting: Vitus Georg Tönnemann (1659 – 1740). Ein Paderborner Jesuit am Kaiserhof in Wien (Paderborner Theologische Studien 54). Paderborn u. a. 2011, S. 126 – 148. Vgl. Aretin, Reich 2, S. 256 – 260; Walther Mediger: Mecklenburg, Rußland und England-Hannover 1706 – 1721. Ein Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges. 2 Bde. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 70). Hildesheim 1967; Peter Wick: Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1964. Allgemein kann auf die Konvention von Altranstädt (1707) verwiesen werden, die einen möglichen militärischen Konflikt mit Schweden während des Spanischen Erbfolgekriegs durch diplomatische Verhandlungen verhinderte und den schlesischen Protestanten Rechte (wieder) einräumte. Preußen, Sachsen und der dänische König, Herzog bzw. Lehensherr von Holstein, bildeten ja mit Zar Peter eine Allianz gegen die schwedische Großmacht unter Karl XII. S. dazu oben. Norbert Conrads: Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707– 1709 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 8). Köln 1971; Jürgen Rainer Wolf (Hrsg.), 1707– 2007 Altranstädter Konvention. Ein Meilenstein religiöser Toleranz in Europa. Halle/Saale 2008. Hantsch, Reichsvizekanzler.
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sam.⁵⁵ Noch friktionsreicher gestaltete sich mitunter das Verhältnis zu den Wittelsbachern und den geistlichen Kurfürsten.⁵⁶ Der katholischen Barockkultur hat sich Peter Hersche in seiner umfassenden Studie gewidmet.⁵⁷ Betrachtet man die reichen Klöster und deren Vorsteher in den österreichischen Ländern sowie deren Rolle in der Landschaft sowie in der Residenzstadt selbst, etwa als Universitätsrektoren, prägten auch diese den Kaiserhof. Das Thema der katholischen Aufklärung ist natürlich auch für den Hof Karls VI. sowie dessen Mitglieder von Relevanz.⁵⁸ Das Kirchenjahr und seine Feste prägte jedenfalls den Alltag des Kaisers und seiner Familie, über deren Andachten und Kirchenbesuche im Wienerischen Diarium regelmäßig berichtet wurde.⁵⁹ Nicht zuletzt die demonstrative Pietät des Hauses Habsburg, die Pietas Austria-
Siehe zu den Schönborns allg. Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Die Mainzer Kurfürsten des Hauses Schönborn als Reichserzkanzler und Landesherren (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 10). Frankfurt a. M. u. a. 2002; Sylvia Schraut: Das Haus Schönborn. Eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640 – 1740. Paderborn u. a. 2005; Alfred Schröcker: Ein Schönborn im Reich. Studien zur Reichspolitik des Fürstbischofs Lothar Franz von Schönborn (1655 – 1729). Wiesbaden 1978. Kurz dazu Press, Reich, S. 201– 203. Dazu siehe oben bzw. Frank Günter Zehnder/Werner Schäfke (Hrsg.), Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche. 8 Bde. Köln 1999, bes. Frank Günter Zehnder (Hrsg.), Bd. 2: Im Wechselspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Kurköln. Köln 1999. Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bde. Freiburg/Basel/Wien 2006. Gregor M. Lechner/Michael Grünwald (Hrsg.), Gottfried Bessel (1672– 1749) und das barocke Göttweig. Zum 250. Todesjahr des Abtes. Bad Vöslau 1999; Gregor M. Lechner/Bernhard Rameder: Österreichs Glorie am Trogerhimmel. Die Göttweiger Kaiserstiege. Ausstellungskatalog. Göttweig 2012; Franz Rudolf Reichert (Hrsg.), Gottfried Bessel (1672– 1749). Diplomat in Kurmainz – Abt von Göttweig. Wissenschaftler und Kunstmäzen (Quellen und Abhandlungen zur Mittelrheinischen Kirchengeschichte 16). Mainz 1972; Stadt Horn (Hrsg.), Ernest Perger, 1707– 1748. Propst des Stiftes Klosterneuburg, ein großer Sohn der Stadt Horn. Ausstellungskatalog. Horn 1998; Thomas Wallnig: Gasthaus und Gelehrsamkeit. Studien zu Herkunft und Bildungsweg von Bernhard Pez OSB vor 1709 (VIÖG 48). Wien/München 2007; Ders.: Critical Monks. The German Benedictines, 1680 – 1740. Leiden/Boston 2019. Siehe auch Cornelia Faustmann/Gottfried Glaßner/Thomas Wallnig (Hrsg.), Melk in der barocken Gelehrtenrepublik. Die Brüder Bernhard und Hieronymus Pez, ihre Forschungen und Netzwerke (Thesaurus Mellicensis 2). Melk 2014; Allg. Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. Berlin 2015. Zum Kirchenjahr insbes. Friedrich Wilhelm Riedel: Kirchenmusik am Hofe Karls VI. (1711– 1740). Untersuchungen zum Verhältnis von Zeremoniell und musikalischem Stil im Barockzeitalter (Studien zur Landes- und Sozialgeschichte der Musik 1). München/Salzburg 1977. Siehe auch Stefan Seitschek: Religiöse Praxis am Wiener Hof: Das Beispiel der medialen Berichterstattung, in: István Fazekas u. a. (Hrsg.), Frühneuzeitforschung in der Habsburgermonarchie. Adel und Wiener Hof – Konfessionalisierung – Siebenbürgen (Publikationen der ungarischen Geschichtsforschung in Wien 7). Wien 2013, S. 71−101.
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ca ⁶⁰, machte den Kaiser für die evangelischen Reichsstände angreifbar, was sich nicht zuletzt in den Differenzen zum Religionsstreit äußerte.⁶¹ Der Wiener Hof hatte weitreichende Pläne, nicht zuletzt dürften Karl seine Erfahrungen mit dem spanischen Weltreich geprägt haben. Nicht zu unterschätzen ist dabei, dass er Europa selbst bereiste. So führte ihn sein Weg nach Spanien über die Seemächte Holland und England, nach Portugal sowie Barcelona.⁶² Regelmäßige Hinweise auf die (englische) Flotte in seinen Tagebüchern während des Spanischen Erbfolgekriegs sowie den Kriegsverlauf an sich verdeutlichen, dass der junge Erzherzog und spanische König den Wert einer Flotte sowie wohl auch die Bedeutung des Handels nach Übersee kennen gelernt hatte. Nicht zuletzt im Schreiben an Wratislaw von Ende Juli 1711 thematisierte er demgemäß den Bau von Schiffen und eine entsprechende Aufrüstung, die etwa in Neapel oder in Buccari (Bakar) oder Fiume erfolgen könnte.⁶³ Eine gerne geübte Praxis der Habsburger war die Wahl ihres Nachfolgers noch zu Lebzeiten, also eine Wahl vivente Imperatore. ⁶⁴ Ähnliches gilt für die Länder der Habsburgermonarchie. Die Wahlkapitulationen stellten nicht zuletzt einen Aushandlungsprozess im Zuge der jeweiligen Bestimmung des künftigen Kaisers dar.⁶⁵ Karl hatte nun keinen männlichen Nachfolger, die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion innerhalb der Habsburgermonarchie nach 1720 sowie durch
Dazu Anna Coreth: Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. 2. Aufl. München 1982. Zum Religionskonflikt Aretin, Reich, S. 272– 295; Karl Borgmann: Der deutsche Religionsstreit der Jahre 1719/1720. Berlin 1937; Hantsch, Schönborn, S. 239 – 280; Martin Naumann: Österreich, England und das Reich 1719 – 1732 (Neue Deutsche Forschungen 88). Berlin 1936, bes. S. 28 – 100; Seitschek, Tagebücher, S. 360−368. Zur Reise und den damit verbundenen Erfahrungen etwa León, Carlos VI, S. 57– 72. Arneth, Correspondenz, S. 202. Dazu kurz Axel Gotthard: Der Kaiser, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, hier 1/1, S. 267– 279, bes. S. 268 f. In einem Schreiben an Wratislaw im Juli 1711 erwähnte Karl (VI.) Bemühungen Frankreichs um die Reichskrone: „Aus den antrag des konigs in Frankreich an die churfürsten die reichscron alternativ mit den achatolicis zu machen“ (Arneth, Correspondenz, S. 206). Zur Stimmung in Regensburg bzw. Haltung der Kurfürsten, insbesondere des Pfälzer Reichsvikars, äußerte er sich zu Beginn des Schreibens (ebd., S. 196 – 198, 201). In dem Schreiben schlägt Karl etwa auch Augsburg als besten Krönungsort vor. Zur Wahl Karls kompakt Aretin, Reich, S. 224– 229. Zu den Wahlkapitulationen zuletzt umfassend Wolfgang Burgdorf (Bearb.), Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519 – 1792 (Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches 1). Göttingen 2015; Ders.: Protokonstitutionalismus: Die Reichsverfassung in den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519 – 1792 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 94). Göttingen 2015; kurz Aretin, Reich, S. 182−184.
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die anderen europäischen Mächte sicherte zumindest die Ansprüche seiner Töchter. Eine dezidierte Festlegung dieser Nachfolge in Form von Huldigungen oder gar Krönungen noch zu Lebzeiten des Vaters gab es jedenfalls nicht, wohl nicht zuletzt aufgrund der, auch in Texten bzw. Reden an das Kaiserpaar immer wieder geäußerten Hoffnung auf einen künftigen männlichen Erben.⁶⁶ Tagebucheinträge Karls legen zudem nahe, dass er ebenso auf Nachwuchs seiner älteren Tochter Maria Theresia hoffte, der sehnlich erwartete Enkel bzw. Sohn Joseph wurde nur knapp ein halbes Jahr nach dem Tod des gerade 55 Jahre alten Kaisers geboren.⁶⁷ War eine Krönung Maria Theresias mit den damit verbundenen Implikationen also undenkbar, begleitete sie ihren Vater jedoch auf Huldigungen und Krönungen nach 1720. Insbesondere die Prager Krönung ist für mehrere der genannten Faktoren ein gutes Beispiel.⁶⁸ Nach Prag reisten auch die Töchter des Kaisers. Ähnlich wie bei der Huldigung der steirischen Stände 1728 wurde die junge Erzherzogin, wohl auch als potentielle Nachfolgerin aufgrund der in diesen Jahren anerkannten Pragmatischen Sanktion, so mit den Ländern und ihren Vertretern bekannt bzw. vize-versa. Wenig erbaulich war wohl auch vor diesem Hintergrund hingegen die Anreise der sächsischen Kurprinzessin und Nichte Maria Josepha zur Prager Krönung, nicht zuletzt aus Sicht des Kaisers selbst, der ihren Besuch als „ungelegen“ bewertete.⁶⁹ Die Möglichkeit zur Bekanntgabe einer neuerlichen Schwangerschaft der Kaiserin unmittelbar vor Ankunft der Erzherzogin am 28. bzw. 31. August kam da sicherlich gelegen. Am 5. September erhob der Kaiser dann mehrfach das Glas auf einen künftigen männlichen Erben.⁷⁰ Im Umfeld dieser Krönung traf Karl auch zum ersten Mal mit dem jungen Franz Stephan von Lothringen zusammen, der sich daraufhin an den Wiener Hof begab. Zur Erbfolgeregelung bzw. Pragmatischen Sanktion kann auf die Studien Gustav Turbas verwiesen werden. Krankheiten der Kaiserin führten immer wieder zu Spekulationen einer künftigen weiteren Heirat (siehe hier im Beitrag von Frank Göse Anm. 70) sowie eines möglichen männlichen Erben Karls VI. Erwogen wurde jedenfalls eine Eventualbelehnung Maria Theresias, die bei ihrer Heirat explizit zugunsten eines noch möglichen männlichen Erben auf ihre Nachfolgerechte verzichten musste. Siehe mit weiterührender Literatur Backerra, Wien S. 319 f.; Allg. ebd., S. 310 – 324; Stefan Seitschek: Die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion in den Tagebüchern Karls VI., in: Franz Eybl (Hrsg.), Häuser und Allianzen. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts 30 (2015), S. 77– 96; Hans von Zwiedineck-Südenhorst: Die Anerkennung der pragmatischen Sanktion durch das deutsche Reich, in: MIÖG 16 (1895), S. 276 – 341. Dazu Seitschek, Tagebücher, S. 121– 126. Zur Krönung insbes. Štěpán Vácha/Irenea Veselá/Vít Vlnas/Petra Vokáčová: Karel VI. & Alžběta Kristýna. Česká Korunovace 1723. Prag 2009. Kompakt Wilhelm Rausch: Die Hofreisen Kaiser Karls VI. Diss. phil. Wien 1949, S. 58 – 94; Seitschek, Tagebücher, S. 342– 351. Dazu kurz Seitschek, Tagebücher, S. 159 – 161. Vgl. ebd., S. 137 f., 160, 346 f.
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Der Kaiser notierte in seinem Tagebuch zu ihm (10. August 1723): „7 ¾ hie Horschoiz⁷¹ al[lein] anko[mmen], pr[inz] Lothr[ingen], funden hibsch, wohl gewachsen, manirli[c]h redt teusch, weib schriben“⁷². In Prag angekommen, nahm Karl VI. nicht nur Belehnungen als böhmischer König im Vorfeld der Krönung vor, sondern dort fand ebenso am 11. September 1723 die Belehnung des Passauer Bischofs statt, es wurden also ebenso kaiserlichen Aufgaben wahrgenommen. Damit sind aber bereits mehrfach Fragen zu den Ländern der Habsburgermonarchie berührt worden. Die genannten Themen sind jedenfalls wesentlich für das Verständnis der Herrschaft Karls VI. insgesamt sowie im Reich im Besonderen. Einzelne dieser Aspekte werden in den folgenden Beiträgen aufgegriffen, grundsätzlich ist neben den hier geleisteten Ergebnissen mit Blick auf die reichhaltigen Archivbestände nicht zuletzt in Wien sicherlich noch ein großer Forschungsbedarf festzustellen.
Karl VI. und die Habsburgermonarchie Die Habsburgermonarchie des österreichischen Familienzweiges erreichte unter Karl VI. ihre größte territoriale Ausdehnung. Neben den Gewinnen im Osten gegen das Osmanische Reich (u. a. Temesvarer Banat) waren es auch die Länder der spanischen Krone, insbesondere in Italien und den südlichen Niederlanden, die den Kaiser eine bedeutende Machtfülle einräumten, gleichzeitig seine Herrschaft vor administrative Herausforderungen stellten. Karl selbst war jedenfalls nicht bereit auf die spanische Krone zu verzichten. Noch im Juli 1711, also Monate vor der Krönung in Frankfurt, schrieb er an seinen Diplomaten Graf Wratislaw: „erfahrne minister notig vmb dass harte Guberno beeder Monarchien wohl anzufangen vndt mit Gottes hylf nacher noch besser continuiren, welchs absonderlich wegen spanien ein absonderliche aplicacion brauchen werdt, dan annoch gescheint hat dass man zu Wien die hiesige landten modum vndt sistema nicht verstehen kann odter will, welchs nun hochst notig dan man beede monarchien nun gleich ansehen mus vndt alle ein herrn kehren, auch kein diferenz der nacionen sein mus, sondern suchen mus dass alle einig sein vndt iedes landt auf sein brauch privilegien vndt gewohnheit auf das best gubernirt werdt, zu welchen auch zu mein dienst notig sein werdt dass ich bald herin baldt daaus seye vndt wie hinaus einige spanier, also herain einige teutsche minister neme, damit diese minister beede monarchien so vill moglich begraifen“.⁷³
Hořowitz (Hořovic). ÖStA, HHStA, HA, SB 2, Heft 12 (1722– 1724), fol. 41r. Die Problematik einer solchen „doppelten“ Herrschaft musste sich nach 1714 auch das Haus Hannover stellen (siehe oben).
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Sinnbildlich wären die Wappen „von beedten monarchien in eins zu bringen“.⁷⁴ Die ausführliche Passage soll v. a. das Ansinnen der künftigen Herrschaftsausübung des designierten Kaisers in Bezug auf seine beiden Monarchien verdeutlichen. Kurz erstand somit zumindest dem Anspruch nach das Weltreich Karls V. wieder auf. Die Etablierung einer guten Herrschaft dem jeweiligen Herkommen und den Privilegien gemäß oder auch die Rücksichtnahme bzw. Egalität der verschiedenen Nationen der Monarchie wird in dem Schreiben angesprochen. Gerade die unterschiedlichen Traditionen in den Ländern Karls VI. prägten notgedrungen dessen Herrschaft, Bemühungen von Veränderungen von gewachsenen administrativen Strukturen waren mitunter mit heftiger Gegenwehr der lokalen Herrschaftsträger verbunden, die auch zur Rücknahme mancher Maßnahmen führten.⁷⁵ Besondere Kritik in Wien erfuhr auch der mit den ehemals spanischen Gebieten in Italien betraute Spanische Rat.⁷⁶ „[I]t was Austria′s territorial position and commitments, rather than her resources, which made her a great power.“⁷⁷ Historische Überblickswerke aus der Mitte des 20. Jahrhunderts über die Zeit um 1700 betonten den Aufstieg der Habsburgermonarchie nach den militärischen Erfolgen im Osten. Redlichs Bände stehen dann auch unter den Titeln „Weltmacht des Barock“ oder „Das Werden
Arneth, Correspondenz, S. 204 f. (Schreiben vom 31. Juli 1711). Die Korrespondenz zwischen dem jungen Karl und Graf Wratislaw bietet eine Fülle interessanter Details. Aufgrund des Alters der Edition und den damaligen wissenschaftlichen Standards scheint eine neuerliche Aufarbeitung dieses Briefwechsels von großem Interesse. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Österreichische Niederlanden und die Schwierigkeiten die im Laufe der Statthalterschaft Prinz Eugens auftraten (dazu Klaas van Gelder: Regime Change at a Distance. Austria and the Southern Netherlands Following the War of the Spanish Succession (1716 – 1725). Leuven u. a. 2016). Mit der Ernennung eines Familienmitglieds der kaiserlichen Familie, Erzherzogin Maria Elisabeth, und deren persönlicher Anwesenheit in Brüssel änderten sich die Gegebenheiten (dazu zuletzt Hertel, Maria Elisabeth). Siehe hier v. a. die Beiträge von Elisabeth Garms-Cornides sowie Virginia León Sanz. Allgemein kann auch auf die Studien von Marcello Verga verwiesen werden, etwa Marcello Verga: Il „sogno spagnolo“ di Carlo VI. Alcune considerazioni sulla monarchia asburgica e i domini italiani nella prima metá del Settecento, in: Cesare Mozzarelli/Giuseppe Olmi (Hrsg.), Il Trentino nel Settecento fra Sacro Romano Impero e antichi stati italiani (Annali dell′Istituto storico italogermanico Quaderno 17). Bologna 1985, S. 203 – 261. Christine Lebeau: Negotiating a Trade Treaty in the Imperial Context: The Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century. In: Antonella Alimento/Koen Stapelbroek (Hrsg.), The Politics of Commercial Treaties in the Eighteenth Century. Balance of Power, Balance of Trade. Paris 2016, S. 349 – 369, hier 351 (zitiert nach Scott McKay: The Rise of the Great Powers 1648 – 1815. London 1983, S. 77).
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einer Grossmacht“.⁷⁸ Im Rahmen der mehrbändigen, vom damaligen Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Herwig Wolfram herausgegebenen Österreichischen Geschichte widmen sich insgesamt drei Bände der Zeit um 1700.⁷⁹ Gute, aktuelle zusammenfassende Darstellungen für die prägenden Faktoren der Zeit bieten die Beiträge von Michael Hochedlinger und Petr Maťa.⁸⁰ Vermehrt rücken dabei auch die Akteure sowie die diese prägende Kultur in den Fokus. Nicht von ungefähr zog daher Karl Vocelka in seiner Geschichte des österreichischen 18. Jahrhunderts das Fazit: „die Geschichte des 18. Jahrhunderts, wie sie die nächste Generation schreiben wird, verspricht weitaus spannender und differenzierter zu werden und den unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen der Vergangenheit näher zu kommen, als dieses Buch es vermag“.⁸¹ Betrachtet man die Zeitspanne 1700 bis 1740 thematisch, so hat traditionell die Diplomatiegeschichte dieser Jahre große Aufmerksamkeit gefunden.⁸² In ge-
Oswald Redlich: Weltmacht des Barock. Österreich in der Zeit Kaiser Leopolds I. 4. Aufl. Wien 1961; Ders.: Das Werden einer Großmacht. Österreich 1700 – 1740. Wien 1962. Hanns Leo Mikoletzkys Band, der aufgrund vieler guter Beobachtungen keinesfalls zu unterschätzen ist, steht dann auch unter dem Titel „Das große 18. Jahrhundert“ (Wien 1967). Dazu Karl Vocelka: Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat (Österreichische Geschichte 1699−1815, hrsg. von Herwig Wolfram). Wien 2001, hier S. 11– 14. Vocelka, Glanz; Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter (Österreichische Geschichte 1522– 1699, hrsg. von Herwig Wolfram). 2 Bde. Wien 2003/2004. Michael Hochedlinger: Austria′s Wars of Emergence. War, State and Society in the Habsburg Monarchy 1683 – 1797. London 2003, bes. S. 7– 150. Zum Forschungstand siehe insbes. Maťa, Habsburgermonarchie, S. 57– 62. Vocelka, Glanz, S. 413. Allg. Jeremy Black: European International Relations 1648 – 1715. Basingstoke u. a. 2002; Frederik Dhondt: Balance of Power and Norm Hierarchy. Franco-British Diplomacy after the Peace of Utrecht (Legal History Library 17, Studies in the History of International Law 7). Leiden/Boston 2015; Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785. Paderborn 1997; Ralph Kauz/Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit (Archiv für Österreichische Geschichte 141, Veröffentlichungen zur Iranistik 52). Wien 2009. Mit Blick auf die diplomatischen Beziehungen des Kaiserhofs Backerra, Wien; Theo Gehling: Ein europäischer Diplomat am Kaiserhof zu Wien. François Louis de Pesme, Seigneur de Saint-Saphorin, als englischer Resident am Wiener Hof 1718 – 1727 (Bonner Historische Forschungen 25). Bonn 1964; Charles W. Ingrao: The peace of Passarowitz 1718. West Lafayette 2011; Grete Mecenseffy: Karls VI. Spanische Bündnispolitik 1725 – 1729. Innsbruck 1934; Klaus Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648−1740) (Bonner Historische Forschungen 42). Bonn 1976; Hans J. Pretsch: Graf Manteuffels Beitrag zur österreichischen Geheimdiplomatie von 1728 bis 1736. Ein kursächsischer Kabinettsminister im Dienst des Prinzen Eugen von Savoyen und
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wissem Zusammenhang steht dazu auch die Pragmatische Sanktion und das Ringen um deren Anerkennung innerhalb und außerhalb der Habsburgermonarchie.⁸³ Tatsächlich bildete diese ein Staatsgrundgesetz, das alle Länder der Monarchie bzw. deren Vertreter anerkannt hatten und somit eine konstitutive Klammer bildete, die nicht von ungefähr dann auch am Beginn der Verfassungsdokumente der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genannt wird.⁸⁴
Kaiser Karls VI. Bonn 1970; Iskra Schwarcz (Hrsg.), Die Flucht des Thronfolgers Aleksej. Krise in der „Balance of Power“ und den österreichisch-russischen Beziehungen am Anfang des 18. Jahrhunderts. Berlin 2019; Christian Steppan: Akteure am fremden Hof: politische Kommunikation und Repräsentation kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am russischen Hof (1720 – 1730). Göttingen 2016. Siehe auch Friedrich Polleroß: Die Kunst der Diplomatie. Auf den Spuren des kaiserlichen Botschafters Leopold Joseph Graf von Lamberg (1653−1706). Petersberg 2010. Für den Spanischen Erbfolgekrieg kann auf die interessante Studie von Corinna Bastian zum Briefwechsel der Princesse des Ursins, Kammerdame am spanischen Königshof Philipps V., und Madame Maintenon verwiesen werden, Corinna Bastian:Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts (Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 4). Köln u. a. 2013. Insbesondere die Geheimdiplomatie in der Regierungszeit Karls VI. hat nicht zuletzt aufgrund deren Akteure Prinz Eugen und auf englischer Seite etwa Marlborough gewisses Interesse erregt. Unverblümt sprach Karl bereits 1711 in einem Schreiben an Wratislaw das Bemühen um vertrauensvolle Leute im Umfeld der anderen europäischen Höfe und Minister an, die man mit ausreichend Bemühungen und Unterhalt sicherlich finden würde (Arneth, Correspondenz, S. 206). Zur Geheimdiplomatie und Bemühungen der Verschlüsselung bzw. zur Geheimhaltung diplomatischer Korrespondenz u. a. Backerra, Wien, S. 204– 215; Braubach: Geheimdiplomatie; Pretsch, Beitrag; Anne-Simone Rous/Martin Mulsow (Hrsg.), Geheime Post: Kryptographie und Stenographie der diplomatischen Korrespondenz europäischer Höfe während der Frühen Neuzeit. Berlin 2015; Hermann E. Stockinger: Die Geheimdiplomatie Prinz Eugens und die Ermordungspläne des Grafen-Pascha Bonneval, in: Martin Mulsow (Hrsg.), Kriminelle – Freidenker – Alchemisten: Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2014, S. 203 – 233. Siehe hier den Beitrag von Leopold Auer. Dazu u. a. Charles Ingrao: Empress Wilhelmine Amalia and the Pracmatic Sanction, in: MÖStA 34 (1981), S. 333 – 341; Simon Karstens: Von der Akzeptanz zur Proklamation. Die Einführung der Pragmatischen Sanktion in den Österreichischen Niederlanden 1720 – 1725, in: ZHF 40/1 (2013), S. 1– 24; Seitschek, Anerkennung. Wilhelm Brauneder: Die Pragmatische Sanktion – das Grundgesetz der Monarchia Austriaca, in: Karl Gutkas (Hrsg.), Prinz Eugen und das barocke Österreich. Salzburg/Wien 1985, S. 141– 150. Z. B. Oktoberdiplom 20.10.1860: „Nachdem Unsere Vorfahren glorreichen Andenkens in weiser Sorgfalt in Unserem durchlauchtigsten Hause eine bestimmte Form der Erbfolge aufzurichten bestrebt waren, hat die von weiland Seiner k. k. Apostolischen Majestät Kaiser Carl dem VI. am 19. April 1713 endgiltig und unabänderlich festgesetzte Successionsordnung in dem unter dem Namen der pragmatischen Sanction bekannten, von den gesetzlichen Ständen Unserer verschiedenen Königreiche und Länder angenommenen in Kraft bestehenden Staats-, Grund- und Hausgesetze, ihren Abschluß gefunden“.
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Die zentralen Verwaltungsstellen der Habsburgermonarchie sind durch das mehrbändige Werk der Österreichischen Zentralverwaltung, die auch zahlreiche Editionen wichtiger, teilweise nicht mehr erhaltener Dokumente zur Einrichtung dieser Stellen bietet, sowie die zuletzt erschienene Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit überblicksmäßig gut erschlossen. Diese liefert vorerst für die Zentralstellen der Monarchie sowie des Reiches kurze Überblicke zu Gegenstand, Forschung sowie weiterführender Literatur und versteht sich als Handbuch nicht zuletzt auch für künftige Studien, die einzelne Beiträge sicher auch nachschärfen, ergänzen bzw. eventuell sogar korrigieren werden. Da der erste Band Ende 2019 erschienen ist, konnte er nicht bzw. nur vereinzelt an dieser Stelle volle Berücksichtigung finden. Neben den Beiträgen zu den Verwaltungsstellen sowie den Hof kann ergänzend auf die Überblicke zur Bevölkerung, den Adel, den Orden vom Goldenen Vlies oder zum (Reichs)Postwesen verwiesen werden. Wie wichtig die zentralen Verwaltungsstellen waren, kann etwa folgende Charakterisierung der Hofkammer verdeutlichen: „Die integrierende Wirkung dieser Großbehörde auf das Gesamtsystem der habsburgischen Einkünfte und auf die Entstehung einer einheitlichen Finanzverwaltung kann (trotz der von der Forschung festgestellten Effizienzmängel) kaum überschätzt werden.“⁸⁵ Wesentlich für das Vorantreiben aktueller Forschung war nicht zuletzt das Konzept des fiscal-military state und die Frage nach dessen Anwendbarkeit für die Habsburgermonarchie.⁸⁶ Der Blick auf die Verwaltungsstellen und die handelnden Personen verdeutlicht jedenfalls die Ausübung von Herrschaft in Zentrum und Peripherie, weshalb diese auch im Fokus mehrere Beiträge dieses Bandes stehen. Zudem ermöglicht der Blick auf das Bemühen nach Durchsetzung gewisser Standards und Abstellen von in den Quellen so genannten Missbräuchen das Verständnis eines stets im Wandel befindlichen Prozesses hin zum modernen Staat. Dabei setzten Reformbemühungen nicht erst mit der Regierungstätigkeit Maria Theresias ein.⁸⁷
Maťa, Habsburgermonarchie, S. 46. Zuletzt William D. Godsey: The Sinews of Habsburg Power. Lower Austria in a Fiscal-Military State 1650 – 1820. Oxford 2018. Dazu in Vorbereitung: William D. Godsey/Petr Maťa/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), The Habsburg Monarchy as a Fiscal-Military State c. 1648 – 1815: Contours and Perspectives (bei Oxford University Press). Zu Kriegsfinanzierung und Finanzen für Raum und Zeit des vorliegenden Bandes bes. die Beiträge in Peter Rauscher (Hrsg.), Kriegführung und Staatsfinanzen. Die Habsburgermonarchie und das Heilige Römische Reich vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des habsburgischen Kaisertums 1740. Münster 2010. Zu Reformbemühungen und deren Auswirkungen auf die Zeit Maria Theresias beispielhaft etwa Grete Klingenstein: Vorstufen der theresianischen Studienreformen in der Regierungszeit Karls VI., in: MIÖG 76 (1968), S. 327– 333.
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Ähnlich wie die Intensivierung der Verwaltungstätigkeit den Ausbau bzw. die Reform entsprechender Stellen erforderte, erfolgte auch ein architektonischer Ausbau. So wurde der Reichskanzleitrakt der Hofburg errichtet oder Gebäude für die Österreichische und Böhmische Hofkanzlei.⁸⁸ Die Kunstgeschichte des barocken Österreich mit ihren Protagonisten ist traditionell gut erforscht, nicht zuletzt prägen die Bau- und Kunstwerke die Rezeption dieser Epoche bis heute.⁸⁹ Namen wie Johann Bernhard Fischer von Erlach, Johann Lucas von Hildebrandt, Daniel Gran, Paul Troger oder die Brüder Strudel erfreuen sich einer gewissen Bekanntheit.⁹⁰ Neben den Bauwerken der genannten Protagonisten ist aber auch auf den Ausbau entsprechender Stellen zu verweisen: 1716 wurde das Hofbauamt mit der Bestellung Gundaker Graf Althanns zum ersten Generalbaudirektor umstrukturiert⁹¹, 1717 eine Ingenieursakademie errichtet⁹² und 1725 wurde die nach dem Tod von Peter Strudel 1714 geschlossene Maler- und Bildhauerakademie unter der Leitung von Jacop van Schuppen neu gegründet.⁹³ Es wurden also gewisse Rahmenbedingungen geschaffen, um Kunst und Wissenschaft (im Sinne des Landesfürsten) zu organisieren. Barocke Musik und insbesondere jene am Kaiserhof hat sich wieder einen festen Platz in den Spielplänen erarbeitet. In diesem Zusammenhang kann auch insgesamt auf die barocke Festkultur ver-
Zur Hofburg s. unten. Grundlegender Überblick: Hellmut Lorenz (Hrsg.), Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Bd. 4: Barock. München 1999. Über die Kultur der Zeit vgl. Rupert Feuchtmüller/Elisabeth Kovács (Hrsg.), Welt des Barock. 2 Bde. Wien 1986. Monographien und Ausstellungskataloge zu beispielsweise Paul Troger, die Brüder Strudel, Johann Bernhard und Joseph Emanuel Fischer von Erlach, Johann Lucas von Hildebrandt, Jan Kupecký, Martin van Meytens usw. füllen ganze Regale. Zuletzt mit weiterführender Literatur etwa Peter Heinrich Jahn: Johann Lucas von Hildebrandt (1668 – 1745). Sakralarchitektur für Kaiserhaus und Adel. Petersberg 2011; Andreas Kreul: Johann Bernhard Fischer von Erlach. Regie der Relation. Salzburg/München 2006; Johann Kronbichler: Paul Troger 1698 – 1762. Berlin/München 2012; Ders. (Hrsg.), Grandezza. Der Barockmaler Daniel Gran und sein Kreis. Ausstellungskatalog. St. Pölten 2007. Neben Monographien zu den Künstlern bieten Jubiläen der Bauwerke oder ihrer Auftraggeber, etwa die Äbte der österreichischen Klöster, immer wieder Anlass sich diesen zu widmen. Zur Kunstakademie Manfred Koller: Die Brüder Strudel. Hofkünstler und Gründer der Wiener Kunstakademie. Innsbruck 1993. Dazu nun kurz Manuel Weinberger: Das Hofbauwesen unter Generalhofbaudirektor Gundaker Graf Althann (1716 – 1743), in: Lorenz/Mader-Kratky, Wiener Hofburg 1705 – 1835, S. 186 f. Nora Pärr: Maximilian Hell und sein wissenschaftliches Umfeld im Wien des 18. Jahrhunderts. Nordhausen 2013, S. 95 ff. Carl von Lützow: Geschichte der kaiserlichen und königlichen Akademie der bildenden Künste. Wien 1877; Walter Wagner: Die Geschichte der Akademie der bildenden Künste in Wien. Wien 1967.
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wiesen werden, insbesondere höfische Belustigungen wie Schlittenfahrten oder Maskeraden in der Faschingszeit.⁹⁴ Der Wiener (Kaiser-)Hof, seine Akteure, deren Beziehungen zueinander sowie der organisatorische Rahmen haben in den letzten Jahrzehnten viel Beachtung gefunden. Die Überlegungen von Norbert Elias hat für Wien etwa Hubert Ehalt aufgegriffen⁹⁵, Jeroen Duindam in seiner vergleichenden Darstellung der Höfe in Wien und Versailles einige altgediente Konzepte in Frage gestellt. Für den Kaiserhof zur Zeit Karls VI., seine Mitglieder und Funktionsträger sowie seine Struktur ist dabei insbesondere auch auf Andreas Pečars Studien zu verweisen.⁹⁶ In den letzten Jahren wurde zunehmend auch der Wiener Hof als Organisation in den Fokus genommen und grundlegende Nachschlagewerke zu den Normen⁹⁷ und den Hofstaaten⁹⁸ vorgelegt. Wesentliche Akteure bei Hof waren nicht Hingewiesen kann an dieser Stelle auf die umfangreiche Literatur zu Johann Joseph Fux, Pietro Metastasio oder Antonio Caldara werden. Fux hat immerhin mit seinem Gradus ad parnassum ein Standardwerk der Musiktheorie sowie -lehre geschaffen, dessen Drucklegung durch den Kaiser finanziert wurde. Beispielhaft zur Rolle der Kunst die Beiträge in Elisabeth Fritz-Hilscher (Hrsg), Im Dienste einer Staatsidee. Künste und Künstler am Wiener Hof um 1740 (Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge 24). Wien/Köln/Weimar 2013. Intensiv mit der barocken Wiener Oper hat sich Herbert Seifert beschäftigt: Herbert Seifert: Texte zur Musikdramatik im 17. und 18. Jahrhundert. Aufsätze und Vorträge, hrsg. von Matthias Pernerstorfer (Summa Summarum 2). Wien 2014. Zu Caldara zuletzt Andrea Zedler: Kantaten für Fürst und Kaiser. Antonio Caldara zwischen Unterhaltung und höfischem Zeremoniell (Schriftenreihe des Österreichischen Historischen Instituts in Rom 5). Wien 2020. Zur Kirchenmusik Karls VI. darf auf das Werk Wilhelm Riedels verwiesen werden (s. oben bzw. hier Beitrag Leopold Auer Anm. 79). Zur Karnevalsoper am Hof Karls VI. letzthin Claudia Michels: Karnevalsoper am Hofe Kaiser Karls VI. (1711– 1740). Kunst zwischen Repräsentation und Amusement (Publikationen des Instituts für Österreichische Musikdokumentation). Wien 2018. Zur Theaterpraxis darf auf die Studien von Andrea SommerMathis verwiesen werden, einen guten Überblick mit weiterführender Literatur vermitteln Andrea Sommer-Mathis/Daniela Franke/Rudi Risatti (Hrsg.), Spettacolo barocco! Triumph des Theaters. Ausstellungskatalog. Petersberg 2016 bzw. Andrea Sommer-Mathis/Elisabeth Großegger/Katharina Wessely (Hrsg.), Spettacolo barocco – Performanz, Translation, Zirkulation. Wien 2018. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Darmstadt/Neuwied 1969. Für den Kaiserhof HubertChristian Ehalt: Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 1980. Dazu Jeroen Duindam: Myths of Power. Norbert Elias and the Early Modern European Court. Amsterdam 1995; Claudia Opitz (Hrsg.), Höfische Gesellschaft und Zivilsationsprozeß. Norbert Elias′ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Köln 2005. Jeroen Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europe′s Dynastic Rivals, 1550 – 1780. Cambridge 2003; Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711– 1740). Darmstadt 2003. Jakob Wührer/Martin Scheutz: Zu Diensten Ihrer Majestät. Hofordnungen und Instruktionsbücher am frühneuzeitlichen Wiener Hof (QIÖG 6). Wien 2011. Irene Kubiska-Scharl/Michael Pölzl: Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711−1765. Eine Darstellung anhand der Hofkalender und Hofparteienprotokolle (Forschungen und Beiträge zur
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nur die Mitglieder der kaiserlichen Familie, sondern auch der Adel. Gerade dieser bzw. die führenden Familien und ihr Lebensstil sowie das Verhältnis zum Kaiserhof sind wichtig für das Verständnis der Regierungszeit Karls VI. Nicht von ungefähr bauten die in den Länderverwaltungen aktiven Familien Harrach, Liechtenstein, Kinsky, Starhemberg, Althann, Trautson, Schwarzenberg usw. in diesen Jahren ihre Palais in der Residenzstadt Wien, bzw. in der Herrengasse in unmittelbarer Nähe zum Kaiserhof.⁹⁹ Gerade auch das Frauenzimmer sowie Handlungsspielräume der Hofdamen bzw. Amtsträgerinnen bei Hof sind vermehrt in den Fokus gerückt.¹⁰⁰ Den Rahmen, in dem man sich bei Hof zu bewegen hatte,
Wiener Stadtgeschichte 58). Innsbruck/Wien/Bozen 2013. Wichtig sind diese Bände nicht zuletzt, da ein großer Teil des Handbuchs die am Hof Dienst tuenden Personen mit ihren Funktionen sowie die Dauer deren Ausübung nennt. Mit den Hofstaaten der kaiserlichen Familie sowie den obersten Hofämtern beschäftigen sich auch die Beiträge in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, hier 1/1, S. 149 – 264. Vergleichbare Studien etwa für Versailles Leonhard Horowski: Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661– 1789. Ostfildern 2012; zu München Britta Kägler: Frauen am Münchener Hof (1651– 1756) (Münchener Historische Studien 18). Kallmünz 2011. Aus den zahlreichen Studien seien hier nur pars pro toto genannt Katharina Arnegger: Das Fürstentum Liechtenstein. Session und Votum im Reichsfürstenrat. Münster 2019; Heinrich Benedikt: Franz Anton Graf von Sporck (1662– 1738). Zur Kultur der Barockzeit in Böhmen. Wien 1923; Francesca Gallo: L′Alba die Gattopardi. La formazione della classe dirigente nella Sicilia austriaca (1719−1734). Rom 1996; Wolfgang Gürtler/Martin Krenn/Rudolf Kropf (Hrsg.), Die Familie Esterházy im 17. und 18. Jahrhundert. Tagungsband der 28. Schlaininger Gespräche. Eisenstadt 2009; Herbert Haupt: Ein Herr von Stand und Würde. Fürst Johann Adam Andreas von Liechtenstein (1657– 1712). Wien 2016; Jana Perutková: Der glorreiche Nahmen Adami. Johann Adam Graf Questenberg (1678 – 1752) als Förderer der italienischen Oper in Mähren (Specula Spectacula 4). Wien 2015; Brigitte Holl: Hofkammerpräsident Gundaker Thomas Graf Starhemberg und die österreichische Finanzpolitik der Barockzeit (1703 – 1715) (Archiv für österreichische Geschichte 132). Wien 1976; Andreas Pečar: Favorit ohne Geschäftsbereich. Johann Michael Graf von Althann (1679 – 1722) am Kaiserhof Karls VI., in: Michael Kaiser (Hrsg.), Der zweite Mann im Staat: Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit (ZHF Beih. 32), Berlin 2003, S. 331– 344; Susanne Claudine Pils: Schreiben über Stadt. Das Wien der Johanna Theresia Harrach (1639 – 1716) (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 36). Wien 2002; Polleroß, Kunst. Allg. Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Hrsg.), Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Residenzenforschung 11). Ostfildern/Stuttgart 2000; Susanne Rode-Breymann/Antje Tumat (Hrsg.), Der Hof. Ort kulturellen Handelns von Frauen in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2013. Beispielhaft Kägler, Frauen; Katrin Keller: Hofdamen. Amtsträgerinnen im Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts. Wien u. a. 2005; Regina Schleuning: Hof, Macht, Geschlecht. Handlungsspielräume adeliger Amtsträgerinnen am Hof Ludwigs XIV. Göttingen 2016.
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gab das Zeremoniell vor, dessen Regeln ab der Mitte des 17. Jahrhunderts verschriftlicht wurden und zeitgenössisch große Beachtung fanden.¹⁰¹ Betrachtet man die Regionen der Monarchie, so ist festzustellen, dass diese mitunter gut erforscht sind bzw. diesen Studien gewidmet werden. Größere Aufmerksamkeit hat dabei wenig überraschend die Residenzstadt Wien erfahren. Als Standardwerk darf die von Peter Csendes und Ferdinand Opll herausgegebene dreibändige Geschichte der Stadt Wien gelten.¹⁰² In diesem Kontext kann auch auf die gründliche Aufarbeitung der Geschichte der landesfürstlichen bzw. kaiserlichen Residenz selbst verwiesen werden.¹⁰³ Eine wichtige Quelle für den Wiener Hof ist das seit 1703 existierende Wiennerische Diarium. Dieses erschien zweimal wöchentlich und bot neben dem Blick auf andere europäische Zentren v. a. auch eine Berichterstattung zu den Ereignissen in Wien und um den Kaiserhof. Da dies
Johann Christian Lünig: Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum oder Historisch und Politischer Schau-Platz Aller Ceremonien. 2 Bde. Leipzig 1719−1720; Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft Der großen Herren etc. Berlin 1733. Allg. Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995; Irmgard Pangerl/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652– 1800). Eine Annäherung (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 47, Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 31). Innsbruck u. a. 2007; Miloš Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 106. Frankfurt a. M. 1998. Für die Regierungszeit Karls VI.: Karl Vocelka/Anita Traninger (Hrsg.), Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert) (Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 2).Wien/Köln/Weimar 2003. Zur regen Stadtgeschichtsforschung der Zeit um 1700 seien nur einige Werke genannt, etwa Herbert Haupt: Das Hof- und hofbefreite Handwerk im barocken Wien 1620 bis 1770 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 46). Innsbruck u. a. 2007; Ferdinand Opll/Martin Scheutz: Die Transformation des Wiener Stadtbildes um 1700. Die Vogelschau des Bernhard Georg Andermüller von 1703 und der Stadtplan des Michael Herstal de la Tache von 1695/1697 (MIÖG Erg.-Bd. 61). Wien 2018; Sarah Pichlkastner: Das Wiener Stadtzeichnerbuch 1678 – 1685. Ein Bettlerverzeichnis aus einer frühneuzeitlichen Stadt (QIÖG 12). Wien/Köln/Weimar 2014; Susanne Claudine Pils/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.), Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der frühen Neuzeit (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 44). Innsbruck u. a. 2005. Aus dem insgesamt fünfbändigen Werk der Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg sind für das Wirken Karls VI. insbesondere die beiden Bände Herbert Karner (Hrsg.), Die Wiener Hofburg 1521– 1705. Baugeschichte, Funktion und Etablierung als Kaiserresidenz (Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg 2). Wien 2014 und Lorenz/Mader-Kratky,Wiener Hofburg 1705 – 1835 von Interesse. Die Bände decken dabei nicht nur die Baugeschichte ab, sondern widmen sich auch Fragen der Nutzung der Räume innerhalb der Hofburg, deren Ausstattung oder der höfischen Festkultur.
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kontinuierlich und beinahe täglich erfolgte, ist die Zeitung damals wie heute eine wichtige Quelle zu den Aktivitäten bei Hof.¹⁰⁴ Der Blick auf die einzelnen Länder der Habsburgermonarchie und den entsprechenden Forschungsstand im Folgenden kann keine Vollständigkeit beanspruchen, zumal einige Themen in den Beiträgen des vorliegenden Bandes bearbeitet werden, sondern soll allein erneut die Vielschichtigkeit der Herrschaft Karls VI. und die Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung verdeutlichen. Ein Kernland der habsburgischen Herrschaft war Österreich unter der Enns bzw. Niederösterreich. Die Funktionsträger der Landschaft nahmen nicht selten auch wichtige Funktionen am Hof wahr.¹⁰⁵ Zur Rolle der Stände und deren Verhältnis liegen moderne Studien vor, wobei etwa Godsey die wichtige Rolle dieser als Kredit- bzw. Geldgeber im langen 18. Jahrhundert betont.¹⁰⁶ Die Länder der ungarischen und böhmischen Krone sind durch Einzelstudien erforscht, auch wenn diese lange durch nationale Forschung geprägt waren.¹⁰⁷ Karl notierte zu Ungarn in seinem Schreiben an Wratislaw: „selbes land nun absonderlich mit güt und behutsamkeit guberniren vndt ihnen die maxim benemen mus dass sie von teutschen vntertrukt werdten vndt mus vor allen acht haben die ruh zu erhalten“.¹⁰⁸ Einzelne, auch für die Regierungszeit Karls VI. relevante Aspekte wurden dabei näher beleuchtet, etwa gibt es Studien zu den Gebieten an der Peripherie, beispielsweise zur Militärgrenze, dem österreichischen Küstenland (Litorale) oder auch dem Banat.¹⁰⁹
Dazu Wolfgang Duchkowitsch: Absolutismus und Zeitung. Die Strategie der absolutistischen Kommunikationspolitik und ihre Wirkung auf die Wiener Zeitungen 1621−1757. Diss. phil. Wien 1978; Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994; Stefan Seitschek: „Einige caeremonialpuncten bet(reffend)“. Kommunizierende Gefäße: Zeremonialprotokoll und Wiener Diarium als Quelle für den Wiener Hof (18. Jahrhundert). Magisterarbeit phil. Wien 2011 (onlineVersion: http://phaidra.univie.ac.at/o:306189). Zuletzt erschienen sind zwei Themenhefte zum Wiennerischen Diarium in den Wiener Geschichtsblättern, 74/Heft 2 und 3 (2019). Zu den Statthaltern immer noch [Albert Starzer]: Beiträge zur Geschichte der niederösterreichischen Statthalterei. Die Landeschefs und Räthe dieser Behörde von 1501 bis 1896.Wien 1897. Godsey, Sinews; Shuichi Iwasaki: Stände und Staatsbildung in der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie in Österreich unter der Enns 1683 – 1748 (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 53). St. Pölten 2014. Zusammenfassend Petr Mat’a, Habsburgermonarchie, S. 35−43, 50 f., 60 f. Zum Forschungsstand bzw. weiterführende Literatur zu Ungarn siehe in diesem Band den Beitrag von András Forgó. Zitiert nach Arneth, Correspondenz, S. 206. Zur Militärgrenze Karl Kaser: Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (1535 – 1881). Wien/Köln/Weimar 1997; zum Litorale Eva Faber: Litorale Austriaco. Das österreichische und kroatische Küstenland 1700 –
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Besondere Aufmerksamkeit erfuhren in der Forschung die ehemals spanischen Länder der Monarchie sowie deren Verwaltung. Mehrere moderne Studien beschäftigen sich inzwischen mit den Österreichischen Niederlanden und deren Führungsschicht im 18. Jahrhundert.¹¹⁰ Auch zum Königreich Neapel und dessen Hof ¹¹¹ sowie zur Herrschaft Karls in Sizilien und Norditalien liegen bereits Forschungen vor.¹¹² In dem bereits genannten Schreiben geht Karl am Ende auch auf
1780 (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 20). Trondheim/Graz 1995. Zum Banat siehe hier den Beitrag von Sabine Jesner, zum Ansiedlungsprojekt der „Spanier“ hier kurz den Beitrag von Elisabeth Garms-Cornides, jeweils mit weiterführender Literatur. Zur kaiserlichen Walachei Șerban Papcostea: Der Absolutismus in den Randgebieten der Habsburgermonarchie. Die Kleine Walachei unter österreichischer Verwaltung (1718 – 1739), in: MÖStA 23 (1970), S. 36 – 63 oder zur Administration in Belgrad zusammenfassend Miloš Đorđević: Administration of Belgrade (1720 – 1738), in: Gunda Barth-Scalmani u. a. (Hrsg.), Forschungswerkstatt: Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 26 (2011), S. 185 – 193. Eine kurze Auswahl: Hertel, Maria Elisabeth; van Gelder, Regime; Simon Karstens:Verteidiger des Glaubens und Verteidiger von Interessen. Herrschaftssicherung durch Kirchen- und Konfessionspolitik am Beispiel Karls VI. in den Südlichen Niederlanden, in: Stefan Brakensiek/Corinna von Bredow/Birigt Näther (Hrsg.), Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit (Historische Forschungen 101). Berlin 2014, S. 53 – 74; Elisabeth Kovács/Franz Pichorner (Hrsg.), Instruktionen und Patente Karls (III.) VI. und Maria Theresias für die Statthalter, Interimsstatthalter, Bevollmächtigten Minister und Obersthofmeister der Österreichischen Niederlande (1703−1744). Wien 1993; Franz Pichorner: Wiener Quellen zu den Österreichischen Niederlanden. Die Statthalter Erzherzogin Maria Elisabeth und Graf Friedrich Harrach (1725 – 1743) (Beiträge zur Geschichte und Kirchengeschichte 1). Wien/Köln 1990; Guy Thewes: Stände, Staat und Militär. Versorgung und Finanzierung der Armee in den Österreichischen Niederlanden 1715−1795 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 14). Wien u. a. 2012; Renate Zedinger: Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714– 1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 7). Wien u. a. 2000. Zuletzt William D. Godsey/Veronika Hyden-Hanscho (Hrsg.), Das Haus Arenberg und die Habsburgermonarchie. Eine transterritoriale Adelsfamilie zwischen Fürstendienst und Eigenständigkeit (16.−20. Jahrhundert). Regensburg 2019. Immer noch von Bedeutung ist Heinrich Benedikt: Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Eine Darstellung auf Grund bisher unbekannter Dokumente aus den österreichischen Archiven. Wien 1927. Siehe auch Attilio Antonelli (Hrsg.), Cerimoniale del viceregno austriaco di Napoli 1707– 1734. I cerimoniali della corte di Napoli, Bd. 2. Neapel 2014; Wolfgang Prohaska/Nicola Spinosa (Hrsg.), Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige. Ausstellungskatalog. Neapel 1993; Marcello Verga (Hrsg.), Dilatar l′Impero in Italia. Asburgo e Italia nel primo Settecento. Cheiron XI/21 (1994). Siehe hier mit weiterführender Literatur den Beitrag von Pia Wallnig. Zur Lombardei beispielsweise Hans Reitter: Der Spanische Rat und seine Beziehungen zur Lombardei 1713 – 1720. 2 Bde. Diss. phil. Wien 1964. Zuletzt Roberto Quirós Rosado: Monarquía de Oriente. La corte de Carlos III y el gobierno de Italia durante la guerra de Sucesión española.
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die künftige Regierungsweise in Spanien und Italien ein: „vor meiner abrais alle gewohnliche tribunalia vndt consejos, absonderlich dass d′Italia vollig formiren vmb zu zeigen dass ich die monarchie nicht mit daaussen vermischen sondern a part halten will, wie es bey vorigen konigen gewesen vndt dass d′Italia nur pro forma dan man wohl siht dass ich Wallischlandt von mir noch ehendter vndt neher guberniren werdte. Auf den starenberg vor dass hiesige guberno ist nicht zu denken […] vndt werdt spanien nie ruhig guberniren noch erhalten ohne Person von haus“.¹¹³ In diesem Schreiben von 1711 erwähnt Karl auch Überlegungen für eine mögliche Operation nach (West-)Indien, die aber aufgrund der derzeitigen Lage bis auf weiteres ruhen müssten. Diese Episode kann jedenfalls die weitreichenden Pläne im Umfeld des Erzherzogs verdeutlichen, die das spätere Engagement im Rahmen der Ostendekompanie besser verstehen lassen.¹¹⁴ Interessant sind die genannten Länder insbesondere auch, da Karl in diesen unterschiedliche Rollen einnahm, etwa als König Karl III. von Ungarn, Kärntner Herzog oder auch Graf zu Flandern. Insbesondere der Herrschaftsantritt in Form von Huldigungen und Krönungen hat dabei in den letzten Jahren vermehrtes Interesse gefunden, nicht zuletzt als Kumulationspunkt landesfürstlicher und ständischer Herrschaft bzw. Repräsentation.¹¹⁵ Anhand von Quellen zur Vorbereitung der Ereignisse durch den Hof sowie der reichhaltigen medialen Berichterstattung konnten in Einzelstudien die Erkenntnisse der „Kulturgeschichte des Politischen“ fruchtbar gemacht werden. Einzüge, Huldigungen, Hochzeiten und
Madrid 2017. Allg. kompakt Leopold Auer: Zur Rolle Italiens in der österreichischen Politik um das spanische Erbe, in: MÖStA 31 (1978), S. 52– 72. Zitiert nach Arneth, Correspondenz, S. 206. Vgl. Arneth, Correspondenz, S. 203. Demnach umfasste das Projekt ebenso Gedanken zu einer Unterwerfung des spanischen Amerikas. Zu den Ambitionen in Übersee zusammenfassend Leopold Auer: A Habsburg Overseas Empire after 1700? Contemporary Austrian Views on the Colonial Dimension of the Spanish Succession, in: Matthias Pohlig/Michael Schaich (Hrsg.), The War of the Spanish Succession. New Perspectives. Oxford/New York 2018, S. 431– 442. Siehe hier den Beitrag von Stefan Meisterle. Zu den Huldigungen bzw. Krönungen Karls VI. mit den damit verbundenen Reisen u. a. Hanns Leo Mikoletzky: Hofreisen unter Kaiser Karl VI., in: MIÖG 60 (1952), S. 265 – 285; Rausch, Hofreisen; Stefan Seitschek: Die Erbhuldigungsreise 1728: Organisation und Durchführung, in: Renate Zedinger/Marlies Raffler/Harald Heppner (Hrsg.), Habsburger unterwegs. Von barockem Pomp zur smarten Businesstour. Graz 2017, S. 45 – 85; Vácha u. a., Karel. Zu den Medaillenprägungen für das Reich etwa Gisela Förschner: Frankfurter Krönungsmedaillen aus den Beständen des Münzkabinetts (Kleine Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main 49). Frankfurt a. M. 1992, zu den Krönungen Ungarns zuletzt Ferenc Gábor Soltész/Csaba Tóth/Géza Pálffy (Hrsg.), Coronatio Hungarica in Nummis. Medals and Jetons from Hungarian Royal Coronations (1508 – 1916). Budapest 2019.
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Reisen dienten so als Bühne für die Inszenierung des Kaisers bzw. Landesfürsten und des Staates selbst. Basierend auf dem Grundprinzip monarchischer Repräsentation, dass der dargestellte Zustand zugleich hergestellt wird, waren entsprechende Auftritte durch Symbole und Rituale angereichert, die verbreitet durch frühneuzeitliche Medien die bestehenden Herrschaftsstrukturen versinnbildlichten und zugleich festigten.¹¹⁶
Zum vorliegenden Band „Verglichen mit seinem früh verstorbenen Bruder hatte Karl VI. sicherlich wenig Erneuerungspotential im Sinne der im späteren 18. Jahrhundert vorherrschenden Modernisierungsansätze. Seine lange Regierungszeit ist geprägt vom Geist des Barock und der Frömmigkeit. Wenige progressive Elemente lassen sich in dieser Zeit ausmachen, und außenpolitisch waren die Jahre von 1711 bis 1740 voll der Rückschläge und Pannen. Obwohl er so lange regierte – was in anderen Fällen die Mittelmäßigkeit der Herrscherfigur verdecken konnte –, erfreute sich Karl VI. in der österreichischen Historiographie und im allgemeinen Bewußtsein keiner großen Beliebtheit, er taucht vorwiegend als Vater Maria Theresias und Verfechter der Pragmatischen Sanktion auf.“¹¹⁷ Dieser Einschätzung kann mit vorliegendem Sammelband in einzelnen Bereichen wohl berechtigt ein wenig entgegengewirkt werden, zumal Herrschaft und Repräsentation im Kontext der jeweiligen Rahmenbedingungen und den damit verbundenen Herausforderungen sowie Voraussetzungen der Zeit zu beurteilen sind. Die Beiträge beschäftigen sich mit der Person Kaiser Karls VI., seinen prägenden Lebensstationen und der kaiserlichen Familie, den Höfen und Residenzen seiner Herrschaft, den Herausforderungen der Regierungspraxis oder dem Mittel der Repräsentation zur Darstellung dieser Herrschaft. Der vorangehende Überblick soll aber vor allem auch gezeigt haben, dass sich die Forschungslage zur Regierungszeit Karls VI. nicht zuletzt durch Studien der vergangenen beiden Jahrzehnte neben den bekannten „Klassikern“
Grundlegend: Barbara Stollberg-Rilinger: Herstellung und Darstellung politischer Einheit: Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert, in: Jan Andres/Alexa Geisthövel/Matthias Schwengelbeck (Hrsg.), Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit (Historische Politikforschung 5). Frankfurt a. M./New York 2005, S. 73 – 92; Dies./Tim Neu/Christina Brauner (Hrsg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Köln/Weimar/Wien 2013; Harriet Rudolph: Das Reich als Ereignis. Formen und Funktionen der Herrscherinszenierung bei Kaisereinzügen (1558 – 1618). Köln/Weimar/Wien 2011. Vocelka, Glanz, S. 26.
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stark verbessert hat, auch wenn die Quellen der Zeit vermeintlich unerschöpflich sind. Nachdem der Aspekt der Herrschaft nun schon mehrfach Beachtung gefunden hat, ein kurzer allgemeiner Blick auf Repräsentationsformen in der Regierungszeit Kaiser Karls VI. Neben den bereits genannten Studien zur politischen Kulturgeschichte hat insbesondere die Kunstgeschichte in Auseinandersetzung mit Franz Matsche und durch zahlreiche Beiträge von Friedrich Polleroß oder Werner Telesko die Fragen nach Repräsentationsstrategien der Habsburger gestellt und somit Formen der Kunst mit jenen der Herrschaft verknüpft.¹¹⁸ Dabei wurde zuletzt verstärkt der Fokus auf unterschiedliche Medien als Distributionsmittel textlicher und bildlicher Botschaften zur Festigung und Inszenierung von Herrschaft sowie die Akteure der Medienproduktion gelegt.¹¹⁹ Insbesondere das Zusammenspiel unterschiedlicher Bild- und Textgattungen, wie dies beispielsweise bei Zeitungen, Flugschriften, kommentierten Porträtstichen oder auch – in stark komprimierter aber daher auch besonders präziser Weise – Medaillen vorkommt, hat neue Erkenntnisse über die Bedeutung der Medienproduktion einerseits und die vielschichtige und keineswegs einseitige Kommunikation zwischen Herrscher und Untertanen andererseits hervorgebracht.¹²⁰ Am Beginn vorliegenden Bandes steht der Kaiser und die kaiserliche Familie im Fokus. Skizziert Leopold Auer einen Forschungsüberblick zur Biographie Karls VI., beschäftigt sich János Kalmár mit der Erziehung und Jugend des Erzherzogs. Michael Pölzl widmet sich den verwitweten Kaiserinnen im Umfeld des Kaisers. Frank Göse beleuchtet den Blick der aufstrebenden preußischen Macht Franz Matsche: Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des „Kaiserstils“ (Beiträge zur Kunstgeschichte 16). 2 Bde. Berlin/New York 1981; Friedrich Polleroß: Monumenta Virtutis Austriacae. Addenda zur Kunstpolitik Kaiser Karls VI., in: Markus Hörsch (Hrsg.), Kunst, Politik, Religion: Studien zur Kunst in Süddeutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei. Festschrift für Franz Matsche zum 60. Geburtstag. Petersberg 2000, S. 99 – 122; Werner Telesko (Hrsg.), Die Repräsentation der Habsburg-Lothringischen Dynastie in Musik, visuellen Medien und Architektur 1618−1918. Wien/Köln/Weimar 2017. Für Karl VI. ein aktueller Überblick bei Werner Telesko: Zur „Kunstpolitik“ Karls VI., in: Lorenz/MaderKratky, Wiener Hofburg 1705 – 1835, S. 116 – 129. Friedrich Polleroß: Repräsentation und Reproduktion. Der ‚Kaiserstil’ in den zeitgenössischen ‚Massenmedien’, in: Telesko, Repräsentation, S. 38 – 61; Michaela Völkel: Serenissimus Sells. Der Einfluss von Produzenten und Publikum auf die Entstehung und Verbreitung von Kupferstichporträts am Beispiel Maria Theresias und Friedrichs II. von Preußen, in: Werner Telesko/Sandra Hertel/Stefanie Linsboth (Hrsg.), Die Repräsentation Maria Theresias. Herrschaft und Bildpolitik im Zeitalter der Aufklärung (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 19). Wien/Köln/Weimar 2020, S. 121– 131. Werner Telesko: Die „aufgeführte“ Kaiserin. Maria Theresia und die habsburgische Herrscherrepräsentation, in: Ders./Hertel/Linsboth, Repräsentation Maria Theresias, S. 425 – 451.
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auf den Kaiserhof und seine wesentlichen Akteure. Das Kaiserpaar aus der Perspektive des englischen Hofs stellt Charlotte Backerra vor. Der nächste große Bereich beschäftigt sich mit den Höfen und Residenzen. Neben dem Hof in Barcelona, dem sich Virginia Léon Sanz widmet, steht dabei die Kaiserresidenz Wien im Fokus. Andreas Weigl und Susanne Fritsch beschäftigen sich mit dem mehr oder weniger gut funktionierenden Zusammenwirken zwischen städtischen Magistrat und Regierungsinstitutionen. Das Wien Karls VI. war v. a. auch durch die Gruppe der aus Spanien stammenden Parteigänger des jungen Erzherzogs geprägt. Diesen widmet sich Elisabeth Garms-Cornides Beitrag, wobei dabei nicht nur die Spitzen dieser spanischen Gesellschaft, sondern insgesamt deren Integration und Ausgrenzung aus unterschiedlichen Gründen Beachtung finden. Schließlich richtet Pia Wallnig den Blick auf den vizeköniglichen Hof in Neapel und dessen Strukturen. Mehrere Beiträge widmen sich der Herrschaft in Zentrum und Peripherie der Habsburgermonarchie sowie mit der Ausübung dieser durch die befassten Träger bzw. Vermittler von Herrschaft.¹²¹ Es stehen also vermehrt die Akteure und deren Amtshandeln bzw. Kommunikation im Fokus. András Forgó schildert die Situation und Kommunikation am ungarischen Landtag 1722/1723, auf dem wichtige administrative Maßnahmen beschlossen wurden, aber auch die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion verabschiedet wurde. Sabine Jesner beleuchtet die Amtskommunikation im bzw. mit dem an der Peripherie gelegenen Temesvarer Banat und dem dort tätigen Personal. Stefan Meisterles Beitrag widmet sich dann der kaiserlichen Herrschaft in Übersee, die im Zuge der Etablierung der OstendeKompanie aufgebaut wurde und noch lange nach deren Ende weiterbestand. Gerade vor dem Hintergrund des Anspruchs auf das spanische Erbe sowie den wohl nicht zuletzt dort erkannten Stellenwert des Handels überrascht das Beharren auf diese Besitzungen nicht und macht dabei Grundsätze des Herrschaftsverständnisses durch den Umgang mit selbst entlegenen Gebieten deutlich. An dieser Stelle werden jedenfalls die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, sowie insbesondere auch wie das Zentrum von Personen und Ideen der Peripherie geprägt wurde, fassbar. Damit bewegen sich einige der genannten Beiträge nicht zuletzt in Bereiche der aktuellen Imperiumsforschung und widmen sich den Strategien zur Etablierung und Bewahrung von Macht, die mit mehr oder weniger Berechtigung auch für die Habsburgermonarchie festge-
Dazu etwa die Beiträge in Stefan Brakensiek/Heide Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Köln/Weimar/Wien 2005; Stefan Brakensiek/ Corinna von Bredow/Birigt Näther (Hrsg.), Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit (Historische Forschungen 101). Berlin 2014.
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stellt werden können.¹²² Die Koordinierung der Finanzen und der Wirtschaft durch die Geheime Konferenz ist Thema des Beitrags von Stefan Seitschek, der dabei auch die handelnden Akteure und damit den unmittelbaren Ratgeberkreis des Kaisers in diesen Fragen in den Fokus nimmt. Manfred Zollinger beschäftigt sich im Rahmen seiner Studien zum Lotteriewesen in der Habsburgermonarchie nicht nur mit Strategien zur Verbesserung der finanziellen Lage der stets klammen habsburgischen Kassen, sondern thematisiert dabei auch eine (zumindest angedachte) wichtige wirtschaftliche Stütze für die Orientalische Kompanie und deren Unternehmungen. Der letzte größere Block beschäftigt sich nun mit dem zweiten Schwerpunkt des Bandes nämlich mit Fragen der Repräsentation, wobei die behandelten Themen gerade an dieser Stelle überraschenderweise oft Neuland betreten. Friedrich Polleroß liefert einen bis dato fehlenden chronologischen Überblick zu den Darstellungen des Kaisers auf repräsentativen Gemälde sowie den damit befassten Malern. Sandra Hertel erweitert diesen Blick durch den Fokus auf die Behandlung der Herrschaftsinsignien in Bildern des Kaiserpaars. Die Herstellung des Porträts Karls auf Münzen und Medaillen wird von Anna Fabiankowitsch präsentiert. Andrea Sommer-Mathis und Danièle Lipp beschäftigen sich schließlich mit Musik und Theater sowie der damit verbundenen Inszenierung der Herrschaft Karls und Elisabeth Christines in Spanien. Als Epilog steht der Beitrag von Thomas Wallnig, der vielmehr einen Ausblick auf künftige Fragestellungen bzw. die neue Formulierung solcher darstellt, nämlich digitale Strategien zur nutzbringenden Aufbereitung massenhaft vorhandener Daten für Fragestellungen der Forschung sowie eine solide Interpretation behandelt. Zwar beziehen sich die drei Themenschwerpunkte dieses Beitrags auf für die Regierungszeit Karls VI. relevante Beispiele, jedoch wollen die Beobachtungen auch zu einer generellen Diskussion künftiger Herangehensweisen der Forschung anregen. Alle Beiträge haben gemein, dass sie aus jahrelanger Archivforschung bzw. Ergebnissen aktueller, langjähriger Forschungsprojekte schöpfen können. Dabei weisen die Aufsätze immer wieder auf wichtige, wiederkehrende Quellen (z. B. Testamente, dienstliche Schreiben, Sitzungsprotokolle) sowie damit verbundene
Z. B. Tom Tölle: Early Modern Empires: An Introdution to the Recent Literatur, in: H-Soz-uKult, 20.04. 2018, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-2021 (18.05. 2020), in: Lise Andriès/Marc André Benrier (Hrsg.), L’Avenir des Lumières/The Future of Enlightenment. Paris 2019, S. 235 – 252. Stephan Wendehorst: Altes Reich, „Alte Reiche“ und der imperialturn in der Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hrsg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation (bibliothek altes Reich 5). Berlin/München/Boston 2015, S. 12– 26, sowie die dort genannte Literatur.
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Handlungs- bzw. Kommunikationsstrategien der Akteure hin. Das Wissen um die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts stellt sich jedenfalls durchaus als dynamisches Feld dar, das stetig durch neue Ergebnisse erweitert wird, was sich auch vorliegender Band zum Ziel gesetzt hat. Aus unterschiedlichen Gründen des immer rascheren Arbeitsalltags konnten nicht alle Beiträge der Tagung in dem Band versammelt werden. Für die Forschungen Klaas van Gelders zu den Österreichischen Niederlanden, der sich mit der Rolle des Marquis de Merode-Westerloo auseinandersetzte, kann auf dessen Publikationen verwiesen werden¹²³, mehrere Arbeiten sind auch von Maximilian Maurer zum Hofquartierwesen vorgelegt worden.¹²⁴ Insbesondere Hofreisen sowie die Einquartierungen in den jeweiligen Stationen, v. a. wenn sich der Hof etwa in Krönungs- und Huldigungsorten aufhielt, verdienen Aufmerksamkeit, zumal sich diese zwischen den durchaus bedeutenden Fragen nach den finanziellen Ressourcen sowie der Repräsentation der Herrschaft bewegen. Petr Maťa hat sich mit den Deckengemälden des Brünner Landhauses und der Darstellung des Kaisers und des Landes dort beschäftigt. Die stark beschädigte Darstellung wurde seit Herbst 2019 freigelegt, was zu diesem Themenkomplex künftig weitere Erkenntnisse erhoffen lässt.¹²⁵ Der Tagungsbeitrag von Peter Konecny zu Reformen der Bergbauverwaltung sowie die Ausbildung der Montanbeamten zur Regierungszeit Karls VI. wird in künftigen Projekten seinen Niederschlag finden. Ihnen, wie insbesondere auch den Beitragenden in diesem Sammelband sei Dank ausgesprochen, da nicht zuletzt Diskussionen und Fragen im Rahmen der Tagung immer wieder wichtige, ergänzende Anknüpfungspunkte für die weiteren Überlegungen bieten können bzw. boten. Dank gilt aber v. a. auch jenen Personen, die das Erscheinen dieses Bandes auf Grundlage der im März 2019 stattgefundenen internationalen Tagung ermöglichten. Hier sind an erster Stelle das Institut für Österreichische Geschichtsforschung (Universität Wien) sowie dessen ehemaliger und nunmehriger Direktor zu nennen, nämlich Thomas Winkelbauer und Christian Lackner. Dank gilt auch den Reihenherausgeber*innen, dass sie das
Van Gelder, Regime.Vgl. beispielhaft zur Rolle des Adels nun auch Veronika Hyden-Hanscho: Herrschaftsvermittlung in den Österreichischen Niederlanden. Léopold Philippe Arenberg zwischen Karl III./VI. und Maria Theresia, in: Godsey/Hyden-Hanscho (Hrsg.), Das Haus Arenberg, S. 183 – 239. Maximilian Maurer: Das Hofquartierwesen im frühneuzeitlichen Wien, in: Frühneuzeit-Info 26 (2015), S. 234−239; Ders.: Personalentscheidungen im Spannungsfeld zwischen Verfahren und Willkür am Beispiel des Hofquartiermeisteramtes, in: Kubiska-Scharl/Pölzl, Karrieren, S. 181– 192. Ders.: Stuben und Säle. Symbolische Kommunikation und politische Kultur in den ständischen Versammlungsräumen der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Habil. Wien [2020].
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Erscheinen im Rahmen der „bibliothek altes Reich“ ermöglicht haben und damit nicht zuletzt auch die Habsburgermonarchie in den Fokus rücken. Für die Betreuung des Bandes im de Gruyter-Verlag und die stets freundlichen Rückmeldungen sei Bettina Neuhoff herzlichst gedankt. Abschließend einige Anmerkungen zu den notwendigen Vereinheitlichungen im Rahmen des Bandes. Bei Zitaten aus Primärquellen (sofern es sich nicht um Drucke handelt) wurde die Satzzeichensetzung zum besseren Verständnis durchwegs modernen Maßstäben angepasst, bei Groß- und Kleinschreibung wurde auf die Vorlage Rücksicht genommen oder mit den üblichen Ausnahmen (Eigen-, Ortsnamen; Gott usw.) einheitlich klein geschrieben. Quellenzitate wurden in ihrer ursprünglichen sprachlichen Form belassen, zum Teil auch mit Übersetzungen versehen. Anmerkungen bzw. Ergänzungen der Autoren stehen durchwegs in eckigen Klammern. Besondere Probleme bereiten natürlich Eigennamen, wie etwa der Name des Vertrauten Graf Althan(n), welcher auf Althann vereinheitlicht wurde (Alois bzw. Aloys Thomas Raimund Graf Harrach; Gundaker bzw. Gundacker; Virmond bzw. Virmont usw.). Aus dem Dargelegten wird auch ersichtlich, dass Fürsten- und Grafentitel ohne „von“ geschrieben werden. Jahresangaben in den Anmerkungen wurden im Fließtext ausgeschrieben. Es bleibt festzustellen, dass die hier kurz angerissenen Fragestellungen oft auch weitere Forschungsmöglichkeiten aufzeigen, der vorliegende Band hier aufgrund notwendiger Schwerpunkte nur einzelne Facetten der Herrschaft und Repräsentation Karls VI. behandeln konnte. Dennoch besteht die Hoffnung, dass die in diesem Band vorgelegten Materialien und Ergebnisse eine möglichst umfassende Standortbestimmung bieten, die Anknüpfungspunkt für künftige Forschung sein kann und damit eine bessere Kenntnis des Wiener Kaiserhofs sowie vieler seiner Akteure in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ermöglichen werden.
Teil I: Die kaiserliche Familie
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Regierung und Persönlichkeit Karls VI. Umrisse einer Forschungsaufgabe Regierung und Persönlichkeit Karls VI. gehören nicht zu den bevorzugten Themen historischer Forschung. Wir besitzen bis heute weder eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie noch eine umfassende Gesamtdarstellung seiner Herrschaft. Die Biographie von Bernd Rill¹ kann wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen, dient bestenfalls zu einem ersten Überblick. Sie verwendet, um den Wiener Historiker Karl Vocelka zu zitieren, „keine Quellen, faßt bloß die bisherige Literatur zusammen und ist keineswegs befriedigend“.² Als Gesamtwürdigungen von Wert bleiben die Übersichtsdarstellung von Hans Schmidt und das Karl VI. betreffende Kapitel im „Großen 18. Jahrhundert“ von Hanns Leo Mikoletzky.³ Schmidt informiert auch über die sich in überschaubaren Grenzen haltenden Spezialuntersuchungen in einigen Monographien und Aufsätzen. Dieser Befund ist umso überraschender, als Regierung und Persönlichkeit Karls VI. in mehrfacher Hinsicht eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Die Habsburgermonarchie hat unter ihm ihre größte territoriale Ausdehnung besessen⁴; umgekehrt stand sie bei seinem Tod vor ihrem Zusammenbruch. Schon allein diese Spannweite zwischen Aufstieg und Niedergang wirft eine Reihe von Fragen auf. Als Urheber der Pragmatischen Sanktion hat Karl wesentlich zum
Bernd Rill: Karl VI. Habsburg als barocke Großmacht. Graz/Wien 1992. Karl Vocelka: Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat (Österreichische Geschichte 1699 – 1815, hrsg. v. Herwig Wolfram). Wien 2001, S. 27. Vgl. in diesem Sinn auch schon die Beurteilung bei Leopold Auer: Carlos VI. Tema y materia de las ciencias históricas, in: Cuadernos de Historia Moderna 15 (1994), S. 191– 198, hier 193, Anm. 8 und zuletzt Charlotte Backerra: Wien und London, 1727– 1735. Internationale Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert. Göttingen 2018, S. 115, Anm. 20. Hans Schmidt: Karl VI. 1711– 1740, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918. München 1990, S. 200 – 214 und 485 – 487; Hanns Leo Mikoletzky: Österreich. Das große 18. Jahrhundert. Wien 1967, S. 97– 163. Oswald Redlich: Das Werden einer Großmacht. Österreich 1700 – 1740. 4. Aufl. Wien 1962, S. 172; danach Mikoletzky, Österreich, S. 106, Anm. 177. Einzelheiten zu den Flächenmaßen bei Ernst Bruckmüller: Die habsburgische Monarchie, in: Erich Zöllner/Karl Gutkas (Hrsg.), Österreich und die Osmanen – Prinz Eugen und seine Zeit. Wien 1988, S. 88 – 119, hier 92, unter Hinweis auf den damals noch unveröffentlichten Beitrag von Herbert Knittler: Die Donaumonarchie 1648 – 1848, in: Ilja Mieck u. a. (Hrsg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 4: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1993, S. 880 – 915. https://doi.org/10.1515/9783110670561-002
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Gesamtstaatskonzept der Monarchie beigetragen. Man hat zu Recht von einem Grundgesetz gesprochen, auf dessen staatstragende Funktion sich noch Oktoberdiplom und Februarpatent berufen.⁵ Karl VI. war stark vom Bewusstsein seiner Herrscherwürde wie auch seiner Verantwortung als Herrscher geprägt. Beides kommt in seiner Politik, in seinen Reformbemühungen und in seinem Repräsentationswillen zum Ausdruck. Für die Kenntnis seiner Persönlichkeit liegen zahlreiche eigenhändige schriftliche Zeugnisse, nicht zuletzt sein Tagebuch vor.⁶ Mit all dem hat sich die wissenschaftliche Forschung bis vor kurzem nur in einem unzureichenden Maß beschäftigt. Erst in den letzten Jahren ist ein Wandel dieser Forschungssituation erkennbar.⁷ Wenn wir nach den Ursachen für diese Vernachlässigung durch die historische Forschung fragen, kommen selbstverständlich allgemeine Trends der Forschung in Betracht. Gegenüber dem Interesse an der Aufklärung bleibt die erste Hälfte des Jahrhunderts für Historiker von geringerer Anziehungskraft. Auf die Persönlichkeit der Herrscher bezogen heißt dies, dass das Interesse der Forschung an der Regierung Maria Theresias jenes an der Regierung ihres Vaters in den Schatten gestellt hat. In seinem Beitragsband zu der von Herwig Wolfram herausgegebenen österreichischen Geschichte stellt Karl Vocelka fest, „daß die 52 Jahre der Regierung Maria Theresias und ihrer Söhne gegenüber den 40 Jahren von 1700 bis 1740 in der Sekundärliteratur deutlich überrepräsentiert sind“.⁸ Was die Zeit von Karls Herrschaft selbst betrifft, steht für die Forschung das Interesse an Prinz Eugen eindeutig im Vordergrund. Zu Prinz Eugen gibt es Bibliotheken an wissenschaftlicher Literatur⁹, die Literatur zu Karl VI. hingegen ist durchaus überschaubar.¹⁰ Ein arbeitstechnischer Grund kommt dazu: Die zahlreichen ei-
Vgl. dazu besonders Wilhelm Brauneder: Die Pragmatische Sanktion als Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713 bis 1918, in: Helfried Valentinitsch (Hrsg.), Recht und Geschichte. Festschrift Hermann Baltl zum 70. Geburtstag. Graz 1988, S. 51– 84. Das letztere in: ÖStA, HHStA, Habsburg-Lothringisches Hausarchiv, Sammelbände Kt. 2. Vgl. Oswald Redlich: Die Tagebücher Kaiser Karls VI., in: Wilhelm Bauer (Hrsg.), Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich Ritter von Srbik. München 1938, S. 141– 151, und zuletzt Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie. Horn 2018. Seitschek bietet eine eingehende Auswertung auf der Grundlage umfangreicher Textzitate. Eine Volledition der Tagebücher ist geplant. Vgl. zuletzt die Bemerkungen zum Forschungsstand bei Backerra, Wien und London, S. 31, Anm. 97 und 98. Vocelka, Glanz und Untergang, S. 14. Ähnlich Backerra, Wien und London, S. 115, Anm. 20 und S. 124, Anm. 82. Vgl. die Literaturhinweise bei Schmidt, Karl VI., S. 485 – 487, und Auer, Carlos VI. passim sowie zuletzt die entsprechenden Angaben in der Bibliographie bei Seitschek, Tagebücher, S. 493 – 524.
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genhändigen Schriftstücke, die wir von Karl einschließlich seines Tagebuchs besitzen, stellen eine Herausforderung besonderer Art dar. Zwar wirkt seine Schrift auf den ersten Blick sehr regelmäßig und ist es im Grunde auch, dessen ungeachtet bleibt sie aber dennoch ungemein schwer zu lesen. Auch dieser Umstand war und ist für die Beschäftigung mit Karl VI. nicht günstig. Kehren wir zur Stellung der Habsburgermonarchie und der Rolle der Außenpolitik unter Karls Herrschaft zurück. Wie der Staatsekretär Bartenstein dreißig Jahre später bemerkte, schien das Erzhaus gegen Ende des Jahres 1732 „in größtem Flor und Aufnahme“¹¹, stand aber nur wenige Jahre später vor dem Zusammenbruch. Wie kommt es zu diesem allgemein konstatierten Niedergang und welcher Anteil daran ist auf Karl VI. zurück zu führen? Gerade die Außenpolitik ist im ganzen damaligen Europa eine Prärogative des Herrschers, auch wenn der Einfluss von Beratern zeitweise von erheblicher Bedeutung für die letztlich vom Herrscher getroffenen Entscheidungen sein konnte. Bis zum Anfang der Zwanzigerjahre wirkt die Stellung der Monarchie weitgehend gefestigt. Allerdings ist diese Stellung günstigen außenpolitischen Konstellationen, nicht zuletzt der Unterstützung durch England zu danken. Ab 1720 verscherzte sich Karl VI. diese Unterstützung¹² durch verschiedene Maßnahmen wie den Streit um die Belehnung des englischen Königs als Kurfürsten von Hannover mit den im Nordischen Krieg gewonnenen norddeutschen Territorien¹³, durch die Gründung der Kompanie von Ostende¹⁴ und eine weitgehend unflexible und unrealistische Haltung
Alfred von Arneth: Johann Christoph Bartenstein und seine Zeit, in: Archiv für österreichische Geschichte 46 (1871), S. 1– 214, hier 146 f. Vgl. Max Braubach: Prinz Eugen von Savoyen. Eine Biographie, Bd. 4: Der Staatsmann. München 1965, S. 388. Seitschek, Tagebücher, S. 13 sieht trotzdem die Jahre 1720 – 1725 als Höhepunkt der Herrschaft Karls VI. an. Dazu Martin Naumann: Österreich, England und das Reich 1719 – 1732. Berlin 1936, dessen Arbeit trotz zeitbedingter ideologischer Einflüsse wichtig bleibt. Grundlegend noch immer Michel Huisman: La Belgique commerciale sous l’Empereur Charles VI. La Compagnie d’Ostende. Brüssel 1902. Hinweise zu den relativ zahlreichen seither erschienenen Veröffentlichungen in der auch sonst für die Handelsbestrebungen Karls VI. wichtigen Studie von Daniele Andreozzi: Innovation, Growth and Mobility in the Secondary Sector of Trieste in the Eighteenth Century, in: Karel Davids/Bert De Munck (Hrsg.), Innovation and Creativity in Late Medieval and Early Modern European Cities. London 2014, S. 337– 402, hier 337, Anm. 2 sowie bei Backerra, Wien und London, S. 344– 346, Anm. 296, 299 und 306. Eher wenig ergiebig ist der kurze Abschnitt bei Jürgen G. Nagel: Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien. Darmstadt 2007, S. 136-–138, doch weist er ebd., S. 193 auf die wenig bekannte Monographie von Eduard J. Baels: De Generale Keizerlijke en Koninklijke Indische Compagnie gevestigt in de Oostenrijkse Nederlanden, genaamd de Oostendse Compagnie. Ostende 1972 hin (die er übrigens fälschlich für die einzige nach 1945 erschienene Monographie zum Thema hält). Vgl. auch Karel Degryse: De Oostendse Chinahandel 1718 – 1735, in: Belgisch Tijdschrift voor Filologie en Geschiedenis 52
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während des Kongresses von Cambrai, übrigens eine weitere Forschungslücke, sowohl was die teilnehmenden europäischen Mächte insgesamt wie die Habsburgermonarchie im Besonderen betrifft.¹⁵ Karl VI. hat aus seiner spanischen Zeit das Wissen um die Bedeutung des überseeischen Handels mitgebracht, aber er hat völlig unterschätzt, welche Herausforderung die Gründung der Kompanie für England bedeutete.¹⁶ Die Enttäuschung über England war dann einer der Gründe für den überraschenden Kurswechsel des Bündnisses mit Spanien, das auf keiner wirklich tragfähigen Grundlage beruhte. Die Hoffnung, dadurch auch zu einem Bündnis mit Frankreich zu gelangen, wurde durch den persönlichen Briefwechsel, den Karl VI. eine Zeitlang mit Kardinal Fleury führte¹⁷, bestärkt, doch Fleury ging es seinerseits nur um die Benützung der Verbindung zu Spanien für eigene Zwecke. Für die Fehleinschätzung, der man sich in Wien hingab, ist nicht zuletzt Hofkanzler Sinzendorf verantwortlich.¹⁸ Prinz Eugen hat zwar vor der Gründung der Kompanie von Ostende halbherzig gewarnt und war auch kein besonderer Freund des Bündnisses mit Spanien, aber er hielt sich mit seinen Warnungen vielleicht zu sehr zurück.¹⁹ Sein Einfluss war gerade in diesen Jahren gesunken²⁰,
(1974), S. 306 – 347, und Frederik Dhondt: Delenda est haec Carthago. The Ostend Company as a Problem of European Great Power Politics (1722– 1727), in: ebd. 93 (2015), S. 397– 437. Vgl. auch Stefan Meisterle: Von Coblon bis Delagoa. Die kolonialen Aktivitäten der Habsburgermonarchie in Ostindien. Diss. phil. Wien 2014, und seinen Beitrag in diesem Band. Lediglich ein sehr kurzes Kapitel dazu bei Grete Mecenseffy: Karls VI. Spanische Bündnispolitik 1725 – 1729. Innsbruck 1934, S. 11– 18. Vgl. aber auch die Literaturhinweise bei Seitschek, Tagebücher, S. 379, Anm. 1786 und S. 389, Anm. 1835, z. B. Frederik Dhondt: Balance of Power and Norm Hierarchy. Franco-British Diplomacy after the Peace of Utrecht (Legal History Library 17, Studies in the History of International Law 7). Leiden/Boston 2015, S. 253 – 402. Vgl. zur englischen Reaktion neben den Bemerkungen bei Mecenseffy, Spanische Bündnispolitik S. 14– 16, vor allem Jeremy Black: When „natural allies“ fall out. Anglo-Austrian relations 1725 – 1740, in: MÖStA 36 (1983), S. 120 – 149, hier 126 ff., und zuletzt Backerra, Wien und London, S. 345 – 350. Vgl. die Korrespondenz Karls VI. mit Fleury aus den Jahren 1726 – 1740 in: ÖStA, HHStA, StAbt, Frankreich Varia Kt. 11 (1726/27), 14 (1728 – 1738) und 17 (1739 – 1740). Für die Verifizierung der aktuellen Archivsignaturen danke ich David Fliri vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Vgl. Mecenseffy, Spanische Bündnispolitik, S. 78 – 80 und 104– 114; Arthur McCandless Wilson: French Foreign Policy during the Administration of Cardinal Fleury. Cambridge Mass. 1936, S. 151 ff. und 168 ff.; Leopold Auer: Das europäische Staatensystem im Zeitalter Prinz Eugens, in: Zöllner (Hrsg.), Österreich und die Osmanen, S. 69 – 87, hier 84 f.; Backerra, Wien und London, S. 131. Eine eingehende Untersuchung für die Österreichpolitik Fleurys steht noch aus. Zur Haltung Prinz Eugens, die in beiden Angelegenheiten zwischen Bedenken und halbherziger Zustimmung schwankte, vgl. Mecenseffy, Spanische Bündnispolitik, S. 32, Anm. 29 und S. 34; Braubach, Prinz Eugen 4, S. 156 – 162 und 225 – 228; Backerra, Wien und London, S. 137, Anm. 188, S. 346, Anm. 313, S. 350, Anm. 340 und 341.
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und man kann diese Neuordnung der österreichischen Außenpolitik auch als einen Versuch Karls VI. sehen, sich von seinem übermächtigen Ratgeber zu emanzipieren. Die Monarchie war an sich von ihren Außenposten in Italien und den Niederlanden verwundbar, die neue Außenpolitik hat diese Verwundbarkeit noch verstärkt. Dazu kommt die Schwierigkeit, Erfordernisse einer genuin österreichischen Staatsräson in der Außenpolitik mit der Rolle im Reich zu vereinbaren.²¹ So kommt es zur Rückkehr zum Bündnis mit England, das aber zu einer Belastung für die Beziehungen zu Preußen wird, wobei gelegentlich auch eine erschreckende Instinktlosigkeit gegenüber dem preußischen Verbündeten zum Ausdruck kommt. Eine der Folgen ist das Desaster des polnischen Thronfolgekrieges, das durch den körperlichen und geistigen Verfall Prinz Eugens noch akzentuiert wird. Sein Niedergang spiegelt den Niedergang der Monarchie wider. Karl VI. hat sich in seiner Außenpolitik nicht überwiegend an pragmatischen Überlegungen orientiert, wie dies etwa bei Ludwig XIV. der Fall war, sondern oft Rechtsstandpunkte ohne Rücksicht auf ihre Durchsetzbarkeit vertreten. Auch dieser Umstand war für das häufige Scheitern seiner Politik verantwortlich. Beim Tod des Prinzen schreibt Karl VI. in sein Tagebuch: „jetzt sehen alles recht einrichten, besser ordnung“.²² Die Eintragung zeigt sein ambivalentes Verhältnis zum Prinzen, aber auch dass er sich der Probleme, die sich durch den Verfall Eugens ergaben, durchaus bewusst war. Darüber hinaus zeigt sie einen für ihn kennzeichnenden Charakterzug, nämlich die Loyalität gegenüber Personen und Einrichtungen.²³ Diese Loyalität spielt auch für seinen im Tagebuch gleichfalls zum Ausdruck gebrachten Reformwillen eine Rolle. Tatsächlich kann Karl VI. in dem Sinn als Reformer verstanden werden, dass er, vielfach unter möglichster Wahrung bestehender Einrichtungen um ihre bessere Ordnung bemüht war, ein
Zum Rückgang des Einflusses Prinz Eugens in den Jahren 1720 – 1725 vgl. Braubach, Prinz Eugen 4, S. 84– 95 und 219 f. Vgl. Leopold Auer: Das Reich und der Vertrag von Sevilla. 1729 – 1731, in: MÖStA 22 (1969), S. 64– 93, hier 92 f. Die Reichspolitik Karls ist nun aufgearbeitet bei Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648 – 1806, Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684– 1745). Stuttgart 1997, S. 221– 411. Manche der von ihm gefällten dezidiert negativen Urteile müssten allerdings vielleicht noch einmal auf ihre Tragfähigkeit überprüft werden. Zu der gleichfalls überwiegend negativen Beurteilung der Persönlichkeit Karls VI. vgl. ebd., S. 265 und 270 f. Zitiert nach Seitschek, Tagebücher, S. 258. Vgl. auch Redlich, Tagebücher, S. 147. Dankbarkeit für geleistete Dienste und strikte Einhaltung gegebener Versprechen als hervorstechende Eigenschaften Karls VI. betont Ada Marina Oberreiter: Die Reformbestrebungen Kaiser Karls VI. im Herzogtum Mailand. Diss. phil. Wien 1972 (ungedr.), S. 98 und 102. Diese personenbezogene Loyalität galt nicht nur gegenüber seinen spanischen Anhängern, sondern kommt auch in seiner Haltung gegenüber anderen in seinen Diensten stehenden Personen bis eben hin zu Prinz Eugen zum Ausdruck.
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Verständnis von Reformen, wie es bis zum Wechsel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit typisch war. Daneben kommt es aber auch zu Versuchen innovativer Eingriffe, die die Stärkung des Gesamtstaats zum Ziel haben. Wir sind in der Zeit des Merkantilismus, der schon an sich von der Förderung des Handels eine Zunahme des allgemeinen Wohlstands wie der Einnahmen des Staates erwartet hat. Darüber hinaus hat sich wie erwähnt die Bedeutung des Handels Karl VI. in seinen spanischen Jahren eingeprägt. Schließlich waren nicht zuletzt Handelsinteressen eine wichtige Ursache des Spanischen Erbfolgekrieges, nach den Worten Ludwigs XIV. sogar die Hauptursache.²⁴ Karl hat daher beginnend mit dem den Passarowitzer Frieden ergänzenden Handelsvertrag zahlreiche Maßnahmen zur Förderung des Handels gesetzt.²⁵ Im Jahr danach wurden Triest, Fiume und Porto Ré zu Freihäfen erklärt²⁶ und die Orientalische Handelskompanie gegründet²⁷, die der böhmisch-österreichische Historiker und Politiker Hermann Hallwich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als „eine für jene Zeit zweifellos großartige Gesellschaft“ bezeichnet hat.²⁸ Sie erhielt das Recht, mit dem Osmanischen Reich zu Wasser und zu Lande Handel zu treiben, Schiffe zu bauen (u. a. für den Handel mit Portugal), Fabriken zu errichten und aufzukaufen. Auf diese Weise errichtete die Orientalische Kompanie Fabriken in Fiume und Schwechat und erwarb 1724 die Linzer Wollzeugfabrik.²⁹ Für Teile der Zucker-,
Vgl. das Schreiben Ludwigs XIV. an seinen Botschafter Amelot in Madrid vom 18. Februar 1709: „Le principal objet de la guerre présente est celui du commerce des Indes“; zitiert nach Matthias Pohlig: Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 62, Anm. 150. Grundlegend noch immer Franz Martin Mayer: Die Anfänge des Handels und der Industrie in Österreich und die Orientalische Kompagnie. Innsbruck 1882. Vgl. Mikoletzky, Österreich, S. 122 und zuletzt Peter Gasser: Karl VI., Triest und die Venezianer, in: Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte (MÖStA Sonderbd. 3, 1997), S. 17– 109, hier 51– 55, wobei Gasser, ebd., S. 34, Anm. 14 vor der seiner Ansicht nach zu positiven Beurteilung der Freihafenpatente von 1717 und 1719 durch die ältere Forschung warnt. Vgl. noch immer Joseph Dullinger: Die Handelskompagnien Österreichs nach dem Oriente und nach Ostindien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 7 (1900), S. 44– 83. Auf Dullinger beruhen im Wesentlichen auch die Angaben bei Franz Martin Mayer: Geschichte Österreichs mit besonderer Rücksicht auf das Kulturleben, Bd. 2. 3. Aufl. Wien/Leipzig 1909, S. 346 – 348; Mikoletzky, Österreich, S. 122 f., und Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995, S. 119 f. Vgl. zuletzt Herbert Hutterer: Handelskompanien, in: Stefan Seitschek u. a. (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI. (1711– 1740). Spuren der Herrschaft des „letzten“ Habsburgers. Wien 2011, S. 143 – 151. Hermann Hallwich: Anfänge der Großindustrie in Österreich. Wien 1898, S. 39 (zitiert nach Mikoletzky, Österreich, S. 122). Mikoletzky, Österreich S. 157.
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Textil- und Metallverarbeitung wurde der Kompanie ein Monopol übertragen. Schließlich sollte die Gründung der Kompanie von Ostende der Habsburgermonarchie einen Zugang zum überseeischen Handel und zu kolonialer Expansion eröffnen. Dass hier tatsächlich ein persönliches Interesse Karls bestand, zeigt sich an eigenhändigen Resolutionen, in denen er zum Beispiel seine Diplomaten anweist, bei Verhandlungen über einen Ausgleich mit Spanien, den Besitz von Peru oder Mexiko zu verlangen.³⁰ Auch das kurzfristige Bündnis mit Spanien von 1725 wurde durch einen Handelsvertrag ergänzt, weitere Handelsverträge mit den Barbaresken folgten.³¹ Die Kompaniegründungen waren anfangs durchaus erfolgreich, erzielten in den ersten Jahren hohe Gewinne³², ehe sie in den allgemeinen Sog des Niedergangs zu Ende von Karls Herrschaft mitgerissen wurden. Ob dabei strukturelle Schwächen, persönliches Versagen der Verantwortlichen, nachlassendes Interesse des Kaisers oder einfach die Umstände die entscheidende Rolle spielten, müsste erst noch geklärt werden³³. Als zentrale staatliche Stelle zur Förderung der Wirtschaft wurde nach entsprechenden Gründungen in den Ländern³⁴ 1718/19 das in Personalunion mit der Hofkanzlei verbundene
Vgl. Leopold Auer: A Habsburg Overseas Empire after 1700? Contemporary Austrian Views on the Colonial Dimension of the Spanish Succession, in: Matthias Pohlig/Michael Schaich (Hrsg.), The War of the Spanish Succession. New Perspectives. Oxford/New York 2018, S. 431– 442, hier 440 f. und Anm. 57. Vgl. zuletzt Christine Lebeau: Negotiating a Trade Treaty in the Imperial context. The Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century, in: Antonella Alimento u. a. (Hrsg.), The Politics of Commercial Treaties in the Eighteenth Century. Balance of Power, Balance of Trade. Cham, CH 2017, S. 349 – 368, hier 355 – 362. Verzeichnisse zu den Handelsverträgen mit dem Osmanischen Reich und den Barbaresken finden sich in: Quellen zur Geschichte Afrikas, Asiens und Ozeaniens im Österreichischen Staatsarchiv bis 1918 (Quellenführer zur Geschichte der Nationen III/8), hrsg. von der Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs. München u. a. 1986, S. 13 f. und 25. Mayer, Geschichte Österreichs 2, S. 346 – 348. Zu den Gewinnen der Kompanie von Ostende Huisman, La Belgique commerciale, S. 539 ff. und danach Mikoletzky, Österreich, S. 124. Ebd., S. 155. Mikoletzky konstatiert eine geringe Nachwirkung der persönlichen Initiativen des Kaisers auf wirtschaftlichem Gebiet, ohne allerdings Ursachen anzuführen. Eher ein Versagen des Kaisers nehmen Gasser und Hutterer an; vgl. unten Anm. 46 und 47. Eine negative Beurteilung auch bei Aretin, Altes Reich 2, S. 527, Anm. 110 – 112, doch kann man die von Aretin angeführte Rückständigkeit der Habsburgermonarchie gegenüber England und Frankreich nicht dem Kaiser anlasten. So 1714 und 1716 die Kommerzkollegien für Böhmen und Schlesien und der innerösterreichische Kommerzienrat; vgl. zuletzt den knappen Überblick bei Zdislava Röhsner: Wirtschaft unter Karl VI., in: Seitschek u. a. (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI., S. 136 – 142, hier. S. 137, sowie im einzelnen Alfred Francis Pribram: Das böhmische Commerzkollegium und seine Thätigkeit. Ein Beitrag zur Geschichte des böhmischen Handels und der böhmischen Industrie im Jahrhundert nach dem westfälischen Frieden. Prag 1898; Siegfried Tschiersky: Die Wirtschaftspolitik des schlesischen Kommerzkollegs 1716 – 1740. Gotha 1902; Eva Faber: Vorstufen für eine inneröster-
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Wiener Hauptkommerzkollegium aus der Zeit Leopolds I. erneuert, dem 1731 noch die Errichtung einer Obersten Kommerzintendanz in Triest folgte³⁵; auch die von Karl in den Österreichischen Erbländern 1717 und 1722 errichteten Wechselgerichte sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen, die als Teil der Bemühungen um eine größere Rechtsgleichheit zwischen den einzelnen Teilen der Habsburgermonarchie zu sehen sind.³⁶ Handel braucht ein entsprechendes Verkehrsnetz. Auch das wurde von Karl und seinen Beratern, die man sich wohl in diesem Fall in der Hofkammer und in der Hofkanzlei vorstellen muss, erkannt. Es kommt zu wichtigen Straßenprojekten³⁷ wie der Straße über den Semmering und den Loiblpass, zum Bau neuer Straßen von Wien nach Brünn und Prag. Die Pläne dazu kamen von dem Ingenieur und Mathematiker Giovanni Jacopo Marinoni (1676 – 1755), der Mitglied und später Direktor der von Karl VI. 1717 gegründeten Ingenieurs-Akademie war.³⁸ Das Gedächtnis an einer dieser sogenannten Kaiserstraßen, und zwar jener durch das Weinviertel nach Brünn, wird noch heute gefeiert. Hand in Hand damit ging eine
reichische Wirtschaftsgemeinschaft. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Innerösterreichs in den Jahren 1717– 1730, in: Zs. d. hist. Ver. f. Steiermark 87 (1996), S. 123 – 188. Grete Klingenstein: Die Wiener Kommerzienhofkommission 1719 – 1776, in: Ulrich Burz u. a. (Hrsg.), Brennpunkt Mitteleuropa (Festschr. f. Helmut Rumpler). Klagenfurt 2000, S. 195 – 206. Soweit erhalten befindet sich ihr Archiv heute überraschenderweise im Kriegsarchiv. Zur Triester Generalintendanz vgl. Mikoletzky, Österreich, S. 156. Vgl. die Bemerkungen bei Mayer, Geschichte Österreichs 2, S. 280 und Bruckmüller, Habsburgische Monarchie, S. 117 mit Anm. 92 sowie zuletzt, allerdings ohne die Rolle Karls zu thematisieren, Stefan Wedrac: Die Anfänge der Wiener Handelsgerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 6 (2016), S. 315 – 323, hier 318 – 321, mit Hinweisen auf weitere Literatur. Grundlegend dazu jetzt unter Zusammenfassung der älteren Literatur Andreas Helmedach: Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor. Straßen, Fuhrwesen, Post und Reisen nach Triest und Fiume vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Eisenbahnzeitalters. München 2002, S. 68 – 117. Vgl. auch Herbert Knittler: Das Verkehrswesen als Ausgangspunkt einer staatlichen Infrastrukturpolitik, in: Herbert Matis (Hrsg.), Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Berlin 1981, S. 137– 160; Eva Faber: Neue Straßen – neue Welt. Innerösterreichische Kommunalstraßen im 18. Jahrhundert, in: Das 18. Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 11 (1996), S. 90 – 120, und, im Wesentlichen auf Helmedach beruhend, Roman Hans Gröger: Ausbau des Straßennetzes der Habsburgermonarchie, in: Seitschek u. a. (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI., S. 163 – 168. Auf ein vorderösterreichisches Straßenbauprojekt verweist Bernd Wunder: Der Kaiser, die Reichskreise und der Chausseebau im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 18 (1996), S. 26 f. Dazu zuletzt Michael Hiermanseder: Der Hofmathematiker Johann Jakob von Marinoni. Zum 300-Jahr-Jubiläum der Katastervermessung in Europa, in: Geomatik Schweiz 4 (2018), S. 94– 102, mit zahlreichen Literaturhinweisen.
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Erneuerung des Finanz- und Mautwesens zur Hebung der Finanzkraft des Staates.³⁹ Versuche zur Vereinheitlichung des Maut- und Zollwesens sollten vor allem der Erleichterung des Warenverkehrs dienen⁴⁰, jene zur Neuordnung des Postwesens der Verbesserung von Brief- und Personenverkehr.⁴¹ Vor allem die Zollund Handwerkspatente zielten auf eine Modernisierung des Wirtschaftslebens im Sinne einer größeren Freizügigkeit des Gewerbes ab.⁴² Schließlich sollte die Gründung der Wiener Stadtbank unter der Aufsicht der Ministerialbancodeputation und der Universalbancalität das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit des Staates steigern.⁴³ Karl VI. hat im letzteren Fall eine Idee des Hofkammerrats Mikosch umgesetzt und dafür sogar den Rücktritt des Präsidenten der Hofkammer Starhemberg in Kauf genommen, der dagegen Einwände erhoben hatte.⁴⁴ Als übergeordnete Behörde hat Karl schließlich 1716 noch die Geheime Finanzkonferenz errichtet, an deren Sitzungen er auch selbst häufig teilgenommen hat.⁴⁵ Ein ernstlicher Reformwille war also durchaus vorhanden, auch wenn er öfter in den Ansätzen stecken blieb.⁴⁶ Trotzdem hat manches in die maria-theresianische Zeit
Mikoletzky, Österreich, S. 156. 1714 wurde dazu eine eigene Kommission für Mautangelegenheiten bei der Hofkammer eingerichtet; vgl. Brigitte Holl: Hofkammerpräsident Gundaker Thomas Graf Starhemberg und die österreichische Finanzpolitik der Barockzeit 1703 – 1715 (Archiv für österreichische Geschichte 132). Wien 1976, S. 370 – 390; Peter Rauscher: Die Aschacher Mautprotokolle als Quelle des Donauhandels (17./18. Jahrhundert), in: Peter Rauscher/Andrea Serles (Hrsg), Wägen – Zählen – Registrieren. Handelsgeschichtliche Massenquellen und die Erforschung mitteleuropäischer Märkte (13.–18. Jahrhundert). Innsbruck/Wien/Bozen 2015, S. 255 – 306, hier 275 f. Mikoletzky, Österreich, S. 159; Knittler, Verkehrswesen, S. 159 ff.; Helmedach, Verkehrssystem, S. 193 – 237; Stefan Seitschek: Die Verstaatlichung der Post 1722, in: ders. u. a. (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI., S. 169 – 171; zuletzt Thomas Winkelbauer: Postwesen und Staatswesen in der Habsburgermonarchie im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wiener Geschichtsblätter 68 (2013), S. 69 – 86. Mayer, Geschichte Österreichs 2, S. 324 und 351; Mikoletzky, Österreich, S. 156. Die Handwerkspatente stehen wohl unter dem Einfluss des 1731 vom Reichstag verabschiedeten Reichszunftgesetzes. Mayer, Geschichte Österreichs 2, S. 289 f.; zuletzt Zdislava Röhsner: Die zentrale Finanzverwaltung der Monarchie, in: Seitschek u. a. (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI., S. 112– 118. Holl, Starhemberg, S. 428 – 435; Seitschek, Tagebücher, S. 270. Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Seitschek im vorliegenden Band. Mikoletzky, Österreich, S. 162. Auf den mangelnden Erfolg vieler Reformbemühungen verweisen auch Gasser, Karl VI., S. 33 f. und Hutterer, Handelskompanien, S. 150. Gasser wirft dem Kaiser vor, im barocken Überschwang zu viele Maßnahmen gleichzeitig in Angriff genommen zu haben; ähnlich Hutterer, der überdies meint, dass manche Reformen nicht miteinander vereinbar gewesen seien, sondern einander behindert hätten. Trotzdem kann man ihnen eine gewisse Nachhaltigkeit vielfach nicht absprechen; vgl. dazu die folgende Anmerkung.
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weitergewirkt, wie es Grete Klingenstein für die Studienreform gezeigt hat.⁴⁷ Auch die neu erworbenen Besitzungen in Italien sind so wie später für den Josephinismus ein Experimentierfeld für Neuerungen. 1719 bis 1723 erarbeitet Marinoni den ersten Kataster in der Monarchie für das Herzogtum Mailand, der dann später wohl das Vorbild für den 1722 bis 1726 angelegten Karolinischen Kataster in Schlesien abgegeben hat.⁴⁸ Zu ähnlichen Bemühungen um die Verbesserung der Verwaltung kam es im Königreich Neapel, mit denen sich Antonio Di Vittorio und seine Schule in zahlreichen Untersuchungen beschäftigt haben.⁴⁹ Etwas anders lagen die Probleme in den Österreichischen Niederlanden, auf die von Ostende abgesehen hier nicht weiter eingegangen werden konnte.⁵⁰ Hinter all diesen geschilderten Aktivitäten wird auch die Persönlichkeit des Kaisers in Umrissen sichtbar.⁵¹ Verantwortungsgefühl für seine herrscherliche Aufgabe und Urteilsfähigkeit können ihm nicht abgesprochen werden. Das kommt auch in den Berichten der Gesandten am Wiener Hof verschiedentlich zum
Grete Klingenstein: Vorstufen der theresianischen Studienreformen in der Regierungszeit Karls VI., in: MIÖG 76 (1968), S. 327– 377. Zu erwähnen wären außerdem das Straßenbauprogramm, die Katasterarbeiten, die Wechselgerichte oder das Wiener Hauptkommerzkollegium. Mikoletzky, Österreich, S. 156 weist auf die Nachwirkungen im Maut- und Zollwesen hin, Röhsner, Zentrale Finanzverwaltung, S. 118 auf die unter Karl VI. gemachten Erfahrungen als Grundlage der Reformen Maria Theresias; ganz ähnlich auch Seitschek, Tagebücher, S. 4. Zum Kataster in Mailand vgl. neben Sergio Zaninelli: Il nuovo censo dello Stato di Milano dall’editto del 1718 al 1733. Mailand 1963, und Oberreiter, Reformbestrebungen, S. 267 f. und 280 – 288, auch Mario Taccolini: L’esenzione oltre il catasto. Beni ecclesiastici e politica fiscale dello stato di Milano nell’età delle riforme. Mailand 1998, S. 16 – 35; zum schlesischen Kataster: Der Altkreis Oberglogau im Karolinischen Steuerkataster von 1722/26, hrsg. von der Historischen Kommission für den Kreis Neustadt. Görlitz 2016. Vgl. die Hinwiese bei Auer, Carlos VI., S. 195, Anm. 26 und Seitschek, Tagebücher, S. 441– 447, sowie die ältere Literatur zusammenfassend Giuseppe Galasso: Il regno di Napoli: il mezzogiorno spagnolo e austriaco (1622– 1734). Turin 2006. Von der österreichischen Forschung vgl. besonders Elisabeth Garms-Cornides: Das Königreich Neapel und die Monarchie des Hauses Österreich, in: Wolfgang Prohaska/Nicola Spinosa (Hrsg.), Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige. Ausstellungskatalog. Neapel 1993, S. 17– 34. Neben diesen neuen Forschungen bleibt die alte Studie von Heinrich Benedikt: Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Wien/Leipzig 1927, von Wert. Es sei hier nur global auf die Forschungen von Sandra Hertel, Simon Karstens, Franz Pichorner, Renate Zedinger und Klaas van Gelder hingewiesen. Vgl. die Literaturangaben bei Auer, Carlos VI., S. 196, Anm. 29 und Seitschek, Tagebücher, S. 425 – 437. Zuletzt hat Stefan Seitschek auf Grund seiner Kenntnis der Tagebücher zahlreiche Beobachtungen beigesteuert; vgl. Seitschek, Tagebücher, S. 72– 121. Insbesondere verweist er auf Arbeitsdisziplin, Interessen und Neigungen, aber auch auf Depressionen, verzichtet aber bewusst auf eine weitergehende Interpretation; vgl. ebd., S. 91. Vgl. auch Backerra, Wien und London, S. 115 – 124.
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Ausdruck. Der schwedische Gesandte Johan Karl Stiernhöök, der gleichzeitig für Ludwig XIV. spionierte und unter dem Decknamen Pastor berichtete, hebt Karls Arbeitseifer und seinen Reformwillen, besonders auf den Gebieten des Finanzund Justizwesens hervor. Auch er betont Urteilsfähigkeit und Selbständigkeit des jungen Kaisers in den ersten Jahren seiner Herrschaft.⁵² Karl ist damals noch unter dreißig, in den folgenden Jahren werden aber auch die Schwächen seiner Persönlichkeit stärker sichtbar. So sieht ihn der englische Gesandte Saint-Saphorin viel stärker unter dem Einfluss seiner Berater und meint, dass er sich von manchen wie einst sein Vater wider sein besseres Wissen in seinen Entscheidungen lenken lasse.⁵³ Misstrauen in die eigene Urteilsfähigkeit scheint ein hervorstechender Charakterzug Karls gewesen zu sein⁵⁴, aber auch Misstrauen gegenüber seinen Beratern, so dass er gerne doppelgleisig agierte, etwa durch geheime Kontakte mit wenigen Auserwählten, von denen andere nichts wissen sollten.⁵⁵ Überhaupt ist eine gewisse Vorliebe für geheim gehaltene Aktivitäten erkennbar. Dazu gehört, dass er die geheime Ziffernkanzlei entweder überhaupt begründete oder zumindest neu organisierte und ihre Leitung dem Grafen Stella übertrug, was dessen Nahestellung zu Karl erklärt.⁵⁶ Auch das secret de l’empereur in der Außenpolitik, das er mit dem Prinzen Eugen teilt, und das Braubach als dessen
Vgl. zu diesen Berichten Marquis de Courcy: La coalition de 1701 contre la France, Bd. 1. Paris 1886, S. 501– 506 und Ebd, Bd. 2, S. 556 – 557, sowie zuletzt Joaquim Albareda i Salvadó: La corte de Viena y los asuntos españoles en la negociación de Rastatt (1713 – 1714), in: Katharina Arnegger u. a. (Hrsg.), Der Spanische Erbfolgekrieg (1701– 1714) und seine Auswirkungen. In Memoriam Teodora Toleva (MÖStA Sonderbd. 16). Wien 2018, S. 281– 298, hier 283 – 290. Im Gegensatz dazu zeichnen die offiziellen Berichte des Gesandten Du Luc und des Gesandtschaftssekretärs Du Bourg ein negativeres Bild; vgl. Elisabeth Badinter: Le Pouvoir au féminin. Marie-Thérèse d’Autriche. L’impératrice reine. Paris 2016, S. 30 f. Dabei kann aber der gegenüber Karl erhobene Vorwurf der „aversion naturelle qu’il a pour le travail“ an Hand der Quellen eindeutig widerlegt werden. Zur Beurteilung Karls durch Saint-Saphorin vgl. Hugo Hantsch: Die drei großen Relationen St. Saphorins über die inneren Verhältnisse am Wiener Hof zur Zeit Karls VI., in: MIÖG 58 (1950), S. 625 – 636, hier 627, und kommentierend Braubach, Prinz Eugen 4, S. 68 f. Fast bis zur Karikatur gesteigert findet sich dieses Urteil bei Thomas Robinson; vgl. Backerra, Wien und London, S. 122 f. Differenzierter fallen die Beobachtungen der meist gut informierten venezianischen Botschafter aus, auf die vor allem Oberreiter, Reformbestrebungen, S. 95 – 107 und Seitschek, Tagebücher, S. 5, Anm. 3 und S. 300 verweisen. Auch in ihnen kommt jedoch die Beeinflussbarkeit des Kaisers zum Ausdruck. Überraschend ist bis zu einem gewissen Grad, dass Foscarini nach 1733 deutlich positive Veränderungen in Karls Verhalten konstatiert. Mikoletzky, Österreich, S. 160 spricht im Zusammenhang damit von einer gewissen Labilität im Charakter des Kaisers. Das betont Aretin, Altes Reich 2, S. 334. Dazu zuletzt Seitschek, Tagebücher, S. 240 – 242.
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Geheimdiplomatie bezeichnet, gehört hierher.⁵⁷ Und dabei ist es wieder kennzeichnend, dass die dabei gewonnenen Informationen zum Teil vor dem eigentlich zuständigen Hofkanzler Sinzendorf geheim gehalten werden, und andererseits Karl in den späteren Lebensjahren des Prinzen auch diesen durch den Sekretär Koch oder durch Bartenstein zu umgehen sucht.⁵⁸ Schon Zeitgenossen ist die Rätselhaftigkeit und Verschlossenheit von Karls Persönlichkeit bewusst gewesen.⁵⁹ Die moderne Forschung hat sich gefragt, was Karl versucht haben könnte zu verbergen. Mikoletzky spielt dabei wie möglicherweise schon Oswald Redlich⁶⁰ auf die homoerotischen Neigungen des Kaisers an, die wohl seiner Freundschaft mit Althann zugrunde liegen und in den späteren Jahren, wie aus dem Tagebuch hervorgeht, zu einem immer deutlicher ausgesprochenen Problem werden, das Karl stark belastet haben muss, gerade weil andererseits auch die emotionale Bindung an seine Familie für ihn sehr wichtig war.⁶¹ Neigungen dieser Art waren auch damals nicht außergewöhnlich, man denke an Friedrich den Großen⁶², Wilhelm III. von England oder die französische Hofgesellschaft um den Bruder Ludwigs XIV., aber sie durften nicht zu manifest und vor allem nicht öffentlich werden.⁶³ Beobachter haben auch damals bemerkt, dass etwa Elisabeth Christine über die enge Freundschaft ihres Gatten zu Althann nicht erfreut war.⁶⁴ Bekannt ist die Äußerung Lieselottes von der Pfalz, dass einige junge Pagen wohl eher die Sache Prinz Eugens wären als die Frauen. Biographische Forschung muss sich jedenfalls auch mit diesem Aspekt der Persönlichkeit Karls VI. beschäftigen. So werde, wie Hanns Leo Mikoletzky meint, bei der Lektüre der Tagebücher Karls eine im Sinne Schnitzlers weite Seelenlandschaft sichtbar, in der „das unkontrollierte Gefühl eine größere Rolle spielt als der prüfende Verstand“.⁶⁵
Braubach, Prinz Eugen 4, S. 240 – 243. Backerra, Wien und London, S. 132, Anm. 145 und S. 136, Anm. 178. Mikoletzky, Österreich, S. 104– 106 unter Hinweis auf Hantsch, Relationen und Alphons Lhotsky: Kaiser Karl VI. und sein Hof im Jahre 1712, in: MIÖG 66 (1958), S. 52– 80. So jedenfalls Mikoletzky, Österreich, S. 106. Ebd. Zeitgenossen wie dem russischen Kanzler Bestuschev oder Ludwig Zinzendorf war die Homosexualität Friedrichs eine feststehende Tatsache: vgl. Badinter, Pouvoir au féminin, S. 191 f. Seitschek, Tagebücher, S. 118 – 120 (auch zu Sinzendorf ebd., S. 118, Anm. 545). Zur vermuteten Homosexualität Prinz Eugens vgl. zuletzt Leopold Auer: Prinz Eugen und das Ideal des honnête homme. Verhaltensnormen von Eliten im Ancien Regime, in: Agnes Husslein-Arco (Hrsg.), Das Winterpalais des Prinzen Eugen. Wien 2013, S. 87– 97, hier 96. Lhotsky, Karl VI., S. 66. Mikoletzky, Österreich, S. 99.
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Aus dem bisher Gesagten werden Leistungen der Forschung wie Forschungsdefizite erkennbar. Versucht man eine Bilanz zu ziehen, wird man feststellen, dass die spanische Zeit einschließlich der Rolle der Spanier in Wien nicht zuletzt dank der spanischen Forschung am besten aufgearbeitet ist.⁶⁶ Mit der Erziehung und den frühen Jahren Karls hat sich János Kalmár beschäftigt.⁶⁷ Für die Jahre nach der Rückkehr aus Spanien ginge es darum, den persönlichen Anteil des Herrschers an Entscheidungen sowie das Verhältnis zu seinen Beratern deutlich zu machen. Schon Arneth hat mit seiner Herausgabe des Briefwechsels mit Wratislaw – allerdings überwiegend für die spanische Zeit – einen Anfang dafür gemacht⁶⁸; auch die Biographie des Reichsvizekanzlers Schönborn von Hugo Hantsch kann in diesem Zusammenhang erwähnt werden.⁶⁹ Wenn man andererseits bedenkt, dass für Karl so wichtige Personen wie Graf Stella oder der
Beispielhaft seien hier allein aus den letzten Jahren genannt: Joaquim Albareda i Salvadó: La Guerra de Sucesión de España (1700 – 1714). Barcelona 2010; ders.: Das Fortbestehen des Austrazismus in Wien nach dem Vertrag von Utrecht (1713 – 1727). Der Schatten des Marqués de Rialp, in: Friedrich Edelmayer/Virginia León Sanz/José Ignacio Ruiz Rodríguez (Hrsg.), Der Spanische Erbfolgekrieg / La Guerra de Sucesión española (Hispania-Austria III). Wien/München 2008, S. 319 – 339; ders.: El „Cas dels Catalans“. La conducta dels aliats arran de la Guerra de Successió (1705 – 1742). Barcelona 2005; Agusti Alcoberro: L’exili austriacista (1713 – 1747). 2 Bde. Barcelona 2002; Virginia León Sanz: El archiduque Carlos y los austracistas. Guerra de Sucesión y exilio. San Cugat 2014; dies.: Al servicio de Carlos VI. El partido español en la corte imperial, in: Joaquim Albareda (Hrsg.), El declive de la Monarquía y del Imperio español. Barcelona 2015, S. 225 – 275; János Kalmár: Sobre la cort barcelonesa de l’arxiduc Carles d’Austria, in: Pedralbes 18 (1998), S. 299 – 302.Vgl. auch die Literaturhinweise bei Auer, Carlos VI, S. 193 und bei Stefan Seitschek: Der Kaiser und die „Spanier“, in: Arnegger u. a. (Hrsg.), Spanischer Erbfolgekrieg, S. 443 – 461, sowie die Beiträge von Elisabeth Garms-Cornides und Virginia Léon-Sanz in diesem Band. János Kalmár: Zum Porträt des jungen Kaisers Karl VI., in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestensis, Sectio historica 25 (1987), S. 263 – 277; ders.: Ahnen als Vorbilder. Der vom späteren Kaiser Karl VI. in seinen Jugendjahren verfasste Kanon der Herrschertugenden, in: Gabriele Haug-Moritz u. a. (Hrsg.), Adel im „langen“ 18. Jahrhundert (Zentraleuropa-Studien 14). Wien 2009, S. 43 – 60, sowie den Beitrag in diesem Band. Alfred von Arneth: Eigenhändige Correspondenz des Königs Karl III. von Spanien … mit dem Obersten Kanzler des Königreichs Böhmen Grafen Johann Wenzel Wratislaw, in: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 16 (1856), S. 1– 224. Diese wichtige Quelle ist in ihren Aussagemöglichkeiten noch keineswegs erschöpfend ausgewertet, auch von Arneth nicht vollständig ediert worden. Die Originale liegen in: ÖStA, HHStA, Habsburg-Lothringisches Hausarchiv, Familienkorrespondenz A Kt. 18, 19 und 23.Wratislaw ist mit Karl bei dessen Aufbruch nach Spanien 1703 in Den Haag zusammengetroffen und hat sich bei dieser Gelegenheit dessen Vertrauen erworben. Hugo Hantsch: Reichsvizekanzler Friedrich Karl Graf von Schönborn (1674– 1746). Einige Kapitel zur politischen Geschichte Kaiser Josefs I. und Karls VI. Augsburg 1929.
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Hofkammerrat Mikosch bis jetzt ohne eigene Darstellung geblieben sind⁷⁰, sieht man, was hier noch zu tun ist. Selbst für das von Braubach vielfach beschriebene Verhältnis des Kaisers zu Prinz Eugen ist das letzte Wort, sofern es das in der Wissenschaft überhaupt gibt, nicht gesprochen.⁷¹ Schließlich bleiben in diesem Zusammenhang auch noch der politische Einfluss und die politischen Ambitionen Elisabeth Christines zu untersuchen.⁷² Was Karls persönliche Rolle und Einflussnahme auf die Politik betrifft, gehen und gingen Monographien und Aufsätze häufig an der Gestalt des Kaisers vorbei, wie Hans Schmidt bemerkt.⁷³ Für die Außenpolitik mag das noch am wenigsten gelten. Hier gibt es eine verhältnismäßig lange Forschungstradition, die durch Arbeiten von Oswald Redlich oder Grete Mecenseffy⁷⁴ bis hin zu den entsprechenden Abschnitten in den Werken von Braubach oder Vocelka oder Bemerkungen in der englischsprachigen Forschung⁷⁵ repräsentiert wird. Was durch neue Fragestellungen an Erkenntnisgewinn möglich ist, zeigt die Untersuchung von Charlotte Backerra über die Beziehungen zwischen Wien und London in den Jahren 1727 bis 1735. Relativ großes Interesse hat in der letzten Zeit in Nachfolge der wichtigen Forschungen von Franz
Vgl. zu beiden zuletzt Seitschek, Tagebücher, S. 240 – 242 (Stella) und 267– 270 (Mikosch). Auf die Betrauung Stellas mit Verhandlungen zur toskanischen Erbfolge verweist Aretin, Altes Reich 2, S. 354– 356. Das Fehlen wissenschaftlicher Biographien des Hofkanzlers Sinzendorf, Joseph Lothar Graf Königseggs und Aloys Thomas Graf Harrachs bemängelt Backerra, Wien und London, S. 125 f., Anm. 83, 97 und 98. Zum Verhältnis Karls VI. zu Prinz Eugen vgl. Braubach, Prinz Eugen 4, S. 69 – 85; Backerra; Wien und London, S. 124– 128; Seitschek, Tagebücher, S. 248 – 258. Badinter, Pouvoir au féminin, S. 34– 39; Backerra, Wien und London, S. 120 – 122, und zuletzt Seitschek, Tagebücher, S. 128 – 130. Schmidt, Karl VI., S. 486. Durch das, was die Kulturgeschichte des Politischen etwas hochtrabend akteurszentrierte Betrachtung nennt, ist hier allerdings ein neues Interesse zu beobachten. Mecenseffy, Spanische Bündnispolitik, S. 108 spricht dabei für den von ihr untersuchten Zeitraum und speziell für die Zeit des Kongresses von Soissons von einem sehr günstigen Bild der Persönlichkeit Karls VI. Vgl. z. B. John Stoye: Emperor Charles VI: the early years of the reign, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series 12 (1962), S. 63 – 84, oder die verschiedenen Bemerkungen bei Jeremy Black: British Foreign Policy in the Age of Walpole. Edinburgh 1985, S. 54 f. und 101– 103; ders.: Eighteenth Century Europe 1700 – 1789. Basingstoke/London 1990, S. 287– 289 und 351 f.; Derek McKay/Hamish M. Scott: The rise of the great powers 1648 – 1815. London/New York 1983, S. 98 – 107, 121– 124, 127– 133, 147– 152. Eine Würdigung der äußeren wie inneren Politik Karls VI. findet sich bei Charles W. Ingrao: The Habsburg Monarchy 1618 – 1815. Cambridge 2000, S. 130 – 149.
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Matsche auch Karls Verhältnis zur Kunst gefunden.⁷⁶ Die wichtige Vorstufe in Lhotskys Geschichte der Sammlungen soll dabei aber nicht vergessen werden; Lhotsky bezeichnet darin Karl VI. im übrigen als „Fürst größten Zuschnittes“.⁷⁷ Ähnliches lässt sich im Zusammenhang mit der höfischen Repräsentation für Theater und Musik unter Karl VI. zeigen⁷⁸, wobei Friedrich Wilhelm Riedel bis zu einem gewissen Grad eine ähnliche Vorreiterrolle wie Franz Matsche zukommt⁷⁹; nicht zuletzt ist der vorliegende Band ein Beispiel für diesen anhaltenden Trend der Forschung. Gut erforscht ist auch das Zeremoniell am kaiserlichen Hof, nicht zuletzt durch die Monographie von Andreas Pečar.⁸⁰ Hingegen besteht nach wie vor ein erheblicher Forschungsbedarf im Hinblick auf die Rolle Karls in Verwaltung, Wirtschaft und Justiz.⁸¹ Man muss in diesem Bereich vielfach auf Veröf-
Hervorzuheben sind hier vor allem die zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen von Friedrich Polleroß; vgl. die entsprechenden Hinweise in der Bibliographie bei Seitschek, Tagebücher, S. 513, sowie die Beiträge von ihm und Sandra Hertel im vorliegenden Band. Alphons Lhotsky: Die Geschichte der Sammlungen. Festschrift des Kunsthistorischen Museums zur Feier des fünfzigjährigen Bestandes, Bd. 2/1. Wien 1941– 1945, S. 387 f. Zuletzt Elisabeth Fritz-Hilscher: Kaiserstil? Überlegungen zum Konnex zwischen Zeremoniell und höfischer Musikproduktion am Hof Karls VI., in: Musicologica Brunensia 47 (2012), S. 79 – 90; Claudia Michels: Karnevalsoper am Hofe Kaiser Karls VI. Kunst zwischen Repräsentation und Amusement. Wien 2019. Vgl. auch den Beitrag von Danièle Lipp und Andrea Sommer-Mathis in diesem Band. Friedrich Wilhelm Riedel: Der Reichsstil in der deutschen Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Kassel 1962. Kassel 1963, S. 34– 36; ders.: Die Kaiserkrönung Karls VI. als musikgeschichtliches Ereignis, in: Mainzer Zeitschrift Mittelrhein. Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 60/61 (1966), S. 34– 40; ders.: Kirchenmusik am Hofe Karls VI. (1711– 1740). Untersuchungen zum Verhältnis von Zeremoniell und musikalischem Stil im Barockzeitalter. München/Salzburg 1977; ders.: Johann Joseph Fux und die Hofkapelle Karls VI. in ihrer Bedeutung für die europäische Musikhistoriographie, in: Arnfried Edler/Friedrich Wilhelm Riedel (Hrsg.), Johann Joseph Fux und seine Zeit. Lauber 1996, S. 6 – 23. Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711– 1740). Darmstadt 2003.Vgl. aber auch Irmgard Pangerl/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652– 1800). Eine Annäherung (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 47, Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 31). Innsbruck u. a. 2007; Stefan Seitschek: „Einige caeremonialpuncten bet(reffend)“. Kommunizierende Gefäße: Zeremonialprotokoll und Wiener Diarium als Quelle für den Wiener Hof (18. Jahrhundert). Magisterarbeit Wien 2011 (online-Version bei http://phaidra.univie.ac.at/ o:306189). Neue Anstöße sind hier aber von der vor kurzem erschienenen österreichischen Verwaltungsgeschichte zu erwarten, deren Ergebnisse für den vorliegenden Beitrag nicht mehr herangezogen werden konnten; vgl. Michael Hochedlinger/Peter Maťa/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der der Frühen Neuzeit (MIÖG Erg.-Bd. 62). Wien 2019.
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fentlichungen aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts oder der Zeit um 1900 etwa von Joseph Dullinger, Josef Ivanić, Paul von Radics oder Franz Martin Mayer zurückgreifen.⁸² Von späteren Historikern, die sich häufig damit begnügen, auf diese Arbeiten zu verweisen⁸³, hat Hans Hubert Hofmann die wirtschaftlichen Maßnahmen wie den Herrscher überhaupt überwiegend positiv beurteilt⁸⁴, während Schmidt in seiner eingangs erwähnten Darstellung dieses Urteil eher in Frage stellen möchte. Roman Sandgruber kommt zwar in seinem Band zu Herwig Wolframs Österreichischer Geschichte verschiedentlich auf die wirtschaftliche Entwicklung unter Karl VI. zu sprechen, thematisiert aber die Rolle des Herrschers selbst überhaupt nicht.⁸⁵ Zu den positiven Ausnahmen zählen die wichtige Untersuchung von Brigitte Holl über den Hofkammerpräsidenten Gundaker Graf Starhemberg oder jene von Andreas Helmedach über Verkehrssysteme.⁸⁶ Zwar geht auch die letztere nur wenig über die Zusammenfassung und Auswertung älterer Arbeiten hinaus, trotzdem bedeutet sie durch ihre innovative Fragestellung einen erheblichen Fortschritt.Voraussetzung für die Behebung der verschiedenen erwähnten Forschungsdefizite ist die Aufarbeitung der eigenhändigen schriftlichen Äußerungen Karls VI., seiner Korrespondenz, seiner eigenhändigen Resolutionen auf Vorträge und seines Tagebuchs, zu dessen Auswertung Stefan Seitschek inzwischen grundlegende Beiträge geleistet hat. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird man sich guten Gewissens an die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Biographie Karls VI. machen dürfen, die dann vielleicht auch die Frage beantworten wird können, ob er nun ein Fürst größten Zuschnitts gewesen ist⁸⁷, oder nur, wie etwa Adam Wolf
Dullinger, Handelskompagnien; Josef Ivanić: Das Straßenwesen in Krain im 18. Jahrhundert, in: Carniola. Zeitschrift für Heimatkunde 1 (1908), S. 150 – 187; Paul v. Radics: Karl VI. als Staatsund Volkswirt. Innsbruck 1886; Mayer, Anfänge des Handels. Vgl. etwa Bruckmüller, Habsburgische Monarchie; oder Knittler, Verkehrswesen. Hans Hubert Hofmann: Karl VI., in: Karl Bosl u. a. (Hrsg.), Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, Bd. 2. München 1974. Ein positives Urteil über die Wirtschaftspolitik fällt auch Heinrich Benedikt: Finanzen und Wirtschaft unter Karl VI., in: Der Donauraum 9 (1964), S. 42– 58, hier 55; ebd., S. 47 auch ein Hinweis auf die positive zeitgenössische Einschätzung bei Pietro Verri. Benedikt verzichtet leider auf jeden wissenschaftlichen Apparat, was den Wert seines sonst inhaltsreichen Aufsatzes erheblich mindert. Karl wird bei Sandgruber, Ökonomie und Politik nur viermal (S. 122, 124, 172, 201) beiläufig erwähnt. Vgl. oben Anm. 37 und 40. Lhotsky, Sammlungen, S. 387 f.
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gemeint hat, zu den minder begabten Fürsten seines Hauses gezählt werden kann.⁸⁸
Adam Wolf: Kaiser Karl VI. und der Frater Benignus (1722– 1740), in: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 60 (1880), S. 1– 18, hier 18, und kommentierend dazu Mikoletzky, Österreich, S. 162.
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Zur Erziehung Kaiser Karls VI. Sein Ajo, seine Lehrer und Mitschüler Die Prinzenerziehung österreichischer Habsburger wurde bislang keiner genauen Analyse unterzogen.¹ Das scheint eine Lücke zu sein, auch wenn beinahe alle Herrscherbiographien ein fast obligatorisches Kapitel – meistens im Rahmen der Kindheit – diesem Thema widmen. Denn die Verfasser begnügen sich gewöhnlich mit der Aufzählung des Erziehers und der Lehrer, ohne den Lehrstoff eingehender zu analysieren. Eine Ausnahme ist Joseph II. – seine staatsrechtlichen Studien sind beispielhaft bearbeitet worden² –, aber sein Fall und die Untersuchung der Aufklärungsepoche insgesamt kann kaum maßgebend für frühere Zeiten gelten. Die Prinzenerziehung frühneuzeitlicher österreichischer Habsburger als Forschungsthema scheint im Kontext der reichen Rechercheergebnisse über den Wiener Kaiserhof der letzten Jahrzehnte eine immer weniger vermeidbare Aufgabe zu sein, denn ohne eingehende Untersuchung dieser Frage können die Regierungsnormen, die politischen Testamente (derer, die welche hinterlassen haben), die Tugenden, die Propaganda und ihre Erscheinungsformen bezüglich der Herrscherdynastie – aus Mangel dieser wichtigen geistigen Komponente – nur lückenhaft und allgemein interpretiert werden. Einen allgemeinen Überblick bieten Sabine Weiss: Zur Herrschaft geboren. Kindheit und Jugend im Haus Habsburg von Kaiser Maximilian bis Kronprinz Rudolf. Innsbruck/Wien 2008 und Wilfried Seipel (Hrsg.), Prinzenrolle. Kindheit vom 16. bis 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog. Wien 2007 bzw. Gustav Strakosch-Grassmann: Erziehung und Unterricht im Hause Habsburg, in: 5. Jahresbericht des Städtischen Kaiser-Franz-Josephs-Jubiläums-Realgymnasiums Korneuburg (1903), S. 1– 80. Einblicke in einige weitere Details findet man noch in Astrid Edlinger/Marlies Raffler (Hrsg.), Der Schüler Ferdinand. Unterrichtstafeln für die jüngeren Erzherzöge aus den Kunstsammlungen des Joanneums. Graz 2012; Elisabeth Klecker: „Damit er seinem Durchlaüchtigsten jungen Schüler eine leichtere, angenehmere, und sichere Bahn […] für dem ganzen Lauf der Lehrjahre zubereite.“ Unterrichtsmaterialien für Maria Theresia und ihre Kinder, in: Michaela Pfundner/Gabriele Mauthe (Hrsg.), Maria Theresia. Habsburgs mächtigste Frau. Wien 2017, S. 22– 27 und Brigitte Mersich/Gabriele Mauthe: Ein buntes Bilderlexikon für einen Sohn Maria Theresias. Cod. min. 33a der Österreichischen Nationalbibliothek, in: Biblos 55 (2006), S. 65 – 88. Anna Hedwig Benna: Der Kronprinzenunterricht Josefs II. in der inneren Verfassung der Erbländer und die Wiener Zentralstellen, in: MÖStA 20 (1967), S. 115 – 179; Hermann Conrad (Hrsg.), Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph in Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehenrecht. Köln/ Opladen 1964; ders.: Reich und Kirche in den Vorträgen zum Unterricht Josephs II., in: Konrad Repgen (Hrsg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April 1964. Münster 1964, S. 602– 612. https://doi.org/10.1515/9783110670561-003
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Deswegen entschied ich vor vielen Jahren, nachdem ich erfahren hatte, dass die Quellenlage es ermöglicht, die Erziehung und Bildung Kaiser Karls VI. monographisch zu bearbeiten, mich dabei nicht einfach auf seinen Lehrstoff und seine Bücherliste zu beschränken, sondern sein gesamtes kulturelles Umfeld (d. h. die persönlichen Erlebnisse, wie z. B. die Reisen, die Theater- und musikalische Aufführungen, usw.), die Bildung seines Erziehers und seiner Lehrer im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Dynastien einzubeziehen. Dieser Beitrag widmet sich einer kurzen Vorstellung des Erziehers, der Präzeptoren und der Nennung der Mitschüler des Erzherzogs. Erzherzog Karl war kaum älter als sieben Jahre, als sein Vater den noch als kaiserlichen Botschafter in Rom weilenden, 1656 geborenen Fürsten Anton Florian von Liechtenstein (1656 – 1721) mit der Würde des ayo für seinen jüngeren Sohn beauftragte.³ Ich möchte diesen Aristokraten hier gar nicht ausführlicher behandeln, weil seine Jugendjahre durch die Publikationen von Gernot Heiss, Michael Hörrmann, Thomas Winkelbauer und Rostislav Smíšek relativ gut bekannt sind.⁴ Es soll diesmal genügen, dass Liechtenstein zwischen 1674 und 1676 an einer Kavalierstour nach Italien teilnahm, während der er Venedig, Mailand, Turin und Rom besuchte. In die päpstliche Residenzstadt kehrte er 1689 als kaiserlicher Gesandter bzw. Botschafter zurück und blieb dort bis er 1694 für den Posten des Ayo zurückgerufen wurde. Seine Wahl für dieses Amt unterstützte
Am 6. Februar 1693. ÖStA, HHStA, HA, ÄZA A, Kt. 14, Konv. Erzherzog Karls Geburt, Hofstaat, Audienzen (1685 – 1703), fol. 1r. Für diesen Posten bot Liechtenstein ein Darlehen im Wert von 100 000 fl. Klaus Müller: Habsburgischer Adel um 1700: Die Familie Lamberg, in: MÖStA 32 (1979), S. 101 (irrtümlich Obersthofmarschallamt erwähnend). Gernot Heiss: Bildungsverhalten des niederösterreichischen Adels im gesellschaftlichen Wandel: Zum Bildungsgang im 16. und 17. Jahrhundert, in: Grete Klingenstein/Heinrich Lutz (Hrsg.), Spezialforschung und ’Gesamtgeschichte.’ Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit. Wien/München 1981, S. 139 – 157; Ders.: Bildungs- und Reiseziele österreichischer Adeliger in der frühen Neuzeit, in: Rainer Babel/Werner Paravicini (Hrsg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000. Ostfildern 2005, S. 217– 235; Michael Hörrmann: Fürst Anton Florian von Liechtenstein (1656 – 1721), in: Volker Press/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung. Vaduz/München/Wien 1988, S. 189 – 210; Thomas Winkelbauer: Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters. Wien/ München 1999; Rostislav Smíšek: Anton Florian von Liechtenstein und Rom. Selbstpräsentation eines kaiserlichen Gesandten zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, in: Marek Vařeka/Aleš Zařický (Hg.), Das Fürstenhaus Liechtenstein in der Geschichte der Länder der Böhmischen Krone. Ostrava – Vaduz 2013, S. 197– 212. Vgl. auch Katharina Arnegger: Das Fürstentum Liechtenstein. Session und Votum im Reichsfürstenrat. Münster 2019, S. 116 – 128.
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auch der am Wiener Hof hochgeachtete apostolische Missionar und päpstliche Legat, Pater Marco d’Aviano (1631– 1699).⁵ Der 1685 geborene Erzherzog wurde zuvor unter der Leitung von Maria Eleonora von Harrach (1623 – 1693) mit seinen Geschwistern, den anderen Mitgliedern der „jungen Herrschaft“, gemeinsam erzogen. Die Gräfin Harrach, die in ihrer Jugend (bis 1649) Kammerfräulein und Hofdame der Kaiserinwitwe Eleonora Gonzaga der Älteren (Witwe Ferdinands II.)⁶, zu dieser Zeit selbst schon Witwe des Grafen Miklós bzw. Nikolaus Pálffy⁷, bekleidete seit 1693 das Obersthofmeisterinamt ihrer Zöglinge. Das Kaiserpaar legte grossen Wert auf die Erziehung ihrer Kinder. Das beweist u. a. ein aus dem Jahr 1686 erhaltener Instruktionsentwurf der Kaiserin Eleonora Magdalena für die Gräfin Pálffy.⁸ Die beiden Söhne von Kaiser Leopold I. hatten – im Gegensatz zu ihren Geschwistern – von dem Moment an, als sie über einen eigenen Hofstaat verfügten, neben ihren Beichtvätern auch noch ’Instruktor’ oder ’Präzeptor’ genannte Lehrer.⁹ Der Unterricht der Erzherzoginnen wurde hingegen oft allein dem Beichtvater anvertraut. Die Zeiten waren schon vorbei, als fürstliche Abkömmlinge mit den Kindern des Landes gemeinsam, öffentliche Bildungsinstitutionen besuchten, wie es noch bei Ferdinand II. der Fall war, der zwischen 1590 und 1595 das Ingolstädter Jesuitengymnasium und die dortige Universität besuchte.¹⁰ Seither hatte sich das Hochadels- und Fürs-
Kaiser Leopold I. an Marco d’Aviano (Ebersdorf, 23.09.1694 und Wien, 17.02.1695), bzw. Marco d’Aviano an Leopold I. (Gargnano, 18.01.1695). Vgl. M[arie] Héyret (Hrsg.), P. Marcus von Aviano O.M.Cap. (1631– 1699). Einführung in seine Korrespondenz, Bd. 2: Der römisch-deutsche Kaiser Leopold I. und Pater Marcus (1680 – 1699). München 1938, S. 395 – 396; Onno Klopp (Hrsg.), Corrispondenza epistolare fra Leopoldo I Imperatore ed il P. Marco d’Aviano Capuccino. Graz 1888, S. 270 (Briefnr. 281). Die neuere Ausgabe der Briefe von Marco d’Aviano in der Veröffentlichung von Arturo M. da Carmignano di Breda, deren 2. Band seinen Briefwechsel mit Kaiser Leopold I. enthält (Albano Terme 1987), war mir nicht zugänglich. Im Allgemeinen s. noch Elisabeth Kovács: Einflüsse geistlicher Ratgeber und höfischer Beichtväter auf das fürstliche Selbstverständnis, auf Machtbegriffe und politische Entscheidungen österreichischer Habsburger während des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Cristianesimo nella storia 4 (1983), S. 79 – 102. Katrin Keller: Hofdamen. Amtsträgerinnen im Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts.Wien/Köln/ Weimar 2005, S. 172, 192. Iván Nagy: Magyarország nemes családai czímerekkel és nemzedékrendi táblákkal [Die adeligen Familien Ungarns mit Wappen und genealogischen Tafeln], IX. köt. Pest 1862, S. 52– 53. ÖStA, HHStA, HA, ÄZA A, Kt. 15, Konv. Entwurf zu einer Instruction für die Aya Gräfin Pálffy, fol. 1r – 2r. ÖStA, HHStA, HA, ÄZA A, Kt. 15, Konv. Entwurf zu einer Instruction für die Aya Gräfin Pálffy, fol. 1r – 2r. Margarethe Kalmár: Kulturgeschichtliche Studien zu einer Biographie von Erzherzogin Maria Elisabeth (1680 – 1741) aus Wiener Sicht. Diss. phil. Wien 1988, S. 71. Friedrich von Rummel: Franz Ferdinand von Rummel. Lehrer Kaiser Josephs I. und Fürstbischof von Wien. München 1980, S. 67. und Robert Bireley S.J.: The Jesuits and the Thirty Years War:
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tenideal geändert: Das Bücherwissen wurde zwar auch weiterhin geschätzt, doch die Ausbildung in den höchsten Gesellschaftsschichten des späten 17. Jahrhunderts war praxisorientierter als in der Epoche des Humanismus. Sie sollte den zeitgenössischen höfischen Erwartungen gemäß dem cortegiano-Modell entsprechen, das sein Ideal in dem allseitig gebildeten virtuoso sah.¹¹ Keine öffentliche Schule konnte diesen Ansprüchen genügen. Statt von pedantischen Schulmeistern sollten die Fürsten und Höflinge „durch gelebtes Beispiel, durch Einzelbildung und freien geistigen Verkehr mit Gleichgesinnten und Gelehrten“ lernen, denn das oberste Lernziel war Lebensklugheit statt Büchergelehrsamkeit.¹² Nach dem Ajo, an zweiter Stelle der Hofstaatsliste, stand der Beichtvater Karls, der 1649 in Herzogenburg (Niederösterreich) geborene Jesuit Andreas Pauer. Pater Pauer besuchte das Gymnsium in Krems an der Donau, 1666 trat er in die Gesellschaft Jesu ein. Nach seinen in Graz absolvierten philosophischen, historischen und mathematischen Studien begann er 1672 seine Lehrtätigkeit als Magister in Wien mit Grammatikunterricht, wo er drei Jahre blieb. 1676 lehrte er Poetik im Grazer Jesuitengymnasium. Später unterrichtete er die Novizen im Jesuitengymnasium zu Trentschin (Trenčín), wo er zwei Jahre auch Sozius des Novizenmeisters war.Von dort begab er sich als Minister im Profeßhaus für je ein Jahr zu den Kollegien von Linz und Wien.¹³ Nach dem Ablegen seines vierten Gelübdes
Kings, Courts and Confessors. Cambridge 2003, S. 10; Kovács, Einflüsse geistlicher Ratgeber, S. 99; Dieter Albrecht: Ferdinand II. (1619 – 1637), in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, S. 127 und Theodor Graff: Grazer Jesuitenuniversität und landesfürstliche Dynastie, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 11– 12 (1979 – 80), S. 38 – 39. Für das damalige Hofleben und höfisches Ideal im Allgemeinen vgl. Peter Burke: Il cortigiano, in: Eugenio Garin (Hrsg.): L’uomo del Rinascimento. 3. Aufl. Rom/Bari 1995, S. 135 – 165. Über die europaweite Verbreitung Baldassare Castigliones klassischen, das erste Mal 1528 in Venedig veröffentlichten Werkes, des Libro del Cortegiano, vgl. Peter Burke: Die Geschicke des Hofmann. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten. Berlin 1996 und Amadeo Quondam: „Questo povero cortegiano.“ Castiglione, il libro, la storia. Roma 2006. Für die Wirkung Castigliones auf deutschem Sprachgebiet s. Klaus Ley: Castiglione und die Höflichkeit. Zur Rezeption des ’Cortegiano’ im deutschen Sprachraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, im Anhang H[ieronymus] Turler: ’De perfecto aulico B. Castiglioanii, deque eius in latinam linguam versione narratio’ (1561), in: Alberto Martino (Hrsg.), Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Amsterdam/Atlanta GA 1990 (Chloe 9), S. 3 – 108. Ludwig Fertig: Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Stuttgart 1979, S. 35. Das Wiener Profeßhaus befand sich Am Hof. Kurt Mühlberger: Universität und Jesuitenkolleg in Wien von der Berufung des Ordens bis zum Bau des akademischen Kollegs, in: Herbert Karner/
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1684 in Wien unterrichtete er Dialektik an der Philosophischen Fakultät der Universität dieser Stadt.¹⁴ Zwischen 1686 und 1689 bekleidete er das Rektorenamt des Wiener Neustädter Jesuitengymnasiums, von wo er als zweiter Beichtvater der Kaiserin Eleonora Magdalena bzw. als Präzeptor der 1680 geborenen Erzherzogin Maria Elisabeth an den Wiener Hof gerufen wurde¹⁵, bis man ihn im Jahre 1693 zum Beichtvater beider Kaisersöhne ernannte.¹⁶ Als sich Karl nach Spanien begab, begleitete ihn auch Pater Pauer, der während der Reise 1704 in Portugal verstarb.¹⁷ Andreas Pauer war nicht nur Karls Beichtvater, sondern – spätestens seit 1696 – auch sein Präzeptor (oder instructor). Für all seine Kinder wählte Kaiser Leopold I., wie es in den damaligen katholischen Fürstenhäusern, darunter auch bei den österreichischen Habsburgern sehr häufig war¹⁸, jesuitische Beichtväter¹⁹, auch wenn in den 70er und 80er Jahren des 17. Jahrhunderts der Einfluß mancher Kapuziner (wie Marco d’Aviano oder Emmerich Sinelli) und Franziskaner (wie Hippolito da Pergine²⁰) am Wiener Hof vorübergehend gewachsen war²¹, was auch
Werner Telesko (Hrsg.), Die Jesuiten in Wien. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der österreichischen Ordensprovinz der ’Gesellschaft Jesu’ im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 2003, S. 32– 33. Christiane Ensle: Die Jesuitenprofessoren an der Wiener Philosophischen Fakultät, 1623 – 1711. Diss. phil. Wien 1970, S. 138. Bernhard Duhr: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Bd. 3. München/ Regensburg 1921, S. 798; Kalmár, Kulturgeschichtliche Studien, S. 71. Duhr, Geschichte der Jesuiten, S. 798. bzw. Ladislaus Lukács: Catalogi personarum et officiorum provinciae Austriae S.I., Bd. 5. Rom 1990, S. 709. Aloys de Backer/Carlos Sommervogel: Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Bibliographie VI. Bruxelles/Paris 1895, S. 389. ÖStA, HHStA, OMeA Sonderreihe, Kt. 146, Nr. 10, fol. 210r. Z. B. Bernhard Duhr: Die Jesuiten an den deutschen Fürstenhöfen des 16. Jahrhunderts. Freiburg i. Br. 1901; Michael Müller: Die Jesuiten als Beichtväter der Mainzer Kurfürsten im 17. Jahrhundert, in: Claus-Peter Hartmann (Hrsg.), Reichskirche – Mainzer Kurstaat – Reichserzkanzler. Frankfurt a. M./Berlin 2001, S. 93 – 119; Georges Minois: Le confesseur du roi. Les directeurs de conscience sous la monarchie française. Paris 1988, S. 531– 532; Robert Bireley S.J.: Hofbeichtväter und Politik im 17. Jahrhundert, in: Michael Sievernich/Günther Switek (Hrsg.), Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu. Freiburg i. Br./Basel/Wien 1990, S. 386 – 403; ders.: The Jesuits and the Thirty Years War: Kings, Courts, and Confessors. Cambridge 2003, S. 1– 32 und Elisabeth Garms-Cornides: Pietà ed eloquenza. Ecclesiastici italiani alla corte imperiale tra Sei- e Settecento, in: Marco Bellabarba/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.), Le corti como luogo di communicazione. Gli Asburgo e l’Italia (secoli XVI-XIX)/Höfe als Orte der Kommunikation. Die Habsburger und Italien (16. bis 19. Jahrhundert). Bologna/Berlin 2010 (Annali dell’Istituto italiano-germanico in Trento/Contributi 24), S. 116 – 119. Bernhard Duhr: Die Beichtväter am Wiener Kaiserhofe in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Die Kultur. Jahrbuch für Wissenschaft, Literatur und Kunst 18 (1917), S. 95. Anna Coreth: Fra Hippolito da Pergine und Kaiser Leopold I., in: MÖStA 31 (1978), S. 73 – 97. Rummel, Franz Ferdinand, S. 23 – 26.
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die Ernennung des ihnen nahe stehenden Franz Ferdinand von Rummels (1642– 1716) zum Präzeptor des Thronfolgers Joseph zeigte.²² Seit 1586, als Erzherzog Ferdinand von Innerösterreich (der spätere Kaiser Ferdinand II.) am Kolleg der Jesuiten in Graz immatrikuliert wurde, waren die ersten Lehrer der habsburgischen Prinzen und Prinzessinnen der österreichischen Linie bis auf die Kinder Maria Theresias ausnahmslos Jesuiten.²³ Dieser Orden hatte bekanntlich grosse Verdienste erworben und seine Mitglieder besaßen auch grosse Erfahrung im Unterricht. Es soll hier genügen, auf die von ihnen realisierten Universitätsgründungen bzw. Neugründungen hinzuweisen.²⁴ Außerdem waren die Lehrer in den meisten Gymnasien der habsburgischen Erbländer Mitglieder des gleichen Ordens. Solche ehemaligen Gymnasialprofessoren wurden berufen, um den Erzherzogen den Elementarunterricht und die gymnasialen Unterrichtsinhalte zu vermitteln (s. unten).²⁵ Die beiden Rollen, die des Beichtvaters und des Lehrers ergänzten also einander, wie auch im Falle Pater Pauer. Trotzdem ist auf der Hofstaatsliste des Erzherzogs Karl vom Jahre 1695 als sein Präzeptor allein der aus Siders im Schweizer Kanton Wallis stammende Weltpriester Ignatius von Lovina (1660 – 1720)²⁶ angegeben. Lovinas jüngerer Bruder war seit 1692 auch Mitglied des Jesuitenordens.²⁷ Ignaz von Lovina erhielt seine Gymnasialbildung im schweizerischen Jesuitenkollegium Brig. Den Jesuiten blieb Lovina zeitlebens zugetan, er bedachte sie später auch in seinem Testament. Von Brig zog er nach Chambéry, dem damaligen Hauptort Savoyens, dann nach Lyon, um Philosophie und Theologie zu studieren. Nachher ging er in das Sankt-Barbara-Konvikt zu Wien, in welchem Papst Urban VIII. durch die Bulle von 1627 für das Land Wallis zwei Freiplätze gesichert hatte. Diese gewährten freie Kost und Unterkunft im Konvikt für die Zeit, während die Begünstigten an der Universität studierten.Vor ihm, zwischen 1658 und 1661, war auch schon ein anderes Mitglied seiner Familie, ein gewisser Jakob von Lovina, an der Wiener Universität immatrikuliert. Ignaz studierte dort zwei Jahre lang Theologie mit Erfolg. 1684 empfing er die Priesterweihe im Stephansdom. 1687 und 1689 wurde Lovina unter den Ebd., S. 43. Derek Beales: Joseph II, Bd. 1: In the Shadow of Maria Theresia 1741– 1780. Cambridge 1987, S. 44, 56, 64; Benna, Kronprinzenunterricht, S. 122. Über die Universitäten der Habsburgermonarchie und den jesuitischen Einfluß in diesen Grete Klingenstein: Vorstufen der theresianischen Studienreformen in der Regierungszeit Karls VI., in: MIÖG 76 (1968), S. 327– 377, hier 333 – 336. Strakosch-Grassmann, Erziehung, S. 72. Louis Carlen: Bischof Ignaz von Lovina (1660 – 1720), in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 63 (1969), S. 114– 139, hier 114. Für Lovinas Herkunft und Verwandtschaft vgl. Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4. Neuburg 1927, S. 635.
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Leviten des Stephansdoms angeführt²⁸, unter denen er 1693 noch immer genannt wird.²⁹ Zu dieser Zeit war er schon Lehrer des Erzherzogs Karl, ein Amt, das er im Oktober 1692, in seinem 32. Lebensjahr, erhielt. Der damals sieben Jahre alte Erzherzog wurde von Lovina in Französisch, Spanisch und Italienisch unterrichtet. Aufgrund seiner Bewandtheit in der Literatur und seinen Sprachkenntnissen wurde dieser Präzeptor sehr geschätzt, was das Vertrauen des Kaiserpaares sowie das ansehnliche Jahresgehalt in der Höhe von 1 000 Gulden zeigt (Pauer erhielt allein für seine Beichtvatertätigkeit jährlich nur 150 fl³⁰). Lovina blieb Lehrer des Erzherzogs bis Karl 1703 zum König von Spanien proklamiert wurde. Den Kontakt zu seinem Zögling hielt er danach auch weiterhin aufrecht, wovon sein mit dem König geführter Briefwechsel und ein im Jahr 1705 über die Ereignisse des Wiener Hofes berichtendes, von Lovina verfasstes und dem jungen Herrscher zugesandtes Tagebuch zeugt.³¹ Nach dem Tod von Kaiser Leopold I. wurde er Titularbischof von Sebenico/Sibenik (Šibenik in Kroatien/Dalmatien). Nach Karls Rückkehr aus Spanien erhielt Lovina die Propstei von Ardagger (Niederösterreich) und wurde auf kaiserlichen Vorschlag von Papst Klemens XI. im März 1719 zum Bischof von Wiener Neustadt ernannt.³² Kenntnisse über seine Unterrichtsmethode haben wir aus einem 1698 entstandenen Tagebuch³³, das der ungarische Historiker Albert Nyáry in einer selbständigen Publikation 1912 in Budapest, leider ohne Anmerkungen, veröffentlichte. Es enthält viele wertvolle Informationen über die Ausbildung und die persönlichen Verhältnisse zwischen Pauer und Lovina bzw. zu ihrem Zögling. Der Carlen, Bischof Ignaz, S. 116 – 119. ÖStA, HHStA, HA, ÄZA A, Kt. 14, Konv. Erzherzog Karls Geburt, Hofstaat, Audienzen (1685 – 1703), fol. 1r. ÖStA, HHStA, HA, ÄZA A, Kt. 18, Konv. Hofstaat des Erzherzogs Karl, fol. 1r. Publiziert von Louis Carlen: Ein Tagebuch über die Ereignisse am Wiener Hof im November 1704, in: MÖStA 22 (1969), S. 327– 334. ÖNB Cod. 9310, fol. 217. Lovina sollte vorher noch auch Propst von Ardagger (Niederösterreich) und Aiska (= Aisha ?) oder Ochka (Waradiner Diözese ?) gewesen sein (s. noch Erwin Gatz: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1803. Ein Biographisches Lexikon. Berlin 1990, S. 286), aber die Identifizierung dieser letzteren Ortschaft ist unsicher. Vincze Bunyitay: A váradi püspökség története alapításától a jelenkorig [Die Geschichte des Waradiner Bistums von seiner Gründung bis zur Gegenwart], Bd. 3: Egyházak a püspökség alapításától 1566. évig [Kirchen von der Gründung des Bistums bis 1566]. Nagyvárad 1884, S. 451. Sein Titel ist: „1698. Diarium Carolinum per Ignatium de Lovina Wallesium sui Archiducis Austriae Caroli Praeceptorum, quotidiana annotatione perfectum, ex Actis, Dictis ac Scriptis ejusdem.“ Albert br. Nyáry: A bécsi udvar a XVII. század végén. (Lovina Ignác naplója) [Der Wiener Hof am Ende des 17. Jahrhunderts. (Das Tagebuch des Ignaz von Lovina)]. Budapest 1912, S. 16. Nyáry gab leider den Fundort des Tagebuches nicht an.
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Aufbewahrungsort der als Basis für diese Publikation dienende Quelle ist unbekannt oder diese heute nicht mehr vorhanden. Die Informationen ihrer Aufarbeitung scheinen aber durchaus glaubwürdig zu sein, denn auch andere Quellen belegen die Behauptungen ihres Verfassers. Soweit man aus den Büchereinkäufen Lovinas schließen kann, interessierte er sich hauptsächlich für Mathematik, Astronomie und Naturwissenschaften. In seinem Nachlaß befanden sich u. a. auch drei Globen.³⁴ Sonst bestand mehr als die Hälfte seiner Bibliothek aus Büchern kirchenrechtlichen Inhalts. Außerdem besaß Lovina – auch wenn in geringer Zahl – theologische Werke und einige andere über verschiedene Themen, wie Philosophie, Literatur und Geschichte.³⁵ Im Unterricht galt eine allgemein verbreitete Methode, um bei fürstlichen Kindern den Fleiß zu entwickeln: Sie lernten nicht ganz allein, sondern mit jungen adligen Pagen (die meistens Söhne oder jüngere Brüder landsässiger Adeligen waren³⁶) – die am Wiener Kaiserhof mindestens zu dieser Zeit allerdings Edelknaben hießen³⁷ – gemeinsam. Sie gehörten zum erzherzoglichen Hofstaat.³⁸ Genaue Statuten regelten bis ins kleinste Detail ihre Lebensführung und ihre Verpflichtungen.³⁹ Sie sollten um ihren jungen Herrn, den Erzherzog, bestimmte Dienste leisten. Von diesen ephebi, die – mit Ausnahme des Jahres 1699, als sie wegen Platzmangel vorübergehend, bis zum nächsten Jahr ausziehen mussten – im ersten Stock der Stallburg wohnten⁴⁰, sind Zinzendorf, Hohenfeld, Oppersdorf, Himmelberg, Herberstein, Woller, Motrechir und Gabrioni in Lovinas Tagebuch erwähnt, aber ohne Vornamen.⁴¹ Soweit man aus diesen Familiennamen schlie-
Carlen, Bischof Ignaz, S. 123. Ebd., S. 136 – 138. Antje Stannek: Exempla & Imitatio. Medien und Methoden höfischer Standeserziehung im 17. Jahrhundert, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Erziehung und Bildung bei Hofe. 7. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (Residenzenforschung 13). Stuttgart 2002, S. 108. Berichte von Edelknaben des damals acht Jahre alten Thronfolgers kennen wir seit 1467: Erzherzog Maxilmilian hatte siebzehn. Albert Hübl: Die k. u. k. Edelknaben am Wiener Hof, in: Jahres-Bericht des kais. kön. Ober-Gymnasiums zu den Schotten in Wien (1912), S. 8. Ebd., S. 12. S. z. B. die Instruktion Leopolds I. für den kaiserlichen Edelknabenhofmeister vom 12. März 1661. Ebd., S. 38 – 44, vom Original neu publiziert in Irmgard Pangerl/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652– 1800). Eine Annäherung (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 47, Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 31). Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 203 – 208. Herbert Karner (Hrsg.), Die Wiener Hofburg 1521– 1705. Baugeschichte, Funktion und Etablierung als Kaiserresidenz (Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg 2). Wien 2014, S. 305, 309 und Hübl, Die k. u. k. Edelknaben, S. 13. Nyáry, A bécsi udvar, S. 199.
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ßen kann, befanden sich Angehörige dieser später fast alle im kaiserlichen Hofstaat Karls oder in dem seiner Familienmitglieder.⁴² Noch im 18. Jahrhundert hatten manche Fürstensöhne einen Prügelknaben neben sich, dessen Eltern dafür bezahlt wurden, dass ihr Sohn die Schläge erhielt, die dem Prinzen gebührt hätten. Man hoffte, dass das Mitleid mit dem unschuldig Leidenden den Fürstensohn zu besseren Leistungen veranlassen könnte. Eine solche Einrichtung kannte man in Wien aber nicht.⁴³ Demgegenüber mußten die dortigen Hofschüler über ihre Kenntnisse zu bestimmten Zeiten vor der Öffentlichkeit des Hofes – hauptsächlich in Anwesenheit ihrer Eltern, der nächsten Verwandtschaft und des Präzeptors – Zeugnis ablegen. Das war nicht nur in Wien⁴⁴, sondern z. B. auch bei den Münchener Wittelsbachern üblich, zumindest in den Jugendjahren des späteren Kurfürsten Max Emanuel II. von Bayern.⁴⁵ Erzherzog Karl veranstaltete für seine Pagen öfters einen ähnlichen Wettbewerb.⁴⁶ Es ist fraglich, was für ein Risiko eine solche Prüfung für den fürstlichen Schüler bedeutete, wenn man die Erziehungsprinzipien des Präzeptors des künftigen Kaisers Joseph I. in Betracht zieht, der es für wichtig hielt, dass der Prinz niemals in Anwesenheit von Mitschülern examiniert würde. In ihrer Gegenwart durften ihm auch keine Fragen gestellt werden, welche vom
Die Grafen von Herberstein waren Edelknaben der verwitweten Kaiserin Amalia: Adam von 1718 bis 1728, Joseph im Jahre 1715 und Sigmund zwischen 1718 und 1725. Irene Kubiska-Scharl/ Michael Pölzl: Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711– 1765. Eine Darstellung anhand der Hofkalender und Hofparteienprotokolle (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 58). Innsbruck/Wien/Bozen 2013, S. 468. Von den Grafen von Hohenfeld war Otto Dominik zwischen 1718 und 1723 kaiserlicher Edelknabe (ebd., S. 377), Otto Ferdinand von 1715 bis 1720 Edelknabe sowie 1716 bis 1734 Oberster Hofküchenmeister der Kaiserin Amalia, von 1735 bis 1740 Arcieren-Hauptmann (= Palastwache) der gleichen Kaiserin (ebd., S. 467, 607 f.). Von den Grafen von Oppersdorf war Johann Rudolph von 1715 bis 1720 Kammerherr der Kaiserin Eleonora (ebd., S. 433), während Johann Wenzel das Amt eines Kammerherrn und Hofkavaliers im Hofstaat der Kaiserin Amalia im Jahre 1729 bekleidete (ebd., S. 454). Graf Ludwig von Zinzendorf-Pottendorf war 1715 Arcieren- und Trabanten-Hauptmann der Kaiserinwitwe Amalia (ebd., S. 466), zwischen 1716 und 1717 Obersthofmeister Erzherzogin Maria Josephas, der älteren Tochter Kaiser Josephs I. (ebd., S. 477). Von den Nichtaristokraten Woller war Johann Friedrich von 1715 bis 1718 „Pastinbereiter Scholar“ (d. h. Pastinakbereiter-Schüler) Karls VI. und zwischen 1719 und 1724 Sattelknecht des Kaisers (ebd., S. 386 – 387.), während Johann Georg von 1715 bis 1733 ebenfalls Sattelknecht war, jedoch bei Kaiserin Amalia (ebd., S. 471). Georg Schreiber: Franz I. Stephan. An der Seite einer großen Frau. Graz/Wien/Köln 1986, S. 45. Zu Prüfungen Josephs I. vgl. Rummel, Franz Ferdinand, S. 66 – 67. Friedrich Schmidt (Hrsg.), Geschichte der Erziehung der Bayerischen Wittelsbacher von den frühesten Zeiten bis 1750 (Monumenta Germaniae Paedagogica, XIV). Berlin 1892, S. XCV. Nyáry, A bécsi udvar, S. 209.
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Prinzen vermutlich nicht richtig beantwortet werden konnten.⁴⁷ Die „Exercitien“ der praktischen Fächer, von denen eine im Falle des Erzherzogs Karl am 15. Dezember 1700 in Anwesenheit seines Vaters und mehrerer Minister in der kaiserlichen Reitschule in den „Wissenschaften und Exercitien“ bestand⁴⁸, bargen zweifellos ein nicht zu großes Risiko in sich. An Karls Unterrichtsstoff, der sich mit dem Alter des Erzherzogs änderte, hatte sein Ajo vermutlich einen geringen Anteil. Die grösste Rolle spielte er noch im Reitunterricht. Trotz seiner häufigen Erkrankungen blieb Fürst von Liechtenstein ein harter, entschlossener Mann und er wollte auch Karl in diesem Geiste erziehen. Bei der Jagd – die später Kaiser Karls grösste Leidenschaft wurde – ließ ihn Liechtenstein an die gefährlichsten Stellen führen, beim Reiten galoppierte er oft und der junge Erzherzog musste mit ihm Schritt halten.⁴⁹ Des Fürsten junger Sohn, der kleine Josef von Liechtenstein, war wahrscheinlich auch ständig bei ihm.⁵⁰ Der bedeutendste (erste) Präzeptor Karls soll Pater Pauer gewesen sein, der ihn in Latein unterrichtete, worauf natürlich großen Wert gelegt wurde⁵¹, wie auch auf die Philosophie. Es scheint, dass Pauers Beziehung zum Erzherzog nicht immer sehr freundlich war: Karl versagte ihm manchmal den Gehorsam, vor allem dann, wenn eine Tanzstunde in einem solchen Moment folgen sollte, in welchem er an seinem Globus sitzend, seine Geographiestudien nicht unterbrechen wollte. Französisch konnte Pauer recht wenig, und er favorisierte das Lernen dieser Sprache auch nicht. An einer Stelle seines Tagebuches verdächtigte Lovina Pauer damit, dass dieser immer, wenn in seiner Anwesenheit nicht Deutsch oder Latein gesprochen wurde, „nach der Gewohnheit der Unwissenden“ – wie der Schweizer spöttisch schrieb – gemeint habe, dass über ihn etwas Böses gesagt wurde. Lovina beschuldigte seinen Kollegen auch, seinen Zögling vom Französischlernen aus Angst abhalten zu wollen, um eine engere Verbindung auf seine Kosten zwischen dem Erherzog und den lothringischen Prinzen am Kaiserhof zu verhindern. Es handelte sich um die Kinder des 1690 verstorbenen Karls von Lothringen, des Rummel, Franz Ferdinand, S. 50. Leben und Thaten Caroli des Sechsten Erwählten Römischen Kaisers in Germanien, Hispanien, Hungarn, Böhmen a.a. Königs, Ertz-Hertzogs in Oesterreich a.a. Wien/Prag/Linz 1712, S. 11. Nyáry, A bécsi udvar, S. 172. Zur Beziehung Erzherzogs Karl zu seinem Ajo berichtete 1699 der venezianische Botschafter Carlo Ruzzini aus Wien: „[…] col genio et applicatione assidua con cui s’inoltra nel corso de’suoi studÿ, assistito dall’amore e cura del Prencipe Lietichstain attira sopra di se gli occhi, le lodi e le speranze di tutti.“ Nach Josef Fiedler (Hrsg.), Die Relationen der Botschafter Venedigs über Deutschland und Österreich im siebzehnten Jahrhundert (Fontes rerum Austriacarum II/27). Wien 1867, S. 392– 393. Nyáry, A bécsi udvar, S. 177. Strakosch-Grassmann, Erziehung, S. 75.
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Schwagers Leopolds I., die französisch erzogen wurden⁵² und unter einander nur französisch sprachen. Das war ein grosser Vorteil für den Erzherzog, der Dank seines Umgangs mit den lothringischen Prinzen⁵³ vermutlich sehr gut französisch erlernte. Im Interesse des Französischunterrichts bat Lovina letzten Endes um Liechtensteins Unterstützung und zwar mit Erfolg. Der Ajo schien seinerseits mit dem Stellenwert der Sprachkenntnisse einverstanden gewesen zu sein, denn er selbst bat Karl, ihm mitzuteilen, was für einen Wert es haben würde, wenn er später seine Geheimnisse keinem Dolmetscher anzuvertrauen brauchte. Im Allgemeinen sei es auch vorteilhaft, meinte der Fürst, wenn der Erzherzog die Gesuche eines jeden in dessen Muttersprache verstehen könnte. Laut Lovinas – Pauer gegenüber nicht eben unparteiischen – Aufzeichnungen machte Karl gern auf Kosten des Jesuitenpaters Späße.⁵⁴ Der Schweizer Päzeptor erscheint im von ihm selbst verfassten Tagebuch natürlich als Karls Lieblingslehrer. Außer den modernen Sprachen unterrichtete er Karl in Geographie, die ursprünglich ein unwesentlicher Nebengegenstand war, für welchen am Anfang nur die Unterrichtspausen ausgenützt wurden.⁵⁵ Dieses Studium verknüpfte Lovina mit der ebenfalls von ihm unterrichteten französischen Sprache so, dass er die Geographie aus französischen Büchern lehrte und darüber hinaus mit dem Erzherzog in den Unterrichtspausen französisch sprach. Sein Schüler sollte für die Sprachen eine echte Begabung gehabt haben, denn er konnte sich, nach Lovinas Aufzeichnungen, in dergleichen Gesellschaft italienisch, deutsch, französisch
Eine ganz kurze Erwähnung der Erziehung des ältesten Lothringersohnes Leopold, des späteren Fürsten von Lothringen, unter der Leitung Lords Carlingford bei H[enri] Baumont: Études sur le règne de Léopold duc de Lorraine et de Bar (1697– 1729). Paris/Nancy 1894, S. 32– 33. Erzherzog Karl hatte eine freundschaftliche Beziehung zu den lothringischen Prinzen. Als erster von ihnen verließ der älteste Bruder Leopold Wien, der im Ryswiker Frieden (1697) seine Erbschaft, das Fürstentum Lothringen, zurückbekommen hatte. Vitus Tönnemann S.J. (1659 – 1740), der westfälische Beichtvater des früh verstorbenen kaiserlichen Generals Joseph von Lothringen (1685 – 1705), wird dieses Amt ab 1712 beim Kaiser antreten. Ladislaus Lukács S.I.: Catalogi personarum, t. VI, Rom 1993, S. 256, 645. Die freundschaftlichen Gefühle verringerten sich mit der Zeit nicht und Kaiser Karl VI. wird später die Söhne des Fürsten Leopold, Franz Stephan und Karl Alexander, als seine Schwiegersöhne auserwählen. Nach dem Tod des ältesten Sohnes Leopold Clemens erhielt letztlich Franz Stephan die Hand der Erbin Maria Theresia. Vgl. Renate Zedinger: Hochzeit im Brennpunkt der Mächte. Franz Stephan von Lothringen und Erzherzogin Maria Theresia. Wien/Köln/Weimar 1994; dies.: Franz Stephan von Lothringen (1708 – 1765). Monarch, Manager, Mäzen.Wien/Köln/Weimar 2008. Karl Alexander von Lothringen vermählte sich 1744 mit der zweiten Tochter des Kaisers, Erzherzogin Maria Anna. Richard Reifenscheid: Die Habsburger in Lebensbildern. Von Rudolf I. bis Karl I. Graz/Wien/Köln, 4. Aufl. 1990, S. 217. Nyáry, A bécsi udvar, S. 179 und 181. Ebd., S. 185 und 211.
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und lateinisch unterhalten.⁵⁶ Um Karl einen Gefallen zu tun, bemühte sich Lovina seinerseits auch die modernen – näher nicht genannten – Spiele zu erlernen.⁵⁷ Des Erzherzogs weitere Studien betreffend sind wir auf fragmentarische Informationen angewiesen. Ein südniederländischer Kriegsbaumeister, François de la Motte war Karls Mathematik- und „Kriegskunstlehrer“⁵⁸, der 1720 verstarb und seit 1713 die kaiserlichen Edelknaben unterrichtete.⁵⁹ Diesem Fach widmete sich Karl mit großem Eifer.⁶⁰ Darunter verstand man etwa die architectura militaris, die ein aus Mathematik, Geometrie, Baukunst und Zeichnen bestehender Komplex war.⁶¹ Freihandzeichnen lehrte ihm aller Wahrscheinlichkeit nach Ludwig de Biel, der Maler aus Antwerpen, der die junge Herrschaft in dieser Kunst instruierte.⁶² In Artillerie unterrichtete ihn vermutlich Ingenieur-Hauptmann Brabant. Der Jesuit Franz Menegatti, Beichtvater Leopolds I., lehrte Karl Grammatik und die sogenannte „praktische Geschichte.“ Ferdinand hieß der Zimballehrer, aber zum Zimballernen hatte der Erzherzog – trotz seiner musikalischen Begabung – noch weniger Lust als zum Tanzen. Mit dem Fechten fing er im Oktober 1698, also in seinem dreizehnten Lebensjahr an, sein Meister war Jean-Baptiste Guerrier⁶³, der im Schwert- und Florettunterricht ganz erfolgreich zu sein schien und der (später ?) auch an der frisch gegründeten Niederösterreichischen Ritterakademie zu Wien unterrichtete.⁶⁴ Einer der Lieblingsmeister Karls namens Goyer, mit dem er Ballspielübungen machte, war damals kurz vorher gestorben. Außer den genannten beschäftigte sich der Erzherzog gern mit Numismatik, die ihn auch später begleiten sollte⁶⁵, welche aber sein Ajo für nutzlos hielt. In der Rechtswissenschaft
Ebd., S. 215 – 216. Ebd., S. 211. Walter Pillich: Kunstregesten aus den Hofparteiprotokollen des Obersthofmeisteramtes von 1638 – 1780, I. Teil, in: MÖStA 12 (1959), S. 478 (Nr. 175); Rosina Topka: Der Hofstaat Kaiser Karls VI. Diss. phil. Wien 1954, S. 94. Hübl, Die k. u. k. Edelknaben, S. 34. Nyáry, A bécsi udvar, S. 216. Strakosch-Grassmann, Erziehung, S. 76. Pillich, Kunstregesten, S. 471 (Nr. 135). Ludwig de Biel wurde am 26. März 1694 in Wien zum Hofmaler ernannt. Seine Werke sind unbekannt. Er starb am 8. Juli 1742. Ulrich Thieme/Felix Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 4. Leipzig 1910, S. 8. Topka, Hofstaat, S. 95. Hübl, Die k. u. k. Edelknaben, S. 36. Er führte sogar auf seinen Feldzügen in Spanien eine Sammlung antiker Münzen und Medaillen mit sich. Franz Matsche: Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des ’Kaisestils’ (Beiträge zur Kunstgeschichte 16), Bd. 1. Berlin/New York 1981, S. 32. Zu Karls Sammeltätigkeit bzw. Interesse an Numismatik s. Elisabeth Hassmann/
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erhielt Karl von Professor Johann Gün(d)ter Unterricht.⁶⁶ Der deutsche Kunsthistoriker Franz Matsche vermutete, dass Dominik Strudel, Bruder des Hofmalers Paul Strudel und des Hofbildhauers Peter Strudel Karls Lehrer in Architektur gewesen sein könnte, da der Hofarchitekt und -ingenieur Dominikus Strudel 1697 eine Architekturlehrerstelle beim Erzherzog anstrebte.⁶⁷ Man sollte nun die Lehrstoffe und diejenigen Bücher thematisieren, welche in den verschiedenen Fächern als Unterrichtsbasis dienten, doch soll dies eine künftige Studie leisten. Es kann diesmal genügen, abschließend auf ein vom Erzherzog Karl geschriebenes Manuskript hinzuweisen, welches zumindest in Geschichte und Ethik über die Wirksamkeit seiner Erziehung zeugt. Es ist eine Sammlung seinen Vorfahren zugeschriebenen Tugenden aus 1696, eine Schrift also des damals zehnjährigen Erzherzogs.⁶⁸ Dieser, von klassischen Autoren, aus den Psalmen und von verschiedenen späteren Verfassern stammender, in seinem Hauptteil auf Italienisch, aber mit vielen lateinischen Zitaten ergänzte Text gibt einen Einblick in die diesbezügliche Kenntnisse des jungen Karls.⁶⁹ Erzherzogin Maria Elisabeth, seine 1680 geborene Schwester (die spätere Statthalterin der Österreichischen Niederlande⁷⁰) verfasste als achtzehnjährig ebenfalls eine Familiengeschichte. Der Inhalt beider Manuskripte geht in vieler Hinsicht auf die Jugendlektüre der Geschwister zurück, von welchen sie manchmal wortwörtlich zitierten. Karl und seine ältere Schwester hatten denselben Jesuitenpater, d. h. Andreas Pauer als Präzeptor gehabt⁷¹, der seinen Zöglingen die für ihre Familiengeschichten benutzten Werke vorher zu lesen vorgeschrieben oder empfohlen hat.
Heinz Winter: Numophylacium Imperatoris. Das Wiener Münzkabinett im 18. Jahrhundert. Wien 2016, S. 17– 39 und hier in diesem Band den Beitrag von Anna Fabiankowitsch. Nyáry, A bécsi udvar, S. 216 – 218; und Marcus Landau: Geschichte Kaiser Karls VI. als König von Spanien. Stuttgart 1889, S. 15. Matsche, Die Kunst im Dienst 1, S. 30. und Manfred Koller: Die Brüder Strudel. Hofkünstler und Gründer der Wiener Kunstakademie. Innsbruck/Wien 1993, S. 317. ÖNB Cod. 12800: Ut gesta et Patrum virtutes mihi familiares pro aemulatione redderem, easdem successivis et a schola liberis horis primum lectas, deinde intra trimestre, id est a Januario usque ad Aprilem manu propria in has paginas transtuli Carolus Archidux Austriae Anno MDCXCVI., aetatis decimo. Über diese Handschrift ausführlicher s. János Kalmár: Ahnen als Vorbilder: Der vom späteren Kaiser Karl VI. in seinen Jugendjahren verfasste Kanon der Herrschertugenden, in: Gabriele HaugMoritz/Hans Peter Hye/Marlies Raffler (Hrsg.), Adel im ’langen’ 18. Jahrhundert. Wien 2009, S. 43 – 60. Sandra Hertel: Maria Elisabeth. Österreichische Erzherzogin und Statthalterin in Brüssel 1725 – 1741. Wien/Köln/Weimar 2014. Kalmár, Ahnen als Vorbilder, S. 60.
Charlotte Backerra
Das kaiserliche Paar aus britischer Sicht Einleitung Das Verhältnis zwischen der habsburgischen Erbmonarchie und Großbritannien war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einerseits von den geopolitischen Entwicklungen, andererseits aber auch von innenpolitischen Erwägungen geprägt.¹ Die Beziehungen bewegten sich zwischen engen Allianzen gegen gemeinsame Feinde, echter Gegnerschaft und offizieller Neutralität.² Nicht zuletzt die gegenseitige Wahrnehmung beeinflusste, ob und in welcher Weise die Herrschaftsgebiete eher die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede der jeweiligen Politik betonten.Wie in der dynastisch geprägten Frühen Neuzeit grundsätzlich zu beobachten, war auch in dieser Frage die Rolle der Monarchen entscheidend. Die folgenden Ausführungen gelten dementsprechend der Rezeption Kaiser Karls VI. und seiner Ehefrau, Kaiserin Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, wie sie von britischen Beobachtern formuliert wurde. Karl und Elisabeth Christine erregten schon vor, spätestens aber mit ihrer Heirat als hoffnungsvolles Königspaar der habsburgischen Partei im Spanischen Thronfolgekrieg das Interesse der Öffentlichkeit. Als regierendes Kaiserpaar standen sie ab 1711 im Blickpunkt des Interesses von Hofangehörigen, Diplomaten, Reisenden und Journalisten aus ganz Europa. Im Rahmen dynastischer Herrschaft kommentierte man ihre Persönlichkeiten, ihr Leben, ihre Familie und ihre Politik.³ Die Kommentare britischer Beobachter reichten vom überschwäng-
Erste Ideen für diesen Aufsatz wurden als Vortrag im Rahmen der Konferenz „Habsburg Rule and Representation/ Herrschaft und Repräsentation in der Habsburgermonarchie (1700 – 1740)“ am 28./29. März 2019 an der Universität Wien präsentiert. Der ausdrückliche Dank gilt Stefan Seitschek für die Einladung zu dieser Konferenz und für seine Unterstützung bei der Ausarbeitung zur Publikation. Die Ausführungen basieren unter anderem auf der veröffentlichten Doktorarbeit der Autorin, vgl. Charlotte Backerra: Wien und London, 1727– 1735. Internationale Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert. Göttingen 2018. Vgl. die Personen- und Charakterbeschreibungen Karls VI. und Elisabeth Christines in Johann Basilius Küchelbecker: Allerneueste Nachricht vom Römisch-Kaeyserl. Hofe. Nebst einer ausführlichen historischen Beschreibung der Kayserlichen Residentz-Stadt Wien, und der umliegenden Oerter, theils aus den Geschichten, theils aus eigener Erfahrung zusammen getragen und mit saubern Kupffern ans Licht gegeben. 2. Aufl. Hannover 1732, S. 138 – 152, sowie Karl Ludwig von Pöllnitz: Mémoires de Charles-Louis Baron de Pöllnitz, contenants les Observations qu’il a https://doi.org/10.1515/9783110670561-004
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lichen Lob der britischen Diplomatengattin und Publizistin Lady Mary Wortley Montagu (1689 – 1762) für Elisabeth Christine bis hin zu abschätzigen Bemerkungen der britischen Diplomaten über die negativen Charakterzüge Karls VI. 1731 rechtfertigte sich der britische Gesandte am Wiener Hof, Sir Thomas Robinson (1695 – 1770), nämlich auf bemerkenswerte Weise für die langwierigen Verhandlungen zum Abschluss eines neuen Bündnisvertrages zwischen dem König von Großbritannien und dem Kaiser, die schon vor Robinsons Ankunft 1730 begonnen hatten, aber erst im März 1731 mit dem zweiten Wiener Vertrag zum Abschluss kamen. Er schob in einem privaten Schreiben an seinen Vorgesetzten die Schuld an den Verzögerungen Kaiser Karl VI. zu: „The reason is, the Emperor will work himself, and will have something to do; but as his Genius is not very extensive, he stops at trifles, and there is no removing his prejudices.“⁴ Solche negativen Äußerungen über den Kaiser passten zu dem Bild, welches britische Beobachter von Kaiser Karl VI. hatten, und konnten deshalb leicht akzeptiert werden. Im Folgenden gilt es zunächst zu untersuchen, inwieweit der britische Blick auf das Kaiserpaar davon bestimmt war, welchen Zweck die britischen Beobachter mit ihrem Besuch in Wien verfolgten. Zu fragen ist außerdem, inwiefern vor allem die Sichtweisen der diplomatischen Vertreter von den jeweils aktuellen Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Reich beziehungsweise zwischen den Monarchen bestimmt waren. Grundlage sind die Forschungen zu den kaiserlichbritischen Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert, wobei der Fokus der Ausführungen auf den Jahren 1727 bis 1735 liegen wird.⁵
Beobachter und Adressaten Ähnlich wie die britisch-habsburgischen Beziehungen im 18. Jahrhundert insgesamt wurde auch die Rezeption des Wiener Hofes oder des Kaiserpaares lange Zeit kaum untersucht.⁶ Erst im Rahmen der neueren Forschungen zu Außen- und internationalen Beziehungen wird die Wahrnehmung des Gegenübers als we-
faites dans ses Voyages et le Caractere des Personnes qui composent les principales Cours de l’Europe, Bd. 1. Lüttich 1734, S. 299 – 302. Sir Thomas Robinson (Gesandter am Kaiserhof) an William Stanhope (ca. 1683 – 1756), Baron Harrington (Secretary of State), „private and particular“,Wien, 20.03.1731, TNA, SP 80/73, fol. 18v. Vgl. Backerra, Wien und London. Zu den wenigen Publikationen, die sich mit den Beziehungen zwischen den Herrschaftsgebieten des habsburgischen Kaiserhauses und des englischen beziehungsweise britischen Königshauses im hier besprochenen Zeitraum auseinandersetzen, siehe Backerra, Wien und London, S. 38 – 41.
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sentlicher Bestandteil eines bilateralen Verhältnisses verstanden.⁷ Gleichzeitig konzentrieren sich aber die meisten Arbeiten auf die Ebene der Diplomaten und der Minister, so dass die Person des Monarchen in den Hintergrund tritt.⁸ Dabei standen zeitgenössisch selbstverständlich der Monarch mit seiner Ehefrau sowie seiner Familie im Zentrum und an der Spitze des Hofes und der Regierung. Jeder Reisende, ob nun im Rahmen einer Grand Tour, als Diplomat oder Kaufmann, sollte deshalb, noch vor den Stärken und Schwächen, Gesetzen und Sitten eines Landes genau beobachten, wie der Monarch sich in Regierungsangelegenheiten und an seinem Hof verhalte.⁹ Gefragt werden sollte, ob er weise regiere und wie seine Einstellung zu Krieg und Frieden, in wirtschaftlichen Fragen sowie gegenüber seinem Volk und seinen Nachbarn sei. Gleichzeitig sollten aber auch die Person des Monarchen selbst, „[h]is disposition, studies, and exercises of 1. Body. 2. Mind“ und seine Beziehungen zu Favoriten analysiert werden.¹⁰ Zu den bekanntesten Beobachtern des Paares am Kaiserhof, hauptsächlich in Wien, teilweise aber auch in den Residenzen der Umgebung, gehörte um 1716 eine englische Diplomatengattin auf dem Weg nach Istanbul, Lady Mary Montagu.¹¹ Sie berichtete regelmäßig in Briefen an Verwandte und Freunde in Großbritannien von ihren Beobachtungen und Begegnungen. Vor allem im Kontext der sogenannten Türkischen Briefe sind die Berichte Lady Marys Grundlage umfangreicher Forschungen in Orientalistik, Genderstudien, Religions-, Kultur- und Literaturwissenschaften.¹² Erstaunlicherweise ist der sehr anschauliche Bericht über
Vgl. grundlegend Michael Rohrschneider/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert. Münster 2007. Maßgeblich wurden diese Forschungen im deutschsprachigen Raum von Christian Windler und Hillard von Thiessen geprägt, vgl. Hillard von Thiessen/Christian Windler (Hrsg.), Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit. Berlin 2005; dies. (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln 2010; Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605 – 1621 in akteurszentrierter Perspektive. Epfendorf/Neckar 2010. William Davison: Most Notable and Excellent Instructions for Trauellers, in: Robert Essex, Earl of Essex/Sir Philip Sidney/William Davison, Profitable Instructions. Describing what speciall Obseruations are to be taken by Trauellers in all Nations, States and Countries; Pleasant and Profitable. London 1633, S. 1– 24, hier 14. Davison war Diplomat und Sekretär Königin Elisabeths I. Es handelt sich hier zwar um eine Anleitung aus dem 17. Jahrhundert, die aber aufgrund ihrer prominenten Autoren und ihres knappen Umfangs auch ein Jahrhundert später noch relevant war. Davison, Most Notable, S. 14– 15. Robert Halsband (Hrsg.), The Complete Letters of Lady Mary Wortley Montagu. 3 Bde. Oxford 1965 – 1967, hier vor allem Bd. 1, Oxford 1965. Vgl. u. a. Srinivas Aravamudan: Lady Mary Wortley Montagu in the Hammam. Masquerade, Womanliness, and Levantinization, in: Journal of English Literary History 62, 1 (1995), S. 69 – 104;
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Lady Marys Empfang durch die Kaiserin, deren Hofstaat und Tagesablauf aber bisher im Vergleich zu den Briefen aus dem Osmanischen Reich kaum beachtet worden.¹³ Er wird zumeist nur als Anekdote auf dem Weg nach Istanbul erwähnt.¹⁴ Während des ersten Empfangs wurde die Britin im übrigen auch dem Kaiser vorgestellt. In den 1720er Jahren legte François Louis de Pesme, Seigneur de SaintSaphorin (1668 – 1737), ein Schweizer, der in kaiserlichen Diensten gestanden hatte und dann als britischer Resident in Wien fungierte, sehr umfangreiche Berichte über den Hof und seine Mitglieder vor.¹⁵ Diese Berichte wurden nicht nur von seinen direkten Vorgesetzten, unter anderem dem langjährigen britischen Secretary of State, Charles Townshend (1674– 1738), Viscount Townshend, und König Georg I. (1660 – 1727) rezipiert, sondern dienten auch seinen Nachfolgern im diplomatischen Dienst am Kaiserhof als Informationsgrundlage.¹⁶ Damit wurden Saint-Saphorins Ansichten über das Kaiserpaar zur akzeptierten Meinung bei den Zuständigen für die britischen Außenbeziehungen. Aufgrund eines Abbruchs der Beziehungen 1727 gab es keinen direkten Nachfolger des Residenten. Ab 1728 hielt sich dann John Waldegrave (1684– 1741), Baron, später Earl of Waldegrave, als britischer Botschafter am Kaiserhof auf, 1730 wurde er von Sir Thomas Robinson zunächst als bevollmächtigter Gesandter abgelöst. Waldegrave und Robinson waren beide vor Antritt ihres Postens in Wien in Paris, wo sie mehrere Jahre verbrachten. Waldegrave, der zuerst in Mission für Georg I. an den französischen Hof geschickt worden war, blieb dort aufgrund
Jane Shaw: Gender and the ‚Nature’ of Religion. Lady Mary Wortley Monatagu’s Embassy Letters and their Place in Enlightment Philosophy of Religion, in: Bulletin of the John Rylands University Library of Manchester 80, 3 (1998), S. 129 – 145; Teresa Heffernan: Feminism Against the East/West Divide. Lady Mary’s Turkish Embassy Letters, in: Eighteenth-Century Studies 33, 2 (2000), S. 201– 215; Patricia Plummer: „Güzel Sultanum“. Gender und Macht im weiblichen Orientdiskurs. Die Orientreise Lady Mary Wortley Montagus (1716 – 1718), in: Unikate 41 (2012), S. 91– 99. Lady Mary Wortley Montagu an Lady Mar (ihre Schwester), Wien, 25.09.1716, in: Halsband, The Complete Letters 1, S. 265 – 269. Vgl. Plummer, „Güzel Sultanum“, S. 97. Als Ausnahme muss der folgende Beitrag angesehen werden: Sukanya Banerjee: Lady Mary Montagu and the „Bounderies“ of Europe, in: Kristi Siegel (Hrsg.), Gender, Genre, and Identity in Women’s Travel Writing. New York 2004, S. 31– 54, hier bes. S. 43 – 45. Vgl. Theo Gehling: Ein europäischer Diplomat am Kaiserhof zu Wien. François Louis de Pesme, Seigneur de Saint-Saphorin, als englischer Resident am Wiener Hof 1718 – 1727. Bonn 1964. Charles Townshend, Viscount Townshend (Secretary of State) an James Waldegrave, Baron Waldegrave (designierter Botschafter am Kaiserhof), „To your self“, London (Whitehall), 6.11. 1727, TNA, SP 80/62, fol. 83.
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familiärer Verbindungen.¹⁷ Robinson war Botschaftssekretär und damit inhaltlich eng in die britisch-französischen Beziehungen involviert.¹⁸ Für beide war der französische Hof die Folie, vor deren Hintergrund sie die Ereignisse am Kaiserhof bewerteten – beziehungsweise sie genau deshalb nicht einschätzen konnten. Waldegrave kam zu dem Schluss, „[…] what one discovers of the Views of this Court joined to their manner of proceeding is so very unaccountable that it is hardly possible to frame any tolerable Judgments about it.“¹⁹ Robinson schrieb ebenfalls über seine Unfähigkeit, aus den Verhältnissen am Wiener Hof klare Erkenntnisse zu ziehen: „[…] You will have seen all the little judgement I have been able to make of matters. […]“.²⁰ In den Berichten des britischen Diplomaten Waldegrave spielte Elisabeth Christine kaum eine Rolle. Der Witwer hatte wohl nur bei formalen Anlässen – wie seiner Antrittsaudienz – direkten Kontakt mit der Kaiserin, ohne Partnerin konnte er auch kaum Zugang zum weiblichen Teil des Hofes gewinnen. Auch sein Nachfolger Robinson war zunächst unverheiratet und bekam deshalb fast keine Gelegenheit zu Treffen mit Elisabeth Christine. Eine Ausnahme stellen die Audienzen nach dem Abschluss des Zweiten Vertrags von Wien 1731 dar. In Anknüpfung an die neu geschlossene Allianz nahmen die Monarchinnen direkten Briefkontakt miteinander auf; die ersten Briefe Königin Carolines (1683 – 1737) überbrachte Robinson der Kaiserin persönlich. Allerdings beschränkte sich seine Beschreibung des Kontakts an dieser Stelle auf die spezielle Situation.²¹ Nach seiner Heirat 1737 kehrte er mit seiner Ehefrau Frances Worsley (1716 – 1750) nach Wien zurück. Als Diplomatengattin konnte sie im Laufe der Zeit ein vertrautes Verhältnis zu Elisabeth Christine aufbauen, wie noch zu zeigen sein wird. Im Folgenden werden also die Rezeption des Charakters und des Auftretens Karls VI. und Elisabeth Christines ebenso wie die der Ehe des kaiserlichen Arbeitspaares anhand ausgewählter Beispiele beleuchtet. Dabei wird gleichzeitig untersucht, inwieweit die Darstellung der Monarchen von der Position, dem Geschlecht und der Einstellung des Beobachters selbst sowie der jeweiligen Situation beeinflusst wurden.
Vgl. Rex A. Barrell (Hrsg.), The French Correspondence of James, 1st Earl Waldegrave (1684– 1741). Lewiston 1996. Vgl. Philip Laurence Woodfine: Robinson, Thomas, first Baron Grantham (1695 – 1770), in: Oxford Dictionary of National Biography (2007), http://www.oxforddnb.com/view/article/23878 (21.08. 2020). Waldegrave an Townshend, Wien, 24.04.1729, TNA, SP 80/64, fol. 211. Robinson an George Tilson (ca. 1672– 1738; Undersecretary of State), Wien, 01.07.1730, TNA, SP 80/68, o.f. Robinson an Harrington, Wien, 22.07.1731, TNA, SP 80/77, o.f.
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„his Genius is not very extensive“: Karl VI. und die britischen Diplomaten Karl VI. war bekannt dafür, seine eigenen Entscheidungen treffen zu wollen. Robinson beschrieb nach einem Jahr in Wien und zähen Verhandlungen Karls VI. „Genius“ sehr frustriert als „not very extensive“, er halte sich an Kleinigkeiten auf und könne nicht von seinen Vorurteilen abgebracht werden.²² In der Erfahrung der britischen Diplomaten musste so getan werden, als ob der Kaiser alles bis zuletzt verändern könne. Der Grund sei, wie eingangs schon zitiert, dass der Kaiser selbst arbeiten und etwas zu tun haben wolle. „He thinks he made it himself, and in the very Ultimatum, he would still have had something to make, to object, to revise […]“.²³ Um Ergebnisse zu erhalten, hielten die kaiserlichen Minister sich mit Formalia auf, berieten sich in vielfältigen Konferenzen teilweise unter Anwesenheit des Kaisers und verzögerten so insgesamt die Ergebnisse.²⁴ Im Vergleich dazu bewunderte St. Saphorin Karls „[a]ufgeschlossene[n] Geist und klare[n] Verstand“, seinen umfassenden Sachverstand und seine Entschlossenheit.²⁵ Aber auch der Schweizer beklagte die langwierige Art der Verhandlungen, die er darauf zurückführte, dass der Kaiser alles wissen wolle, bevor er eine Entscheidung treffe. An diese wolle er sich dann aber auch langfristig halten.²⁶ Die Vertragstreue galt Karl VI. als hohes Gut, welches auch bei widrigen Umständen nicht aufzugeben sei, wie schon St. Saphorin bemerkte, der Earl of Waldegrave aber auch direkt vom Kaiser gesagt bekam.²⁷ Aufgrund der vielfältigen Aufgaben, die es ihm nicht erlaubten, sich in Einzelheiten einzuarbeiten, lasse er sich aber häufig von den Standpunkten seiner Minister leiten. Wenn sie gegensätzliche Meinungen vertraten, konnte es sein, dass Karl VI. im Nachgang Entscheidungen bereute oder zurücknehmen wollte. Gleichzeitig führte dieses Verhalten dazu, dass der Kaiser seinen Ministern nicht vertraute.²⁸ Um 1720, als St. Saphorin diese Einschätzungen über den Charakter des Kaisers nach London schrieb, war dieses Misstrauen gegenüber den meisten
19. 19.
Robinson an Harrington, „private and particular“, Wien, 20.03.1731, TNA, SP 80/73, fol. 18v– Robinson an Harrington, „private and particular“, Wien, 20.03.1731, TNA, SP 80/73, fol. 18v. Robinson an Harrington, „private and particular“, Wien, 20.03.1731, TNA, SP 80/73, fol. 18v– Gehling, Diplomat, S. 51. Ebd., S. 51. Ebd., S. 51; Waldegrave an Townshend, Wien, 13.01.1730, TNA, SP 80/66, fol. 47. Gehling, Diplomat, S. 51– 52.
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seiner hochadeligen Berater wohl auch auf verschiedene Hofintrigen zurückzuführen, in die fast alle Minister verwickelt waren.²⁹ Gleichzeitig verfolgten Hochadelige immer auch eigene Pläne, nämlich ihre Familien und Netzwerke zu fördern, was denen des Kaisers zuwider laufen konnte. Einzig sein engster Vertrauter Johann Michael Graf Althann (1679 – 1722) entging dem kaiserlichen Misstrauen, da er als persönlicher Freund und nicht als hochrangiges Regierungsmitglied Ratschläge erteilte.³⁰ Nach dem Tod Althanns gab es einen solch engen Freund nicht mehr – erst um 1730 übernahm der Sekretär des Kaisers, Johann Christoph Bartenstein (1689 – 1767), die Rolle des vertrauten Beraters, der aufgrund seiner nicht-adeligen Herkunft auch keine Ambitionen, die nicht auf seiner Beziehung zum Kaiser basierten, verfolgen konnte.³¹ Bis Karl VI. Entscheidungen traf, dauerte es also teilweise lange; laut Aussage verschiedener britischer Gesandten lag das an der Persönlichkeit des Kaisers, die in solchen Fällen bis zur Entscheidungslosigkeit führen konnte. Robinson führte deshalb unter anderem die lange Dauer der Aushandlung für den zweiten Vertrag von Wien auf den Charakter des Kaisers zurück. Gleichzeitig trug aber auch die schwerfällige kaiserliche Regierung mit ihren überlagerten Zuständigkeiten zu Verzögerungen bei. Diese Langsamkeit – ob in der Verantwortung des Kaisers oder seiner Räte und Kanzleien – wurde nämlich wohl auch bewusst als Entschuldigung eingesetzt.³² Die Auftritte Karls VI. wurden von den Briten als „very formal“ beschrieben. In der Forschung wird immer wieder auf die bewusste Distanzierung des Kaisers durch das Zeremoniell verwiesen.³³ Neben dem Zeremoniell, das den Rang des Kaisers zum Beispiel durch räumlichen Abstand und Höhenunterschiede bei Sitzgelegenheiten betonte, unterstrich auch das persönliche Auftreten des Kaisers diese Einschätzung. Lady Montagu bemerkte nach einem Empfang bei der Kaiserin, zu dem der Kaiser kurzfristig hinzukam, dass er nur mit ihr – wohl als Diplomatengattin – sehr zuvorkommend, nicht aber mit den anwesenden Hofdamen gesprochen habe. Der ganze Besuch sei ansonsten „with a Gravity and air
Ebd., S. 82– 115. Siehe zur Rolle Althanns Charlotte Backerra: Intime Beziehungen Kaiser Karls VI. in Historiographie und überlieferten Quellen, in: Christian Mühling/Norman Domeier (Hrsg.), Homosexualität am Hof. Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis heute. Frankfurt 2020, S. 53 – 75. Backerra, Wien und London, S. 186. Waldegrave an Townshend, Wien, 05.05.1728, TNA, SP 80/62, fol. 160. Vgl. u. a. Franz-Stefan Seitschek: Hof, Hofgesellschaft, Zeremoniell, in: ders./Herbert Hutterer/ Gerald Theimer (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI. (1711– 1740). Spuren der Herrschaft des „letzten“ Habsburgers. Begleitband zur Ausstellung des Österreichischen Staatsarchivs. Wien 2011, S. 58 – 62, hier 61.
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of ceremony“ vonstatten gegangen.³⁴ Besonders groß empfand diese Distanz zunächst Waldegrave, der nach seiner Ankunft zwar eine weniger formelle Antrittsaudienz in Laxenburg erlebte, aber bis auf die üblichen Antworten und Verbeugungen zunächst keinen weiteren Kontakt zum Kaiserpaar hatte.³⁵ Diese Einschätzung war 1728 allerdings wohl im gespannten Verhältnis zwischen den Höfen in Wien und London begründet, das sich im Verlaufe des nächsten Jahres sogar noch verschlechterte. Nach der Bekanntgabe des Vertrags von Sevilla 1729, im Zuge dessen Karl VI. von den anderen europäischen Mächten sogar militärisch zum Nachgeben gezwungen werden sollte, wurden alle Gespräche über eine habsburgisch-britische Verständigung unterbrochen.³⁶ Bei Audienzen mit Diplomaten trugen auch die Ansprachen des Kaisers zur inhaltlichen Distanzierung bei. Seine Aussprache konnte dann so schnell, und gleichzeitig so ungenau sein, dass es etwa Robinson nach seiner Antrittsaudienz im Sommer 1730 unmöglich war, wiederzugeben, mit welchen Worten oder Inhalten Karl VI. auf die britische Anrede geantwortet habe.³⁷ Es wurde teilweise vermutet, er mache das, um im Anschluss nicht auf bestimmte Formulierungen festgelegt zu werden.³⁸ Als der neue Gesandte dies berichtete, war man sich zwar in Wien und London darüber einig, dass das angespannte Verhältnis, das sich seit Ende des vorhergehenden Jahres nicht wirklich verbessert hatte, kein Dauerzustand sein dürfe.³⁹ Aber noch war nicht geklärt, wie die unterschiedlichen Ansichten zusammengebracht werden konnten. Während Georg II. als König und Kurfürst einen Vertrag mit dem Kaiser wollte, der auch Forderungen, die das Kurfürstentum Hannover betrafen, beinhaltete⁴⁰, lehnte Karl VI. dies ab, da es das Lehnsverhältnis zum König als Kurfürsten nicht zuließe, eine ebenbürtige Über-
Lady Montagu an Lady Mar, Wien, 14.09.1716 (a. S.), in: Halsband, The Complete Letters 1, S. 266. Waldegrave an Tilson, chiffriert, Wien, 16.10.1728, TNA, SP 80/63, fol. 162v. Waldegrave an Townshend, chiffriert, Wien, 17.12.1729, TNA, SP 80/65, fol. 295v. Robinsons Bericht über die Antrittsaudienz bei Karl VI. 1730, Robinson an Thomas PelhamHolles, Duke of Newcastle upon Tyne (Secretary of State), Wien, 24.06.1730, TNA, SP 80/68, o.f. Waldegrave äußerte sich im Übrigen nicht zu Verständigungsschwierigkeiten. Matthias Schnettger: Auf dem Weg zur Bedeutungslosigkeit? Die Rolle der Italiener und des Italienischen in der frühneuzeitlichen Diplomatie, in: Martin Espenhorst (Hrsg.), Frieden durch Sprache? Studien zum kommunikativen Umgang mit Konflikten und Konfliktlösungen. Göttingen 2012, S. 25 – 60, hier 42. Vgl. die Vollmachten und Anweisungen bezüglich dieser Verhandlungen, Karl VI. an Kinsky, Vollmacht,Wien, 16.03.1730, ÖStA, AVA, FA Kinsky 55.1, b), o.f.; Harrington an Robinson,Windsor Castle, 25.09.1730, TNA, SP 80/68, o.f. Harrington an Robinson, Windsor Castle, 25.09.1730, TNA, SP 80/68, o.f.
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einkunft für die deutschen Territorien des Monarchen zu treffen.⁴¹ Auch wenn es also wahrscheinlich nicht so direkt intendiert war, zeigte der Tonfall die grundsätzliche Bereitschaft zur Verständigung, während die unverständliche Aussprache die bestehenden Differenzen widerspiegelte.
„that Grace so natural to her“: Elisabeth Christine, Diplomaten und Lady Mary Montagu Der britische Gesandte Sir Thomas Robinson schrieb nur äußerst selten mehr als rein informativ über seine Audienzen bei der Kaiserin. Im Zusammenhang mit der oben erwähnten Korrespondenz zwischen Elisabeth Christine und ihrer angeheirateten Verwandten, Königin Caroline, äußerte er aber zumindest am Rande, wie sich die Kaiserin ausdrückte. Nach einer Inhaltsangabe ihrer Auslassungen, in denen die dynastischen und privaten Verflechtungen der beiden Herrscherhäuser ebenso wie das neue politische Bündnis betont wurden, stellte der britische Gesandte fest, sein Bericht der Audienz sei unzureichend, um wiederzugeben, was die Kaiserin „in the most obliging and affable terms imaginable“ geäußert habe.⁴² Die Kaiserin und die Königin tauschten auch Geschenke aus, die in der britischen Presse zum Beispiel als „a good Parcel of rich Needlework Handkerchiefs, as a Present from the Empress to her Majesty“⁴³ beschrieben wurden. Der gesamte Briefwechsel beruhte auf dem persönlichen Wunsch beider Monarchinnen, die Wiederannäherung aus dynastischer Sicht zu unterstützen.⁴⁴ In diesem Zusammenhang überrascht also das äußerst zuvorkommende und freundliche Auftreten Elisabeth Christines nicht. Allerdings deckt es sich mit anderen britischen Berichten. Unter diesen stechen die rein privaten Briefe von Robinsons Frau an ihre Schwägerin in England hervor, von denen nur eine Handvoll überliefert sind. In ihnen schreibt sie von der hilfsbereiten Art und der
Karl VI. an Georg II. als Kurfü rst von Braunschweig-Lü neburg, Handschreiben, Wien, 24.04. 1731, Nieders. LAr, HStA H, Hann. 10, Nr. 170.2, o.f. Letztlich einigte man sich auf ein Versicherungsdekret, das der Kaiser wie einen Vertrag ansehen wollte, Karl VI., Versicherungsdekret zugunsten König Georgs II. von Großbritannien, Kurfürsten von Hannover,Wien, 24.04.1731, HStA H, Hann. 10, Nr. 170.1, o.f. Robinson an Harrington, Wien, 22.07.1731, TNA, SP 80/77, o.f. The Monthly Intelligencer, February 1733, in: The Gentleman’s Magazine 3 (1733), S. 97. Robinson an Harrington, „private“, Wien, 16.06.1731, TNA, SP 80/75, o.f.
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Liebenswürdigkeit der Kaiserin, die ihr, die frisch verheiratet aus England nach Wien gezogen war, den Anfang in Wien erleichterte.⁴⁵ Der Briefkontakt zwischen Kaiserin Elisabeth Christine und König Caroline blieb erhalten, auch nachdem die außenpolitischen Beziehungen sich Mitte der 1730er Jahre wieder verschlechtert hatten. Mit Verweis auf innenpolitische Probleme verweigerte Georg II. als König und Kurfürst zunächst entgegen des 1731 abgeschlossenen Vertrags, militärisch auf Seiten des Kaisers in den Polnischen Thronfolgekrieg einzugreifen. Neben finanziellen Mitteln, die als Kredit über die Bank of England als Unterstützung zugesagt wurden, traten die kurfürstlichen Truppen erst nach weiteren kaiserlichen Zugeständnissen in den Kriegszug ein.⁴⁶ Der Krieg endete nicht, wie vom König und seinen Ministern vorgesehen, durch britisch-niederländische Vermittlung, sondern durch eine französisch-habsburgische Übereinkunft, die Großbritannien auf europäischer Ebene isolierte.⁴⁷ Doch die Monarchinnen hielten ihren Briefkontakt und damit auch die dynastische Verbindung aufrecht, ohne dass das allerdings in der diplomatischen Korrespondenz weiter kommentiert wurde.⁴⁸ Die Beschreibung der „lovely Empresse“⁴⁹ durch Lady Mary Montagu gleicht fast einer Liebeserklärung. Die britische Diplomatengattin wurde von der Kaiserin in Wien empfangen, als sie sich mit ihrem Ehemann auf der Durchreise von London nach Istanbul befand. Im September 1716, als die Montagus sich das erste Mal in Wien aufhielten, war Elisabeth Christine seit inzwischen acht Jahren mit Karl VI. verheiratet. Spätestens nach der Geburt des Thronfolgers hatte sie ihre Stellung als höchstes weibliches Mitglied des Kaiserhofes gegenüber den beiden Frances Worsley (genannt Fanny, Ehefrau Sir Thomas Robinsons) an [Schwägerin], [Wien], 25.03.[1739], WYAS, WYL 5013, Newby Hall Mss. 2824, 22. Auch Maria Theresia verhielt sich gegenüber der Diplomatengattin bemerkenswert großzügig, sie ließ ihre Töchter mit denen Robinsons spielen und schenkte Frances Robinson einen Ring im Wert von £ 600. Frances Worsley an [Schwägerin], [Wien], 7.11.1742, WYAS, WYL 5013, Newby Hall Mss. 2828. Der zeitliche Zusammenhang lässt vermuten, dass sie sich für den Einsatz Robinsons, der für eine britische Beteiligung im Österreichischen Erbfolgekrieg eintrat, erkenntlich zeigen wollte. Kinsky an Karl VI., London, 09.03.1734, ÖStA, HHStA, StAbt, England 70, fol. 23, 42– 50, sowie Kinsky an Prinz Eugen, London, 23.04.1734, ÖStA, HHStA, Gr. Korr. 94b, 1, fol. 246; a.a.O., fol. 268 – 271: die von Kinsky und Hattorf unterzeichnete Konvention für die hannoverschen Truppen, 9./20.04.1734; fol. 273: die Geheim- und Separatartikel; fol. 275 – 276: die Auflistung der vereinbarten Truppen. Backerra, Wien und London, S. 108 – 110. Die Diplomaten erwähnten jeweils nur die Übergabe der Briefe, Robinson an Tilson, Wien, 25.01.1736, TNA, SP 80/120, o.f.; Ignaz Johann Baron Wasner (1688 – 1767; kaiserlicher Gesandter in London seit 1736) an Sinzendorff, London, 18.06.1737, ÖStA, HHStA, StAbt, England 72, o.f. Lady Montagu an Lady Mar, Wien, 14.09.1716 (a. S.), in: Halsband, The Complete Letters 1, S. 265.
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verwitweten Kaiserinnen, ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin, behaupten können. Allerdings war die Thronfolge mit dem frühen Tod des Sohnes erneut ungeklärt. Die körperliche Schönheit der Kaiserin, die von allen Zeitgenossen, allen voran ihrem Ehemann, immer wieder kommentiert wurde, bestätigte auch Lady Mary. Trotz nicht ganz ebenmäßiger Gesichtszüge seien ihre Nase und ihre Stirn schön, ihre Gesichtsfarbe außergewöhnlich frei – gemeint war damit hell –, ihr blondes Haar voll, vor allem aber verzaubere ihr reizender Mund: „When she smiles tis with a beauty and sweetnesse that forces adoration.“⁵⁰ Noch überschwänglicher aber beschrieb die Engländerin die Statur und das Auftreten der Kaiserin, da sogar die Statue der Venus Medici ihr nicht gerecht werde und die zeitgenössischen Vergleiche mit Juno und Venus nicht ausreichten. Vielmehr sah sie in Elisabeth Christine die Verkörperung der Grazien, der Göttinnen der Anmut: „nothing can be added to the beauty of her neck and hands. Till I saw them I did not believe there were any in Nature so perfect; and I was allmost sorry that my rank here did not permit me to kisse them, but they are kiss’d sufficiently, for every body that waits on her pays that homage at their entrance and when they take leave.“⁵¹
Diese außergewöhnliche körperliche Schönheit kombiniert mit Charme und einer sehr umgänglichen Art verknüpft Lady Mary zu einem Bild von weiblicher Vollkommenheit. Die Kaiserin habe sie, trotz ihres niedrigen Status, beim Kartenspiel zu ihrer Rechten gesetzt und „had the Goodnesse to talk to me very much with that Grace so natural to her.“⁵² Das Aussehen und die natürliche Anmut sind in dieser zeittypischen Auffassung unabdingbar verknüpft mit inneren Werten, Liebenswürdigkeit, Hilfsbereitschaft und Güte. Lady Mary Montagu verfolgte mit ihren Berichten von ihrer Reise nach Istanbul unter anderem die Absicht, die negativen Seiten der britischen Gesellschaft mit Idealcharakteren fremder Gesellschaften zu kontrastieren. Dabei vertrat sie dezidiert eine Außensicht⁵³ und beschrieb die von ihr beobachteten Gegebenheiten unter dem Blickwinkel der Ästhetik.⁵⁴ Vor allem Frauen stehen bei Lady Mary im Zentrum, da ihre Sicht auf die weibliche Seite der
Ebd. Ebd., S. 265 – 266. Ebd., S. 266. Elizabeth Warnock Fernea: An Early Ethnographer of Middle Eastern Women. Lady Mary Wortley Montagu (1689 – 1762), in: Journal of Near Eastern Studies 40, 4 (1981) (= Arabic and Islamic Studies in Honour of Nabia Abbott: Part Two), S. 329 – 338. Elizabeth Bohls: Women Travel Writers and the Language of Aesthetics, 1716 – 1818. Cambridge 1995, S. 24– 25.
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Höfe und Städte neu für britische Reiseberichte war.⁵⁵ Dementsprechend waren Männer, und damit auch Karl VI., für sie nicht interessant. Ihre Berichte sollten zunächst handschriftlich in der oberen Gesellschaft in London verbreitet werden, waren aber immer für die posthume Veröffentlichung bestimmt.⁵⁶ Kaiserin Elisabeth Christine wird an dieser Stelle zum Idealbild der innerlich und äußerlich vollkommenen Herrschergattin.⁵⁷
„the humour of Parents“: Karl VI. und Elisabeth Christine als Arbeitspaar In Wien zeigten sich Karl VI. und Elisabeth Christine den professionellen Beobachtern – also den Diplomaten – bei Hof als Paar, das sich wechselseitig in seinen Aufgaben unterstützte. Aus dynastischer Sicht war das Verhältnis des Paares sehr gut, auch wenn die intime Beziehung bis 1713 durch die häufigen Trennungen im Zuge des Spanischen Erbfolgekrieg und darüber hinaus durch die sehr enge Bindung Karls VI. an seinen Freund und Vertrauten, Graf Althann, bis zu dessen Tod 1722 belastet war. Elisabeth Christine hatte schon vor ihrer Heirat durch die Konversion zum katholischen Glauben der Ehe Rückhalt gegeben. Die Veröffentlichung der theologischen Überzeugungen, mit der man ihren Glaubenswechsel unterstützte, löste zwar in der britischen Öffentlichkeit Bestürzung aus⁵⁸; ihre Ankunft in Spanien 1708 wurde dann allerdings von britischer Seite als notwendige Förderung der habsburgischen Ansprüche begrüßt. Der Aufenthalt des Paares als König und Königin von Spanien soll aber an dieser Stelle nicht Thema sein; selbstverständlich wurden auch in der britischen Öffentlichkeit sowohl die Reise nach Spanien als auch der Kampf um das Spanische Erbe insge-
Manuela D’Amore: A Fascinating „Other“. Bodies as Metonyms of „a New World“ in Lady Mary Montagu’s Turkish Embassy Letters, in: GRAAT On-line 5, 1 (2009), http://www.graat.fr/damore.pdf (16.03. 2020), S. 67 – 82, hier 67. Robert Halsband: Introduction, in: ders. (Hrsg.), The Complete Letters 1, S. xvii; Fernea, An Early Ethnographer, S. 337– 338. Im Kontext der Reiseberichte wird die Beschreibung der äußerlichen Schönheit nur noch übertroffen von Montagus Bericht über ihr Treffen mit Fatima, der Ehefrau des Kahya. Lady Mary Montagu an Lady Mar, Adrianopel, 18.04.1717 (a. St.), in: Halsband, The Complete Letters 1, S. 349 – 350. Alexander Schunka: Irenicism and the Challenges of Conversion in the early Eighteenth Century, in: David Luebke/Jared Poley/Daniel Ryan (Hrsg.), Conversion and the Politics of Religion in Early Modern Germany. New York 2012, S. 101– 118, hier 106 – 107.
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samt thematisiert.⁵⁹ 1711 bis 1713, in der Zeit zwischen der Abreise Karls zur Kaiserwahl bis zum Rückzug der habsburgischen Truppen 1713 verblieb Elisabeth Christine als Regentin in Spanien. Als solche korrespondierte sie nicht nur mit den Unterstützern ihres Ehemannes und den Repräsentanten anderer Mächte, sondern unter anderem auch mit dem kommandierenden Admiral der britischen Flotte.⁶⁰ Ab Frühjahr 1713 war das Paar dann wieder in Wien vereint. Die repräsentativen und zeremoniellen Funktionen erfüllten sie wie üblich gemeinsam. Trotz ihrer grundsätzlich als positiv bewerteten Regentschaft in Spanien war die Kaiserin zwar dann aus Sicht zum Beispiel St. Saphorins nicht an politischen Entscheidungen beteiligt. Sie stand laut seiner Aussage aber in engem Kontakt mit den kaiserlichen Ministern – vorrangig versuche sie, zwischen diesen zu vermitteln; allerdings konnte sie dadurch auch Informationspolitik betreiben und Einfluss nehmen.⁶¹ Elisabeth Christine verstand den britischen Residenten St. Saphorin als Mittelsperson, um das Verhältnis zu den britischen Welfen, also Angehörigen ihrer eigenen Dynastie, zu verbessern. Deshalb stand sie über Pius Nikolaus Garelli, den Leibarzt und Bibliothekar des Kaisers, mit St. Saphorin in Verbindung.⁶² Während der Zeit des „kalten Krieges“ Ende der 1720er Jahre zeigten Karl VI. und Elisabeth Christine sich als geschlossene Front gegenüber dem neuen britischen Gesandten Waldegrave. Auch wenn sie mit ihm bei seiner Antrittsaudienz auf Französisch sprachen, was als großes Zugeständnis gewertet wurde, da so kein Dolmetscher benötigt wurde, zeigten weder der Kaiser noch die Kaiserin in den folgenden Monaten irgendein Interesse an Gesprächen mit dem Briten: „They, none of them, enter’d into the least Conversation, but barely answered the Compliment I made them, and nothing further.“⁶³
Im Daily Courant, einer Publikation der Regierung, wurden zum Beispiel die Reise Elisabeth Christines nach Spanien sowie ihr Aufenthalt in Spanien regelmäßig dokumentiert, vgl. z. B. Daily Courant 1964, 04.06.1708, [S. 1– 2]; Daily Courant 3126, 10.09.1711, [S. 1]. Vgl. Sir John Jennings (1664– 1743; Commander-in-chief of the Mediterranian) an William Legge (1672– 1750), Earl of Dartmouth (Secretary of State), HMS Blenheim in Port Spetia (La Spezia), 22.01.1713 (a. St.?), TNA, SP 42/68/107, o.f. Grundsätzlich wurde ihre Arbeit in Spanien positiv bewertet. Zu St. Saphorin und den Beziehungen zwischen Wien und London bis Mitte der 1720er Jahre siehe Gerlinde Körper: Studien zur Biographie Elisabeth Christines von Braunschweig-LüneburgWolfenbüttel. Diss. phil. Wien 1975, S. 358 – 359. Vgl. St. Saphorin an Townshend, Wien, 18.03.1722, TNA, SP 80/46, o.f.; St. Saphorin an Townshend, Wien, 3.11.1723, TNA, SP 80/50, o.f. Waldegrave an Tilson, chiffriert, Wien, 16.10.1728, TNA, SP 80/63, fol. 162, Zitat fol. 162v.
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Elisabeth Christine hielt sich zu diesem Zeitpunkt noch selbst bei Abwesenheit des Kaisers mit politischem Auftreten zurück. So wurde der britische Gesandte Waldegrave von ihr 1728 angewiesen, mit der Übergabe von Briefen Georgs II. an den Kaiser und die Kaiserin auf die Rückkehr des Kaisers zu warten, um sie in der zeremoniellen Reihenfolge erst dem Kaiser und danach der Kaiserin zu übergeben.⁶⁴ Auch die intime Beziehung der Eheleute⁶⁵ blieb den aufmerksamen Beobachtern nicht verborgen, wie eine von Waldegrave berichtete, aber auch durch das Tagebuch Karls VI. bestätigte Anekdote aus dem Jahr 1728 beschreibt. Während einer Reise über Graz nach Triest war der Hof mit der Kaiserin in Graz geblieben. Karl VI. kehrte nachts früher als geplant mit nur wenigen Begleitern zurück. Er überraschte damit die Wachen und auch seine Frau, als er an ihr Schlafzimmerfenster klopfte: „the Empress was […] overjoyed when she found the Emperor.“⁶⁶ Die gemeinsam verbrachte Nacht als Anzeichen der „conjugal affection“ war letztlich ein glücklicher Zufall; im Zimmer des Kaisers fiel im selben Zeitraum ein Stück Putz herab, das den Kaiser hätte verletzen können.⁶⁷ Andererseits wurde die Umdeutung dieses Zufalls als „göttliche Fügung“ von Waldegrave zutiefst abschätzig als weiteres Zeichen des Aberglaubens gewertet, als die er die pietas austriaca, die habsburgischen Ausprägung der katholischen Frömmigkeit, verstand.⁶⁸ In dynastischen Fragen traten die beiden geschlossen auf. Der gezielt angebahnte Briefkontakt Kaiserin Elisabeth Christines mit Königin Caroline zur Unterstützung des dynastischen Bündnisses nach dem Abschluss des Vertrags von Wien 1731 ist oben erläutert worden. Ähnlich übereinstimmend, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, zeigte das Kaiserpaar sich in der Frage der Verheiratung Maria Theresias. Die Pläne, sie mit Franz Stephan von Lothringen zu verheiraten, wurden von beiden gemeinsam getragen, was sich am Umgang des
Waldegrave an Newcastle, Graz, 25.09.1728, TNA, SP 80/63, fol. 136; Waldegrave an Tilson, Graz, 18.09.1728, TNA, SP 80/63, fol. 132v [p.s.]. Die Briefe beinhalteten die Nachricht vom Tod des Herzogs von York, über den man am Kaiserhof zu diesem Zeitpunkt schon informiert war, weswegen die Übergabe wohl auch nicht als dringlich erachtet wurde. Siehe zu den intimen Beziehungen Karls VI. siehe auch Charlotte Backerra: Disregarding Norms: Emperor Charles VI and His Intimate Relationships, in: Royal Studies Journal 6.2 (2019), S. 74– 88, DOI: http://doi.org/10.21039/rsj.206, sowie dies., Beziehungen. Waldegrave an Tilson, Graz, 2.10.1728, TNA, SP 80/63, fol. 148 – 148v. Waldegrave an Tilson, Graz, 2.10.1728, TNA, SP 80/63, fol. 148 – 148v. Waldegrave an Tilson, Graz, 2.10.1728, TNA, SP 80/63, fol. 148v. Vgl. auch zur Gefahr für Protestanten im Einflussgebiet des Kaisers, die unter anderem von britischen Parlamentsmitgliedern gesehen wurde, Jeremy Black: When „Natural Allies“ Fall Out. Anglo-Austrian Relations, 1725 – 1740, in: MÖStA 36 (1983), S. 120 – 149, hier 132.
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Kaiserpaares mit ihm zeigte. In den 1720er Jahren wurde zwar eine Eheschließung zwischen den spanischen Bourbonen und der ältesten Tochter des Kaisers als endgültiger Abschluss des Spanischen Erbfolgekriegs diskutiert und war auch Gegenstand der geheimen Artikel des ersten Vertrags von Wien 1725.⁶⁹ Allerdings lehnte Karl VI. dieses Ehebündnis mit einem Infanten ab und hatte schon 1723 die Absicht gefasst, Maria Theresia mit dem Erbprinzen von Lothringen und Bar zu verheiraten; er wollte das aber in den 1720er Jahren nicht öffentlich kundtun.⁷⁰ Die Kaiserin konnte dagegen den Ministern ihre Ablehnung so deutlich zeigen, dass selbst der britische Gesandte St. Saphorin davon berichtete.⁷¹ Bei der geplanten Eheschließung Maria Theresias stimmte das Ehepaar auch in einer weiteren Angelegenheit als Eltern überein. Beide bestätigten dem britischen Gesandten, dass sich die Hochzeit verzögere, weil ihre älteste Tochter noch nicht geschlechtsreif sei.⁷² Karl VI. und Elisabeth Christine wollten jedoch keine öffentliche Ankündigung machen, bevor Maria Theresia ihre erste Menstruation hatte. Robinson vermerkte verwundert, dass die Habsburger eine vor der Geschlechtsreife geschlossene Ehe als Gefahr für die zukünftige Fruchtbarkeit der Frau ansahen, während in anderen Dynastien das genaue Gegenteil gang und gäbe war.⁷³ Das Kaiserpaar als Eltern ließ sich nicht zu einer offiziellen Verlautbarung drängen; dies entspreche „the humour of Parents“, die in einer so privaten Angelegenheit – „an affair of so Domestick a nature“ – sowohl als Fürsten als auch als Privatpersonen („private Persons“) – nur ihrem eigenen Willen folgten.⁷⁴ Tatsächlich erfolgte die Bekanntgabe der Verlobung kurz vor Weihnachten 1735; die Hochzeit fand am Sonntag vor der Fastenzeit statt und wurde bis Aschermittwoch drei Tage gefeiert.⁷⁵ Aus der privaten Angelegenheit des Ehepaares war die dynastische Politik des Kaiserpaares geworden, der britische Gesandte berichtete ausführlich von der Entstehung des „new House of Austria“.⁷⁶
Grete Mecenseffy: Karls VI. spanische Bündnispolitik 1725 – 1729. Ein Beitrag zur österreichischen Außenpolitik des 18. Jahrhunderts. Innsbruck 1934, S. 31– 36. Vgl. Renate Zedinger: Hochzeit im Brennpunkt der Mächte. Franz Stephan von Lothringen und Erzherzogin Maria Theresia. Wien 1994, S. 40 und 46 – 47. St. Saphorin an Townshend, Wien, 03.03.1725, TNA, SP 80/56, o.f.; St. Saphorin, Relation commune, 11.05.1725, TNA, SP 80/55, o.f. Robinson an Harrington, Wien, 10.03.1732, TNA, SP 80/86, o.f. Robinson an Harrington, Wien, 08.04.1732, TNA, SP 80/87, o.f. Robinson an Harrington, Wien, 08.04.1732, TNA, SP 80/87, o.f. Robinson an Weston, Wien, 17.12.1735, TNA, SP 80/119, fol. 182; Robinson an Harrington, P.S., Wien, 15.02.1736, TNA, SP 80/120, o.f. Robinson an Harrington, „most secret“, Kopie, Wien, 04.01.1736, TNA, SP 80/120, o.f.
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Schluss Die Sicht der britischen Beobachter auf das Kaiserpaar war beeinflusst von ihrer jeweiligen Mission beziehungsweise der Situation, in der sie in Kontakt mit Karl VI. und Elisabeth Christine kamen. Die britischen Gesandten, François Louis de Pesme, Seigneur de Saint-Saphorin, John Waldegrave, Earl of Waldegrave, und Sir Thomas Robinson waren am Wiener Hof, um für den britischen König und seine Minister Informationen zu sammeln, über die Ereignisse am Kaiserhof zu berichten und – vor allem im Falle der letzteren – einen Vertrag auszuhandeln und dessen Umsetzung zu begleiten. Dementsprechend waren ihre Begegnungen mit dem Kaiserpaar vom jeweiligen Stand der britisch-habsburgischen Beziehungen geprägt. Ihre Charakterisierungen des Herrscherpaares spiegelten deren Zustand. In Zeiten von Kooperation und Bündnisschlüssen überwogen höfliche Konversation und zuvorkommende Behandlung. Während herrschender Spannungen und drohender Kriege berichteten die Briten über das kalte und distanzierte Verhalten. So kehrte 1728 nach dem Abbruch der Beziehungen 1727 und der Ausweisung St. Saphorins mit dem Austausch neuer Gesandter zwar Normalität zwischen den Höfen ein, der kalte Empfang Waldegraves zeugte aber von den fortdauernden Diskrepanzen. Im Vergleich dazu waren die Begegnungen Robinsons nach Abschluss des Vertrages sehr positiv. Auf der anderen Seite waren der Charakter und die Persönlichkeit Karls VI. und Elisabeth Christines immer noch klar zu erkennen. Während Karl VI. durch das Zeremoniell, seine Aussprache und sein Auftreten zu fast jedem bei Hof auf Distanz ging, lobten die Berichte Elisabeth Christine für ihr freundliches, hilfsbereites und wohlwollendes Verhalten. Lady Mary Montagu zeichnete in der Kaiserin sogar ein äußerliches und innerliches Idealbild einer Fürstin. Insgesamt bestätigten alle Diplomaten in ihrer Darstellung die Arbeitsteilung zwischen Karl VI. und Elisabeth Christine, ob in Bezug auf die dynastische Politik oder den Umgang mit diplomatischen Vertretern. Die diplomatischen Berichte bestätigen auch die klare Abgrenzung der Geschlechter am Hof, da die unverheirateten Briten nur nach offiziellen Audienzen ausführlicher über die Kaiserin schrieben. Lady Mary Montagus Beschreibung der Kaiserin ist dagegen ein deutliches Beispiel ihrer geschlechtsspezifischen Darstellung von nicht-englischen Verhältnissen.
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„Es wird die Freundschafft hoffentlich nicht in bloßen Complimenten bestehen …“ Die Höfe Kaiser Karls VI. und König Friedrich Wilhelms I. in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung Das Verhältnis zwischen Preußen und der österreichischen Habsburgermonarchie wurde lange Zeit vor allem aus der Perspektive des Paradigmas des preußischösterreichischen Dualismus behandelt, dessen Beginn mit den beiden Thronwechseln in Berlin/Potsdam und Wien 1740 und dem am Ende desselben Jahres erfolgenden Einmarsch preußischer Truppen in die Provinz Schlesien gleichgesetzt wurde.¹ Jedoch findet sich schon in der älteren Literatur zum Teil jene in der jüngeren Forschung mit größerem Nachdruck vertretene Auffassung, wonach es schon lange vor 1740 zu einer zunehmenden Entfremdung im Verhältnis zwischen den beiden Monarchien gekommen war. Neben der ungeklärten Frage des Erbes von Jülich-Berg, die für König Friedrich Wilhelm I. ganz oben auf seiner außenpolitischen Agenda stand, verschärften sich die Beziehungen zwischen Wien und Berlin/Potsdam vor allem im Zusammenhang der zunehmenden Konflikte am Reichshofrat² und auf dem Feld der Konfessionspolitik.³ Darüber konnte auch die
Auf der im September 2019 in Rostock ausgerichteten Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands wurde dieses Thema in der Sektion „Die preußisch-österreichische Konkurrenz im 18. Jahrhundert“ erneut aufgegriffen und aus erweiterten Perspektiven diskutiert. Vgl. hierzu vor allem die Studien von Tobias Schenk: Reichsjustiz im Spannungsverhältnis von oberstrichterlichem Amt und österreichischen Hausmachtinteressen. Der Reichshofrat und der Konflikt um die Allodifikation der Lehen in Brandenburg-Preußen (1717– 1728), in: Anja AmendTraut/Albrecht Cordes/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution. Berlin/Boston 2013, S. 103 – 219; Ders.: Der Reichshofrat als oberster Lehnshof. Dynastie- und adelsgeschichtliche Implikationen am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: Anette Baumann/Alexander Jendorff (Hrsg.), Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa. München 2014, S. 255 – 294. Vgl. dazu Gabriele Haug-Moritz: Corpus Evangelicorum und deutscher Dualismus, in: Volker Press (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit? München 1995, S. 189 – 207; Jürgen Luh: Zur Konfessionspolitik der Kurfürsten von Brandenburg und Könige in Preußen 1640 bis 1740, in: Horst Lademacher/Renate Loos/Simon Groenveld (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich. München u. a. 2004, S. 306 – 324; Andreas Kalpke: „Weitläufigkeiten“ und „Bedenklichkeiten“ – Die Behandlung konfessioneller Konflikte am Corpus Evangelicorum, in: ZHF 35 (2008), S. 405 – 447. https://doi.org/10.1515/9783110670561-005
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auf dem Felde der europäischen Mächtepolitik seit 1726/28 durch den Preußenkönig gefällte Entscheidung kaum hinwegtäuschen, wieder auf die Seite des Kaisers und Russlands zu treten und damit die kurzzeitige Liason mit den beiden westeuropäischen Großmächten (Herrenhausener Vertrag von 1725) zu beenden. Vor diesem Hintergrund wurde das preußisch-österreichische Verhältnis in den Jahren zwischen 1725/26 und dem Wiener Vertrag von 1731 mitunter gar als „freundschaftlich“ charakterisiert.⁴ Nun weiß man allerdings, dass solche Parteinahmen oft aus pragmatischem Kalkül erfolgten – die Idee der „Staatsräson“ war, wenn man sie auch nicht ständig im Munde führte, allgegenwärtig – und sich mitunter nur einer geringen Halbwertzeit erfreuten. Gerade aus Wiener Sicht schien ja mit der 1728 erfolgten preußischen Zustimmung zur Pragmatischen Sanktion „der Mohr seine Schuldigkeit getan“ zu haben. Zudem konnte die zeitweilig recht isolierte Lage, in der sich Österreich auf dem mächtepolitischen Parkett zwischenzeitlich befunden hatte und die das zeitweilige Zusammengehen mit Preußen so wertvoll erscheinen ließ, durch den erwähnten Vertrag mit Großbritannien 1731 kompensiert werden. Demzufolge kam auch aus diesem Grund dem Bündnis mit dem Preußenkönig nicht mehr derselbe hohe Wert zu wie zuvor. Dennoch sollte nicht unbeachtet bleiben, dass aus der Sicht des zweiten preußischen Königs durchaus auch andere Komponenten bei der Bestimmung seines Verhältnisses zum Hause Habsburg hineinspielten. So zeigte sich Friedrich Wilhelm I. von der Magnifizenz des Kaisertums und des Reiches durchaus tief beeindruckt, ja man wollte bei ihm gar eine „ehrenwerte Anhänglichkeit an die überlieferten Formen des alten Reiches und die Autorität des Kaisers“ gesehen haben.⁵ Die Vermittlung von Kenntnissen über die Geschichte des Reiches gehörte zu den Inhalten der staatenkundlichen Unterweisung des jungen Friedrich Wilhelm. Gerade die als Bestandteil seines Lateinunterrichts betriebene intensive Lektüre der Biographien der antiken römischen Kaiser dürfte die Ehrfurcht des preußischen Kronprinzen vor dem Inhaber der römisch-deutschen Kaiserkrone als dem im Sinne der Translatio-Imperii-Lehre einzig würdigen Rechtsnachfolger der römischen Imperatoren befördert haben. Aufmerksam wird er demzufolge später jene Passagen der Gesandtenberichte zur Kenntnis genommen haben, in denen er über den Kaiser selbst, dessen Familie und das Leben am Wiener Hof informiert wurde. Einen solchen Bericht anlässlich seiner im Januar 1715 statt-
Wanda Kupczyk: Das Verhältnis Österreichs zu Preußen zwischen erstem und zweitem Wiener Frieden. Diss. phil. Wien 1950, S. 147. Ludwig Häusser: Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des deutschen Bundes, Bd. 1. 3. verb. und verm. Aufl., Berlin 1861, S. 45 f.
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gefundenen Audienz bei Karl VI. lieferte zum Beispiel der preußische Gesandte von Cocceji und befand es für mitteilenswert, dass der Kaiser dabei „sehr geschwind und überaus sachte sprachen“, so dass er „wenig oder nichts davon verstehen können“.⁶ Und auch einige Begebenheiten aus den späteren Lebensjahren Friedrich Wilhelms I. bestätigen sein Interesse am Reich und seinen Traditionen. Zwei Stationen seiner im Sommer 1730 absolvierten Reise durch einige süddeutsche Länder bildeten die Reichsstädte Nürnberg und Frankfurt am Main. In Nürnberg besichtigte er die Burg und die St. Egidienkirche, in der seit dem 15. Jahrhundert ein Teil der Reichskleinodien aufbewahrt wurde. Zum Abschluss des Besuches ist laut Nürnberger Quellen dem König und dem ihn begleitenden Kronprinzen „der völlige kayserl. Ornat samt den reliquien gezeigt worden“.⁷ Und in Frankfurt besuchte der König zweieinhalb Wochen später „unter dem Zulauf von Tausenden“ den Römer und „sah dort im Kaisersaal die Goldene Bulle“.⁸ Vor diesem Hintergrund erschien es nachvollziehbar, dass Friedrich Wilhelm I. persönlich sehr an einem Zusammentreffen mit Karl VI. interessiert war. Auch wohl deshalb, um für sich die in seinem Umfeld immer wieder geäußerten Bedenken zu entkräften, dass es der Kaiser nicht ernst mit seinen Zusicherungen in der Jülich-Berg-Frage meine.⁹ Im Sommer 1732 war es dann soweit, als sich in Kladrup und Prag die Gelegenheit eines Treffens ergab. Unter bewusster Reduzierung des ansonsten bei solchen Begegnungen aufgewandten Zeremoniells¹⁰ verliefen diese Tage aus der Perspektive des preußischen Königs harmonisch.¹¹ Nach eigenem Bekunden schien sein Besuch in Prag – „ich habe mein dage nit eine schöner staht gesehen“ – einen sichtlichen Eindruck bei ihm hinterlassen zu
GStA PK, Rep. 1, Nr. 258, Bl. 24 (von Cocceji an Friedrich Wilhelm I., Wien, 09.01.1715). Zit. nach Helmut Eckert: Fürstenreise und Fluchtversuch. König und Kronprinz von Preußen 1730. Sinsheim/Steinsfurt 1982, S. 31. Ebd., S. 71. Vgl. Fritz Ausländer: Friedrich Wilhelms I. Verhältnis zu Österreich vornehmlich im Jahre 1732. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Politik. Diss. phil. Königsberg 1908, S. 28. So hatte man sich zum Beispiel auf eine „Sitzordnung auf gleichen Lehnstühlen“ geeinigt. GStA PK, Brandenburgisch-Preußisches Hausarchiv, Rep. 46, Nr. C 3, unpag. Zugute kam den Planungen, dass – so der den preußischen König begleitende österreichische General und Diplomat Friedrich Heinrich Graf Seckendorff – der Preußenkönig „keineswegs auff die delicatesse des caeremonials, sondern einzig und allein dahin abziele, daß er das glück und die ehre haben möchte mit Euer kay[serliche] May[estät] bekannt zu werden“. Zit. nach: Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie. Horn 2018, S. 371. Mit Blick auf die besonderen Interessen des preußischen Königs hatte man auf seiner Reiseroute durch Schlesien und Böhmen immer wieder Vorführungen von Militäreinheiten organisiert. GStA PK, BPH, Rep. 46, Nr. C 3, unpag.
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haben. Gegenüber dem Fürsten von Anhalt-Dessau bekundete er, „der keiser und die keiserin sein liebhabenwerte leutte“.¹² Hingegen hinterließ dieses Zusammentreffen beim Kaiser einen etwas anderen Eindruck. Laut eines Tagebucheintrages über eine Unterhaltung mit Prinz Eugen, dem Freiherrn von Bartenstein und Graf Seckendorff hätte er den preußischen König als „narr“ bezeichnet, es aber mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass „Preussen wohl zufrid(en)“ sei.¹³ Der nicht nur im Zusammenhang mit dieser Episode mitunter vermittelte Eindruck einer angeblichen außenpolitischen Naivität des preußischen Königs sollte indes nicht überbewertet werden, auch wenn es sich hierbei um einen sehr langlebigen Topos handelt.¹⁴ Vielmehr ließ er es auf diesem politischen Feld nicht an Professionalität mangeln, auch wenn er hier mehr als in anderen Bereichen bereit war, die Expertise seiner Amtsträger in Anspruch zu nehmen.¹⁵ Einschränkend ließe sich zudem darauf verweisen, dass man sich zuweilen ähnlichen Vorhaltungen auch in der Hofburg ausgesetzt sah. „Es wäre leider die Ansicht allzu tief eingewurzelt, daß man ‚mit Unart, Trugen und Pochen’ in Wien alles ausrichten könne“, gab Graf Gundaker Thomas Starhemberg während einer Beratung der Geheimen Konferenz Ende 1729 zu bedenken.¹⁶ Nun stellte die Begegnung zwischen Karl VI. und Friedrich Wilhelm I. gewiss einen Höhepunkt in der Beziehungsgeschichte dar, war aber eben auch singulär. Die „Normalität“, die Alltäglichkeit im Verhältnis beider Monarchien, spiegelte sich indes auf anderen, weniger spektakulären Feldern wider. In Kladrup und Prag hatte man ja bewusst jene ansonsten innerhalb der Hochadelsgesellschaft wirkenden normativen Regeln des Zeremoniells auf einen möglichst geringeren Aufwand reduziert – sicher vor allem auch mit Blick auf entsprechende Affinitäten des preußischen Königs. Dessen ungeachtet kam diesen aber in den Beziehungen zwischen der Hohenzollernmonarchie und dem Kaiser eine genauso wichtige Bedeutung zu wie im Verhältnis zu den anderen europäischen Staaten und deutschen Reichsterritorien. Und damit geraten zwangsläufig die Höfe als die besonders prädestinierten Bühnen für die zeichenhafte Manifestierung zwischenstaatlicher Konkurrenz in den Blick.
Zit. nach Otto Krauske (Bearb.): Die Briefe König Friedrich Wilhelms I. an den Fürsten Leopold zu Anhalt-Dessau 1704– 1740. Berlin 1905, S. 499. Zit. nach Seitschek, Tagebücher, S. 371. So soll zum Beispiel ein britischer Gesandter die Meinung vertreten haben, man könne den preußischen König auf dem diplomatischen Parkett „wie einen Dantzbärn“ herumführen. Manfred Naumann: Österreich, England und das Reich 1719 – 1732. Berlin 1936, S. 85. Zur Bewertung seiner Außenpolitik vgl. jetzt Frank Göse: Friedrich Wilhelm I. Die vielen Gesichter des Soldatenkönigs. Darmstadt 2020, S. 306 – 371. Zit. nach Adolf Beer: Zur Geschichte der Politik Karls VI., in: HZ 55 (1886), S. 1– 70, hier 60.
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Zwar firmierte die Geschichte der Mächtepolitik bzw. der Diplomatiegeschichte lange Zeit als „Königsdisziplin“ der historischen Zunft, geriet dann aber im Zusammenhang mit Vorwürfen einer Theorieabstinenz und eines methodischen Konservatismus für längere Zeit auf ein Nebengleis.¹⁷ In den letzten beiden Jahrzehnten erfreut sich diese geschichtswissenschaftliche Teildisziplin aber wieder einer größeren Aufmerksamkeit, vor allem vor dem Hintergrund einer „politischen Kulturgeschichte“, die sowohl in stärkerem Maße als vordem das auf symbolische Zeichenhaftigkeit angelegte höfische System als auch die Akteure der politisch-höfischen Führungsgruppen in ihrer Differenziertheit in den Blick nimmt.¹⁸ In gleichem Maße ist die „konstitutive Bedeutung zeremonieller Verhaltensformen für die frühneuzeitliche Gesellschaft“ als „ernstzunehmender Forschungsgegenstand“ anerkannt worden.¹⁹ Auch wenn man angesichts des in mehrfacher Hinsicht unstrittig hohen Ranges des Kaisers die Bedeutung seines Hofes für eine Analyse der zwischenstaatlichen Beziehungen kaum wird wortreich begründen müssen, erscheint dies für den preußischen Fall nicht ganz so selbstverständlich. Schließlich wurde der scheinbar „unhöfische“ und „zeremoniellfeindliche“ Impetus König Friedrich Wilhelms I. immer wieder betont – Zuweisungen, die durch die jüngere Forschung erheblich korrigiert werden konnten.²⁰ Zunächst werden im Folgenden die strukturellen und personellen Rahmenbedingungen der beiden Höfe bzw. Hofgesellschaften knapp vorgestellt. Gefragt wird daran anschließend nach der gegenseitigen Wahrnehmung des Wiener Hofes aus preußischer und des Berliner Hofes aus kaiserlicher Sicht.
Vgl. Michael Hochedlinger: Die Frühneuzeitforschung und die „Geschichte der internationalen Beziehungen“. Oder: Was ist aus dem „Primat der Außenpolitik“ geworden?, in: MIÖG 106 (1998), S. 167– 179. Vgl. hierzu nur Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, in: ZHF 27 (2000), S. 389 – 405; dies.: Des Kaisers alte Kleider.Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. Mark Hengerer: Die Zeremonialprotokolle und weitere Quellen zum Zeremoniell des Kaiserhofes im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch (MIÖG Erg.-Bd. 44). Wien/München 2004, S. 76 – 93, hier 77. Vgl. hierzu insbesondere die jüngst an der Universität Potsdam eingereichte Dissertation von Elisabeth Ruffert: Das Gesandtschaftszeremoniell am preußischen Hof um 1700. Potsdam 2019; der auch die folgenden Ausführungen einige Anregungen verdanken. Des Weiteren vgl. dazu Wolfgang Neugebauer: Hof und politisches System in Brandenburg-Preußen. Das 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 46 (2000), S. 139 – 169.
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Die Höfe Auch vor dem Hintergrund der in der modernen Forschung verankerten Einsicht über eine Vielzahl von Bedeutungsfeldern und Funktionen der Institution „Hof“ kam dem Kaiserhof im Reich eine unangefochtene Spitzenstellung zu.²¹ Dieser war allein schon von seiner Größe – bis zu 2 000 Personen zählte man zur Hofgesellschaft – nur bedingt vergleichbar mit anderen Fürstenresidenzen, so auch mit seinem Berliner Pendant, wo selbst zum Zeitpunkt der größten Ausweitung unter dem ersten König kaum die Grenze von 1 000 Personen überschritten wurde.²² Die obersten Hofämter hatten sich in einem längeren Prozess herausgebil²³ det. Bei der Abgrenzung zwischen politischen und höfischen Chargen handelte es sich um eine an allen Höfen zu beobachtende Entwicklung. Man hätte demzufolge zu unterscheiden zwischen einem Hofstaat im engeren Sinne, der mit der persönlichen Betreuung des Monarchen und seiner Familie betraut war und einer in den höchsten Verwaltungsinstitutionen agierenden Gruppe. Allerdings ist eine solche klare Trennung nicht in jedem Fall vorzunehmen. Auch über sogenannte „Hofehrenämter“, wie etwa das eines Kämmerers oder Geheimen Rates erhöhten sich die Chancen für ambitionierte Adelige, „eine Rangposition innerhalb der kaiserlichen Hofgesellschaft mit der Möglichkeit zur Teilnahme an kaiserlichen Hofveranstaltungen und das Recht auf ungehinderten Zugang zum Kaiser“ zu erwerben.²⁴
Vgl. zu diesem Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. Darmstadt 2003; komprimiert dazu auch Stefan Seitschek: Hof, Hofgesellschaft, Zeremoniell, in: ders./Herbert Hutterer/Gerald Theimer (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI. (1711– 1740). Spuren der Herrschaft des „letzten“ Habsburgers, hrsg. von der Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs. Wien 2011, S. 58 – 62. Vgl. Irmgard Pangerl: Der Wiener Hof – die Hofstaaten der kaiserlichen Familie und die obersten Hofämter, in: Seitschek/Hutterer/Theimer (Hrsg.), Karl VI., S. 80 – 93, hier 80; komparativ vgl. dazu auch Jeroen Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europe‘s Dynastic Rivals, 1550 – 1780. Cambridge 2003; ders.: Wien – Versailles – Berlin. Fragen zum brandenburgischen Hof aus europäischer Perspektive, in: Michael Kaiser/Michael Rohrschneider (Hrsg.), Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640 – 1688) (FBPG, Beiheft 7). Berlin 2005, S. 193 – 212, hier 202– 205; der aber zugleich auf die methodischen Probleme bei der zuverlässigen quantifizierenden Erfassung der zu einem Hof gehörenden Personengruppen aufmerksam macht und die zeitweilig erheblichen Schwankungen der Zahlen betont. Vgl. dazu jüngst die detaillierte Beschreibung bei Pangerl, Wiener Hof. Pečar, Ökonomie, S. 25.
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Im preußischen Fall scheint dagegen die von Wolfgang Neugebauer vertretene These, wonach sich der preußische Hof nach dem Herrscherwechsel von 1713 nach und nach „entpolitisiert“ hätte, für eine solche Scheidung der zunehmend funktional entleerten Hofämter von den mit realen Kompetenzen versehenen Chargen in der obersten Zentralverwaltung zu sprechen.²⁵ Gewiss existieren eine Reihe von Belegen für diese Tendenz, dennoch blieben in den preußischen Residenzen auch nach 1713 personelle Verflechtungen zwischen beiden gesellschaftlichen Bereichen bestehen.²⁶ Im Gegensatz zu anderen Höfen setzte sich die Wiener Hofgesellschaft vor allem aus hochadeligen Mitgliedern zusammen – ein angesichts des Rangvorsprungs des Kaiserhofes kaum zu unterschätzendes Kriterium, das ihn aber gerade von solchen Höfen wie dem brandenburgisch-preußischen abhob. Hier blieb der Anteil von Angehörigen respektabler europäischer Hochadelsfamilien recht begrenzt, trotz entsprechender Bemühungen, die insbesondere der erste preußische König auf diesem Feld unternommen hatte.²⁷ Dagegen war der Kaiserhof „im wesentlichen eine Veranstaltung für den Hochadel der habsburgischen Erblande, des Reiches sowie der ehemaligen und der verbliebenen habsburgischen Herrschaftsgebiete des spanischen Erbes.“²⁸ Angesichts der ansonsten so ostentativ betonten Katholizität der Habsburgerdynastie mag es verwundern, dass dennoch permanent eine starke protestantische Minderheit innerhalb der Wiener Hofgesellschaft präsent war.²⁹ Doch hatte auch dies ihren Nutzen mit Blick auf die auf das gesamte Reich gerichtete Klientelfähigkeit des kaiserlichen Hofes. Des Weiteren wurde mitunter der im Zeichen des preußisch-österreichischen Dualismus scharf gezeichnete Unterschied übersehen, dass der Anteil der Militärs
Wolfgang Neugebauer:Vom höfischen Absolutismus zum fallweisen Prunk. Kontinuitäten und Quantitäten in der Geschichte des preußischen Hofes im 18. Jahrhundert, in: Klaus Malettke/ Chantal Grell (Hrsg.), Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.–18. Jh.). Münster/Hamburg/London 2002, S. 113 – 124, hier 120. Vgl. dazu Frank Göse: Der „unpolitische Hof“? Zum Verhältnis von Hof und Zentralbehörden in friderizianischer Zeit, in: Friederisiko. Friedrich der Große. Die Essays. Hrsg. v. der Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. München 2012, S. 84– 97. Vgl. dazu Peter Bahl: Die Berlin-Potsdamer Hofgesellschaft unter dem Großen Kurfürsten und König Friedrich I. Mit einem prosopographischen Anhang für die Jahre 1688 – 1713, in: Frank Göse (Hrsg.), Im Schatten der Krone. Die Mark Brandenburg um 1700. Potsdam 2002, S. 31– 98, hier 55. Pečar, Ökonomie, S. 33. Vgl. Matthias Schnettger: Ist Wien eine Messe wert? Protestantische Funktionseliten am Kaiserhof im 17. und 18. Jahrhundert, in: Christine Roll/Frank Pohle/Matthias Myrczek (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln/ Weimar/Wien 2010, S. 599 – 634.
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auch innerhalb der politisch-höfischen Führungsgruppe der Habsburgermonarchie im Steigen begriffen war. So hätten zum Beispiel nach Klaus Müller zwischen 1700 und 1740 „10 Militärs ständige diplomatische Vertretungen übernommen“, wobei hier insbesondere der wachsende Einfluss Prinz Eugens auf solche Personalentscheidungen eine Erklärung für diese Entwicklung bot.³⁰ Gleichwohl stellten natürlich in der preußischen Residenz neben der sichtlichen Hervorhebung militärischer Chargen in der modifizierten Hofrangordnung ebenso die Aufwertung der Uniform ein bewusst angewandtes Stilmittel zur Selbstdarstellung des Herrschers dar.³¹ Dieser im Vergleich zum Wiener Hofleben ins Auge fallende Unterschied fand deshalb ebenso Eingang in die Berichte der kaiserlichen Gesandten. Erst im Zuge der theresianischen Reformen kam es auf diesem Feld zu Anpassungsprozessen, so dass auch in der habsburgischen Residenz Hof und Militär für den Adel allmählich zu komplementären Lebensformen avancierten.³² Ein großer Teil der Bediensteten des Wiener Hofes lebte in der Stadt – ein wichtiger Unterschied etwa zu den Verhältnissen in Versailles. Dieses „Zusammenleben auf dem verhältnismäßig engen Raum der Residenzstadt Wien“ bot „vielfältige Möglichkeiten, den Hof aus der Nähe zu beobachten“, konnte sich also dadurch förderlich auf die Informationsbeschaffung durch die Gesandten auswirken.³³ Hier lagen wiederum gewisse Ähnlichkeiten zum preußischen Fall während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I., wenn man etwa die bewusst vom König geförderte (und partiell auch direkt von den Betroffenen geforderte!) Errichtung von Palais’ hoher Amtsträger und Offiziere in Berlin im Blick hat.³⁴ In Potsdam allerdings, wo sich der König am meisten aufhielt, fanden sich kaum
Klaus Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden 1648 – 1740. Bonn 1976, S. 249. Vgl. Peter-Michael Hahn: Dynastische Selbstdarstellung und Militärmacht. Kriegerische Symbolik als höfische Zeichensprache in Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch/Wulf Eckart Voß/Martin Wrede (Hrsg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt. München 2001, S. 115 – 138. Vgl. Michael Hochedlinger: Mars Ennobled. The Ascent of the Military and the Creation of a Military Nobility in Mid-Eighteenth-Century Austria, in: German History, Vol. 17, Nr. 2 (1999), S. 141– 176, hier 151 f. Vgl. Leopold Auer: Der Kaiserhof der frühen Neuzeit in seiner Wirkung auf die Gesellschaft, in: Malettke (Hrsg.), Hofgesellschaft, S. 389 – 396, hier 392 f. Vgl. Göse, Friedrich Wilhelm I., S. 62 f.
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Wohnsitze der politisch-höfischen Führungsgruppe – lediglich die (bürgerlichen) Kabinettssekretäre waren hier zu Hause.³⁵ Bei einer vergleichenden Betrachtung beider Höfe wird man des Weiteren auf die in der Literatur sehr stark betonte Reduzierung der Ausgaben für den preußischen Hof mit Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. stoßen. Ohne solche Beobachtungen in Abrede stellen zu wollen, ist aber relativierend darauf zu verweisen, dass diese einerseits nicht so scharf ausfielen, wie häufig dargestellt und zum anderen hat Friedrich Wilhelm I. im Verlauf der nächsten Regierungsjahre die Ausgaben für den Hofstaat allmählich wieder anwachsen lassen, so dass die in der Literatur immer wieder anzutreffende Behauptung einer radikalen und dauerhaften Reduktion der Hofausgaben dem Quellenbefund nicht standhält.³⁶ Andererseits fallen aber auch gewisse Kontinuitäten ins Gewicht: Wenn wir unseren Blick von Veränderungen im engeren Umfeld des Königs auf die Hof- und Residenzgesellschaft in ihrer Gesamtheit erweitern, hat es die angenommenen Brüche im Zusammenhang mit dem unterstellten antihöfischen Politikstil nicht, zumindest nicht in der kolportierten Weise gegeben. Denn auch ein Friedrich Wilhelm I. konnte „auf einen der politischen Formensprache des 18. Jahrhunderts adäquaten Hof […] nicht verzichten“.³⁷ So sind etwa alle Inhaber der sechs höchsten höfischen Ämter nach 1713 im Amt geblieben – ein im Umfeld des Wiener Thronwechsels von 1711 bemerkenswerter Unterschied. In der Hofburg hatte nämlich Karl VI. unmittelbar nach seiner Wahl zum Kaiser die Inhaber der höfischen Spitzenämter ausgetauscht, während er in der Besetzung der Chargen in den obersten Verwaltungsbehörden mehr Kontinuität walten ließ.³⁸
Der Berliner Hof Im Folgenden soll nunmehr an ausgewählten Beispielen der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise die beiden Höfe aus der Sicht der kaiserlichen bzw. preußischen Gesandten wahrgenommen wurden. Natürlich stehen neben den Gesandtenkorrespondenzen, auf die in dieser Studie vornehmlich zurückgegriffen
Vgl. Wolfgang Neugebauer: Das Preußische Kabinett in Potsdam. Eine verfassungsgeschichtliche Studie zur fürstlichen Zentralsphäre in der Zeit des Absolutismus, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 44 (1993), S. 69 – 115. So zum Beispiel bei Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 83 f. Vgl. dazu abwägend: Neugebauer, Hof, S. 144– 148. Neugebauer, Vom höfischen Absolutismus, S. 118. Vgl. Pečar, Ökonomie, S. 58 f.
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wird, eine ganze Reihe anderer methodischer Ansätze und davon abhängige Quellengruppen zur Verfügung, wie etwa direkte Begegnungen der Hofgesellschaften sowie Reisen von Adeligen.³⁹ Angesichts des bereits knapp angerissenen, teilweise recht drastisch ausfallenden Trouble im Umfeld des preußischen Thronwechsels von 1713 erscheint es nicht überraschend, dass diese Veränderungen auch durch die kaiserlichen Gesandten aufmerksam und teilweise mit Verwunderung zur Kenntnis genommen wurden. Dazu zählten auch gewisse Eigenheiten und Skurrilitäten, die dem kaiserlichen Gesandten von Schönborn-Buchheim vor allem wohl deshalb auffallend erschienen, weil diese so gravierend von dem Gebaren des eigenen Monarchen abstachen.⁴⁰ Jedoch gilt es darauf zu verweisen, dass Friedrich Wilhelm I. angesichts seines aktiver werdenden politischen Engagements schon in den Jahren vor seinem Herrschaftsantritt gewiss kein Unbekannter an den europäischen Höfen war. In den vor 1713 aus Berlin verschickten Berichten der auswärtigen Gesandten wurde des Öfteren auch die Haltung des Kronprinzen zu den damaligen außenpolitischen Konstellationen und Entscheidungen thematisiert, ohne daraus eindeutige Aussagen über seinen künftigen politischen Kurs ableiten zu können.Von daher war es in gewisser Weise verständlich, dass die zunächst auch von anderen Diplomaten geäußerten Befürchtungen über eine aggressiver werdende außenpolitische Strategie Preußens zunächst auch der kaiserliche Gesandte teilte, der nach Wien berichtete, das „Sinnen und Trachten“ Friedrich Wilhelms sei „auf nichts als Haben und Haben und Zusammenbringen großen Geldes und Armeen gerichtet“.⁴¹ In diese eher auf das Anwachsen eines Bedrohungspotentials gerichteten Befürchtungen mischten sich aber bald auch gegenläufige Vermutungen. Gerade weil Friedrich Wilhelm I. eine fast schon emotionale Beziehung zu seiner Armee unterhalte und „recht kindisch darmit umbginge“, sorge man sich
Vgl. dazu Katrin Keller: „Alhier an dem kayserlichen hofe ist wenig newes vorgefallen, welches zu berichten der importanz were …“. Verbindungen zwischen den Residenzen Wien und Dresden im 17. Jahrhundert, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Vorbild – Austausch – Austausch – Konkurrenz. Höfe und Residenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung. Ostfildern 2010, S. 137– 155, hier 139. Als er sich erkundigte, ob der König in Häusern von Handwerkern ginge, wurde ihm von einem Schuster, der für den König arbeitete, geantwortet: „Ja, sein Herr wäre ganz eigen in seinen Sachen und thäte dinge, so man von anderen Potentaten (…) nicht hören würde“. ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten, „Berlin-Berichte“, Nr. 8a, Bl. 14 (Bericht von Schönborn-Buchheim, Berlin 02.05.1713). Zit. nach Carl Hinrichs: Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I., in: ders., Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. Gerhard Oestreich. Berlin 1964, S. 91– 137, hier 135.
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eher darum, dass es ihm künftig unter diesen Umständen schwerfallen werde, von seiner Armee Leute für das Reichskontingent bereitzustellen.⁴² Teils mit Verwunderung, teils mit Bestürzung nahm man wahr, dass der König „alles selbst und allein thun wolte“.⁴³ Dies musste zwangsläufig Auswirkungen auf die Gewinnung von Informationen über außenpolitische Planspiele am Hof haben. Denn zu Recht wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Zugang zum neuen Monarchen durch dessen Gewohnheiten nun sehr erschwert wäre. Die am hiesigen Hofe anwesenden auswärtigen „Ministris“ seien „sehr übel zufrieden, gestalten sie alle klagen, daß sie nicht wüßten, wohin sich recht zu addressiren, sondern daß Sie haubtsächlich bey dem König nicht vorkommen könten, wie sie wünschten, denn Er wäre nicht allein wenig in der Stadt, sondern litte auch nicht, daß man Ihm auf das Landt folgete“.⁴⁴ Der Rückzug des Königs aus dem höfischen Leben Berlins in die bisherige Nebenresidenz Potsdam hat diesen Bedenken noch zusätzliche Nahrung verschafft. Man hat aber auch registriert, dass dieses reduzierte Hofleben partiell durch den Hof der Königin kompensiert werden konnte. So hätte Friedrich Wilhelm I., als er sich im Juni 1727 anschickte, nach Potsdam zu reisen, während seiner Abwesenheit den sich zu dieser Zeit gerade in Berlin aufhaltenden Markgrafen von Brandenburg-Ansbach „zu theilnehmung einiger Ergötzlichkeit bey der von der Königin alltäglich in ihrem Garten Mon bijou genannt, haltende Cour dahier zurückgelassen“.⁴⁵ Gerade weil sich der Zugang zum König nicht als einfach erwies, erschienen Informationen über dessen Aufenthalte in den Jagdgebieten der Berlin-Potsdamer Residenzlandschaft⁴⁶, aber auch detaillierte Kenntnisse über die personellen Konstellationen innerhalb der politisch-höfischen Führungsgruppe als bedeutsam. Dieses Thema bildete in der Tat eines der am häufigsten in den Gesandtenberichten angesprochenen Motive. Der kaiserliche Gesandte von SchönbornBuchheim berichtete am 2. Mai 1713 noch recht zuversichtlich, dass er „in Geheimen und Vertrauen“ Kontakt mit einigen Ministern in Berlin aufgenommen hätte, „worauf mich gewiß verlassen kann“.⁴⁷ Doch wurde bald darauf die Un ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten, „Berlin-Berichte“, Nr. 8a, Bl. 19 (Bericht von Schönborn-Buchheim, Berlin 02.05.1713). Ebd., Bl. 8. Ebd., Bl. 27. ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten „Berlin-Berichte“ Nr. 12 c, Bl. 39 (Bericht Demradts nach Wien, Berlin, 21.06.1727). So wurde etwa am 2. Januar 1725 berichtet, dass der König der Schweinsjagd zu (Groß) Schönebeck beigewohnt und danach die Mittagstafel in Mühlenbeck beim dortigen Amtshauptmann, dem Grafen Finck von Finckenstein eingenommen hätte. ÖStA, HHStA, StAbt, Brandenburgica, Kt. 31, Bl. 2 f. ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten, „Berlin-Berichte“, Nr. 8a, Bl. 8 f.
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übersichtlichkeit der realen Kräfteverhältnisse in den Berichten nach Wien beklagt. Der kaiserliche Gesandte Graf Virmond wusste zum Beispiel am 14. April 1716 nicht mehr aus der preußischen Residenz zu vermelden, als dass sich die „factiones verstärken und vermindern […] je nach den Konvenienzen“.⁴⁸ Auch wenn es ihm gelänge, mit einigen Inhabern führender Chargen Kontakte zu knüpfen, so wie im Falle des Generalkriegskommissars Johann Moritz von Blaspiel oder des Grafen Dohna, so „wisse einer von dem anderen nichts“ und hätten „doch kein vertrauen meiner hochachtung einer von des anderen loyalität“. Hellsichtig hatten die kaiserlichen Diplomaten indes von Beginn an beobachtet, dass Friedrich Wilhelm von Grumbkow innerhalb der preußischen Hofgesellschaft ein besonderes Ansehen genoss, so dass der – natürlich stets gewissen Schwankungen unterliegende – Einfluss dieses Ministers aufmerksam registriert wurde und man ihn deshalb gern als Ansprechpartner wählte.⁴⁹ Zudem galt er als derjenige unter den hohen Amtsträgern und Offizieren im Umfeld Friedrich Wilhelms I., „der den nötigen Mut und die Nerven besaß, dem König entgegenzutreten“.⁵⁰ Ein wichtiger Vorteil Grumbkows bestand ja darin, dass er den König vergleichsweise häufig sehen konnte, schließlich bekleidete er nicht nur Spitzenämter in den zentralen Verwaltungsbehörden, sondern er war zugleich Chef eines vom König hoch angesehenen Regiments und stieg die militärische Karriereleiter letztlich bis zum Rang eines Generalfeldmarschalls hinauf. Dabei war sich Friedrich Wilhelm I. durchaus bewusst, dass von Grumbkow „sich gewöhnlich in allen sachen Verdächtiger Intrigues zu bedienen pflegte“.⁵¹ Deshalb erschien es verständlich, dass sein Auftreten im Umfeld des Königs besonders aufmerksam beobachtet wurde. So hielt der kaiserliche Gesandte Franz Christoph Joseph von Demradt in seinem Bericht vom 14. August 1736 die Erwähnung der Tatsache für besonders wichtig, dass Grumbkow am Vortag von einer Reise nach Ostpreußen zurückgekommen sei und den darauffolgenden Tag genutzt habe, „mit dem König gantz allein zu sprechen“.⁵² Auf Grund der besonderen Bedeutung Grumbkows wurden selbst auf den ersten Blick nebensächlich erscheinende
Zit. nach Anna Berger: Karl VI. und Friedrich Wilhelm I. von Preußen. Vom Konflikt zur Bundespolitik 1716 – 1730. Diss. phil. Wien 1935, S. 45. Auch zum Folgenden. Vgl. zu ihm knapp Bernhard R. Kroener: Friedrich Wilhelm von Grumbkow (1678 – 1739), in: Kurt G. A. Jeserich/Helmut Neuhaus (Hrsg.), Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648 – 1945. Stuttgart 1991, S. 13 – 17. Gerhard Oestreich: Friedrich Wilhelm I. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus. Göttingen u. a. 1977, S. 53. ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten, „Berlin-Berichte“, Nr. 14a, Bl. 1 (Bericht Demradts, Berlin, 29.12.1736). Ebd., Bl. 82.
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Begebenheiten für mitteilenswert gehalten, wenn sich daraus eventuelle Schlussfolgerungen über eine Stärkung oder Schwächung seiner Stellung innerhalb der Berliner politisch-höfischen Elite ableiten ließen. So berichtete der kaiserliche Gesandte 1730 über „eine sehr lange und geheime Unterredung“, die Grumbkow mit dem Minister von Borcke geführt habe, „welches sonsten aus der bekandten, zwischen diesen beiden Ministers fürwaltenden Zweytracht nicht gar offt und selten zu geschehen pfleget“.⁵³ Ein Thema, das vor allem in den ersten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms I. häufig einen Gegenstand in den Gesandtenberichten bildete, waren die veränderten Rahmenbedingungen des Zeremoniells. Verwunderung über die modifizierte Praxis mischte sich mit der daraus folgenden Unsicherheit über das passende Agieren auf dem höfischen Parkett. So wurde in einigen Berichten der kaiserlichen Gesandten unmittelbar nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. betont, der neue Monarch könne „keine Ceremonien und lange audienzen, auch keine anticammeren oder aufwartungen bey Hoff leiden“.⁵⁴ Und anlässlich des Jahreswechsels 1730/31 informierte man darüber, dass sich der König nach Potsdam begeben wolle, „um denen sonsten üblichen Neu-Jahres-Complimenten auszuweichen“.⁵⁵ Auch so manche Marotten wurden genüsslich kolportiert, so etwa die 1721 vorgebrachte Beschwerde des kaiserlichen Gesandten am preußischen Hof, der aufgrund des lauten Trommelns während der Parade weder vom König verstanden wurde noch dessen an ihn gerichtete Worte vernehmen konnte.⁵⁶ Dieses zeitweilige Hinwegsetzen des Monarchen über höfisch-zeremonielle Normen ging mitunter soweit, dass seine eigenen verantwortlichen Amtsträger in der preußischen Residenz glaubten, sich um Schadensbegrenzung bemühen zu müssen. Als etwa Friedrich Wilhelm I. 1716 bei der Audienz des kaiserlichen Envoyés überaus großzügig mit Ehrenbezeugungen gewesen und damit vom bisherigen Zeremoniell abgewichen war, wurde angeregt, man solle öffentlich erklären, dass Friedrich Wilhelm I.: „Stiefletten angehabt, so daß Er dadurch genug bezeuget, daß Er solche Audientz, nur für eine Privat und ohne Ceremonie gegebene Audientz gehalten.“⁵⁷
ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten „Berlin-Berichte“ Nr. 12 d, Bl. 30 (Bericht Demradts, Berlin, 12.11.1730). ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten, „Berlin-Berichte“, Nr. 8a, Bl. 27 (Bericht von Schönborn-Buchheim, Berlin, 02.05.1713). ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten „Berlin-Berichte“ Nr. 12 d, Bl. 1 (Bericht Demradts, Berlin, 31.12.1730). Vgl. Ruffert, Gesandtschaftszeremoniell, S. 392. Johann von Besser: Schriften, Bd. 3: Ceremonial-Acta, hrsg. v. Peter-Michael Hahn/Knut Kiesant. Heidelberg 2009, S. 566.
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Doch entgegen mancher Erwartungen unterzog Friedrich Wilhelm I. das brandenburgisch-preußische Gesandtschaftszeremoniell nach seinem Regierungsantritt eben keiner grundlegenden Reform. Solche, an den anderen Höfen rasch bekanntwerdenden Veränderungen hätten ja für das noch junge Königreich Preußen, das noch lange um Anerkennung ringen musste, durchaus unliebsame Konsequenzen nach sich ziehen können. Wohl aber hoffte man mit dem neuen preußischen Regenten, dem man auf diesem Terrain ein höheres Maß an Pragmatismus unterstellte, eher zu einem gewissen Engagement zu kommen. Da es im Zusammenhang mit der Einführung des königlichen Gesandtschaftszeremoniells am Berliner Hof zu Irritationen mit dem Kaiser gekommen war, der sich weigerte, einen mit dem Charakter eines Envoyés versehenen Gesandten nach Berlin zu entsenden, hoffte man auf das Entgegenkommen des neuen preußischen Königs. Dieser gewährte dann in der Tat im Jahre 1716 dem ersten offiziellen kaiserlichen Envoyé, der nach langer Zeit wieder in der brandenburgisch-preußischen Residenz ankam, jene Ehrenvorzüge, wie sie bis in die letzten Jahre des Kurfürsten Friedrich Wilhelm üblich gewesen waren.⁵⁸ Leicht fiel dem preußischen König dieses Zugeständnis wahrlich nicht, wie er seinen Gesandten in Wien wissen ließ: So erwarte der derzeit in Berlin anwesende kaiserliche Minister Graf Virmond, dass „Wir Ihm eine solenne offentliche Audientz geben möchten. Ob Wir nun gleich mit dergleichen Ceremonialien ungern fatigiret seyn, auch sonst sich allerhand considerationes bey diesem […] Begehren gefunden“, zeige er sich aber nunmehr bereit zu dieser Audienz. Friedrich Wilhelm I. erinnerte aber in diesem Zusammenhang an die „Difficultät, welche Unser höchstseel. Herr Vatter wegen der gleichen Audientzien und der reception der Kayserl. Ministrorum an Ihrem Hoffe mit dem Kayser gehabt“ hätte.⁵⁹ Diese gewährte Audienz wurde wiederum durch Karl VI. sehr wohlwollend wahrgenommen, worüber der preußische Gesandte Ernst Metternich – darüber informiert durch den Reichsvizekanzler von Schönborn – sofort nach Berlin berichtete: Der Kaiser würde, hier offenbar auf die Affinität seines preußischen Standesgenossen für die mit dem Kaisertum in Verbindung stehenden Traditionen, daraus urteilen, „daß eines der vornehmsten Kleinodien in Ihrer [also der preußischen Königs‐] Crone wäre, daß Sie, wie seine Worte gewesen, communication mit einem Römischen Kayser hätten“.⁶⁰ Auch in anderen Berichten der kaiserlichen Gesandten wurden Belege dafür beigebracht, dass sich der preußische König sehr wohl um Details bei der Vorbereitung solenner Begebenheiten kümmerte. So ließ es sich Friedrich Wilhelm I.
Vgl. Ruffert, Gesandtschaftszeremoniell, S. 339. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 265, unpag. (Friedrich Wilhelm I. an Metternich, Berlin, 11.02.1716). Ebd. (Metternich an Friedrich Wilhelm I., Wien, 07.03.1716).
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im April 1728 nicht nehmen, persönlich die für den Besuch des polnischen Königs Augusts II. („des Starken“) vorbereiteten Zimmer im Berliner Stadtschloss zu besichtigen.⁶¹ Vor allem im Umfeld des angesichts des zeitweise konfliktiven Verhältnisses zwischen Berlin und Wien immer wieder erforderlichen Krisenmanagements sollten die Gesandten solide Informationen über die Stimmungslage an ihrem Gasthof liefern, wie zum Beispiel 1721 im Zuge der vom Kaiser bewirkten Abberufung des preußischen Gesandten Kannegießer aus Wien auf Grund eines als ehrverletzend empfundenen Schreibens des preußischen Königs an den Reichsvizekanzler von Schönborn.⁶² Der darüber sichtlich aufgebrachte Friedrich Wilhelm I. ordnete scharfe Gegenmaßnahmen an, die zur immer weiteren Eskalation führte. Der kaiserliche Gesandte Vossius bemühte sich um Kontakte zu jenen Angehörigen der politisch-höfischen Führungsgruppe in Berlin, von denen er annahm, dass sie auf den König einen mäßigenden Einfluss auszuüben vermochten. Sie hätten zwar auf Friedrich Wilhelm I. eingewirkt, „umb die Sache nicht zur Weitläufigkeit kommen zu lassen“. Jedoch sei der König „in seiner Retirade mit Offiziers umgeben, die er bei Vorfallenheiten umb Rat zu fragen pflegete, und weilen dieselben weder commercium rerum et causarum inne hätten, noch die Folgen solcher Dinge considerirten, so fiele den auch der Rat mehrenteils so aus, daß er besser sein könne“.⁶³ Und auch Beurteilungen der Persönlichkeit des preußischen Monarchen selbst fanden immer wieder Eingang in die Berichte nach Wien. Dies schloss aus nachvollziehbaren Gründen Meldungen über die sich seit dem Ende der 1720er Jahre verschlechternde Gesundheit des Königs ein, schließlich hingen davon künftige außenpolitische Pläne ab. Zwar fanden sich mitunter auch solche bedenklichen Äußerungen über den Gemütszustand des Königs, so zum Beispiel, dass sich „seine natürliche zur Melancholie sich äußernde Neigung mehr als sonsten“ zeige.⁶⁴ Allerdings gingen diese nicht so weit wie die Beurteilungen des
ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten „Berlin-Berichte“ Nr. 12 d, Bl. 71 (Bericht Demradt nach Wien, Berlin, 17.04.1728). Vgl. dazu ausführlich Hugo Hantsch: Reichsvizekanzler Friedrich Karl Graf von Schönborn (1674– 1746). Einige Kapitel zur politischen Geschichte Kaiser Josefs I. und Karls VI. Augsburg 1929, S. 265 – 280. Zit. nach Berger, Karl VI., S. 124. ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten „Berlin-Berichte“ Nr. 12 c, Bl. 65 (Bericht Demradts nach Wien, Berlin, 19.07.1727).
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französischen Gesandten, der 1726 den Verdacht äußerte, der König sei geisteskrank und müsse möglicherweise sogar entmündigt und abgesetzt werden.⁶⁵ Die häufige Erwähnung der lukullischen und bacchantischen Vorlieben Friedrich Wilhelms I. und seine Neigung, sich in den Palais ausgewählter Mitglieder der Berliner Residenzgesellschaft bei Mittagstafeln oder abendlichen Assembleen freihalten zu lassen, ließ erkennen, dass sich die besondere „Nähe“ zum König und damit dessen Gunst durch freigiebiges Verhalten befördern ließ. So wurde zum Beispiel darüber berichtet, dass der Minister von Grumbkow im Februar 1728 einen „ganzen Wagen voll Tockayer Wein dahier“ eingebracht hatte und auf der Abendtafel in seinem Hause präsentiert habe. Daraufhin „soll der König bis in die späte Nacht sich sehr frölig und gnädig bezeiget haben“.⁶⁶ Man wusste nicht nur am Kaiserhof von diesen bacchantischen Passionen und wählte deshalb gern einen auserlesenen Tropfen als diplomatisches Geschenk. Doch der exklusive Weingeschmack Friedrich Wilhelms I. konnte selbst bei guter Bezahlung der Zulieferer zuweilen Beschaffungsprobleme bereiten.⁶⁷ Da die Beziehungen zwischen Wien und Berlin häufig von atmosphärischen Störungen geprägt waren, wurde ein diplomatischer Posten in der preußischen Residenz nicht unbedingt als erstrebenswert angesehen. Im Umfeld des Kaiserhofes wurde gar einmal kolportiert: „[…] man wüste hiesiger Seits fast keinen nicht mehr zu finden den man nach Berlin schicken könte, indem viele theils dahin nicht verlangten […]“.⁶⁸ Und der kaiserliche Gesandte kleidete seine ambivalenten Erfahrungen, die er bislang in der preußischen Residenz mit der ambivalenten „Zugänglichkeit“ Friedrich Wilhelms I. gesammelt hatte, in die Worte: Wenn der König „nach seinem Genio wieder jemanden etwas hat und wie ich es mannigfältig an anderen gesehen habe, mit sehr grosser und offentlicher empfindlichkeit hervorzutreten pfleget und man einer allzugroßen Gefahr seines caracters ausgesetzet ist“.⁶⁹
Vgl. Isabelle Deflers: Bilder des „Roi-Sergent“ in der französischen Öffentlichkeit und Historiographie, in: Frank Göse/Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Mehr als nur Soldatenkönig. Neue Schlaglichter auf Lebenswelt und Regierungswerk Friedrich Wilhelms I. Berlin 2020, S. 317– 335, hier 321. ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten, „Berlin-Berichte“, Nr. 12 d, Bl. 55. Vgl. Erika Preiße: Geselligkeit und Genuss – Friedrich Wilhelm I. im Spektrum höfischer Kommunikationsstrategien, in: Göse/Kloosterhuis (Hrsg.), Mehr als nur Soldatenkönig, S. 291– 316. GStA PK, I. HA, Rep. 1 Nr. 263, unpag. (Friedrich Wilhelm von Schwerin an Friedrich Wilhelm I., Wien, 26.05.1717). ÖStA, HHStA, StAbt, Brandenburgica, Kt. 32, unpag. (Bericht Demradts, Berlin, 11.01.1738).
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Der Kaiserhof Im Vergleich zu den aus Berlin gesandten Statements nahmen sich die Berichte der preußischen Gesandten über die Vorgänge in der Kaiserresidenz weniger spektakulär aus. Im Gegensatz zu den exemplarisch geschilderten Informationen, die die kaiserlichen Diplomaten über den Tagesablauf und so manche Eigentümlichkeiten im Gebaren des preußischen Königs nach Wien weiterleiteten, fehlten solche Mitteilungen in den Gesandtenberichten aus Wien fast völlig. Natürlich wurde über die Reisen der kaiserlichen Familie in Nebenresidenzen oder in die Lande der Gesamtmonarchie oder die Zelebrierung kirchlicher Feiertage berichtet, jedoch fehlen weitgehend detaillierte Mitteilungen über das Gebaren des Kaisers oder gar seiner Charakterzüge.⁷⁰ Dies deckt sich im Übrigen mit einer generellen Beobachtung, wonach sowohl in den Zeremonialprotokollen als auch in anderen beschreibenden Darstellungen „der kaiserliche Alltag weitgehend ausgespart“ blieb.⁷¹ Dies deutet zugleich darauf hin, dass es am Kaiserhof vor allem auf Grund der fraglos anerkannten Spitzenstellung innerhalb der europäischen „société des princes“ und des eingespielten Prozedere weniger Anlässe zu Konflikten gegeben hatte. Obendrein gestaltete sich das Alltagsleben des Kaisers nicht in einer mehr auf die öffentliche Inszenierung gerichteten Weise, wie dies etwa am französischen Königshof üblich war.⁷² Obgleich sich die Hohenzollerndynastie im Umfeld der Rangerhöhung an Vorbildern anderer Höfe orientieren musste, zumal man selbst an einem zeremoniellen Traditionsdefizit litt, nahm der Wiener Hof hier nur eine untergeordnete Bedeutung ein. Dies kann aber nur auf den ersten Blick überraschen, denn das Zeremoniell am Kaiserhof galt als vergleichsweise sehr traditionell und erklärt sich vor allem aus dem Bestreben, die Wahrung der kaiserlichen Präzedenz gegenüber den anderen europäischen Mächten zu bewahren.⁷³ Zwar wurden im zeitlichen Umfeld der Königskrönung bestimmte Elemente des Wiener Gesandt-
Davon ausgenommen waren aber Meldungen über den Gesundheitszustand Karls VI. und Mutmaßungen über seine Chancen, noch einen männlichen Thronfolger zu zeugen. So äußerte der preußische Gesandte 1721 die Erwartung, dass „Ihro Kayserl. Maj. welche gewiß bey Ihrer gesunden Leibes Constitution die Hoffnung Männliche Succession, wo nicht von dieser, doch von einer anderen Gemahlin nach Gottes Willen zu bekommen“. GStA PK, I. HA, Rep. 1 Nr. 288, Bl. 20 (Kannegießer an Friedrich Wilhelm I., Wien, 19.04.1721). Pečar, Ökonomie, S. 152. Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt a. M. 1992, S. 126 – 129; Duindam, Vienna. Vgl. Pečar, Ökonomie, S. 206.
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schaftszeremoniells im Zusammenhang mit den Überlegungen bei der Neugestaltung der Zeremonialpraxis am preußischen Königshof durchaus berücksichtigt. Allerdings wohl nur deshalb, weil man damit Kaiser Leopold I. schmeicheln und zugleich seine eigenen Bemühungen um zeremonielle Anerkennung forcieren wollte. Man hoffte durch die Orientierung am Wiener Zeremoniell „[…] könnte man den Kayserlichen Hof dadurch mehr an sich ziehn undt zu einer desto leichteren einwilligung in Unser begehren Disponiren, wan Seine Königliche Majestät sich vernehmen ließen; daß ungeachtet Sie bey Ihrem gestiftetem gantz newen Königreiche die wahl hetten, Ihr Ceremoniel nach den Gebräuchen aller der andern Könige schlechterdings einzurichten, undt sich auch solches in dem Tractat mit Seiner Kayserlichen Mayestät Expresse vorbehalten […]“.⁷⁴ Gleichwohl bildeten natürlich genaue Kenntnisse sowohl über das Zeremoniell als auch über die personellen Konstellationen am Wiener Hof unabdingbare Voraussetzungen für ein erfolgreiches Agieren der preußischen Gesandten. Von daher hatte sich der 1714 vom preußischen König nach Wien entsandte Christoph Graf Dohna – trotz der durch die Unterstützung des Oberstkämmerers Sigmund Rudolf Graf Sinzendorff (1670 – 1747)⁷⁵ recht schnell zustande gekommene Audienz beim Kaiser – kaum Illusionen über sein schwieriges, ihn dort erwartendes Geschäft gemacht, weil er sich „leicht die Rechnung machen kann, daß es mir hiebey an traversen nicht fehlen, undt diejenige, welche E.K.M. bisherige actiones dem hiesigen Hoffe auf eine so gehässige Weise vorzubilden geruht, von solcher Ihrer conduite nicht abgehen, sondern meine negotiation allhier […] wohl gar fruchtlos zu machen trachten werden“.⁷⁶ Diese Bedenken erwuchsen aus dem seit einigen Jahren in der Wiener Hofburg immer wieder bekundeten Misstrauen und mitunter auch genüsslich vorgetragenen Spitzen gegenüber dem jungen Königreich im Norden des Reiches.⁷⁷ Umso überraschter nahmen die in der habsbur-
Zit. nach Ruffert, Gesandtschaftszeremoniell, S. 238. Allerdings wurde dieses Vorhaben nicht umgesetzt, so dass der Wiener Hof mit seinem Gesandtschaftszeremoniell nie zum „Modell“ für sein brandenburgisch-preußisches Pendant avancierte. Zu den Obliegenheiten des Oberst-Kämmerers gehörte es, „die Gesandten zur Audienz“ zu führen und „ihre Vollmachten und Beglaubigungsschreiben zur Weiterleitung an den Kaiser“ zu übernehmen. Leopold Auer: Diplomatisches Zeremoniell am Kaiserhof der Frühen Neuzeit: Perspektiven eines Forschungsthemas, in: Ralph Kauz/Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Wien 2009, S. 33 – 53, hier 43. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 256, unpag. (Dohna an Friedrich Wilhelm I., Wien, 21.02.1714). So etwa die im Umfeld Josephs I. kolportierte und auf Friedrich I. bezogene abschätzige Charakterisierung als „petite majesté“. Zit. nach Arnold Berney: König Friedrich I. und das Haus Habsburg (1701– 1707). München/Berlin 1927, S. 133.
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gischen Residenz anwesenden Diplomaten aber im Februar 1714 eine besondere Ehrerweisung des Kaisers gegenüber dem preußischen Gesandten zur Kenntnis: Als das Kaiserpaar aus der Hofkapelle kam und durch die geheime Ratsstube ging, „alwo die ausländische und Einheimische Ministri wie gewöhnlich auf beyden Seiten stunden“, hätte sich der Kaiser „an den Hut griffen und mit der Hand dem Grafen von Dohna ein sehr gnädiges Compliment machten, welches sie sonst nur gegen Ambassadeurs und Fürsten von Ihrer Verwandtschafft zu thun pflegen“. Wenige Tage später konnte der Rat Gottfried Mörlin nach Berlin berichten, dass es noch weitere solche Beweise besonderer Gnade des Kaisers gegenüber dem Grafen Dohna gegeben hätte: So habe dieser eine „particuliere Audientz in Ihrer Retirade“ erhalten.⁷⁸ Zudem hätte der Kaiser kürzlich, als er Dohna sah, nicht nur die Hand an den Hut genommen, sondern „rückten Sie sogar den Huht. Es wundert sich jedermann über diese Distinction, welche sonst nicht gebräuchlich […]“. Doch trotz dieser ostentativen Gunstbekundungen blieb der preußische Diplomat vorsichtig und schrieb nach Berlin: „Es wird die Freundschafft hoffentlich nicht in bloßen Complimenten bestehen […]“.⁷⁹ Und in der Tat belasteten ja weiterhin eine ganze Reihe von Problemen die preußisch-österreichischen Beziehungen. Angesichts des politischen Stils des bis 1711 regierenden Kaisers Joseph I., der nicht nur einmal zu Verstimmungen zwischen Wien und Berlin geführt hatte⁸⁰, hoffte man im Umfeld des preußischen Königs mit dem Thronwechsel auf eine deutlich wahrnehmbare Verbesserung der Beziehungen. Neben den bereits angesprochenen „Baustellen“ in der Reichspolitik gehörten dazu auch die bislang nur mühsam übertünchten Irritationen bei der Anwendung des Zeremoniells. Der preußische König legte nach wie vor darauf Wert, dass sein Gesandter „nicht auf den Fuß eines Churfürstl. sondern eines auswärtigen Königl. Ministri hier stünde“ und als solcher anerkannt würde.⁸¹ Auch im Tagesgeschäft der preußischen Gesandten nahmen verlässliche Beobachtungen und Beurteilungen über die personellen Konstellationen in der Wiener Hofburg einen großen Umfang ein. Dem lag im Übrigen auch ein Befehl Die Wirkung dieser Vorzugsbehandlung wäre noch dadurch bestärkt worden, dass unmittelbar darauf der moskowitische Gesandte, „der sonst allerhand vorzüge praetendiret“, mit einer Audienz „auf die sonst gewöhnliche weise in der geheimen Rhats Stube“ vorliebnehmen musste. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 256, unpag. (Mörlin an Friedrich Wilhelm I., Wien, 07.03.1714). Mit Genugtuung berichtete Mörlin einige Tage später, dass die anderen in Wien präsenten Gesandten von ihren Herrschern „Ordre empfangen [hätten], sich genau darnach zu erkundigen, was es dann eigentlich vor eine Bewandnüs damit habe, daß Ihre Kayserl. Maj. gedachten E.K.M. Ministrum auf eine solche ahrt distinguiret“. Vgl. hierzu neben Berney, Preußen, auch Christiane Kauer: Brandenburg-Preußen und Osterreich 1705 – 1711 (Philosophie und Gesellschaft 8). Bonn 1999. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 258, Bl. 75 (von Cocceji an Friedrich Wilhelm I., Wien, 02.02.1715).
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Friedrich Wilhelms I. zu Grunde, dass alle brandenburgisch-preußischen Gesandten am Ende eines jeden Jahres einen ausführlichen Bericht über die jeweiligen Verhältnisse am Gasthofe anfertigen sollten.⁸² Diese Gesandtenberichte deckten sich in gewisser Weise mit internen Wahrnehmungsmustern seitens der Habsburgerdynastie. Um hier nur ein repräsentatives Zeugnis herauszugreifen: Maria Theresia rekapitulierte in ihrer berühmten Denkschrift von 1750/51 die Verhältnisse in den letzten Regierungsjahren ihres Vaters und ging dabei im Besonderen auf das Verhältnis zwischen dem Kaiser und seinen höchsten Amtsträgern, den „Ministri“ ein. Der Einfluss dieser Personengruppe sei ihres Erachtens so sehr gestiegen, dass „sie in denen Ländern mehr geforchten und verehret worden als der Landesfürst selbsten“. Vielmehr hätten sie „den Souverain abgegeben“.⁸³ Auch in den preußischen Gesandtenberichten wurden solche Tendenzen, die ein gewisses „Eigenleben“ der obersten Verwaltungsbehörden gegenüber dem Kaiser andeuteten, gelegentlich thematisiert. Aufmerksam registrierte man neue Nuancen im politischen „Betrieb“ der habsburgischen Residenz. So wurde etwa im Bericht vom 11. März 1722 hervorgehoben, dass derzeit „öfter als sonst Konferenzen gehalten“ werden würden, mitunter beim Kaiser, aber vor allen Dingen ohne diesen in den Häusern der Angehörigen der Geheimen Konferenz, wie bei deren Vorsitzenden Prinz Eugen, beim österreichischen Hofkanzler Philipp Ludwig Graf Sinzendorff (1671– 1744) oder bei dem Obersthofmeister Fürst Trautson (1659 – 1724).⁸⁴ Allerdings fiel es den preußischen Diplomaten vor dem geschilderten Hintergrund nicht ganz leicht, stets die Haltung der führenden Mitglieder der Wiener Hofgesellschaft zu den die preußisch-kaiserlichen Beziehungen tangierenden Fragen zu ermitteln. Dabei kam es darauf an, mit jenen Persönlichkeiten in Kontakt zu treten, deren spezifische Kenntnisse und aktuelle Stellung am besten von den Gesandten für ihre zu verfolgenden Ziele genutzt werden konnten. So war der preußische Gesandte Kannegießer vor seiner Sendung nach Wien instruiert worden, Kontakt zu dem bislang am englischen Hof weilenden Minister Conrad Sigismund Graf Stahremberg (1689 – 1727), aufzunehmen „zu beförderung der
Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung Nr. Z lit. L Fasz. 1, Bl. 2 f. Zit. nach Friedrich Walther (Hrsg.), Maria Theresia. Briefe und Aktenstücke in Auswahl (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Neuzeit 129). Darmstadt 1968, S. 73. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 295, unpag.
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zwischen dem Kayser und Ihnen höchstnöthigen Wiederherstellung eines guten Vernehmens“.⁸⁵ Zwar legten alle nach Wien entsandten preußischen Diplomaten großen Wert darauf, möglichst zu vielen Angehörigen der politisch-höfischen Führungsgruppe Kontakte zu knüpfen, um ein möglichst repräsentatives Bild über die Stimmungslage zu erhalten und möglichst frühzeitig über sich anbahnende außenpolitische Kurskorrekturen informiert zu sein. Jedoch hatte zum Beispiel Graf Christoph von Dohna 1714 den Eindruck gewonnen, dass man sich zwar in den Gesprächen mit einigen Ministern sehr devot und respektvoll gegenüber dem preußischen König zeige. Allerdings wäre darauf „so sehr nicht zu bauen, als wan Sie hiernächst, als würckliche Ministri mit mir in Conferentz treten undt alsdan auf Ihro Kayserl. M. Befehl mir ein oder anderes declariren werden“.⁸⁶ Ein starkes Interesse bekundete man auf diesem Feld natürlich an solchen Nachrichten, die auf eventuelle Veränderungen innerhalb der Hoffraktionen hinzudeuten schienen. So berichtete der preußische Gesandte 1722 über ein anonymes, gedrucktes Traktat, das an die Mitglieder der Geheimen Konferenz gerichtet wäre (an Prinz Eugen, an den Obrist-Hofkanzler Graf Sinzendorf, den ehemaligen Hofkammerpräsidenten Gundaker Thomas Graf Starhemberg u. a.), „worinnen alle und jede Mängel und Schwäche des hiesigen Hofcammer- und Militair-Etats umständ- und auffrichtig entdecket sind“. Man vermutete einen Hofkammer-Rat, einen gewissen Krapf, als Autor. Auf Grund seiner Brisanz werde dieses Traktat geheim gehalten, „welches um vieles Geld nicht zu erhalten stünde“. Der Gesandte werde sich aber bemühen, „dasselbe zu Handen zu bringen“ – ein Unterfangen, das ihm aber im Verlauf der nächsten 14 Tage nicht glücken sollte.⁸⁷ Erschwert wurde die Informationsbeschaffung aber auch durch eigenes „Störfeuer“ aus Berlin. Der stets misstrauische König, der überall Durchstechereien, Intrigen und Bestechungen vermutete, hatte auf Grund eines konkreten Anlasses angeordnet, „[…] daß zwischen Unsern würcklich Geheimten Etats-Räthen […] und denen an Unserm Hoffe anwesenden Frembden Ministris, aller Umbgang undt Conservation in Privato hinführo gäntzlich eingestellet werden“ sollen.⁸⁸ Dieser Befehl hatte aber äußerst kontraproduktive Wirkungen und führte
Kannegießer musste aber nach Berlin melden, dass Graf Starhemberg sich derzeit auf seinen Gütern aufhalte, so dass er ihn erst in den nächsten Tagen zu kontaktieren hoffe. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 258, Bl. 1 (Kannegießer an Friedrich Wilhelm I., Wien, 01.01.1721). GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 256, unpag. (Graf Dohna an Friedrich Wilhelm I., Wien, 24.02.1714). GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 295, unpag. (Johann Friedrich Graeve an König, Wien, 25.02. und 10.03.1722). Zit. nach Ruffert, Gesandtschaftszeremoniell, S. 378.
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einerseits zu Protesten der am Berliner Hof weilenden fremden Diplomaten, andererseits drohte dadurch auch die Informationsbeschaffung der preußischen Gesandten an den Gasthöfen schwerer zu werden. Auch der Wiener Hof reagierte, indem er dem dort weilenden preußischen Gesandten den Kontakt zu den kaiserlichen Ministern untersagte und die unverhohlene Drohung formuliert wurde, dass dies eine Signalwirkung für andere europäische Hofe haben könne. Letztlich sah sich Friedrich Wilhelm I. veranlasst, den Befehl zurückzunehmen. Durchmustert man die – hier allerdings nur stichpunktartig durchgesehenen – Gesandtenberichte, wird deutlich, dass die preußischen Diplomaten bestrebt waren, ein repräsentatives und oftmals auch zutreffendes Bild über die politische Konstellation am Wiener Hof zu erhalten. Das „Auf und Ab“ der Gunsterweise und Gnadenbekundungen einerseits und des rapiden Ansehensverlusts einzelner Mitglieder der Hofgesellschaft andererseits blieb ihnen nicht verborgen und ist unverzüglich nach Berlin berichtet worden. Dass hierbei der Prinz Eugen von Savoyen als Leiter der Geheimen Konferenz und Präsident des Hofkriegsrates zu einer besonders umworbenen Persönlichkeit avancierte, wird kaum verwundern. Audienzen bei ihm waren deshalb von Seiten der preußischen Gesandten sehr erwünscht.⁸⁹ Zudem wurde er als eher preußenfreundlich eingeschätzt und galt daher als „Konstante“ im diplomatischen Spiel. So hat sich an den anderen Höfen recht lange der Eindruck manifestiert, dass die zeitweilig bei Karl VI. beobachtete „enge Bindung an Preußen vornehmlich das Werk Eugens und des Berliner Gesandten Seckendorff“ gewesen wäre.⁹⁰ Allerdings hatte man in preußischen Gesandtenberichten bald auch wahrgenommen, dass der Einfluss des Savoyers auf den Kaiser nicht überschätzt werden sollte. So erging etwa am 17. Mai 1721 an den preußischen Gesandten Kannegießer die Anweisung, sich zu erkundigen, ob es stimme, dass Prinz Eugen „nicht mehr in Gnaden stehe“.⁹¹ Vor allem in den letzten Lebensjahren verfestigte sich auch aus preußischer Sicht der Eindruck, dass der Prinz zwar hoch verehrt wurde, in den taktischen Finessen des Mächtepokers aber kaum noch eine aktive Rolle spielte. Umso wichtiger erwiesen sich deshalb Kenntnisse über jene Persönlichkeiten in der Hofburg, deren besondere Nähe zum Kaiser und ihre zeitweise überragende informelle Stellung im Zentrum der Macht nicht primär auf der Bekleidung herausragender Ämter in der Zentralverwaltung beruhten. Begünstigt wurden solche Einflussnahmen auch dadurch, dass Karl VI. nur selten an den Beratungen der
Vgl. zum Beispiel für den Januar 1715: GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 258, Bl. 23 ff. Müller, Gesandtschaftswesen, S. 49. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 258, Bl. 48.
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Geheimen Konferenz teilnahm. Einer der herausragendsten Repräsentanten dieser Gruppe war Johann Michael Graf von Althann, dessen „besondere Sympathie des Kaisers […] die wichtigste, ja die einzige Grundlage seiner Favoritenstellug am Kaiserhof“ bildete.⁹² Die Gründe für diese bedeutende Vertrauensstellung sollen hier nicht näher beleuchtet werden, hier interessiert die Wahrnehmung des Grafen aus der Sicht der preußischen Diplomaten. Dass sich der 1714 neu als Gesandter an den Kaiserhof berufene Graf Dohna sogleich um Kontakte zum Grafen Althann bemühte, erklärte sich aus seiner Sicht daraus „weil ich weiß, daß Er bey Ihro Kayserl. Maj. großen Credit hat“.⁹³ Die Gunsterweise Karls VI. für seinen Favoriten in Gestalt der Übertragung von Ehrenämtern und größerer Ländereien fanden ebenso Erwähnung in den nach Berlin gesandten Depeschen wie seine Bemühungen um eine subtile Patronagepolitik am Wiener Hof.⁹⁴ Nur ein Beispiel sei für diese Praxis aus einem Bericht des preußischen Gesandten wiedergegeben: Als Beleg für den „guten Credit“, den der Obristpostmeister Graf Paar auf Grund seiner Charge als Obersthofmeister der Kaiserin genösse, wurde die Tatsache angesehen, dass er mehrere Geschenke erhalten hätte und „öfter als sonsten gewöhnlich vom Kayser in die Retirade beruffen“ worden sei, „wozu vermuhtlich der Kayserl. Oberstallmeister und Favorit, Herr Graf von Althan der Ihm sonderlich wohl will, das Seinige nicht wenig beyträgt“.⁹⁵ Vor diesem Hintergrund erschien es nicht allzu verwunderlich, dass in Erwartung der mit dem eventuellen Ableben dieses Günstlings verbundenen Umwälzungen in der Hofburg über den sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand Althanns ausführlich berichtet wurde.⁹⁶ Neben den Grafen Philipp Ludwig Sinzendorf und Gundaker Thomas Graf Starhemberg wurde seit dem Beginn der 1730er Jahre auf den Freiherrn Johann Christoph von Bartenstein mehrfach in den Berichten aus Wien aufmerksam gemacht. Er zählte neben den beiden Erstgenannten zu denjenigen Mitgliedern der Geheimen Konferenz, die dem Prinzen Eugen mitunter Widerstand entgegenzusetzen vermochten.⁹⁷ Dieser Amtsträger, der auch von seiner Herkunft – als Lu-
Vgl. Andreas Pečar: Favorit ohne Geschäftsbereich. Johann Michael Graf von Althann (1679 – 1722) am Kaiserhof Karls VI., in: Michael Kaiser/ders. (Hrsg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit (ZHF, Beiheft 32). Berlin 2003, S. 331– 344, hier 336. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 256, unpag. (Graf Dohna an Friedrich Wilhelm I., Wien, 24.02.1714). Vgl. dazu knapp Pečar, Favorit, S. 340 f. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 288, Bl. 12 (Kannegießer an Friedrich Wilhelm I., Wien, 12.07.1721). Vgl. dazu die Berichte des Gesandten Graeve im ersten Quartal des Jahres 1722 in: GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 295, unpag. Vgl. Pečar, Ökonomie, S. 64.
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theraner aus der ehemaligen Reichsstadt Straßburg stammend – als eher untypisch für die Wiener Staatselite anzusehen war, galt allerdings aus Sicht der preußischen Gesandten auch als schwerer kalkulierbar.⁹⁸ Im Zusammenhang eines am Reichshofrat ausgetragenen Konfliktes, in dem auch der preußische König von einer Prozesspartei um Beistand gebeten worden war, wurde der Einfluss dieses Amtsträgers, „so bey Hoffe alles vermag, ob er gleich nicht zum Reichshofrat-Collegia gehöret“, im März 1738 als sehr stark beurteilt.⁹⁹ Demzufolge drängte der preußische König bei seinem Wiener Gesandten von Borcke ein dreiviertel Jahr später auch auf genauere Informationen, ob an der Nachricht etwas dran sei, dass der „Credit“ des Freiherrn von Bartenstein „seit einiger Zeit sich sehr vermindert hätte und er bey dem Kayser nicht mehr in Gnaden wäre“.¹⁰⁰ Der preußische Gesandte konnte indes bald Entwarnung geben. Das Gerücht über den scheinbaren Ansehensverlust des von Bartenstein ließ sich demzufolge rasch entkräften, vermittelt aber zugleich einen vielsagenden Einblick in die Atmosphäre der Wiener Hofgesellschaft, die selbst kleinste Anzeichen im Sinne größerer sich anbahnenden Veränderungen subtil zu deuten bereit war. Im Zusammenhang mit einer Erkrankung musste das Haus des Freiherrn von Bartenstein unter Quarantäne gestellt werden, und der damit verbundene Umzug wurde etwas vorschnell in dem Sinne interpretiert, „daß Er in disgrace gefallen sey und die Acta habe abliefern müssen“. Bartenstein hätte aber nach wie vor „das Hefft der Affairen in Händen und bey des Kaysers Maj. nach wie vor den vertraulichen Zutritt hat, auch als Staats-Secretaire zu allen und jeden Conferentzien gezogen wird“.¹⁰¹ Mitunter wurden in den Berichten aber nur vage Andeutungen über die Quellen neuester Nachrichten über den Wiener Hof gemacht. So ließ der Gesandte Kannegießer in seinem Schreiben vom 25. Januar 1721 an seine Berliner Adressaten nur durchblicken, dass er seine Informationen von einem „guten Freund [habe], der es wohl wissen kann“.¹⁰² Weitet man das Interessenfeld über die Beobachtungen zum Zeremoniell und den Parteiungen innerhalb der Hofgesellschaft aus, fallen die Lesefrüchte in den preußischen Gesandtschaftsberichten etwas bescheidener aus. So fanden sich in den stichpunktartig durchgesehenen Korrespondenzen keine Informationen über ins Auge fallende bauliche Veränderungen in der kaiserlichen Residenz. Dies
Vgl. zu seiner Biographie Max Braubach: Johann Christoph Freiherr von Bartenstein, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1. Berlin 1953, Sp. 599 f. GStA PK, Rep. 81, Gesandtschaft Wien I, Nr. 10 a, unpag. Ebd. (Schreiben Friedrich Wilhelms I. an von Borcke, Berlin, 08.11.1738). Ebd. (Schreiben von Borckes an Friedrich Wilhelm I., Wien, 22.11.1738). GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 288, Bl. 15.
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deckt sich mit älteren Wahrnehmungen, nach denen die habsburgische Residenz als vergleichsweise wenig eindrucksvoll geschildert wurde.¹⁰³ Zwar darf das berühmte Diktum Richard Alewyns vom Hofleben als „totalem Fest“ als pointierte Zuspitzung gelten, gleichwohl gehörten natürlich Feierlichkeiten aus diversen Anlässen, Reisen des Herrscherpaares und die vielen fast schon zum alltäglichen Festprogramm gehörenden Divertissements zum Hofleben und erschienen deshalb auch für die preußischen Diplomaten als berichtenswert.¹⁰⁴ In den „Nova aus Wien“ konnte man zum Beispiel im Frühjahr 1711 erfahren, dass „Ihre Kayserl. Maj. … vorgestern die erste Frühlings Ergötzlichkeit genoßen, indem Sie sich mit einer kleinen Suite nach Laxenburg verfüget und daselbst mit der Reiher Beitze divertiret“ hätten und wegen einsetzenden Regenwetters vorzeitig wieder zur Hofburg zurückgekehrt sei.¹⁰⁵ Detailliert wurde des Öfteren über die „Faschings-Lustbarkeiten“ am Wiener Hof berichtet. Im Rahmen dieser Feste erfreuten sich dabei Verkleidungsdivertissements großer Beliebtheit.¹⁰⁶ Anlässlich der Faschings-Vergnügungen von 1722 wurden in einem Anhang zum Gesandtenbericht die Angehörigen der Wiener Hofgesellschaft in den ihren zugewiesenen Rollen detailliert aufgelistet: Fürst Josef Liechtenstein als „Türckischer Bauer“, der zu dieser Zeit in kaiserlichen Diensten stehende Prinz Alexander von Württemberg als „Welscher Bauer“ oder der Reichshofrat Johann Wilhelm von Wurmbrand-Stuppach als „10ter Knecht“.¹⁰⁷ Es stellt gewiss kein besonderes Merkmal in den preußisch-österreichischen Beziehungen dar, sondern gehört zu den generellen Pflichten der Gesandten, auch über die wirtschaftlich-finanzielle Verfasstheit ihrer Gastländer zu informieren. Denn „in was Stande sich solche gegenwärtig befinden“, verlangte Friedrich Wilhelm I. „so accurat als möglich informiret zu seyn“.¹⁰⁸ Dass es auf diesem Terrain in der österreichischen Habsburgermonarchie nicht zum Besten stand, blieb auch den preußischen Diplomaten nicht verborgen und fand mehr als
Vgl. hierzu schon Eduard Vehse: Geschichte des österreichischen Hofs und Adels und der österreichischen Diplomatie. Geschichte der Deutschen Höfe. Bde. 12−13. Hamburg 1852, hier Bd. 12, S. 291 f. Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. München 1989, S. 14. GStA PK, I. HA Rep. 1, Nr. 241, Bl. 97. Vgl. dazu Claudia Schnitzer: Königreiche – Wirtschaften – Bauernhochzeiten. Zeremonielltragende und -unterwandernde Spielformen höfischer Maskerade, in: Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995, S. 280 – 331. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 295, unpag. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 288, Bl. 49 (Friedrich Wilhelm I. an Kannegießer, Berlin, 17.05. 1721).
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einmal Eingang in ihre Berichte – auch mit den Konsequenzen für die Hofgesellschaft.¹⁰⁹ Gelegentlich hat man die ausstehende Besoldung der Reichshofräte durch die kaiserliche Hofkammer thematisiert.¹¹⁰ Dieser Missstand bildete nun einen eventuellen Ansatzpunkt, um über Bestechungen einige Angehörige der Hofgesellschaft gewogen zu machen, was insbesondere im Umfeld jener Prozesse, in die der preußische König am Reichshofrat als Beklagter verwickelt war, relevant wurde.¹¹¹ So wurden zum Beispiel Geldschenkungen an einige Hofkriegsräte lanciert, damit diese günstiger an begehrte Amtschargen gelangen konnten.¹¹² Im Gegensatz dazu war es nicht nur innerhalb der Wiener Hofgesellschaft gut bekannt, dass es dem preußischen König gelungen war, seinen Haushalt zu stabilisieren und einen respektablen Staatsschatz zu bilden.Vor diesem Hintergrund übermittelte der preußische Gesandte am Kaiserhof, Graf Schwerin, die Anfrage von Repräsentanten der Landstände aus einigen kaiserlichen Erblanden, ob man vom preußischen Fiskus Kapital zu 5 bis 6 % leihen könne. Doch Friedrich Wilhelm I. wies diesen Wunsch barsch ab und ließ seinen Gesandten wissen: „Wir leihen niemandem Geldt, ohne daß Man Uns dafür zur Versicherung Landt und Leute, cum plenissimo jure superioritatis in völlige und würckliche possession gebe“.¹¹³ Seltener wurde über bauliche Veränderungen in der kaiserlichen Residenz berichtet. So informierte der preußische Gesandte Johann Friedrich Graeve am 3. Januar 1722 darüber, dass der Kaiser entschlossen sei, „das von dero Herrn Vatern Maj. so prächtig angefangene und bis auff ein Viertel Theil aufgeführte Kayserl. Reithaus auszubauen, mithin die Kays. Bibliothec auff den dazu gewidmeten ersten Stock über gedachten Reithaus, zu transferiren, und ist man im Begriff, die dazu nöthige Geld-Mittel aufzufinden“.¹¹⁴ Und im selben Jahr hatte der preußische Gesandte den Befehl erhalten, „einen accuraten Abriß von denen
Demnach sei ein „großer Geldmangel in denen Kayserl. Cassen“, hatte der preußische Gesandte erfahren. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 288, Bl. 35 (Kannegießer an Friedrich Wilhelm I.,Wien, 07.05.1721). Dank der Vermittlung eines hiesigen Juden hätte man nun aber einen Weg gefunden, diese Zahlungen vorzunehmen. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 295, unpag. (Johann Friedrich Graeve an König, Wien, 07.01.1722). Vgl. dazu mit einigen Belegen Göse, Friedrich Wilhelm I., S. 416 – 418. In diesem Fall handelte es sich um die Summe von 3 000 Dukaten an den Hofkriegsrat von Oettel, den Kriegs-Secretarius von Bruckhausen und den Kriegs-Agenten Koch. GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 288, Bl. 72 (Kannegießer an Friedrich Wilhelm I., Wien, 31.05.1721). GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 267, Bl. 7 f. und 15 (Friedrich Wilhelm I. an Graf Schwerin, Berlin, 12.03.1718). GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 295, unpag.
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Casernen, worinnen 2 000 Pferde stehen können“, in Wien, Stockerau und anderen Städten zu bekommen und zuzusenden.¹¹⁵
Fazit Die vorgestellten Befunde sollten exemplarisch einige Möglichkeiten aufzeigen, die die Gesandtenkorrespondenz für die Hofforschung bietet. Informationen über die Herrscherfamilie nahmen darin ebenso einen wichtigen Raum ein wie Beobachtungen über die Konstellationen innerhalb der Hofgesellschaft. Die erworbenen Kenntnisse über die am jeweils anderen Hof bestehenden Fraktionen und Netzwerke boten zum einen den für die Gestaltung der Außenpolitik Verantwortlichen eine wichtige Analysegrundlage. Zum anderen können die hier zu findenden Beobachtungen auch eine wertvolle Ergänzung für die Erforschung der Höfe als Interaktionssystem bilden. Natürlich gilt es dabei im Blick zu behalten, dass in den Gesandtenberichten stets die politische Berichterstattung im Vordergrund stand, was auch durch die hier ausgewerteten Quellen bestätigt wurde. Überdies existierte ein „Hof“ im klassischen Sinne in der preußischen Residenz nur in eingeschränktem Sinne, vielmehr war diesem eine „Technik fallweisen Prunks“ eigen.¹¹⁶ In den Meldungen aus Wien nahm das Hofleben dagegen einen etwas größeren Umfang ein – ein Befund, der sich im Übrigen mit ähnlichen Beobachtungen anhand der kursächsischen Gesandtenkorrespondenz deckt.¹¹⁷ Und last but not least gilt es natürlich auch bei der Auswertung der ja letztlich immer aus der subjektiven Sicht der Diplomaten gewonnenen Informationen eine in der Reise- bzw. Kulturtransfer-Forschung seit langem anerkannte Einsicht nicht aus dem Auge zu verlieren: „Erfahrung ist immer irgendwie vorgeprägt. Wer das nicht bedenkt, kann unversehens einem neu verfestigten Wahrnehmungsmuster aufsitzen.“¹¹⁸
Ebd. Neugebauer, Vom höfischen Absolutismus, S. 120. Keller, „Alhier …“, S. 140. Hans Segeberg: Die literarisierte Reise im späten 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungstypologie, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, S. 14– 31, hier 22.
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Am Anfang und am Ende Die Mutter und die Schwägerin Karls VI. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Mutter und der Schwägerin Kaiser Karls VI. (1685 – 1740) in seinen ersten und den letzten Herrschaftsjahren. Der Auftakt von Karls Herrschaft in den habsburgischen Erblanden war durch seine Abwesenheit geprägt. Seine Mutter Eleonora Magdalena Theresa von Pfalz-Neuburg (1655 – 1720) spielte als „Regentin“ bis zur Rückkehr ihres Sohnes aus Barcelona 1712 eine nicht zu vernachlässigende Rolle.¹ In den letzten Lebensjahren Karls VI. fanden zwei aufwendige Familientreffen seiner Schwägerin Amalia Wilhelmina von Braunschweig-Lüneburg (1673 – 1742), der Witwe Josephs I. (1678 – 1722), mit ihren beiden Töchtern und deren bayerischen und sächsisch-polnischen Familien, in den Jahren 1737 sowie 1739 statt.² Derartige dynastische Zusammenkünfte waren immer auch durch das politische Umfeld geprägt. Die Frage um die Nachfolge Karls VI. war einer der Hauptimpulse für diese Treffen. Bevor diese Aspekte näher thematisiert werden, gilt es die beiden Kaiserinnen kurz vorzustellen. Die dritte Eheschließung Leopolds I. (1640 – 1705) mit Eleonora Magdalena in Passau im Jahre 1676, war seit längerer Zeit die erste dynastische Verbindung des Hauses Habsburg mit einem fürstlichen Geschlecht aus dem Heiligen Römischen Reich und wurde bei seinen beiden Söhnen fortgesetzt. Eleonora Magdalena wurde am 6. Januar 1655 in Düsseldorf als Tochter des Kurfürsten Philipp Wilhelm
Allgemein zu Eleonora Magdalena siehe Sylvia Anzböck: Kaiserin Eleonora Magdalena Theresia. Gemahlin Kaiser Leopolds I. Dipl. phil. Wien 2006; Zur Regentschaft siehe Marcus Landau: Rom, Wien, Neapel während des Spanischen Erbfolgekrieges. Ein Beitrag zur Geschichte des Kampfes zwischen Papsttum und Kaisertum. Leipzig 1885, S. 308 f.; Josef Johannes Schmid: Eleonore Magdalena von der Pfalz – Ein Leben zwischen den Häusern Neuburg und Habsburg, in: Bettina Braun/Katrin Keller/Matthias Schnettger (Hrsg.), Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit (VIÖG 64). Köln/Weimar/Wien 2014, S. 157– 174, hier 170 – 172. Allgemein zu Amalia Wilhelmina: Hildegard Leitgeb: Kaiserin Amalie Wilhelmine, geb. Prinzessin von Braunschweig-Lüneburg-Hannover (1673 – 1742). Gemahlin Kaiser Josefs I.: eine biographische Studie. Diss. phil. Wien 1984. Leitgeb erwähnt die Familientreffen nicht; zum Treffen in Neuhaus: Johanna Lessmann: Meissen Porcelain for the Imperial House in Vienna, in: Maureen Cassidy-Geiger (Hrsg.), Fragile Diplomacy. Meissen Porcelain für European Courts ca. 1710 – 63. New Haven/London 2007, S. 111– 139; zu Melk: Stefan Pongratz: Adel und Alltag am Münchener Hof. Die Schreibkalender des Grafen Johann Maximilian IV. Emanuel von Preysing-Hohenaschau (1687– 1764) (Münchener historische Studien, Abt. bayerische Geschichte 21). Kallmünz 2013, S. 235 – 237; Art. Wilhelmine Amalie, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Großes Universal Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 56. Halle/Leipzig 1748, Sp. 1550 – 1567, hier Sp. 1565 f. https://doi.org/10.1515/9783110670561-006
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von der Pfalz (1615 – 1690) und Elisabeth von Hessen-Darmstadt (1635 – 1709) geboren. Leopold I. fand in seiner Gemahlin nicht nur die Mutter der ersehnten Söhne, sondern auch eine wichtige Ratgeberin. 1681 wurde sie zur Königin von Ungarn und 1690 zur Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches gekrönt. Nach dem Tod der Kaiserinwitwe Eleonora Gonzaga d. J. (1628 – 1686) erneuerte sie den Sternkreuzorden.³ Als einzige kaiserliche Witwe in der Frühen Neuzeit übernahm Eleonora Magdalena die Funktion einer Regentin in den habsburgischen Erblanden, wenn auch nur für kurze Zeit. Außerdem war sie als kaiserliche Witwe mit ihrem großem Hofstaat ein prägendes Element des Wiener Hofes.⁴ Amalia Wilhelmina war die Tochter des Konvertiten Herzog Johann Friedrichs von Braunschweig-Lüneburg (1625 – 1679) und Benedikte Henriette von der Pfalz (1652– 1730).⁵ Nach dem frühen Tod ihres Vaters, verbrachte ihre Mutter mit ihren Kindern viele Jahre in Frankreich, wo Amalia Wilhelmina im Internat des Klosters Maubuisson erzogen wurde.⁶ Ihre französischen Jahre waren für den antifranzösisch eingestellten Wiener Hof während der Eheanbahnung ein Dorn im Auge. Nach langwierigen Eheverhandlungen konnte schließlich im Jahre 1699 in Wien die Trauung vollzogen werden. Die Ehe verlief anfangs harmonisch, aber Joseph I. nahm bald wieder sein ausschweifendes Leben auf. Erschwerend kam hinzu, dass Amalia nur einem Sohn – Leopold Johann (1701) – das Leben schenken konnte, der nur wenige Monate lebte. Einen Rückschlag bedeutete es wahrscheinlich für die jung verwitwete Frau, dass nicht sie, sondern ihre Schwiegermutter zur Regentin bestimmt wurde. Nichts desto trotz konnte sie die Pragmatische Sanktion zugunsten ihrer Töchter vorantreiben⁷, die sie taktisch klug mit den sächsischen
Schmid, Eleonora Magdalena von der Pfalz, S. 173 f. Charles W. Ingrao/Andrew L. Thomas: Piety and Power: The Empresses-Consort of the High Baroque, in: Clarissa Campbell Orr (Hrsg.), Queenship in Europe 1650 – 1815. The Role of the Consort. Cambridge 2004, S. 107– 130; allgemein zu Kaiserinwitwen: Michael Pölzl: Die Kaiserinwitwen in Konkurrenz zur regierenden Kaiserin am Wiener Hof (1637– 1750). Diss. phil. Wien 2017. Michael Pölzl: Wie der regenbogen in der lufft. Die Stifterin Amalia Wilhelmina von Braunschweig-Lüneburg, in: Helga Penz (Hrsg.), Das Kloster der Kaiserin. 300 Jahre Salesianerinnen in Wien. Petersberg 2017, S. 19 – 33. Elisabeth Garms-Cornides: Zur spirituellen Prägung der Stifterin. Jugendjahre der Wilhelmina Amalia von Braunschweig-Lüneburg, in: Helga Penz (Hrsg.), Das Kloster der Kaiserin. 300 Jahre Salesianerinnen in Wien. Petersberg 2017, S. 35 – 41. Charles W. Ingrao: Empress Wilhelmine Amalia and the Pragmatic Sanction, in: MÖStA 34 (1981), S. 333 – 341; Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie. Horn 2018, S. 451.
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und bayerischen Kurprinzen verheiratete.⁸ Bei der Eheanbahnung zwischen Maria Theresia (1717– 1780) und Franz Stephan von Lothringen (1708 – 1765) spielte Amalia Wilhelmina anscheinend eine gewisse Rolle. Sie fürchtete nach der geschlossenen Ehe eine bayerische Intrige.⁹ Die Schwiegersöhne der Kaiserinwitwe erhofften sich mögliche Erbansprüche, die auch Gesprächsthema während der hier zu besprechenden Familientreffen waren. Die junge Maria Theresia fand zu Beginn ihrer Herrschaft in ihrer Tante eine Vermittlerin zwischen Bayern und Sachsen-Polen im Österreichischen Erbfolgekrieg. Amalia Wilhelmina verstarb in der von ihr gestifteten und errichteten Klosterresidenz am Rennweg im Jahre 1742.¹⁰
Die „Regentin“ Bei der Regentschaft Eleonora Magdalenas handelte es sich im Grunde um eine Vertretung für ihren abwesenden Sohn Karl III. von Spanien, bis zu dessen Ankunft als Kaiser Karl VI. am 26. Januar 1712 in Wien, weshalb diese eigentlich als Statthalterschaft bezeichnet werden muss.¹¹ Da Eleonore Magdalena in den zeitgenössischen Quellen durchgehend als „Regentin“ tituliert wurde, wird dieser Terminus im Beitrag beibehalten.¹² In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Überlieferungsdichte prinzipiell über kaiserliche Witwen als Repräsentationsfiguren im Wiener Diarium weit größer ist als in den Zeremonialprotokollen sowie Zeremonialakten, die im Obersthofmeisteramt verfasst wurden und in erster Linie Anlässe des regierenden Hofes protokollierten und heute im Österreichischen Staatsarchiv (Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv) verwahrt werden. Obwohl es zu erwarten wäre, dass Einträge über Eleonora Magdalena als Regentin in diesen Quellen
Cornelia Jöchner: Dresden, 1719: Planetenfeste, kulturelles Gedächtnis und die Öffnung der Stadt, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 24 (1997), S. 249 – 270; Seitschek. Tagebücher, S. 145; Sebastian Werr: Inszenierte Herrschaftsansprüche. Musik und Theater beim Münchener Hochzeitsfest des Jahres 1722, in: Musik in Bayern 68 (2004), S. 95 – 137. Seitschek, Tagebücher, S. 201. Pölzl, Die Stifterin, S. 27 f. Pauline Puppel: Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500 – 1700. (Geschichte und Geschlechter 43). Frankfurt a. M. 2004, S. 35 – 38, hier 87; Heide Wunder: Geschlechterverhältnisse und dynastische Herrschaft in der Frühen Neuzeit, in: Gabriele Baumbach/Cordula Bischoff (Hrsg.), Frau und Bildnis 1600 – 1750. Barocke Repräsentationskultur an europäischen Fürstenhöfen. Kassel 2003, S. 15 – 38. ÖStA, HHStA, OMeA, ZA Prot. (Protocollum Aulicum in Ceremonialibus) 7 (1710 – 1712); auch an ihrem Namenstag (22.07.1711), ebd., fol. 62r.
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mehr Gewicht bekommen hätten, ist dies nicht der Fall. Das Wiener Diarium ist deshalb besonders wertvoll, wenn es um den Aspekt der Repräsentation kaiserlicher Witwen in der Öffentlichkeit geht.¹³ Stefan Seitschek hat sich intensiv mit dem Informationswert dieser Quellen und der Wiener Zeitung und dem damit verbundenen Kommunikationsfluss der Hofberichterstattung beschäftigt.¹⁴ Die Bedeutung der beiden Frauen spiegelt sich auch in den Tagebüchern Karls VI. wider.¹⁵ Als Legitimation der Mutter Karls III. (VI.) wurde immer wieder deren Krönungen als Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches (Augsburg 1690) und Königin von Ungarn (1681) sowie die testamentarische Verfügung Leopolds I. angegeben. Joseph I. hatte zudem noch vor seinem Tod seine Mutter als Regentin bestimmt.¹⁶ Festzustellen ist jedoch, dass die Krönung zur Kaiserin des Heiligen Römischen Reiches keinerlei Bedeutung für ihre Funktion als Statthalterin in den Erblanden hatte. Im Gegensatz dazu scheint ihre ungarische Krönung als Voraussetzung von Seiten der ungarischen Magnaten verstanden worden zu sein. Dieser Umstand ist zu betonen, da im Königreich Ungarn die Vertretung des abwesenden Herrschers durch den Palatin vorgesehen war.¹⁷ Es ist jedoch zu vermuten, dass durch die allgemeine Statthalterschaft Eleonora Magdalenas für alle Erblande Einigkeit symbolisiert werden sollte. Inwieweit es sich hier um eine Machtdemonstration zu Ungunsten der jüngst verwitweten Amalia Wilhelmina handelte, ist schwer zu beurteilen. Jedoch können die tiefe Trauer und die damit eingeforderte Zurückgezogenheit im ersten Jahr der Witwenschaft Amalia Wilhelminas nicht als Erklärung dienen. Außerdem bot Eleonora Magdalena ihrer Schwiegertochter eine gemeinsame Regentschaft an, was allerdings – durch den von Karl III. (VI.) zur Seite gestellten Rat – abgelehnt wurde.¹⁸ Amalia Wilhelmina selbst war zu diesem Zeitpunkt erkrankt – ihr Ge-
Anna Fleisch: Kaiserinnen in der Öffentlichkeit. Darstellungen und Handlungsräume in der Wiener Zeitung (1703 – 1721). Masterarbeit Wien 2015, S. 11. Der Autor dieses Beitrages war Freier Mitarbeiter des von der Stadt Wien (MA 7) geförderten Projekts „Das Wien[n]erische Diarium als Medium habsburgischer Repräsentationsstrategien“ (01.01. 2019 – 29.02. 2020) unter der Leitung von Dr. Anna Mader-Kratky am Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Stefan Seitschek: „Einige caeremonialpunkten be[treffend]“. Kommunizierende Gefäße: Zeremonialprotokoll und Wiener Diarium als Quelle für den Wiener Hof (18. Jahrhundert). Magisterarbeit Wien 2011. Seitschek, Tagebücher, S. 126 – 128, 142– 148. Ingrao/Thomas, Piety and Power, S. 123 f. Kálmán Benda: Der Rákóczi-Aufstand in Ungarn und die europäischen Mächte (1703 – 1711), in: Österreich in Geschichte und Literatur 22 (1978), S. 328 – 337. Ingrao/Thomas, Piety and Power, S. 116.
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mahl soll sie mit einer venerischen Krankheit infiziert haben – und verbrachte längere Zeit auf Kur außerhalb Wiens in Bockfließ.¹⁹ Die Regentin besuchte mehrmals mit ihren beiden Töchtern ihre Schwiegertochter, was vermuten lässt, dass das Verhältnis zwischen den beiden Kaiserinnen nicht so schlecht gewesen sein mag.²⁰ Zudem waren wahrscheinlich die zwei Söhne, die Eleonora Magdalena geboren hatte, eine ausreichende Legitimierung als Regentin. Im Wiener Diarium wurde im Namen Karls bekanntgegeben, dass „die verwittibt=Römische Kaiserin Eleonora Magdalena Theresia sohtaner Erb=Königreichen und Landen Regierung“²¹ bis zu seiner Ankunft innehaben sollte.²² Eleonora Magdalena wurde bereits kurz nach dem Tod Josephs I., im Rahmen der Vorbereitungen für dessen Trauerfeierlichkeiten, als Regentin bezeichnet.²³ Ihre Befugnisse als Regentin waren allerdings begrenzt. So lag die letzte Entscheidungsgewalt bei Karl III. (VI.). Außerdem wurde ihr ein Beirat – der sich aus Gefolgsleuten ihres Sohnes zusammensetzte und als „Aufsichtsorgan“ bezeichnet werden kann, zur Seite gestellt. Diesem gehörten der Präsident des Hofkriegsrats Prinz Eugen von Savoyen (1663 – 1736), der ehemalige Obersthofmeister Josephs I., Leopold Donat Fürst Trautson (1659 – 1724), der Hofkanzler Johann Friedrich Freiherr Seilern (1646 – 1715), der Obersthofkanzler Philipp Ludwig Graf Sinzendorf (1671– 1742), der böhmische Kanzler Johann Wenzel Wratislaw Graf Mitrowitz (1669 – 1712) und der Reichsvizekanzler Friedrich Karl Reichsgraf Schönborn (1674– 1746) an. Eleonora Magdalena bevorzugte allerdings ihre „Parteigänger“, deren Einfluss bereits ihr verstorbener Sohn Joseph I. und nun auch Karl III. (VI.) einzuschränken versuchten. Trotzdem gelang es Eleonora Magdalena, ihren Vertrauten, den bisherigen Reichshofrats(‐präsidenten) Ernst Friedrich Graf Windisch Graetz (1670 – 1727), als Gesandten für die Kaiserwahl einzusetzen. Weiter zählten Karl Ernst Graf Waldstein (1661– 1713) sowie der ehemalige Oberstkämmerer Josephs I., Heinrich Graf Mansfeld (1640/41– 1715) zu ihren Verbündeten. Karl III. (VI.) griff zunächst auf Personen zurück, die bereits
ÖStA, HHStA, OMeA, ZA Prot. 7 (1710 – 1712), fol. 63v. Am 28.07.1711 reiste Amalia Wilhelmina zur Kur dorthin. Wien[n]erisches Diarium (Wiener Zeitung) Nr. 835, 01.–04.08.1711 (Visite am 03.08.1711), in Folge abgekürzt mit WD; WD Nr. 837, 08.–11.08.1711 (Visite am 11.08.1711); WD Nr. 839, 15.–18.08. 1711 (Visite am 17.08.1711); WD Nr. 842, 26.–28.08.1711 (Visite am 27.08.1711); Ebd. Nr. 843, 29.08.– 01.09.1711 (Visite am 01.09.1711); Ebd. (Visite am 17.09.1711); WD Nr. 848, 16.–18.09.1711 (Visite am 16.09.1711); WD Nr. 850, 23.–25.09.1711 (Visite am 24.09.1711), alle Ausgaben ohne Paginierung. WD Nr. 805, 18.–21.04.1711, ohne Paginierung. Ebd. ÖStA, HHStA, OMeA, ZA Prot. 7 (1710 – 1712), fol. 44r.
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unter seinem Bruder gedient hatten. Seiner Mutter gelang es schließlich, nur die Entlassungen von Mansfeld, Waldstein und Windischgrätz hinauszuzögern.²⁴ Mit der Regentschaft Eleonora Magdalenas werden meist der Rakoczy′sche Aufstand und die damit verbundenen Verhandlungen, die im Jahr 1711 mit dem Szathmarer Frieden vom 29. April 1711 ihren Abschluss fanden, in Zusammenhang gebracht. Die Regentin sollte alle Fragen mit dem ihr zur Seite gestellten Rat erörtern, was jedoch Entscheidungen immer wieder hinauszögerte und Konflikte heraufbeschwor. Die letzte Entscheidungsgewalt lag in allen Belangen offiziell bei Karl III. (VI.) Wie groß der Einfluss Eleonora Magdalenas auf die Verhandlungen war, kann nur schwer erörtert werden. Schließlich waren bereits in den letzten Monaten vor dem überraschenden Tod Josephs I. die Gespräche weit fortgeschritten. Der Umstand, dass einer der kaiserlichen Hauptverhandler Johann Fürst Pálffy von Erdöd (1664– 1751) der Vater der letzten Geliebten Josephs I. war, störte die fromme Witwe Eleonora Magdalena, die ihn deshalb von den Verhandlungen ausschließen wollte, was jedoch verhindert werden konnte.²⁵ Im Wiener Diarium wird nach dem Ende des Aufstands betont, dass Dank Eleonora Magdalena ungarische Abtrünnige zurück gewonnen werden konnten, aufgrund „der mit himmlischer Vorsichtigkeit waltenden Regierung unser dermalig allergnädigsten Regentin“.²⁶ In diesem Sinne wurde auch das alljährlich stattfindende Kreuzfindungsfest von der Großmeisterin des Sternkreuzordens inszeniert, indem ein Schiff symbolisch für ihre Regentschaft bildlich dargestellt wurde.²⁷ Unter ihre Maßnahme fiel außerdem die Einberufung des niederösterreichischen Landtags. Da dies in Abwesenheit des Herrschers geschah, berief man sich bei der Vorgehensweise auf das Jahr 1670, als Leopold I. aus gesundheitlichen Gründen am damaligen Landtag nicht teilnehmen konnte.²⁸ Im Namen Eleonora Magdalenas erfolgten Ernennungen,Vereidigungen, aber auch Verordnungen. Letztere ließ nicht lange auf sich warten, als sie das übliche Verbot von Lustbarkeiten während der Trauerzeit verlautbaren ließ.²⁹ Eine weitere rasch darauf folgende Regelung betraf die Vereidigung der Stadtgarde und der Truppen auf die Regentin.³⁰ Als Generalfeldmeister ernannte sie am 27. April
Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711– 1740) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst). Darmstadt 2003, S. 59. Schmid, Eleonore Magdalena von der Pfalz, S. 171. WD Nr. 810, 06.–08.05.1711, ohne Paginierung. Ebd. WD Nr. 867, 21.–24.11.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 806, 22.–24.04.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 807, 25.–28.04.1711, ohne Paginierung.
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Heinrich Baron Birkly.³¹ Der Oberste Küchenmeister der Regentin, Ferdinand Ernst Graf Mollard, ehemaliger Geheimer Rat und Hofkammerrat Josephs I. fungierte als Kurier in Genua.³² Ihr Obersthofmeister Maximilian Guidobald Graf Thurn und Valsassina wurde mit großem Gefolge nach Olmütz ausgesandt um von der Bischofswahl zu berichten.³³ Anhand dieser Personen lässt sich der Wirkungskreis Eleonora Magdalenas nachzeichnen, die es offensichtlich verstand, für diese Aufgaben hohe Amtsträger ihres eigenen Hofes einzusetzen. Außerdem ernannte Eleonora Magdalena den hinterlassenen böhmischen Kammerrat Franz Sigmund Schmelzer von Glücksberg zum königlichen böhmischen Rentmeister³⁴ sowie Ephraim Strodt von Schrottenfels zum königlichen schlesischen Kammerrat³⁵. Im Namen der Regentin wurden auch Maßnahmen im Kampf gegen Seuchen in Ungarn und Siebenbürgen verlautbart.³⁶ Auch im Zusammenhang des Glücksspiels wurde ein Patent in ihrem Nahmen veröffentlicht.³⁷ Das Trageverbot von Degen für Handwerker fiel ebenso unter ihre Regentschaft.³⁸ Die fürstliche Tugend der Mildtätigkeit zeigte die Regentin im Rahmen von Begnadigungen vor dem Tod.³⁹ Aufmerksamkeit verdienen Eleonora Magdalenas Bemühungen, die Situation bezüglich Bayerns zu entschärfen, das seit 1704 von kaiserlichen Truppen besetzt war, was den frankophilen Kurfürsten Max Emanuel von Bayern (1662– 1726) ins Exil zwang. Seine Söhne hingegen wurden in die Österreichischen Erblande gebracht, wo sie zuerst in Klagenfurt und schließlich nach dem Herrschaftsantritt Karls VI. in Graz erzogen wurden.⁴⁰ Die Beziehung zwischen Wien und München sollte auf Wunsch von Eleonora Magdalena durch die religiöse Stiftung einer „Votivkirche der Heiligen Dreifaltigkeit“ sowie eines Karmeliterinnen-Klosters verbessert werden.⁴¹ Die Karmeliterin Josepha Antonia, geborene Gräfin Notthafft und ehemalige Hofdame der verstorbenen Erzherzogin Maria Antonia (1669 –
Ebd. WD Nr. 848, 16.–18.09.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 849, 19.–22.09.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 845, 05.–08.09.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 836, 05.–07.08.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 830, 15.–17.07.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 847, 12.–15.09.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 853, 03.–06.10.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 854, 07.–09.10.1711, ohne Paginierung. Andrea Zedler: „Alle Glückselligkeit seiner Education dem allermildesten Ertz-Hause Oesterreich zu dancken“. Hofstaat, Bildung und musikalische Unterweisung des bayerischen Kurprinzen Karl Albrecht in Graz (1712– 1715), in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 42 (2012), S. 337– 366, hier 338 – 345. Schmid, Eleonore Magdalena von der Pfalz, S. 171.
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1692), Tochter Leopolds I. sowie der ersten Gemahlin des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel, verließ deshalb Wien um das Unternehmen im Namen der Regentin voran zu treiben.⁴² Ein Aspekt, der Beachtung verdient, ist die Bedeutung Eleonora Magdalenas im Zusammenhang mit der Hofstaatsauflösung Josephs I., dessen Einrichtung für Karl III. (VI.) sowie der Bildung des Witwenhofstaats für Amalia Wilhelmina.⁴³ Trotz der dabei von Karl geforderten Einsparungen kam es – wohl auch wegen der Bevorzugung seines aus Spanien konfirmierten Personals – nicht dazu.⁴⁴ Außerdem müssen seine Mutter und Schwägerin auf ihren Forderungen beharrt haben, so dass er als Kaiser Karl VI. resigniert anmerkte, „wan es die kayserin[n] en nicht abstellen wollen, welches das beste were, wird man es wohl zahlen müssen“.⁴⁵ Auch im Wiener Diarium wurde im Zusammenhang der Eidablegung der höheren Amts- und FunktionsträgerInnen des Wiener Hofes berichtet⁴⁶ sowie über den Reisehofstaat für die Wahl und Krönung Karls III. zum Kaiser in Frankfurt am Main.⁴⁷ Zwar war es Eleonora Magdalena als Statthalterin verwehrt, unabhängige Entscheidungen zu treffen, aber als Repräsentationsfigur spielte sie bis zur Ankunft Karls III. (VI.) die zentrale Rolle am Wiener Hof. Dies zeigt sich in signifikanter Weise bei den Trauerfeierlichkeiten für ihren verstorbenen Sohn Joseph I., als sie den abwesenden Nachfolger vertrat. Da solch eine Situation bisher nicht vorgekommen war, musste die Vorgehensweise in verschiedenen Hofkonferenzen beratschlagt werden, bis es zu dieser Entscheidung kam.⁴⁸ Als am 3. Mai 1711 Eleonora Magdalena mit großem Gefolge im Dom zu St. Stephan an einem allgemeinen Gebet für eine glückliche Reise Karls III. (VI.) teilnahm, setzte sie damit ein nächstes demonstratives Zeichen. In diesen Tagen vernachlässigte sie nicht ihre Pflicht als Witwe ihrem verstorbenen Gemahl an seinem Todestag feierlich zu gedenken.⁴⁹ Eleonora Magdalena kam als Regentin ihren bisherigen frommen Aufgaben pflichtgemäß nach, wobei nun keine Rück-
WD Nr. 829, 11.–14.07.1711, ohne Paginierung. Zur Hofstaatsauflösung und gleichzeitigen Planung der Kaiserkrönung Karls ÖStA, HHStA, OMeA Prot. 7 (1710 – 1713), fol. 122v – 125r, 125v – 130r, 138r – 143v; Nennungen als Regentin ebd., fol. 125v, 138v, 139v, 207v; ÖStA, HHStA, OMeA, ZA Prot. 7 (1710 – 1712), fol. 69r – 72r. Irene Kubiska-Scharl/Michael Pölzl: Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711– 1768. Eine Darstellung anhand der Hofkalender und Hofparteienprotokolle (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 58), Innsbruck/Wien/Bozen 2013, S. 121 f. ÖStA, HHStA, OMeA Prot. 7 (1710 – 1713), fol. 351r. WD Nr. 854, 07.–09.10.1711; WD Nr. 855, 10.–13.10.1711; beide Ausgaben ohne Paginierung. WD Nr. 861, 31.10.–03.11.1711; WD Nr. 862, 04.–06.11.1711; beide Ausgaben ohne Paginierung. ÖStA, HHStA, OMeA, ZA Prot. 7 (1710 – 1712), fol. 39r–49v. WD Nr. 809, 02.–05.05.1711, ohne Paginierung.
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sicht auf mögliche Terminkollisionen mit dem regierenden Kaiser und seiner Gemahlin bei den zahlreichen öffentlichen Kirchgängen genommen werden musste. Im Grunde übernahm die Regentin einen Großteil der alljährlich wiederkehrenden Kirchgänge des Kaisers, wobei sie parallel auch jene als kaiserliche Witwe sowie als Großmeisterin des Sternkreuzordens weiterhin absolvierte.⁵⁰ Hinzu kamen nicht vorhersehbare fromme Verpflichtungen, etwa in Zusammenhang eines Trauerfalles, bei Geburten und Taufen oder Gebete für eine glückliche Reise und Ankunft Karls III. (VI.). Das Fest Allerheiligen am 1. November wurde von Eleonora Magdalena nicht nur für einen öffentlichen Kirchgang mit großem Gefolge genutzt, sie ließ auch aus Dank für die glückliche Ankunft ihres Sohnes in Mailand in Wien und Umgebung ein Dankesfest abhalten⁵¹, was auch nach der Wahl Karls III. zum Kaiser der Fall war.⁵² Am Beispiel des Festes des Heiligen Leopolds am 15. November zeigt sich, dass Eleonora Magdalena als Regentin nicht, wie sonst gebräuchlich, an einem anderen Tag das Stift Klosterneuburg mit großem Gefolge besuchen musste, was sonst dem regierenden Kaiserpaar vorbehalten war.⁵³ Das Ordensfest der Ritter des Goldenen Vlieses am 30. November konnte aufgrund des abwesenden Karls III. (VI.) nicht gefeiert werden. Die Regentin begab sich an diesem Tag mit dem üblichen großen Gefolge in das Ursulinen-Kloster, um dem Ordensgelübde einer Gräfin von Hoyos beizuwohnen und nahm auch dort das Mahl zu sich.⁵⁴ Am Festtag der Unbefleckten Empfängnis, dem 8. Dezember, wohnte Eleonora Magdalena mit Gefolge im Dom zu St. Stephan dem Gottesdienst bei. Weiter beschenkte sie am selben Tag den neuen „rector magnificus, Christoph Schlitter, N.Ö. Regiments Raht, und allerhöchst gedacht ihrer verwittibt kaiserlichen Majestät Hofrath, von dero selben […] mit einer goldenen Ketten […] wegen seiner grossen Verdiensten“.⁵⁵ Eine wesentliche Vertreterfunktion übernahm die Regentin bei den Audienzen am Wiener Hof. Wie aus der unten befindlichen Tabelle ersichtlich, handelte es sich bei den meisten Audienzen um Kondolenzbekundungen oder um Berichterstattungen über den Reise-, Wahl- und Krönungsverlaufs Karls III. (VI.) sowie Beurlaubungsaudienzen. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass in den Zeremonialprotokollen keine einzige dieser Audienzen einen Eintrag wert war. Die
WD Nr. 812 13.–15.05.1711; WD Nr. 813, 16.–19.05.1711; WD Nr. 827, 04.–07.07.1711; WD Nr. 828, 08.–10.07.1711; WD Nr. 847, 12.–15.09.1711; WD Nr. 857, 17.–20.10.1711; WD Nr. 865, 14.–17.11.1711; WD Nr. 871, 05.–08.12.1711; alle Ausgaben ohne Paginierung. WD Nr. 861, 31.10.–03.11.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 867, 21.–24.11.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 865, 14.–17.11.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 869, 28.11.–01.12.1711, ohne Paginierung. WD Nr. 871, 05.–08.12.1711, ohne Paginierung.
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einzige Audienz, die sich in der Quelle findet, war jene des damals bereits offiziell verabschiedeten venezianischen Botschafters Lorenzo Tiepolo⁵⁶, um einen Kondolenzbesuch abzustatten. Im Vorfeld ergaben sich deshalb Schwierigkeiten, was wahrscheinlich der Grund für die Erwähnung in den Protokollen war. Da Tiepolo zu diesem Zeitpunkt nur noch inkognito in Wien war, musste er bei der Regentin um eine Privataudienz ansuchen, die ihm am 2. Mai 1711 gewährt wurde. Allerdings ergab sich eine weitere Komplikation, da der ehemalige Botschafter der Regentin ein Notifikationsschreiben zu überreichen wünschte, was ihm ausdrücklich verboten wurde.⁵⁷ Tabelle 1: In der Tabelle sind sämtliche Audienzen bei der Regentin Eleonora Magdalena sowie der jüngst verwitweten Kaiserin Amalia Wilhelmina während der Dauer der Regentschaft aufgelistet. Datum Audienz
AudienzwerberInnen
WD
. . Kondolenz Audienz bei E. M. T.
Gesandter Florenz Marc. Guadagni, Gesandter Parmas Comte Francesco Marqueiti, Mr. Albani (Verw. des Papstes)
Nr.
. . Kondolenz Audienz bei E. M. T.
Ehemaliger venezianischer Botschafter
K.E.
. . Kondolenz-Audienz bei E. M. T.
Verordnete der Stände: Gr. Christoph v. Schal- Nr. lenberg, Probst Ferdinand v. St. Dorothe, Hr. Johann Joachim v. Aichen, Abt Berthold v. Melk, Gr. Otto Ferdinand v. Hohenfeld, Unterlandmarschall Edl. Franz Anton v. Quient u. Raal (gest. )
. . Kondolenz-Audienz bei E. M. T.
Preuss. sowie braunschweig-lüneburgische Ge- Nr. sandte
. . Kondolenz-Audienz bei E. M. T.
Niederl. Gesandte
Nr.
. . Kondolenz-Audienz bei E. M. T.
Kardinal v. Lamberg
Nr.
ZA Prot.
fol. r– r
Zu den auch im folgenden genannten Diplomaten s. Ludwig Bittner/Lothar Groß (Hrsg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), Bd. 1: 1648 – 1715. Berlin 1936 und Friedrich Hausmann (Hg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder, Bd. 2: 1716 – 1763. Zürich 1950. ÖStA, HHStA, OMeA, ZA Prot. 7 (1710 – 1712), fol. 56r – 57r.
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Tabelle : In der Tabelle sind sämtliche Audienzen bei der Regentin Eleonora Magdalena sowie der jüngst verwitweten Kaiserin Amalia Wilhelmina während der Dauer der Regentschaft aufgelistet. (Fortsetzung) Datum Audienz
AudienzwerberInnen
WD
. . Kondolenz-Audienz bei E. M. T.
Siebenbürg. Stände
Nr.
. . Kondolenz-Audienz bei beiden Witwen
Gesandter v. Parma
Nr.
. . Abschiedsaudienz bei E. M. T.
Hofratspräsident v. Falkenstein (Ges. v. St. Kempten)
Nr.
. . Kondolenzaudienz bei A. W.
Päpst. Nuntius, ausl. Gesandte
Nr.
. . Kondolenzaudienz bei A. W.
Kardinal-Erzbischof v. Gran, Christian August von Sachsen-Zeitz ( – ); brit., poln., loth. Gesandte & von Trient
Nr.
. . Kondolenz-Audienz bei beiden Witwen
Gesandter v. Braunschweig-Lüneburg
Nr.
. . Abend-Audienz bei E. M. T.
Bericht Aloys T. Graf Harrach über Preußen & Nr. Braunschweig-Lüneburg, Audienz in- & ausländischer Minister
. . Kondolenz-Audienz bei beiden Witwen
Gesandte v. Parma
Nr.
. . Abend-Audienz bei E. M. T.
In- & ausländische Minister
Nr.
. . Kondolenz-Ab schiedsaudienz bei E. M. T.
Gesandter v. Parma
Nr.
. . Beurlaubung bei beiden Witwen
Preuss. geh. Staatsrat Metternich; junge G. v. Windischgrätz, beide reisen nach Frankfurt
Nr.
. . Kondolenzaudienz bei beiden Witwen
Dänischer Gesandte Friedrich Baron Weyberg
Nr.
. . Audienz bei E. M. T.
Maximilian Graf Thurn und Valsassina, Bericht über die Olmützer Bischofswahl
Nr.
. . Beurlaubung bei beiden Witwen
Abreise des Vizekanzlers des Hl. Rö. ReichsFriedrich Karl Graf Schönborn ( – )
Nr.
. . Audienz bei E. M. T.
Spät abends: Bericht des Ministers in Haag, Philipp Ludwig Graf Sinzendorf
Nr.
ZA Prot.
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Tabelle : In der Tabelle sind sämtliche Audienzen bei der Regentin Eleonora Magdalena sowie der jüngst verwitweten Kaiserin Amalia Wilhelmina während der Dauer der Regentschaft aufgelistet. (Fortsetzung) Datum Audienz
AudienzwerberInnen
WD
. . Beurlaubung bei beiden Witwen
Abreise Philipp Ludwig Graf Sinzendorf nach Mailand
Nr.
. . Audienz bei beiden Witwen
Wahlnachricht Karls zum Kaiser von Adam Ferdinand Graf Windischgrätz
Nr.
. . Audienz bei beiden Witwen
Bericht der Reise Karls III. (VI.) vom Kabinettskurier Joseph Haselmann
Nr.
. . Audienz bei E. M. T.
(Inkognito) venez. Botschafter
. .
Audienz bei beiden Witwen
Briefe aus Mailand von Karl III. (VI.) überbracht Nr. von hinterl. Trabanten-Hauptmann Graf Baglio, Gundacker Poppo v. Dietrichstein
. .
Audienz bei E. M. T.
Sächsischer Gesandte Wolfgang Heinrich v. Vesenich
Nr.
. . Audienz bei beiden Witwen
Kämmerer Leopold Reichsgraf Windischgrätz Bericht über Reise und Wahl, Briefübergabe
Nr.
. . Beurlaubung bei beiden Witwen
Abreise des Obersthofmarschall Adam Franz Fürst Schwarzenberg
Nr.
. . Audienz bei beiden Witwen
Hinter. Reichshofrat, Oberster Küchenmeister A. Nr. W., Johann Karl. Graf Nostitz, Bericht über Reise Karls III. (VI.) und aus Modena
. . Beurlaubung bei beiden Witwen
Max Prinz v. Hannover (reist nach Frankfurt)
. . Audienz bei beiden Witwen
Franz Raimund Graf Welz von Innsbruck zurück Nr. (gratulierte Karl im Namen v. E. M. T.)
ZA Prot.
fol. v– v
Nr.
Mit der Ankunft Kaiser Karls VI. im Januar 1712 endete die Regentschaft Eleonora Magdalenas. Es zeigt sich jedoch, dass es sich weitaus mehr als nur um eine stellvertretende, repräsentative Funktion handelte, und die Regentin sehr wohl versuchte, ihre Handlungsspielräume zu nutzen um nicht nur als Marionette ihres Sohnes zu fungieren. Auffällig ist zudem, dass sie neben dem intensiven Zeitpensum als Regentin ihre Witwenpflichten nicht vernachlässigte. Leider ist es
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nicht möglich, in diesem Rahmen vertiefender auf das herrschaftliche Handeln der Regentin Eleonora Magdalena einzugehen.
Amalia Wilhelmina – Die Zusammenkünfte in Neuhaus (Jindřichův Hradec) und Stift Melk Die letzte Dekade der Herrschaft Karls VI. war durch Verluste aufgrund des Polnischen Erbfolgekrieges (1733 – 1738)⁵⁸ sowie des Russisch-Österreichischen Türkenkrieges (1736 – 1739) geprägt, die seine Position im europäischen Herrschaftsgefüge schwächten. Die Kürfürsten von Sachsen und Bayern hofften deshalb verstärkt Erbansprüche auf die habsburgischen Erblande geltend machen zu können, obwohl etwa Friedrich August II. von Sachsen die Pragmatische Sanktion, im Gegenzug für Karls VI. Unterstützung zur Erlangung der polnischen Krone, anerkannt hatte. Am 17. Januar 1734 wurde der sächsische Kurfürst in Krakau zum König August III. von Polen gekrönt und im Wiener Präliminarfrieden im Jahr 1735 als solcher bestätigt. Für Karl VI. brachte dieser Krieg allerdings große Gebietsverluste in Italien mit sich. Die verlorenen Königreiche Neapel-Sizilien wurden zwar durch Parma und Piacenza ersetzt, der Tausch bedeutete aber nichts desto trotz eine herbe Enttäuschung. Der französische Gegenkandidat, Stanislaus Leszcyński (1677−1766), durfte den Ehrentitel „König von Polen“ tragen und erhielt das Herzogtum Bar sowie die Aussicht auf den Besitz von Lothringen. Franz Stephan von Lothringen musste sein Herzogtum an Ludwig XV. (1710 – 1774) von Frankreich abtreten und erhielt als Wiedergutmachung das Großherzogtum Toskana. Im Jahr 1737 fanden die Unterzeichnungen der Verträge mit den habsburgischen Erblanden und im Jahr 1738 mit dem Heiligen Römischen Reich, das seit 1734 in die Auseinandersetzungen involviert gewesen war, statt. Frankreich akkreditierte schließlich die in der Pragmatischen Sanktion festgelegte Erbfolge.⁵⁹ Karl VI. versuchte vergebens im türkischen Feldzug, an dessen Teilnahme er durch das mit Russland im Jahre 1726 ausgehandelte Bündnis verpflichtet war, die italienischen Gebietsverluste auszugleichen. Das Ergebnis im Frieden von Belgrad am 18. September 1739 war für Karl VI. bitter, ging doch ein Großteil der einst unter
Stefan Seitschek: Geschichtlicher Abriss, in: ders./Herbert Hutterer/Gerald Theimer (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI. 1711– 1740. Spuren der Herrschaft des „letzten“ Habsburgers. Ausstellungskatalog. Wien 2011, S. 38 – 57, hier 49 – 51. Karl Vocelka: Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im Habsburgischen Vielvölkerstaat (Österreichische Geschichte 1699 – 1815, hrsg. von Herwig Wolfram). Wien 2001, S. 162– 164.
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Prinz Eugen von Savoyen 1718 gewonnenen Gebiete im Osten verloren. Der Kaiser konnte zumindest darauf verweisen, dass durch die Ankerkennung der Pragmatischen Sanktion, vor allem durch Frankreich, aber auch durch Sachsen, die außenpolitischen Niederlagen und Gebietsverluste nicht gänzlich vergebens waren. Die Familientreffen der kaiserlichen Witwe Amalia Wilhelminas mit ihren Töchtern und deren Familien in den Jahren 1737 in Neuhaus in Böhmen und 1739 im Stift Melk, im heutigen Niederösterreich, wurden in diesem Zusammenhang kaum wahrgenommen⁶⁰, obwohl diese in gedruckten Reisebeschreibungen, im Wien[n] erischen Diarium oder dem Zedlerschen Universallexikon ihren medialen Niederschlag fanden.⁶¹ „Der Antrieb zu solcher Reise war das verlangen dieser gottesfürchtigen Kaiserin, in ihrem Leben ihre geliebteste Frau Tochter und derselben gesegnete Familien noch einmal zu sehen und zu sprechen“.⁶² Es muss nicht extra betont werden, das weitaus mehr hinter dem Familientreffen in Neuhaus 1737 zu vermuten ist, als die mütterliche Sehnsucht Amalia Wilhelminas, ihre Tochter und deren Familie noch einmal wiederzusehen. Das Zitat verdeutlicht aber das Verbergen jeglicher politischer Intentionen, obgleich es sich hier um eine ausgefeilte, äußerst repräsentative, diplomatische sowie nicht zuletzt dynastische Zusammenkunft handelte.⁶³ Der Moment der Begrüßung Amalia Wilhelminas von ihrer Familie wurde sogar in einem Gemälde verewigt. Es handelt sich dabei um kein
Pongratz, Adel und Alltag, S. 235 – 237. Sebastian Brunner: Die „höchst vergnügliche Raiß“ des Churfürsten Carl Albrecht von Bayern nach Mölk 1739. Ein heiteres und getreues Bild des deutschen Hoflebens und Hofceremoniells im 18. Jahrhundert. Nach einer Handschrift der Münchener Hof= und Staatsbibliothek. Mit einer historischen Einleitung. Wien 1871; zur Reise nach Neuhaus: O.A.: Historisches Jahr-Buch vom Jahr Christi 1737. Frankfurt-Leipzig 1739, 177– 182; O. A.: Des Neu=eröffneten historischen Bilder=Saals, Zehender Theil. Das ist: kurze / deutliche und unpartheyische Beschreibung der Historiae universalis, enthaltend die Geschichten welche sich unter den glorwürdigst=regierenden Kayser Carolo VI. und Carolo VII. von dem Jahr 1734 bis auf das Jahr 1743 vornemlich in Europa, auch sonst hin und wieder in der Welt und in der Kirche zugetragen. Durchgehends mit vielen Kupfern ausgezieret und mit gehörigen Registern versehen. Nürnberg 1744, S. 319 – 321. Allerdings müssen diese Berichte sehr kritisch gelesen werden. Historisches Jahr-Buch, S. 177. Andreas Pečar: Das Hofzeremoniell als Herrschaftstechnik? Kritische Einwände und methodische Überlegungen am Beispiel des Kaiserhofes in Wien (1660 – 1740), in: Ronald G. Asch/ Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess – Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 381– 404; Friedrich Carl von Moser: „Teutsches Hof-Recht“, Bd. 1. Frankfurt/Leipzig 1754, S. 610.
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Familienbild, sondern wie es Bischoff bezeichnet, um ein Ereignisbild, das dieses zeremonielle und diplomatische Ereignis wiedergibt.⁶⁴ Das polnische Königs- sowie sächsische Kurfürstenpaar reiste am 20. Mai 1737 von Dresden ab, um sich auf habsburgischen Boden, nämlich im Königreich Böhmen, auf Schloss Neuhaus mit Amalia Wilhelmina zu treffen. An der böhmischen Landesgrenze wurde Maria Amalia und Friedrich August (III.) vom böhmischen Obersten Landesrichter, Joseph Franz Reichsgraf Wrbna (Würben) (1675 – 1753) sowie dem Prager Statthalter Wenzel Ernst Marquard Graf Hradek im Namen Karls VI. offiziell empfangen. Die streng geregelten zeremoniellen Abläufe verdeutlichen den offiziellen Charakter dieser Reise. Die Reisegesellschaft kam nach mehreren Stationen in der Stadt Tabor (Tábor) an, wo sie mit Trompeten- und Paukenschall sowie Kanonenschüssen empfangen wurden. Am darauf folgenden Tag wurde das Mittagsmahl auf dem Schloss des kaiserlichen polnischen Gesandten Franz Karl Graf Wratislaw (gest. 1750) bei Dirna (Dírna) eingenommen, wo im Anschluss ein Konzert für die hohen Gäste aufgeführt wurde. Die Reisegesellschaft erreichte um vier Uhr nachmittags Neuhaus, wo sie auf dieselbe Art und Weise wie in Tabor feierlich willkommen geheißen wurde. Im Anschluss bezogen sie das Schloss Neuhaus des kaiserlichen Kämmerers Franz Anton Graf Czernin (1710 – 1780).⁶⁵ Beim Verlassen der Kutsche wurde das Kurfürstenpaar vom böhmischen Burggraf Johann Ernst Graf Schaffgotsch (1675 – 1747) sowie dem Gouverneur von Brünn, Philipp Ludwig Wenzel Graf Sinzendorf (1671– 1742) begrüßt. Ein Kommando der Garnison von Brünn (Brno) war für die Sicherheit während des Aufenthalts verantwortlich. Die Kurprinzen Friedrich Christian (1722– 1763)⁶⁶, Franz Xaver (1730 – 1806) und die Kurprinzessinnen Maria Amalia (1724– 1760), Maria Anna (1728 – 1797) sowie Maria Josepha Karolina (1731– 1767) waren bereits früher in Neuhaus angelangt.⁶⁷
Das Bild ist nur als Kopie überliefert, Cordula Bischoff: Aufklärung in Sachsen? Das höfische Familienporträt zwischen Staatsrepräsentation und Empfindsamkeit, in: Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts 37 (2013), S. 202– 218, hier 212 f. Das Schloss Neuhaus bot für die Zusammenkunft der großen Reisegesellschaften die entsprechenden räumlichen Kapazitäten. Friedrich Christian besuchte seine Großmutter im Rahmen seiner Kavalierstour während seines Wienaufenthalts mehrmals in ihrer Klosterresidenz am Rennweg; Maureen Cassidy Geiger: „Je recu ce Soir le monde marqué“: A Crown Prince of Saxony on the Gand Tour in Italy, 1738 – 1740, in: The international Fine Arts and Antique Dealers Show Handbook. New York 2004, S. 21– 31. Historisches Jahr-Buch, S. 179. Laut der Reisebeschreibung im Jahrbuch nahmen an dem Treffen fünf Prinzessinnen teil, was allerdings aufgrund des Alters von Maria Christina (1735 – 1782) und Maria Elisabeths (1736 – 1818) unwahrscheinlich ist.
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Am selben Abend kam Amalia Wilhelminas Kammerherr Franz Wilhelm Graf Thierheim (Thürheim, 1692– 1749) nach Neuhaus, um sich nach dem Wohlbefinden der polnischen Majestäten zu erkundigen. Im Gegenzug wurde der kurfürstliche Hofmarschall Johann George von Einsiedel (1692– 1760, ab 1745 Graf) zur Kaiserinwitwe ausgesandt, um das Kompliment zu erwidern sowie sich nach deren Befinden zu erkundigen. Um acht Uhr abends war es soweit und Amalia Wilhelmina wurde mit ihrem kaiserlichen Gefolge in der Stadt Neuhaus unter Trompeten- und Paukenschall, dreimaligen Kanonendonner und dem Läuten aller Glocken – was beim königlichen Paar unterblieben war, um den höheren Rang der kaiserlichen Witwe hervor zu streichen – empfangen. Das Königspaar, deren Kinder und der gesamte Hof begrüßten die Kaiserin, als sie aus der Kutsche ausstieg. Amalia Wilhelmina übernahm ab diesem Zeitpunkt sämtliche Kosten. An diesem Abend wurde, wie es auch in den nächsten Tagen beobachtet worden war, in den privaten Räumen der kaiserlichen Witwe das Mahl unter Bedienung der kaiserlichen Hofdamen eingenommen. Dies ermöglichte es, aufgrund der dort geltenden strengeren Zutrittsordnung, Tafeln mit geringer Öffentlichkeit abzuhalten, weshalb die Sitzordnung nicht im selben strengen Maße befolgt werden musste.⁶⁸ Am nächsten Morgen besuchte Maria Josepha ihre Mutter in deren Gemächern. Anschließend fand eine Gegenvisite bei der Königin statt, an der nun auch ihr Gemahl, die zwei Prinzen und die Prinzessinnen teilnahmen. Darauf kehrte die gesamte Gesellschaft in die Räume der Kaiserinwitwe zurück, wo Amalia Wilhelmine an ihre Familie wertvolle Präsente verteilte. Sie selbst wurde auch großzügig beschenkt.⁶⁹ Dies ist nicht nur als eine gegenseitige Wertschätzung zu werten, sondern spiegelt auch ein komplexes diplomatisches Gabensystem wider.⁷⁰ Am 26. Mai fanden nicht näher beschriebene Andachten und Zeremonien statt. Am selben Abend gewährte Amalia Wilhelmina dem königlich-polnischen
Moser verwies eigens auf die Bedeutung des Orts, Moser: Teutsches Hofrecht 1, 512 f.; Andreas Gugler: Bankette in Wien und Dresden 1719. Die Hochzeit der Erzherzogin Maria Josepha mit dem Kurprinzen Friedrich August von Sachsen, in: Ilsebill Barta-Fliedl/Andreas Gugler/Peter Parenzan (Hrsg.), Tafeln bei Hofe. Zur Geschichte der fürstlichen Tafelkultur (Publikationsreihe der Museen des Mobiliendepots 4), Hamburg 1998, S. 53 – 62, hier 57 f.; Ingrid Haslinger: „Der Kaiser speist en public“. Die Geschichte der öffentlichen Tafel bei den Habsburgern vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, in: Hans Ottomeyer/Michaela Völkel (Hrsg.), Die öffentliche Tafel. Tafelzeremoniell in Europa 1300 – 1900. Ausstellungskatalog. Berlin 2002, S. 48 – 57, hier 52 f. Historisches Jahr-Buch, S. 178 – 181; Lessmann, Meissen Porcelain, S. 113 – 117. Allgemein dazu Mark Häberlein/Christoph Jeggle (Hrsg.), Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Konstanz/ München 2013; Cassidy-Geiger (Hrsg.), Fragile Diplomacy.
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Kabinettsminister Aleksander Jósef Sulkowsi (1695 – 1762) und dem sächsischen Kabinettsminister Heinrich Graf Brühl (1700 – 1763), dem späteren Premierminister, eine Audienz. Allerdings wurde über den Inhalt dieser Gespräche nichts verlautbart. Weitere Audienzen fanden tags darauf, nach dem Besuch einer Messe, bei der Kaiserinwitwe statt. Hierbei handelte es sich wahrscheinlich um reine Höflichkeitsbesuche der königlichen Beichtväter, dem bereits erwähnten königlichen Hofmarschall, dem Obersthofmeister des Kurprinzen Friedrich Christian, Baron Westenberg und einigen Kammerherrn des kursächsischen und polnischen Hofes, denen allen der Handkuss gewährt wurde.⁷¹ Abends führten die Enkelkinder für ihre kaiserliche Großmutter sowie einem ausgewählten kleinen Publikum eine Pastorale auf, wobei die Prinzessin Maria Amalia nicht nur sang, sondern auch am „calvecin“⁷² ihr Können unter Beweis stellte. Der Kurprinz Karl teilte zuvor Gesangsbücher an seine Großmutter und Eltern aus, während der Kammerherr Georg Graf Werthern dies für die übrigen Gäste übernahm. Am 28. Mai wurde wieder eine Messe besucht und nicht weiter beschriebene Visiten gegeben. Abends sah die Kaiserinwitwe ihrer Familie bei einem Armbrustschießen zu. Am folgenden Tag hatte der Neffe Amalia Wilhelminas, der bisher in der Beschreibung unerwähnt gebliebene Prinz Francesco (III.) d′Este (1698 – 1780), Audienz bei seiner Tante und den polnischen Majestäten. Am selben Tag überbrachte, auf kaiserlichen Befehl, Graf Wratislaw die Nachricht über die Erhebung Brühls in den Reichsgrafenstand.⁷³ Als sich der gemeinsame Aufenthalt in Neuhaus dem Ende näherte, verteilten Amalia Wilhelmina und ihre Familie an Personen beider Höfe Geschenke. Die Enkelkinder verabschiedeten sich von ihrer kaiserlichen Großmutter am 30. Mai und reisten Richtung Prag voraus. Maria Josepha und ihr Gemahl Friedrich August (III.) folgten am 1. Juni ihren Kindern, nachdem die kaiserliche Witwe abgereist war.⁷⁴ Auffällig sind die detaillierten Angaben der zeremoniellen Abläufe, etwa an der Tafel oder dem Verteilen der Gesangsbücher. Hervorzuheben sind vor allem die Audienzen der politisch einflussreichreichen Vertrauten des polnischen Königs bei Amalia Wilhelmina. Es ist zu vermuten, dass es sich hierbei weitaus mehr als um gewöhnliche Anstandsvisiten handelte. Sie hofften wahrscheinlich auf die Unterstützung der kaiserlichen Witwe, deren Einfluss in der Historiographie lange Zeit unterschätzt wurde. Die Zusammenkunft in Neuhaus führte bei den inter Historisches Jahr-Buch, S. 180 f. Ein Cembalo. Im Neu=eröffneten historischen Bilder=Saals, Zehender Theil findet sich eine bildliche Darstellung der Prinzen und Prinzessinnen beim Spiel, S. 320. Historisches Jahr-Buch, S. 181. Ebd., S. 182.
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nationalen Beobachtern zu einigen Spekulationen. So wurde seitens der Venezianer eine Eheverbindung des sächsischen Kronprinzen mit einer habsburgischen Prinzessin vermutet, die die Verbindung der beiden Dynastien stärken sollte. Außerdem soll Amalia Wilhelmina ihren königlichen Schwiegersohn ein Geheimdokument überreicht haben, durch das sein Anspruch auf das habsburgische Erbe gestärkt werden sollte.⁷⁵ Dem bayerischen Schwiegersohn Amalia Wilhelminas war die Zusammenkunft in Stift Melk 1739 ein besonderes Anliegen.⁷⁶ Nachdem er sich der französischen Unterstützung nicht mehr sicher sein konnte, war er gezwungen, sich Kaiser Karl VI. anzunähern. Karl (VII.) Albrecht forcierte sämtliche Anstrengungen, um das Treffen voranzutreiben, weshalb er wenig Rücksicht auf seine, nach der Geburt der späteren Kaiserin Maria Josepha (1739 – 1767) geschwächte Frau nahm. Zudem versuchte er über die Vertraute der kaiserlichen Witwe, dem Kammerfräulein Marie Charlotte von Klencke (1681– 1748), sein Anliegen bei seiner Schwiegermutter zum Erfolg zu führen.⁷⁷ Als Vorbild für den zeremoniellen Ablauf orientierte man sich am Beispiel von Neuhaus, weshalb der kurfürstliche Kämmerer und Vizestallmeister Herr Baron Mayrhofen nach Wien abgesandt wurde, um diesbezügliche Informationen einzuholen. Außerdem musste die Aufenthaltserlaubnis für die bayerische Reisegesellschaft beschafft werden. Mayrhofen hatte ferner eine Audienz bei der Kaiserinwitwe Amalia Wilhelmina sowie ein Zusammentreffen mit deren Vertrauten Kammerfräulein von Klencke.⁷⁸ Als das bayerische Reisegefolge auf der Donau am 19. Juni 1739 die Stadt Linz erreichte, wurden sie offiziell vom Landeshauptmann Österreich ob der Enns, Ferdinand Bonaventura Graf Weissenwolf (1693 – 1781), sowie dem Landschaftspräsident Johann Wilhelm Graf Thierheim (Thürheim) begrüßt.⁷⁹ Auf der Donau
Lessmann, Meissen Porcelain, S. 113. Die Autorin verweist hier auf eine Quelle im Dresdner Archiv HStA, 10026 Geh.Kab. Loc. 782/10: Journal über die Zusammenkunft ihrer Majestät des Königs von Polen und ihre Majestät der Königin von Polen mit ihrer Majestät der Kaiserin Amalie zu Neuhaus. Pongratz, Adel und Alltag, S. 235. BHStA, Fürstensachen, Nr. 571, Die Zusammenkunft in Melk 1739 nach Berichten von Oetting, fol. 289r. BHStA, Fürstensachen, fol. 388r – 389v, 393r – v. Ebd., fol. 493r. Zu Thürheim s. Constant von Wurzbach (Hrsg.), Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 – 1850 im Kaiserstaate und in seinen Kronländern gelebt haben. 60 Bde. Wien 1856 – 1923, 2001 Nachdruck, hier Bd. 44, S. 294. Mitglieder der Familie Thürheim waren nicht nur am Wiener Hof zu finden, sondern bekleideten auch am Münchener Hof hohe Ämter. Christine Schneider: Briefe von Nonnen als Quelle für die Analyse familiärer Netzwerke. Die Augustiner Chorfrau Isabella von
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ging es rasch weiter, bis man noch am selben Tag Melk erreichte.⁸⁰ Während des Aufenthaltes sorgte im Stift die Wiener Stadtgarde für die Sicherheit. Der in diesem Jahr gewählte Abt Adrian Pliemel begrüßte seine hohen Gäste in seinem prächtigen Kloster. Nach dem Besuch einer Messe hielt der bayerische Kurfürst auf seine Kosten eine öffentliche Tafel ab, wie es auch an den folgenden Tagen beobachtet wurde. In diesem Zeitraum statteten außerdem Mitglieder des erbländischen Adels der Kurfürstenfamilie ihre Visite ab und waren zu den Tafeln zugelassen.⁸¹ Dies hatte wohl den Hintergrund, den Adel für die bayerische Sache zu gewinnen. Bis zur Ankunft der kaiserlichen Witwe, kamen also immer weitere Gäste nach Melk. Die Kurfürstenfamilie vergnügte sich unter anderem mit dem Besuch der Klosterbibliothek. Außerdem fand zur Unterhaltung ein Spiel statt, aus dem als Gewinnerin die Kurfürstin hervorging. Ferner gab es eine Theaterprobe. Am 22. Juni kamen, Graf Lamberg⁸² als kaiserlicher Gesandte und Graf Harrach⁸³ als Deputierter der Stände Österreichs unter der Enns, um die kürfürstliche Familie zu begrüßen.⁸⁴ Amalia Wilhelmina war am 21. Juni von Wien abgereist und verbrachte die erste Nacht der Reise in Judenau, um am nächsten Tag über Perschling, wo man das Mittagsmahl einnahm, weiter nach St. Pölten zu reisen. Dort angekommen, wurde sie bereits von ihrem Schwiegersohn, der inkognito von Melk angereist war, empfangen.⁸⁵ Der Kurfürst kehrte danach wieder nach Melk zurück, während die
Thürheim (1663 – 1723), in: MIÖG 122 (2014), S. 62– 81. An dieser Stelle möchte ich Christine Schneider für ihre Hinweise danken. Kubiska-Scharl/Pölzl, Karrieren, S. 715; Pongratz, Adel und Alltag, S. 314; Britta Kägler: Frauen am Münchener Hof (1651– 1756) (München Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte 18), Kalmünz/Opf 2011, S. 95, 104, 281, 316, 336, 413. Der Melker Aufenthalt wird auch von Lipowsky beschrieben, Felix Joseph Lipowsky: Lebens= und Regierungs=Geschichte des Churfürsten von Bayern. Karl Albert nachmaligen Kaisers Karl VII. München 1830. S. 224– 230. Der Autor erwähnt statt der Zusammenkunft in Purkersdorf mit dem Kaiserpaar fälschlicherweise eine mit der regierenden Kaiserin Elisabeth Christine in St. Pölten, an der auch die Kaiserinwitwe teilgenommen haben soll. Ebd., fol. 229 f., 790 f. Diese Vorteile wogen schwer, da es erst im Vorjahr im Stift einen großen Brand gab und deshalb die Reparaturen rasch vorangetrieben werden mussten, Brunner, Die „höchst vergnügliche Raiß“, S. 47. Brunner, Die „höchst vergnügliche Raiß“, S. 1 f., 24, 25 f. Es handelt sich möglicherweise um Johann Ferdinand Graf Lamberg, dem späteren Obersthofmeister der Erzherzogin Eleonore Magdalena oder Karl Graf Lamberg, der von 1731– 1737 kaiserlicher Edelknabe war. Kubiska-Scharl/Pölzl, Karrieren, S. 378, 449. Möglicherweise Ferdinand Bonaventura II. Graf Harrach (1708 – 1778). BHStA, Fürstensachen, fol. 493v. WD Nr. 57, 18.07.1739, S. 588.
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Kaiserinwitwe in St. Pölten die Nacht verbrachte.⁸⁶ Am 22. Juni überbrachte der kurfürstliche Oberstkämmerer Johann Maximilian IV. Emanuel Graf PreysingHohenaschau (1687– 1764) mit einem Gefolge Amalia Wilhelmina ein Kompliment und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden.⁸⁷ In Loosdorf wurde noch eine Mittagstafel abgehalten, bevor die kaiserliche Reisegesellschaft das Stift Melk erreichte. Die kaiserliche Witwe wurde – wie in Neuhaus– mit Kanonenschüssen und unter Glockengeläut in Melk feierlich empfangen und beim Aussteigen aus der Kutsche von ihrer Familie begrüßt.⁸⁸ Wie zwei Jahre zuvor, fanden die gemeinsamen Mahlzeiten in den Räumen der kaiserlichen Witwe statt. Brunner berichtet allerdings, dass die Tafel deshalb „all in cognito gehalten worden, weillen ihr ma(jestä)t auß frommer Absicht, lebenslänglich bey sich beschlossen, nicht mehr offentlich zu speisen“.⁸⁹ Dies kann aber als Begründung nicht standhalten, da Amalia Wilhelmina als Witwe sehr wohl an öffentlichen Tafeln, wie etwa bei den Hochzeiten ihrer beiden Töchter, teilgenommen hatte. Kaschiert wird dadurch allerdings der Rangunterschied zwischen der kaiserlichen Witwe und dem bayerischen Kurfürsten, der nicht im selben Maße zum Tragen kam. Das Gefolge beider Höfe wurde bei den unterschiedlichen Tafeln für die Minister, Hofdamen bis hin zu den unteren Ebenen der Hofstaatsmitglieder gemeinsam verköstigt.⁹⁰ Am 24. Juni wurde feierlich das Fest des Johannes des Täufers begangen, indem man vormittags einen öffentlichen Gottesdienst in der Klosterkirche beiwohnte und nachmittags eine Vesper besuchte. Tags darauf wurde von den Enkelkindern der Kaiserin eine Komödie auf einer eigens von München transportierten Bühne, die mit 3 000 Lichtern beleuchtet wurde, aufgeführt.⁹¹ Das Singspiel „Athalia“, nach dem Werk des Franzosen Racin unter Mitwirkung der bayerischen Kurprinzen und Kurprinzessinnen, kam zweimal zur Aufführung.⁹² Da es in einem relativ privaten Rahmen stattfand, fand sich als Zuschauerin auch die kaiserliche Großmutter ein. Neben dieser Kostprobe der gelungenen höfischen Erziehung ihrer Enkelkinder in den musikalischen Künsten, wohnte Amalia Wilhelmina – wie in Neuhaus – auch Proben der wissenschaftlichen Kenntnisse ihrer
Ebd. BHStA, Fürstensachen, fol. 493v. Ebd., fol. 450r. Brunner, Die „höchst vergnügliche Raiß“, S. 29. Ebd. WD Nr. 57, 18.07.1739, S. 588 f. BHStA, Fürstensachen, fol. 405r.
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Enkelkinder bei.⁹³ Preysing erwähnte neben den Theateraufführungen auch ein Wettschießen.⁹⁴ Wie vor zwei Jahren wurden kostbare Geschenke innerhalb der Familie und zwischen den beiden Höfen ausgetauscht. Die verwitwete Kaiserin Amalia Wilhelmina erhielt ein großformatiges, 130 Jahre altes Gemälde mit der Kreuzigungsszene aus der kurfürstlichen Kunstkammer. Eigens dafür wurde ein neuer, kunstvoller und äußerst kostbarer Silberrahmen angefertigt. Die Bedeutung des Kammerfräuleins Gräfin von Klencke als Vermittlerin für das Kurfürstenpaar spiegelt sich in ihrem wertvollen Geschenk wider, welches ebenso wie jene für den Obersthofmeister, Emanuel Fürst Liechtenstein und die Obersthofmeistern der kaiserlichen Witwe, Anna Margaretha Fürstin Esterházy de Galantha (geb. Desana) einen Wert von 6 000 fl. hatten.⁹⁵ Die übrigen Kammerfräulein und Hofdamen Amalia Wilhelminas erhielten Haarnadeln im Wert von je 2 000 fl.⁹⁶ Der bayerische Kurprinz reiste am 3. Juli von Melk nach St. Pölten, wo er die Nacht verbrachte. Tags darauf, nachdem die Kaiserinwitwe, das Kurfürstenpaar und die zwei Prinzessinnen die Messe gehört hatten, reiste die Gesellschaft von Melk ab. Während Amalia Wilhelmina sich mit ihrem Gefolge über Loosdorf wieder nach St. Pölten begab, reisten das Kurfürstenpaar und ihr ältester Sohn nach Purkersdorf bei Wien, um das Kaiserpaar inkognito zu treffen.⁹⁷ Der kurfürstliche Oberstkämmerer war für die Vorbereitungen dieser Zusammenkunft am 3. Juli eigens zu einer Audienz in die kaiserliche Sommerresidenz, der Favorita auf der Wieden, gereist.⁹⁸ Das Aufeinandertreffen des bayerischen Kurfürsten- mit dem Kaiserpaar in Schloss Purkersdorf in Wien war für erstere von großer Bedeutung, brachte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. In der bayerischen Historiographie wird dies unterschiedlich gesehen.⁹⁹ Interessant ist, dass im Wien[n]erischen Diarium diese Zusammenkunft nur am Rande der kaiserlichen Jagd Erwähnung findet, wahrscheinlich um die Bedeutung derselben herunterzusetzen. Überhaupt wird in der Zeitung wenig über die bayerische Prachtentfaltung im Stift Melk – wahrschein-
Karl Theodor Heigel: Historische Vorträge und Studien. München 1887 (Nachdruck 2017), S. 124. Pongratz, Adel und Alltag, S. 236. Kubiska-Scharl/Pölzl, Karrieren, S. 473. BHStA, Fürstensachen, fol. 416r – 419r; darin finden sich auch Geschenklisten für die unteren FunktionsträgerInnen. WD Nr. 57, 18.07.1739, S. 589. Die beiden älteren bayerischen Prinzessinnen kehrten auf direktem Weg nach München zurück. Pongratz, Adel und Alltag, S. 236. Ebd., S. 236 f.
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lich aus dem Grund, die Bayern nicht allzu glänzend darzustellen – erwähnt. In den Zeremonialprotokollen findet die Melker Zusammenkunft keine Beachtung. Allerdings wird das Geschehen in Purkersdorf darin minutiös beschrieben.¹⁰⁰ Das Treffen fand inkognito statt, um den zeremoniellen Aufwand möglichst gering zu halten, aber wahrscheinlich auch um in der Öffentlichkeit diesem nicht allzu großes Interesse zu schenken. Allerdings erschienen das bayerische Kurfürstenpaar und ihr Ältester trotzdem mit einem relativ großen Gefolge. Nach der, als herzlich beschriebenen Begrüßung, fand das Gespräch der hohen Herrschaften unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.¹⁰¹ Danach kehrte das Kurfürstenpaar mit ihrem Sohn nach St. Pölten zurück. Der Kurfürst verabschiedete sich noch am selben Abend von seiner Schwiegermutter, um nach München abzureisen. Der Kurprinz fuhr am 5. Juli per Post nach München, während seine Mutter bis zur Rückkehr Amalia Wilhelminas nach Wien, bei dieser in St. Pölten verweilte.¹⁰² Auffällig ist, dass bei der Zusammenkunft im Jahr 1739 weniger Audienzen bei Amalia Wilhelmina stattfanden, dafür die kurfürstliche Prachtentfaltung jene von 1737 übertraf. Im Gegensatz zum Treffen in Neuhaus wurde sogar eine Oper aufgeführt. Hervorzuheben ist jedoch, dass die Bedeutung der Vermittlerfunktion Amalia Wilhelminas sich bei beiden Zusammenkünften in besonderer Weise zeigt. Im Kontext des Anfangs und dem Ende Kaiser Karls VI., zeigt sich, dass es durchaus seine Berechtigung hat, auf seine Mutter als Regentin und seiner Schwägerin als Vermittlerin einzugehen. Besonders auffällig ist Eleonora Magdalenas hervorragende repräsentative Stellvertreterfunktion für ihren Sohn. Dies spiegelt sich in der Zeitung, dem Wien[n]erischen Diarium, in besonderer Wiese wider. Vor allem aber fällt der Umstand auf, dass in diesem Medium von rund dreißig Audienzen bei der Regentin berichtet wurde, in den Zeremonialprotokollen fand hingegen nur eine einzige Audienz Erwähnung. Es konnte auch aufgezeigt werden, dass Eleonora Magdalena als Regentin nicht nur repräsentativen Aufgaben nachkam. Jedoch muss ihr herrschaftliches Handeln noch vertiefend, mit Zuhilfenahme anderer Quellen, analysiert werden. Dass Amalia Wilhelmina bis zum Ende Karls VI. und darüber hinaus eine bisher stark vernachlässigte Rolle am Wiener Hof spielte, zeigen die beiden Familienzusammenkünfte in Neuhaus und Melk. Ihr Einfluss wurde von bayerischer sowie sächsischer Seite als groß genug eingeschätzt. Beide Treffen fanden in einem äußerst prächtigen Rahmen, wozu neben aufwendigen Tafeln auch musi ÖStA, HHStA, OMeA, ZA Prot. 17 (1739 – 1740), fol. 44r – 47r. Ebd. Pongratz gibt an, dass dabei möglicherweise über die Unterstützung von bayerischer Seite für Karl VI. gegen die Türken verhandelt wurde. Pongratz, Adel und Alltag, S. 236. WD Nr. 57, 18.07.1739, S. 589.
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kalische sowie theatralische Aufführungen zählten, statt. Seitens des Wiener Hofes fanden diese beiden Ereignisse in den hofinternen Quellen kaum Niederschlag und im Wien[n]erischen Diarium wurde das Treffen des Kaiserpaares mit dem bayerischen Kurfürstenpaar in Purkersdorf nur am Rande erwähnt.Was wohl damit zusammenhängt, dass man seitens des Wiener Hofes kein großes Aufsehen wünschte. Der Bedeutung Amalia Wilhelminas tut dies allerdings keinen Abbruch. Schließlich können diese Familienzusammenkünfte als dynastische Ereignisse betrachtet werden.
Teil II: Höfe und Residenzen
Virginia León Sanz
Der Hof und die Regierung von Karl VI. in Barcelona Im Oktober 1705 traf König Karl III. von Habsburg in Barcelona ein; zu diesem Zeitpunkt herrschte der Spanische Erbfolgekrieg, ein Konflikt, bei dem die österreichischen Habsburger und Bourbonen um den Thron der spanischen Monarchie rangen.¹ Seit seiner Geburt im Jahr 1685 wurde Erzherzog Karl erzogen, um in Madrid zu herrschen. Als jüngerer Sohn Kaiser Leopolds bestand durch diese Vorbestimmung vorerst keine Gefahr des Wiederaufbaus des Reiches Karls V. und der Universalmonarchie. Nach dem Tod seines Bruders Joseph I. 1711 jedoch folgte König Karl auf den Kaiserthron, ohne gleichzeitig aber auf die spanische Krone zu verzichten. Der Wiener Hof verzögerte nach dem Tod Karls II. 1700 die Proklamation des Erzherzogs zum König von Spanien. Nach Ansicht des katalanischen Historikers Francesc de Castellví war die Vermittlung des Admirals von Kastilien notwendig, damit am 12. Februar 1703 in der Favorita die Abtretung der Ansprüche auf die spanische Krone von Kaiser Leopold I. und seinem Erstgeborenen Joseph zugunsten des jüngeren Erzherzogs stattfand.² Vor dem Akt erfolgte jedoch noch die Unterzeichnung des Pactum mutuae successionis und die Zusage der Abtretung von Mailand an den zukünftigen Joseph I.³ Keines der beiden Abkommen war anfänglich in Spanien bekannt und im Laufe der Zeit verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Brüdern. Nach einer Reise über Holland und England sowie einem kurzen Aufenthalt in Lissabon erreichte der neue König aus dem Haus Habsburg per Schiff 1705 Barcelona, wo er seinen Hof, unterstützt von
Diese Arbeit wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Plan Nacional I+D+i Excelencia“ (2015), HAR2015 – 65987-P: La redefinición del espacio europeo y mediterráneo en el siglo XVIII. Política, diplomacia y conflictos“ (Die Neudefinition des europäischen und mediterranen Raums im 18. Jahrhundert. Politik, Diplomatie und Konflikte) erstellt. Virginia León Sanz: Carlos VI. El emperador que no pudo ser rey de España. Madrid 2003. Francisco de Castellví: Narraciones históricas desde el año 1700 hasta el año 1725. Viena 1726, 4 Bde., Fundación Elías de Tejada. Madrid 1997– 2002, Bd. 1 (1997), S. 389 – 391. Mathias Schnettger: A turn of Tide. The War of the Spanish Succesion and its Impact on German History, in: Antonio Álvarez-Ossorio/Cinzia Cremonini/Elena Riva (Hrsg.), The Transition in Europe between XVII and XVIII centuries. Perspectives and case studies. Mailand 2016, S. 35 – 52; ders.: Der Spanische Erbfolgekrieg. 1701– 1713/14. München 2014. https://doi.org/10.1515/9783110670561-007
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den Verbündeten, aufbaute.⁴ Noch zwei Jahre jünger als Philipp V. hatte er überdies ein viel jugendlicheres Image als der letzte habsburgische König auf dem spanischen Thron.⁵ Die Anwesenheit Karls III. aus dem Haus Habsburg in Spanien löste letztlich einen Bürgerkrieg im Rahmen eines internationalen Krieges aus, in dem nichts weniger als das künftige europäische Gleichgewicht auf dem Spiel stand.⁶ Kaiser Leopold hatte bereits Karl II. vor der Gefahr eines „grausamen Krieges und unvermeidlichen Untergangs“ gewarnt, wenn er sich von jenen überreden ließ, die der Ansicht waren, dass „um die Auswirkungen der konzertierten Zerstückelung zwischen Frankreich, England und Holland zu mindern, es kein anderes Mittel gab, als nach Spanien einen Enkel des christlichen Königs zu rufen und ihn zum Erben aller Königreiche zu ernennen“. Die Königreiche der spanischen Monarchie würden sich vielmehr nun gegen Frankreich verteidigen und dem Kaiser und seinen Verbündeten zu Hilfe kommen.⁷ Tatsächlich verursachte die Anwesenheit der anglo-holländischen Truppen vor den Ostküsten Unzufriedenheit mit der Regierung Philipps V. Die Unterzeichnung des Vertrags von Genua im Jahr 1705 zwischen England und den Katalanen zur Verteidigung ihrer Privilegien beschleunigte die Geschehnisse. In diesem Jahr erreichte der habsburgische König kurz darauf Barcelona, wo er seinen Hof etablierte. Karl III. agierte während seines Aufenthalts in Spanien als rechtmäßiger König.Von seinem Vater, Kaiser Leopold I., hatte er gelernt, dass der Hof der Anziehungspunkt sein und die Größe der Dynastie widerspiegeln sollte⁸, und in seiner Legitimation als Erbe Karls II. war die vom Hof ausgehende Botschaft von grundlegender Bedeutung.⁹ Am 23. Oktober zog Karl öffentlich in Barcelona ein, eine Zermonie, die Philipp V. einige Jahre zuvor abgelehnt hatte.¹⁰
Virginia León Sanz: Portugal en la Guerra de Sucesión española, in: Joaquím Albareda Salvadó/ dies. (Hrsg), Fra Domingos da Conceiçao, Diario Bellico. La Guerra de Sucesión en España. Alicante 2013, S. 36 – 114. Pere Voltes: Catalunya i l’Arxiduc Carles. Barcelona 2000. Joaquím Albareda Salvadó: La Guerra de Sucesión de España (1700 – 1714). Barcelona 2010. Brief des Grafen Aloys Thomas Raimund von Harrach an Karl II. vom 9. Juni 1700, ÖStA, AVA, Familienarchiv Harrach fam. in spec. 99.49. Die Aufteilungsverträge wurden untersucht in Luis Ribot/José María Iñurritegui (Hrsg.), Europa y los tratados de reparto de la Monarquía de España, 1668 – 1700. Madrid 2016. Jean Bérenger: El Imperio de los Habsburgo, 1273 – 1918. Barcelona 1993; Maria Goloubeva: The glorification of emperor Leopold I in image, spectacle and text. Mainz 2000. Zum Hof von Barcelona Jose Rafael Carreras i Bulbena: Carles d’Austria i Elisabeth de Brunswick-Wolffenbüttel. Barcelona 1902 (Nachdruck 1996). María Ángeles Pérez Samper: Felipe V en Barcelona: un futuro sin futuro, in: Cuadernos Dieciochistas: De los Austrias a los Borbones, 1 (2000), S. 57– 106.
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Die Pracht des habsburgischen Hofes in der katalanischen Hauptstadt wurde von der Liebe des zukünftigen Kaisers zur Musik und seinem Geschmack für italienische Oper begleitet. Es gab auch religiöse Zeremonien und Gottesdienste, an denen König Karl als Ausdruck seiner Religiosität teilnahm, sowie Theateraufführungen und künstlerische Darstellungen. Der königliche Hofstaat wurde unmittelbar nach Karls Ankunft aufgebaut und Fürst Anton Florian von Liechtenstein, der Karl von Wien aus begleitet hatte, zum Obersthofmeister ernannt. Für die anderen Hofämter wurden jedoch spanische Adlige nominiert.¹¹ Die Regierung von König Karl III. in Spanien war durch den Krieg und die jeweiligen Interessen der Verbündeten geprägt. Der Monarch war auf den finanziellen und militärischen Beitrag der Seemächte England und Holland angewiesen. Kaiser Joseph I. war zumindest bis 1707 hauptsächlich damit beschäftigt, seine Ziele in Italien zu erreichen.¹² König Karl fand mehr Anhänger in den Ländern der Krone von Aragon, denn die Kastilier unterstützten mehrheitlich Philipp V. Die Konfrontation fand aber auch innerhalb dieser Länder statt: es gab Anhänger Philipps in Aragon und jene des Habsburgers in Kastilien. Obwohl das „bourbonische“ Staatsmodell auch im habsburgischen Lager vorgeschlagen wurde, stärkte König Karls Garantie des „sicheren Genuss seiner Freiheit, seiner Rechte und Privilegien, die überall vom Usurpator unterwandert wurden“ während des Konflikts seine Position¹³, insbesondere ab den ersten Decretos de Nueva Planta (Verordnungen zur gründlichen Erneuerung) im Jahr 1707 durch Philipp V.
Die Regierung und die Minister des Königs Nach der Einrichtung des Hofs in Barcelona 1705 folgte die Gründung der ersten politischen Institutionen wie des königlichen Staatsrates von Katalonien und die Einberufung der Cortes (Ständeversammlung) zwischen 1705 und 1706.¹⁴ Bald danach entstand die Notwendigkeit, eine Regierung zu bilden, die auf der Kon Die Ernennungen des Königshauses in Pedro Voltes: Barcelona durante el gobierno de Archiduque Carlos de Austria, Bd. 1. Barcelona 1963, bes. S. 129 – 136. Linda Frey/Marsha Frey: A question of Empire. Leopold I and the War of the Spanish Succession 1701– 1705. New York 1983. AHN, Estado, leg. 281, Band des Erzherzogs, 24. Mai 1706 („seguro goce de su libertad, fueros y privilegios atropellados en todas partes por el Usurpador“). Jon Arrieta: L’antítesi pactisme-absolutisme durant la Guerra de Successió a Catalunya, in: Joaquím Albareda (Hrsg.), Del patriotisme al catalanisme. Vic 2001, S. 105 – 128. Constitucions, capítols i actes de Cort. 1701– 1702 i 1705 – 1706. Estudi introductori de Joaquím Albareda. Barcelona 2006; Josep María Torras i Ribé: La guerra de successió i els setges de Barcelona (1697– 1714). Barcelona 1999.
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tinuität des politischen Systems des Hauses Habsburg und der Einhaltung der rechtlichen und institutionellen Ordnung der Königreiche basierte.¹⁵ König Karl galt als Alternative zum Herzog von Anjou auf der Halbinsel, obwohl seine institutionelle Politik durch den Krieg beeinträchtigt wurde. Im Laufe des Krieges dominierte die österreichische Partei zunächst die Gebiete der Krone von Aragon, obwohl nach der Niederlage von Almansa (1707) mit dem Verlust von Aragon sowie Valencias die Kontrolle auf Katalonien, Mallorca (1707) und Sardinien (1708) und in Europa auf Flandern und die spanischen Gebiete in Italien, also Mailand (1704) und Neapel (1707), mit Ausnahme von Sizilien, reduziert wurde.¹⁶ Die Konstitution der Zentralorgane der Monarchie erfolgte zu zwei bedeutenden Zeitpunkten und zwar zeitgleich mit den beiden alliierten Einfällen in Kastilien in den Jahren 1706 und 1710, die jeweils mit dem gescheiterten Versuch verbunden waren, Madrid, die Hauptstadt der Monarchie und damit ihre Regierungsinstitutionen, unter Kontrolle zu bringen. König Karl versuchte, die Niederlage durch einen Impuls im institutionellen Bereich in eine Bestätigung seiner Legitimität zu verwandeln. Die Organisation der „karolinischen“ Regierung begann nach dem Rückzug aus Madrid während des ersten alliierten Angriffs auf Kastilien und nach dem Eintreten für die österreichische Sache des Grafen von Oropesa (1642 – 1707), der Minister von Karl II. gewesen war und eine führende Rolle in der Reformierung der Monarchie, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, gespielt hatte.¹⁷ Als 1706 die alliierten Truppen die Hauptstadt besetzten, befahl König Karl den Räten, sich unter dem Vorsitz der ältesten Minister zu treffen. Einige Ratsgremien wie der königliche Rat (Consejo Real de Castilla), der Rat der Orden und der Indien-Rat, begannen laut der Studie von J.A. Escudero gewisse Tätigkeiten auszuüben.¹⁸ Während der fünf Monate, die er in Valencia verbrachte, unternahm der habs-
Virginia León Sanz: El reinado del Archiduque Carlos en España: la continuidad de un programa dinástico de gobierno, in: Manuscrits. Revista d’historia moderna. De la monarquia dels Àustries a la dels Borbons: imatge i història d’un canvi dinàstic i polític, 18 (2000), S. 41– 62. Virginia León Sanz: Entre Austrias y Borbones. El Archiduque Carlos y la monarquía de España. Madrid 1993, S. 97– 110. Virginia León Sanz: La Corte del Archiduque Carlos en Valencia (1706 – 1707): reorganización política y cambios en la Guerra de Sucesión española, in: José de Bernardo Ares (Hrsg.), La sucesión de la Monarquía Hispánica, 1665 – 1725. Biografías relevantes y procesos complejos. Madrid/Córdoba 2009, S. 249 – 264; Juan Antonio Sánchez Belén: La política fiscal de Castilla en el reinado de Carlos II. Madrid 1996. J. A. Escudero: „La reconstrucción de la Administración Central en el siglo XVIII“, in: Ramón Menéndez Pidal (Hrsg.), Historia de España, Bd. XXIX: La época de los primeros Borbones, T. 1: La nueva monarquía y su posición en Europa (1700 – 1759). Madrid 1985, S. 79 – 175.
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burgische König die ersten Schritte zur Organisation der Regierung der Monarchie mit Hilfe des Grafen von Oropesa. Ab dem 6. Oktober 1706 wurden verschiedene Behörden gebildet, wie die Junta de Guerra, eines der wichtigsten politischen Instrumente von König Karl in Spanien. Wenige Monate später konnte Graf von Oropesa die Organisation des habsburgischen Staatsapparates einleiten und so den österreichischen Monarchen als echte Alternative zu Philipp V. präsentieren, indem er die Grundlagen des politischen Systems der Monarchie festlegte. Auf seinen Vorschlag hin und mit Unterstützung von Fürst Liechtenstein etablierte man in Valencia „zwei Sekretäre der Universalexpedition mit gleichem Charakter in zwei verschiedenen Büros, ein Schritt, um das gesamte Büro nach seiner Idee zu gestalten“¹⁹. Das Sekretariat, das für die Angelegenheiten im Norden zuständig war, ging an den katalanischen Notar Ramón de Vilana Perlas (1663 – 1741), und das zweite, für die italienischen Angelegenheiten, ging an den aus Navarra stammenden Juan Antonio Romeo (1660 – 1717), der Beamter des Sekretariats der Universalexpedition von Madrid und dort im Umfeld des Admirals von Kastilien gewesen war. In den beiden Sekretariaten bezog Oropesa auch Kastilier ein. Die meisten seiner Beamten gingen später ins Exil und wirkten im Spanischen Rat in Wien.²⁰ Vilanas frühere Tätigkeit als Sekretär der Provinz wurde von seinem Schwager Juan Francisco Verneda übernommen. Zuvor hatte der Graf die Sekretäre Franz Adolf von Zinzerling (1695 – 1712), ehemaliger Sekretär der kaiserlichen Botschaft in Madrid, und Heinrich Günter, Hüter des königlichen Siegels, die er beide laut Castellví als Hindernis für die Erreichung seiner Ziele ansah, ausgebootet. Ersterer verließ den Hof auf Vorschlag von Oropesa mit der Aufgabe, einen Staatsrat in Flandern zu bilden, in dem Francisco Bernardo de Quirós (1644 – 1709), Gouverneur von Antwerpen, zum Präsidenten ernannt wurde. Zinzerling kehrte nicht mehr von dieser Aufgabe zurück. Sein Rückzug aus der Regierung ermöglichte es Oropesa Agustín de Pedrosa, Beamter des Protonotarios von Aragon für Katalonien, der im Amt von Ramón de Vilana Perlas tätig war, einzuführen. Ein weiteres Hindernis für Oropesa war Heinrich Günter, ebenfalls Sekretär, der den Erzherzog vom Kaiserhof aus begleitet hatte. In diesem Fall war es der Sekretär selbst, der darum bat, im März 1707 mit „einem von der Partei, die ihn mitnehmen wollte, ausge-
Castellví, Narraciones históricas II (1998), S. 223 und 246 („dos secretarios del Despacho Universal con igual carácter en dos distintas oficinas, escalón para llegar según su idea a todo el despacho“). Virginia León Sanz: Los funcionarios del Consejo Supremo de España en Viena (1713 – 1735), in: Luis Miguel Enciso (Hrsg.), La Burguesía española en la Edad Moderna, Bd. 2.Valladolid 1996, S. 893 – 904.
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handeltes Arbeitsverhältnis“²¹, nach Wien zurückzukehren. Die neuen Sekretäre Romeo und Vilana spielten fortan bis zum Ende des Nachfolgekonflikts eine wesentliche Rolle in der habsburgischen Regierung. Mit diesen Veränderungen schuf Oropesa die spanische und kastilische unmittelbare Umgebung des Monarchen und legte die institutionellen Grundlagen für die spätere Entwicklung der Zentralorgane, die Karl III. fördern musste, wenn er in der gesamten Monarchie regieren wollte. Ebenfalls in Valencia wurde auf Initiative des Grafen von Oropesa der Rat von Aragon gebildet.²² Am 2. Januar 1707 wurde die Bestellung der Sekretäre veröffentlicht, gefolgt von der Bildung des Rates. Mehr als im Staatsrat wurden die freien Stellen mit Personen aus Aragon, Valencia und Katalonien besetzt: Diese Festlegungen, bekräftigt Castellví, ließ Oropesa ungehindert stattfinden. Der katalanische Historiker zeigt wenig Sympathie für den Grafen, über den er sagt, dass „seine Kunst vorgetäuscht und ausgeklügelt war“, jedoch stellt er fest, dass dieser nicht bei den Ernennungen von Funktionsträgern der Krone von Aragon eingegriffen hat, obwohl er Personen seines Vertrauens in Positionen in der Nähe des Königs einsetzte und forderte, dass Kastilier und andere Spanier, die König Karl bei seinem Rückzug aus Kastilien begleitet hatten, Ämter erhalten sollten.²³ Die Handlungen von Oropesa unterscheiden sich nicht viel von der politischen Praxis eines Premierministers. Der Zugang zur Verwaltung der Monarchien in der Neuzeit wurde stärker durch persönliche als durch institutionalisierte Beziehungen beeinflusst.²⁴ Etwas später wurde die italienische Junta gegründet, die normal funktionierte, obwohl auch die Ernennungen von Ministern des Italien-Rats unmittelbar begannen.²⁵ Der andere Ausgangspunkt für grundlegende Maßnahmen zur Organisation der Regierung von König Karl war 1710, während des zweiten Einfalls der Alliierten in Kastilien. Nach den alliierten Siegen von Saragossa und Almenara verließ Philipp V. Madrid und ordnete die Verlagerung der Räte an. Angesichts der Unmöglichkeit, auf die Verwaltung Karls II. aufzubauen, nahm der österreichi-
Castellví, Narraciones históricas II (1998), S. 229 („empleo que negoció el partido que quería apartarle“). Virginia León Sanz: El Consejo de Aragón austracista durante la Guerra de Sucesión española, in: Remedios Ferrero Micó/Lluís Guía Marín (Hrsg.), Corts i Parlamentes de la Corona d’Aragó. Valencia 2008, S. 239 – 261. Castellví, Narraciones históricas II (1998), S. 223 – 229. José Martínez Millán: Investigaciones sobre patronazgo y clientelismo en la administración, in: Pere Molas Ribalta (Hrsg.), Historia de la Administración en la España Moderna. Studia Storica, Historia Moderna 15 (1996), S. 83 – 106, hier 94. León Sanz, Entre Austrias y Borbones, S. 58 – 60, 76 – 79.
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sche Monarch mit dem Dekret von El Pardo vom 23. Oktober 1710 das Projekt des Ende 1707 verstorbenen Grafen von Oropesa wieder auf und übernahm die Aufgabe, weitere Regierungsinstitutionen der Monarchie einzurichten.²⁶ Zusammen mit den Räten für Staat, Krieg und Aragon wurden 1710 die Räte für die Inquisition, Italien und Kreuzzüge (Cruzada) gebildet. Die Aufgabe der Hauptstadt unterband die Fortführung des habsburgischen Projekts nicht. In der Zeit zwischen Oktober 1710 und September 1711, dem Datum der Abreise Karls ins Heilige Römische Reich, wurden die übrigen Räte gebildet, obwohl diesen die Zuständigkeit fehlte, weil ihr Wirkungsbereich unter feindlicher Herrschaft stand.²⁷ Zu Beginn des Jahres 1711 ordnete der König an, dass die für die Krone Kastiliens zuständigen Gremien auf die gleiche Weise wie die in Madrid eingesetzten Räte gebildet werden sollten. Das Personal, das aufgrund der Habsburger wechselte, besetzte nur die freien Stellen. Die mit dem Dekret von El Pardo eingeleitete Neuausrichtung des institutionellen Prozesses wurde weder durch die entscheidenden Niederlagen der Alliierten in Brihuega und Villaviciosa noch durch den Tod seines Bruders Joseph I., den er im Reich ablöste, unterbrochen, noch durch die Weigerung der Seemächte, das Reich Karls V. wieder aufleben zu lassen. Dies geschah im Einklang mit der tiefen Überzeugung des zukünftigen Kaisers von seinen Erbansprüchen auf die spanische Monarchie. Das Dekret von 1710 spiegelt nicht allein die Intention Karls in Madrid zu regieren wider, sondern zielte auch darauf, all jene anzuziehen, die mit den von Philipp V. vorgenommenen Veränderungen unzufrieden waren. Die spanische Regierung blieb auch nicht von den dynastischen Problemen unberührt und ergriff Partei in der umkämpften Nachfolge Karls II., die zusammen mit dem fehlenden Taktgefühl des bourbonischen Monarchen im Umgang mit dem Adel zu einer Spaltung der Eliten sowohl am Madrider Hof als auch in den Königreichen führte. Der zweite Einfall der Alliierten in Kastilien bewog deshalb einige Adlige für die österreichische Sache einzutreten, wie Luis Antonio Tomás de Portocarrero (1649 – 1723) Grafen von La Palma oder Fernando de Pignatelli y Pignatelli (gest. 1729) Herzog von Híjar²⁸, die an den Kriegsräten dieser Zeit teilnahmen. Es gab auch diejenigen, die, nachdem sie König Karl die Treue geschworen hatten, in Madrid blieben. Dieser rasante Wechsel der Loyalitäten ist auf die Unsicherheit zurückzuführen, die damals in der Monarchie geherrscht haben muss, in der das
Castellví, Narraciones históricas III (1999), S. 338. ÖStA, HHStA, StAbt, Spanien, Varia 51, alt 64. Die Entstehung und Folgen des Dekrets von El Pardo sind durch eine Konsultation von 1711 bekannt, analysiert in: León Sanz, Entre Austrias y Borbones, S. 64– 95. Dieser war mit der sechsten Herzogin von de Híjar, Juana Petronila Silva Fernández de Híjar y Pignatelli, verheiratet.
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Kriegsglück eine grundlegende Rolle spielte. Seit der Ankunft von König Karl in Barcelona hörten die Gesuche um Stellen und Ernennungen nicht auf. Dies setze sich auch fort, als König Karl in Kastilien weilte, und zwar nicht nur für Positionen am Hof und in den Räten, sondern auch in Städten wie Talavera de la Reina oder in Murcia, was die kastilische Unterstützung für König Karl vergrößerte.²⁹ Bei der Gestaltung der neuen Verwaltung hatte die regionale Herkunft eine wichtige Bedeutung, da bei der Ernennung einer Person ihr Herkommen wahrgenommen wurde. Daher wurden einige freie Stellen genutzt, um Personen aus der Krone von Aragon zu installieren, um auf die Forderung des aragonischen Adels seit dem vorigen Jahrhundert auf ihr Recht an der Beteiligung in der Verwaltung des Staates³⁰ einzugehen. Obwohl die Zahl solcher Stellen begrenzt war, schloss das Projekt des österreichischen Königs die Vasallen aus den verschiedenen Teilen der Monarchie ein. Die Informationen zu den Vertriebenen des Erbfolgekriegs ermöglichen es im Folgenden, das Bild aus dieser Perspektive zu vervollständigen, nämlich die Nation der einzelnen Betroffenen festzustellen. Die Darstellung des Aufbaus der Institutionen hat die Gelegenheit geboten, einige der bedeutendsten Persönlichkeiten der Regierung von Karl III. in Spanien zu bestimmen. Wenn man bei Philipp V. den Eindruck gewinnen konnte, dass er von einer französischen Clique umgeben war, hatte Karl hauptsächlich kaiserliche Berater, wie Anton Florian von Liechtenstein (1656 – 1721), Francisco de Moles, Herzog von Parete (gest. 1713) und Feldmarschall Guido Graf von Starhemberg (1657– 1737) um sich, der etwa 1708 kam, um die alliierte Armee zu führen. Einige Autoren verweisen auf die kaiserliche Einflussnahme auf den Hof von Barcelona, aber mit Ausnahme der italienischen Frage ist das fehlende Einwirken der österreichischen Diplomatie im Konflikt in Spanien überraschend.³¹ Es ist jedenfalls möglich, verschiedene Machtgruppen zu unterscheiden. Die wichtigste Gruppe im Hofumfeld war zunächst die österreichische Gruppe, die König Karl von Wien begleitet hatte, insbesondere Anton Florian von Liechtenstein, sein Mayordomo (Obersthofmeister), der eine schlechte Beziehung zu den Katalanen hatte; aufgrund der geringen Unterstützung des kaiserlichen Hofes begann sein Einfluss bald nachzulassen, besonders nach der Ankunft von Elisabeth Christine. Einige österreichische Beamte und Minister, wie Günter oder Zinzerling, waren die ersten, die, wie bereits erwähnt, den Hof von König Karl verließen. Eine weitere
AHN, Estado, leg. 8693 – 8695. Javier Gil Puyol: La proyección extrarregional de la clase dirigente aragonesa en el siglo XVII, in: Pere Molas u. a. (Hrsg.), Historia social de la Administración Española. Estudios sobre los siglos XVI y XVII. Barcelona 1980, S. 21– 64. ÖStA, HHStA, StAbt, Spanien, Varia 49, alt 63. Siehe die Korrespondenz des Marquis von Pescara in Wien ebd.
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Persönlichkeit, die dem Monarchen nahestand, war Johann Michael Graf von Althann (1679 – 1722), ein Jugendfreund von König Karl, der Mariana (1689 – 1755), eine katalanische Dame der Familie Pignatelli i Aimeric, heiratete. Eine herausragende Rolle spielten auch der Neapolitaner Rocco de Stella (1662– 1720), eine umstrittene Persönlichkeit, und der Herzog von Moles, kaiserlicher Botschafter, der dem Italien-Rat angehörte und die Leitung der Regierung der neuen italienischen Herrschaftsbereiche in Barcelona übernahm.³² Einige Katalanen begannen sich 1705 dem österreichischen Monarchen anzunähern, aber erst in Valencia wurden die wichtigsten spanischen Minister für das Hofumfeld von König Karl bestimmt, wie der Graf von Oropesa, Joseph Folch Graf von Cardona, Minister des Rates von Aragon und Mayordomo mayor (Obersthofmeister) der Königin, sowie die Sekretäre Juan Antonio Romeo, Marquis von Erendazu, und Ramón de Vilana Perlas, Marquis von Rialp.³³ 1710 schloss sich der Erzbischof von Valencia, Antonio Folch von Cardona, der habsburgischen Sache an, der in Wien der erste Präsident des Spanischen Rates werden sollte (1713).³⁴ Graf von Oropesa hätte eine entscheidendere Rolle im habsburgischen Hof spielen können, verstarb aber bereits Ende 1707. Sein Sohn war einer der Adligen, die 1708 von König Karl dazu bestimmt wurden, Teil des Gefolges zu sein, das nach Genua zog, um Königin Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel nach Barcelona zu begleiten. 1711 reiste er mit König Karl nach Frankfurt, wo dieser die Reichskrone erhielt. Er wirkte in dem in der Reichshauptstadt gebildeten Höchsten Rat der Niederlande (in den Quellen auch Flanderns), obwohl er nach dem Frieden von Wien 1725 nach Spanien zurückkehrte.³⁵ Die Riege der spanischen Minister, die in Wien kritisch gesehen wurde, versuchte dennoch, den gewichtigen Einfluss des Kreises der österreichischen Minister in der Nähe des Königs zu verringern. Zu diesen Gruppen, die um die Einflussnahme auf Karl konkurrierten, gehörten auch Botschafter und Minister der Verbündeten im Krieg am Hof, wie die englischen Grafen von Peterborough, Galway und Stanhope, die
Über die unterschiedliche Rolle dieser Persönlichkeiten im Rahmen der Regierung des österreichischen Italiens in der katalanischen Hauptstadt Roberto Quirós Rosado: Monarquía de Oriente. La corte de Carlos III y el gobierno de Italia durante la guerra de Sucesión española. Madrid 2017, S. 79 – 111 und 111– 187. Zur höfischen Umgebung von König Karl Virginia León Sanz: El Archiduque Carlos y los austracistas. Guerra de Sucesión y exilio. Barcelona 2014. Virginia León Sanz: Fray Antonio Folch de Cardona, un arzobispo valenciano en la presidencia del Consejo de España en Viena (1657– 1724), in: Emilio Callado Estela (Hrsg.), Valencianos en la Historia de la Iglesia, Bd. 3. Valencia 2009, S. 103 – 107. Ferran Durán Canymeras: Els exiliats de la guerra de Successió. Barcelona 1964; Virginia León Sanz: Acuerdos de la Paz de Viena de 1725 sobre los exiliados de la guerra de Sucesión, in: Pedralbes 12 (1992), S. 293 – 312.
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portugiesischen Grafen von Las Minas und Assumar oder Graf Noyelles, der das alliierte Kommando übernahm und bis zu seinem Tod 1708 die Unterstützung von König Karl zu genießen schien. Alle diese Gruppen bauten eine vielfältige Beziehung zu König Karl auf.³⁶ In dem zwischen 1706 und 1707 in Valencia errichteten Hof Karls, der durch eine stärkere Präsenz von Kastiliern geprägt war, sowie nach dem Verlust Madrids, verschärften sich die Unterschiede zwischen den habsburgischen Parteigängern und den Vertretern der Verbündeten im Umfeld des Königs. Die Regierung des österreichischen Monarchen war durch die Aufteilung in Parteien von Höflingen, Ministern und Generälen gekennzeichnet. Zeugnisse in dem Sinne, wie sie von Castellví gesammelt wurden, sind üblich: „Sie waren in Parteien aufgeteilt und die Höflinge hatten unterschiedliche Gefühle“. Oder: „Dieselbe Zwietracht und dieselben schädlichen Einflüsse herrschten unter den verbündeten Generälen und Ministern.“³⁷ Unordnung und schlechte Koordination kennzeichneten die alliierte Kriegsführung. Diese Situation verbesserte sich erst nach der Niederlage von Almansa und der Ankunft des österreichischen Marschalls Starhemberg 1708 in Katalonien. Dennoch gelang es ihm bei der zweiten alliierten Invasion in Kastilien 1710 nicht, den Vorschlag Stanhopes zu begegnen und anstatt die alliierte Armee nach Madrid zu führen die Gebiete der Krone von Aragon zu sichern.³⁸ Am katalanischen Hof war die Rolle der Spanier nach der Niederlage von Almansa deutlicher sichtbar. Mit dem Verschwinden des Grafen von Oropesa versammelte sich die karolinische Regierung um die beiden Staatssekretäre. Juan Antonio Romeo spielte zwischen Stella und dem Herzog von Moles als Sekretär des Italien-Rates und vor dem Hintergrund des österreichischen Kampfes um die Kontrolle der italienischen Herrschaftsgebiete eine wesentliche Rolle. Ramón de Vilana Perlas, dessen Einfluss am Hof von Barcelona wuchs, befasste sich mit
Zur Rolle von Botschaftern und Generälen im Gremium der Alliierten und in den Kriegsräten Virginia León Sanz: La Guerra de Sucesión española a través de los Consejos de Estado y Guerra del Archiduque Carlos de Austria. Madrid 1989. Zu Noyelles notierte der Kaiser in seinem Tagebuch etwa am 12. April 1708: „Noyell storben, sehr schad, wohl dient“ (ÖStA, HHStA, HA, Sammelbände, Tagebücher Karl VI., Heft 2, 1708, fol. 26v; vgl. Stefan Seitschek, Der Kaiser und die „Spanier“, in: Katharina Arnegger/Leopold Auer/Friedrich Edelmayer/Thomas Just (Hrsg.), Der Spanische Erbfolgekrieg (1701– 1714) und seine Auswirkungen. Wien 2018 (MÖStA Sonderband 16), S. 443 – 461, hier 449). Castellví, Narraciones históricas II (1998), S. 229, 337– 341 („Iban divididos en partidos y discordes los áulicos en sentimientos“; „Igual discordia y más perjudicial reinaba entre los generales y ministros aliados“). Diese Zersplitterung erwähnt auch Lord Mahon: History of the war of Succesion in Spain. London 1832, S. 119 – 220; János Kalmár: Sobre la cort barcelonina de l’Arxiduc Carles d’Austria, in: Pedralbes. Revista d’Historia Moderna 18-II (1998), S. 299 – 302. León Sanz, Carlos VI, S. 234– 241.
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Fragen im Zusammenhang mit dem militärischen Konflikt, insbesondere aber mit Angelegenheiten der Krone von Aragon und dem Fürstentum, obwohl seine schnelle Karriere Bedenken hervorrief.³⁹ Die Schwäche der habsburgischen Institutionen ist vielleicht eine Erklärung, warum König Karl zunehmend direkt mit dem Staatssekretär und dem Sekretär der Universalexpedition zu tun hatte, was die Festigung dieser Funktion in einem ähnlichen Prozess wie im Spanien von Philipp V. begünstigte. Der Staatssekretär und Sekretär der Universalexpedition, seit 1710 Vilana Perlas, Marquis von Rialp, „genoss die volle Gunst von König Karl“⁴⁰, der zusammen mit der Unterstützung von Königin Elisabeth entscheidend dazu beitrug, seine politische Karriere voranzutreiben. Seine Funktion erlaubte es ihm persönlich mit dem Monarchen zu sprechen („a boca“) und das königliche Vertrauen erinnert an den Ursprung dieser Art von Sekretären. Die Rolle der beiden Sekretäre zeigt die wachsende Bedeutung der Exekutive in der karolinischen Regierung, die mit dem konsultativen System der Räte arbeitete. Zwei Persönlichkeiten verdienen eine besondere Erwähnung in der katalanischen Zeit Karls, der Jurist Domingo de Aguirre vom Rat von Aragon und Verfasser von Rechtstexten, der später nach Wien ins Exil ging⁴¹, und Juan Amor de Soria (1659 – 1748) ⁴². Dieser war Beamter des Sekretariats unter der Leitung von Vilana Perlas, später Beamter des Staatssekretariats und der Universalexpedition des Spanien-Rates, wurde schließlich Minister des Italien-Rates in Wien und hinterließ bedeutende und innovative Schriften, die Teil des politischen Denkens des 18. Jahrhunderts darstellen.⁴³
Virginia León Sanz: La Secretaría de Estado y del Despacho Universal del Consejo de España, in: Cuadernos de Historia Moderna 16 (1995), S. 239 – 257; María Victoria López-Cordón: Secretarios y Secretarías en la Edad Moderna: de las manos del Príncipe a relojeros de la Monarquía, in: Pere Molas Ribalta (Hrsg.), Historia de la Administración en la España Moderna. Studia Storica, Historia Moderna 15 (1996), S. 114– 115. Vicente Bacallar y Sanna, marqués de San Felipe: Comentarios de la guerra de España e historia de su rey Felipe V, el Animoso. Madrid BAE 1957, S. 207 („gozaba enteramente del favor del Rey Carlos“). Durán Canyameras, Els exiliats de la guerra, S. 25; Tomás Montagut: El jurista Doménec d’Aguirre i la Memòria del dret públic català, in: Ius Fugit 13 (2004– 2005), S. 231– 249. Lebensdaten unsicher, vgl. http://dbe.rah.es/biografias/26615/juan-amor-de-soria (20.04. 2020). Juan Amor de Soria: Addiziones y Notas Históricas desde el año 1715 hasta el 1736. Viena 1736; ders., Enfermedad crónica y peligrosa de los Reinos de España. Viena 1741. Die Texte wurden untersucht in Virginia León Sanz: La influencia española en el reformismo de la monarquía austriaca del Setecientos, in: Cuadernos Dieciochistas 1 (2000), S. 105 – 130 und dies.: El conde Amor de Soria. Una imagen austracista de Europa después de la Paz de Utrecht, in: Ángel Guimerá/Victor Peralta (Hrsg.), El equilibrio de los Imperios: de Utrecht a Trafalgar. Madrid 2005, S. 133 – 154, Vgl. auch Ernest Lluch: Aragonesismo austracista (1734– 1742). Zaragoza 2000.
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Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen von Spaniern, insbesondere die Position der Katalanen, waren durch die Beziehungen von König Karl zu den katalanischen Institutionen und durch Probleme, wie die Stärkung der königlichen Autorität oder die von den Truppen verursachten Störungen der öffentlichen Ordnung, bedingt. Der Aufstieg der Spanier am Hof von Barcelona setzte sich am Kaiserhof fort. Hatte am Hof von Barcelona, vor allem in den ersten Jahren, das kaiserliche Umfeld die Entscheidungen von König Karl bestimmt, so behielten die Spanier in Wien die Gunst des Kaisers.⁴⁴ Wie später am kaiserlichen Hof, war auch in Barcelona die Realität komplex und sie muss sich von einer vereinfachten Analyse der Opposition zwischen einer spanischen Partei, die Kastilier und Katalanen unterscheidet, und einer deutschen Partei verabschieden. Dieser Ansatz reicht nicht aus, um das höfische und institutionelle Gleichgewicht des katalanischen Hofes zu erklären, weil in beiden Gruppen unterschiedliche Bündnisse eingegangen wurden. Am Ende des Krieges war auch die spanische Gruppe oder Partei nicht monolithisch. Der Marquis von Rialp, Vilana Perlas, arbeitete ab 1716 mehr als ein Jahrzehnt lang mit Hofkanzler Philipp Ludwig von Sinzendorf (1671– 1742), um seine Macht zunächst gegen jene von Prinz Eugen von Savoyen, Johann Michael Grafen von Althann und den Neapolitaner Stella zu konsolidieren, während sich der Erzbischof von Valencia an die Aristokraten des Reiches wandte. Joaquím Albareda erklärt, dass es sich um taktische Allianzen handelte, die zu Konflikten zwischen dem Spanien-Rat und dem Staatssekretariat führten.⁴⁵ Tatsächlich gingen die Spaltungen und Intrigen innerhalb der spanischen Gruppe über den Wiener Hof hinaus, wie man in Rom feststellen konnte.⁴⁶ Die größte Rivalität bestand zwischen einigen Ministern des Spanien-Rates und dem Staatssekretär Marquis von Rialp. Aufgrund der Vielfältigkeit der Aufgaben
Über die spanische Partei in Wien Virginia León Sanz: Al servicio de Carlos VI. El partido español en la corte imperial, in: Joaquím Albareda (Hrsg.), El declive de la Monarquía y del Imperio español. Barcelona 2015, S. 225 – 275. Über die Rolle der Spanier am Hof etwa Alfred von Arneth: Eigenhändige Correspondenz des Königs Karl III. von Spanien (nachmals Kaiser Karl VI.) mit dem Obersten Kanzler des Königreichs Böhmen, Grafen Johann Wenzel Wratislaw, in: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 16 (1856), 1−224; Jean Bérenger, El Imperio, S. 322 ff.; Marcus Landau: Rom, Wien, Neapel während des spanischen Erbfolgekrieges. Ein Beitrag zur Geschichte des Kampfes zwischen Papstthum und Kaiserthum. Leipizig 1885. Der Einfluss von Rialp und seiner Gruppe zeigt sich in den Berichten von Du Bourg und in der Auffassung von P. Giannone. Vgl. Joaquím Albareda: El „cas dels catalans“. La conducta dels aliats arran de la guerra de Succesió (1705 – 1742). Barcelona 2005, S. 202– 204. Virginia León Sanz: El cardenal Francesco Acquaviva d’ Aragona, ministro de Felipe V en Roma, in: Roberto Quirós/Cristina Bravo Lozano (Hrsg.), Los embajadores. Representantes de la soberanía, garantes del equilibrio (1659 – 1748). Madrid 2020 (in Druck).
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verursachten das Staatssekretariat und die Universalexpedition Spannungen innerhalb des Spanien-Rates. Einige Ratsminister versuchten, zunächst unter der Leitung des Grafen von Stella, die politische Macht des Sekretärs zu schwächen und die Befugnisse des Sekretariats, dessen Leiter Vilana war, zu begrenzen, allerdings mit geringem Erfolg.
Der österreichische Hof in Barcelona Die Ankunft von Elisabeth Christine in Barcelona 1708 sollte dem katalanischen Hof nach der alliierten Niederlage von Almansa im April 1707 einen wichtigen Impuls geben.⁴⁷ König Karl kündigte am 18. August 1707 seine Heirat mit Elisabeth Christine in Barcelona an. Der ausgewählte Zeitpunkt war nicht zufällig. Nach der Schlacht von Almansa im Frühjahr und der Veröffentlichung des ersten Decreto de Nueva Planta (Verordnung zur gründlichen Erneuerung) Ende Juni durch Philipp V., das die weltlichen Beziehungen zwischen dem König und den spanischen Königreichen veränderte, sanken Karls Aussichten auf den Erhalt der spanischen Krone. Darüber hinaus erwartete sein Rivale einen Erben: Der Infant Luis wurde am 25. August 1707 geboren. Der katalanische Historiker Castellví äußerte sich über die Entscheidung von König Karl wie folgt: „Die Bedeutung der männlichen Nachfolge war sehr groß. Dies veranlasste König Karl, bei den Gerüchten im Krieg, seine Ehe nicht aufzuschieben“.⁴⁸ Unter den verschiedenen Funktionen, die eine Königin in der Neuzeit kennzeichneten, war die Mutterschaft vielleicht die wichtigste, weil sie die Fortführung der Dynastie sicher stellte. Die ersten Nachrichten über Elisabeth Christine in Spanien beziehen sich auf diesen wesentlichen Punkt. Auch das Hauptargument für ihre Abreise aus Barcelona im Jahr 1713 wird die Nachfolge sein. Anfang 1708 bat König Karl seinen Bruder Kaiser Joseph I. die Feier der Hochzeit per procurationem in Wien und ihren Umzug nach Barcelona zu beschleunigen. Die Trauung fand am 23. April des Jahres in der zum Stift Kloster-
Virginia León Sanz: Política y representación en la Corte de Barcelona. La reina Isabel Cristina de Brunswick en la Guerra de Sucesión española, in: Marina Torres Arce/Susana Truchuelo (Hrsg.), Europa en torno a Utrecht. Santander 2014, S. 287– 310. Castellví, Narraciones históricas II (1998), S. 377 („Era mucha la importancia de la sucesión masculina. Esto inclinó al rey Carlos, entre los rumores de la guerra, a no retardar su casamiento“); Maria Ángeles Perez Samper: La figura de la reina en la monarquía española de la Edad Moderna: Poder, símbolo y ceremonia, in: María Victoria López-Cordon/Gloria Franco (Hrsg.), La Reina Isabel y las reinas de España: realidad, modelos e imagen historiográfica. Madrid 2005, S. 275 – 307.
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neuburg gehörigen Kirche Maria Hietzing „mit der Pracht und Größe des kaiserlichen Hofes“⁴⁹ statt. Die Pracht der vom kaiserlichen Hof organisierten Hochzeitsfeste kann als eine Antwort der Habsburger auf das Haus Bourbon interpretiert werden. Die zeremonielle Behandlung, die Elisabeth Christine von diesem Moment an erfuhr, war die einer Königin von Spanien. Kurz darauf erteilte man die notwendigen Anordnungen für die Organisation der Reise über Italien. Zuerst wurde angenommen, dass sie mit Erzherzogin Maria Anna von Habsburg, der zukünftigen Frau des Königs von Portugal Juan V. (1689 – 1750) reisen würde, aber man befürchtete, dass einige Territorien Elisabeth Christine anders als Maria Anna nicht wie eine Königin behandeln würden, weshalb beschlossen wurde, dass beide getrennt reisen sollten. Die beiden verbündeten iberischen Höfe hofften übereinstimmend, der dynastischen Auseinandersetzung durch die Feier der beiden königlichen Ehen eine Wendung zu geben. Eine parallele Vorgehensweise kann man bei den Handlungen an den Höfen von Lissabon und Barcelona in Bezug auf die königlichen Ehen und die politische Rolle, die die jeweiligen Königinnen im Rahmen der Propaganda zugunsten der Häuser von Habsburg und Bragança spielen sollten, rekonstruieren⁵⁰. Die Niederlage von Almansa im Frühjahr 1707 führte zu Verhandlungen über beide Verbindungen, die schließlich 1708 im Abstand von zwei Monaten am Wiener Hof vollzogen werden sollten. Die Entscheidung von König Karl zu heiraten und seine Frau nach Barcelona kommen zu lassen, stärkte das Haus Habsburg als politische Alternative zu einem Zeitpunkt, als die Waffen versagten. Die Heirat der Erzherzogin Maria Anna mit dem portugiesischen König Juan V. machte die Vereinigung der Häuser Bragança und Habsburg sichtbar, trotz des militärischen Rückschlags. Die doppelte Verbindung stärkte die Beziehungen zwischen den beiden Höfen: Der portugiesische König erhöhte seine Präsenz in Barcelona mit der Teilnahme des Grafen von La Atalaya im Kriegsrat und König Karl III. respektierte 1708 die Projekte von Juan V. im Nachfolgekonflikt.
Rafael Figueró: RELACIÓN de los reales desposorios de sus Majestades, Impresor del Rey nuestro Señor, Año 1708 [DARSTELLUNG der königlichen Vermählungen ihrer Majestäten, Buchdrucker des Königs, unseres Herrn, Jahr 1708], Barcelona 1708 („con el esplendor y grandeza propia de esta Augustísima Corte“). Virginia León Sanz: Una Habsburgo en el Portugal de los Braganza: el matrimonio de Juan V con la archiduquesa María Ana de Austria, in: José Martínez Millán/MariaPaula Marçal Lourenço (Hrsg.), Las relaciones discretas entre las Monarquías Hispana y Portuguesa. Las casas de las reinas (siglos XV–XIX). Madrid 2008, S. 395 – 416.
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An anderer Stelle habe ich mich ausführlicher mit der Vorbereitung der Hochzeit und der Reise der Königin nach Katalonien beschäftigt.⁵¹ Seit der Abreise von San Pedro de Arenas am 13. Juli bezeichnete der offizielle Chronist Rafael Figueró Elisabeth Christine als „die heroische Königin, würdige Ehefrau unseres liebenswürdigen Königs Karl III.“⁵² Während der Reise hatte man begonnen, das Bild der Königin zu entwerfen, die während der katalanischen Zeit selbst in den schwierigsten und kritischsten Momenten einen guten Ruf genoss. Die Reise nach Barcelona und der Aufbau ihres symbolischen „Images“ sind eng mit dem habsburgischen Projekt und der Repräsentation des Hauses Habsburg verbunden. Der Staatssekretär Ramón de Vilana Perlas teilte den Verwaltern von Mataró Anfang Juni mit, dass die Ankunft der Königin am Strand dieser Stadt stattfinden würde. Die Tatsache, dass Elisabeth Christine genau am Tag der Feier des Schutzheiligen der spanischen Monarchie, des Apostels von Santiago de Compostela (25. Juli), das Land betrat, wurde als Bestätigung des effektiven Schutzes des Königspaars durch den Apostel interpretiert. Der Aufenthalt von Elisabeth Christine in Mataró ist, unter anderem, durch die Darstellungen von Narcis Feliu de la Penya und Francesc de Castellví sowie aus verschiedenen Quellen und Chroniken der Zeit bekannt, wie denen von Rafael Figueró und Francisco Oliva.⁵³ Zwischen den beiden Chroniken gibt es deutliche Unterschiede. Während der Reichtum und die prächtige Ausschmückung, die die Ankunft der Königin in der Stadt begleiteten, in einem ähnlichen Ton beschrieben werden, sind die Äußerungen im politischen Bereich unterschiedlich. Die Darstellung des königlichen Buchdruckers wurde vom Hof gefördert, um die etwas geschwächte Position des Monarchen, seines „verehrten Königs“, zu stärken. Die Chronik von Francisco Oliva hingegen beschäftigte sich mit der Beziehung der
Zur Reise der Königin von Wien nach Barcelona Virginia León Sanz: Jornada de Isabel Cristina a Barcelona, esposa del Archiduque Carlos (1708), in: Estudis. Revista de Historia Moderna 33 (2007), S. 93 – 114. Rafael Figueró: BREVE relación de el feliz viaje de la reina nuestra Señora doña Isabel Christina de Brunswich Wolfembuttel (que Dios guarde) desde San Pedro de Arenas hasta la ciudad de Mataró etc., Año 1708 [Kurze Darstellung über die glückliche Reise der Königin, unserer Herrin Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel (möge Gott sie schützen) von San Pedro de Arenas bis zur Stadt Mataró etc.]. Barcelona 1708, 24. September, S. 4 („la heroica reina, digna esposa de nuestro amabilísimo Rey Carlos III“). Figueró, BREVE relación de el feliz viaje; Francisco Oliva, BREVE y verídica relación de lo que la ciudad de Mataró previno e hizo en el feliz cuanto deseado desembarco de la Católica, Sacra, Real Majestad de la Reina nuestra Señora doña Elisabet Christina de Brunswich Wolfembuttel etc. [KURZE und wahre Darstellung dessen, was die Stadt Mataró bei der gewünschten glücklichen Ankunft der katholischen, sakralen, königlichen Majestät der Königin, unserer Herrin Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel vorkehrte und tat … (Druckerei Librero). Gerona 1708.
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Königin zu den Katalanen. Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt in Mataró wurde Elisabeth Christine mit den größten Freudenbekundungen empfangen. Das Bild, das man von der Königin vermitteln wollte, wurde bereits vor dem Verlassen aus Mataró in Barcelona wahrgenommen. Seit ihrer Ankunft im Fürstentum übernahm Elisabeth Christine die Rolle einer Vermittlerin in der Kommunikation zwischen dem König und seinen Untertanen. Ihre Anwesenheit am katalanischen Hof war von nun an ein wesentlicher Bestandteil des politischen Spiels, ein Ansporn für die österreichische Sache und gleichzeitig ein Anknüpfungspunkt für die Kritiker des österreichischen Monarchen. Ihre außergewöhnlichen Qualitäten hoben sich von denen Karls III. ab und wurden Teil einer Kampagne zugunsten von Elisabeth Christine, die im Gegensatz zu den Medienberichten über den König standen.⁵⁴ Am 1. August verließ die Königin Mataró in Richtung Barcelona.⁵⁵ Der Graf von Cardona, José Folch de Cardona y Eril, war für die Ankündigung ihrer Ankunft in Barcelona verantwortlich. Der Graf zog später mit nach Wien, erhielt die Würde eines Fürsten und wurde der erste Präsident des Rates von Flandern, wodurch er zu einem der bedeutendsten spanischen Adligen am kaiserlichen Hof avancierte.⁵⁶ Ein Dekret des Königs vom 17. Juli 1708 legte die „Zeremonie der öffentlichen Ankunft der Königin in Barcelona und der Ratifizierung der Verlobung“ fest.⁵⁷ König Karl verringerte die Pracht der Feste aufgrund der schwierigen Situation im Fürstentum. Die Ankunft der Königin in Barcelona fiel mit einem Sieg der Verbündeten in Flandern zusammen. Alles trug zum neuen Klima des Optimismus bei, das in Katalonien mit der Ankunft von Elisabeth Christine entstanden war. Die Artillerie der Stadt und der Burg von Montjuïc und alle Glocken von Barcelona begrüßten die neue Königin. Sie kam in Begleitung der Maria Gräfin von Ötting, ihrer Hofdame, in einer von acht perlfarbenen Pferden gezogenen Kutsche in die Stadt. Der Monarch ging hinaus, um sie am Puerta del Ángel (Tor des Engels) zu empfangen. Die Prozession führte zur Kirche Santa María del Mar, die mit Wandteppichen, schönen Gemälden, Blumen und einer Vielzahl von reichen Ju Zur Stimmung gegenüber König Karl in der katalanischen Gesellschaft Rosa María Alabrús: Felip V i l’opinió dels catalans. Lleida 2001. Virginia León Sanz: Imatge i poder d’una reina: Elisabet Cristina de Brunsvic-Wolfenbüttel a Catalunya durant la guerra de Successió. Barcelona 2010. Carmen Perez Aparicio: Una vida al servicio de la Casa de Austria. Don José Folc de Cardona i Erill, príncipe de Cardona (1651– 1729), in: Estudis. Revista de historia moderna 28 (2002), S. 421– 448. Dietari del Antich Consell Barceloni, Apéndice, XXXVIII, S. 227 („Ceremonial de la entrada pública de la reina en Barcelona y ratificación de los esponsales“). Außerdem wurden Hinweise an die verschiedenen katalanischen Einrichtungen geschickt, wie sie die Königin begrüßen sollten, vgl. Castellví, Narraciones históricas II (1998), S. 572– 573.
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welen geschmückt war, während im Inneren der Kirche die Damaste und Samtstoffe sowie die Kronleuchter, die sie beleuchteten, hervorstachen. Der Erzbischof von Tarragona, José Llinás (1634– 1710, Erzbischof 1695 – 1710), Primas von Spanien, segnete das Königspaar und unmittelbar danach wurde ein Te Deum angestimmt. Die Stadt, wie es auch in Mataró geschah, wurde laut Castellví in ein zweites Troja verwandelt. Der königliche Pavillon wurde mit bunten Wandteppichen aus Italien und China dekoriert. Auf der Straße warteten die Bürgermeister und das Militär, Musik von Pauken, Trompeten und Bänkelsängern erfüllte die Stadt.⁵⁸ Die Beschreibungen von jenem Tag über die Repräsentation von Elisabeth Christine, „eine Königin der Schönheit“, sind detailliert und unterstreichen ihre persönlichen Qualitäten: „Bei der Betrachtung ihrer Zurückhaltung stahl sie die Herzen, in so seltener Schönheit und königlichem Gewand eine Majestät zu sehen, die so freundlich, so bescheiden ist, dass sie in einer einzigartigen Verbindung die Souveränität für den Kult und all das Liebenswerte für das Vergnügen vereint“.⁵⁹ Der Aufbau des Images der Königin als Modell der Schönheit und der Tugenden war Teil der Propaganda, die vom Hof gefördert wurde, um die Initiative inmitten der Schwierigkeiten, die die habsburgische Seite durchmachte, zurückzugewinnen. Religiöse Pietät und die Vermittlung zwischen dem König und den Untertanen waren vorbildhafte Eigenschaften der neuen Königin, welche ihre Persönlichkeit als die einer idealen Königin symbolisch inszenierten. Das Königspaar ging auf den Balkon des Palastes, um das Feuerwerk zu sehen, das die Stadt flankierte. Die Festlichkeiten endeten mit einem Abendessen im Königspalast, das von Musik untermalt wurde, und mit einer Vielzahl von Tänzen, die von der königlichen Kapelle aufgeführt wurden. Am nächsten Tag, dem 2. August, gingen die Monarchen wieder nach Santa Maria del Mar, wo sie den Hochzeitsschleier vom Erzbischof von Tarragona erhielten. Anschließend gab das Königspaar im Palast unter anderem den Bürgermeistern, den Regierungsbeamten und dem Militär eine Audienz. In der Casa de la Lonja del Mar wurde eine Oper im italienischen Stil aufgeführt, an der die österreichischen und portugiesischen Botschafter sowie der gesamte Adel des Landes, Damen und Edelmänner, teilnahmen. Es handelte sich dabei um die Oper Il più bel nome des renommierten Komponisten Antonio Caldara. 1708 rief König Karl auch Fernando Bibiena nach
Ebd., S. 513; Carreras i Bulbena, Carles d’Austria, S. 212 ff. Figueró, BREVE relación de el feliz viaje, S. 21 („una reina de la hermosura“ bzw. „en la reflexión de los discretos robaba los corazones ver en tan rara belleza y atavíos Reales una majestad tan afable, tan modesta, uniendo en lazo singular lo soberano para el culto y todo lo afable para el agrado“). Die Beschreibung der Königin von Francis Gemeli wird dargestellt von Castellví, Narraciones históricas II (1998), S. 490.
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Barcelona, um die Feierlichkeiten seiner Ehe mit Elisabeth Christine zu organisieren. Fernando Bibiena war damals für die Szenerien der Opern und der Palastkomödien am katalanischen Hof verantwortlich und wurde zum Kammermaler ernannt.⁶⁰ Die Hochzeitsfeier wurde auch mit der Verleihung von Adelstiteln an eine große Anzahl von Personen gefeiert, die König Karl treu ergeben waren. Die Gewährung solcher Ehren sowie von Posten und Pensionen, eine gängige Praxis der Souveräne in der Neuzeit, war ein Mittel, das König Karl nutzte, um seine Anhängerschaft zu vermehren und die Spanier für die österreichische Sache zu gewinnen. Dafür wurden auch die Mittel der Gegner verwendet: Philipp V. nutzte mehr als die Hälfte des beschlagnahmten Vermögens der Anhänger des Erzherzogs, um Zuschüsse an seine Anhänger zu bezahlen.⁶¹ In den letzten Kriegsjahren führte die Verschlechterung der Situation zu einer spürbaren Verringerung der Gewährung von Vergünstigungen aller Art sowie der Zuschüsse für beschlagnahmtes Eigentum der Anhänger des Herzogs von Anjou. Nach dem Krieg belohnte der neue Kaiser die Treue der Spanier zum Haus Habsburg, die ins Exil gingen. Die euphorische Stimmung und die festliche Atmosphäre, die durch die Zeremonien rund um den Einzug der Königin in Barcelona geschaffen wurde, dienten der Stärkung der Verbindung zwischen den Katalanen, anderen habsburgischen Parteigängern in Barcelona und dem Haus Habsburg. In diesem Zusammenhang bekräftigte der conceller en cap im Namen der Stadt „die angeborene Treue“ zum König. Damit schloss der königliche Buchdrucker seine Chronik über die Feier der königlichen Hochzeit ab: „Ihre Majestäten haben die Wertschätzung und Hochachtung zum Ausdruck gebracht, die diese vor dem unnachahmlichen Glanz der katalanischen Nation haben, die nicht an den Katastrophen des gegenwärtigen Krieges und den unvermeidlichen Ausgaben, die dieser Krieg mit sich bringt, verzweifelt oder gar schrumpft, und keine Kosten
Im Jahre 1711 veröffentlichte er in Parma eine interessante Abhandlung: L’Architecttura civile preparata en la Goemetria e ridotta alla Prospecttive. Siehe Francisco José León Tello/María Virginia Sanz Sanz: Estética y teoría de la arquitectura en los tratados españoles del siglo XVIII. Madrid 1994, S. 222– 223. Zu Musik und Theater am Hof von Barcelona sowie den handelnden Personen s. hier den Beitrag von Andrea Sommer-Mathis und Danièle Lipp. Virginia León Sanz: La gracia del rey. Las mercedes concedidas por Felipe V sobre los bienes confiscados a los austracistas en vísperas de la Paz de Viena (1725), in: Friedrich Edelmayer/dies./ Jose I.Ruiz Rodríguez (Hrsg.), Hispania-Austria III. Der Spanische Erbfolgekrieg – La Guerra de Sucesión española. Wien/München/Alcalá 2008, S. 340 – 392 und dies.: Un conflicto inacabado. La confiscación de bienes a los austracistas valencianos, in: Cuadernos Dieciochistas 15 (2014), S. 195 – 257.
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gescheut hat, ihre Freude an der gewünschten und glücklichsten Ehe ihrer Könige zu zeigen“.⁶² Die Macht der Königin war fast genauso groß wie die Macht des Königs, daher rührt die Bedeutung des Hofstaats der Königin, der gebildet wurde. Elisabeth Christine kam zusammen mit Graf von Cardona, ihrem Hofmarschall, in Katalonien an, umgeben von einer Entourage deutscher Damen. Da der Hofstaat der Königin ein wichtiges Instrument der Gestaltung des zeremoniellen Raumes und damit von symbolischem Wert war, erlangten auch iberischen Hofdamen wie die Katalaninnen Mariana Pignatelli i Aimeric und Gertrudis Lanuza i Gelabert, die Aragonierin Teresa Moncayo, die Kastilierin Tomasa de Mendoza und die ernannte Kammerdame der Königin, Catalina Folch de Cardona y Eril, Zugang. Die Königin wohnte in Barcelona im neuen Königspalast, einem Gebäude, das eine Tuchhalle gewesen war und das Philipp IV. als Residenz des Vizekönigs und Generalkapitäns vorgesehen hatte. Mit der Ankunft von König Karl wurde das Gebäude durch den Umbau zwischen 1706 und 1708 weiter an die neuen Anforderungen des Hofes angepasst: Es wurden Buntglasfenster eingebaut, Marmor verwendet und Kronleuchter hinzugefügt, um seine Helligkeit zu erhöhen. Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten verlief das Leben am Hof von Barcelona trotz des Konflikts friedlich. Könige und Adlige genossen die Bälle, Tänze, Opern und Weihnachtsfeierlichkeiten.⁶³ Die häufigen Feste, an denen auch Musiker und Künstler teilnahmen, verfolgten ein klares Ziel: der habsburgischen Sache Glaubwürdigkeit zu verleihen und der katalanischen Gesellschaft die Normalität der Regierung zu vermitteln. Der dynastische Konflikt zwischen den Habsburgern und den Bourbonen manifestierte sich nicht zuletzt im theatralischen und musikalischen Leben an den europäischen Höfen und der Hof von König Karl in Barcelona bildete da keine Ausnahme. Mehrere Opern aus dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, die sowohl in Barcelona als auch in Wien uraufgeführt wurden, spiegeln die Geschehnisse des Erbfolgekriegs wider. Obwohl König Karl ein Jahr zuvor seinen Hof gegründet hatte, gab es bis zum Herbst 1706 aufgrund der Trauer um den Tod von Kaiser Leopold 1705 keine Theater- oder Musikauf-
Figueró, BREVE relación de el feliz viaje, S. 20 – 21 („Bien han manifestado sus Majestades la estimación y aprecio en que tienen estas inimitables finezas la Nación Catalana, que sin ahogarse ni aún encogerse con las calamidades de la guerra presente y gastos inevitables que consigo lleva, no ha perdonado gasto para manifestar su alborozo en el deseado y felicísimo matrimonio de sus Reyes“). Josep Dolcet: Musiques de la Barcelona barroca (1640 – 1770), in: Albert García Espuche u. a. (Hrsg.), Dansa i musica. Barcelona 1700. Barcelona 2009, S. 165 – 225.
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führungen in Barcelona.⁶⁴ Das Scheitern des alliierten Feldzugs in Kastilien im Jahr 1706 und die Niederlage von Almansa 1707 beeinträchtigten in diesen Jahren kaum die Entwicklung des kulturellen Lebens des katalanischen Hofes. König Karl beauftragte eine Gruppe von spezialisierten Künstlern überwiegend aus Italien, insbesondere aus Neapel, da es an Sängern und Musikern fehlte, die dazu in der Lage waren, italienische Opern aufzuführen. Die meisten Theaterdarbietungen fanden in den Jahren 1706 bis 1710 statt, insbesondere 1708, dem Jahr der Hochzeit des habsburgischen Königs mit Elisabeth Christine. Am 9. Januar 1709 wurde die Oper La gran Cenobia (Die große Zenobia) in der Inszenierung von Fernando Bibiena aufgeführt. In diesem Jahr wurde auch die Oper Dafni vom Baron de Astorga uraufgeführt, einem in Neapel geborenen Komponisten, der eine Spielzeit in Barcelona verbrachte. Erwähnenswert ist auch die musikalische Aktivität der königlichen Kapelle, die ab 1709 von Graf Cavellá geleitet wurde. Feste und Theateraufführungen waren wirksame Mittel der Propaganda und Demonstration von Macht. Die Ankunft der Königin wurde eben auch genutzt, um für die Sache des Hauses Habsburg zu werben. Die Quellen spiegeln die Absicht des Hofes wider, das Königspaar vereint darzustellen. Im Bewusstsein ihrer Bedeutung, nahmen König Karl und Elisabeth Christine gemeinsam als „Zeremonienmeister“ an den in Barcelona und anderen Städten organisierten Feierlichkeiten teil, ebenso wie ihr Rivale Philipp V., der während des Krieges diese Rolle übernehmen musste, wenn auch mit geringerer Begeisterung. In einem Konflikt, in dem religiöse Konnotationen von großer Bedeutung waren, durfte die Durchführung der Gottesdienste, an denen König Karl und seine Frau gemeinsam teilnahmen, nicht fehlen. Am 5. August, dem Fest der Jungfrau Maria, ging das Königspaar nach Santa Maria del Mar hinunter und nahm an der Prozession bei der Pyramide der Unbefleckten Empfängnis teil, die 1706 auf der Plaza del Born, auf der Rückseite von Santa Maria del Mar, errichtet wurde. Die Pyramide von Born, Mittelpunkt zahlreicher Feiern während des Krieges, wurde 1716 zerstört. Karl VI. ließ laut Castellví eine andere im Königreich Sizilien im Jahr 1724 zu ihrem Gedenken errichten.⁶⁵
Andrea Sommer-Mathis: Música y teatro en las Cortes de Madrid, Barcelona y Viena durante el conflicto dinástico Habsburgo-Borbón. Pretensiones políticas y teatro cortesano, in: Antonio Álvarez-Ossorio/Bernardo García/Virginia León Sanz (Hrsg.), La pérdida de Europa. La Guerra de Sucesión por la Monarquía de España. Madrid 2007, S. 181– 198; Daniéle Lipp: Músicos italianos entre las Cortes de Carlos III/VI en Barcelona y Viena, in: ebd., S. 159 – 179.Vgl. dazu deren Beitrag in diesem Band. Gebete und Bitten an Gott für den Sieg waren auf beiden Seiten üblich. Narcís Feliú de la Penya: Anales de Cataluña III. Barcelona 1709, S. 607; Figueró, BREVE relación de el feliz viaje, S. 22; Conxita Molfulleda: In futuri operis signum. La piràmide de la Inmaculada i el setge de
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Die Anwesenheit des Königspaars in Barcelona, das zur Hauptstadt der Monarchie und zum Sitz des Hofes wurde, kam der Stadt zugute, die trotz des Krieges eine Blütezeit erlebte.⁶⁶ Ihre neue Rolle erklärt, warum sie voller Ausländer und Familien aus anderen Gebieten der spanischen Krone war.⁶⁷ Der Aufenthalt von König Karl an seinem Hof in der katalanischen Hauptstadt war ein guter Impuls für die katalanischen Herrschaftsgruppen und führte zu einer erheblichen wirtschaftlichen Euphorie.⁶⁸ Ihre kommerzielle Tätigkeit wurde durch den Eingang von alliiertem Silber, durch den Anstieg des Konsums insbesondere durch die Angehörigen des königlichen Hofs sowie durch die Befestigungsarbeiten begünstigt. Beispielsweise spiegelt die Companya Nova de Gibraltar, die 1709 für den Handel im Atlantik über Gibraltar gegründet wurde, die Dynamik der katalanischen Bourgeoisie wider, die in ein komplexes Netzwerk von Unternehmen eingebunden war.⁶⁹ Die Begeisterung, die durch die Ankunft von Elisabeth Christine in Barcelona und den Feierlichkeiten, die sie begleiteten, ausgelöst wurde, war nichts anderes als eine Klammer. Die Realität eines ungünstigen Kriegsverlaufs für das Haus Habsburg und der Verbündeten in Spanien konnte nicht geleugnet werden. Die Königin sorgte jedoch für frischen Wind am Hof von Barcelona und gewann die Zuneigung der Katalanen, die eine positive Meinung von ihr hatten. Die Worte des königlichen Buchdruckers Rafael Figueró fassen zusammen, was das Jahr der Ankunft von Elisabeth Christine bedeutete: „Triumphjahr 1708, in dem wir seine
Barcelona de 1706, in: Mercè Morales/Mercè Renom/Mamés Cisneros (Hrsg.), L’aposta catalana a la Guerra de Successió (1705 – 1707). Barcelona 2007, S. 109 – 122. Virginia León Sanz: Barcelona durante la Guerra de Sucesión: una ciudad con corte, in: Lluis Guia Marín/Maria Grazia Rosaria Mele/Giovanni Serreli (Hrsg.), Centri di potere nel mediterraneo occidentale: dal medioevo alla fine dell’Antico Regime. Mailand 2017, S. 325 – 340. „Relación de los españoles que dejaron el servicio del Duque de Anjou para servir al Rey y de los que dejaron sus casas“, in: Feliú de la Penya, Anales III, S. 620. Nach der Schlacht von Almansa suchten viele Kastilier, Aragonesen und vor allem Valencianer Zuflucht im Fürstentum oder auf Mallorca, vgl. Virginia León Sanz: ′Abandono de patria y hacienda′. El exilio austracista valenciano, in: Revista de Historia Moderna. Anales de la Universidad de Alicante 25 (2007), S. 225 – 235. Jaoquím Albareda: Felipe V y el triunfo del absolutismo. Cataluña en un conflicto europeo (1700 – 1714). Barcelona 2000; Albert García Espuche: Barcelona entre dues guerres. Economia i vida quotidiana (1652– 1714). Vic 2005. Pierre Vilar: Le manual de la „Companya Nova de Gibraltar“. Paris 1962 (Ausgabe in Katalanisch: Reus 1990); Virginia León Sanz/Niccoló Guasti: Treaty of Asiento between Spain and Great Britain during the first half of the Eighteenth Century, in: Antonella Alimento/Koen Stapelbroek (Hrsg.), The Politics of Commercial Treaties in the Eighteenth Century. Balance of Power, Balance of Trade. London 2017, S. 151– 172.
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nahende Freiheit erleben, in der universellen Erlösung der gesamten spanischen Welt“.⁷⁰ Sehr bald würde Elisabeth Christine eine wichtige politische Rolle spielen, ähnlich der von María Luisa von Savoyen (1688 – 1714), der Ehefrau von Philipp V. Die Regierungstätigkeit von Königin Elisabeth begann bereits 1708 im Italien-Rat, in dem sie Erfahrungen im politischen System der Monarchie sammelte.⁷¹ 1710 fand der zweite Einfall der Alliierten in Kastilien statt. König Karl stellte sich an die Spitze der Armee und ließ Elisabeth Christine in Barcelona als Regentin der habsburgischen Regierung zurück. König Karl kam in Madrid an, aber die Verbündeten mussten sich schließlich zum zweiten Mal zurückziehen. In dieser Zeit konnte die Königin die Unterstützung der Bevölkerung erfahren. Die Quellen idealisieren nicht nur ihre persönlichen Qualitäten, sondern auch ihre Rolle als Herrscherin.⁷² Die Monate, in denen die Königin während der Regentschaft in Barcelona gelebt hatte, waren intensiv gewesen. Die Freude über die ersten Siege wurde von späteren Niederlagen und Schwierigkeiten überschattet. Die alliierte Offensive endete mit einer doppelten Niederlage in Brihuega und Villaviciosa. Die Vormachtstellung Philipps V., nicht nur in Kastilien, war eine Tatsache geworden. Die bourbonische Armee hatte Aragon wieder zurückerobert. Mit dem Scheitern des zweiten Angriffs auf Kastilien endete praktisch der Krieg in Spanien, zumindest für die Engländer. Der Sieg der Tories bei den Wahlen 1710 bedeutete letztlich, dass Großbritannien sich für das Ende des Krieges entscheiden sollte. Kurz darauf nahmen die Ereignisse eine radikale Wendung, die die neue britische Haltung verstärkte. Im Frühjahr 1711 starb Kaiser Joseph I. in Wien, was den Erzherzog Karl zu seinem Nachfolger im Kaiserreich machte, aber gleichzeitig eine unsichere Phase im Erbfolgekrieg mit sich brachte. Karl III. wollte die Regierungsgeschäfte in Spanien selbst leiten. Er intervenierte ständig bei Staatsfragen, obwohl er oft die Konsultation von Meinungen und Stellungnahmen übertrieb. Das bedeutete, dass seine Beziehung zu den verschiedenen Institutionen nicht immer reibungslos verlief. Sein autoritärer Charakter führte oft zu Spannungen bei der Arbeit der spanischen Minister, insbesondere beim Staats- und Kriegsrat. In den letzten Jahren ist ein besseres
Figueró, BREVE relación de el feliz viaje, S. 21 („triunfal año de 1708, en que vivimos su cercana libertad, en la universal redención de todo el orbe Español“). Zur Regierung der Königin in Barcelona León Sanz, Isabel Cristina, reina y regente, S. 429 – 440. F. de Castellví schrieb: „Noch nie wurde eine Herrscherin von allen so geschätzt“ oder „ihre Fähigkeit und süße Kunst, zu befehlen, wurde bewundert“ („jamás soberana alguna se ha visto universalmente tan estimada“ oder „admiraba a todos su hábil y dulce arte en el mandar“), in Castellví, Narraciones históricas III (1999), S 79.
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Einverständnis mit den Spaniern festzustellen, was ihn dazu veranlasste, den Standpunkt der spanischen Minister gegenüber den Alliierten zu verteidigen und auf sie zu zählen. Am 6. September 1711 übertrug Karl III. kurz vor seiner Abreise nach Deutschland den alliierten Truppen „den Schutz meines treuen Fürstentums“ und den Abgeordneten und Richtern Kataloniens (Diputados y Oidores de cuentas de Cataluña) die Sicherheit seiner „sehr teuren und geliebten Frau“ die er in der katalanischen Hauptstadt als regierende Königin der Königreiche und Herrschaftsgebiete Spaniens zurückließ.⁷³ Von September 1711 bis März 1713 regierte Elisabeth Christine in Barcelona. Die Königin gewann die Zuneigung der Katalanen in einer Zeit, in der die Demonstration von Kontinuität bezweckt wurde.
Von Barcelona nach Wien Am 27. September 1711 reiste Karl III. von Habsburg von Barcelona nach Frankfurt, um die Kaiserkrone anzunehmen. Mehrere Monate waren seit dem Tod von Kaiser Joseph I. vergangen. Karl hatte nicht die Absicht, auf die Krone Spaniens zu verzichten. Die einvernehmliche Wahl des Erzherzogs zu Kaiser Karl VI. am 22. Dezember 1711 gab ihm ein internationales Gewicht, das ihm bis zu diesem Zeitpunkt gefehlt hatte. In Wien angekommen, setzte sich Karl an die Spitze der österreichischen Diplomatie und von der neu gewonnenen Position aus, die ihm sein kaiserlicher Titel gab, verteidigte er seine Ansprüche auf das Erbe Karls II. Er fand eine solide Unterstützung bei den spanischen und italienischen Ministern, die bereits in seinem Dienst am katalanischen Hof gewesen waren und ihn nach Wien begleiteten.⁷⁴ Die Ankunft Karls VI. in Wien, begleitet von einer Entourage seiner iberischen Unterstützer, markiert den Beginn der neuen politischen Dimension der Spanier in der zukünftigen österreichischen Regierung.⁷⁵ Der Zeitraum von 1711 bis 1714
Real Academia de la Historia (RAH), 9/5637: Copia de la Real Carta mandada escriurer per la S.C. y Real Majestat del Rey Nostre Senyor que Deu Guarde al Excellentisim y fidelisim Consistori dels Senyors Deputats y Oydor de Comptes del General de Cathalunya, unterzeichnet vom Marquis von Rialp („el resguardo de mi Fidelísimo Principado“ bzw. „muy cara y amada esposa“). János Kalmár: Autour de l’Empereur Charles VI: „allemands“ et „espagnols“ dans la cour viennoise du premier tiers du XVIII siècle, in: Jean-Philippe Genet/Günther Lottes (Hrsg.), L’etat moderne et les élites. XVIIe–XVIIIe siècles. Paris 1996, S. 255 – 256; R. García Cárcel: Felipe V y los españoles. Barcelona 2002, S. 85. León Sanz, Al servicio de Carlos VI, S. 76 ff. Vgl. den Beitrag von Elisabeth Garms-Cornides in diesem Band.
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war vor dem Hintergrund der Utrechter Verhandlungen der Schlüssel zur Macht der neuen Elite am Wiener Hof, die den außergewöhnlichen Augenblick geschickt nutzte, um sich als Machtgruppe zu etablieren und zu festigen.⁷⁶ Bei der Ankunft der wichtigsten spanischen und italienischen Minister in Wien können mehrere Phasen festgestellt werden. Einige Höflinge, die ihn auf seiner Reise zur Krönung in das Heilige Römische Reich begleiteten, sollten eine wichtige Position am kaiserlichen Hof einnehmen; dies war der Fall beim Erzbischof von Valencia, Antonio Folch de Cardona, bei den Grafen von Foncalada, Monte Santo, Sástago und Çavellá, sowie beim Staatssekretär von Italien, Juan Antonio Romeo, Marquis von Erendazu. Der Marquis von Rialp, Ramón de Vilana Perlas, der eine herausragende Rolle im Exil spielen sollte, war nicht einer der ersten, die in Wien ankamen, aber während dieser Zeit in Barcelona festigte er seine Position als Minister der Königin Elisabeth als Staatssekretär und Sekretär der Universalexpedition und unternahm die ersten Schritte, um sich mit seiner Annäherung an Prinz Eugen von Savoyen in das neue höfische Umfeld von Karl VI. zu integrieren. Der designierte Kaiser organisierte die Regierung der spanischen Monarchie bevor er in das Reich aufbrach. Er bildete eine Junta, der Elisabeth Christine beratend zur Seite stehen sollte.⁷⁷ Karl VI. unternahm aber gleichzeitig die ersten Schritte für die Einrichtung einer spanischen Regierung am Wiener Hof mit der Bildung eines Rates 1712, der sich mit „den Geschäften der zu Spanien gehörenden Herrschaftsgebiete“, befasste und aus vier Personen bestand, darunter der Erzbischof von Valencia. Als die Gemeinden Kataloniens an den kaiserlichen Hof schrieben, wandten sie sich an die Spanier, die damals dem Kaiser nahestanden, die, wie Castellví schreibt, „den katalanischen Behörden helfen“ sollten.⁷⁸ Zu den kaiserlichen Ministern gehörten neben Folch de Cardona auch der Graf von Oropesa, der Marquis von Villasor, die Grafen von Haro und Çavellá, der Staatssekretär Romeo und der italienische Graf Stella. Die Aufgaben des Rates wurden um die Zuständigkeit für die Angelegenheiten Spaniens erweitert. Die Regierung von Elisabeth Christine in Barcelona folgte den Vorgaben aus Wien.⁷⁹ In dieser Zeit waren die Beziehungen zwischen den Höfen von Barcelona und Wien enger als zur Zeit Kaiser Josephs, aber das neue Szenario, das die Utrechter Verhandlungen schufen, distanzierte beide Höfe voneinander. Die Verhandlungen
Virginia León Sanz: La élite austracista en la Corte de Viena. La formación de un nuevo grupo de poder, in: Conxita Mollfulleda/Nuría Sallés (Hrsg.), Els Tractats d’Utrecht. Clarors i foscors de la pau. La resistència dels catalans. Barcelona 2015, S. 257– 266. León Sanz, Isabel Cristina, reina y regente, S. 432– 440. Castellví, Narraciones históricas IV, 2002, S. 455 und 712 („auxiliar las instancias de los catalanes“). León Sanz, Política y representación, S. 287– 310.
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schwankten zwischen der entschiedenen Verteidigung des Erbes der spanischen Krone und denjenigen Forderungen, die sich aus der Anerkennung der internationalen Realität ableiteten. Dies spiegelt sich etwa in den Anordnungen wider, die Wien dem katalanischen Hof erteilte, zum Beispiel in Bezug auf Ämter und Posten in Gebieten, die nicht unter österreichischer Herrschaft standen, wie die Krone von Kastilien. In diesem Zusammenhang erfolgte eine der wichtigsten Festlegungen im Mai 1712, die die Beratung zu Stellen in italienischen Gebieten verbot: „Danach wird der Rat bis auf weiteres weder die Gehälter noch die Gesamtheit der Gehälter für Neapel und Mailand besprechen.“⁸⁰ Trotz der Demonstration der Beständigkeit des Hauses Habsburg in Spanien waren die Pläne auf eine sicherere österreichische Erhaltung der italienischen Herrschaftsgebiete ausgerichtet. Die zukünftige Regierung konnte daher nicht mit Maßnahmen und Ernennungen in der katalanischen Hauptstadt belastet werden. Die Unterstützer der Habsburger in Wien und Barcelona hatten die gleiche Ausgangsposition die Verhandlungen in Utrecht betreffend und sahen sich einer schwierigen Situation im Fürstentum gegenüber. Zum gleichen Zeitpunkt wuchs die politische Distanz seitens des Kaiserhofs, was durch das Projekt deutlich wird, Königin Elisabeth Christine durch die Schwester des Kaisers, Erzherzogin Maria Elisabeth (1680 – 1741), zu ersetzen.⁸¹ Der österreichische Hof scheint sich in der Endphase des Krieges durch widersprüchliche Interessen geleitet zu haben lassen. Einerseits wollte Karl VI. Katalonien wegen seiner Verpflichtung gegenüber den Katalanen schützen und daher eine gewisse Präsenz auf der Halbinsel aufrechterhalten, aber die Bemühungen Wiens richteten sich andererseits zunächst auf die Verteidigung der Gebiete der spanischen Monarchie in Italien und überließen das Fürstentum seinem Schicksal. Die Aufgabe, die Elisabeth Christine also in Barcelona übernahm, war kompliziert. Einige Adlige, die König Karl nahestanden, begleiteten ihn auf seiner Reise nach Frankfurt, obwohl der Marquis von Rialp blieb. Der Marquis, ohne den Kaiser in Barcelona und in einem schwierigen Umfeld, nutzte die Gelegenheit, sich Elisabeth Christine zu nähern, wie er es zuvor bei König Karl getan hatte, und gewann ihre Gunst und ihr Vertrauen. Vilana Perlas war mehr als nur ein Minister für Elisabeth Christine. Die Königin fand im Marquis einen treuen Mitarbeiter, der ihr wichtigster Ratgeber wurde, und das war dem Hof zweifellos klar. Das Pro-
AHN, Estado, l. 997, 17.08.1711 („en adelante el Consejo no consulte ni sueldo ni agregación para Nápoles ni Milán hasta nueva orden“). Zu den Bestellungen, Ehren und Gnaden in dieser Phase AHN, Estado, 1003 und ÖStA, HHStA, StAbt, Spanien, Varia 52, alt 65. János Kalmár: Tentatives de l’empereur Charles VI au Congrès d’Utrecht en 1712, in: Virginia León Sanz (Hrsg.), 1713. La Monarquía de España y los Tratados de Utrecht. Cuadernos de Historia Moderna. Anejos XII (2013), S. 121– 131.
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tegieren von Rialp in der Zeit, in der Elisabeth Christine regierende Königin war, löste bei den anderen Ministern Misstrauen aus, die versuchten, seine Macht einzuschränken. Dies äußerte sich in den besonderen Beziehungen, die der Marquis zu den katalanischen Institutionen unterhielt. Auf ihrer Rückreise nach Wien führte die Kaiserin eine interessante Korrespondenz mit dem Marquis von Rialp, Ramón de Vilana Perlas.⁸² Die Monate, in denen Elisabeth Christine in Barcelona regieren musste, waren jedenfalls sehr ereignisreich. Die Kriegssituation im Fürstentum verschlechterte sich mit dem fortschreitenden Verlust der Unterstützung durch die Verbündeten, die in vielen Fällen die Demoralisierung der katalanischen Gesellschaft nicht berücksichtigten.⁸³ Die Seemächte jedenfalls, die Erzherzog Karl sowohl im Erbfolgekrieg als auch bei seiner kaiserlichen Wahl unterstützt hatten, würden die Wiederbelebung des Reiches Karls V. nicht zulassen. Ab 1712 zogen sich die Engländer nach Menorca zurück und begannen direkte Gespräche mit den spanischen Gesandten Philipps V., zunächst in London und dann in Madrid.⁸⁴ Bevor er ging, richtete Karl wie bereits erwähnt die künftige Regierung ein. Abgesehen vom Staatsrat und anderen Gerichtshöfen, entschied er, um Elisabeth Christine in ihrem Amt zu unterstützen, einen Kabinettsrat zu schaffen. Der Rat wurde durch den Botschafter Francisco de Moles, Herzog von Parete, den Admiral von Aragon, José Folch de Cardona y Eril (1651– 1729), Marschall Guido von Starhemberg (1657– 1737), den Generalinquisitor, sofern es einen solchen gab, Domingo de Aguirre, Inquisitor im obersten Teil Aragons, José de Gurupegui, Regent von Kastilien, und dem Sekretär Vilana Perlas, Marqués de Rialp, gebildet. In einigen Anweisungen vom 12. September 1711 wird darauf hingewiesen, dass es die Aufgabe des Gremiums sein sollte, die Beratungen der Räte und Gerichtshöfe den Staat und Krieg, Kastilien, Aragon, Italien, die Orden, Kreuzzugspläne und die Kammer betreffend zu studieren, „bevor sie das Kabinett für die Beschlüsse der Königin erreichten“.⁸⁵ Die Schaffung des Rats hob daher die vom Erzherzog
Ferdinand Wolff:Vierundzwanzig Briefe der Kaiserinn Elisabeth Gemahlinn Kaiser Karls VI. an den Staats-Seretär de Rialp. Wien 1854. Diese Korrespondenz wurde ausgewertet in León Sanz, Carlos VI, S. 239 – 241 und 282– 283. Josep María Torras i Ribé: Antecedentes y consecuencias de las negociaciones de Utrecht en Cataluña (1711– 1713), in: León Sanz (Hrsg.), 1713. La Monarquía de España, S. 133 – 152; dies.: Felip V contra Catalunya. Barcelona 2005 (4. Aufl. 2007); Albareda, La Guerra. León Sanz, 1713. La Monarquía de España, darin insbesondere die Studien von Joaquím Albareda, Lucien Bély und Christopher Storrs. In den habsburgischen Quellen wird die englische Besetzung Menorcas als Usurpation eingestuft. Josep Juan Vidal: La conquista inglesa de Menorca. Un capítulo de la Guerra de Sucesión a la Corona de España. Palma 2013. Castellví, Narraciones históricas III (1999), S. 338 – 339 („antes de llegar al gabinete para las resoluciones de la reina“).
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mit dem Dekret El Pardo von 1710 geschaffenen Regierungsinstitutionen nicht auf, deren Schaffung vielmehr im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme seines spanischen Erbes gesehen werden muss. Die von König Karl geschaffenen Institutionen übten ihre Funktionen weiterhin normal aus, obwohl die italienischen Angelegenheiten von zunehmender Bedeutung wurden. Die kritische militärische und finanzielle Situation zwang Karl VI. kurz vor seiner Abreise und auch von Wien aus, außerordentlich restriktive Maßnahmen zur Gewährung von Gnaden und Ausgaben im Fürstentum und insbesondere in den italienischen Herrschaftsgebieten zu ergreifen. Er wollte seine künftige Politik nicht mit Entscheidungen in Barcelona belasten.⁸⁶ Diese Reihe an Maßnahmen stand im Einklang mit der Realität, aber im Kontrast zur Demonstration einer Dauerhaftigkeit des Hauses Habsburg in Spanien und zu der scheinbaren Großzügigkeit Philipps V. Die Regentschaft von Elisabeth Christine stand jedenfalls für die Kontinuität der Regierung. Die Königin wurde konsultiert und ihre Entscheidung stand wie üblich am linken Rand der ihr übergebenen Gutachten. Bei den Stellungnahmen begegnen häufig Notizen wie „den Dienst auf Befehl des Kaisers, meines Herrn, fortsetzen“ oder „die Befehle ausführen, wie sie befohlen wurden“.⁸⁷ Bedacht auf ihre Autorität und manchmal autoritär, ließ sich die Königin anscheinend nicht von ihren Staatsministern kommandieren, obwohl sie wusste, wie man die Beziehung zu ihnen geschickter gestaltet als Karl III. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um eine politische Debatte wieder in Gang zu bringen, wie sie Monate zuvor mit der Veröffentlichung des Epitoms durch Doktor Francesc Grases im Jahr 1711, die den Höhepunkt der Spannungen zwischen den katalanischen Institutionen und König Karl gekennzeichnet hatte, stattfand.⁸⁸ In der Zwischenzeit hörte die Debatte zwar nicht auf, aber es entstanden zwei Strömungen innerhalb der katalanischen Anhänger des Hauses Habsburg, die in den Schriften der Parteigänger nach dem Krieg auftauchten.
Zur neuen Dialektik, die mit der italienischen Elite festgelegt wurde, Cinzia Cremonini: Riequilibrare il sistema: mutazioni e permanenze in Italia tra 1706 e 1720. Alcune consideracione, in: León Sanz (Hrsg.), 1713. La Monarquía de España, S. 177– 188. León Sanz, Entre Austrias y Borbones, S. 64– 65 und 107. In der Debatte wurden einige Überlegungen zum Gleichgewicht zwischen der königlichen Macht und den Cortes angestellt. Zu diesem Thema, unter anderem Rosa María Alabrús/Ricardo García Cárcel: L’afer Grases i la problemàtica constitucional catalana abans la Guerra de Succesió, in: Pedralbes. Revista d’Historia Moderna 18-II (1993), S. 557– 564; Ernest Lluch: L’alternativa catalana. 1700 – 1714– 1740. Ramon de Vilana Perlas i Juan Amor de Soria: teoria i acció austriacistes. Vic, Eumo 2000.
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Intern gab es häufige Zwischenfälle zwischen den lokalen Behörden und der Regierung in Barcelona, was durch die militärische Krise verschärft wurde. Die letzten Monate der österreichischen Herrschaft waren geprägt von der Aufdeckung verschiedener Verschwörungen sowohl in Barcelona als auch in anderen habsburgisch kontrollierten Gebieten, was auf den Einstellungswandel hinweist, der in einigen Bevölkerungsgruppen durch den Beitritt zum Haus Habsburgs stattgefunden hatte. Die Nachrichten von den Friedensverhandlungen in Utrecht verschlechterten die Lebensbedingungen im Fürstentum. Die ständigen Beschwerden der katalanischen Bevölkerung über die Unruhen und Missstände bei den Truppen hätten zu einer gewissen Distanz zwischen der Königin und ihren Ministern und den katalanischen Institutionen führen können. Der Ernst der Lage erklärt jedoch das intensive Verhältnis, das Elisabeth Christine mit der Konferenz der „drei Gemeinden“ (Conferencia de los Tres Comunes) unterhielt, um ihre Unterstützung zu erhalten, die es dieser Institution ermöglichte, in dieser Phase eine besondere Protagonistin zu gewinnen: Zwischen dem 11. September 1712 und dem 28. Juni 1713 traf sich die Konferenz zu mehr als hundert Anlässen, um Fragen wie die öffentliche Ordnung und die Gründung des Gerichtshofs für „Gegenmaßnahmen“ (Tribunal de Contrafacciones) zu beraten.⁸⁹ Trotz der Schwierigkeiten fehlte es weder an öffentlichen Zeremonien, an denen Elisabeth Christine teilnahm, um das gesellschaftliche Leben Barcelonas zu fördern, noch an der Aufführung mehrerer Musikdramen mit Herkules als Protagonist, wie z. B. Ercole in Cielo. ⁹⁰ In diesen kritischen Momenten treffen wir auf eine starke Königin, die in der Lage ist, mit den Schwierigkeiten und Widrigkeiten umzugehen, aber auch eine umsichtige und letztlich beliebte Königin. Am 13. März 1713 erklärte sich der Kaiser bereit, den Evakuierungsvertrag von Katalonien, Mallorca und Ibiza zu unterzeichnen. Außerdem wurde in Italien Neutralität vereinbart, sodass die Friedensverhandlungen fortgesetzt werden konnten. Nach der Unterzeichnung dieses Vertrags am 19. März verließ die Königin Barcelona. Die Stadt bereitete ihr einen emotionalen Abschied.⁹¹ Wenige Monate später, am 14. Juli, verließ Marschall Starhemberg die Stadt. Dennoch beschloss man in Barcelona, den Kampf gegen Philipp V. fortzusetzen. Nach dem britischen und portugiesischen Rückzug aus dem Konflikt, verlor man auch am kaiserlichen Hof zunehmend das Interesse am Fürstentum. Die Notwendigkeit für Karl VI. die Aufgabe Kataloniens zu rechtfertigen, zeigt sich in der Korrespondenz,
Joaquím Albareda, La Guerra, S. 269 – 274; Eduard Martí: La Conferencia de los Tres Comunes (1697– 1714). Una institución decisiva en la política catalana. Vilassar de Mar 2008. Sommer-Mathis, Música y teatro, S. 190 – 198. Salvador Sanpere i Miquel: Fin de la Nación Catalana. Barcelona 1905, S. 35
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die Elisabeth Christine während ihrer Rückreise nach Wien mit dem Marquis von Rialp führte, an den sie am 7. Juli 1713 schrieb: „Wir sprechen sehr oft von dem geliebten Barcelona“.⁹² Die Kommunikation zwischen den von den Truppen des Herzogs von Berwick Belagerten und dem in Wien konstituierten Exilrat intensivierte sich und gewann an Bedeutung. Der Rat unternahm erfolgreich begrenzte Anstrengungen, um ihnen Hilfe zu leisten, obwohl er bei seinem Versuch, eine größere Verpflichtung vom Kaiserhof zu erhalten, scheiterte. Der Kaiser schloss sich zunächst nicht den Verträgen von Utrecht an und weigerte sich, Philipp V. als König von Spanien und den Herzog von Savoyen als König von Sizilien anzuerkennen.⁹³ Die langsame Entscheidungsfindung war in Wien keine unübliche Praxis, um die Ziele durch Diplomatie zu erreichen. Der kaiserliche Hof strebte jedenfalls nach größeren Vorteilen.⁹⁴ Zu dieser Strategie kam die feste Überzeugung Karls VI. von der Legitimität seines Erbanspruchs auf die spanische Krone, die zusammen mit der Abwendung der Verbündeten von der habsburgischen Sache eine Haltung einnahm, die scheinbar nur Echo in der spanischen Gruppe bei Hof fand. Die habsburgischen Parteigänger, die begannen, ihren eigenen Raum am österreichischen Hof zu schaffen und ihre dortige Rolle festzulegen, verteidigten entschlossen die Haltung des Kaisers zum allgemeinen Frieden. Die Unterstützung der Exilanten für den Kaiser erscheint bedingungslos. Gleichzeitig plädierten die führenden österreichischen Minister dafür, dass Karl VI. Frieden schließen sollte. Die Präsenz der Führer der habsburgischen Sache in Spanien nahm in der Folge am Wiener Hof deutlich zu. Abgesehen von denen, die den Kaiser 1711 begleiteten, kamen einige weitere im Laufe des Jahres 1712 an, obwohl die Unterzeichnung des Evakuierungsvertrags 1713 zweifellos einen Markstein in diesem Prozess darstellte, da er die Überstellung der meisten Minister und Beamten, die in der habsburgischen Regierung und Verwaltung gearbeitet hatten, nach Italien bedeutete, wie im Falle des Staatssekretärs und Sekretärs der Universalexpedition, Marquis von Rialp. Dieser verließ Barcelona im März 1713 in Begleitung seiner Familie in Richtung Wien und erreichte trotz Hindernissen den Kaiserhof. Tatsächlich befürchtete die Gruppe der Exilanten, die sich in Wien aufhielten und mit einigem Erfolg am österreichischen Hof positioniert hatten, im Bewusstsein der Kapazität und des Einflusses des Marquis von Rialp, den Machtverlust, den seine Ankunft bedeuten könnte. Der Marquis stand kurz davor, Opfer von Hofintrigen zu Wolff, Vierundzwanzig Briefe, S. 134– 140; León Sanz, Carlos VI, S. 283. Joaquím Albareda: Els Tractats de pau y Espanya. La negociació de Rastatt, in: Mollfulleda/ Sallés (Hrsg.), Els Tractats d’Utrecht, S. 167– 177. ÖStA, HHStA, StAbt, Spanien, Varia 51– 52. Allg. Charles Ingrao: The Habsburg Monarchy, 1618 – 1815. Cambridge 1995.
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werden, wie es Jahre zuvor Zinzerling ergangen war. Rialp war nach seinem erzwungenen Abgang vom katalanischen Hof mit der Kompetenz für spanische Angelegenheiten entschädigt worden, wobei er als Verbindungsglied zwischen Wien und Barcelona diente. Die in Wien anwesenden „Austracistas“ versuchten Rialps Einfluss während der Regierungsbildung für die spanischen Gebiete in Italien zu stoppen, in der Hoffnung, dass der Kaiser Juan Antonio Romeo zum Staatssekretär ernennen würde. Die Korrespondenz der Kaiserin mit dem Marquis von Rialp weist auf diese Verschwörung hin, an der der Erzbischof von Valencia und Romeo beteiligt gewesen sein sollen.⁹⁵ Die alte Rivalität zwischen der spanischen Elite begann am kaiserlichen Hof also sofort erneut aufzuleben. Die Aufspaltung des katalanischen Hofes wurde letztlich auch in Wien fortgeführt. Das Ausscheiden dieser wichtigen Gruppe von Ministern und Beamten aus der habsburgischen Verwaltung von Barcelona im Jahr 1713 und ihre Etablierung am kaiserlichen Hof stärkte die sogenannte spanische Partei in einem entscheidenden Moment, nämlich vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags des Kaisers mit Frankreich in Rastatt.⁹⁶ Die Vereinbarungen von Utrecht sahen die Aufnahme der meisten italienischen Gebiete der spanischen Monarchie in die Habsburgermonarchie als selbstverständlich an. Der Wiener Hof musste sich nun um die Regierung der neuen Gebiete und deren Integration in das Reich kümmern.⁹⁷ Die Partei der Spanier und Italiener, die sich in Barcelona und später am Wiener Hof gebildet hatte, schloss sich der Verteidigung der kaiserlichen Sache an und konnte von nun an auch auf die Unterstützung einiger österreichischer und böhmischer Minister zählen, die aufgrund der vielfältigen Interessen und der unterschiedlichen politischen Traditionen, die sich vereinigten, eine heterogene Gruppe bildeten. Spanier und Italiener beeinflussten die Fortsetzung der entsprechenden spanischen Politik am österreichischen Hof. Im Kontext der Ablehnung der Verträge von Utrecht durch Karl VI. Ende 1713, wurde am 29. Dezember noch vor der Unterzeichnung des Rastatter Friedens in Wien der Oberste Rat von Spanien gebildet.⁹⁸ Der Kaiser ernannte Antonio Folch de Cardona, Erzbischof von Valencia, zum Präsidenten des neuen Rates und Ramón de Vilana Perlas, Marquis von Rialp, zum Staatssekretär und zum Sekretär der Universalexpedition.
In einem ihrer letzten Briefe beruhigte Elisabeth Christine Rialp: „Wie überall werde ich deine Person und deine Verdienste nicht vergessen.“ Wolff, Vierundzwanzig Briefe, S.140. León Sanz, Carlos VI, S. 251– 272. Marcello Verga (Hrsg.), „Dilatar l’Imperio in Italia“. Absburgo e Italia nel primo Settecento, in: Cheiron 21 (1994); Francesca Fausta Gallo: Italia entre los Habsburgo y los Borbones, in: Pablo Fernández Albadalejo (Hrsg.), Los Borbones. Dinastía y memoria de nación en la España del siglo XVIII. Madrid 2000, S. 141– 162. León Sanz, El Archiduque Carlos, S. 240 – 258.
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Die Bildung des Rates war die Antwort auf die Stärke und den Einfluss der spanischen Gruppe, und gleichzeitig festigte das neue Organ ihre politische Position am Hof, indem es sie an die Spitze der kaiserlichen Verwaltung stellte. Der Kaiser wollte sie mit den Angelegenheiten der ehemals spanischen Gebiete betrauen, die ihre Bedeutung am österreichischen Hof, aber auch auf dem internationalen Parkett stärkte. Die diplomatischen Beziehungen zu den Gebieten, die nun ihrer Hoheitsgewalt unterstanden, sollten vom Spanischen Rat abhängen, einschließlich der Beziehungen zu Rom.⁹⁹ Die Verhandlungen zwischen Wien und Paris gipfelten in der Unterzeichnung des Rastatter Friedens im März 1714, der wenige Monate später in Baden bestätigt wurde.¹⁰⁰ Was das spanische Erbe betrifft, so erhielt Karl VI. die südlichen Niederlande, ergänzt durch bestimmte Orte, sowie Mailand, Neapel und die toskanischen Stato dei Presidi. Philipp V. hatte sich beharrlich gegen die Abtretung Siziliens ausgesprochen, das einzige italienische Gebiet, das nicht in die Hände der Alliierten gefallen und Savoyen zugeschrieben worden war. Der neue britische Verbündete hatte versucht, das Gleichgewicht auf der italienischen Halbinsel aufrecht zu erhalten und die Macht der Österreicher zu verringern. Bezüglich Sardinien, das entsprechend den früheren Vereinbarungen an den Kurfürsten von Bayern hätte übergeben werden sollen, wurde in Rastatt beschlossen, dass es ebenfalls an Karl VI. gehen sollte. Der Übergang der Herrschaft zuerst auf Wien und dann auf Savoyen bedeutete die Annäherung der sardischen Insel an den italienischen Einflussbereich und die Entfernung von der spanischen Monarchie und insbesondere von der Krone von Aragon, zu der sie seit Jahrhunderten gehörte. Der Kaiser erreichte fast alles, was die kaiserliche Politik von Leopold I. auf Virginia León Sanz (Hrsg.), Europa y la Monarquía de Felipe V, Madrid, Silex 2019; dies.: El Imperio de Carlos VI en la Europa de Utrecht. El exilio austracista y la defensa de Italia, in: Arnegger/Auer/Edelmayer/Just (Hrsg.), Der Spanische Erbfolgekrieg (1701– 1714), S. 317– 338. Lucien Bély: El equilibrio europeo, fundamento de la paz (1713 – 1725), in: Albareda (Hrsg.), El declive, S. 19 – 63. Vgl. dazu auch Renger de Bruin/Maarten Brinkmann (Hrsg.), Friedensstädte. Die Verträge von Utrecht, Rastatt und Baden 1713 – 1714. Petersberg 2013; Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hrsg.), Utrecht – Rastatt – Baden 1712– 1714: Ein europäisches Friedenswerk am Ende des Zeitalters Ludwigs XIV (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Beiheft 98). Göttingen 2013; Virginia León Sanz (Hrsg.), 1713. La Monarquía de España y los Tratados de Utrecht. Cuadernos de Historia Moderna. Anejos XII (2013); Fundación Carlos Amberes (Hrsg.), En Nombre de la paz. La Guerra de Sucesión Española y los Tratados de Madrid, Utrecht, Rastatt y Baden 1713 – 1715. Madrid 2013; Stadt Rastatt (Hrsg.), Der Friede von Rastatt. „…dass aller Krieg eine Thorheit sey.“ Aspekte der Lokal- und Regionalgeschichte im Spanischen Erbfolgekrieg in der Markgrafschaft Baden-Baden. Regensburg 2014; Rolf Stücheli: Der Friede von Baden (Schweiz) 1714. Ein europäischer Diplomatenkongress und Friedensschluss des „Ancien Régime“ (Historische Schriften der Universität Freiburg Schweiz 15). Freiburg 1997; Lucien Bély/Guillaume Hanotin/ Géraud Poumarède, (Hrsg.), La Diplomatie-monde. Autour de la paix d’Utrecht, 1713. Paris 2019.
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der italienischen Halbinsel beabsichtigt hatte. Noch 1720 erhielt er Sizilien im Austausch für Sardinien. Obwohl Karl VI. nicht auf die Krone Spaniens verzichtete, überließ der separate Frieden mit Frankreich Philipp V. die endgültige Lösung des katalanischen Problems sowie des internen Problems in der spanischen Gesellschaft. Karl VI. vergaß ebenso wie Elisabeth Christine niemals das, was Marcello Verga seinen „spanischen Traum“ nannte.¹⁰¹ Das spanische Erbe spiegelte sich in den musikalischen Opern und den in Wien errichteten künstlerischen Monumenten wider und äußerte sich in der Unterstützung der Vertriebenen im dynastischen Konflikt Spaniens. 1725 wurde der Vertrag von Wien (Frieden von Wien) zwischen Karl VI. und Philipp V. unterzeichnet, obwohl die Folgen des Erbfolgekrieges während ihrer jeweiligen Herrschaft stets präsent blieben.
Marcello Verga: Il ′sogno spagnolo‘ di Carlo VI. Alcune considerazioni sulla monarchia asburgica e i domini italiani nella prima meta dell Settecento, in: Cesare Mozarelli/Giuseppe Olmi, (Hrsg.), Il Trentino nel Settecento fra Sacro Romano Impero e antichi e stati italiani. Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Quaderno 17 (1985), S. 203 – 261.
Susanne Fritsch-Rübsamen, Andreas Weigl
Kaiser, Landesfürst und städtische Administration am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt Wien (ca. 1700 – 1740) Von der Residenz zur Hauptstadt Schon seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert hatte Wien als Vorort des Herzogtums Österreich und Residenz der babenbergischen, später habsburgischen Landesherren eine zentrale Rolle im jeweiligen Herrschaftsbereich gespielt. Im Spätmittelalter hielten sich die habsburgischen Landesfürsten auch immer wieder längere Perioden in der Stadt auf, aber noch bestimmte eine auf Reiseherrschaft beruhende, landesfürstliche, teilweise auch kaiserliche und königliche Machtausübung das Verhältnis von Stadt und Stadtherr, die dem bürgerlichen Stadtregiment gewisse Handlungsspielräume gegenüber dem Landesfürsten eröffnete. Mit dem Regierungsantritt Erzherzog Ferdinands im Jahr 1521 änderte sich an dieser Beziehung Gravierendes. Der am spanischen Hof sozialisierte Ferdinand machte seinen „frühabsolutistischen“ Machtanspruch gegenüber den Vertretern der ständischen Partei in der Stadt rasch im „Wiener Neustädter Blutgericht“ deutlich, in dessen Folge zwei Adelige und sechs Bürger enthauptet wurden.¹ Dies allein hätte freilich den frühneuzeitlichen Residenzcharakter Wiens noch nicht gestärkt, aber seit den 1530er-Jahren und vollends ab den 1550er-Jahren hielt sich Ferdinand nicht nur, aber bevorzugt in der Stadt auf. Über seine gesamte Regierungszeit betrachtet wurde die Stadt mit Abstand sein wichtigster Aufenthaltsort.² Von diesem Regierungssitz übten die von ihm zwar nicht alle völlig neu geschaffenen, aber nun wiederbelebten, straffer organisierten Zentralverwaltungsbehörden ihre Tätigkeit aus. Damit entstand auch ein gestärkter Anspruch auf die Ordnung des Stadtregiments, auf Eingriffe in die städtische Verwaltung.
Vgl. dazu etwa Richard Perger: Der Wiener Rat von 1519 bis 1526, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 35 (1979), S. 135– 168, hier 142 f.; Matthias Pfaffenbichler: „Fiat iustitia aut pereat mundus. Ferdinand und das „Wiener Neustädter Blutgericht“, in: Wilfried Seipel (Hrsg.), Kaiser Ferdinand I. 1503 – 1564. Das Werden der Habsburgermonarchie. Ausstellungskatalog. Wien/Mailand 2003, S. 85 – 87. Margit Altfahrt: Ferdinand der Erste (1503 – 1564). Ein Kaiser an der Wende zur Neuzeit (Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 1/2003). Wien 2003, S. 33; Alfred Kohler: Ferdinand I. 1503 – 1564. Fürst, König und Kaiser. München 2003, S. 118 – 122. https://doi.org/10.1515/9783110670561-008
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Der Bruch wäre vielleicht nicht ganz so klar ausgefallen, wäre Ferdinand Erzherzog geblieben, aber der Aufstieg zum König von Böhmen und Ungarn nach der Schlacht von Mohacs 1526, zum König 1531 und schließlich 1558 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches machte aus dem Landesherren einen Herrscher von europäischer Bedeutung. Nun war Wien nicht einfach mehr eine bedeutende Stadt im Südosten des Reiches, Wien wurde zu einer der Hauptstädte dieses Reiches. „Die Königs- und Kaiserjahre des jungen Habsburgers verlagern die Hauptstadt des Reiches an den östlichen Rand, gründen und konsolidieren Wiens Stellung als kaiserliches Zentrum, verwandeln es von einer Stadt des Bürgertums zu einer des Hofes, des Adels und der Beamten.“³ Die Würde eines Kaisers des Heiligen Römischen Reiches, die der österreichische Zweig der Habsburger in der Frühen Neuzeit mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne unter dem Wittelsbacher Karl VII. in ungebrochener Folge familiär monopolisierte, war trotz der Konsolidierung großer territorialer Landesherrschaften innerhalb des Reiches von nicht zu unterschätzender Bedeutung für deren Machtposition. „The three-tiered structure of imperial government – emperor, territorial ruler, subject – was highly relevant for the Habsburgs: it influenced their international alignements as much as their policies regarding the houshold and noble hierarchies.“⁴ Größe und Glanz des kaiserlichen Hofstaates demonstrierten diesen Machtanspruch, standen in symbolischer, aber auch in funktionell-administrativer Konkurrenz zu anderen Höfen, im Besonderen zu Versailles. Nun verlief die Etablierung Wiens als Kaiserresidenz bekanntlich nicht ungebrochen. Erst Kaiser Ferdinand II. erklärte die Stadt ausdrücklich zu seiner Hauptstadt und unter seiner Herrschaft vertiefte sich deren Charakter in dieser Hinsicht.⁵ Es war schließlich Leopold I., der sich wirklich vorrangig in seiner Haupt- und Residenzstadt aufhielt. Er verließ sie zumeist nur für kurze Reisen.⁶
Christiane Thomas: Die Geburt der Donaumonarchie. Wien: Das Zentrum verschiebt sich nach Osten, in: Uwe Schultz (Hrsg.), Die Hauptstädte der Deutschen. Von der Kaiserpfalz in Aachen zum Regierungssitz Berlin. München 1993, S. 89 – 99, hier 99. Jeroen Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550 – 1780. Cambridge 2003, S. 273 f. Robert Bireley: Ferdinand II: Founder of the Habsburg Monarchy, in: Robert J.W. Evans/Trevor V. Thomas (Hrsg.), Crown, Church and Estates. Central European Politics in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Basingstoke/London 1991, S. 227; Andreas Weigl: Die „Hauptstadt“ Wien und der Dreißigjährige Krieg, in: ders. (Hrsg.), Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung – Gesellschaft –Kultur – Konfession (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte 32). Wien/Köln/ Weimar 2001, S. 15 – 30. Robert J. Evans: Das Werden der Habsburgermonarchie 1550 – 1700. Gesellschaft, Kultur, Institutionen. Wien/Köln/Graz 1986, S. 147.
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Wie sehr diese von der Anwesenheit des Hofes bereits wirtschaftlich abhängig war, zeigte sich wenn eben dieser Fall eintrat. Befand sich der Kaiser in Regensburg beim Reichstag, auf der Flucht vor der Pest oder aber unter Wahrnehmung seiner Rolle als böhmischer und ungarischer König in Prag und Pressburg, dann „leerte“ sich die Stadt, weil der Hofstaat die Reisen des Kaisers zu begleiten hatte. Auch von den Hofhandwerkern, die ja nicht zuletzt von Aufträgen des Kaiserhofes lebten, zogen zumindest manche mit dem Hof mit. Die Verfestigung Wiens als permanenter Sitz des Herrschers hatte also erhebliche Auswirkungen auf die Zahl und Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung. Aufenthalt des Kaisers bedeutete Anwesenheit des wachsenden Hofstaats. Dieser umfasste um 1700 bereits mehr als 1 100 Personen und bildete damit rein quantitativ einen beträchtlichen Faktor innerhalb der Einwohnerschaft. Unter Karl VI. erreichte der Hofstaat um 1735 sogar eine Größe von etwa 2 100.⁷ Insgesamt dürften zu diesem Zeitpunkt mit den Angehörigen der Mitglieder des Hofstaates rund 10 000 Personen zur „Hofstaatsbevölkerung“ gezählt haben, bei einer Einwohnerzahl in Stadt und Vorstädten die in den 1730er-Jahren bei 160 000 lag, wovon rund 40 000 in der ummauerten Stadt lebten.⁸ Allein aus diesen Relationen wird die Bedeutung des Kaisers für die nun zur echten „Haupt- und Residenzstadt“ mutierten Metropole ersichtlich. Diese Haupt- und Residenzstadt war, trotz des großen habsburgischen Territorialkomplexes, bis 1740 immer auch eine Hauptstadt des Reiches. Nicht nur die Reputation des Kaisers, sondern das kaiserliche Amt bedingte einen großen Hofstaat, aber auch die Existenz von Behörden der zentralen Verwaltung, für die Erbländer, für den habsburgischen Territorialkomplex, aber nicht zuletzt für das Reich. Ferdinand I. institutionalisierte diese als kaiserliche Organe. Es sollte nicht vergessen werden, dass Geheimer Rat, Hofrat, später der Reichshofrat und Hof-
Stefan Sienell: Die Wiener Hofstaaten zur Zeit Leopolds I., in: Klaus Malettke/Chantal Grell (Hrsg.), Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.– 18. Jh.). Münster 2001, S. 89 – 111, hier 97; Hanns Leo Mikoletzky: Der Haushalt des kaiserlichen Hofes zu Wien (vornehmlich im 18. Jahrhundert), in: Carinthia I 146 (1956), S. 658 – 683, hier 668 f.; Irene Kubiska-Scharl/Michael Pölzl: Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711– 1765. Eine Darstellung anhand der Hofkalender und Hofparteienprotokolle (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 58). Innsbruck/Wien/Bozen 2013, S. 97. Gustav Adolf Schimmer: Die Bevölkerung von Wien, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 1 (1865), S. 9 – 14, 26 – 28, hier 11; Elisabeth Lichtenberger: Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City. Wien 1977, S. 120 f.; zur demographischen Entwicklung von Stadt und Vorstädten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. auch Franz Baltzarek: Das territoriale und bevölkerungsmäßige Wachstum der Großstadt Wien im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Mit Betrachtungen zur Entwicklung der Wiener Vorstädte und Vororte, in: Wiener Geschichtsblätter 35 (1980), S. 1– 30, hier 14.
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kriegsrat als höchste politische, gerichtliche und militärische Behörden ursprünglich explizit für die Erblande und das Reich zuständig waren. Auch als der 1559 gegründete Reichshofrat gemeinsam mit der Reichshofkanzlei als eigenständige Behörden ins Leben gerufen wurden, behandelten diese bis 1637 trotz Weiterbestehen des Hofrates bezeichnenderweise auch erbländische Angelegenheiten.⁹ Und die Agenda wuchs. Während im Reichshofrat bis Mitte des 17. Jahrhundert 12 bis 18 Reichshofräte tätig waren, stieg deren Zahl unter Kaiser Leopold I. kontinuierlich an, Ende der 1670er-Jahre auf rund 25, bis zu dessen Tod auf 34. Beim Tod Joseph I. und danach waren es um die 30. In der Reichshofkanzlei waren Ende der 1670er-Jahre 34 Sekretäre tätig.¹⁰ Wenn die Zahl der im Reichshofrat tätigen Räte verglichen mit den 500 bis 600 der Zentralverwaltung der österreichischen Länder zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch gering erscheint¹¹, so waren doch die Materien immer wieder miteinander verknüpft, was auch in institutionalisierter Form sichtbar wurde. Der Reichsvizekanzler leitete nicht nur die Reichshofkanzlei, er saß zunächst auch im Geheimen Rat bzw. in der 1669 eingerichteten Geheimen Konferenz dem Rang nach als höchstes Mitglied.¹² Sekretäre der Reichshofkanzlei führten nicht nur bei Sitzungen des Geheimen Rates und der Geheimen Konferenz Protokoll, sie wurden auch seitens des Kaisers mit politischen Missionen betraut.¹³ Nicht von ungefähr versuchte das Obersthofmarschallamt im späten 17. Jahrhundert die Jurisdiktion über das Personal des Reichshofrates zu erlangen, scheiterte damit aber am Einspruch der Reichsstände.¹⁴ Nach 1700 verloren die Wiener Reichsbehörden zwar im Gegensatz zur Zentralverwaltung des habsburgischen Territorialkomplexes zunehmend an Bedeutung und sie wurden vermehrt von Angehörigen des österreichischen Hochadels dominiert, doch das tat ihrer Anziehungskraft als Sprungbrett für Karrieren im kaiserlichen Dienst und ihrer Reputation bei kleineren, mindermächtigen
Oswald Gschließer: Das Beamtentum der hohen Reichsbehörden (Reichshofkanzlei, Reichskammergericht, Reichshofrat, Hofkriegsrat), in: Günther Franz (Hrsg.), Beamtentum und Pfarrerstand. Limburg 1972, S. 1– 26, hier 4, 11. Gschließer, Beamtentum, S. 15; Eva Ortlieb: Der Reichshofrat, in: Michael Hochedlinger/Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (MIÖG Erg.-Bd. 62). Wien 2019, S. 311– 319, hier 315; Duindam, Vienna and Versailles, S. 81. Martin Scheutz: Goldener Apfel, höfische Residenz und eine der Hauptstädte des Heiligen Römischen Reiches – die Metropole Wien der Frühen Neuzeit, in: Stephan Sander-Faes/Clemens Zimmermann (Hrsg.), Weltstädte, Metropolen, Megastädte – Dynamiken von Stadt und Raum von der Antike bis in die Gegenwart (Stadt in der Geschichte 43). Ostfildern 2018, S. 111– 144, hier 130 f. Gschließer, Beamtentum, S. 4. Ebd., S. 7. Ebd., S. 31.
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Reichsständen und manchen Untertanen keinen Abbruch. Wenn sich Wien auch immer weniger als Hauptstadt des Reiches begriff, wurde die Stadt gerade in manchen Teilen des Reiches, besonders im Süden und Südwesten, als solche gesehen.¹⁵ Deshalb kam es nicht von ungefähr, dass unter Joseph I. und Karl VI. der Reichshofrat als gemeinsam mit dem Reichskammergericht in Speyer oberstem Reichsgericht eine Aufwertung erfuhr und es zu einer besonderen Betonung der Oberhoheit sowie der Schutzfunktion des Kaisers gegenüber den kleineren, schwächeren Reichsgliedern kam.¹⁶ Einer über den habsburgischen Territorialkomplex hinausweisenden Funktion kam auch dem Hofkriegsrat zu. Diese im Jahr 1556 eingerichtete Behörde diente als eine Art Kriegsministerium und Generalstab. Über den habsburgischen Territorialkomplex hinaus war er de facto, neben der nicht sehr schlagkräftigen Kreisdefension, für den militärischen Schutz des Reiches zuständig. Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts gab es sogar temporär einen eigenen Reichskriegsrat mit zwei Direktoren und zwölf Kriegsräten.¹⁷ Auch das Personal dieser Zentralbehörde wuchs beständig. Im Jahr 1556, bei seiner Gründung, waren es ein Präsident, vier Hofkriegsräte, einige Schreiber und Boten, 1617 bereits 27, 1672 dann 32 und 1726 sogar 55 Personen. Im Jahr 1740, am Ende der Regierungszeit Karls VI., erbte Maria Theresia einen Stab von über 144 Personen.¹⁸ Es war daher kaum zufällig, dass noch in Zedlers Universal-Lexikon, dem Referenzwerk im deutschsprachigen Raum um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Wien eine überbordend ausführliche Darstellung gewidmet wurde, die alle anderen Städte, nicht nur die des Reiches, in den Schatten stellte.¹⁹ Überlappend und uneindeutig gestaltete sich aber nicht nur die funktionale Doppelstruktur der Behörden und Institutionen mit Bezug auf Reich und den habsburgischen Territorialkomplex, sondern auch mit Bezug auf Landesfürst und Stadt.²⁰ Auf diese Beziehung soll in der Folge näher eingegangen werden.
Karl Otmar von Aretin: Das Reich ohne Hauptstadt? Die Multizentralität der Hauptstadtfunktionen im Reich bis 1806, in: Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts 12). München/Wien 1983, S. 5 – 13, hier 9. Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 33). Wien 1942, S. 20. Gschließer, Beamtentum, S. 19 f. Oskar Regele: Der Österreichische Hofkriegsrat 1556 – 1848 (MÖSA Erg.-Bd. 1/1). Wien 1949, S. 42 f.; Michael Hochedlinger: Das Stehende Heer, in: ders./Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/2, S. 655 – 763, hier 669. Scheutz, Goldener Apfel, S. 111 f. Zu Zedler vgl. Gerd Quedenbaum: Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Zedler 1706 – 1751. Ein Buchunternehmer in den Zwängen seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Buchhandels im 18. Jahrhundert. Hildesheim u. a. 1977. Ebd., S. 132.
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Das Stadtrecht von 1526 und seine Folgen Wie zwar in der neueren Forschung hinlänglich belegt wurde, stellte das von Erzherzog Ferdinand im Jahr 1526 erlassene Stadtrecht keineswegs einen totalen Bruch mit der Vergangenheit dar, doch markierte es eine Wegscheide in deren Folge die landesfürstlichen Eingriffe in die städtische Verwaltung Wiens unzweifelhaft zunahmen. Bis zu den Reformen Maria Theresias in den späten 1740erJahren und zum Teil darüber hinaus folgten diese Eingriffe allerdings keinem „Masterplan“, sondern sie geschahen häufig anlassbezogen. Landesfürst und niederösterreichische Regierung beriefen sich dabei nicht in erster Linie auf das Stadtrecht, sondern auf die „gute Policey“. Die Oberaufsicht darüber hatte der vom Landesfürsten bestellte Stadtanwalt, dessen Agenden in der Frühen Neuzeit laufend erweitert wurden. Zur Gewerbe-, Sicherheits-, Armen-, Gesundheits-, Fremden- und Marktpolicey trat ab 1598 die Religionspolicey und 1656 die Überwachung der städtischen Finanzen.²¹ Neben dem Stadtanwalt kam dem Vizedom einige Bedeutung zu. Er war ein der Hofkammer, als der obersten Finanzbehörde, nachgeordneter landesfürstlicher Beamter, der die finanziellen Interessen des Herrschers zu wahren hatte. Dies tat er indem er die ihm unterstellten Teile des Kammergutes verwaltete und als Kasse für die Einnahmen und Ausgaben des Erzherzogtums unter der Enns nutzte. Das Vizedomamt hatte weiters die Urbarsteuer der zum Kammergut gehörigen Untertanen einzuheben. Zudem sollte der Vizedom auf die genaue Führung der Grundbücher achten und dafür sorgen, dass Personen in den Grundherrschaften, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten, an das Stadtgericht übergeben wurden.²² Im Lauf des 17. Jahrhunderts nahmen die Einflussnahmen des Hofes auf die Stadtregierung in dem Maß zu, in dem Wien zur dauerhaften Haupt- und Residenzstadt des habsburgischen Länderkonglomerates wurde und Kaiser und Hofstaat sich den überwiegenden Teil ihrer Regierungszeit in der Stadt aufhielten. Nun verfestigte sich das Interesse an Eingriffen in die städtische Administration allein wenn es darum ging, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, Aufruhr und Tumult zu verhindern, die städtischen Finanzen in Ordnung zu bringen und zu halten, Investitionen in die städtische Infrastruktur zu tätigen und
Josef Pauser: Verfassung und Verwaltung der Stadt Wien, in: Karl Vocelka/Anita Traninger (Hrsg.), Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert) (Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 2). Wien/Köln/Weimar 2003, S. 47– 90, hier 51, 56. Otto Brunner: Das Archiv der Niederösterreichischen Kammer und des Vizedoms in Österreich unter der Enns und seine Bedeutung für die Landesgeschichte, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, NF 29 (1944– 1948), S. 144– 166, hier 149 f.
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nicht zuletzt die Seuchenabwehr zu verbessern. Eine Häufung derartiger Eingriffe ist jedenfalls seit den letzten Regierungsjahren Leopolds I. augenscheinlich. Was die Versorgung anlangt wurde beispielsweise im Jahr 1703 eine „Wohlfeilheitskommission“ eingerichtet, die sich aus Räten der niederösterreichischen Regierung und Mitgliedern des inneren Rates der Stadt zusammensetzte. Sie tagte einmal wöchentlich und suchte Preissteigerungen auf den städtischen Märkten zu unterbinden oder jedenfalls einzuschränken.²³ Um die städtischen Finanzen in Ordnung zu bringen wurde im Jahr 1727 von einer eigens zur Untersuchung des Wirtschaftswesens der Stadt eingesetzten Hofkommission die Gründung einer „städtischen Wirtschaftskommission“ angeregt, die jedoch erst 1737 tatsächlich eingerichtet wurde und erst 1748 im Zug der Haugwitzschen Reformen ihre volle Wirkung entfaltete.²⁴ Ganz im Sinn der älteren Historiographie, die die Bürgerstadt des Spätmittelalters verherrlichte, wurden die Eingriffe von Landesfürst und Regierung auf die städtische Verwaltung als „Überhandnehmen der staatlichen Bevormundung“ bezeichnet.²⁵ Aber auch wenn sich die Machtverhältnisse seit Kaiser Ferdinand I. und Kaiser Ferdinand II. entscheidend zu Gunsten des Landesfürsten und Stadtherrn geändert hatten, blieb das Verhältnis zwischen Hof und Stadtregiment doch durch gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnet. Die Zeiten, in denen die Stadt von Weinproduktion und -export und vom privilegierten Zwischenhandel lebte, waren spätestens im Dreißigjährigen Krieg vorbei, auch wenn der Zwischenhandel mit seiner neuen Ausrichtung nach Südosteuropa ab den 1690erJahren allmählich seine Bedeutung für die städtische Ökonomie wieder zurück erlangte.²⁶ Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestimmte aber eindeutig die Nachfrage des Hofes die wirtschaftliche Prosperität der städtischen Bevölkerung. Nach einer Schätzung für die 1670er-Jahre übertraf die durch den Hofstaat entstandene Nachfrage nach lokal produzierten Gütern und nach Dienstleistungen die Lohnsumme der nichthöfischen Erwerbsbevölkerung recht deutlich.²⁷ Im
Karl Fajkmajer: Verfassung und Verwaltung der Stadt Wien (1526 – 1740), in: Alterthumsverein zu Wien (Hrsg.), Geschichte der Stadt Wien, Bd. 5. Wien 1914, S. 110 – 159, hier 114. Fajkmajer: Verfassung und Verwaltung, S. 115; R[udolf] Till: Die Stadt Wiener Wirtschaftskommission, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 2 (1940), S. 78 – 97, hier 80 – 83. Mit Bezug auf die Regierungszeit Karl VI. und Maria Theresias Franz Baltzarek: Das Steueramt der Stadt Wien 1526 – 1760 (Dissertationen der Universität Wien 58). Wien 1971, S. 9 – 15. Erich Landsteiner: Wien – eine Weinbaustadt?, in: Vocelka/Traninger (Hrsg.), Die frühneuzeitliche Residenz, S. 141– 146, hier 146; Erich Landsteiner: Handelskonjunkturen, in: ebd., S. 201– 205, hier 204 f. Andreas Weigl: Die Bedeutung des Wiener Hofes für die städtische Ökonomie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Susanne Claudine Pils/Jan Paul Niederkorn (Hrsg.), Ein zweige-
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ersten Drittel des 18. Jahrhunderts verhielt es sich kaum anders. Im Jahr 1716 entfielen von einer Stichprobe 14 % aller Sterbefälle in Stadt und Vorstädten auf Angehörige des Hofes, hohe Beamte und Geistliche, Offiziere und Künstler, also in etwa jene Bevölkerungsgruppe, die dem Hof zuzuordnen ist. Zieht man nun zusätzlich noch das primär für den Hof arbeitende Luxushandwerk und die zahlreichen häuslichen Bediensteten des hohen Adels, der Hofämter bekleidete, in Betracht, wird das Gewicht des Hofes für die Einwohnerschaft und die städtische Ökonomie auch in den Regierungsjahren Kaiser Karls VI. gut fassbar.²⁸ Der Hof wiederum war hochgradig von der Kreditwürdigkeit der niederösterreichischen Stände²⁹, insbesondere auch von jenen des halben Vierten Standes, nämlich Wien, abhängig. Mit der Gründung der Wiener Stadtbank erhielt dieses Verhältnis eine dauerhafte Institutionalisierung.³⁰
Medizinische „Polizey“ Von besonderer Wichtigkeit waren Landesfürst und Regierung die medizinische „Polizey“, gefährdete doch ein Seuchenausbruch nicht nur die bürgerliche, sondern die gesamte städtische Bevölkerung, nicht zuletzt auch das Leben der Angehörigen des Hofes und des Hofstaates. Wie sich anhand der Zeitreihe der Sterbefälle in Wien im Zeitraum 1700 – 1740 zeigen lässt, war auch noch die Regierungszeit Kaiser Karls VI. durch erhebliche jährliche Schwankungen der Sterbezahlen gekennzeichnet, was auf die Häufigkeit von kleineren oder größeren Epidemien hindeutet. Deren schlimmste war ohne Zweifel der Ausbruch der Pest im Jahr 1713. Diese wurde von Ungarn aus nach Wien eingeschleppt.³¹
teilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 44). Innsbruck/Wien/Bozen 2005, S. 55 – 79, hier 69. Peter Trawnicek: Wien 1716. Die Stadt im Spiegel ihrer Totenbeschauprotokolle, in: Wiener Geschichtsblätter 58 (2003), S. 104– 129, hier 121 f.; eigene Berechnungen. William D. Godsey: The Sinews of Habsburg Power. Lower Austria in a Fiscal Military State 1650 – 1820. Oxford 2018, S. 107– 150. John P. Spielman: The City & The Crown. Vienna and the Imperial Court 1600 – 1740. West Lafayette (Indiana) 1993, S. 44 f.; Rudolf Fuchs: Die Wiener Stadtbank. Ein Beitrag zur österreichischen Finanzgeschichte des 18. Jahrhunderts (Beiträge zur Neueren Geschichte Österreichs 8). Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 48 – 91. Zum Verlauf dieser Pestepidemie vgl. Gustav Gugitz: Die Wiener Pestepidemie von 1713 und ihr Ausmaß. Ein statistischer Versuch einer Richtigstellung, in: Wiener Geschichtsblätter 14 (1959), S. 87– 91; Christian Gepp: „Wien ohne W.“. Die Pest von 1713, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 12 (2013), S. 149 – 166; Christian Gepp: Wien im Pestjahr 1713, in: Wiener Geschichtsblätter 70 (2015), S. 129 – 162.
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Abb. 1: Quelle: Pfarre St. Stephan, Sterbematriken: Tom. 17a-c; Stephan Sedlaczek, Wilhelm Löwy: Wien. Statistischer Bericht über die wichtigsten demographischen Verhältnisse, in: K.k. Statistische Zentralkommission (Hrsg.), Oesterreichisches Städtebuch Bd. 4. Wien 1887, Kapitel Wien, S. 16 f.
Maßnahmen zur Seuchenprävention und -bekämpfung waren bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts verstärkt worden. Anlassbezogen wurde angesichts der Pestwelle von 1654/56 „zu erhaltung eines Magistri sanitatis etlicher Wund Aerzt / vnd bestreittung anderer Vnkosten / ein ergäbiger verlag“ ausgeschrieben, den jeder nach seinem Vermögen, einschließlich der nichtbürgerlichen Einwohner, zu entrichten hatte.³² Schon damals vertrat der Landesfürst also das Prinzip, dass bei der Seuchenabwehr ständische Privilegien praktisch außer Kraft zu setzen sind. Mit der Überwachung der in einschlägigen Infektionsordnungen festgehaltenen Maßnahmen war ursprünglich die Stadtguardia im Auftrag der niederösterreichischen Regierung betraut.³³ Doch es spielten auch andere Obrigkeiten
WStLA, Patente, A1/1: 495. Susanne Claudine Pils: Stadt, Pest und Obrigkeit, in: Weigl (Hrsg.), Wien im Dreißigjährigen Krieg, S. 353 – 378, hier 378; Hilde Schmölzer: Die Pest in Wien. „Deß wütenden Todts Ein umbständig Beschreibung“. Berlin 1988, S. 112– 120.
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eine Rolle. Den von der Stadt bestellten Aufsehern an den Stadttoren oblag es, ankommende Personen zu kontrollieren. Diese mussten in Seuchenzeiten belegen, dass sie aus keinem infizierten Ort kamen. Wenn sie das nicht belegen konnten, mussten sie eine 40-tägige Contumaciam außerhalb der österreichischen Grenze abwarten. Im Fall von Widerstand sollten die Aufseher die Stadtguardisten zu Hilfe rufen.³⁴ Auch der 1646 eingerichteten Rumorwache³⁵ wurden Aufgaben zugewiesen, die mit der Seuchenprävention in Verbindung standen, ja man kann sie als eine Art rudimentäre Sicherheits-, Sitten- und Gesundheitspolizei bezeichnen. Besonders gehörte es zu den Pflichten der Rumorwache, Personen die zu Zeiten der „Contagion“ aus infizierten Häusern aus der Stadt „abgeschafft“ worden waren, den Zutritt zur ummauerten Stadt innerhalb eines Zeitraums von vierzig Tagen zu verwehren. All diese Aktivitäten hatten unabhängig von der Jurisdiktion, der die betroffenen Personen unterstanden, durchgeführt zu werden.³⁶ Ab den späten 1640er Jahren sind auch städtische Infektionskommissäre und anderes „Infektionspersonal“ nachweisbar.³⁷ Ihre Aufgabe war es, fremde Reisende in Bezug auf Erkrankungen zu kontrollieren. Das war keine ungefährliche Aufgabe. Im Jahr 1677 hatten sich die Reihen der Commissarien in denen Infections Zeiten durch Todesfälle oder die Bekleidung anderer Ämter bereits derartig gelichtet, dass die niederösterreichische Regierung die Räte der Stadt, die in Infektionszeiten die Oberaufsicht hatten, aufforderte, entsprechende Nachbesetzungen vorzunehmen.³⁸ Effektive Seuchenbekämpfung bedeutete auch Prävention und Vorwarnung. Ein Gebiet, auf dem Landesfürst und Regierung besonders massiv und eindringlich intervenierten, war daher die städtische Totenbeschau. Das Gesundheitswesen unterstand ohnehin traditionell nicht allein den städtischen Behörden, sondern gemeinsam der Universität, der niederösterreichischen Regierung und „denen von Wien“. Sie teilten sich diverse Aufgaben, wobei die Seuchenbekämpfung im Vordergrund stand. Seit 1540 wurde zu diesem Zweck ein von der Universität bestellter und von der niederösterreichischen Regierung besoldeter Magister sanitatis, ein Epidemiearzt, berufen. Bis 1622 wurde die Stelle allerdings nur in tempore pestis besetzt. Diese lebensgefährliche Aufgabe übernahmen
WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 13/1666. Engelbert Steinwender: Von der Stadtguardia zur Sicherheitswache.Wiener Polizeiwachen und ihre Zeit, Bd. 1. Graz 1992, S. 48 – 51. Alois Veltzé: Die Wiener Stadtguardia (1531– 1741), in: Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien 36/37 (1902), S. 1– 213, hier 133 f. WStLA, Totenbeschreibamt, B1: 1, fol. 85r (Infektionssperrer); 2, fol. 28r (Infektionsaufseher); 3, fol. 21v (Infektionstrager); 3, fol. 104v (Infektionsknecht). WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 26/1677.
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freilich meist wenig qualifizierte Jungärzte, die beim Volk nicht den besten Ruf genossen.³⁹ Aber selbst die Warnungen des Dekan der medizinischen Fakultät Paul de Sorbait (1624– 1691) wurden im Vorfeld der schweren Pestepidemie von 1679 von Kollegen der Universität, niederösterreichischer Regierung und städtischer Obrigkeit in den Wind geschlagen.⁴⁰ Als die Seuche im Sommer 1679 vollends ausbrach, sah sich Kaiser Leopold I. daraufhin gezwungen mit seinem Hofstaat auf verschlungenen Wegen nach Prag zu flüchten.⁴¹ Das sollte sich nicht wiederholen und tatsächlich blieb Kaiser Karl VI. im Jahr 1713 nach einem neuerlichen Pestausbruch in der Nähe Wiens, in Klosterneuburg. Karl signalisierte damit wohl „Mitleiden“ und „Krisenmanagement“. Der Zutritt zum Hof blieb freilich während des Seuchenausbruchs streng kontrolliert.⁴² Wohl in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war das Wiener Totenbeschreibamt als städtische Behörde eingerichtet worden, da die erhalten gebliebenen Totenbeschauprotokolle mit Band 34 im Jahr 1648 einsetzen, was auf die Existenz entsprechender Vorgängerbände schließen lässt.⁴³ Während die Totenbeschau zunächst nicht für alle Grundherrschaften in der Vorstadtzone Geltung hatte⁴⁴, wurde sie im Jahr 1705 auf alle Vorstädte und Dörfer innerhalb des Linienwalls ausgedehnt.⁴⁵ Bis 1705 bzw. 1706 scheinen daher in den Totenbeschauprotokollen keine oder nur vereinzelte Todesfälle der alten grundherrlichen Dörfer Gumpendorf, Hundsturm, Reinprechtsdorf, Matzleinsdorf, Nikolsdorf, Margareten und Erdberg auf. Ebenso sind die adeligen Landgüter Konradswörth, Mühlfeld und Thury nicht erfasst.⁴⁶ Das Totenbeschreibamt war verpflichtet, dem Bürgermeister täglich die Totenzettel vorzulegen, die dieser mit einem Bericht an Ermar Junker: Vom Pestarzt zum Landessanitätsdirektor. 450 Jahre öffentlicher Gesundheitsdienst in Wien. Wien 1998; Johann Werfring: Europäische Pestlazarette und deren Personal. Mit besonderer Berücksichtigung der Wiener Verhältnisse. Diss. phil. Wien 1999, S. 264– 269. Hans Wilderotter: „Alle dachten, das Ende der Welt sei gekommen“. Vierhundert Jahre Pest in Europa, in: ders. (Hrsg.), Das große Sterben. Seuchen machen Geschichte. Dresden 1995, S. 12– 53, hier 46. Michael Pölzl: In höchster Not – Der Hof in Krisenzeiten, in: Irene Kubiska-Scharl/ders. (Hrsg.), Das Ringen um Reformen. Der Wiener Hof und sein Personal im Wandel (1766–1792) (MÖStA 60). Wien 2018, S. 227– 299, hier 231 f., 239 – 248. Gugitz, Wiener Pestepidemie, 87– 91. WStLA, Totenbeschreibmamt, B1: Bd. 1. Roman Uhl: Die Totenprotokolle der Stadt Wien, in: Die Sippe. Blätter für südostdeutsche Sippenforschung 1 (1938), S. 53 – 56, hier 54 f. Ferdinand Opll: Der Wiener Burgfried. Studien zum Kompetenzbereich des Magistrats vor und nach der Türkenbelagerung von 1683 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 15). Wien 1984, S. 27. Andreas Weigl: Die Wiener Totenbeschauprotokolle als Quelle zur Sozialgeschichte der Medizin, in: Pro Civitate Austriae NF 2 (1997), S. 23 – 33, hier 25.
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das Collegium sanitatis der niederösterreichischen Regierung weiterzuleiten hatte. Offensichtlich kam dieser seiner Aufgabe nur unvollständig nach, denn die Regierung musste immer wieder Berichte urgieren. Im Jahr 1707 wurde der Ablauf daher dahingehend geregelt, dass der Totenbeschauer als Unterrichter des Stadtgerichts die Scheine in das Totenbeschreibamt zu bringen hatte, wo sie in das Totenbeschauprotokoll und in die Totenzettel eingetragen wurden. Den Angehörigen der Verstorbenen wurde ein verschlossener Begräbniszettel ausgehändigt. Da der Unterrichter immer wieder bei der Totenbeschau unrechtmäßig Taxen einforderte, wurde er 1712 der gemeinsamen Kontrolle des Bürgermeisters und des jeweiligen Grundrichters der betreffenden Vorstadt unterworfen, wenn diese nicht ohnehin der städtischen Jurisdiktion unterstellt war.⁴⁷ Zwar nicht de iure, aber de facto verschränkten sich auch die Zuständigkeiten die Funktion des Magister sanitatis betreffend. Die Finanzierung des Sanitätswesens über den von der Regierung und den Landständen unzulänglich dotierten Sanitätsfonds führte dazu, dass die Stadt die finanzielle Hauptlast zu tragen hatte. So wurde der Magister sanitatis oft monatelang von der Regierung nicht bezahlt.⁴⁸ Zumeist musste die Stadt einspringen. Auch die Unterhaltskosten für die Rumorwache trug manchmal zur Gänze, manchmal teilweise neben dem kaiserlichen Vizedomamt die Stadt Wien.⁴⁹
Kompetenzstreitigkeiten I: Sicherheit und Seuchenprävention Kompetenzstreitigkeiten ergaben sich einerseits daraus, dass die Polizeigewalt zwischen Magistrat und Regierung nicht klar abgegrenzt war, andererseits aus der Anwesenheit privilegierter Bevölkerungsgruppen wie dem Hof, dem ständischen Adel und den Universitätsangehörigen.⁵⁰ Zudem walteten auf den nichtstädtischen Grundherrschaften Grundrichter ihres Amtes. Dieser Kompetenzdschungel stellte nachvollziehbar ein besonderes Problem für die effiziente Seuchen- und Kriminalitätsbekämpfung dar. Im Jahr 1696 ergriff die Regierung die Initiative und es wurde eine Beschreibung der Häuser der Stadtguardiasoldaten und der adeligen und kirchlichen Freihäuser durch das Landmarschallamt durchgeführt, weil
Fajkmajer, Verfassung und Verwaltung, S. 127. Leopold Senefelder: Öffentliche Gesundheitspflege und Heilkunde, in: Alterthumsverein zu Wien (Hrsg.), Geschichte der Stadt Wien. Bd. 6, Wien 1918, S. 206 – 290, hier 259. Steinwender, Stadtguardia, S. 53. Fajkmajer, Verfassung und Verwaltung, S. 132; Pauser, Verfassung und Verwaltung, S. 62 f.
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dazu die Stadt keine Jurisdiktion besaß. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden eigene Viertel- und Gassenkommissäre bestellt, die auch in geistlichen Häusern visitieren durften und einer Sicherheitskommission unterstanden. Ab 1701 mussten Grundrichter zudem „Malefikanten“ sofort dem Stadtgericht übergeben.⁵¹ Verbesserter Sicherheit auf den Straßen und Gassen diente im Übrigen auch die vom niederösterreichischen Statthalter Johann Quentin von Jörger (1624– 1705)⁵² veranlasste Einführung der Straßenbeleuchtung im Jahr 1687. Jörger gelang es, die Krone, die niederösterreichische Regierung und den Stadtrat von der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme, die über eine einmalige Haussteuer und einen Illuminationsaufschlag finanziert wurde, zu überzeugen. Für diese Entscheidung spielte auch durchaus die Reputation einer kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt eine Rolle.⁵³ Die von der Regierung durchaus intendierte Konzentration der Totenbeschau als Mittel der Seuchenprävention in den Händen der Stadt stieß freilich bei manchen Grundherren auf größeren Widerstand. Einen konkreten Anlass gab es im Jahr 1702, als bekannt wurde, dass Maria Katharina Gräfin Strozzi im Garten ihres gerade neu errichteten Palais den Sohn ihres Gärtners, ohne vorher die Totenbeschauer verständigt zu haben, bestatten ließ. Den Beschauer nicht zu rufen oder gar die Beschau zu verweigern kam, wie aus anderen Quellen hervorgeht, durchaus immer wieder vor. In der Instruktion für den Totenbeschauer aus dem Jahr 1705 wurde daher ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wenn jemand die Totenbeschau zu verwehren versuchte, dieser an den Bürgermeister oder einen seiner Stellvertreter verwiesen werden müsse.⁵⁴ Dass die Beschau für die Hinterbliebenen kostenpflichtig war, war wohl ein Grund mehr, dieser Pflicht entgehen zu wollen. Weiter kompliziert wurde die Lage durch Kompetenzstreitigkeiten der Behörden. Im Fall der Gräfin Strozzi beanspruchten sowohl die Stadt Wien als auch das Vizedomamt das Recht auf die Totenbeschau. Das Strozzipalais befand sich in der damaligen Vorstadt Lerchenfeld, der Garten reichte bis zur heutigen Piaristengasse und lag in einem bis dahin noch wenig bebauten Gebiet. Erst die Ansiedlung des Palais bewirkte eine verstärkte Bautätigkeit und die Be-
Fajkmajer, Verfassung und Verwaltung, S. 134, 149. Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche seit 1750 in den österreichischen Kronländern geboren wurden oder darin gelebt und gewirkt haben. T. 10, Wien 1863, S. 231 f.; Albert Starzer: Beiträge zur Geschichte der Niederösterreichischen Statthalterei. Die Landeschefs und Räte dieser Behörde von 1501– 1896. Wien 1897, S. 268 – 290. Spielman, City, S. 42 f. WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 3/1705.
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gründung des späteren Strozzigrundes.⁵⁵ Die Totenbeschau wurde schließlich trotz Widerspruchs des Vertreters der Niederösterreichischen Regierung dem Wiener Totenbeschreibamt zugestanden, und dies nicht als einmalige Ausnahme, sondern auch als zukünftige Regelung.⁵⁶ Eine Eintragung in das Totenbeschauprotokoll der Stadt Wien vom 14. Mai 1697 zeigt zwar, dass bereits vor 1700 die städtische Totenbeschau in Lerchenfeld durchgeführt wurde, jedoch wohl nur in einzelnen Fällen.⁵⁷ In der oben erwähnten städtischen Instruktion vom 11. Mai 1705 wurde der Zuständigkeitsbereich für die Totenbeschau festgehalten. Die Kompetenz der Wiener Totenbeschauer wurde darin auf sämtliche Vorstädte innerhalb der Linien ausgedehnt, namentlich werden St. Ulrich, Neustift, Neubau, Josefstadt, Spittelberg, Windmühle, Im Schöff sowie die „mit den Circumvalations-Linien eingezogenen Dorfschaften“ Matzleinsdorf, Nikolsdorf, Margareten, Hundsturm, Magdalenengrund, Gumpendorf, Lerchenfeld, Thury, Lichtental und Erdberg genannt. Doch auch trotz dieser nun festgeschriebenen Kompetenzbereiche blieben Konflikte bei der Durchführung der Totenbeschau nicht aus – nicht unbedingt nur von Seiten des Vizedomamtes, vielmehr fühlten sich auch manche Grundherren nicht in die Pflicht genommen. Dies belegen jene Quellen, die die tatsächliche Praxis der Totenbeschau widerspiegeln, nämlich die Totenbeschauprotokolle. Sie geben Hinweise darauf, dass dieses Recht zumindest nicht flächendeckend sofort umgesetzt wurde. So widersetzte sich Graf Liechtenstein, der Grundherr von Lichtental, offenbar temporär der gegenständlichen Instruktion, denn erst ab 1707 wurde die städtische Totenbeschau auch in dieser Vorstadt ausgeübt.⁵⁸ Der Linienwall, die Circumvalations-Linien, wurde 1704 unter Kaiser Leopold I. aus Verteidigungsgründen errichtet. Zunächst ein Erdwall, der noch im selben Jahr fertiggestellt war, wurde in den folgenden drei Jahrzehnten eine Mauerbefestigung aus Ziegeln aufgebaut. Der Linienwall reichte von St. Marx bis Lichtental und umfasste auch wenig besiedelte Flächen rund um die Stadt. Es entstand damit eine neue „Grenze“, nicht nur durch den Wall selbst, sondern Robert Messner: Die Josefstadt im Vormärz. Historisch-Topographische Darstellung der westlichen Vorstädte (nördliche Hälfte) und westlichen Vororte Wiens auf Grund der Katastralvermessung (Topographie von Alt-Wien 3). Wien 1973, S. 131 f., zusammengefasst in Bundesdenkmalamt (Hrsg.), Dehio-Handbuch. Die Kunstdenkmäler Österreichs. Wien. II. bis IX. und XX. Bezirk. Wien 1993, S. 339 f. WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 15/1702. So etwa die erste bekannte Eintragung aus Lerchenfeld im Jahr 1697 nach dem Tod des Joseph Reng, Sohn des Goldarbeiters Leopold Reng „auf dem Lerchenfeldt“. WStLA, Totenbeschreibamt, B1: 18, fol. 369r zum 14. Mai 1697. Vgl. auch Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien. Wien 1992– 2004, Bd. 4, S. 42, hier jedoch fälschlich als Sterbeeintrag des Leopold Reng vermerkt. Uhl, Totenprotokolle, S. 54.
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auch durch begleitende Maßnahmen, wie etwa der Verlegung der bisherigen Mautstellen Am Tabor, bei St. Marx, bei den Paulanern, auf der Laimgrube und in der Rossau⁵⁹ an die äußere Linie. Auf dieses neu umfasste Gebiet suchte die Stadt ihre Jurisdiktion vollständig auszudehnen und zu behaupten. Die Instruktion für den Totenbeschauer von 1705 kann als ein erstes Anzeichen dafür gesehen werden, dass die Stadt Wien bestrebt war, dieses neu geschaffene Gebiet innerhalb des Linienwalls administrativ vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn ganz sicher war man sich der erweiterten Bereiche wohl noch nicht: Festgehalten wurde in der Instruktion jedenfalls auch, dass die Totenbeschauer möglichst schnell vor Ort sein sollten. Wenn die Vorstädte weit entfernt und der Weg zeitaufwendig oder das Wetter für einen Fußmarsch zu schlecht war, sollten sie zum nächstgelegenen Rossausleiher gehen, um ein Pferd zu leihen, damit die Beschau garantiert und möglichst rasch erfolgen konnte – in diesem beschleunigten Anmarsch kann man wohl durchaus ebenso das Bemühen erkennen, anderen Beschauern zuvorzukommen. Warum der Totenbeschau eine relativ wichtige Rolle zukam und durchaus ein Grund für Auseinandersetzungen hinsichtlich der eigenen Territorien war, liegt zum großen Teil in der Frage der Seuchenbekämpfung, deren enorme Bedeutung allen Verwaltungsebenen durchaus bewusst war. Die finanziellen Einnahmen aus der Beschau mögen ein weiterer, wenn auch wohl etwas weniger wichtiger Grund gewesen sein. Die Einnahmen waren im Vergleich zu anderen Steuern oder Abgaben eher gering und beliefen sich auf maximal 15 Kreuzer pro Todesfall – die Beschau-Taxen waren in den 1702 „neu“ dazugekommenen Ortschaften sogar sozial gestaffelt, mit 15 Kreuzern für vermögende, 7 für mittelmäßig betuchte und kostenfrei für mittellose Bewohner.⁶⁰
Kompetenzstreitigkeiten II: Wirtschaftliche und verwaltungstechnische Fragen Neben der Totenbeschau gab es auch im wirtschaftlichen Bereich immer wieder Jurisdiktionsstreitigkeiten. Bei Marktangelegenheiten kam es zu strittigen Verfahren zwischen der Stadt und dem Vizedomamt. So erwirkte im Jahr 1739 etwa
Ferdinand Opll: Alte Grenzen im Wiener Raum (Kommentare zum Historischen Atlas von Wien 4). Wien u. a. 1986, S. 84– 86. Zum Linienwall auch Ingrid Mader/Ingeborg Gaisbauer/Werner Chmelar: Der Wiener Linienwall. Vom Schutzbau zur Steuergrenze (Wien Archäologisch 9). Wien 2012. WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 3/1705
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der Kammerprokurator als Vertreter des Vizedomamts gegen die Interessen der Stadt die Verlegung des Spargelmarktes in Wien.⁶¹ Die Anlässe, die Vertreter der Stadt bewogen gegen aus ihrer Sicht unrechtmäßiges Eingreifen der Regierung – sei es, wie zumeist, durch das Vizedomamt, sei es durch andere Bevollmächtigte – aufzutreten, waren von durchaus unterschiedlicher Relevanz und Tragweite. So berief sich die Stadt in einer anderen strittigen Auseinandersetzung auf das Einhalten des Jurisdiktionsbereiches als 1695 ein kaiserlicher Schiffamtsleutnant in der Leopoldstadt seine Kompetenzen der Gerichtsbarkeit überschritt.⁶² Auch wenn die strittige Frage der Jurisdiktionsbereiche erst kurz nach diesem Vorfall geklärt werden sollte – das 1698 von Kaiser Leopold I. erlassenen Burgfriedsdiplom hält eben jene Fragen der Gerichtsbarkeitskompetenzen fest – so lässt sich feststellen, dass ebensolche Auseinandersetzungen nicht mit der Festlegung des Burgfrieds zu Ende waren. Im Jahr 1703, noch vor Einrichtung des Linienwalls und kurz bevor Wien die Grundherrschaft Erdberg erwerben sollte, trat die Stadt Wien als Kläger gegen das Vizedomamt auf. Auch hier ging es um die Frage der Jurisdiktionsbereiche in den Gemeinden. Die Stadt vertrat die Interessen der Vorstadt Landstraße, das Vizedomamt agierte als Vertreter Erdbergs.⁶³ Während in diesem Fall Stadt und Vizedomamt um den Gerichtsbarkeitsbereich selbst stritten, waren im folgenden Konflikt zwischen Landstraße und Erdberg die beiden Gemeinden selbst die Protagonisten. Streitfall war die Grenzziehung zwischen den Ortschaften, die mit Holzzäunen entlang der Grundstücke angelegt worden war. Die rechtliche Vertretung übernahmen wiederum die Stadt für die Landstraße und das Vizedomamt für Erdberg.⁶⁴ Um eine Abgrenzung anderer Art handelte es sich bei einer umfangreicheren Auseinandersetzung über die Nutzung der Fischwasser bei Himberg und Lanzendorf. Die Stadt Wien trat hier als Grundherr auf und vertrat ihre Bestandsmüller gegen das Vizedomamt. Die Abgrenzung der Fischwassernutzung war bereits zuvor mehrmals festgelegt worden, dennoch zog sich der Streitfall über mehrere Jahre hin.⁶⁵
WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 21/1739. Bürgermeister und Rat der Stadt treten hier als Vertreter des Richters und des Beisitzers in der Leopoldstadt auf. WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 9/1695. Erwähnt wird hier lediglich, dass man sich mit den jeweiligen Jurisdiktionsbereichen befasste, der aktuelle Anlassfall wird an dieser Stelle nicht beschrieben, vgl. WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 7/1703. Die Grenzverlauf zwischen Erdberg und Landstraße wird hier festgehalten, vgl. WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 4/1703. WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 11/1748
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Auch bei vergleichsweise weniger bedeutenden Angelegenheiten kam es zwischen Stadt und Vizedomamt zu strittigen Fragen, wie etwa beim formalen Ablauf der Verlassenschaftsabhandlungen. Anlass war im Jahr 1710 ein Sterbefall in der Jägerzeile, einer Vorstadt auf dem Gebiet des heutigen 2. Bezirks, die dem Vizedomamt als Grundherr unterstand und dieses daher die Sperr-Relation und Inventur vorzunehmen hatte. Das Testament aber sollte der Stadt ausgehändigt werden, was in diesem Fall nach dem Ableben eines Peter Neubauer jedoch unterlassen wurde. Man einigte sich schließlich darauf, dass nicht nur in der aktuellen Angelegenheit, sondern auch zukünftig alle Testamente, ungeachtet der jeweils zuständigen Grundherrschaft, „denen von Wien“ für die weitere Verwaltung übergeben werden sollten. Im vorliegenden Fall war die Intervention offenbar erfolgreich – das Testament des Johann Peter Neubauer ist im Bestand der städtischen Jurisdiktion des Wiener Stadt- und Landesarchivs erhalten und zahlreiche weitere Testamente fremder Grundherrschaften ebenda bezeugen die Befolgung dieser Anordnung.⁶⁶ Zu beachten ist, dass es bei diesen Streitigkeiten keineswegs immer nur um reine Machtfragen oder Fragen der ständischen Ehre ging. So übte der Vizedom auch das Amt des Kammermeisters und Generaleinnehmers der Niederösterreichischen Kammer aus, er erhielt von zahlreichen Ämtern Einnahmen, die er unter anderem zur Besoldung der vielen Angehörigen der Niederösterreichischen Kammer und der Regierung verwenden sollte. Außerdem hatte er auch noch die Kasse für einige Hofämter inne.⁶⁷ Da das Vizedomamt Zahlungsverpflichtungen nachkommen sollte, die durch die Einnahmen keineswegs immer gedeckt waren⁶⁸, verwundert es nicht sehr, dass der Vizedom danach trachtete, möglichst alle Chancen zu nutzen, um Einkünfte in seine Kasse und nicht in jene der Stadt gelangen zu lassen. Ein Spiegelbild vormodernen Kompetenzdschungels waren die geschilderten Streitigkeiten zwischen den Behörden jedenfalls. So setzte sich die Stadt ebenso gegen unrechtmäßig eingehobene Abgaben innerhalb des Linienwalls zur Wehr. Der Vizedom hatte, namentlich von Hausbesitzern in der Favorita und in der Landstraße, über die ihm zustehende Einhebung der Urbarsteuer und der Robath
Zum Streitfall und der Festlegung, dass die Originaltestamente der Stadt Wien zu übergeben sind: WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 14/1710. Zum Testament des Johann Peter Neubauer vgl. ebenda Alte Ziviljustiz, A1: 1585/1710; weitere Testamente fremder Grundherrschaften generell in WStLA, Alte Ziviljustiz, A1 – Testamente. Brunner, Archiv der Niederösterreichischen Kammer, S. 150. Silvia Petrin: Die Auflösung des niederösterreichischen Vizedomamtes, in: Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 1 (1977), S. 24– 46, hier 27.
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hinaus auch der Stadt zustehende Abgaben selbst eingehoben.⁶⁹ Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Uneinigkeiten zwischen Stadt und Vizedomamt auch nach Erlass des Burgfriedsdiploms und der Einrichtung des Linienwalls nicht ausblieben.
Hauptstadt und vormoderner „Staat“ Es kann kein Zweifel bestehen, dass sich in der Regierungszeit Josephs I. und Karls VI. der Anspruch des Landesfürsten auf stärkerer Kontrolle städtischer Angelegenheiten, seien es die Finanzen der Stadt, die Versorgung der Bevölkerung oder die Seuchenabwehr, intensivierte. Zudem machte sich nun eine allmähliche Trennung von Hof- und Staatsverwaltung bemerkbar. Dies führte jedoch vorerst keineswegs zur Etablierung einer klar abgestuften Behördenorganisation, sondern zu Parallelstrukturen und einer neuen Unübersichtlichkeit.⁷⁰ Wie gezeigt wurde, blieb in der Praxis auch im Fall der Stadtverwaltung ein Kompetenzwirrwarr bestehen. Dieses wurde vor allem deshalb nicht völlig aufgelöst, weil die Finanznot der kriegführenden Herrscher zu vielen Kompromissen mit den intermediären Gewalten zwang. Im Fall des Totenbeschreibamtes wird jedoch deutlich, dass wenn es um Leben und Tod ging, allmählich das Funktionieren des „Apparates“ in den Vordergrund gerückt wurde. Insofern konnten den städtischen Behörden auch immer wieder Kompetenzen zugesprochen werden, wenn diese nach Ansicht der Herrscher für die administrative Abwicklung geeigneter erschienen. Insgesamt ist im Verhältnis von Landesfürst und Stadt der Zeitraum von ca. 1700 bis 1740 als Übergangsperiode aufzufassen. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad selbst für die Reformperiode unter Maria Theresia. Erst die Magistratsreform Kaiser Josephs II. aus dem Jahr 1783 stellte einen entscheidenden Schritt zur völligen Beseitigung des Kompetenzdschungels dar. Der neu geschaffene Magistrat wurde Bestandteil eines straff hierarchisch organisierten staatlichen Behördenaufbaus, auf städtischer Ebene verlängerter Arm des Lan-
Der Niederösterreichische Kammerprokurator bestätigte zwar, dass die Abgaben widerrechtlich eingehoben worden waren, lehnte aber eine weitere Verfolgung der Angelegenheit ab.WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1: 15/1723. Bertrand Michael Buchmann: Hof – Regierung – Stadtverwaltung. Wien als Sitz der österreichischen Zentralverwaltung von den Anfängen bis zum Untergang der Monarchie.Wien/München 2002, S. 55 f.
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desfürsten. Für bürgerliche Mitsprache, in welch vermittelter Form auch immer, blieb kein Platz.⁷¹
Pauser, Verfassung und Verwaltung, S. 85 f.; Martin Scheutz: Der Bürgermeister in der österreichischen Stadt vom Spätmittelalter bis zur Josephinischen Magistratsreform: Konturen einer wichtigen städtischen Funktion, in: Pro civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich NF 16 (2011), S. 71– 103, hier 88.
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Karl VI. und „seine“ Spanier Anmerkungen zu Exil, Integration und Ausgrenzung im Wien des 18. Jahrhunderts Der folgende Beitrag basiert auf einer schon mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Beschäftigung mit dem Thema.¹ Erschien schon damals, unmittelbar nach den Jugoslawien-Kriegen, das Problem faszinierend, ob und in welcher Weise Phänomene der kriegsbedingten Emigration, der Isolation oder der Integration in einer sozial und sprachlich neuen Umwelt vergleichbar sein können, so haben die Ereignisse der letzten Jahre unser Sensorium für diese Fragestellungen noch intensiviert – etwa was die Entstehung von mehr oder weniger großen „Parallelwelten“ betrifft, deren Bewohner der übrigen Stadtbevölkerung „spanisch vorkommen“, um eine alte Redewendung zu zitieren, die allerdings schon lange vor der spanischen Immigration im Wien Karls VI. nachweisbar ist.² Was diese spanische Enklave in Wien, wenn sie denn eine war, im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts allerdings grundsätzlich von anderen Emigrantenkolonien der jüngeren Geschichte unterscheidet, ist, dass sie schon in den Augen der Zeitgenossen und noch mehr in der historiografischen Darstellung von einer politischen und sozialen Elite dominiert, ja mit dieser nahezu gleichgesetzt wurde. Diese „Oberschicht“ versuchte, die Privilegien ihrer ehemaligen Positionen unter den Bedingungen des Exils zu erhalten, was ihr zumindest für eine Zeit auch gelang – im Gegensatz etwa zu den Personen, die im Zuge der Französischen Revolution und der Koalitionskriege Frankreich verließen.³ Dabei erwies es sich für manche Emigranten im Wien des frühen 18. Jahrhunderts als günstig, dass die Periode spanischer Kaiserinnen, die mit zahlreichem Personal nach Wien gekommen waren, noch gar nicht weit zurücklag und
Elisabeth Garms-Cornides: „N’ayant pu avoir l’Espagne, il a des espagnols“ – die Spanier im Wien Karls VI. und Maria Theresias, in: Österreich und Spanien im 18. Jahrhundert. Tagung Österreichisches Historisches Institut Madrid–Universität Valladolid, Mai 1998 (nicht veröffentlicht). Duden – Zitate und Aussprüche: Herkunft, Bedeutung und aktueller Gebrauch. 4. Aufl. Berlin 2017, S. 511. Siehe auch Klaus Herbers: „Das kommt mir spanisch vor“. Zum Spanienbild von Reisenden aus Nürnberg und dem Reich an der Schwelle zur Neuzeit, in: ders./Nikolaus Jaspert (Hrsg.), „Das kommt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters. Münster 2004, S. 1−30, hier 1, Anm. 1. Vgl. zusammenfassend http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/politische-migration/ friedemann-pestel-franzoesische-revolutionsmigration-nach-1789 (24.05. 2019). https://doi.org/10.1515/9783110670561-009
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sich einige Spanier hier bleibend niedergelassen hatten.⁴ So geht etwa die spanische Sakramentsbruderschaft bei St. Michael auf die Landsleute der Infantin Maria Anna (1606 – 1646), Gemahlin Ferdinands III., zurück.⁵ An die Zeit der Kaiserin Margarita Teresa (1651– 1673) konnte dagegen das unter Karl VI. sehr präsente Familienagglomerat der Cardona und Eril fast nahtlos anknüpfen.⁶ Margarita Cardona y Eril war Obersthofmeisterin der Kaiserin Margarita Teresa gewesen. Die Witwe hatte einen Sohn und zwei Töchter an den Kaiserhof mitgebracht, von denen die jüngere, Catarina, einen der bedeutendsten kaiserlichen Militärs in den Kriegen in Ungarn, den General Antonio Carafa (1646 – 1693),
Eine D. Juana Brunete befand sich zum Beispiel bereits in dem Hofstaat, welcher der Infantin Margarita Teresa auf ihrer Reise nach Wien entgegengeschickt wurde: ÖStA, HHStA, OMeA, 27. Eine weitere „Brunettin, geweste Kammerdienerin“ erhält 1720 die beträchtliche Gnadengabe von 10 000 fl.: ÖStA, HHStA, HA, Sammelbände 85/10 (alt 325), S. 16. Ein Leopold Ferdinand (Fernandez?) Brunette begleitete 1703 Erzherzog Karl von Wien nach Spanien (ÖStA, AVA, Familienarchiv Harrach, Kt. 323, fol. 297v) und bringt es bis zum kaiserlichen Schatzmeister und Schlosshauptmann von Laxenburg. Sein Testament (1716) und das einer Maria Sibilla Fernandez Brunette (1699) in Wien, Stadt-und Landesarchiv, Testamente Nr. 2900 und 10358. Ebd. Nr. 10.007 das Testament des kaiserlichen Kammerdieners Johann Brunet(t)e von 1682. Möglicherweise ist auch die vielfach belegte Familie Bomall schon im Gefolge der Infantin Maria Anna nach Wien gekommen, da sie laut einem Mitglied bereits zu Ende des zweiten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts seit drei Generationen in Wien war: ÖStA, FHKA, Hofquartierprotokolle, HquP 96, fol. 1, 10v, 106. Ebd. 101, fol. 26v sind die Bomall als Hausbesitzer genannt. Zwei Söhne studieren ab 1737 als „perillustres Austriaci Viennenses“ an der Universität: Kurt Mühlberger (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Wien Bd. 7 (1715/16 – 1745/46).Wien 2011, S. 181. Sie sind Söhne des Franz Gottfried von Bomall, vgl. das Testament von dessen Gattin Anna Katharina, geb. von Wenighofer in: ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 634, 1734/5. Zu den Spaniern im Hofstaat der Maria Anna vgl. ÖStA, HHStA, OMeA, ÄZA Kt. 2 und 3. Zur Spanischen Bruderschaft bei St. Michael, deren Dokumentation leider weitgehend verloren ist, vgl. Wien, Archiv St. Michael, II. 18.1: Spanische Bruderschaft. Undatierte spanische Satzungen (1631), deutsche Satzungen von 1772 mit Erwähnung der Stiftung 1631, Verzeichnis von Messstiftungen. Den Mitgliederverzeichnissen von 1705, 1708, 1714 und 1715 (ebd.) ist zu entnehmen, dass zu diesem Zeitpunkt italienische Mitglieder gegenüber Spaniern und Deutschsprachigen überwogen. Unter letzteren befinden sich eine Reihe hofnaher Personen (Mollart, Strudel, Ghelen…). Den fortdauernden Zusammenhalt zwischen Spaniern und Italienern belegt zum Beispiel das Testament des Marchese Teodosio Antonio Vergara vom 7. Juli 1764 mit seiner Stiftung für italienisch- und spanischstämmige Waisenkinder (ebd. II.28.15). Dem erneuten Zustrom an Spaniern in den 1660- und 1670ger Jahren trug die Einrichtung einer Gruft der Spanischen Bruderschaft Rechnung (1673), vgl. Waldemar Posch: Die Michaelergruft in Wien. Wien 1981 und ders.: Die Sarginschriften der Michaelergruft zu Wien. Maschinenschrift. Wien 1983 (in Archiv St. Michael II.16.4). Zu dem fast dreihundert Personen umfassenden spanischen Hofstaat der Infantin vgl. ÖStA, HHStA, OMeA, Sonderreihe 184/86 und Ferdinand Oppl/Karl Rudolf: España y Austria. Madrid 1997, S. 141.
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heiratete.⁷ Ihr Bruder José, der zunächst als Page bei Hof gedient hatte, wurde kaiserlicher Kämmerer und hoher Militär, später zum Reichsgrafen, ja Reichsfürsten ernannt. In seinem im Jahr 1720 in Wien verfassten Testament führt er an, seit 52 Jahren kaiserliche Gnadenerweise erhalten zu haben.⁸ Nach Jahren als Vizekönig in Valencia sowie als Obersthofmeister der Elisabeth Christine in Barcelona war er dieser nach Wien gefolgt. Seine erste Frau Maria Manuela Pardo de la Casta brachte er als Hofdame der Kaiserinwitwe Amalia unter. 1718 heiratete er in zweiter Ehe mit schon 67 Jahren die siebzehnjährige Maria Antioga Silva y Alagon, deren Vater José Silva, Graf von Montesanto y Villasor (1679 – 1749), nach verschiedenen anderen hohen Posten schließlich Präsident des Spanischen Rats als Nachfolger von Antonio Folch de Cardona (1657– 1724) werden sollte. Letzterer, ein Franziskanermönch und ehemaliger Erzbischof von Valencia gehörte ebenfalls zur weiteren Familie, vermutlich in illegitimer Abstammung.⁹ Die Familie Silva, der José und sein älterer Bruder Fernando, Conde de Cifuentes (1663 – 1749/ 50, Vizekönig von Sardinien 1709 – 1710), entstammten, war verwandtschaftlich seit langem mit den Cardona verbunden, ebenso wie die Alagon, die Familie von Montesantos Frau Manuela, einer geborene Alagon y Benavides (1680 – 1765), die ihm den Titel eines Marques de Villasor einbrachte – war doch der Vater des Obersthofmeisters José Cardona y Eril in erster Ehe mit einer Alagon verheiratet gewesen.¹⁰
Zum (dritten) Ehemann der Margarita Teresa Eril vgl. Maria Salas Benedito: Don Alonso de Cardona y Borja. Da Virrey de Mallorca a Marqués de Castelnovo, in: Tiempos modernos 34 (2017), S. 55−89 (http://www.tiemposmodernos.org/tm3/index.php/tm/article/view/1561/689, 27.05. 2019). Alonso de Cardona starb 1659 und kann daher nicht, wie im Akt angegeben, der Schreiber eines Briefes vom 1. Mai 1665 sein, der ankündigt, die Infantin nach Wien begleiten zu dürfen (ÖStA, HHStA, HA, Familienakten 87/5), möglicherweise handelt es sich um den Duque de Albuquerque (Francisco IV Fernández de la Cueva y Enríquez de Cabrera), der Margarita Teresa tatsächlich eskortierte und dessen Gemahlin bis zum Eintreffen von Margarita Eril y Cardona auch als Obersthofmeisterin fungierte, vgl. ÖStA, HHStA, OMeA, ÄZA 7. ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 632, 1729/11. Antonio Folch de Cardona gilt als außerehelicher Sohn des Almirante von Aragon, Felipe de Cardona y Palafox, vgl. Maria Dolores García Gomez: El arzobispo de Valencia Folch de Cardona. Análisis de una biblioteca eclesiástica del siglo XVIII. Alicante 1996, S. 11. Vgl. auch Heinrich Benedikt: Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Wien/Leipzig 1927, S. 228−229. Carmen Pérez Aparicio/Amparo Felipo Orts: Un drama personal i collectiu. L’exili austriacista valencià, in: Pedralbes. Revista d’Història Moderna 17 (1991), S. 329 – 343. Carmen Pérez Aparicio: Una vida al servicio de la Casa de Austria. Don José Folc de Cardona y Erill, príncipe de Cardona (1651– 1729), in: Studis. Revista de historia moderna, 28 (2002), S. 421– 448 (http://roderic.uv.es/ bitstream/handle/10550/34351/421– 448.pdf?sequence=1&isAllowed=y, 18.05. 2019). Der Conde de Cifuentes, Fernando de Silva y Meneses, kehrte allerdings nach dem Friedensschluss mit Spanien dorthin zurück: Nicolás Avila Seoane: El señiorio de los Silva de Cifuentes en los consejos
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Das Familiennetzwerk Cardona, zu dem noch weitere nach Wien emigrierte Personen gehörten, besetzte also hohe und höchste Posten am Hof von Barcelona und Wien und nach dem Spanischen Erbfolgekrieg in der Verwaltung der neuen Territorien in Italien und den Niederlanden (José Cardona y Eril war unter anderem auch erster Präsident des Niederländischen Rates in Wien nach dessen 1717 erfolgter Ausgliederung aus dem Spanischen Rat). Durch ihre vielfachen verwandtschaftlichen Verbindungen untereinander und den starken Zusammenhalt ist diese Gruppe derjenigen des österreichisch-böhmischen Hofadels durchaus vergleichbar, worauf bereits Andreas Pečar hingewiesen hat.¹¹ Dies hat wohl ebenso wie die Favoritenstellung einiger Exponenten der „spanischen Partei“ deren schlechten Ruf begründet – einen schlechten Ruf, den schon literarisch begabte Zeitgenossen wie Montesquieu, Giannone oder Foscarini wirksam formuliert haben, während umgekehrt Lady Mary Wortley Montagu von ihrem Wienbesuch ein positives Bild der spanischen Emigranten mitnahm.¹² Und gleich wie die Konkurrenz, der einheimische Hochadel, blieb man unter sich: erst in der nächsten oder übernächsten Generation wird es zu Heiraten zwischen den Nachkommen spanischer Emigranten und dem erbländischen Adel kommen, während, wie das Beispiel Carafa und manch anderes zeigt, man sich den italienischen Standesgenossen nach eineinhalb Jahrhunderten spanischer Herrschaft sowohl in Nord- wie in Süditalien näher fühlte.¹³
de Atienta y Medinaceli (1431– 1779), in: Revista de Historia Moderna 24 (2006), S. 395 – 435, hier 430 (https://rua.ua.es/dspace/bitstream/10045/4723/1/RHM_24_11.pdf, 11.05. 2019) und starb hochbetagt 1749. Johann Joseph Khevenhüller: Aus der Zeit Maria Theresias. Tagebuch des Fürsten Johann Josef Khevenhüller-Metsch, Bd. 2: 1745 – 1749, hrsg. von Rudolf Graf Khevenhüller-Metsch und Hanns Schlitter. Wien/Leipzig 1910, S. 375 geben das Todesjahr mit 1750 an. Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711– 1740). Darmstadt 2003, S. 86−89. Charles Secondat baron de Montesquieu: Voyage de Gratz à la Haye, in: Oeuvres. Édition Pléiade, Bd. 1. Paris 1949, S. 550; Pietro Giannone: Vita scritta da lui medesimo, hrsg. von Sergio Bertelli. Mailand 1960, S. 102– 104; Marco Foscarini: Storia arcana, hrsg. von Tommaso Gar, in: Archivio storico italiano 5 (1843), S. 1– 208, bes. S. 47 ff.; Robert Halsband (Hrsg.), The Letters and Works of Lady Mary Wortley Montagu, Bd. 1. Oxford 1965, S. 295. Das Fehlen von Heiratsverbindungen bemerkt auch Pečar, Ökonomie, S. 86, geht aber nicht auf die spanisch-italienischen Ehen ein. Erst ab den dreißiger Jahren kommt es zu Ehen zwischen den Nachkommen der Emigranten und dem österreichisch-böhmischen Adel. Hypothetisch lässt sich dies sowohl mit einer erhöhten Integration in die Wiener Hofgesellschaft wie mit dem schwindenden politischen Gewicht der „spanischen Partei“ erklären, die nach Rückhalt zu suchen begann, vgl. auch das Nahverhältnis, das Rialp zum kaiserlichen Hoftheologen Agostino da Lugano herstellte: Elisabeth Garms-Cornides: Agostino da Lugano. Eine graue Eminenz am Hof Karls VI., in: Beruf(ung): Archivar. Festschrift für Lorenz Mikoletzky, in: MÖStA 55 (2011), S. 815– 831, hier 827. An spanisch-österreichischen Heiraten wären zu nennen: Francisco Folch de Cardona−Maria
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Veranschaulicht wird das bisher Gesagte sowohl durch den prunkvollen Trauerzug der Obersthofmeisterin Catarina Carafa, geborenen Cardona y Eril, der sich im Spätherbst 1726 von der Hofburg zu den Trinitariern in der Alservorstadt bewegte wie auch durch das ausführliche Testament der reichen alten Dame¹⁴: aus den Legaten erschließen sich die Bindungen Catarina Carafas an Wien, an Neapel, die Heimat ihres verstorbenen Mannes, an Mailand, wo sie während der militärischen Tätigkeit des Feldmarschalls als kaiserlicher Plenipotentiär mit ihm gelebt hatte, aber vor allem an ihre spanische Ursprungsfamilie. Die Angehörigen des Cardona-Clans treten als mannigfach Begünstigte auf, vom Bruder, dem Obersthofmeister der regierenden Kaiserin, abwärts bis zu den Neffen und Großneffen, für deren finanzielle Absicherung die Erbtante penibel Vorsorge trifft. Der vom spanischen Notar Adam Alvera in spanischer Sprache aufgesetzte letzte Wille wird jedoch von drei Angehörigen des Wiener Hofadels aus den Familien Salm, Dietrichstein und Nostitz bezeugt. Messstiftungen und Legate gehen an nahezu alle Wiener Kirchen, Ordensgemeinschaften, Bruderschaften und wohltätigen Einrichtungen sowie an die Dienerschaft, die aus Italien, Spanien, Ungarn, aber vor allem aus Wien stammt und zu der ganz offensichtlich ein herzliches Verhältnis bestand. Dieses Beispiel zeigt, dass sich Testamente besonders gut als Quelle dafür eignen, das Umfeld einer Person oder einer Gruppe abzustecken und damit, im Fall von „Zugereisten“ den Grad der Integration in eine neue geografische, politische, soziale Situation messbar zu machen. Blieben die hochgestellten spanischen Emigranten auch gesellschaftlich unter sich, so lebten sie doch in der Stadt Wien: hier hatten sie Dienstpersonal, hier mussten sie wohnen, sich mit Lebensmitteln und Garderobe versorgen, hier hatten sie Geld auf der Bank oder
Antonia Czobor 1731 (ÖStA, HHStA, OMeA Sonderreihe 11/56); Francisco de Vilana Perlas−Anna Josefa Sinzendorf (Adler Neues Jahrbuch 1 [1874] S. 146); Joseph Hyazinth Vasquez de Pinos nach erster Ehe mit einer Tochter Rialps in zweiter Ehe mit Maria Anna Kokorzowa 1748 (ÖStA, HHStA, OMeA Sonderreihe 17/28; zu dieser Eheschließung s. Khevenhüller, Aus der Zeit Maria Theresias 2, S. 246 – 247). Ebd., S. 253 zu der 1748 nach zehnjähriger „amour“ erfolgten Verlobung des Kammerherrn und niederländischen Rats Emanuel Marques Desvalls y Poal mit der Hofdame Gräfin Henckel von Donnersmarck. 1751 heiratete Juan Descatllar i Desbac, Marques de Besora in schon fortgeschrittenem Alter das aus lothringischem Adel stammende Kammerfräulein Thérèse Bernarde de Vitrimont (ÖStA, HHStA, OMeA Sonderreihe 10/21) u. a.m. Für die spanisch-italienischen Ehen sei beispielhaft genannt diejenige der Tochter des Fürsten von Cardona, Maria Emanuela, die 1717 den neapolitanischen Aristokraten Scipione Spinelli, duca di Seminara, heiratete (ÖStA, HHStA, OMeA Sonderreihe 16/266) oder diejenigen der beiden jüngeren Töchter des Marques de Villasor, Josefa und Antonia, die in die Familien Castelbarco und Collalto einheirateten (ebd. 11/53 und 11/58). ÖStA, HHStA, OLMA, Akten 5 (Testamente C), Nr. 54.
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machten sie Schulden, hier brauchten sie Seelsorger, Ärzte, Notare – all das Bedürfnisse, für welche die Testamente wenn nicht die einzige, so doch eine wichtige Quelle darstellen. Die Oberschicht der spanischen Emigranten kann grundsätzlich als gut erforscht gelten, da sich zahlreiche spanische Historiker*innen, allen voran Virginia León Sanz, aber auch Carmen Perez Aparicio oder Agustí Alcoberro, für die exilierten Aristokraten ebenso wie für das administrative Personal des Spanischen Rats interessiert haben.¹⁵ Letzterem wurde in Österreich übrigens schon 1964 eine materialreiche Dissertation von Hans Reitter gewidmet, die allerdings wenig Be-
Von den zahlreichen Arbeiten von Virginia León Sanz seien hier genannt: Al servicio de Carlos VI. El partido español en la corte imperial, in: Joaquim Albareda (Hrsg.), El declive de la Monarquía y del Imperio español. Barcelona 2015, S. 225 – 275; dies.: El Archiduque Carlos y los austracistas. Guerra de Sucesión y exilio. Madrid 2014; dies.: Un conflicto inacabado. La confiscación de bienes a los austracistas valencianos, in: Dossier La Guerra de Sucesión española. Cuadernos Dieciochistas 15 (2014), S. 195 – 257; dies.: La Conferencia de Estado en Viena, in: José Martínez Millán/Ruben González Cuerva (Hrsg.), La Dinastía de los Austria. Las relaciones entre la Monarquía Católica y el Imperio, III. Madrid 2011, S. 1663 – 1688; dies.: Fray Antonio Folch de Cardona, un arzobispo valenciano en la presidencia del Consejo de España en Viena (1657– 1724), in: Emilio Callado Estela (Hrsg.), Valencianos en la Historia de la Iglesia, Bd. 3. Valencia 2009, S. 103 – 147; dies.: La gracia del rey. Las mercedes concedidas por Felipe V sobre los bienes confiscados a los austriacistas en vísperas de la Paz de Viena (1725), in: Friedrich Edelmayer/dies./ José Ignacio Ruiz Rodriguez (Hrsg.), Der Spanische Erbfolgekrieg – La Guerra de Sucesión española (Hispania-Austria III). Wien/München/Alcalá de Henares 2008, S. 340 – 392; dies.: Represión borbónica y exilio austracista al finalizar la Guerra de Sucesión española, in: Antonio Álvarez-Ossorio Alvariño/Bernardo José García García/dies. (Hrsg.), La pérdida de Europa. La Guerra de Sucesión por la Monarquía de España. Madrid 2007, S. 569 – 589; dies.: Abandono de patria y hacienda. El exilio austracista valenciano, in: Revista de Historia Moderna. Anales de la Universidad de Alicante 25 (2007) S. 235 – 255.; dies.: Austracistas, in: Jordi Canal (Hrsg.), Los éxodos políticos en la Historia de España (siglos XV–XX). Madrid 2007, S. 75 – 111; dies.: El conde Amor de Soria: una imagen austriacista de Europa después de la Paz de Utrecht, in: Agustín Guimerà/Vicor Peralta (Hrsg.), El equilibrio de los imperios: de Utrecht a Trafalgar, II. Madrid 2005, S. 133 – 154; dies.: Acuerdos de la paz de Viena de 1725 sobre los exiliados de la guerra de sucesion, in: Pedralbes 12 (1992), S. 293 – 312; dies.: Los españoles austriacista exiliados y las medidas de Carlos VI (1713 – 1725), in: Revista de Historia moderna 10 (1991), S. 165 – 176; Agustí Alcoberro: Al servei de Carlos VI d’Àustria: un document sobre els militars exiliats austriacistes morts a l’Imperi (1715 – 1747), in: Pedralbes. Revista d’Història Moderna 18 (1998), S. 315 – 327; ders.: L’exili austriacista (1713 – 1747). Barcelona 2002; ders., La „Nova Barcelona“ del Danubi (1735 – 1738). La ciutat dels exiliats de la Guerra de Successió. Barcelona 2011. Für ein größeres Publikum geschrieben ist Xavier Sellés-Ferrando: Spanisches Österreich. Wien 2004, hier besonders S. 293 – 304, 332– 340, 346 – 350.
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achtung gefunden hat.¹⁶ Es ist verständlich, dass es für die spanische, insbesondere die katalanische und valencianische Geschichtsschreibung von vordringlichem Interesse war und ist zu sehen, wie sich sowohl der Hochadel als auch die administrativen Eliten der einzelnen Territorien – die für die Verwaltung unumgänglich notwendigen letrados, mehrheitlich akademisch qualifizierte Juristen – im und nach dem Spanischen Erbfolgekrieg positionierten.¹⁷ Der politisch bedeutendste dieser Juristen war zweifellos Ramon Vilana Perlas, nachmals Marques de Rialp, der dominante Kopf des Spanischen Rats in Wien, wo er 1741 verstarb.¹⁸ Auch er baute ein familiäres und klienteläres Netzwerk in seiner Behörde auf.¹⁹ Weiterhin interessiert die spanische Historiografie, wer sich nach 1725 mit den Bourbonen arrangierte, zurückkehrte und eventuell die nach Regimewechseln häufige Güterrestitution erfuhr (und in welchem Ausmaß).²⁰ Was aus der breiten Masse der Emigranten wurde, die weiterhin im österreichisch-habs Hans Reitter: Der Spanische Rat und seine Beziehungen zur Lombardei 1713 – 1720. 2 Bde. Diss. phil. Wien 1964, bietet eine ausführliche Behördengeschichte des Spanischen Rats und eine aus den Akten erarbeitete Prosopografie der Funktionäre. Zu diesem Personenkreis vgl. auch Elisabeth Garms-Cornides: Funktionäre und Karrieren im Italien Karls VI., in: Brigitte Mazohl-Wallnig/Marco Meriggi (Hrsg.), Österreichisches Italien – italienisches Österreich? Interkulturelle Gemeinsamkeiten und nationale Differenzen vom 18. Jahrhundert, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Wien 1999, S. 207– 225. Das aufschlussreiche Testament in ÖStA, HHStA, OLMA 28, Nr. 218. Den schwindenden Einfluss Rialps im letzten Drittel der Regierungszeit Karls VI. hat Stefan Seitschek anhand der Tagebucheintragungen des Kaisers demonstriert: Stefan Seitschek: Der Kaiser und die „Spanier“, in: Katharina Arnegger/Leopold Auer/Friedrich Edelmayer/Thomas Just (Hrsg.), Der Spanische Erbfolgekrieg (1701– 1714) und seine Auswirkungen. In Memoriam Teodora Toleva (MÖStA Sb 16). Wien 2018, S. 443 – 461, hier 457, 461. So war jedenfalls Ramon Llavrador y Vilana Perlas mit Rialp verwandt, der, als Oficial tercero im Sekretariat des Spanischen Rats mit 3 000 fl. Jahresgehalt eingestellt, bereits 1715 verstarb (Reitter, Spanischer Rat, S. 46). Das Testament Llavradors (ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 629, 1715/3) ist ein Panorama der Verwandtschaft. Unter dieser ist insbesondere Juan Francisco de Verneda zu nennen, der Gatte von Rialps Schwester Ippolita, der 1714 zum Oficial mayor des spanischen Staatssekretariats, somit zu Rialps Stellvertreter, ernannt wurde und später Karriere als Leiter der Negociaciones für Sardinien und Mailand machte (Reitter, Spanischer Rat, S. 46, 86 – 88; das Naheverhältnis zu Rialp ist nicht erkannt). Ein Bruder Juan Franciscos muss Antonio de Verneda gewesen sein, der, ebenfalls im Staatssekretariat untergebracht, dort eine bescheidene Karriere machte (Reitter, Spanischer Rat, S. 47– 48). Über die zahlreiche Nachkommenschaft Vernedas gibt sein Testament Auskunft: ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 637, 1743/5, verfasst am 11. September 1723, eröffnet am 2. April 1743 (Tod mit 86 Jahren im Kirchbergerischen Haus in der Alstergasse am 28. März 1743, gemeldet im WD vom 30. März 1743). Vgl. zum Beispiel Amparo Felipo Orts: El testament del Marqués de Vilatorcos i la disputa del comte de Cervelló per l’herència paterna. Una altra consegūència de l’exili austriacista, in: Aguaits 24−25 (2007), S. 97−121,http://roderic.uv.es/bitstream/handle/10550/2064/3.%20Aguaits %2c%202425 %20 %282007 %29 %20Felipo%20Orts.pdf?sequence=1&isAllowed=y, 04.05. 2019).
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burgischen Bereich verblieben und wie sie überlebten, als dann nach einem weiteren Jahrzehnt die für sie lebenswichtige ökonomische Basis, die Einkünfte aus den Königreichen Neapel und Sizilien, wegbrach, all das ist − berechtigter Weise − aus spanischer und auch aus italienischer Perspektive weniger interessant. Eine wichtige Ausnahme stellt allerdings das zweibändige Werk über die Exilanten von Agustì Alcoberro (2002) dar, dem schon einige einschlägige Aufsätze vorangegangen waren.²¹ Er wendet sich in erster Linie anderen sozialen Gruppen zu, vor allem den Militärs, und spricht mehrfach die spanische „Transmigration“ nach Ungarn an, ein Thema, das bereits 1979 von dem ungarischen Historiker Zoltan Fallenbüchel ausführlich behandelt worden war und das zuletzt Stephan Steiner in einem Kapitel seiner Geschichte frühneuzeitlicher Deportationen in der Habsburgermonarchie aufgegriffen hat.²² Bereits in den ersten Jahren – nur so viel sei von der tragischen Geschichte der Spanier in Ungarn erzählt − verstarb mehr als die Hälfte dieser „Aussiedler“, Militärangehörige und Zivilpersonen, ganze Familien, die in keiner Weise den an sie gestellten Anforderungen gewachsen waren. Das kann man, ebenso wie die Ansiedlung spanischer Militärs in Buda und Pest, nunmehr als gut erforscht ansehen, weswegen hier nicht weiter darauf eingegangen werden soll. Das Faktum, dass sich die dafür maßgeblichen Quellen in den Banater Akten des Hofkammerarchivs befinden, erinnert erneut daran, dass das Problem der Emigranten ein eminent ökonomisches war. Das entsprechende Aktenmaterial bietet wesentliche Ergänzungen zu der vorwiegend, wenn auch keineswegs ausschließlich, politischen Dokumentation des Spanischen Rats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, die insbesondere der spanischen Geschichtsschreibung als Basis dient. Hierzu kommen nicht zuletzt die Akten des Italienischen Departements im Hofkammerarchiv, die bisher von der Forschung weitgehend vernachlässigt wurden.²³ Es liegt, zusammenfassend gesagt, überreiches Material für die Geschichte der in Wien verbliebenen spanischen Emigranten vor, das in Zukunft ein spannendes Forschungsthema abgeben kann: von der privilegierten Oberschicht und deren kompakten Umfeld, von der Beamtenschaft des Spanischen Rats, ebenfalls
Alcoberro, L’exili und ders., Al servei de Carlos VI. Zoltan Fallenbüchl: Espagnols en Hongrie au XVIIIe siècle, in: Revista de Archivos, Bibliotecas y Museos 82 (1979), S. 85 – 147 und S. 199 – 224; Stephan Steiner: Rü ckkehr unerwü nscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frü hen Neuzeit und ihr europä ischer Kontext. Wien/ Kö ln/Weimar 2014, insbesondere S. 125 – 154. Verwendet etwa bei Garms-Cornides, Funktionäre und Karrieren.
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einer ziemlich geschlossenen Gruppe²⁴, sollte sich der Blick weiten hin zu ihren „Familien“, also dem Kreis ihrer Hausgenossen, zu ihren Quartiergebern, zu ihrem sozialen Umfeld, das sich durch erbetene Zeugen und Testamentsvollstrecker erfassen lässt, zu den Kirchen, Priestern, Ordensgemeinschaften, Bruderschaften, die für sie wichtig waren, und schließlich zu den Almosenempfängern und Patienten des 1717 gegründeten und 1723 vollendeten Spanischen Spitals in Wien – oder denjenigen, die am Beginn der maria-theresianischen Epoche als mögliche Landesfeinde „fremdenpolizeilich“ registriert wurden.²⁵ Erst im Zuge einer umfassenden Darstellung wird es möglich sein, den quantitativen Aspekt besser zu fassen: den von León Sanz, Alcoberro oder Giovanni Stiffoni, einem venezianischen Hispanisten veröffentlichten Listen zu Folge ist die von Hugo Hantsch seinerzeit vermutete Zahl von etwa 1 000 Spaniern im Wien Karls VI. zweifellos viel zu gering angesetzt.²⁶ Allein Anfang 1714 kamen etwa tausend Personen, wenn man zu den „Alleinstehenden“ (500 – 600) diejenigen „mit Familie“ (65, wohl mindestens mit vier zu multiplizieren) hinzurechnet, vom nicht einbezogenen Dienstpersonal im Gefolge höher gestellter Exilanten ganz abgesehen. Bereits 1715 erschien es geboten, „die Grenzen zu schließen“, den Zustrom von Bittstellern zu drosseln, von denen es aber trotzdem nicht wenige, darunter viele Witwen mit Kindern, nach Wien schafften.²⁷ Weitere Wellen folgten, wie etwa nach der Eroberung Sardiniens durch die Bourbonen (1718) oder erneut massiv nach dem Verlust der südlichen Königreiche Neapel und Sizilien.²⁸ So zählt 1735 eine Aufstellung 123 Männer spanischer und italienischer Herkunft
Siehe oben oder den Fall der Familie Pedrosa. Ein Alonso de Pedrosa war bereits 1636 Mundkoch im (weiblichen) Hofstaat der Königin Maria Anna gewesen, vgl. ÖStA, HHStA, ÄZA 2, S. 397– 398. Reitter, Spanischer Rat, S. 46 nennt einen Agustin de Pedrosa, Offizial im Spanischen Rat (1718), ein Ramon de Pedrosa ist Sekretär („escrivano de Camara“) im Spanischen und Niederländischen Rats und fungiert auch als Notar (ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 634, 1733/1; 635, 1737/7; 635, 1738/14) oder Zeuge (ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 635, 1737/10. ÖStA, FHKA, Akten des Italienischen Departements der Geheimen Hof-und Staatskanzlei, rote Nr. 204 (19332), fol. 887– 900. Hugo Hantsch: Die Geschichte Österreichs. 2. Aufl. Graz/Wien 1947, S. 106; Giovanni Stiffoni: Un documento inédito sobre los exiliados españoles en los dominios austriacos después de la guerra de Sucesión, in: Estudis 17 (1991), S. 7– 56. ÖStA, FHKA, Ital. Departement, rote Nr. 200 – 203 (19331), fol. 507−510, 512v–513, 516 – 519. Eine Aufstellung von 1726 nennt beispielsweise 331 Emigranten mit zum Teil ausführlichen Kommentaren (Herkunft, Rang, Ankunft in Wien, eventuell derzeitiger anderwärtiger Aufenthaltsort, gelegentlich Route ins Exil) und ihren Bezügen. Es handelt sich nahezu ausnahmslos um nach Dienstrang geordnete Militärs, aber auch um Witwen oder Nachkommen von Offizieren, vgl. Stiffoni, Un documento inédito, S. 24– 55.
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auf, die, teilweise mit Familienanhang, den bereits nach Temesvar Verschickten nachreisen wollten oder eher sollten.²⁹ Für alle dramatisch war das Wegfallen der Geldmittel, die aus Neapel bisher zum Unterhalt der spanischen Untertanen nach Wien geflossen waren oder besser hätten fließen sollen. Bereits 1714 hatte man berechnet, dass die Zahlungen aus Neapel bestenfalls für die ersten drei Klassen von Hilfsbedürftigen, eigentlich nur für die oberste Kategorie ausreichend seien, wobei diese Klassen sowohl gesellschaftliche Kriterien wie militärische Grade berücksichtigten.³⁰ 1735 waren bereits sieben Quartale Besoldungen ausständig³¹, und das betraf alle, vom Präsidenten des Spanischen Rats bis zum Gärtner des vom Spanischen Rat für die Laxenburger Jagdsaison angemieteten Hauses in Mödling, der versuchte, sich mit dem Verkauf von abgezweigten Lebensmitteln über Wasser zu halten.³² Zudem wurden die Ansprüche auf Bezüge um 50 % gekürzt, wobei kinderlose Besserverdiener am meisten „drankommen“ sollten.³³ Das ist vielleicht einer der Gründe, warum in der erwähnten Aufstellung von 1735 manche schon nicht mehr junge Männer noch ganz kleine Kinder zu haben angaben, sodass man, den Wahrheitsgehalt vorausgesetzt, von Verbindungen ausgehen muss, die vor nicht allzu langer Zeit in der Emigration zustande gekommen waren, wie denn auch manch einer ausdrücklich auf seine deutsche oder ungarische Frau aufmerksam macht. Die Liste führt zudem den physischen Zustand in Hinblick auf militärische Tauglichkeit an und sie berichtet, dass die Mehrzahl der Genannten bisher auf Almosen, ja Betteln angewiesen war. Bei manchen Personen wird allerdings auch erwähnt, mit welchen Arbeiten sie sich laut eigenen Angaben über Wasser gehalten haben: als Köche, Kammerdiener, Schneider, einer war sogar Hilfskraft in der Bibliothek des Präsidenten des Spanischen Rats, die nach dessen Tod (1724) für die Hofbibliothek angekauft worden war. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie vielfältig die Kontakte mit der neuen Umwelt sein konnten. Darüber hinaus führt diese Liste vor Augen, dass und in welcher Weise die soziale Abstufung innerhalb der Emigranten als Auffangnetz dienen konnte – wenn eben manch einer im Dienst seiner Alcoberro, Exili 2, S. 252– 262. Alcoberro, Exili 2, S. 39 – 41 (Memorandum über die finanziellen Erfordernisse) sowie ebd., S. 27– 38 Namenslisten. Dabei sind namentlich in der Kategorie „Geistliche“ auch Personen genannt, die sich in Mailand, Rom oder Genua aufhielten (ebd., S. 36 – 38; dazu vgl. auch Stiffoni, Un documento inédito, S. 11). ÖStA, FHKA, Ital. Departement, rote Nr. 200 – 203 (19331), fol. 633. Ebd., 200 – 203 (19328), Scritture dell’anno 1735 e 1736 riguardando il processo intentato dal giudice locale di Mödling contro il giardiniere Antonio Reo per aver venduto vino, birra e da mangiare nella casa del Supremo Consiglio d’Italia. ÖStA, FHKA, Ital. Departement, rote Nr. 200 – 203 (19331), fol. 643: Tabelle der Kürzungen nach Kategorien.
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besser gestellten Landsleute eine Existenzgrundlage fand. Umgekehrt finden wir aber auch jene Spanier, die sich bei den eigenen Landsleuten verschuldeten, etwa weil sie nicht auf die Produkte des in Wien ansässigen spanischen Chocolatiers Adroguero verzichten wollten.³⁴ Gleichzeitig sieht man an den in den spanischen Testamenten ausgesetzten Legaten, dass sich in den Hausgemeinschaften enge Beziehungen zwischen den emigrierten Dienstherren und ihren Wiener Dienstboten ergeben konnten, die gelegentlich mit ihren deutschen Namen oder Funktionen („die Lisl“, „der Hausknecht“) genannt sind: als Beispiel seien die letztwilligen Verfügungen der Gräfin Catarina Carafa oder diejenigen von Domingo de Aguirre und dessen Witwe, Gräfin Dorotea von Massot, genannt: der um 1654 geborene Domingo de Aguirre war Mitglied des Kronrats von Aragon, dann des Regentschaftsrats der Elisabeth Christine in Barcelona gewesen, wurde Mitglied des Spanischen Rats mit Zuständigkeit für Sardinien, dann Präsident des Höchstgerichts S. Chiara in Neapel und schließlich, in Neapel angefeindet, nach Wien zurückberufen, wo er 1726 im Alter von 72 Jahren starb. Unter der Dienerschaft bedenkt er namentlich seinen spanischen Sekretär Tenas, die aus Barcelona stammende Dienerin Eulalia Sierra und einen Ferdinand Droffer (Dorfer?) mit Legaten.³⁵ Als Aguirres Frau 1734 stirbt, sind Tenas und die Eulalia, letztere mit 36 Dienstjahren, immer noch bei ihr; Tenas lebt mit seiner Familie im Haus (in der Wipplingerstraße) und wird von Dorotea von Aguirre durchgefüttert, da die vom Kaiser bewilligte Pension nicht ausgezahlt wird. Er ist es auch, der das Testament der verschuldeten alten Dame verfasst. Während Zeugen, Testamentsvollstrecker und namentlich genannte Gläubiger aus dem Kreis des Spanischen Rats kommen, gilt die besondere Fürsorge der Erblasserin einem jungen Mädchen, Marianne Hitzler, der verwaisten Tochter eines ehemaligen Bediensteten. Sie sei ihr als einzige Unterhaltung ans Herz gewachsen, sie habe sie in ihrer Einsamkeit getröstet, wo doch die eigenen Kinder in der Ferne leben, mehrheitlich in Neapel, ein Sohn als Geistlicher in Katalonien.³⁶ Schon dieses Beispiel zeigt, wie reichhaltig die Testamente der spanischen Emigranten sein könnten. Allerdings kann dieser Quellenbestand keinen vollständigen Einblick in den Personenkreis geben, da Testamente nur von jenen Personen aufgesetzt wurden, die überhaupt etwas zu vererben hatten, und seien es auch nur ihre Schulden, deren Begleichung oft den ersten Punkt nach dem schematischen Formular der Testamente bildet. 1740 etwa führt ein besonders ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 632, 1727/6, Testament des Antonio Ibanez de Bustamante, Sekretär des Siegelamtes des Spanischen Rats. ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 631, 1726/4. ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 634, 1734/13.
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genauer Testator 24 Positionen seiner Verbindlichkeiten an: sie reichen von den Juwelen der Gattin, die er nach der Überfahrt in Genua versetzt und so den Erben vorenthalten hat, bis zu sämtlichen Lieferanten in Wien, seinem Arzt – selbst bei den Karmeliten und einem unbekannten Engländer hat er sich in seiner Verzweiflung Geld geborgt.³⁷ Im Oberstmarschallamt finden sich allein für die Zeit Karls VI. über 70 spanische Testamente. Dazu kommen die letztwilligen Verfügungen, die sich in den Archivalien des niederösterreichischen Obersten Landmarschallamtes, des Niederösterreichischen Landrechts und der Wiener Alten Ziviljustiz erhalten haben,³⁸ wie übrigens auch im Kriegsarchiv, wo Jean-Michel Thiriet unter dem Titel „Mourir à Vienne“ Forschungen zu den italienischen Militärs betrieben und leider nur sehr summarisch publiziert hat.³⁹ Unter den „Welschen“ befinden sich nicht wenige Spanier, die aber wegen der Italianisierung der Namen nicht immer einwandfrei herausgefiltert werden können. Was uns die letztwilligen Verfügungen sagen können, wird sich nur durch eine breit angelegte Studie erschließen lassen: ändern sich etwa die Zusammensetzung der erbetenen Zeugen und der Testamentsvollstrecker, die Bestimmungen über die Legate und die frommen Stiftungen, die Namen von Ärzten und Seelsorgern? Was erfahren wir über die Biografie, die verwandtschaftlichen Beziehungen, die Lebensumstände der Aussteller, ihren Wohnort in Wien, und über den nervus rerum, der die meisten quälte, während andere über beträchtliche Bankeinlagen verfügten? Wie viel bleibende Beziehung zur alten Heimat lässt sich
Testament des Antonio Maria Marques Montanaro vom 19. Mai 1740: ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 636, 1740/9. Etwa 90 Testamente aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts können in den Akten der Alten Ziviljustiz auf spanische Aussteller zurückgeführt werden, etwas weniger dürften vor dem Brand des Justizpalastes beim Niederösterreichischen Landrecht gelegen sein, vgl. O.A.: Einige genealogische Auszüge aus zwischen 1566 und 1783 bei der niederösterreichischen Regierung publicierten, derzeit im Archiv des k.k. Landgerichts in Wien befindlichen Testamenten adeliger oder für adelig gehaltener Personen, in: Monatsblatt der Heraldischen Gesellschaft Adler 4 (1896 – 1900) und 5 (1901– 1905) passim (zahlreiche kurze Einzelbeiträge). Jean-Michel Thiriet: Les testaments militaires „welsches“ des Archives de la Guerre d’Autriche 1670 – 1770, in: Bernard Vogler (Hrsg.), Les actes notariés. Source de l’histoire sociale XVIe – XIXe siècles. Straßburg 1979, S. 305 – 315. Vgl. auch ders.: Mourir à Vienne au XVII – XVIII siècle. Le cas des Welsches, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 34 (1978), S. 210 oder zum Thema Immigration ders.: L’immigration italienne dans la Vienne baroque (1620 – 1750). Premiers résultats d’une enquête, in: Revue d’histoire économique et sociale 52 (1974) S. 339 – 349; ders.: Fragestellungen im Rahmen einer Studie über eine Minderheit im Ancien Régime. Überlegungen zu den Italienern in Wien (1619 – 1740), in: Spezialforschung und „Spezialgeschichte“. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 8). Wien 1981, S. 189 – 196.
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aus den Testamenten herauslesen, etwa wenn die in die Emigration mitgenommenen Reliquien als besondere Schätze vererbt werden?⁴⁰ Wie viel oder wie wenig „Integration“ ergibt sich umgekehrt etwa aus den Hofquartierprotokollen, in denen nicht nur eine Reihe von Personen aus der unmittelbaren Umgebung des kaiserlichen Paares genannt sind, wie etwa die Kammerdiener Elisabeth Christines, Juan Coffinet und Francisco Ferrando⁴¹, sowie der Kammerzahlmeister der Kaiserin Juan Fernandez Brunet(t)e⁴², sondern auch zahlreiche Hartschiere, Trabanten, Bereiter, Stallinspektoren, Türhüter, Kammerfouriere oder Musiker.⁴³ Ihre zweifellos relativ privilegierte Stellung dürfte wiederum anderen ärmeren Landsleuten zugutegekommen sein: so erbittet zum Beispiel eine Katalanin, Margarita Pi gegen Ende der zwanziger Jahre eine Subvention mit der Begründung, dass sie mit der „caridad“, die ihr der Schwager, ein Hofkoch – vermutlich der aus den Hofquartierprotokollen bekannte Francisco Girones – erweist, nicht mehr ihr Auslangen findet.⁴⁴ Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch Einträge wie der des aus vielen Testamenten bekannten Hofmedikus Domingo Briau, der 1735 auf 27 Jahre Dienst verweisen kann. Er berichtet, lange Zeit im Hause des Obersthofmeisters der Kaiserin, Cardona, kostenlos gelebt zu haben. Nun lässt man ihn aber für die Unterkunft bezahlen (die Witwe? der Erbe?), weswegen er ein Hofquartier im Logis des eben verstorbenen Obersthofmeisters Martinitz erbittet, wobei er offensichtlich hofft, sich mit dem sich ebenfalls bewerbenden Oberstkämmerer Marques de Besora das Quartier zu teilen.Vergeblich protestiert die verwitwete Gräfin Martinitz gegen die Vertreibung durch die Spanier. Aber auch die Konvivenz zwischen Besora und Briau findet mit der Zeit ein vermutlich unerfreuliches Ende.⁴⁵ Spannungen darf man also, wie solche Mi Vgl. zum Beispiel das Testament der Maria Ibañez de Aoiz y Arilla (ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 634, 1736/7 mit Aufzählung von Reliquien) oder die letztwilligen Verfügungen des Marques de Villasor, Präsidenten des Spanischen, dann Italienischen Rats (1749) und dessen Gattin Emanuela de Alagon y Benavides (1762). Während Villasor ganz in seinem amtlichen Milieu verhaftet erscheint, bedenkt seine Witwe vor allem die sardische Heimat, in die ihr Enkel und Universalerbe zurückgekehrt ist: ÖStA, AVA, NÖ Landrecht Nr. 195 und 244. ÖStA, FHKA, HquP 94, fol. 26, 84, 117 (Coffinet), HquP 94, fol. 95 und HquP 97, fol. 19v, 100 (Ferrando). Ferrando brachte auch seinen Sohn (HquP 97, fol. 100) und zwei seiner Töchter bei Hof unter, vgl. Irene Kubiska: Der kaiserliche Hof-und Ehrenkalender zu Wien als Quelle für die Hofforschung. Eine Analyse des Hofpersonals in der Epoche Kaiser Karls VI. Dipl. Arbeit Wien 2009, S. 90. ÖStA, FHKA, HquP 97, fol. 94v (sein Sohn ist ebenfalls Kammerdiener ebd. 101, fol. 72). Zum Hofquartierwesen sei auf die Studien Maximilian Maurers verwiesen, zuletzt ders.: Das Hofquartierwesen im frühneuzeitlichen Wien, in: Frühneuzeit-Info 26 (2015), S. 234−239. ÖStA, FHKA, Ital. Departement, rote Nr. 200−203 (19331), fol. 458. Zu Francisco Girones vgl. ÖStA, FHKA, HquP 97, fol. 35v und 101, fol. 64v – 65. ÖStA, FHKA, HquP 105, fol. 81v, 78v, 77; ebd. 106, fol. 149 (Briau will 1738 ausziehen).
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krogeschichte zeigt, sowohl innerhalb der Emigrantenkolonie wie auch im Verhältnis zu Wiener Hofangehörigen oder Quartiergebern vermuten. Nicht anders als auf dem gesellschaftlich hohen Niveau der Martinitz und Besora protestiert die Witwe des nach 46 Jahren Dienst verstorbenen Kammerdieners Kienast, als sie das Quartier zugunsten des Katalanen Leplat räumen soll.⁴⁶ Dort, wo sich Emigranten eine Bleibe bei einem Vermieter – meist in der Vorstadt – suchen mussten, wird es zwangsläufig ebenso zu Konflikten gekommen sein, besonders wenn es mit den Zahlungen haperte. So schildert eine Gregoria Lopez 1743 ihre verzweifelte Lage: Vater Lopez ist nach 48 Jahren Dienst in der kaiserlichen Armee als Hauptmann gestorben, ihr Mann mit Namen Carta fiel nach 27 Dienstjahren, davon 24 im Grade eines Hauptmanns, 1742 in Böhmen. Seit Monaten befindet sich Gregoria „nel più miserabile stato, in un paese straniero, giovine e carica di debiti, e del tutto spogliata“. Sie kann das Haus nicht mehr verlassen, hat sie doch nichts Warmes zum Anziehen, und Gläubiger und Hausherr halten sie gleichsam in Geiselhaft.⁴⁷ Will man den Hofquartierprotokollen glauben, so scheint die beste Kommunikation zwischen den Gardesoldaten verschiedenster Herkunft geherrscht zu haben. Sie sind über die gegenseitigen Wohnverhältnisse informiert, tauschen gelegentlich ihr Quartier und dürften wohl auch die höchste Rate an Konnubien aufzuweisen haben. Ein spanischer Hartschier, Carl Bivador, übernimmt sogar die Vormundschaft für die unmündigen Kinder seines Kollegen Strobel.⁴⁸ Es gäbe noch sehr viel zu erwähnen, ja aus der Fülle des Materials nur anzudeuten: So hat sich unter den Akten des Italienischen Departements im Finanzund Hofkammerarchiv zum Beispiel die ab 1721 lückenlose Dokumentation des Bolsillo Secreto erhalten, der geheimen Handkassa des Kaisers für seine spanischen Untertanen, welche die zum Teil exorbitanten Gnadengelder für die Spitzenvertreter der spanischen Kolonie, die Eingänge von Schmiergeldern, aber auch die Ausgänge durch kleine und kleinste Zuwendungen an die Bittsteller ausweist,
ÖStA, FHKA, HquP 95, fol. 18v (1716). Von den Erben Leplats ist noch 1732 die Rede (ebd. 105, fol. 114). ÖStA, FHKA, Ital. Departement, rote Nr. 197– 199 (19326, unfoliiert), Ansuchen vom 21. Januar 1743. ÖStA, FHKA, HquP 106, fol. 37v. Zum Heiratsverhalten der Militärs vgl. Fallenbüchel, Espagnols, S. 96, 99 – 100. Sofern die Witwen ihren Mädchennamen angeben, erlauben die Hofquartiersprotokolle ebenso wie die Witwenpensionsansuchen Einblick in „gemischte“ Ehen zwischen spanischen, deutschen und italienischen Elementen. Vgl. ÖStA, FHKA, Ital. Departement, rote Nr. 200 – 203 (19331), fol. 507– 508, für einige besondere Härtefälle von Witwen oder Töchtern langgedienter spanischer Militärs.
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die mehr oder weniger wortreich ihre Situation erklären.⁴⁹ Insofern unterscheiden sich die im Finanz- und Hofkammerarchiv erhaltenen Akten dieses Zahlamtes von den von Virginia León Sanz herangezogenen Akten des Spanischen Rats, in denen die Listen von Kassenausgängen sowie die Verrechnung mit den die Summen vorstreckenden Bankhäusern für einzelne Jahre überliefert sind. All dies ist nicht nur eine erstrangige Quelle für die Politik Karls VI. in seinen ehemals spanischen Dominien und im Verhältnis zu seiner spanischen Entourage, sondern auch ein Weg, sich den spanischen Emigranten als Bittstellern und damit als sozialer Gruppe im Wien Karls VI. anzunähern. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass es sich bei dem zum Spanischen Rat resultierenden Bolsillo Secreto um eine „politische“ Institution handelte, deren Aktivität parallel zu jener des zum Oberstkämmereramt gehörigen Kammerzahlamts lief. Eine andere Frage könnte diejenige nach spezifisch spanischen Frömmigkeitsformen sein, welche die Emigranten nach Wien mitgebracht haben dürften. Einen Hinweis geben die bei Grabungsarbeiten in der spanischen Gruft von St. Michael aufgefundenen Rosenkränze, die eine in Österreich unübliche, jedoch in Spanien verbreitete Anordnung der Gebetsperlen aufweisen.⁵⁰ Neben der Michaelerkirche wären noch andere bei den Spaniern im Wien Karls VI. beliebte Begräbnisorte zu untersuchen, wie vor allem die Kirche der „Weißspanier“, das heißt der Trinitarier auf der Alserstraße, aber auch diejenige der Franziskaner in der Stadt, wo sich die Erinnerung an die spanischen Begräbnisse verloren zu haben scheint. Die in den Testamenten häufig erwähnte Zugehörigkeit zum dritten Orden des hl. Franziskus, dessen Kutte als Begräbnisgewand angeordnet wird, müsste zur Mitgliedschaft in anderen Bruderschaften in Relation gesetzt werden.⁵¹ Inwieweit die Verehrung spanischer – zum Teil umstrittener – Mystikerinnen des 17. Jahrhunderts über den engen Kreis der Emigranten hinaus ausstrahlte, muss wohl offen bleiben.⁵² Was kann die Auswahl des Begräbnisortes, die allerdings oft ausdrücklich dem Erben überlassen wird, was können die frommen Legate an Wiener Kirchen
ÖStA, FHKA, Ital. Departement, rote Nr. 160 – 180. Virginia León Sanz: Patronazgo político en la corte de Viena: los Españoles y el Real Bolsillo Secreto de Carlos VI, in: Pedralbes. Revista d’Historia Moderna 18 (1998), S. 577– 598. Adolf Mais: Die Gruftbestattungen zu St. Michael in Wien. Bruderschaften, Bestattungen, Sargmalerei, Totenbeigaben, in: Kultur und Volk. Beiträge zur Volkskunde aus Österreich, Bayern und der Schweiz. Festschrift für Gustav Gugitz zum achtzigsten Geburtstag.Wien 1954, S. 245 – 273, hier 265 – 266. Ebd., S. 264 auch die zur Beerdigung verwendeten Bruderschaftskutten erwähnt. Vgl. oben Anm. 5. Zur Verehrung von Maria von Agreda und Martina de Arilla vgl. das Testament der Gräfin Maria Ibañez de Aoiz y Arilla in ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 634, 1736/7.
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und Spitäler aussagen? Dabei wird nämlich keineswegs nur das Spanische Spital bedacht, welches, 1717 gegründet und mit der Weihe der Spitalskirche S. Maria della Mercede 1723 fertiggestellt, eine grundlegende neue Untersuchung verdienen würde – konnte doch der Autor der einzigen Monografie zum Thema wegen mangelnder Spanischkenntnisse die Protokolle des Verwaltungsrates, heute im Niederösterreichischen Landesarchiv verwahrt, nicht auswerten.⁵³ Im Zusammenhang mit Fragen der Integration oder besser des Zusammenlebens mit der deutschsprachigen Bevölkerung ist es interessant anzumerken, dass im Spital auch Personen Aufnahme finden konnten, die mit Spaniern beziehungsweise Migranten aus den spanischen Nebenländern verheiratet waren, ja auch Nachfahren ehemaliger spanischer Untertanen. Gerade die Bestimmung über die Ehegatten konnte Anlass zu Schwierigkeiten sein, so als 1740 zum ersten Mal ein Nichtkatholik im Spital entdeckt wurde.⁵⁴ Unter den Kaplänen war bald auch ein deutschsprachiger notwendig, was möglicherweise ebenfalls mit vorangehenden Heiraten der Patienten in Verbindung gebracht werden kann. Allerdings scheint es auch, wie einer der Spitalsvorsteher, Rifos, bemerkte, eine Art Werbemaßnahme gewesen zu sein, um das Spital attraktiver zu machen.⁵⁵ Da die Institution von Anfang an mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatte, nimmt es nicht wunder, dass Ärzte und Geistliche bei den besser gestellten Spaniern zu testamentarischen Legaten drängten. Dass dies gelegentlich mit gehörigem Nachdruck verbunden war, zeigen die verschiedenen Versionen des Testaments einer gewissen Anna Quiroga, der vermögenden Witwe eines Kürassierhauptmanns.⁵⁶ Wie viele menschliche Tragödien hinter den nüchternen Zahlen der Spitalsverwaltung gestanden sein mögen, lässt die verhältnismäßig hohe Anzahl an Geisteskranken erahnen.
Walter Kratzer: Das spanische Spital und die mit ihm vereinigten Spitäler, sowie die Kirche S. Maria de Mercede 1718 – 1785 (Wiener Katholische Akademie Miscell. Neue Reihe 4).Wien 1980; St. Pölten, Niederösterreichisches Landesarchiv, NÖ Regierung, Handschriften (Pfarr- und Stiftsinventare und Kirchenrechnungen) Band 109a: „Libro de Registro de les Reales Decretos de S. M. y Apuntamentos y Ordenes de los Señores Superintendentes y Deputados del real Hospital de la Monarchia en Vienna“. Das etwa 400 Seiten starke Konvolut enthält vor allem die Sitzungsprotokolle der für das Spital zuständigen Junta, die bis 1727 sehr ausführlich über das Alltagsleben im Spital informieren, danach allerdings immer kürzer ausfallen. Zur Verwaltung des Spitals vgl. auch ÖStA, HHStA, Italien, Spanischer Rat 51 und NÖ Landesarchiv, NÖ Regierung 1780−1850, Karton 3346, Fasz. 9. ÖStA, HHStA, Italien, Span. Rat 51, fol. 132. Ebd., fol. 135 – 136. ÖStA, HHStA, OMaA, Kt. 634, 1734/15.
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„Mourir à Vienne“, wie J.-M. Thiriet in Analogie zu Pierre Chaunu formuliert ⁵⁷ hat : als Spanier im Wien Karls VI. sterben. Eine der reichsten Quellen, die Testamente, wartet auf eine systematische Bearbeitung. Dazu kommen die Todesmeldungen im Wienerischen Diarium, die im Regelfall den Wohnort der Verstorbenen und damit ihre Verteilung in der Stadt und in den Vorstädten, insbesondere Laimgrube, Neubau, Josefstadt, Alservorstadt angeben und die es zu analysieren gälte – ein spanischer Kosmos also, der es wert wäre, jenseits von Verallgemeinerungen und Klischees genau erforscht zu werden. Waren es doch diejenigen Spanier, die nach dem brillanten Bonmot des Barons von Montesquieu, wie er bei seinem Wienbesuch 1728 hatte beobachten können, dem Kaiser an Stelle des Königreichs Spanien verblieben waren.⁵⁸
Thiriet, Mourir à Vienne; Pierre Chaunu: La Mort à Paris XVIe et XVIIe siècles. Paris 1978. Montesquieu, Voyage, S. 550: „Ne pouvant avoir L’Espagne, il a des espagnols“.
Pia Wallnig
Das vizekönigliche Paar und sein Personal Karrieren und Mobilität zwischen Neapel, Mailand und Wien Anfang Januar des Jahres 1729 schrieb der gerade erst in Neapel eingetroffene Vizekönig Aloys Thomas Raimund Graf Harrach (1669 – 1742) an seinen Sohn Friedrich August (1696 – 1749) über seine neue Aufgabe: Je suis occupé le matin jusqu’au soir qu’a peine me restent quelques heures pour diner; la depence que je suis obliges de faire est grande et les revenues ne sufisent pas que la Vice Royauté me donne pour fournir a tout, principallement la premiere année; si j’avais pu prevoir tout ce que fais maintenant je me seray pas rendu si aisement d’obeir au maittre, et a me sacrifier, mais l’affaire est faitte.¹
Graf Harrach beklagte sich in seiner Korrespondenz wiederholt über die hohen Kosten, die ihm das neue Amt im habsburgischen Süditalien bescherte, gleichzeitig war ihm aber auch klar, dass es ihm gelungen war, einen der begehrtesten Posten, den der Kaiser zu vergeben hatte, zu erlangen, um den sich Adelige aus allen Gebieten der werdenden Monarchia Austriaca bemühten. Das Königreich Neapel nahm unter den Stellvertreterherrschaften, welche die österreichischen Habsburger nach den Friedensschlüssen von Utrecht und Rastatt von der spanischen Krone übernommen hatten, eine Sonderstellung ein: Es war das einzige Territorium, in dem der an der Spitze der Verwaltung und des Militärs stehende Amtsträger, der gleichzeitig auch der Stellvertreter des Herrschers war, als Vizekönig tituliert wurde und nicht nur als Statthalter wie etwa in den Österreichischen Niederlanden oder der Lombardei.² Das Hauptanliegen der österreichischen Herrschaft in Neapel war die Demonstration von Kontinuität mit der spanischen Zeit. Seit 1503 war das Königreich Neapel durch Ferdinand II. von Aragon endgültig unter die Herrschaft der spanischen Krone gekommen. Bereits im 15. Jahrhundert wurden in den Ländern der Krone von Aragon Vizekönige an der Spitze der Verwaltung eingesetzt und ein Jahrhundert später hatte sich die spanische Monarchie erheblich ausgedehnt. Zur Verwaltung dieser zahlreichen und unterschiedlichen Herrschaftsbereiche – neben Gebieten auf dem europäischen Festland kamen jetzt auch Territorien in
Aloys Thomas Raimund Graf Harrach an Friedrich August Graf Harrach, 4. Januar 1729: ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 524, unfol. In den zeitgenössischen Hofstaatskalendern findet sich die Bezeichnung: „Vicerè, Luogotenente e Capitan Generale del Regno di Napoli“. https://doi.org/10.1515/9783110670561-010
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Übersee (vor allem auf dem südamerikanischen Kontinent und der karibischen Inselwelt dazu) – benötigte man Personal. Die Statthalter des spanischen Königs trugen je nach Gebiet unterschiedliche Namen. In der Lombardei sowie den Spanischen Niederlanden wurden sie als Statthalter tituliert, im Königreich Neapel und in den großen überseeischen Gebieten in Mexiko und Peru bezeichnete man sie als Vizekönige. Dieser Titel entsprach der Bedeutung der Gebiete und wies etwa im Fall von Neapel auch auf die lange königliche Tradition des Territoriums hin.³ Das Königreich wurde im 16. Jahrhundert in das spanische Reich integriert und „demgemäß wurden die neapolitanischen Behörden moderat aber langfristig durchaus wirkungsvoll verändert“⁴. Auch wenn man die alten Zentralbehörden bestehen ließ, wurden sie dem aus Spanien entsandten Vizekönig und dem ihm beigestellten Consiglio Collaterale unterstellt. Diese Strukturen, die Anfang des 16. Jahrhunderts installiert wurden, sollten bis zum Ende der spanischen Herrschaft und dann mit sehr geringen Änderungen auch noch während der gesamten Amtszeit der österreichischen Vizekönige Bestand haben und erst mit der Herrschaft von Karl von Bourbon, der wieder als König von Neapel tituliert wurde, Umstrukturierungen erfahren. Der Vizekönig in Neapel war der politische und militärische Stellvertreter des spanischen Königs, die Vizekönigin die Stellvertreterin der spanischen Königin. Der Vizekönig, bzw. das vizekönigliche Paar, waren sowohl in spanischer wie auch in österreichischer Zeit die „sichtbare Verkörperung des Monarchen“ bzw. des Herrscherpaares, da es – mit der Ausnahme von Karl V. – nie zum Besuch eines habsburgischen Königs bzw. Kaisers einer der beiden Zweige der habsburgischen Familie kam.⁵ Die Dauer des Amtes war bereits Anfang des 16. Jahrhunderts auf drei Jahre begrenzt worden, in seltenen Fällen wurde sie verlängert. Einige Vizekönige verstarben dagegen nach kurzer Zeit im Amt oder wurden nur für eine Über-
Allgemein zur Institution und Geschichte der spanischen Vizekönigtümer mit umfassender Literatur siehe die Einleitung von Francesca Cantù im Band: Francesca Cantù (Hrsg.), Las cortes virreinales de la Monarquia espanola: América y Italia, Actas del Coloquio Internacional (Sevilla, 1– 4 junio 2005). Rom 2008, S. 11– 36; Daniel Aznar/Guillaume Hanotin/Niels F. May (Hrsg.), À la place du roi. Vice-Rois, Gouverneurs et Ambassadeurs dans les monarchies françaises et espagnoles (Collection de la Casa Velázquez 144). Madrid 2014; Alejandro Cañeque: The King’s Living Image: the Culture and Politics of Viceregal Power in Colonial Mexico. New York 2004. Guido Metzler: Die doppelte Peripherie. Neapel als römische Kolonie und spanische Provinz, in: Julia Zunckel/Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Römische Mikropolitik unter Paul V. Borghese (1605 – 1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua. Tübingen 2004, S. 187; allgemein zum Königreich Spanien in dieser Epoche John Huxtable Elliott: A Europe of Composite Monarchies, in: Past&Present 137 (1992), S. 48 – 71. Metzler, Die doppelte Peripherie, S. 187.
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gangsperiode eingesetzt. Ziel jedes spanischen und österreichischen Vizekönigs nach Ende seiner Amtszeit in Neapel war es, einen vergleichbaren oder höheren Posten zu bekommen: entweder in einem anderen Territorium der Monarchie, einen sehr hoch dotierten Botschafterposten oder am besten eine Position in einem der höchsten politischen Gremien in unmittelbarer Nähe des Herrschers. In Spanien bedeutete dies, den Aufstieg bis in den Staatsrat zu schaffen; in der Monarchia Austriaca, einen Platz in der Geheimen Konferenz zu erhalten.⁶ Insgesamt regierten in Neapel im 16. Jahrhundert 21, im 17. Jahrhundert 24 spanische Vizekönige, von denen sechs Kleriker (Kardinäle) waren; sie und die nicht-klerikalen Funktionsträger stammten meist aus kastilischem Hochadel. In der österreichischen Zeit wurde dieses System fortgeführt, da sich die beiden habsburgischen Brüder Josef und Karl nach der militärischen Einnahme Neapels gegen die Regentschaft eines Familienmitgliedes und für einen hochadeligen Amtsträger entschieden hatten.⁷ Somit gab es zwischen 1707 und 1734, als Neapel an die Bourbonen verloren ging, elf österreichische Vizekönige von Neapel, von denen vier geistliche Würdenträger und sieben weltliche Hocharistokraten waren. Sie entstammten sowohl erbländisch-böhmischen wie auch italienischen bzw. in einem Fall auch spanischen Adelsgeschlechtern. Alle sieben weltlichen Vizekönige waren verheiratet als sie ihr Amt antraten und damit betraf das vizekönigliche Amt auch ihre Ehefrauen. Der vizekönigliche Hof in Neapel war sowohl räumlich als auch personell umfangreich und bedeutsam für die Stadt und die ansässige Hocharistokratie. Da keiner der österreichischen Vizekönige und auch keine der Ehefrauen der verheirateten Amtsträger einem neapolitanischen Adelsgeschlecht entstammten, mussten sie sich nach ihrer Ankunft erst mit dem Hof und seinen Abläufen vertraut machen. Die Aufenthalte der erbländischen und böhmischen Aristokraten wie Georg Adam Graf Martinitz (1645 – 1714),Wirich Philipp Graf Daun (1669 – 1741) oder Kardinal Michael Friedrich Graf Althann (1680 – 1734) auf der Apenninenhalbinsel waren bis zu ihrer Bestellung als Vizekönige diplomatischen oder militärischen Aufgaben geschuldet gewesen. Die aus italienischen Adelsfamilien stammenden Vizekönige wie Carlo Conte Borromeo Arese (1657– 1734) oder Marcantonio Principe Borghese (1660 – 1729) waren mit der einheimischen Ari-
Siehe dazu für die höchsten Ämter am Hof in Madrid Metzler, Die doppelte Peripherie, S. 179 – 334, und für den Wiener Hof Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. Darmstadt 2002. Vgl. dazu Elisabeth Garms-Cornides: Das Königreich Neapel und die Monarchie des Hauses Österreich, in: Silvia Cassani (Hrsg.), Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige. Ausstellungskatalog. Neapel 1993, S. 17– 34.
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stokratie durch Eheschließungen oder weitläufige Verwandtschaften enger verbunden und konnten sich dadurch leichter orientieren. Die rund 200 Jahre währende Herrschaft der spanischen Vizekönige (1503 – 1707) hatte im Stadtbild Neapels bedeutende Spuren hinterlassen. Auch die Residenz der Vizekönige, der so genannte Palazzo Reale, war ein prunkvoller Neubau des beginnenden 17. Jahrhunderts, den die österreichischen Vizekönige von ihren spanischen Vorgängern übernahmen, ohne größere Veränderungen oder Umbauten daran vorzunehmen. Das Gebäude wie auch der vor dem Palast liegende Largo del Palazzo spielten eine wichtige Rolle bei den großen zeremoniellen Auftritten, die das vizekönigliche Paar bei den verschiedenen hohen kirchlichen, städtischen und der herrschenden Dynastie geschuldeten Festlichkeiten wahrnahm. Den zeremoniellen Auftritten des Vizekönigs bzw. des vizeköniglichen AmtsPaares kam eine besondere Bedeutung zu, da damit nicht nur die neue Herrschaft legitimiert, sondern auf diesem Weg auch der Anspruch Erzherzog Karls (bzw. Kaiser Karls VI.) auf die spanische Krone aufrechterhalten werden sollte. Daher trugen die für diese Angelegenheiten am Hof zuständigen Zeremonienmeister (Maestri di cerimonie) Sorge, dass die protokollarischen Regeln, die für die spanischen Vizekönige gegolten hatten, auch genauso auf die österreichischen angewandt wurden. Die Instruktionen, welche die Vizekönige aus Wien mitbekommen hatten, galten ihren politischen und militärischen Aufgaben. Die Vizeköniginnen erhielten – soweit bekannt – gar keine Instruktionen.⁸ Man verließ sich auf die Maestri di cerimonie, die sozusagen als „lebende Zeremonialinstruktion“ fungierten. Für die gesamte Herrschaftszeit der österreichischen Vizekönige gab es nur drei lange amtierende Zeremonienmeister, die sowohl mit dem Hofpersonal als auch mit den Amtsträgern in Verwaltung, Militär und Justiz des Königreichs wohl vertraut waren.⁹ Im Fall der Letzteren handelte es sich ausschließlich um Vertreter der hohen neapolitanischen Aristokratie, die stets großen Wert darauf
Nach heutigem Wissensstand existieren wohl weder bei den spanischen noch den österreichischen Vizeköniginnen Instruktionen, bis jetzt konnten jedenfalls keine solchen festgestellt werden. Bisher wurde die Stellvertreterfunktion der Vizekönigin auch in keiner Publikation genauer behandelt. Der Versuch, sich dieser Thematik zu nähern, wurde in der ungedruckten Dissertation der Autorin dieses Artikels unternommen: Pia Wallnig: Die österreichischen Vizeköniginnen von Neapel (1707– 1734). Adelige Amtsträgerinnen im habsburgischen Süditalien. Diss. phil. Wien 2017. Filippo Ferrera (1708 – 1710), Ventura de Martiis (1710 – 1722), Francesco Grimaldi (1721– 1741). Vgl. dazu Attilio Antonelli (Hrsg.), Cerimoniale del Viceregno spagnolo e austriaco di Napoli 1650 – 1717. Neapel 2014, S. 31.
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legten, dass ihre Privilegien gebührend beachtet wurden und die darauf bedacht waren, sich vom Vizekönig in ihrer Machtausübung nicht beschneiden zu lassen.¹⁰ Die gute Quellenlage aus der Zeit der beiden letzten Vizekönige Aloys Thomas Raimund Graf Harrach und Carlo Conte Borromeo Arese ermöglicht es, ein detailliertes Bild des zeitgenössischen neapolitanischen Hofes und der dort tätigen und lebenden Personen zu zeichnen. Alle Vizekönige, bzw. vizeköniglichen Paare brachten eigene Bedienstete nach Neapel mit und sorgten damit dafür, dass sich im vizekönigliche Hofstaat einheimische Männer und Frauen genauso fanden wie Personen aus anderen italienischen Territorien und Funktionsträger und Funktionsträgerinnen, die aus den österreichischen Erblanden mitgekommen waren. Darüber hinaus lassen sich aus der Tatsache, dass die beiden vizeköniglichen Paare aus unterschiedlichen Gebieten der Monarchia Austriaca stammten, verschiedene Fragestellungen ableiten, etwa welche Funktionsträger mit dem vizeköniglichen Paar mitreisten, wer dauerhaft am Hof tätig war und welche Rolle die einheimische neapolitanische Aristokratie spielte. Dies erlaubt auch Fragen nach bewusster Personalpolitik in bestimmten Bereichen der Hofbediensteten, vom aus Wien mitgereisten Sekretär des Vizekönigs bis zum über Dezennien amtierenden Zeremonienmeister (Maestro di ceremonie). Ebenfalls kann man sehen, ob und welcher Handlungsspielraum dem am Hof tätigen Personal in der Planung der eigenen Karriere zukam. Des Weiteren sind von den dem vizeköniglichen Paar am nächsten stehenden Bediensteten in einigen Fällen Briefe erhalten und auch aus den Korrespondenzen der Familienmitglieder untereinander lassen sich Erkenntnisse zur familiären Personalpolitik gewinnen. Die beiden hier untersuchten vizeköniglichen Paare entstammten – wie bereits erwähnt – aus völlig verschiedenen Gebieten der Monarchia Austriaca: Vizekönig Aloys Thomas Raimund Graf Harrach kam aus einer Adelsfamilie der Österreichischen Erblande, die bereits mehrere Generationen lang den österreichischen Habsburgern am Hof, in der Kirche, in der Verwaltung und als Diplomaten gedient hatten.¹¹ Das gleiche galt für seine ihn nach Neapel begleitende
Da die Zentralbehörde für die Verwaltung der ehemaligen spanischen Gebiete in Wien, der Spanische Rat, stets daran interessiert war, die vizekönigliche Machtfülle zu schwächen, versuchte sie dies auch durch eine Stärkung des Kollaterals. Siehe dazu Peter Stenitzer: Das Wirken Aloys Thomas R. Graf Harrachs als Vizekönig von Neapel (1728 – 1733), in: Cassani (Hrsg.), Barock in Neapel, S. 43 – 55. Die Familie Harrach stammte ursprünglich aus Oberösterreich, erwarb aber im Lauf der Zeit Besitzungen in allen Erbländern der Monarchie, vor allem in Böhmen und Niederösterreich. Einige Familienmitglieder erreichten im 17. und 18. Jahrhundert höchste Ämter bei Hof, im Staatsdienst und in der Kirche. Der Großonkel des späteren Vizekönigs Aloys Thomas Raimund war
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dritte Ehefrau Maria Ernestine, deren Herkunftsfamilie Dietrichstein ebenfalls zum höchsten Wiener Hofadel zählte.¹² Sie hatte darüber hinaus durch ihren ersten Ehemann Johann Wenzel Graf Gallas (1669 – 1719) Erfahrungen als kaiserliche Botschafterin in Rom und auch bereits in Neapel gesammelt.¹³ Dagegen entstammten der letzte österreichische Vizekönig Giulio Conte Visconti Borromeo Arese ebenso wie seine Ehefrau Teresa, geborene Contessa Cusani, alten lombardischen Adelsgeschlechtern, die sich erst nach der Übernahme der spanischen Krone durch die Bourbonen für eine prokaiserliche und im Sinne der österreichischen Habsburger prohabsburgische Familienpolitik entschieden hatten.Visconti war bereits zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges in
Erzbischof von Prag und Kardinal, sein Vater Ferdinand Bonaventura I. Graf Harrach, diente Kaiser Leopold I. wiederholt als kaiserlicher Gesandter in Spanien und beendete seine höfische Karriere als Obersthofmeister. Ein Bruder des Vizekönigs war Erzbischof von Salzburg und sein ältester Sohn Friedrich August verstarb als Oberster Kanzler des Königreichs Böhmen. Zur Geschichte der Familie allgemein siehe für das Mittelalter Gerhard Gonsa: Die Harrach im Mittelalter. Diss. phil. Wien 2005; für die Familiengeschichte in der Frühen Neuzeit u. a. Katrin Keller/Alessandro Catalano (Hrsg.), Die Diarien und Tagzettel des Kardinal Ernst Adalbert von Harrach (1598 – 1667), Bd. 1: Kommentar und Register. Wien/Köln/Weimar 2010; Heinrich Benedikt: Die Grafen Harrach. Alte und Moderne Kunst 5/4 (1960), S. 10 – 15; Otto Harrach: Rohrau. Geschichtliche Skizze der Grafschaft mit besonderer Rücksicht auf deren Besitzer, Bd. 1: 1240 – 1688. Wien 1908. Allgemein zur Familie Dietrichstein siehe Johann Baptist Georg von Hoffinger: Das fürstliche und gräfliche Haus Dietrichstein, in: Österreichische Revue 4/2 (1866), S. 1– 38, S. 47– 62; zur Biografie von Maria Ernestines Vater Philipp Siegmund Graf Dietrichstein Jiři Kubeš: Der jüngste Sohn auf Kavalierstour. Philipp Siegmund von Dietrichsteins Reise zu hohen Ämtern bei Hofe in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Bohemia 14/2 (2014), S. 319 – 347. Johann Wenzel Graf Gallas war kaiserlicher Botschafter in den Generalstaaten, am englischen Hof und in Rom. Nach Beendigung des römischen Botschafterpostens wechselte er als Vizekönig nach Neapel, verstarb aber bereits nach sechs Wochen im Amt. Er hatte 1716 Maria Ernestine Gräfin Dietrichstein, die Schwester seiner ersten Ehefrau Maria Anna geheiratet, die ihm zuerst nach Rom folgte und danach nach Neapel begleitete. Zur Biografie von Graf Gallas siehe Elisabeth Mach: Johann Wenzel Graf Gallas, kaiserlicher und königlich-spanischer Botschafter am Hof der Königin Anna von England (1705 – 1711). Diss. phil. Wien 1967; Martin Krummholz: Das Mäzenatentum des Grafen Johann Wenzel von Gallas und seine Festivitäten in Rom 1714– 1719, in: Frühneuzeit-Info 27 (2016), S. 35 – 53. Zum Aufstieg der Familie in habsburgischen Diensten allgemein Martin Krummholz: Gallasové. Barokní kavalíři a mecenáši (1630 – 1757). Diss. phil. Prag 2013. Zur Biografie von Maria Ernestine siehe Pia Wallnig: Court Lady – Ambassadress – Vicereine: The Life and Career of Maria Ernestine Countess Harrach (née Dietrichstein, widowed Gallas) 1683 – 1745 (in Vorbereitung: Gender and Diplomacy: Women and Men in European Embassies from the 15th to the 18th Century); dies.: Das Kapital der Vizekönigin: Kunst und Kulturgüter in den Harrach’schen Rechnungsbüchern, 1728 – 1733, erscheint in: Sebastian Schütze (Hrsg.), Sammler, Sammlungen, Sammlungskulturen in Wien und Mitteleuropa, Akten der Internationalen Tagung, Wien, 2017 (in Vorbereitung).
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die kaiserliche Armee eingetreten und er hatte durch seinen Cousin Carlo Conte Borromeo Arese bereits einen Amtsvorgänger aus der eigenen Familie auf dem neapolitanischen Posten.¹⁴ Seine zweite Ehefrau Teresa kam zwar aus einer lombardischen Aristokratenfamilie, konnte aber mütterlicherseits eine Herkunft aus einem Reichsterritorium und ebenfalls einen Vater und Brüder im Militärdienst des Kaisers vorweisen.¹⁵
Der vizekönigliche Hof in Neapel Von beiden Vizekönigen haben sich Aufzeichnungen nicht amtlicher Natur zu ihrem neapolitanischen Hofstaat und Haushalt erhalten, die eine detaillierte Ergänzung zu den Hofstaatskalendern bieten, vor allem für Funktionsträgerinnen und Funktionsträger in niedrigen Ämtern. Diese Dokumente sind auch deshalb so wertvolle Informationsquellen, weil der gesamte Archivbestand zur Herrschaft der Vizekönige im Archivio di stato di Napoli durch Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg schwere Verluste erlitt.¹⁶ Im Fall von Vizekönig Harrach ist das heute als Depot im Österreichischen Staatsarchiv verwahrte Herrschafts- und Familienarchiv eine außerordentlich ergiebige Quelle. Aus den finanziellen Unterlagen der neapolitanischen Jahre, die gesammelt in 14 Kartons abgelegt wurden, lässt sich nicht nur detailliert nachvollziehen, für welche Güter und Dienstleistungen am Hof Geld ausgegeben wurde, sondern man findet dort auch genaue Besoldungslisten mit Nennung des Namens und der Funktionen der einzelnen Bediensteten oft auch noch mit einer Nennung der Herkunft der Person (Abb. 1).¹⁷
Zur Biografie von Giulio Visconti Borromeo Arese siehe Cinzia Cremonini: Ritratto politico cerimoniale con figure. Carlo Borromeo Arese e Giovanni Tapia, servitore e gentiluomo. 2. Aufl. (Quaderni di Cheiron 15), Mailand 2008. Zur Geschichte der Familie Cusani, Familienzweig Chignolo, siehe Felice Calvi: Famiglie notabili Milanesi. Cenni storici e genealogici, 4 Bde. Mailand 1875 – 1885: Stammtafel X: Linea Secondogenita del Marchesi di Chignolo: Cusani. Die Biografie von Teresa Cusani Visconti wurde in keiner Publikation genauer untersucht, siehe dazu Wallnig, Vizeköniginnen, S. 70 – 166. Das Archiv hatte die wertvollsten Teile seiner Bestände ausgelagert. Dieses Depot wurde 1943 bombardiert und die dort gelagerten Archivalien vollständig zerstört. Am schlimmsten betroffen von der Zerstörung waren die Bestände Archivio Angioino und das Archivio dei Vicerè. Allgemein zur Geschichte des Archivs und der Bestände Joel Mazzoleni: Le fonti documentarie e bibliografiche dal secolo X al secolo XX conservate presso l’archivio di stato di Napoli. 2 Bde. Neapel 1974– 1978. ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 2964– Kt. 2977.
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Abb. 1: Nota delle mesate X, 1728; Wien, ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 2965.
Die penibel geführte Buchhaltung ermöglicht viele Rückschlüsse auf die Organisation des gesamten Hofes und seiner einzelnen Bereiche wie Küche, Wäscherei oder Pferdeställe. Man gewinnt einen Eindruck, welche Reparaturen durchgeführt und welche Möbel angefertigt wurden und wie kostspielig die Gartenarbeiten in der Sommerresidenz in Barra ausfielen. Wie bei so einem großen Hof zu erwarten war, wurden täglich unterschiedlichste Güter angekauft, von großen Mengen an Lebensmitteln über Stoffbahnen für die Bekleidung der Pagen
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bis zu kostbaren Wachskerzen für die hauseigene Kapelle. Abgerechnet wurde immer in der in Neapel üblichen Währung der ducati und grani ¹⁸ und dies erfolgte in unterschiedlichen zeitlichen Intervallen: von den täglich geführten Küchenrechnungen, in der alle gekauften Lebensmittel aufgelistet wurden, über Monatsabrechnungen, die alle Bereiche des Hofes betrafen bis zu Aufstellungen der Ein- und Ausgaben, die ein gesamtes Jahr umfassten.¹⁹ In diesen fanden auch die Geldgeschenke (genannt „trünckgelter“), die an hohen Feiertagen gegeben wurden, Eingang. So erhielten etwa an den Weihnachtsfeiertagen zahlreiche Bedienstete Geldgeschenke.²⁰ Durch die abgegebene Menge an Tabak an die „Mohren“ kann man auch Personen ermitteln, die sonst in keiner Liste in einer dienstlichen Verwendung aufscheinen; selbst die Tiere des Hofes fanden hier Eingang, da die Kosten für das Brot, das an Papageien und Affen verfüttert wurde, hier ebenso Niederschlag fanden wie die Summe für die Reparatur des Halsbandes des Hundes der Vizekönigin und die Reisekosten, die die Reitknechte verrechneten, wenn sie Pferde von Neapel nach Wien brachten. Die verzeichneten Trinkgelder an Bedienstete hoher Adeliger und geistlicher Würdenträger geben auch Zeugnis davon, welche Geschenke das vizekönigliche Paar zum Amtsantritt erhielten. So hatte der königliche Großkämmerer Giovanni Battista Marchese di Vasto an Vizekönigin Harrach Wildbret schicken lassen („ein present geschiket von unterschiedlichen wildbrädt“) und der Erzbischof von Neapel Kardinal Pignatelli ein nicht näher spezifiziertes Geschenk („regal“).²¹ Des Weiteren lässt sich
Zur Währung in Neapel vgl. Heinrich Benedikt: Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Eine Darstellung auf Grund bisher unbekannter Dokumente aus den österreichischen Archiven. Wien/Leipzig 1927, S. 734: „Ein neapolitanischer Gulden entsprach 10 Carlini, wobei der Carlino mit 10 Gran Silber geprägt wurde. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts galt die spanische Dublone 4 ½, die venezianische Zechine 2 ½, der österreichische Gulden einen halben neapolitanischen Dukaten“. Die täglichen Küchenabrechnungen waren meist in folgender Weise überschrieben: „Adi 19 Novembre 1729: spese di cucina et di tavola“ (ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 2966, unfol.); ein Beispiel für eine Monatsabrechnung wäre: „Monathlicher rechnungsextract über die täglichen haußeconomie ausgaben in Napoli von ersten bis letzten Septembris 1729“ (ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 2966, unfol.). Auf den gebundenen Heften der Jahresabrechnungen befinden sich oft Vermerke wie der folgende Text: „Haubtjahresrechung pro anno 1731 über die in ihro hochgräflichen excellenz herrn, herrn Aloysii reichsgrafen von Harrach vicekönig zu Neapl dahier hinterlassen haubt cassam von ersten januarii 1731 bis letzten Decembris dahin, bahr eingebracht und hinwieder zum thaill verausgabte gelter“ (ÖStA, AVA, FA Harrach, WA Bücher Ö 1800). Am Weihnachstabend 1728 bekam ein Türsteher (portiere di catena) zwei ducati, zu Neujahr 1729 die Trompeter der schweizer guarde jeweils einen ducato und am Dreikönigstag desselben Jahres die königlichen Schlosskaplane (cappellani regii) insgesamt 12 ducati 80 grani, Vgl. dazu ÖStA, AVA, FA Harrach, WA Bücher Ö 1799, S. 49 – 51. ÖStA, AVA, FA Harrach, WA Bücher Ö 1799, S. 49.
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ersehen, wie viele Personen im Haushalt mit Gewand, Schuhen und Perücken ausgestattet wurden. Die Rechnungen verzeichnen stattliche Ausgaben für große Mengen an teuren Stoffen, seidenen Strümpfen, Knöpfen, Borten für die Livreen der Pagen und der übrigen Bediensteten. Auch die Kutschen mussten immer gut in Schuss gehalten werden.²² Wichtig waren alle diese Vorbereitungen und Ausgaben für die offizielle Ausfahrt des Vizekönigs. Die heute in der Harrach’schen Gemäldegalerie in Schloss Rohrau ausgestellte dreiteilige Bilderserie der vizeköniglichen funzioni publiche von Nicola Maria Rossi gibt Zeugnis davon, wie viele Personen daran teilnahmen, wie aufwendig die Ausstattung der Kutschen und wie prunkvoll Saum- und Sattelzeug der Pferde waren. Hier sieht man auch gut die dem Anlass entsprechende prächtige Bekleidung der Hofbediensteten und der Soldaten. Ebenfalls zu Buche schlugen sich die Ausgaben für die großen kirchlichen und weltlichen Feste. So mussten etwa für die zahlreichen religiösen Verrichtungen anlässlich des dreimal jährlich zelebrierten Blutwunders des Heiligen Januarius unzählige Kerzen guter Qualität sowohl für den Palast als auch für zahlreiche Kirchen gekauft werden.²³ Auch die nur in Neapel stattfindende cuccagna, ein Volksfest, das bei fast allen Feiertagen veranstaltet wurde, verlangte zahlreiche Festaufbauten, für die neben einem eigens engagierten Festarchitekten zahlreiche Handwerker verpflichtet werden mussten. Dazu kamen noch große Mengen an Lebensmitteln und Wein, die der Vizekönig an diesem Tag für die gesamte Stadtbevölkerung bereitstellte.²⁴ In den erhaltenen Hofstaatskalendern werden die am Hof anwesenden Mitglieder der Familie des Vizekönigs aufgelistet²⁵, alle Amtsinhaberinnen und Amtsinhaber der höheren neapolitanischen Administration sowie die Würden-
Wie man aus der Korrespondenz der Familie Harrach und ihrer Bediensteten weiß, wurden einige Kutschen für den Transport von kostbaren Gütern von Napoli zurück nach Wien genützt, wie etwa für eines der Monumentalgemälde von Nicola Maria Rossi. Vgl. dazu Wallnig: Kapital. Siehe dazu etwa ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 2966, unfol.: „Extract waß an waxkertzen, windlichter und ünzlitkertzen im monath Xbris 1729 verbraucht worden“. Zur Tradition der cuccagna in Neapel allgemein siehe Gabriel Guarino: Cerimoniali e feste durante il viceregno austriaco di Napoli, in: Attilio Antonelli (Hrsg.), Ceremoniale del Viceregno austriaco di Napoli 1707– 1734. Neapel 2014, S. 69 – 82; ders.: Representing the King’s Splendour. Communication and Reception of Symbolic Forms of Power in Viceregal Naples. Manchester 2010. Im Fall von Vizekönig Harrach waren während der gesamten Amtszeit seine Ehefrau, deren Tochter aus erster Ehe, Maria Elisabeth Gräfin Gallas, und sein jüngster Sohn Ferdinand Bonaventura II. anwesend. Dazu kamen dann noch zeitweise der älterer Sohn Wenzel Leopold, der Malteserritter war, sowie seine Schwester Maria Philippine Gräfin Thun mit ihren Kindern. Vizekönig Giulio Visconti Conte Borromeo Arese wurde ebenfalls von seiner Frau Teresa begleitet und von der gemeinsamen Tochter Maria Elisabetta. Seine aus erster Ehe stammende Tochter Paola war bereits erwachsen und verheiratet.
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träger des vizekönigliche Hofes; etwa die Hofdamen der Vizekönigin, die Offiziere der Leibwache (capitani di guardia), die Regenten des Kollaterals – diese Institution führte auch interimistisch die Regentschaft, wenn ein Vizekönig plötzlich verstarb oder überraschend abberufen wurde – und die jeweiligen Staats- und Kriegssekretäre, die die wichtigsten politischen Ratgeber des Vizekönigs waren.²⁶ Im Gegensatz zu den Hofstaatskalendern geben die in den Privatarchiven erhaltenen Abrechnungen und Lohnlisten Auskunft über alle FunktionsträgerInnen des Hofes, die für ihre Arbeit entlohnt wurden, von der Leibwäscherin der vizeköniglichen Kinder bis zum Sekretär des Vizekönigs, während in den Hofstaatsaufzeichnungen nur die oberen Chargen aufgelistet wurden. In den monatlichen Abrechnungen wurden zwar nicht immer die Namen der Bediensteten genannt, wohl aber ihre Funktion und ihre Bezahlung aufgeführt. Diese Aufstellungen sind fast vollständig für die gesamte Amtszeit von Vizekönig Harrach erhalten.²⁷ Da die Aufzeichnungen sich zwar sehr stark ähneln, aber nicht deckungsgleich sind, kann man durch die Auswertung mehrerer Monate sehr viele Informationen über die vizekönigliche famiglia gewinnen, sowohl über die vorhandenen Posten, als auch über einzelne Personen die namentlich genannt werden.²⁸ Die Aufstellungen folgten mit geringen Abweichungen in etwa dem in Folge beschriebenen Schema. An erster Stelle standen immer die gentiluomini, der engste Stab an Bediensteten des Vizekönigs. Diese waren zum Teil adelig beziehungsweise gehörten dem geistlichen Stand an. Sie erhielten dementsprechend auch die höchste Bezahlung. Der primo gentiluomo während der gesamten Amtszeit von Vizekönig Harrach und auch noch bei seinem Nachfolger Visconti war Baron Wildenheimb. Er bekam 24 Dukaten, die übrigen zehn gentiluomini erhielten 20 Dukaten monatlich.²⁹ Die Pagen wurden entsprechend ihres Alters
In der Nationalbibliothek Neapel wird eine große Serie der gedruckten Hofstaatsverzeichnisse aufbewahrt. Aus der österreichischen Zeit erhalten sind sie für die Jahre 1724, 1726, 1727, 1729, 1730, 1731 und 1733. Auf der Titelseite findet sich meist die Angabe: „Discorso istorico o sia notiziario“. Überschrieben sind sie meist mit: „Nota delle mesate della famiglia si S. E. il Signore Vice Rè per tutto il mese […]“ oder „Rollo delle mesate della famiglia di S. E. Signore Vice Rè da mese di […]“. Vgl. dazu etwa ÖStA, AVA, FA Harrach Kt. 2965, 2966 und 2977. Auch die Namensschreibung variierte immer wieder, was wohl damit zusammenhing, dass sie meist von Harrachs Sekretär Christian Cron vorgenommen wurde, der mit dem Vizekönig aus Wien mitgekommen und mit den italienischen und spanischen Namen und Termini nicht vertraut war. Die Anzahl von 11 bzw. 12 gentiluomini veränderte sich während der gesamten Amtszeit nicht. Namentlich aufgeführt wurden im Dezember 1728, kurz nach Amtsantritt des Vizekönigs, folgende Funktionsträger: „Signore Barone de Wildenheimb/Signore de Cron, intendente/Signore de Domenicis, segretario italiano/Signore de Fichtl, segretario tedesco/Signore de Villaluenga/Signore de Spreng/Signore d’Onofrio/Signore de Catti/Signore Abbate Bravi/Signore Abbate Ber-
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und ihrer Tätigkeit mit jeweils vier Dukaten bezahlt, aus ihren Namen lässt sich ablesen, dass auch Kinder von erbländisch-böhmischen Adeligen am neapolitanischen Hof dienten. Danach folgten die Maestri des Haushaltes, der Hofmeister (maggiordomo) und der Instruktor der Pagen (instruttore), der Sprachlehrer (maestro di lingua), der Tanzlehrer (maestro di ballo) und der Fechtlehrer (maestro di scerma) sowie der Arzt (medico di famiglia) und ein Krankenpfleger (infiermero). Weitere Bedienstete des Hofstaates waren diejenigen, die sich um den Speisesaal und die Bedienung bei Tisch kümmerten wie ajutanti di camera, confetturiere, bottigliere und ihre Helfer. Schließlich gab es die Kanzlisten und anderes administratives Personal, etwa den maestro di cassa, den cancellista und den scrivano della dispesa. Es folgte das Küchenpersonal: Die Köche wurden namentlich aufgezählt, an der Spitze der Chefkoch Zacharias Schubert sowie weitere nicht namentlich genannte Hilfskräfte. Darauf folgten die direkt im Dienst des Vizekönigs und der Vizekönigin stehenden Bediensteten (beide hatten einen eigenen Schneider und einen Türsteher sowie eigene Kapläne), ebenso die Leibgarde und die Hofmusiker. Der vizekönigliche Marstall war personell sehr umfangreich: Neben einer großen Anzahl an Reit- und Stallknechten und zahlreichen Kutschern schienen auch Schmiede und weiteren Handwerker auf, die sich um Reparaturen an Zaumzeugen, Sätteln und Ähnlichem sowie die Instandhaltung der Kutschen kümmerten. Ganz am Schluss folgten weitere Personen, die keiner größeren Gruppe zugerechnet werden konnten wie der Lampenanzünder (partitario delle lampade) oder der Zuständige für Hostien und Messwein. Interessant ist bei den Harrach’schen Rechnungsbüchern auch der gleichzeitige Gebrauch der italienischen und der deutschen Sprache. Bei den Besoldungslisten wechselte die Sprache ohne erkennbares Muster, gewisse Funktionsbezeichnungen wurden dafür nur italienisch vermerkt.³⁰ Die Vornamen wurden romanisiert, die Nachnamen blieben unverändert und lassen daher die Herkunft der Personen erkennen. So waren mehrere Köche, unter anderem auch der Chefkoch, offensichtlich aus Wien mitgenommen worden.³¹ Bei Abrechnungen wurde auch in einigen Fällen den Handwerkern die Bezeichnung teutsch oder wällisch angefügt, möglicherweise auch um zwischen mitgenommenen und
tini/Signore d‘Alfieri.“ Vgl. dazu ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 2965, unfol.: „Nota delle mesate della famiglia di sua ecellenza il signore vicerè padrone per tutto il mese di dicembre 1728.“ So wird immer gentiluomo (in unterschiedlichsten Schreibweisen) geschrieben, möglicherweise auch, weil es keine ganz präzise Übersetzung ins Deutsche gab. Der Name des Chefkochs lautete Zacharias Schubert, danach wurden aufgeführt Giovanne (sic) Giorgo Wolff und Martino Semerau. Vgl. dazu etwa ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 2965, unfol.: „Rollo del mesate di mese Aprilis.“
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ortsansässigen Handwerkern zu unterscheiden. Bei einigen Wäscherinnen ergänzte man tedesca oder napoletana. ³² Besonders aussagekräftig für die Herkunft und Biografie einzelner Personen sowie den Wechsel von Funktionsträgern rund um die Neubesetzung des vizeköniglichen Amts ist eine Sammlung von Schriftstücken – heute im sogenannten Codice Morbio in der Biblioteca Braidense verwahrt – die alle mit der Thematik Hofstaat und Zeremoniell in Verbindung stehen und offensichtlich von jemandem aus dem Umkreis von Vizekönig Visconti gezielt zusammengetragen wurden.³³ Darunter befindet sich eine Liste, in der das Personal des vizeköniglichen Hofes nach seiner Präferenz für eine Rückkehr nach Germania – im Gegensatz zu einem Verbleib in Neapel und mit einer Empfehlung für den neuen Vizekönig versehen – aufgelistet wird. Es finden sich auch kurze Vermerke über die Dauer der Tätigkeit und vorherige Posten. So wird die bereits laut der „Economierechnung“ von 1729 aus Wien stammende Silberwäscherin 1733 in der Liste von Vizekönig Visconti wieder namentlich und mit der Beifügung tedesca erwähnt – im Gegensatz zur Wäscherin des Vizekönigs, die als napoletana ausgewiesen wird. Im unmittelbaren Vergleich der Listen lassen sich für einzelne Personen ihre Karrierewege zumindest teilweise rekonstruieren. Der immer an erster Stelle geführte primo gentiluomo Johann Baron Wildenheimb wollte in dieser Funktion auch von Vizekönig Visconti übernommen werden. Er war bereits als Haushofmeister im Dienst der Vizekönigin Maria Ernestine gestanden und wurde dann maestro di camera von Vizekönigin Teresa Cusani Visconti. Wildenheimb erscheint auch in den Korrespondenzen des Harrach-Archivs. Daraus lässt sich ersehen, dass er bereits ein Klient von Harrachs Vorvorgänger Kardinal Althann gewesen war, der seine Aufnahme in den Dienst der Harrachs vermittelte. Wildenheimb verblieb dort insgesamt zwölf Jahre. Nach dem Ende der österreichischen Herrschaft in Neapel zog er nach Mailand weiter, von wo aus er sich 1738 brieflich an seine frühere Dienstgeberin Maria Ernestine Harrach wandte und sie bat, sich für ihn bei dem zu dieser Zeit amtierenden Statthalter Otto Ferdinand
Im Falle einer Silberwäscherin wurde explizit vermerkt, dass sie aus Wien mitgenommen worden war: ÖStA, AVA, FA Harrach, WA Bücher Ö 1799: Economierechnung Dezember 1728– Dezember 1729, S. 90: „[…] so von Wien mit anhero gekommen […]“; bei anderen Personen wurde mit der Bezeichnung napoletana auf die autochthone Herkunft hingewiesen: „lavandara di S. E. Angela Pastora, napolitana“ (BNB, Codice Morbio 92, Miscellanea epistolaria 242, unfol.). BNB, Codice Morbio 92, Miscellanea epistolaria 242, unfol. Leider ist kein Familienarchiv Visconti für diesen Familienzweig und diese Zeit erhalten. Die Sammlung in der Biblioteca Braidense stellt daher ein singuläres Zeugnis dar, wobei aber keine Informationen vorhanden sind, von wem und wann diese Dokumentensammlung angelegt wurde.
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Graf Traun (1677– 1748) einzusetzen.³⁴ Auch die anderen gentiluomini tauchen in der Liste des Codice Morbio wieder auf. Dort ist vermerkt, dass insgesamt drei von ihnen bei Vizekönig Visconti verbleiben wollten, während die übrigen neun mit Vizekönig Harrach zurückkehrten. Neben Baron Wildenheimb wechselten auch Agostino de Cato und Francesco Alfieri zu Visconti. Agostino de Cato wurde gleich nach Amtsantritt des neuen Vizekönigs in einen zeremoniellen Vorfall mit dem Nuntius und dem venezianischen Gesandten verwickelt.³⁵ Von den übrigen neun gentiluomini stammten zwei aus dem engsten Umfeld von Vizekönig Harrach, Christian Cron und Franz Fichtl. Sie waren bereits in Wien mit der Güterverwaltung und der Führung des Haushaltes betraut gewesen. Cron trat als Schreiber in die Dienste der Harrachs, wurde dann Haushofmeister und begleitete den neuernannten Vizekönig nach Neapel, wo er für alle Hauptabrechnungen verantwortlich war.³⁶ Daher wird er in den Besoldungslisten oft als intendete tituliert. Fichtl war Harrachs segretario tedesco und Rechnungsführer. Cron und Fichtl kehrten beide mit dem Ehepaar Harrach nach Wien zurück und verblieben im Dienst der Familie. Andere Bedienstete wie etwa Niccola Pozzo, der Arzt der vizeköniglichen famiglia, Sabatino Rossi, der Türsteher der Vizekönigin, oder ihr Hofkaplan Giuseppe Avosani aus Modena führten ihre langjährigen Tätigkeiten am Hof ins Treffen und waren wohl wegen ihrer Herkunft und Dienstanciennität am Verbleib in ihren Funktionen interessiert. Gerade Sabatino Rossi wies darauf hin, dass er allen österreichischen Vizeköniginnen gedient hatte und decano Avosani blickte bereits auf 34 Dienstjahre im Dienst der österreichische Habsburger zurück; zuerst in Rom und dann in Neapel, wo er unter den Vizekönigen Gallas, Althann und Joaquín Fernández Portocarrero (1681– 1760) gewirkt hatte, bevor er in den Dienst von Vizekönigin Maria Ernestine trat.³⁷ Aber nicht nur von der Apenninenhalbinsel stammendes Hofpersonal wollte vom neuen Vizekönig übernommen werden. Deutlich erkennbar aus den Aufstellungen des Codice Morbio ist, dass sich
Vergleiche dafür die Briefe von Johann Freiherr von Wildenheimb an Maria Ernestine Gräfin Harrach vom 22.06.1733 (Wien), 15.12.1733 (Neapel), 29.11.1737 (Mailand), 25.05.1738 (Mailand), 18.12.1739 (Mailand), in ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 112.87 unfol. Drei Schilderungen dieses Vorfalls, die nicht deckungsgleich sind, finden sich ebenfalls in der Dokumentensammlung des Codice Morbio. Verfasser dieser Schreiben waren der Maestro di camera der Vizekönigin Visconti, Johann Baron Wildenheimb, der Maestro di cerimonie Francesco Grimaldi und Agostino Cato, gentiluomo des Vizekönigs. S. BNB, Codice Morbio 92, Miscellanea epistolaria 242, unfol. Siehe dazu auch Wallnig, Kapital. Sowohl von Giuseppe Avosani wie auch von Sabatino Rossi sind in der Dokumentensammlung des Codice Morbio eigenhändige Suppliken aufbewahrt (BNB, Codice Morbio 92, Miscellanea epistolaria 242, unfol.).
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gerade bei den niedrigeren Funktionsträgern wie etwa beim Stall- oder Küchenpersonal aber auch bei der Leibgarde viele mit Vizekönig Harrach mitgekommene Personen für den Verbleib in Neapel entschieden.³⁸ Eine etwas andere Karriereentwicklung ergab sich beim vizeköniglichen Chefkoch Zacharias Schubert, der während der gesamten Amtszeit von Vizekönig Harrach der Küche vorstand. Er kehrte mit Haushofmeister Christian Cron nach Wien zurück. Dieser reiste bereits acht Monate vor dem Vizekönig in die Heimat ab, übernahm dann dort die von Neapel nach Wien geschickten Güter und kümmerte sich in Absprache mit dem Bruder des Vizekönigs um die Aufstellung der Möbel und Bilder im neuerrichteten Palais auf der Freyung. Seine detaillierten Briefe an den Vizekönig aus dieser Zeit bieten ein genaues Bild über den Güterund Personaltransfer von Neapel zurück nach Wien, und aus dieser Korrespondenz lassen sich auch die weiteren Lebenswege des niederen Hofpersonals verfolgen. Im Fall des Kochs hatte Cron offensichtlich bereits in Neapel detaillierte Anweisung der Vizekönigin erhalten, wie er mit diesem in Wien zu verfahren hatte. Denn im Oktober 1732 berichtete er seinem Dienstherrn, dass er auf Anweisung der Vizekönigin Maria Ernestine Zacharias Schubert an ihre Verwandte Gräfin Dietrichstein weitervermittelt hatte, da sie mit seinen Kochkünsten unzufrieden war.³⁹ Gleichzeitig wurden auch noch ein Zuckerbäcker und weiterer Küchenbediensteter in den Dienst der Dietrichsteins gestellt. Cron gab in seinem Brief sehr detailgenau und in direkter Rede sein Zusammentreffen mit der Gräfin Dietrichstein wieder, die etwas erstaunt ob diese Personaltransfers war und sich nach dem Grund erkundigte, worüber Cron aber in Loyalität gegenüber seinem Dienstherrn nicht Auskunft geben wollte. Er berichtete seinem Patron aber dann auch genau wie die Sache ausgegangen war, und man ersieht aus diesem Bericht
Dies ist aus den Listen des Codice Morbio an den Nachnamen gut ersichtlich. So wünschten beim Stallpersonal bei den cavalcanti di mute Mattia Erdbaumer, Martino Sláma und Daniele Draschner zu bleiben, bei den Husaren Francesco Meywald, Steffano Mitterlehner und Simone Zeiller (BNB, Codice Morbio 92, Miscellanea epistolaria 242, unfol.). Christian Cron berichtete seinem Dienstherrn am 18. Oktober über diesen Vorgang. Aus seinem Schreiben geht auch hervor, dass die Gräfin Dietrichstein etwas erstaunt über diese Anliegen war und Cron sich nicht über seine Dienstherrin äußern wollte. Vgl. dazu Christian Cron an Aloys Thomas Raimund Graf Harrach, 18. Oktober 1732 (ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 64, unfol.): „Denen dimittierten bedienten habe allen recommendation versprochen, der zuckerbacher und Zacharias haben sich bei ihro excellenz etc. frau Philippin von Diedrichstein beschwehret, welche mich auch hatt ruffen laßen und befraget warumb der Zacharias (so sonst der beste koch gewehsen) in Napoli nicht nach ihro excellenz frau vicekönigin gusto hatte kochen können? Der ich in submiss. geantwortet, daß ich es nicht wüste, doch könnte seyn, daß ihro excellenz verschiedenes auskreinen [= ausschelten], mehr als ihro excellenz frau vicekönigin ihre admonirung würden gewürcket haben.“
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nicht zuletzt, dass es allen beteiligten Parteien ein Anliegen war, einen langjährigen Bediensteten nicht unversorgt zu lassen. Die Gräfin Dietrichstein dagegen wollte ihrer älteren und im Rang über ihr stehenden Verwandten, von der sich wohl nach deren Rückkehr an den Wiener Hof Protektion erwartete, nichts abschlagen. Zacharias Schubert und seine Frau, ebenfalls eine langjährige Bedienstete der Harrachs, wurden nach Linz in einen Haushalt der Familie Khevenhüller geschickt. Aus dem erwähnten Brief von Cristian Cron erfährt man noch ein weiteres interessantes Detail des Gütertransfers nach Wien. Zacharias Schubert hatte aus Neapel eine Ziege und Perlhühner mitgenommen, weil er fürchtete, dass ihm und den Seinen auf der Schiffreise nach Triest der Proviant ausgehen könnte. Doch alle Tiere überlebten die Reise und wurden nach Schloß Prugg in die dortige Landwirtschaft überstellt. Da sich inzwischen herausgestellt hatte, dass die Ziege auch noch trächtig war, war Cron außerordentlich erfreut über den Zuwachs der Nutztiere in der Harrach’schen Güterverwaltung.⁴⁰ Aus dem Brief lässt sich auch schließen, dass die Besoldung des Personals in Neapel höher gewesen war, aber bei der Rückkehr nach Wien wieder auf den vorherigen Tarif reduziert wurde, was nicht alle Betroffenen akzeptierten und ankündigten, sich mit diesem Problem brieflich an den Vizekönig zu wenden.⁴¹ Auch das Frauenzimmer der Vizekönigin wurde für die Erlangung von Vorteilen in Wien genutzt. Eine der Kammerjungfern der Vizekönigin namens Eleonore Premitschin, war die Schwester eines Sekretärs des Grafen Starhemberg und trug damit aufgrund dieser Beziehung dazu bei, dass die Harrachs die Mautabgaben für ihre neapolitanischen und für Wien gedachten Erwerbungen geringhalten konnten. Das kann man aus einem Brief von Feldmarschall Johann Joseph Philipp Graf Harrach (1678 – 1764) an seinen Bruder Aloys Thomas Raimund ablesen. Letzterer schickte im März 1731 20 Kisten mit verschiedensten Gütern, unter anderem Gemälden, Büchern und Porzellan. Feldmarschall Johann Josef nahm die Fracht in Wien in Empfang und schrieb dem Bruder zufrieden nach Neapel,
Vgl. dazu Christian Cron an Aloys Thomas Raimund Graf Harrach, 18. Oktober 1732 (ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 64, unfol.): „Der Zacharias hat einen turinischen steinbock und geiß (so vorm jahr ihro excellenz frau vicekönigin geschenket gewesen seyn sollen) und einen perlhaanen mit auff den schiff gehabt, in meinung wann seine mitgenommene provision nicht klenken würde, solche abzudödten, welche ich auch glücklich mit anhero gebracht und auff Prugg abgeschicket habe, die geiß zeiget sich tragend zu seyn, mithin dörfften solche wohl aldah junge machen.“ „Dieser nebst dem unterkoch und zuckerbacher, haben alhier von mir ihre monathliche besoldung (wie sie in Napoli gehabt) pretendieret, nachdem ich ihnen aber bedeutet, daß es euer excellenz gnedigster befehl wäre daß ich nur den Meichsener oberkoch und zuckerbacher (auß besondren gnaden ihro excellenz) die besoldung, so sie in Wienn gehabt hätten, zahlen dörffte, haben jene acquiescirt, der unterkoch aber bleibt nach darbey, als wann ich ihm seine besoldung verhielte, und würde deßweg an eure excellenz ein memoriale nacher Napoli abschicken.“
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dass es ihm gelungen sei, die Mautabgaben gering zu halten, und zwar mit Hilfe des Bruders der oben genannten Eleonore Premitschin.⁴² Die Vizekönigin hatte soweit ersichtlich sowohl bei ihren Hofdamen wie bei ihrem Hofstaat dafür Sorge getragen, dass er aus Personen bestand, die ihr vertraut waren und die sie mitgebracht hatte. Neben der bereits erwähnten Hofdame Anna Maurizia Gräfin Halleweil, die, soweit aus den im Familienarchiv Harrach verwahrten Korrespondenzen ersichtlich ist, eine entfernte Verwandte war⁴³, sowie den drei Kammerjungfrauen, gehörten auch noch zwei Stubenmädchen, eine Wäscherin, eine Silberwäscherin sowie zwei weitere Frauen für die niederen Arbeiten dazu.⁴⁴ Auch ihre Tochter Elisabeth Gräfin Gallas begleitete die Mutter nach Neapel, wo sie dann gemeinsam mit ihrem Stiefbruder und späteren Ehemann Ferdinand Bonaventura II. (1708 – 1778) vom Abbé Jean Marci unterrichtet wurde.⁴⁵ Und auch Feldmarschall Johann Joseph Graf Harrach hielt sich während der Amtszeit seines Bruders Aloys Thomas Raimund in Wien auf und pflegte in Abwesenheit des Familienoberhauptes auch die Kontakte der Familie zum kaiserlichen Hof. Weiters trug er Sorge für die in Wien verortete Harrach’sche Hauptkassa, überwachte in enger brieflichen Absprache mit dem älteren Bruder die familiären Bautätigkeiten und kümmerte sich um die aus Neapel eintreffenden Güter. Bei Letzteren war er ganz offensichtlich bestrebt, die Mautabgaben gering zu halten und bediente sich dazu des familiären Netzwerkes, wozu auch die am neapolitanisch Hof tätigen Personen dienten. Siehe zu den Mautabgaben Benedikt, Königreich, S. 615 und ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 78 unfol. Zu seinen Lebensdaten siehe: Harrach, Johann Josef Philipp Graf von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd120740249.html (18.07. 2019). Seine Bedeutung im Rahmen des Harrachschen Familiennetzwerkes wurde in einem von 2016 bis 2018 laufende FWF-Projekt mit dem Titel: „Entwicklung von Maria Theresias Beraternetzwerk“ (1740 – 1748) (M 2060 Meitner-Programm) von Klaas van Gelder untersucht. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine entfernte Verwandte: Maria Franziska Gräfin Harrach, die aus der älteren Rohrauer Linie der Familie Harrach stammte, hatte in zweiter Ehe Wenzel Felix Graf Hallweil geheiratet. Aus den im FA Harrach erhaltenen Korrespondenzen von Maria Franziska Gräfin Hallweil der Jahre 1723 bis 1734 und des Militärs Franz Graf Hallweil (1730, 1735) lassen sich jedoch keine Informationen zu Anna Maria gewinnen. ÖStA, AVA, FA Harrach, WA Bücher Ö 1799, S. 90: Economierechnung Dezember 1728–Dezember 1729: „Erste Kammerjungfrau Rosina Schönin/2. Jungfer Eleonore Premitschin/3. Cammerjungfer Cristina Morin/1. Stubenmentsch Mirdl/2. Stubenmentsch Anna Mirdl/Silber Wäscherin/Der ersten Leibwäscherin/Dem Wäscher Mentschen/1. Prechtlweib“. Siehe zur Biografie des Abbé Marci seiner Tätigkeit bei der Familie Harrach Elisabeth GarmsCornides: Hofmeister auf „Grand Tour“, in: Rainer Babel/Werner Paravicini (Hrsg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000. Ostfildern 2005, S. 269 – 272. Zur Eheschließung von Maria Elisabeth Gräfin Gallas und Ferdinand Bonaventura II. Graf Harrach dies.: „On n’a qu’a vouloir, et tout est possible“, oder: i bin halt wer i bin. Eine Gebrauchsanweisung für den Wiener Hof, geschrieben von Friedrich August Harrach für seinen Bruder Ferdinand Bonaventura, in: Gabriele Haug-Moritz/Hans-Peter Hye/Marlies Raffler (Hrsg.), Adel im ’langen’ 18. Jahrhundert. Wien 2009, S. 89 – 111.
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die älteste Tochter des Vizekönigs, die verwitwete Maria Philippine Gräfin Lamberg, kam in Begleitung ihres Sohnes zu einem längeren Aufenthalt an den Hof. Aus den Briefen von Vizekönigin Maria Ernestine Gräfin Harrach an ihren Stiefsohn Friedrich August Graf Harrach kann man ersehen, dass die beiden Frauen sich in der Faschingssaison gemeinsam um die Einladungen und Besuchsverpflichtungen kümmerten, die die Vizekönigin zu erfüllen hatte. Durch den gerade in der Faschingssaison regen Kontakt mit den ortsansässigen Adelsfamilien stand sogar für kurze Zeit ein Eheprojekt zwischen Maria Philippine und dem kaiserlichen Feldmarschall Giovanni Carafa im Raum, das sich dann aber wieder zerschlug.⁴⁶ Vizekönigin Teresa Cusani Visconti hatte soweit feststellbar keine Hofdame, ließ sich aber des Öfteren von ihrer Tochter Elisabetta bei offiziellen Anlässen begleiten. Auch sie dürfte ihre engsten Bediensteten nach Neapel mitgebracht haben. Dies lässt sich indirekt durch die Korrespondenz ihres Ehemannes erschließen. Vizekönig Visconti hatte Ehefrau und Tochter aus Furcht vor den beginnenden Kriegshandlungen fortgeschickt und die beiden fanden Unterschlupf in einem römischen Kloster. Visconti berichtete nach Wien an den Sekretär der Universalexpedition Ramon Vilana Perlas Marquis de Rialp, dass seine Frau gezwungen sei, Schmuckstücke zu verkaufen um „ihren Unterhalt zu bestreiten und die Dienerschaft zu ernähren“⁴⁷.
Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Zusammensetzung des Hofstaates des vizeköniglichen Hofes in Neapel in der österreichischen Zeit die unterschiedliche Herkunft der vizeköniglichen Paare und die geografische Ausdehnung der werdenden Monarchia Austriaca widerspiegelte. Zugleich standen langdienende lokale Funktionsträger neben mitgereisten Bediensteten im Gefolge des jeweiligen Vizekönigs: Der Zeremonienmeister (maestro di ceremonie) repräsentierte dabei, gewissermaßen als ein Pol des Spektrums,Wissen um die lokalen Gepflogenheiten, während etwa Haushofmeister und Sekretäre in ihrer Verpflichtung auf die jeweilige Familie, nicht so sehr im Hinblick auf das ausgefüllte Amt, sichtbar werden.
Vgl. dazu Maria Ernestine Gräfin Harrach an Friedrich August Graf Harrach, 7 Februar 1730 (ÖStA, AVA, FA Harrach, Kt. 533, unfol.): „[…] giebe ihm parte das er vielleicht ein schwager bekumben würt, das ist der feltmarschall Carafa, dan es geht recht starck schon an, ich habe ihr gesagt, das böste das er ernst [?] gelt zu wienn ihn stattbanco hatt.“ Benedikt, Königreich, S. 511.
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Solch eine Konfiguration prägte sicher auch die anderen Stellvertreter-Höfe dieser Zeit, die ja im Gegensatz zu Neapel viel länger bei den österreichischen Habsburgern verblieben. Freilich stellte die Herrschaft über das süditalienische Königreich insofern einen Sonderfall dar, als man hier einen relativ großen Hof mit einer langen königlichen Tradition übernahm, dort aber eben kein Mitglied der eigenen Dynastie als alter ego des fernen Herrschers in Wien einsetzte, sondern einen Amtsträger, dessen Aufenthalt auch noch zeitlich begrenzt war, und der bestrebt war, den neapolitanischen Aufenthalt als Sprungbrett für ein hochdotiertes Amt am Kaiserhof zu nützen. Von Interesse wäre nicht bloß ein Vergleich zwischen diesen Höfen, und somit die Frage, inwiefern die geschilderte Konstellation typisch für Stellvertreterhöfe ist; interessant wäre auch die Frage, wie ein solcher Hof auf ein Ereignis wie einen Dynastiewechsel reagierte – etwa jenen, der Neapel 1734 ereilte. Interessant ist diese „dritte und vierte Reihe“ an Hofbediensteten freilich in jedem Fall. Da die hochadeligen Amtsträger in einer Art „Ämter-Karussell“ zwischen diesen Posten wechselten, führte dies dazu, dass eben auch ihr Personal an verschiedenen höfischen Dienstorten tätig war und ebenso wie ihre „Arbeitgeber“ ihren geografischen und kulturellen Horizont erweiterte und möglicherweise – hier fehlen freilich die Quellen – bei ihrer Rückkehr nach Wien ebenfalls Güter und Ideen transferierte.⁴⁸ Ein Vergleich der Hofstaaten aller drei Stellvertreter-Herrschaften der Habsburgermonarchie des frühen 18. Jahrhunderts unter Einbeziehung des Wiener Hofes, der ja bereits gut erforscht ist, und mit Blick auf ihre jeweilige Zusammensetzung, wäre also sicherlich eine lohnende Aufgabe.
Auch beide Vizekönige wechselten nach ihrer Amtszeit in Neapel auf hochdotierte und angesehene Posten des Wiener Hofes: Graf Harrach wurde Rat in der Geheimen Staatskonferenz, der Posten, den er sich erhofft hatte. Conte Visconti, der ja bereits als Obersthofmeister der Erzherzogin Elisabeth nach Neapel übersiedelt war, wurde 1736 zum Obersthofmeister von Kaiserin Elisabeth Christine bestellt, legte diese Funktion aber bereits zwei Jahre später nieder – wohl wegen seines hohen Alters von 74 Jahren – und verbrachte seinen Lebensabend auf den Familiengütern in der Lombardei. Graf Harrachs Sohn Friedrich August folgte dafür Visconti auf den Posten in Brüssel nach und wie man aus Briefen seines Vaters weiß, hoffte dieser ihn ebenfalls als Vizekönig in Neapel zu sehen, was dann aufgrund des Verlustes des Königreichs nicht mehr möglich war.Vgl. dazu auch Garms-Cornides, „On n’a qu’a vouloir, et tout est possible“, S. 89 – 90.
Teil III: Herrschaftspraxis
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Formen der politischen Kommunikation am Beispiel des ungarischen Landtags 1722/1723 Die Ergebnisse und die wissenschaftliche Diskussion bezüglich einer „Kulturgeschichte des Politischen“, die Anfang des neuen Jahrtausends in der deutschsprachigen Historiographie eine beachtliche Anzahl von Publikationen generiert hatten¹, fanden auch in der ungarischen Geschichtsschreibung ihren Niederschlag. Forscher der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts versuchen mit solchen Methoden das politische Leben des ehemaligen Königreichs Ungarn zu erschließen und die Beweggründe der ständischen Politik besser zu verstehen.² Dabei kommen auch hier die Zeremonien v. a. die Krönungen, Trauerfeier, Hochzeiten u. Ä. ins Spiel.³ Wolfgang Reinhard und Birgit Emich betonen in der deutschsprachigen Diskussion, dass eine Kulturgeschichte des Politischen nicht nur in Bezug auf die
Dieser Beitrag wurde mit der Unterstützung des János-Bolyai-Forschungsstipendiums der Ungarischen Akademie der Wissenschaften fertiggestellt. Siehe u. a. die Beiträge in Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (ZHF, Beiheft 35) Berlin 2005. Zwei Beispiele: András Cieger: Mindennapok a Tisztelt Házban: A nagypolitika társadalomtörténete (1865 – 1918) [Alltag im Parlament. Die Gesellschaftsgeschichte der Großpolitik, 1865 – 1918], in: Tamás Dobszay u. a. (Hrsg.), Rendiség és parlamentarizmus Magyarországon. A kezdetektől 1918-ig. Budapest 2014, S. 405 – 419; M. István Szijártó: Der ungarische Landtag und seine Entscheidungsprozeduren im 18. Jahrhundert. Von der Institutionsgeschichte zur Kulturgeschichte: Methodologische Überlegungen, in: Krisztián Csaplár-Degovics/István Fazekas (Hrsg.), Geteilt Vereinigt. Beiträge zur Geschichte des Königreichs Ungarn in der Frühneuzeit (16 – 18. Jahrhundert). Berlin 2011, S. 356– 368. Fanni Hende: A magyar uralkodókoronázás egyházi szertartása a 18. században [Die kirchliche Zeremonie der ungarischen Königskrönung im 18. Jahrhundert], in: Orsolya Báthory/Franciska Kónya (Hrsg.), Egyház és reprezentáció a régi Magyarországon. Budapest 2016, S. 121– 131; Zsolt Kökényesi: Mise és presztízs. A magyar főpapok jelenléte és reprezentációja a bécsi udvarban 1711 és 1765 között [Messe und Prestige. Die Anwesenheit und Repräsentation ungarischer Prälaten am Wiener Hof zwischen 1711 und 1765], in: Századok 149 (2015), S. 905 – 939; Géza Pálffy: A Szent Korona hazatér. A magyar korona tizenegy külföldi útja (1205 – 1978) [Die Heimkehr der Heiligen Krone. Elf Auslandsreisen der ungarischen Krone]. Budapest 2019; Ders./Csaba Tóth/Ferenc Gábor Soltész: Coronatio Hungarica in Nummis. Medals and Jetons from Hungarian Royal Coronations (1508 – 1916). Budapest 2019. https://doi.org/10.1515/9783110670561-011
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feierlichen Anlässe, sondern auch im „grauen Alltag“ des politischen Lebens untersucht werden sollte, mit anderen Worten wäre also der politischen Kultur des Zeitalters Aufmerksamkeit zu schenken.⁴ Unter diesem Begriff verstehen sie nach Christian Fenner ein System von niedergeschriebenen und mündlich tradierten Codes, die für die Gesellschaft die politischen Interkationen regeln.⁵ Es ist wichtig zu erwähnen, dass es in diesem Sinne also keine „gute“ und „schlechte“ politische Kultur gibt, sondern nur unterschiedliche Formen der politischen Kommunikation. Reinhard betont auch, dass eine politische Kultur im Prozess der politischen Handlungen entstanden ist, wenn wir also die politische Kultur verstehen wollen, müssen wir die politische Praxis näher untersuchen.⁶ Die Erforschung der politischen Kultur der Frühen Neuzeit befindet sich innerhalb der ungarischen Historiographie in einer ähnlich günstigen Lage, wie in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung. Die grundlegenden Forschungsergebnisse der sogenannten „alten Politikgeschichte“ sind nämlich vorhanden. In den vorigen Jahrzehnten sind wichtige Studien bezüglich der Wirkungsmechanismen der ständischen Institutionen – Hofbehörden, Gerichtstafeln und die für den vorliegenden Beitrag besonders wichtigen Landtage – publiziert worden, so kann sich die aktuelle Forschung auf die Mechanismen der politischen Interaktionen fokussieren.⁷
Wolfgang Reinhard: Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 593 – 616; Birgit Emich: Frühneuzeitliche Staatsbildung und politische Kultur. Für die Veralltäglichung eines Konzepts, in: Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Kulturgeschichte, S. 191– 205. Christian Fenner: Politische Kultur, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, 3. Aufl. München/Zürich 1995, S. 565 – 571, hier 565. Reinhard, Politische Kultur, S. 593 – 616. Siehe u. a. die zuletzt erschienenen Publikationen: György Bónis: Beiträge zur Ungarischen Rechtsgeschichte, 1000 – 1848. Ein Sammelband von Nachdrucken, hrsg. v. Elemér Balogh. Budapest 2018; János Kalmár: Die Commissio Neoacquistica, in: Michael Hochedlinger/Petr Maťa/ Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen, Bd. 1/1 (MIÖG Erg.-Bd. 62). Wien 2019, S. 509 – 515; Ders.: Die Hofstaaten der Thronfolger im 18. Jahrhundert, in: ebd., S. 258 – 264; M. István Szijártó: A diéta. A magyar rendek és az országgyűlés, 1708 – 1792 [Die Diaeta. Die ungarischen Stände und der Landtag, 1708 – 1792]. Keszthely 2010; Ders.: The Diet. The Estates and the Parliament of Hungary, 1708 – 1792, in: Gerhard Ammerer/William, D Godsey Jr./Martin Scheutz/Peter Urbanitsch/Alfred, Stefan Weiss (Hrsg.), Bündnispartner und Konkurrenten des Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie (VIÖG 49). Wien 2007, S. 151– 171.
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Die politische Kultur im Königreich Ungarn Es ist sowohl in der ungarischen, als auch in der österreichischen Historiographie eine weit verbreitete These, dass der Pressburger Landtag 1722/1723 einen Meilenstein des Verhältnisses Karls VI. zum ungarischen Ständestaat darstellte. Anlässlich dieses Landtags wurde auch für Ungarn die Pragmatische Sanktion verabschiedet, und der Wiener Hof führte mit Unterstützung der Vertreter der ungarischen Stände grundlegende Reformen unter anderen im Bereich der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit ein. Die Vorbereitung und die Durchführung dieser Reformen verlangten eine rege Kommunikation zwischen Wien und den führenden politischen Persönlichkeiten des Königreichs. Der Ablauf dieser politischen Entscheidungen sind vor allem dank György Bónis, Mária Kónyi und Gustav Turba in vieler Hinsicht bekannt.⁸ An dieser Stelle möchte ich aus den Geschehnissen einige wichtige Aspekte hervorheben, die den Mechanismus der politischen Kommunikation zwischen Pressburg und Wien anschaulich machen, und die bisherigen Ergebnisse ergänzen. Die Rahmenbedingungen der politischen Kultur des 18. Jahrhunderts wurden bekanntlich nach dem Frieden von Sathmar (1711) ausgeformt. Die Vereinbarung zwischen den aufständischen Kräften von Ferenc Rákóczi und dem Bevollmächtigten des Wiener Hofes garantierte einerseits eine weitgehende Amnestie und die Bestätigung der ständischen Privilegien, forderte hingegen andererseits die Akzeptanz der erblichen Thronfolge der männlichen Linie des Hauses Habsburg und dementsprechend die Anerkennung Josephs I. (1705 – 1711) als legitimen König. Auf der Basis dieser Vereinbarung wurden auf den kommenden Landtagssitzungen zwischen 1712 und 1715 ein weitgehender Kompromiss ausgearbeitet, der die sogenannte ständische Verfassung einerseits und die dynastische Legitimität
György Bónis: A bírósági szervezet megújítása III. Károly korában (Systematica Commissio) [Die Erneuerung der Gerichtsorganisation im Zeitalter Karls III/VI (Systematische Kommission)] (Értekezések Eckhart Ferenc jogtörténeti szemináriumából 5). Budapest 1935; Charles Ingrao: Pragmatic Sanction and the Theresian Succession. A Reevaluation, in: Etudes Danubiennes 9/ 1 (1993), S. 71– 87; Mária Kónyi: Az 1715 – 22 évi rendszeres bizottság javaslatai (Systema politico oeconomico-militare) [Die Vorschläge der Systematischen Kommission von 1715 – 22 (Systema politica oeconomico-militare)], in: A Bécsi Magyar Történeti Intézet Évkönyve 2 (1932), S. 137– 184; Gustav Turba: Die pragmatische Sanktion mit besonderer Rücksicht auf die Länder der Stephanskrone. Neues zur Entstehung und Interpretation 1703 – 1744. Separatdruck aus der Österreichisch-Ungarischen Revue 34. Wien 1906; Ders.: Die Grundlagen der Pragmatischen Sanktion. I. Ungarn (Wiener Staatswissenschaftliche Studien 10, Heft 2). Leipzig/Wien 1911.
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andererseits sicherte.⁹ Der zweite Schritt war die Anerkennung des Thronfolgerechts der weiblichen Linie der Habsburger und der Beginn des Reformprozesses, der die Modernisierung des Königreichs nach einer fast zweihundert Jahre langen osmanischen Eroberung anstrebte. Die mit dem Dekret von 1715 errichtete Commissio Systematica hatte einerseits die Aufgabe die juristischen und gesondert die verwaltungstechnischen, wirtschaftlichen und militärischen Reformen vorzubereiten, andererseits fungierte sie als ein Vorbereitungsorgan für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion. Die operative Arbeit ging sehr langsam voran, die Kommissionsmitglieder waren nicht imstande, sich die bürokratische Amtsführung anzueignen. So brauchte der Hof dringend solche Persönlichkeiten, die sowohl über die nötigen Fachkenntnisse verfügten, als auch bereit waren, an den regelmäßigen Sitzungen teilzunehmen. Für die Ausarbeitung der juristischen Reformen konnte Wien Graf Imre Esterházy (1665 – 1745), Angehöriger einer der renommiertesten Magnatenfamilien des Königreichs und zu dieser Zeit Diözesanbischof von Zagreb, für die Verwaltungsreform Graf Imre Csáky (1672– 1732), ebenfalls Angehöriger einer angesehenen Magnatenfamilie und zu dieser Zeit Diözesanbischof von Großwardein und zugleich Erzbischof von Kalocsa, gewinnen. Diesen zwei bedeutenden Persönlichkeiten – die übrigens miteinander in einem wiederkehrenden Rivalitätskampf standen – war zu danken, dass die Reformentwürfe kurz vor der Eröffnung des nächsten Landtags im April 1722 auf den Tisch gelegt werden konnten.¹⁰ Bei der Anerkennung der Pragmatischen Sanktion folgte Wien einer anderen Strategie. Seit 1712 wurden die Verhandlungen geheim gehalten und nur die zuverlässigsten Persönlichkeiten in die Angelegenheit eingeweiht.Vor der Eröffnung des Landtags kristallisierte sich die Auffassung der Ministerialkonferenz heraus, dass die Anerkennung der weiblichen Sukzession nicht in den königlichen Landtagspropositionen erwähnt, sondern von den ungarischen Ständen als eine spontane Geste angeboten werden sollte. Diese inszenierte Spontaneität benötigte selbstverständlich eine minuziöse Vorbereitung, wozu man wiederum Kontakt-
János Kalmár: Szatmár 1711. Vég, folytonosság, kezdet [Sathmar 1711. Ende, Kontinuität, Beginn]. Századok 146 (2012), S. 875 – 886; M. István Szijártó: The Rákóczi Revolt as a Succesful Rebellion, in: László Péter/Rady Martyn (Hrsg.), Resistance, Rebellion and Revolution in Hungary and Central Europe. Commemorating 1956. London 2008, S. 67– 76. Zu Eszterházy Joachim Bahlcke: Ungarischer Episkopat und Österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zu Konfrontation, 1686 – 1790 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 23). Stuttgart 2005, S. 132– 135 und passim; Zu Csáky Ödön Málnási: Csáky Imre bíbornok élete és kora, 1672– 1732 [Leben und Zeit des Kardinals Imre Csáky, 1672– 1732]. Kalocsa 1933.
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personen brauchte. So ergab sich die Möglichkeit, die bereits einberufene Reformkommission zu diesen Zwecken zu verwenden.¹¹ Beim Ablauf der ungarischen Landtage war es Anfang des 18. Jahrhunderts eine hergebrachte Vorgehensweise, im Fall der Abwesenheit des Königs Kommissare zu ernennen, die die Landtagssitzungen steuerten und für den Hof über die Geschehnisse Bericht erstatteten.¹² Anlässlich des zu behandelnden Landtags ernannte Karl VI. Thomas Gundakar von Starhemberg (1663 – 1745), den Direktor der Wiener Ministerialbancodeputation und den böhmischen Kanzler Franz Ferdinand von Kinsky (1678 – 1741) zu königlichen Kommissaren. Um den königlichen Einfluss zu verstärken wurde neben ihnen Hofrat Johann Georg von Mannagetta (1666 – 1751) nach Pressburg geschickt, der mit den führenden politischen Persönlichkeiten ebenfalls Kontakte aufnahm. Die drei Beamten berichteten dem Ersten Hofkanzler Philipp Ludwig von Sinzendorf (1671– 1742)¹³ über die Geschehnisse. Diese Korrespondenz kann als äußerst ausführliches Quellenmaterial betrachtet werden.¹⁴ Aber nicht nur die drei Wiener Beamten, sondern auch ungarische Staatsmänner verfassten für den Hofkanzler Berichte über die Geschehnisse. Dass Schreiben des erwähnten Erzbischofs Csáky und Bischofs Esterházy regelmäßig in der Korrespondenz aufscheinen, muss mit Blick auf ihre Schlüsselposition im Reformprozess nicht weiter verwundern. Außer ihnen taucht auch der Name des ungarischen Vizekanzlers László Ádám Erdődy (1677– 1736), Bischof von Neutra, oft auf.¹⁵ In erster Linie nicht mit seinem Amt, sondern mit seinen persönlichen Kontakten zu Wien und zu den ungarischen Ständen ist zu erklären, wie intensiv er sich in die Vorbereitung der Entscheidungen einbrachte. Bischof Erdődy hielt sich bereits seit April 1722, also Monate vor der Eröffnung des Landtags, in Pressburg auf und schaltete sich in die Ausarbeitung der Verwaltungsreform ein. Er stand in engem Kontakt mit Kardinal Csáky und Hofrat Mannagetta und berichtete ihnen über jene Sitzungen, an denen die beiden nicht anwesend waren.
Eine detaillierte Darstellung der Vorbereitungen bei Turba, Grundlagen, S. 144– 157. Szijártó, Diéta, S. 449 – 450. Zu seiner Funktion siehe Michael Göbl/Michael Hochedlinger: Die Österreichische Hofkanzlei, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/1, S. 445 – 452, hier 449. ÖStA, HHStA, LA, UA, Allgemeine Akten, Fasz. 201– 214. Zsolt Kökényesi: Egy magyar főpap jelenléte és karrierútja a bécsi udvarban. Vázlat Erdődy László Ádám nyitrai püspök életrajzához [Präsenz und Karriereweg eines ungarischen Prälaten am Wiener Hof. Abriss zum Lebenslauf des Bischofs László Ádám Erdődy], in: Orsolya Báthory/ Franciska Kónya (Hrsg.), Egyház és reprezentáció a régi Magyarországon (Pázmány Irodalmi Műhely, Lelkiségtörténeti tanulmányok, 12). Budapest 2016, S. 223 – 240.
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Er war außerdem derjenige, der Hofkanzler Sinzendorf über den geplanten Ablauf der Annahme der Pragmatischen Sanktion informierte.¹⁶ Anders als die Tätigkeit Erdődys ist die Rolle des Grafen Sándor Károlyis in der ungarischen Historiografie weitgehend bekannt. Der ehemalige Kuruzzengeneral, der 1711 in Abwesenheit Rákóczis (1676 – 1735) mit dem Bevollmächtigten des Kaisers, dem ungarischen Magnaten János Pálffy (1664– 1751), in Sathmar die Übereinkunft aushandelte, war neben Csáky der eigentliche Motor der Reformvorschläge, der auch in den Wochen als der schwerkranke Csáky zu Heilkuren in Trentschin (Trencsén, Trenčín) weilte, unermüdlich an den Entwürfen arbeitete.¹⁷ Zur Vorbereitung der wichtigsten Landtagsentscheidungen gehörte auch die vorherige Überzeugung der Komitate (Gespanschaften). Hier waren die vom König erwählten Obergespane oder andere vertraute Aristokraten die wichtigsten Initiatoren, die die Generalversammlungen zu solchen Anweisungen bewegten, die den Landtagsgesandten die Annahme der weiblichen Sukzession ermöglichten. Hofrat Mannagetta zählte Anfang Juni 1722, einige Wochen vor der entscheidenden Landtagssitzung, insgesamt vierzehn solcher Komitate auf, in denen er mit einer positiven Entscheidung der Generalversammlungen rechnete. Er nannte auch die einflussreichen Politiker, die die Stände vor Ort für den Hof gewinnen konnten.¹⁸ Auch Kardinal Csáky schaltete sich in die mühsame Arbeit ein, die Landtagsgesandten für die weibliche Erbfolge zu gewinnen. Er veranstaltete in seinem Schloss Ungarisch-Bél (Magyarbél, Veľký Biel) festliche Empfänge, er bestellte neues Tafelgeschirr und ließ für sich sogar einen neuen Kardinalshut anfertigen, um die Eingeladenen standesgemäß bewirten zu können. Er war auch derjenige, der am Festtag des mittelalterlichen ungarischen Ritterkönigs Ladislaus am 27. Juni 1722 die Landtagssitzungen mit einem Veni Sancte eröffnete. Statt des Primas-Erzbischofs Kardinal Christian August von Sachsen-Zeitz (1666 – 1725) nahm Csáky während des ganzen Landtags eine führende Position ein, was einerseits damit zu erklären ist, dass er im Gegensatz zu Christian August eine Siehe u. a. die Aufzeichnungen Erdődys, gedruckt bei Turba, Pragmatische Sanktion, S. 174– 176, 179 – 180. Gábor Éble: Károlyi Ferencz gróf és kora, 1705 – 1758. A grófi nemzetség levéltárának adatai alapján [Leben und Zeit des Grafen Ferenc Károlyi, 1705 – 1758. Anhand der Bestände des Familienarchivs]. Budapest 1893; János Kalmár: Károlyi Sándor „árulása“ (A bűnbakkeresés öszzefüggései) [Der „Verrat“ Sándor Károlyis. (Die Zusammenhänge der Suche nach dem Sündenbock)], in: István Czigány/Katalin Mária Kincses (Hrsg.), Az újrakezdés esélye. Tanulmányok a Rákóczi-szabadságharc befejezésének 300. évfordulója alkalmából. Budapest 2012, S. 101– 115. Kónyi, bizottság, passim. Mannagetta an Sinzendorf, Pressburg, 04.06.1722, gedruckt bei Turba, Grundlagen, S. 299 – 302.
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ungarische Abstammung besaß und andererseits der Herzog von Sachsen-Zeitz auf dem Immerwährenden Reichstag in Regensburg als Prinzipalkommissar mit der Vertretung des Kaisers beschäftigt war.¹⁹ Wie bekannt, wurde die weibliche Sukzession auf der ersten Landtagssitzung sowohl seitens der unteren, als auch der oberen Tafel einstimmig angenommen. Dem Hof war es also gelungen, den ursprünglichen Plan umzusetzen, dieses „Haubtwerck“ nicht in die königlichen Propositionen aufzunehmen, sondern die Stände dazu zu bewegen, es freiwillig anzubieten. Karl VI. akzeptierte nun den einstimmigen Wunsch der Stände, die weibliche Sukzession auch im Königreich Ungarn einzuführen. Man musste nur darauf achten, dass der entsprechende Gesetzesartikel die Verordnungen der Pragmatischen Sanktion beinhaltete und die Stände keine ungarischen Besonderheiten in die Regelung hineinreklamierten.²⁰ Die Verordnung wurde endlich als Art. 2/1723 ins Landtagsdekret aufgenommen und von Karl anlässlich des Abschlusses des Landtags unterzeichnet.²¹
Politische Kommunikation am Landtag 1722/1723 Im Folgenden möchte ich die politische Kommunikation zwischen Herrscher und Ständen anlässlich des Landtags 1722/1723 mit einigen weiteren Beispielen näher untersuchen. Insbesondere die Reden sollen behandelt werden, die während des Landtags zu bestimmten Anlässen gehalten wurden. Johannes Helmrath und Jörg Feuchter betonen die Wichtigkeit der Redekultur in vormodernen Ständeversammlungen und verwenden zu ihrer Erforschung den Begriff „Oratorik“, um „die Grenzen der klassischen, literarisch-technischen Rhetorikwissenschaft in Richtung einer umfassenden Erforschung der Redekultur politischer Versammlungen zu überschreiten.“ Sie betrachten die Parlamentsreden als eine Ausdrucksform „des symbolischen Vermittelns von politischem Willen.“ Dementsprechend heben sie die Bedeutung der Analyse der verschiedenen Formen von politischen Reden neben den nonverbalen Ritualen und Zeremonien hervor, und hoffen so die
Málnási, Csáky, S. 261. Turba, Pragmatische Sanktion, S. 91– 122. Articulus 2. De regia hereditaria sacratissimae caesareae et regiae majestatis sexus foeminei Augustanae domus Austriacae in sacra Regni Hungariae corona et partibus eidem ab antiquo annexis, continua successione, in: Dezső Márkus (Hrsg.), Corpus Juris Hungarici – Magyar törvénytár, 1000 – 1895, Bd. 10. Budapest 1901, S. 564– 568; Ein Faksimile des Gesetzesartikels ist abgedruckt bei Gustav Turba (Hrsg.), Die Pragmatische Sanktion. Authentische Texte samt Erläuterungen und Übersetzungen. Im Auftrage des k. k. Ministerpräsidenten Carl Grafen Stürgkh. Wien 1913, Tafel XXIII.
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Ergebnisse der „Kulturgeschichte des Politischen“ ergänzen zu können.²² Auf dem Pressburger Landtag 1722/1723 wurden nach altem Brauch ebenfalls mehrere Reden gehalten, mit deren Hilfe die politischen Zielsetzungen einzelner Akteure rekonstruiert werden können. Eine zentrale Rede bezüglich des zu behandelnden Landtags war jene des Protonotars und Vizegespans des Komitats Komorn, Ferenc Szluha († 1729). Nach dieser festlichen Rede votierte die untere Tafel für die weibliche Sukzession. Szluhas Person ist hinsichtlich der Verhandlungen mehrfach repräsentativ. Während des Rákóczi-Aufstandes war er ein Vertrauter des rebellischen Fürsten, bis er auf die kaiserliche Seite übertrat. Seit 1715 war er Protonotar, also stellvertretender Richter oberster ständischer Würdenträger und somit ein entschiedener Gegner der juristischen Reform der frühen 1720er Jahre, die eben diese Rechtssprechungspraxis abschaffen wollte. Seit 1719 hatte er zugleich das Amt des Vizegespans des Komitats Komorn inne und war somit ein Repräsentant des Gemeinadels, der allmählich die politische Führung auf der oberen Tafel übernahm. Mit seiner Gewinnung konnte der Hof demonstrieren, dass auch die ständische Opposition die weibliche Sukzession akzeptierte.²³ Anlässlich der ersten Sitzung der oberen Tafel am 30. Juni 1722 ergriff Szluha das Wort und hielt seine lange lateinische Festrede. An erster Stelle erwähnte er die Leistungen Karls VI. bei der Befreiung des Königreichs von der Herrschaft der Osmanen und der Herstellung des Friedens. Somit knüpfte er an die politische Botschaft des Krönungslandtags 1712 an, als der junge Herrscher von den hohen Würdenträgern als rex pacificus gelobt wurde.²⁴ Laut Szluha benötige das Land wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft einen politischen Führer, einen „Steuermann“ oder „Feldherrn“, der den Frieden langfristig sichern könne. Die ununterbrochene Thronfolge sei die unabdingbare Voraussetzung einer friedlichen sowie sicheren Herrschaft, zu deren Einführung sich jetzt eine Möglichkeit
Johannes Helmrath/Jörg Feuchter: Einleitung – Vormoderne Parlamentsoratorik, in: Dies. (Hrsg.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Eigene und fremde Welten 9). Frankfurt/New York 2008, S. 9 – 22. Márton Szluha: A Szluha család története [Geschichte der Familie Szluha]. o. O. 1996, S. 71– 78; György Bónis: Die ungarischen Stände in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1969, S. 286 – 309. András Forgó: Kardinal Christian August von Sachsen-Zeitz und der Herrschaftsantritt Karls VI. Zur Rolle ausländischer Geistlicher bei der Gestaltung der politischen Kultur Ungarns, in: Maria-Elisabeth Brunert/András Forgó/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Kirche und Kulturtransfer. Ungarn und Zentraleuropa in der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte 40). Münster 2019, S. 69 – 85.
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böte, damit das Land unter der Obhut des Hauses Habsburg seine Ruhe finden könne. Danach kehrte Szluha mit seiner Rede zur Befreiung von der über ein Jahrhundert andauernden Osmanenherrschaft zurück und lobte die Verdienste des Hauses Habsburg in der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in den europäischen Machtverhältnissen sowie seine Zuneigung zum Königreich Ungarn. Dies verpflichte die ungarischen Stände das Erbfolgerecht, das für die männliche Linie des Hauses Habsburg bereits 1687 und 1715 verbrieft worden war, auch auf die weibliche Linie auszudehnen. Die weibliche Herrschaft sei im Königreich keineswegs beispiellos, so Szluha. Dies zeige die Regierung Königin Marias, der Tochter Ludwigs des Großen, die in Folge der Verdienste ihres Vaters den Thron erben konnte. Sie heiratete Sigismund von Luxemburg, der somit für sich die Herrschaft über das Königreich sichern konnte. Seine Tochter Elisabeth wurde mit Albrecht von Österreich vermählt, der auf diesem Weg den ungarischen Thron erhielt. Auch der spätere Kaiser Ferdinand I. erlangte den ungarischen Thron in Folge seiner Ehe mit Anna von Jagiello (1503 – 1547), der Tochter Wladislaws II., des Königs von Böhmen (1471– 1516) und Ungarn (1490 – 1516).²⁵ Dies alles seien Beispiele der Existenz der weiblichen Linie der Erbfolge im Königreich. Wie die Verdienste Ludwigs und Sigismunds, so ermöglichten nun die Tugenden Karls VI. die Herrschaft seiner weiblichen Nachkommen über das Königreich. Der Rechtsbrauch des Landes kenne die Praxis, dass eine Frau männliche Rechte ausüben könne. Szluha zitierte die entsprechende Belegstelle des Rechtsbuches Tripartitum von István Werbőczy (1458 – 1541), das mit Hilfe eines Rechtsverfahrens, der sog. Präfektion (praefectio), auch weiblichen Nachkommen eines Grundbesitzers ermöglichte, dieselben Erbrechte auszuüben, die herkömmlich nur Männern vorbehalten waren.²⁶
Maria von Anjou regierte nach dem Tod ihres Vaters Ludwigs I. (1342– 1382) zwischen 1382 und 1385 als Alleinherrscherin und seit 1386 als Ehefrau Sigismunds I. Luxemburg (König von Ungarn: 1387– 1437) als Korregentin. Iván Bertényi: Magyarország az Anjouk korában [Ungarn in der Zeit der Anjous]. Budapest 1987, S. 237– 251. „quia praefectio naturam, vimque donationis, ac jurium possessionariorum collationis sapit, atque repraesentat“, István Werbőczy: Tripartitum. A dicsőséges Magyar Királyság szokásjogának Hármaskönyve. Latin-magyar kétnyelvű kiadás [Tripartitum. Das dreiteilige Werk des Gewohnheitsrechts des glorreichen Königreichs Ungarn. Eine lateinisch-ungarische bilinguale Ausgabe]. Budapest 1990, Pars I, Tit. 7, Zitat: 71. Die juristischen und historischen Argumente Szluhas wurden in der ungarischen rechtsgeschichtlichen Literatur später in Frage gestellt: Ferenc Salamon: A magyar királyi szék betöltése és a Pragmatica Sanctio története [Die Besetzung des ungarischen Königsthrons und die Geschichte der Pragmatischen Sanktion]. Pest 1866, S. 144– 146; István Csekey: A magyar trónöröklési jog. Jogtörténelmi és közjogi tanulmány oklevélmellékletekkel [Das ungarische Thronfolgerecht. Eine rechtshistorische und staatsrechtliche Abhandlung mit Urkundenbeilagen]. Budapest 1917, S. 267.
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Szluha verband also in seiner Rede die traditionellen Argumente für die Herrschaft des Hauses Habsburg über Ungarn, etwa die Verteidigung des Königreichs gegen die Osmanen, mit einer juristischen Konstruktion, die in der Regel in privatrechtlichen Prozessen verwendet wurde.²⁷ Rhetorisch stützte sich Szluha auf Figuren der klassischen Mythologie: In seiner Rede tauchen Herkules, Pomona und Atalanta auf, und er verwendete außerdem solche gängigen Topoi wie z. B. das Boot im Sturm für das Schicksal des Landes. Die Festrede zeigt also keine besonderen stilistischen Werte auf, anlässlich des Landtags wurden später – wie wir sehen werden – auch viel besser ausgearbeitete Reden vorgetragen. Politisch erreichte aber Szluha mit seinen Worten die gewünschte Wirkung: Die untere Tafel schloss sich mit einer einstimmigen Akklamation dem Vorschlag an und forderte die obere Tafel auf, Karl um die Einführung der weiblichen Erbfolge zu bitten – im Einklang mit der ursprünglichen Zielsetzung des Wiener Hofes. Für die breitere Öffentlichkeit wurde Szluhas Rede später im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung auch in Druckform veröffentlicht.²⁸ Von einem Bericht Mannagettas an den Kaiser wissen wir, dass Szluha ihm seine Rede bereits am 19. Juni vorgelegt hatte, die nach Mannagettas Urteil „sehr wohl gefasset ist“. Die Bereitschaft Szluhas auf der unteren Tafel für die weibliche Sukzession zu votieren und dafür sogar eine Rede zu halten, bedeutete für Mannagetta eine große Erleichterung. Er hielt den Protonotar nämlich für „einen bey dem adl wohl angesehenen gelehrten und zugleich beredten Mann“, der „bey der unteren Tafel vieles nuzen und schaden kann.“²⁹ Auch der Wortlaut des Angebots der ungarischen Stände wurde vor der Landtagssitzung minuziös ausgearbeitet, um zweifelhafte oder juristisch ungenaue Formulierungen möglichst vermeiden zu können.³⁰
Die Verdienste des Hauses Habsburg in der Befreiung des Königreichs von der Osmanenbesetzung wurden bereits anlässlich der Akzeptanz der männlichen Erbfolge betont. Siehe Vilmos Fraknói: A Habsburg ház trónöröklési jogának megállapítása az 1687/8-ik évi országgyűlésen [Die Feststellung des Thronfolgerechts des Hauses Habsburg auf dem Landtag 1687/8]. Budapest 1922. Oratio magistri Francisci Szluha de Iklad … Anno 1722 ad Inclytos Regni Ungariae status, dicata. Quibus impense commendat, ut perspectis, tot, et tantis, Augustae Domus Austriacae, Signanter, vero … Caroli VI. o. O. o. J.; bzw. Rede, welche Magister Franziskus Szlucha de Iklad… Bey Anfang des Hungarischen Land-Tags in dem Jahr 1722 zu denen hochlöblichen Ständen des Königreichs Hungarns zu Preßburg in lateinischer Sprache gehalten… Regensburg o.J. Die Rede ist auch bei Turba, Pragmatische Sanktion, S. 168 – 174 abgedruckt. Bericht Mannagettas an den Kaiser, Pressburg, 19.06.1722. Gedruckt bei Turba, Pragmatische Sanktion, S. 143 – 149, Zitat: 148. Mannagetta an Sinzendorf, Pressburg, 28.06.1722. Gedruckt bei Turba, Grundlagen, S. 310 – 314; Bischof László Ádám Erdődy an Sinzendorf, Pressburg, 29.06.1722. Gedruckt bei ebd., S. 317– 320.
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Nach diesen Ereignissen kam es nach altem Brauch zur Einladung Karls VI. auf den Landtag. Die Delegation wurde von Emmerich Csáky geleitet, der also eigentlich auch in diesem Fall die Funktion des Primas-Erzbischofs Christian August übernahm. Csáky hielt am 3. Juli, anlässlich des kaiserlichen Empfangs in der Wiener Favorita eine lange Rede, in deren Mittelpunkt ebenfalls das Angebot der Akzeptanz der weiblichen Thronfolge stand. Sie beinhaltete die Schilderung der Eröffnung des Landtags mit dem Gottesdienst in der Martinskirche. Csáky erklärte mit der Herabkunft des Heiligen Geistes, dass die Stände wenige Tage später die weibliche Sukzession freiwillig, ohne jegliche Repression, einstimmig, mit offenen Herzen und Wohlwollen angenommen hatten. Er bezog sich ebenfalls auf die Verdienste Karls und seiner Vorfahren in der Befreiung des Landes von den „Barbaren“, auf die Gefahren eines ungewollten Interregnums und auf das Vertrauen, das die Stände ihrem Herrscher entgegenbrachten. Er drückte auch die Hoffnung der Stände aus, ihre Freiheiten und Privilegien vom König bestätigt zu bekommen, und am Ende betonte er nochmals den freiwilligen Wunsch und die Bitte des Landes um die Einführung der weiblichen Sukzession.³¹ Dass für den Herrscher der symbolische Akt seines Auftritts auf dem Landtag von großer Bedeutung war, zeigt, wie ausführlich sein Einzug in die Stadt und seine Handlungen auf der Ständeversammlung vorbereitet wurden. Die betreffende Hofkonferenz wurde bereits am 2. Juni, also vier Wochen vor der ersten Landtagssitzung, in Laxenburg bei Obersthofmeister Fürst Trautson (1659 – 1724) einberufen. Auffallend ist, dass nur österreichische Staatsmänner anwesend waren, obwohl zu solchen Anlässen in der Regel auch der ungarische Palatin und/oder der Primas eingeladen wurden (zehn Jahre früher, anlässlich der Vorbereitung des Krönungslandtag Karls waren beide anwesend).³² Eine wichtige Frage war der Zeitpunkt des Einzugs. Der Landtag wurde ursprünglich für den 20. Juni 1722 einberufen, doch versammelten sich die ungarischen Stände nur langsam, so schlug die Konferenz Karl vor, den Aufbruch nach Pressburg zu verschieben. Auch die Feiertage spielten bei der Festsetzung des Termins eine wichtige Rolle, vor allem der Johannistag am 24. Juni und das Hochfest der Apostel Petri et Pauli am 29. Juni. Zu diesen ist auch das Fest des ungarischen Ritterkönigs Ladislaus (1077– 1095) zu rechnen. Wie erwähnt, wurde 1722 an diesem Tag von Kardinal Csáky für die Landtagsgesandten ein Veni Sancte zelebriert. Ein anderer wichtiger Beratungspunkt war die Dauer des Aufenthaltes des Kaisers „drunten zu Pressburg“. Die Konferenz schlug höchstens 14 Tage vor, danach sollte der König erneut bloß durch die zwei Kommissare vertreten werden.
Zitiert bei Salamon, Pragmatica Sanctio, S. 159 – 162. Forgó, Christian August, S. 81.
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Die Konferenz beriet außerdem die Art der Feierlichkeit des Einzugs. Da sich die prächtige Krönungszeremonie zehn Jahre früher ereignet hatte, kam die Idee auf, dass Karl diesmal „all‘ Incognito“ in die Stadt ziehen könnte. Die Mehrheit der Anwesenden vertrat hingegen die Meinung, dass ein feierlicher Einzug mit Blick auf die Wichtigkeit des Landtags „nicht zu vermeyden“ sei. Auf eine prächtige ungarische Kleidung wurde aber diesmal – anders als zehn Jahre zuvor – verzichtet. Die erste Begegnung mit den Ständen wurde auch dieses Jahr bei Wolfsthal, also an der ungarischen Grenze, geplant.³³ Der ganze Aufenthalt des Kaisers wurde also mehrere Wochen vor den ersten Landtagssitzungen bereits in Wien minuziös festgelegt. Die diesbezüglichen Landtagsbeschlüsse können bloß als Zustimmung der Stände, nicht aber als eigene Initiative betrachtet werden: Das Szenario des politischen Theaters wurde auch diesmal nicht in Pressburg, sondern in Wien geschrieben.³⁴ So kam es tatsächlich zum feierlichen Empfang des Königs am 7. Juli bei Wolfsthal, wo Karl VI. von Gábor Antal Erdődy (1684– 1744), Bischof von Erlau (1715 – 1744), dem jüngeren Bruder des Vizekanzlers László Ádám Erdődy, begrüßt wurde.³⁵ In der mit Gleichnissen aus dem Alten Testament ausgeschmückten lateinischen Rede zählte Bischof Erdődy die früheren Ankünfte des Herrschers im Königreich auf: 1712 als er als Erbkönig den Thron bestieg, 1714 als seine Ehefrau Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel mit der Heiligen Krone berührt, also zu Königin gekrönt wurde³⁶, und jetzt, als er mit der Einheit seiner Länder den Wohlstand seiner Untertanen sichern wollte. Die Rede nimmt Bezug auf das erste Buch der Makkabäer und Alexander den Großen. Dieser starb ohne Erben und musste sein Reich unter seinen Feldherren aufteilen, was ein großes
ÖStA, HHStA, OMeA, Hofzeremonielldepartement, ÄZA, Kt. 30 – 9, Gutachten der Hofkonferenz betreffend die Reise des Kaisers nach Pressburg. Laxenburg, 04.06.1722. Siehe András Forgó: Zu den Möglichkeiten und Grenzen ständisch-politischer Handlungsfähigkeit. Das Beispiel des Herrschaftsantritts Karls VI. im Königreich Ungarn, in: Zsuzsanna Cziráki/Anna Fundárková/Orsolya Manhercz/Zsuzsanna Peres/Márta Vajnági (Hrsg.), Wiener Archivforschungen. Festschrift für den ungarischen Archivdelegierten in Wien, István Fazekas.Wien 2014, S. 263 – 270. Erdődys Festrede siehe Handschriftensammlung der Ungarischen Nationalbibliothek, Fol. Lat. 566, Bd. I, fol. 33v–35r; Siehe auch Fanni Hende: Politikai reprezentáció a magyar országgyűléseken 1687 és 1765 között [Politische Repräsentation in den ungarischen Landtagen zwischen 1687 und 1765]. Diss. phil. Budapest 2016, S. 31– 32. Zu dieser Krönungszeremonie János Kalmár: Királyné-koronázás Pozsonyban 1714-ben [Die Krönung einer Königin in Pressburg im Jahr 1714], in: Nóra G, Etényi/Ildikó Horn (Hrsg.), Idővel paloták…: Magyar udvari kultúra a 16 – 17. században. Budapest 2005, S. 215 – 231.
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Unglück verursachte.³⁷ Karl dehne hingegen die Sukzession auf die weibliche Linie seiner Dynastie aus und behüte somit die Monarchie vor einer Aufteilung. Auch Erdődy griff auf die Vorstellung des friedensstiftenden Königs zurück, die er ebenfalls mit einer biblischen Textstelle anschaulich machte und dabei Karl mit König Salomon identifizierte.³⁸ Trotz der Erwähnung der weiblichen Erbfolge hält die Rede auch die Hoffnung der Geburt eines männlichen Erbes aufrecht, ebenfalls mit einer biblischen Parallele. Diesmal griff er auf das Neue Testament zurück und zwar auf die Szene der Ankündigung, als Erzengel Gabriel der hl. Jungfrau über die anstehende Geburt des Sohnes Elisabeths berichtete.³⁹ Der Aristokrat und Kleriker Erdődy also, der als Alumnus des Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom eine qualitätsvollere Bildung aufweisen konnte als Szluha, der aus dem Kreis des nordungarischen Gemeinadels kam und wahrscheinlich als Jurist ausgebildet wurde, verfasste eine rhetorisch besser aufgebaute und auch theologisch durchdachte Rede, die mit dem politischen Programm des Hofes ebenfalls im völligen Einklang stand.⁴⁰ Im Zelt, das an der Landesgrenze errichtet wurde, empfing Kardinalprimas Christian August von Sachsen-Zeitz den Herrscher und sein Gefolge und bedankte sich für das persönliche Erscheinen Karls auf dem ungarischen Landtag. Der Kaiser betonte in seiner Antwort wiederum die Aufrechterhaltung des Königreichs und bekräftigte somit die Aussagen der Rede des Bischofs von Erlau. Auffällig ist hingegen, dass die Grußworte des Stadtnotars, die er anlässlich der Überreichung der Stadtschlüssel beim Tor Pressburgs hielt, die weibliche Sukzession gar nicht
1 Makk 1– 9: „Und es geschah: Als der Mazedonier Alexander, Sohn des Philippus, damals vom Land der Kittäer ausgezogen war, besiegte er Darius, den König der Perser und Meder, und wurde als erster König von Griechenland sein Nachfolger. […] Doch dann sank er aufs Krankenlager und fühlte seinen Tod nahen. Er rief seine höchsten Offiziere zusammen, die mit ihm aufgewachsen waren, und verteilte sein Reich unter sie, während er noch lebte. […] Nach seinem Tod setzten sich alle das Königsdiadem auf; ebenso hielten es ihre Nachkommen lange Zeit hindurch. Sie brachten großes Unglück über die Erde“ (Bibelzitate aus der EÜ). 1 Kön 4, 20: „Das Volk von Juda und Israel war zahlreich wie der Sand am Meer. Es hatte zu essen und zu trinken und war glücklich.“ Lk 1, 36: „Siehe, auch Elisabet, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen; obwohl sie als unfruchtbar gilt, ist sie schon im sechsten Monat.“ Vgl. Domokos Kosáry: Művelődés a XVIII. századi Magyarországon [Bildung im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1980, S. 94– 129; Zu den Landtagsreden Fanni Hende: Az uralkodó bevonulásán elhangzott köszöntőbeszédek mint politikai reprezentációk [Begrüßungsreden anlässlich des Einzugs des Herrschers als politische Repräsentation], in: Csilla Bíró/Beatrix Visy (Hrsg.), Hatalmi diskurzusok. A hatalom reprezentációi a tudományokban és a művészetekben [Machtdiskurse. Machtdarstellung in den Wissenschaften und Künsten]. Budapest 2016, S. 63 – 71.
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beinhalteten.⁴¹ Gábor Skaricza († 1723) stellte eine astronomische Erscheinung, die im November 1721 auch in Pressburg beobachtete Nebensonne, in den Mittelpunkt seiner Rede und betonte, dass Karl als Sonne des Christentums im Gegensatz zur erwähnten astronomischen Erscheinung keine Furcht, sondern Hoffnung für seine Untertanen bedeute. Auch Skariczas Rede stützte sich auf biblische Textstellen, indem sie die Schaffung der Sterne aus dem Buch Genesis⁴² sowie das Gleichnis zwischen der Sonne und der guten Frau aus dem Buch Jesus Sirach erwähnte.⁴³ Diese Rede war aber nichts anderes, als eine allgemeine Lobpreisung des Herrschers. Der Stadtnotar war in die Verhandlungen über die weibliche Sukzession offensichtlich nicht eingebunden, somit war er auch nicht imstande, seine Rede mit Gleichnissen über die aktuellen politischen Errungenschaften auszugestalten.⁴⁴ Während des Einzugs wurde noch eine andere, deutschsprachige Rede gehalten, die vom Vizenotar Samuel Huber vorgelesen, deren Inhalt aber leider nicht überliefert ist.⁴⁵ Nach diesen Ereignissen ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Gesetzesartikel über die Pragmatische Sanktion ohne Hindernisse formuliert und von beiden Tafeln verabschiedet wurde. Karl verließ am 16. Juli 1722 den Landtag, wie es vor anderthalb Monaten in Laxenburg beschlossen wurde. Die Annahme der Pragmatischen Sanktion in Ungarn lief also gänzlich nach den Plänen des Hofes. Anders gestaltete sich hingegen die Durchführung der vorbereiteten Reformen. Hier stießen die königlichen Kommissare seitens der ständischen Opposition auf einen beachtlichen Widerstand. Die bedeutendste Debatte brach über die Abschaffung der Wandergerichte der Protonotare und zugleich die Errichtung der tabulae districtualium, also der ständigen Gerichtshöfe in den vier Distrikten, aus. Dies kann einerseits mit den Interessen der beteiligten Protonotare erklärt werden, die durch diese Reform eine wichtige Einnahmequelle verloren. Hinter dem breiten Widerstand der unteren Tafel standen aber auch andere Gründe.Vor allem die Mehrheit der Gesandten der Komitate beurteilten diese Reformen als eine
ÖStA, HHStA ÄZA Kt. 30. Berichte über die Mitglieder des Pressburger Landtages, über Abhaltung desselben und die daselbst gehaltenen Reden 1722 VII. 7. – 18., fol. 1v–2v; Hende, Reprezentáció, S. 32. Gen 1, 14: „Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen als Zeichen für Festzeiten, für Tage und Jahre dienen.“ Sir 26, 16: „Wie die Sonne aufstrahlt in den Höhen des Herrn, so die Schönheit einer guten Frau als Schmuck ihres Hauses.“ Skaricza war zuvor als Gesandter der Stadt Pressburg auf der unteren Tafel des Landtags anwesend. Siehe die Datenbank der Forschungsgruppe „Diaeta“: www.szijarto.web.elte.hu/ogy. xls (31.10. 2019). Nova Posoniensia, 08.07.1722, pag. 280, https://epa.oszk.hu/01000/01071/np.html (31.10. 2019).
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„schädliche Erneuerung“ und somit als einen direkten Eingriff der Regierung in die ständische Verfassung. Dies bedeutete eigentlich einen Bruch mit dem Kompromiss von Sathmar. Die Heftigkeit des Konfliktes zeigt sich etwa daran, dass sich die Kommissare einmal veranlasst fühlten, den Palatin Nikolaus Pálffy persönlich zu kritisieren, als er eine Abstimmung auf dem Landtag unvorbereitet verordnete. Erst nach einem energischen Auftritt des Königs konnte der Widerstand gebrochen und die Einwilligung zur Reform erreicht werden.⁴⁶ Aus diesen langwierigen Verhandlungen möchte ich hier lediglich einen Aspekt näher untersuchen, den eigentlichen Wendepunkt der Debatte über die neu zu errichtenden Gerichtstafeln. Seit Januar 1723 häuften sich die Aufzeichnungen in Karls Tagebuch bezüglich der ungarischen Angelegenheiten, die uns anschaulich machen, dass der Herrscher einen baldigen Abschluss des Landtags erreichen wollte, um die Gesetzesartikel über die Pragmatische Sanktion endlich unterzeichnen zu können.⁴⁷ Vor allem auf der unteren Tafel gewannen die Gegner der juristischen Reform einen bedeutenden Einfluss. Es bestand die Gefahr, dass der Landtag die Errichtung der Gerichtstafeln verwerfen würde. Am 15. März alarmierte Mannagetta den Hof in einem langen Bericht, indem er die Machtverhältnisse auf den beiden Tafeln ausführlich schilderte. Der Zeitpunkt war meines Erachtens kein Zufall: Einerseits war gerade eine heftige Landtagsdebatte erfolgt, andererseits feierte die katholische Kirche einen Tag zuvor den Sonntag Judica me, das Kirchenjahr stand also zwei Wochen vor Ostern. Es bestand die Gefahr, dass die Landtagsgesandten Pressburg verlassen würden, um die Feiertage im Familienkreis zu verbringen, was zu einer langen Verzögerung der Verhandlungen führen hätte können. Auch Karl selbst beurteilte die Gefahr ähnlich, da er unverzüglich die Initiative ergriff und den betroffenen Würdenträgern persönliche Handschreiben schickte. In diesen Schreiben lobte er diejenigen, die sich bezüglich der Annahme der Reform im Bereich des Rechtswesens seitens der Stände einsetzten. So schenkte er z. B. János Pálffy, dem Banus von Kroatien, anerkennende Worte („Mir ist eingeraumbt worden, mit was besonderem Eiffer ihr meine wegen einführung deren Tabularium Districtualium den Ständen jüngsthen eröffnete Resolutio gegen die deprecierende Partey secundieret haben“), und auch Kardinalprimas Christian August von Sachsen-Zeitz empfing lobende Zeilen in Folge seines „angewohnten Eifer“. Danach drückte er jedoch sein Entsetzen über die ablehnende Haltung der Tonangeber des Landtags bezüglich der zu errichtenden Gerichtsta Ausführlich bei Bónis, bírósági, S. 132– 148. „Ungarn, l(andtag) aus, schand“ oder „weg(en) Ung(arn) s(e)hen , na(c)h Mang(etta), vill, kopf foll“, zitiert bei Stefan Seitschek: Die Tagebücher Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie. Horn 2018, S. 463.
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feln aus. An Kardinal Csáky schrieb er z. B.: „Ich kann einmahl ja nicht fassen, wie es geschehen könne, dass nachdem dieses Werck ehevor so offt und reiflich, auch mit so großen bedacht überleget und berathschlaget worden, man inz demselben sich, und zwar auf eine sezen beginne?“. Endlich bat er die Adressaten mitzuwirken, „daß dieses Gott gefällige, dem Königreich so heilsam als nothwendige werkh durch allgemeinen schluss endlich zum stand gebracht werde.“ Gleichzeitig veröffentlichten die Kommissare ein königliches Handschreiben, das ihnen am vorigen Tag zugestellt worden war. In diesem Schreiben machte Karl offenkundig, „…daß Meine meinung noch ohnbeweglich und vest dachin gerichtet seye, die Tabulam perpetuam und folglich in diesem fahl ohnentzerliche Tribunalia districtualia ins werck zu richten, weilen Ich dieses als das enzige mittel ansehe, die von Gott mir so sehr eingebundene administrirung der Justitz in dem Königreich Hungarn einzuführen, […] was das friedliche wohlseyn aller Inwohnern befördern soll.“⁴⁸ Das persönliche Eingreifen des Kaisers erwies sich als äußerst erfolgreich: die untere Tafel votierte bereits zwei Tage später für die Einführung der neuen Gerichtstafel, die dann auch ins Landtagsdekret aufgenommen wurde.⁴⁹
Schlussbetrachtungen Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Herrschaft Karls VI. in Ungarn traditionell als ein Zeitalter der Versöhnung zwischen dem Hof und den Ständen des Königreichs betrachtet wird, als die Privilegien des Ständestaates wiederhergestellt und die „absolutistischen“ Maßnahmen der früheren Jahrzehnte abgeschafft wurden. Die Anerkennung der ständischen Freiheiten verhinderte jedoch nicht nur die Erweiterung der königlichen Macht, sondern auch die Einführung wichtiger Reformen, die die Konsolidierung und die Modernisierung des Königreichs bewirken sollten. So musste der Wiener Hof solche Mittel der politischen Kommunikation finden, die den Status quo formell aufrechterhielten, aber zugleich die führenden Kräfte des Ständestaates für die Unterstützung der geplanten Reformen gewinnen konnten, die dann wiederum die Stimmung auf dem Landtag in eine günstige Richtung lenken sollten. Dieser Prozess spiegelt
Die Kopien der kaiserlichen Handschreiben an Pálffy, an Christian August und an den Komissaren vom 14. bzw. 15. März, 1722 in ÖStA, HHStA, UA, Allgemeine Akten, Fasz. 209, Konv. A, fol. 270r–271r, 278r–279r. Das Schreiben an Kardinal Csáky, ebenfalls vom 15. März, ist abgedruckt bei Málnási, Csáky, S. 268 – 269. Articulus 30. De tabularum districtualium erectione, et personis ad easdem adhibendis. Márkus, Corpus Juris, S. 590 – 592.
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sich einerseits im Ablauf der Anerkennung der Pragmatischen Sanktion wider. Aus der ursprünglich für andere Zwecke einberufenen Systematischen Kommission „wurde allmählich ein Agitationszentrum für ganz Ungarn“⁵⁰, das die wichtige Landtagsentscheidung vorbereitete. Der eigentliche Motor dieser Vorbereitungen war Hofrat Mannagetta, der offiziell lediglich als ein kaiserlicher Gesandter in der Reformkommission ernannt wurde, jedoch geheime Instruktionen für die Verhandlungen erhielt. Seine persönlichen Leistungen trugen erheblich dazu bei, dass die weibliche Sukzession seitens der Stände reibungslos akzeptiert wurde, und er inszenierte auf der ersten Landtagssitzung sogar eine freiwillige Entscheidung, die ein eindeutiger Wunsch des Kaisers war. Bei der politischen Kommunikation spielten auch die Reden eine wichtige Rolle, die anlässlich bedeutender Anlässe des Landtags von führenden politischen Persönlichkeiten gehalten wurden. Barbara Stollberg-Rilinger meint, dass die politischen Reden neben ihrer diskursiven Funktion auch eine symbolische Bedeutung haben. „Redend will man nicht nur argumentativ erwägen, deliberieren, überzeugen, sondern auch zelebrieren, demonstrieren, inszenieren.“⁵¹ Auch unsere Beispiele zeigen die inszenierende und Emotionen erregende Funktion von politischen Reden. Im Fall der Anerkennung der weiblichen Sukzession dienten die Festreden Szluhas und Erdődys anlässlich der ersten Landtagssitzung bzw. des Einzugs des Kaisers als Mittel der Anregung zur Akzeptanz des längst vorbereiteten Prozedere, während die Worte Csákys bei der Audienz in der Favorita als Bestätigung einer inszenierten Spontaneität verstanden werden können, die anlässlich der Akzeptanz der weiblichen Sukzession vom Kaiser erwünscht wurde. Die harten Zeilen Karls am Höhepunkt der politischen Debatte über die Gerichtstafel können nicht anders verstanden werden als ein Zeichen dafür, dass der Wille des Herrschers sich gegenüber den oppositionellen ständischen Tönen auch im „Zeitalter der Versöhnung“ durchsetzen konnte. Die kulturgeschichtlichen Methoden der historischen Forschung helfen uns also, den einzelnen Aspekten dieses feinen politischen Spiels näher zu kommen und somit die politische Kultur des Zeitalters besser zu verstehen.
Turba, Grundlagen, S. 168. Barbara Stollberg-Rilinger: Symbol und Diskurs – Das Besipiel des Reichstags in Augsburg 1530, in: Feuchter/Helmrath (Hrsg.), Redekultur, S. 85 – 103, hier 86.
Sabine Jesner
Amtskommunikation und Personalwesen im habsburgischen Banat (1716−1740) Einführung Das Ende des Venezianisch-Österreichischen-Türkenkriegs (1714−1718) führte im Südosten Europas im zweiten Dezennium des 18. Jahrhunderts zu verwaltungsmäßigen Systemwechseln. Die Habsburgermonarchie konnte ihr Territorium um die ehemals osmanischen Gebiete Oltenien, das nördliche Serbien mit Belgrad, einen Streifen Land in Bosnien und das Banat von Temeswar erweitern. Letzteres wurde als Kron- und Kammerdomäne in die Monarchie einverleibt und Karl VI. (1685−1740) fungierte hier zwischen 1718 und 1740 zugleich als Grund- und Landesfürst. Aus der Perspektive der Verwaltung resultierte diese „Sonderstellung“ aus dem Umstand, dass in jener neuen Provinz keine lokalen Eliten und keine privilegierten Stände vorhanden waren, welche in der Lage gewesen wären, administrative Tätigkeiten im Einklang mit den Bedürfnissen der Wiener Zentralstellen auszuführen. Die osmanischen Beamten und lokalen osmanischen Einflussnehmer waren geflohen. Was zurück blieb, waren wallachische (rumänische) und raitzische (serbische) Bauern als eine nicht einsatzbereite personelle Ressource und eine gleichermaßen rückständige wie infolge der Kriegshandlungen vielerorts zerstörte neue Provinz.¹ Unter diesen Rahmenbedingungen rückte der Aspekt „Personalmanagement“ zur Bewerkstelligung des „Infrastrukturmanagements“ in den Vordergrund des habsburgischen Maßnahmenkatalogs, der den Zweck hatte, das Banat räumlich zu erschließen und erfolgreich in den habsburgischen Herrschaftskomplex zu integrieren. Hierbei kam dem Feld der „Amtskommunikation“ eine bedeutende Rolle zu, um die Kommunikation, den Informationsaustausch, zwischen den Befehlshabern in Wien und den ausführenden Organen im ruralen Banat zu gewährleisten. Dazu wurde die hauptsächlich extern rekrutierte Banater Beamten-
Zur Verwaltungsgeschichte des Banats etwa Hans Diplich: Die staatsrechtliche Stellung des Banats im 18. Jahrhundert, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 16, 2 (1967), S. 69 – 78; Costin Feneșan: Administrație și fiscalitate în Banatul Imperial 1716 – 1778. Timișoara 1997; Henrike Mraz: Die Einrichtung der kaiserlichen Verwaltung im Banat von Temesvar. Diss. phil. Wien 1984; Irmgard Kucsko: Die Organisation der Verwaltung im Banat vom Jahre 1717– 1738. Diss. phil. Wien 1934; Josef Wolf: Landerschließung und Raumwissen im frühen habsburgischen Banat, in: Spiegelungen 10, 1 (2015), S. 49 – 98. https://doi.org/10.1515/9783110670561-012
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schaft beauftragt, den Aufbau eines Cambiaturnetzwerks zu betreiben und den Bau von Straßen zu Wasser und zu Land zu befördern.² Der vorliegende Beitrag will am Beispiel des Banats von Temeswar in Verbindung mit Personalfragen Einblicke in die Verwaltungspraxis von Amtskommunikation im Spannungsfeld von herrschaftlichen Akteuren und Institutionen sowie Kommunikationskanälen gewähren. Der Begriff der Amtskommunikation selbst erscheint in der Historiografie noch häufig unkonkret und vor allem ubiquitär anwendbar. Amtskommunikation soll hier in Abgrenzung zur praxeologischen Anwendung von „Politischer Kommunikation“ oder auch neuerdings verstärkt „Politlinguistik“ im sprachwissenschaftlichen Konnex in Betreff der sprachlichen Verarbeitung von Textsorten verwendet werden, da eine rein sprachliche Analyse nicht im Vordergrund steht. Ralf Pröve verweist in seinem Beitrag „Herrschaft als kommunikativer Prozess: das Beispiel Brandenburg-Preußen“ auf die Präsenz des Begriffs „Kommunikation“ als Alltagsvokabel. Zugleich stellt er klar, dass Kommunikation als vermittelter Prozess die Parameter Sender, Empfänger, Medium und Nachricht umschließt. Pröve betont die funktionale Verflechtung zwischen Herrschaft, Kommunikation und Verkehrsinfrastruktur, und definiert letzteres als Bedingung für einen regelmäßigen, dauerhaften Austausch und somit die Funktionalität von Amtskommunikation. Ralf Pröve unterstreicht, dass die sich im Zuge des 18. Jahrhunderts zunehmend verdichtende Herrschaftsausübung ihre Voraussetzung in der gesteigerten Amtskommunikation findet.³ Auf diese Überlegungen aufbauend soll die Definition von Amtskommunikation des Historikers Peter Becker berücksichtigt werden. Becker betont zum einen, dass Amtskommunikation in öffentlichen Verwaltungen praktiziert wird, und zum anderen, dass sich Amtskommunikation sowohl auf nach innen als auch nach außen gerichtete, höchst unterschiedliche kommunikative Inhalte beziehen
Zur Entwicklung der Poststraßen und -stationen etwa die Anweisung von Karl VI. an die Temeswarer Landesadministration vom 28. Juni 1719: „Wegen Einrichtung des daruntigen Postwesens haben Wir des mehrbesagten Grafens von Mercy Vorschlag beygestimmet, und dahero durch unsere Hof-Kammer unserem Obrist-Hof-Post-Amt anfügen lassen, daß in ansehen der mehreren Näche des Weegs, und schwierigeren Laufs deren Briefen fürwohin die Posten gerad von Segedin nacher Temswar, und von dar über Lugos und Caransebes in Siebenbürgen, ingleich von Temeswar nacher Großwardain über Jeno eingerichtet, die Post Beförderer aber aus jenen unseren Cameral Cassen, allwo seyn angestellet worden, mithin die von Ofen bis Segedin aus der alldasigen, die übrige bis Arrath von Segedin aus und die in Bannat befindliche von Temesvar bezahlet werden.“ ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 1/3, Konvolut 2, fol. 35r. Ralf Pröve: Herrschaft als kommunikativer Prozess: das Beispiel Brandenburg-Preußen, in: Ralf Pröve/Norbert Winninge (Hrsg.), Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600−1850. Berlin 2001, S. 11– 16.
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kann. Dabei handelt es sich etwa um die Umsetzung politischer Interessen wie privater Belange, die Vermittlung von Wertvorstellungen, das Aushandeln von Geltungsansprüchen oder um die Suche nach Lösungswegen bei der Fallbearbeitung.⁴ Amtskommunikation steht dementsprechend in direktem Bezug zur Verwaltung. Steht Verwaltung, so Nikolas Luhmann, in Verbindung mit der Produktion von Entscheidungen, setzt dies Kommunikation voraus.⁵ Der Amtskommunikation liegt im Rahmen des dargestellten Fallbeispiels, dem Banat, schriftliche Kommunikation zu Grunde. Ohne allzu sehr die theoretischen Konzepte einer modernen Bürokratie und legalen Herrschaft im Sinne von Max Weber zu berühren, ist doch klar, dass es sich hier um Behördenschriftgut handelt, dessen interaktiver Umgang Schriftlichkeit und Aktenkundigkeit unter den beteiligten Akteuren voraussetzt.⁶ Gleichzeitig muss Amtskommunikation als Kommunikationsprozess innerhalb einer spezifischen Gruppe von Akteuren wahrgenommen werden, welcher im vorliegenden Fall vordergründig Herrschaftsträger oder Herrschaftsvermittler, zumeist Beamte, als Interaktionsteilnehmer umfasst.⁷ Im kommunikativen Gefüge des Verwaltungssystems fungierte das habsburgische Personal im Banat einerseits als Kommunikationsträger, -adressat oder -produzent, und wurde andererseits im Kontext von Personalagenden hingegen selbst zum Inhalt des amtlichen Schriftverkehrs. Der vorliegende Beitrag gibt einleitend Antworten auf die Frage, welche Akteure und Institutionen als Träger und Übersetzer der Kommunikation im Amt fungierten, und welche Themen sich in Verbindung mit habsburgischen Personalfragen in der Amtskommunikation spiegeln. Der Kernteil des Aufsatzes widmet sich jedoch den Instrumenten und Kanälen zur Falllösung durch die beteiligten Institutionen und Akteure. Dies geschieht mit Hilfe von drei Fallbeispielen, anhand jener der Blick gezielt auf herrschaftliche Praktiken und Techniken im Rahmen des Schriftverkehrs eines neuzeitlichen politischen Apparats gerichtet
Peter Becker: Sprachvollzug: Kommunikation und Verwaltung, in: Peter Becker (Hrsg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2011, S. 11– 12. Dazu Niklas Luhmann: Spontane Ordnungsbilder, in: Jürgen Kaube (Hrsg.), Niklas Luhmann, Der neue Chef. Frankfurt a. M. 2016, S. 43 – 89. Zitat paraphrasiert von Dietrich Erben/Christine Tauber: Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen, in: dies. (Hrsg.), Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit. Passau 2016, S. 7. Max Weber: Grundriss der Sozialökonomik. III. Abteilung. Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1922, S. 124– 128. Stefan Haas/Mark Hengerer: Zur Einführung: Kultur und Kommunikation in politisch-administrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne, in: dies. (Hrsg.), Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600 – 1950. Frankfurt a. M. 2008, S. 9 – 22.
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werden soll. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Berücksichtigung administrativer Kommunikation zwischen Wien und Temeswar (rum. Timișoara). Es gilt, Amtskommunikation als Medium innerhalb öffentlicher Verwaltungen anhand einer Mikroperspektive auf das Banat zu begreifen. Das hierfür verwendete Aktenmaterial ist Teil der offiziellen Kommunikation.⁸ Die private Korrespondenz der Herrschaftsträger und Entscheidungsbefugten wurde dabei nicht berücksichtigt. Zugleich liegt ein Hauptaugenmerk auf die Abhandlung „ziviler“ Personalfragen.
Akteure, Institutionen sowie Kernthemen eines herrschaftlichen Personalmanagements Im Zuge des 18. Jahrhundert kommt es mit Blick auf die Struktur der institutionellen Verwaltungsebene zu einer „Neugestaltung des Politischen Raumes“.⁹ Dies spiegelt sich in der Einrichtung von neuen Verwaltungsbehörden und dem Vollzug administrativer Umstrukturierungen.¹⁰ Mit Personalfragen im Banat mussten sich nach 1716 der zivile und militärische habsburgische Verwaltungsapparat in Wien befassen. Für die personellen Angelegenheiten des Banats war allen voran die neu geschaffene Neoacquistische Subdelegation zuständig. Diese Behörde zeichnete sich für die jüngst eroberten Gebiete im Südosten der Monarchie, abgesichert durch die beiden Verträge von Passarowitz 1718, verantwortlich. Die Institution bestand aus Räten des Hofkriegsrats und der Hofkammer, welche unter der Leitung eines Präsidenten wöchentlich tagte und dabei von Sekretären unterstützt wurde.¹¹ Die zumindest noch teilweise vorhandenen Protokolle der Subdelegation machen deutlich, dass die in diesem Ausschuss gefällten Entscheidungen und getätigten Überlegungen von
Im Besonderen ist der umfangreiche Bestand der Älteren Banater Akten im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten) oder der Bestand E 303 im Ungarischen Staatsarchiv (Magyar Országos Levéltár, MOL) zu nennen. Mit Verweis auf Lars Behrisch dazu Peter Becker: Beschreiben, Klassifizieren, Verarbeiten. Zur Bevölkerungsbeschreibung aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hrsg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Berlin 2008, S. 394. Ebd. Stephan Steiner: Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext. Wien/Köln/Weimar 2014, S. 126.
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Anfang an auf Schriftlichkeit beruhten.¹² Hierbei wird zudem die enge Schriftbindung der habsburgischen Verwaltung greifbar, wie es schon Mark Hengerer in seinem Aufsatz über den Prozess des Informierens der kaiserlichen Finanzverwaltung eindrucksvoll dargelegt hat.¹³ Diese neue Behörde wurde schließlich 1745 von einer Hofkommission in Transylvanicis, Banaticis, et Illyricis abgelöst, die ab 1747 unter der Bezeichnung Hofdeputation in Banaticis, Transylvanicis et Illyricis firmierte.¹⁴ Neben den administrativen Instanzen in Wien, Hofkriegsrat, Hofkammer und Neoacquistische Subdelegation, ist gleichfalls auf das lokale Leitungsgremium in der neuen Provinz zu verweisen. Bis 1751/53 administrierte die „Temeswarer Landesadministration“, bezeichnet nach dem städtischen Verwaltungszentrum der Provinz Temeswar, unter der Leitung eines Präsidenten, welcher die Position als Generalkommandant und Gouverneur in Personalunion ausfüllte. Komplettiert wurde der lokale Ausschuss durch zwei zivile Administrationsräte aus den Reihen der Hofkammer sowie dem Kommandanten der Festung Temeswar und des Oberkriegsproviantkommissars. Der Landesadministration untergeordnet war zugleich eine Reihe an Assistenzpersonal wie Buchhalter, Kassiere, Konzipisten, Kanzlisten, Akzessisten oder Praktikanten. Nachdem die Provinz in Distrikte gegliedert worden war, erfolgte auf Distriktebene die Anstellung von Verwaltungspersonal wie Distriktverwalter, Gegenschreiber, Amtsschreiber, Forstpersonal sowie Husaren, oder die lokaltypischen (Ober)Knesen. Hinzu kam fachlich geschultes Spezialpersonal, welches in der Kron- und Kammerdomäne Banat etwa auf dem Gebiet des Bergbaus, des Mautwesens, und in den kaiserlichen Fabriken sein Betätigungsfeld fand.¹⁵
Protokolle der Neoacquistischen Subdelegation finden sich zerstreut über den Bestand der Älteren Banater Akten sowie einige Ratsprotokolle der Hofkommission in Banaticis, Transylvanicis et Illyricis zwischen 1745 – 1752 im Bestand Besondere Banater Akten. Dazu ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Besondere Banater Akten 472. Mark Hengerer: Prozesse des Informierens in der habsburgischen Finanzverwaltung im 16. und 17. Jahrhundert, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hrsg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Berlin 2008, S. 181; Zur Rolle der Schriftlichkeit im Rahmen von amtlichen Kanzleiordnungen im Detail Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000, S. 161– 168. Vgl. das Dekret an den Präsidenten der umgewandelten Deputation Ferdinand Alois Graf Kolowrat-Krakowsky (1682– 1751) vom 28. Juli 1747. ÖStA, HHStA, LA, Österreich – Staat 1– 28 (18.07.1747); neuerdings Michael Hochedlinger/Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen, Bd. 1/1 (MIÖG Erg.Bd. 62). Wien 2019, S. 513 – 515. Als Referenz zur beruflichen Diversität des Amtspersonals etwa die Personalverzeichnisse (Status Personalis). Hier sind sämtliche Fachbereiche zumeist gesondert ausgewiesen.
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Die Organisation frühneuzeitlicher Personalagenden im herrschaftlichen Verwaltungsbereich beschäftigte sich vor allem mit der Abwicklung und Betreuung der Dienstverhältnisse der untertänigen Beamtenschaft. Im Zuge des Rekrutierungsprozesses nahm die Selektion einen großen Teil der organisatorischen Maßnahmen ein. Dieser Prozess war begleitet von den Fragen wer, wie, wo, zu welcher Entlohnung, mit welchen fachlichen Voraussetzungen, stets mit Betonung auf den durch die Anstellung erbrachten „Nutzen für den Aerario“, zum Einsatz kommen könne. Die Qualifikationen einzelner Kandidaten wurden mal mehr mal weniger in Verbindung mit den tatsächlich zu bewältigenden Aufgaben ausführlich diskutiert. Für das Banat mussten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ob des Mangels an heimischen Verwaltungsfachkräften und ausgebildeten Spezialisten, nahezu ausschließlich − eine Besonderheit bildete die Gruppe der Knesen¹⁶ − externe Amtsträger rekrutiert werden. Obwohl die offizielle Kommunikation wenig Rückschlüsse auf die familiäre Situation dieser Beamten zulässt, wissen wir aufgrund lokaler Kirchenmatrikenbücher, dass viele Amtsleute ihre Familien mit ins Banat brachten.¹⁷ Eine Ausnahme hierfür stellen die zahlreichen verschriftlichten Bittgesuche von Witwen um die Auszahlung von Gnaden- oder Sterbquartal dar. Diese Zulagen sollten die schlimmste Not lindern, welche der Tod des Ernährers und Familienoberhaupts − des Verwaltungsbeamten − für diese Familien mit sich brachte.¹⁸ Das Quellenmaterial zu Personalagenden ist inhomogen; die archivierten Schriftstücke umschließen sowohl formelle Resolutionen mit legislativem Charakter für die gesamte Monarchie als auch explizit Einzelfallentscheidungen betreffend singulärer Sachverhalte mit Fokus auf den Werdegang einzelner Beamter. Ein erster Befund zeigt, dass diese Einzelfallentscheidungen überwogen und diese ein breites Spektrum an individuellen Falllösungen nach sich zogen. Die zu treffenden Entscheidungen behandelten unter anderem Neu- oder Nachbesetzungen, Aufhebungen und Umstrukturierungen von Stellen sowie ganz allgemein Besoldungsangelegenheiten und die Abwicklung von Zulagen wie etwa jene der
Die Stellung der Dorfknesen ähnelte der Position eines Schultheiß. Die Knesen wurden von der Dorfgemeinschaft für drei Jahre gewählt. Das Amt war unbesoldet aber mit Steuervorteilen verknüpft. Mehreren Dörfern stand ein Oberknese vor. Oberknesen wurden vom Distriktamt in Abstimmung mit der Landesadministration bestimmt. Zu den Knesen die Studie von Costin Feneșan: Cnezi și obercnezi în Banatul imperial, 1716 – 1778. București 1997. Etwa die Edition von Edgar Aldag: Ortsfamilienbuch. Temeschburg Stadt 1718 – 1861, 5. Bde. Buxtehude 2014. Zuletzt Sabine Jesner: The World of Work in the Habsburg Banat (1716 – 51/53). Early Concepts of State-Based Social and Healthcare Schemes for Imperial Staff and Relatives, in: Austrian History Yearbook 50 (2019), S. 58 – 77.
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Liefergelder (Reisezulagen).¹⁹ Die Aktenstücke waren bis auf wenige Ausnahmen, wie Schriftstücke aus dem religiösen Bereich, Gesundheitszeugnisse oder Universitätsbeglaubigungen, zumeist in deutscher Sprache verfasst.
Instrumente und Kanäle zur Falllösung. Eine neue Stelle für die „Temeswarer Landesadministration“ Das erste Fallbeispiel ist im Themenkreis des Mitarbeiteraufbaus verortet. Auf der Grundlage von drei Schriftstücken lässt sich das Zusammenspiel zwischen den personellen Anforderungen der lokalen Temeswarer Landesadministration und den Überlegungen der Wiener Zentralstellen bei der Abwicklung des Sachverhaltes nachverfolgen. Am 27. Dezember 1728 formulierte die Temeswarer Landesadministration ein Anschreiben an die Hofkammer in Wien. Unterzeichnet wurde das Schriftstück vom Generalkommandanten und Präsidenten des Banats Claudius Florimund Graf Mercy (1666 – 1734) und Administrationsrat Samuel Franz von Rebentisch.²⁰ Ein Charakteristikum für die „Banater Schriftstücke“ bildet die Pflicht zur stets beidseitigen Unterzeichnung der offiziellen Amtskommunikation durch einen militärischen (Hofkriegsrat) und zivilen Amtsträger (Hofkammer). Diese Praxis wurde im Rahmen des Einrichtungsprozesses initiiert, mit dem Ziel, einen Ausgleich zwischen den zivilen und militärischen Einflussnehmern im Banat zu gewährleisten und zugleich die Kommunikation unter den Behörden transparent zu gestalten.²¹ Die Landesadministration stellte in diesem Schreiben den Antrag auf die Anstellung eines zusätzlichen zweiten Kameralinspektors zur „Visitierung deren Landts=Distrikten, Salz=Mauth und anderen Vorfallenheiten“.²² Aus dem Schriftstück lassen sich einige Elemente personalpolitischer Entscheidungsfindung im habsburgischen Herrschaftskomplex herauslösen. So verwiesen die Banater Beamten eingangs im Detail auf strategische Personalplanungsmaß-
Sabine Jesner: Personnel management during times of crisis. The Austrian Banat and the Austro-Russian-Turkish war (1736−1739), in: Istraživanja. Journal of historical researches 27 (2016), S. 120 – 138. Schreiben der Temeswarer Landesadministration an die Hofkammer vom 27. Dezember 1728. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, Januar 1728, fol. 35r – 38r. Dazu etwa das Referat der Hofkammer und des Hofkriegsrats bezüglich der Einrichtung des Banats vom 21. Mai 1718. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 1/3 Anhang, Konv. 1, fol. 202r – 205v. Schreiben der Temeswarer Landesadministration an die Hofkammer, 27.12.1728. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, Januar 1728, fol. 36r.
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nahmen. Die Banater Spitzenbeamten stützten ihre Forderung nach mehr Personal nämlich auf das Argument, dass aus jenem an die Hofkammer jährlich eingesandten Banatischen Haupt=Systemata ersichtlich wäre, daß sich daß hießige Landt vermittelst deren von der Administration ankehrend und von denen unterstehenden Beambten mit ohnermüdten Eyfer und Fleiß volführenden Dispositionen an denen pro aerario abwerfenden Gefählen immer mehreres meliorieren, und andurch die Verrichtungen, oder Operationen deren Officianten ebenfahls anwachsen […].²³
In Ergänzung zum Hinweis auf die nun wirtschaftlich mehr und mehr sich lukrativer entwickelnde Ökonomie im Banat erfolgte ein Rückgriff auf die knapp zehn Jahre zurückliegende Einrichtungsphase, indem daran erinnert wurde, dass „schon anfangs nach recapierung dieses Landts in dem ratificierten Status personalis auf zwey dergleichen Cameral Inspectoris angetragen“ worden wäre.²⁴ Der Baustein verweist auf die Praxis zur Erstellung eines Status Personalis. Das Status Personalis, ein mehrere Seiten umfassendes Dokument, stellte ein tabellarisch verfasstes Verzeichnis sämtlicher mit Besoldung versehener Banater Amtsleute mit Namen, klassifiziert nach Arbeitsbereichen, dar. Das Verzeichnis wurde als Anhang an das gleichermaßen jährlich zu erstellende Haupt=Systemata für das darauffolgende Jahr zur Begutachtung eingeschickt.²⁵ Neben diesen beiden Hauptargumenten gab die Landesadministration einen Einblick in die Tagesgeschäfte der Administration sowie den Rahmenbedingungen unter welchen im Banat gearbeitet wurde. So begründete sich ein Personalzuwachs aus der Sicht der Landesadministration durch den Umstand „das bekantermassen wegen des hier Landts obwaltend sehr ungesundten climatis, besonders aber in dem Sommer wegen der fast ohnerträglichen hitze stätts ein und andere Beambte krankh darnieder ligen thue […].“²⁶ Bedingt durch die ausgedehnten Sumpflandschaften im Banat erschwerte das daraus resultierende erhöhte Risiko, an Malaria zu erkranken, den Staatsdienst in der Provinz. Mercy und Rebentisch ergänzten, dass der bereits angestellte Kameralinspektor Johann Anton de Jean von Hansen (1686 – 1760) mit der Begutachtung und Betreuung der Bergwerke und Glashütten sowie der Tuch- und Abbafabrik²⁷ ausgelastet wäre, sodass de Jean von Hansen
Ebd., fol. 35r. Ebd., fol. 36r. Als Referenz für den Quellentypus etwa das Personalverzeichnis (Status Personalis) des Jahres 1740. ÖStA, AHK, HF U, 30 B, fol. 930r, 944r–945v, 954, 956r–957. Schreiben der Temeswarer Landesadministration an die Hofkammer, 27.12.1728. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, Januar 1728, fol. 36r – 36v. Abba-Tuch ist die Bezeichnung für einen einfachen Baumwollstoff.
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für andere Aufgaben deswegen keine Zeit hätte.²⁸ Des Weiteren führte man noch die im kommenden Frühjahr anstehende „Granitz-Commission in Sclavonien“ an, welche zu längeren Abwesenheiten des Führungspersonals führte, und gleichzeitig personelle Banater Ressourcen an provinzüberschreitende herrschaftliche Aufgaben band.²⁹ Ferner kam in diesem Brief mit der Praxis des Dreiervorschlags (Terna) eine habsburgische Verwaltungsroutine im Kontext der Personalrekrutierung zum Vorschein. Das Gremium in Temeswar hatte bereits eine klare Empfehlung formuliert. Ignatium von Doringer, Hauptmann beim Regiment Wallis, sollte die neu geschaffene Position bekleiden. Dabei sparten die beiden Absender nicht mit Lob. So wäre Doringer aufgrund seiner besitzenden rühmlichen Aigenschaften, schöne Studiio, auch Kantnuß der hießigen Landtssprachen, sonderlich aber, daß er in denen zehn Jahren, als selbiger mit dem Regiment allhier gestandten, in vielen Cameral et Provincial Verrichtungen gebrauchet und […] durch seinen gewöhnlichen Fleiß, Eyfer, und stätten Application jedesmahlen die vollkommene Satisfaction gegeben worden […]³⁰
mehr als geeignet. Lediglich um der Vorschrift Folge zu leisten, erfolgte die Benennung der beiden Distriktoberverwalter Wenzel Rössler und Johann Schubert als zweit beziehungsweise dritt Gereihten für die erwünschte neue Stelle als Kameralinspektor.³¹ Noch bevor in Wien im August 1729 eine finale Entscheidung gefällt wurde, erreichte die Zentralstelle in der Angelegenheit noch ein zusätzlicher Brief. Diesmal ist der alleinige Absender Claudius Graf Mercy. Im Juli 1729 schrieb Mercy direkt aus Wien an die Hofkammer. Nach wie vor plädierte er für eine zusätzliche Stelle zur „Besorgung deren Banatischen Districts= und Bergwerkhsangelehenheiten“.³² Nur der favorisierte Doringer wollte nicht mehr. Der Haubtmann, der „bey dem militari zu verleiben gedenckhet“ stand nicht mehr zur Verfügung.³³ Als Alternative präsentierte Mercy den in Temeswar beschäftigten kayserlichen Universal-Bancalitets-Feldtkriegs-Cassier Johann Max Reißenbichler. Das Schriftstück grenzte sich inhaltlich bloß insofern vom vorangegangenen Ansuchen ab, als
Ebd., fol. 35v. Ebd., fol. 36v. Ebd., fol. 37r. Ebd., fol. 37v. Generalkommandant und Gouverneur Claudius Graf Mercy an die Hofkammer, 09.07.1729. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, August 1729, fol. 2r – 3v, 7r – 8r. Ebd., fol. 2v.
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dass hier nun eine kurze Arbeitsplatzbeschreibung vorliegt.³⁴ Der Brief des Gouverneurs ist unter formalen Kriterien als Empfehlungsschreiben zu bewerten, in dem es galt „nebenliegendes Memorale mit einem Vorworth zu beglaithen.“³⁵ Das Memoriale war das Bewerbungsschreiben des Kassiers Reißenbichler, in welchem dieser wiederum seine persönlichen Qualitäten, Fähigkeiten und Expertisen hervorhob und sein Interesse an der Stelle kund tat.³⁶ Kurz und bündig wurde das Ansuchen am 12. August 1729, ein knappes halbes Jahr nach dem erstmaligen Antrag seitens der Landesadministration, abgelehnt. Mit dem Hinweis, dass „man weder die anderte Cameral Inspector Stelle zu ersetzen; noch die Tuch und Abbafabriquen zu continuieren gedenkhe […]“. Begründet wurde dies mit dem Ansatz, dass die in den Distrikten der Provinz angestellten Beamten „ohne deme allerdings genugsamb zu seyn anscheinet“ und deren Kontrolle durch den schon vorhandenen Inspektor möglich sei. Vor allem wären seine Ressourcen durch die angedachte Schließung der Fabriken nicht mehr an diese gebunden.³⁷ Aus dem Fallbeispiel wird deutlich, dass dem Wunsch der Provinzbehörde von den Zentralstellen nicht stattgegeben worden ist. Die vorliegende Begründung der Ablehnung gegenüber des Personalausbaus setzt voraus, dass die Zentralstellen einen guten Überblick über die Bedingungen in der Provinz hatten.
Externes Spezialwissen im Bergwesen Neben dem Verwaltungspersonal war spezifisch geschultes Fachpersonal notwendig. Hierbei ist besonders der personelle Bedarf im Bereich des Bergwesens von Bedeutung. Bereits in osmanischer Zeit wurde im Eyâlet Temesvar Bergbau betrieben, wenngleich mit wenig Profit. Die natürlichen Ressourcen der neuen Provinz – besonders Eisen und Kupfer – wollte auch der Wiener Hof für sich
„Solchemnach dann ist von seithen mehrged. kay. Administration der ohnmaßgebige Antrag, daß dem zweyten Cameral Inspectoris die besorg und alljährlich etlichmahlige Visitierung deren Landts-Districten, ingleichen Salz- und Mauth Ämbter, auch andere Cameral= und Provincial=angelegenheiten anvertraut werden, also zwar, daß er die Ambtirung deren Officianten, Oberverwalter, Districtverwalter, und Gegenschreiber, wie solche über die eingehende Collecten ihrer Dorfbücher und Protocolla führen, und sonsten ihrem Officio vorstehen, nicht minder ob die Contributions=Geldter und Zehenten mit dem erforderlichen Fleiß […].“ Ebd., fol. 3v, 7r. Ebd., fol. 3r. Bewerbungsschreiben des Kassiers der Landesadministration Max. Reisenbichler, ohne Datierung. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, August 1729, fol. 4r – 5r. Schreiben der Hofkammer an die Landesadministration, 12.08.1728. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, August 1729, fol. 1.
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nutzbar machen. Unter dem Schlagwort „Know-How-Transfer“ erfolgte zügig die Anwerbung von Bergbauspezialisten aus Tirol, Böhmen und Oberungarn für das Banat.³⁸ In diesem Feld ist das zweite Fallbeispiel verortet. Hierbei geht es um die Neubesetzung der Stelle eines Bergmeisters in Majdanpek (serb. Мајданпек).³⁹ Im Zuge des Besetzungsprozederes verfasste die Temeswarer Landesadministration am 28. März 1728 ein Schreiben an die Hofkammer. Das Schriftstück ist wiederum von Gouverneur Mercy und Administrationsrat Rebentisch unterzeichnet. Ein Stein des Anstoßes erwuchs für die Banater Beamten aus der geplanten Neubesetzung, weil die Vergabe der Stelle an banatfremdes Personal vorgesehen war. Vorausgegangen war der Neubestellung ein Bericht des aus Schwaz in Tirol kommenden Unterbuchhalters Johann Baptist Erlacher. Erlacher war im Jahr 1727 mit der Untersuchung der Verhältnisse des Bergwesens im Banat betraut gewesen. Bezugnehmend auf diesen Bericht bekannte sich die Landesadministration dazu, die Mängel, welche Erlacher aufgedeckt hatte, etwa bezüglich der Abläufe in den Bergwerken wie die Organisation des Fuhrwesens oder die Anlieferung von Kohle sowie die ausstehenden Gebühren für Bergleute, zu beheben. Das Kernanliegen der Landesadministration richtete sich jedoch auf die von der Hofkammer bereits kommunizierte zukünftige Besetzung der Bergmeistersstelle in Majdanpek mit dem vormals in Neusohl (slowak. Banská Bystrica) stationierten Joseph Pallitsch.⁴⁰ Hierbei stieß sich das Banater Gremium vor allem an dem Umstand, alß durch die Beyziehung eines außwärtigen subjecti denen bey dene heruntigen werkhern schon vom anfang mithin etliche Jahre mit Fleiß und Eyfer dienende Leutehn, bevorderist ersagten Ober-Geschworenen Tauscher, sehr empfindlich fahlen , und die Lust zu weitern Dienste, auch fernere Application verliehren werden, wann sie sich andurch prateriret, und ihre angehoffte Beförderung anmit gestörret sehen müßten […].⁴¹
Anstatt des Pallisch wünschte sich die Landesadministration die Vergabe der Stelle an einen bereits im Banat im Einsatz befindlichen Bergwerksexperten namens Christoph Tauscher, welcher „seinen besonderen in Bergbau besitzenden guten Wissenschaft und erlangten Erfahrenheit, noch A(nno)o 1726 qua Unterbergmeister mit vierhundert Gulden Besoldung“ bestens geeignet für die Position
Exemplarisch Johann Wessely: Der Banater Bergbau von 1717– 1780 und seine bevölkerungspolitische Bedeutung. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschtums im Südostbanat im 18. Jh. Diss. Wien 1937. Majdanpek lag im so genannten „Bergwerksbezirk“, welcher sich auf dem Gebiet des Banats und Serbiens erstreckte. Schreiben der Temeswarer Landesadministration an die Hofkammer, 24.03.1728. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, April 1728, fol. 15r – 20r. Ebd., fol. 16v.
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wäre. Die Landesadministration nahm durch das geplante Vorgehen der Wiener Zentrale die intrinsische Motivation der Belegschaft als gefährdet wahr, und fürchtete um ihre bereits ansässigen Bergwerksexperten, falls diesen die perspektivische Möglichkeiten einer internen Beförderung entzogen werden würde.⁴² Hinzu kamen von der Temeswarer Landesadministration noch Empfehlungen für Andre Lemberger und Georg Wilhelm Hagen. Der Brief beinhaltet zudem einen aussagekräftigen Hinweis in punkto Nachwuchsförderung: In übrigen stehet die Kayl. Administration in der zuversichtlichen Hoffnung, es werde gegen dero führende Intention nicht streben, wann selbe dahin bedacht ist, das bey ersagten Bergwerkhen junge Leuthe erziglet, und bey solchen von denen alten dergestalten abgerichtet, oder habil gemacht werden, umb selbige mitler zeit in die Dienste employren zu können, […].⁴³
Im Speziellen wurde dabei an die Anstellung von zwei Practicanten gedacht und zur Entlohnung für „jeden etwa zu ihrer benöthigten Subsistenz 200 fl“ budgetiert.⁴⁴ Dem Schreiben selbst ist ein undatiertes Bewerbungsschreiben des empfohlenen Georg Wilhelm Hagen beigelegt.⁴⁵ In diesem Fallbeispiel kann die lokale Verwaltungsbehörde ihre Wünsche bedingt durchsetzen. Die Hofkammer kommunizierte am 15. April 1728 an die Landesadministration, dass entsprechend einer im Dezember des Vorjahres verlautbarten Information, Pallitsch bereits das „Intimationsdekret“ (Bestallungsurkunde) für seine neue zukünftige Stelle als Bergmeister in Majdanpek ausgestellt wurde. Pallitsch habe zudem „die gewöhnliche Aydspflicht bey der Kay. Hofkammer alhier abgelaistet“.⁴⁶ Die Wiener Behörde informierte zusätzlich darüber, dass sich der neue Bergmeister zurzeit in Schwaz in Tirol befände, „umb sich so wohl deren aldortigen Schmölz=Processen als auch in den Bergwerkhsachen, wie solche tractirt, und die Manipulation geführt wird zu informieren.“⁴⁷ Eine Bildungsreise also, um sich Kenntnisse über neue Technologien im Bergwerkswesen anzueignen sowie die Betriebsamkeit an seinem neuen Arbeitsplatz im Banat zu verbessern. Für diese Leistung wird Bergmeister Pallitsch zukünftig
Ebd., fol. 16v. Ebd., fol. 19v. Ebd., fol. 20r. Bewerbungsschreiben von Georg Wilhelm Hagen um 1728. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, April 1728, fol. 17r – 18r. Schreiben der Hofkammer an die Temeswarer Landesadministration, 15.04.1728. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, April 1728, fol. 14v. Ebd., fol. 14r.
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800 Gulden, ein Quartier, Holz und Licht (Kerzen) sowie die Fourage für zwei Pferde erhalten.⁴⁸ Die Hofkammer betonte abschließend, dass auf die beiden von der Landesadministration vorgeschlagenen Personen, Taucher und Hagen, „bey sich ergebender anderwärtigen convenienter aperatur zu reflectieren seyn wird.“⁴⁹ Zumindest hinsichtlich des akatholischen Hagen ist dies auch umgesetzt worden. Seine Unterlagen wurden in Evidenz gehalten, und er arbeitete bis zum Jahr 1740 in leitender Funktion als Buchhalter bei der Temeswarer Landesadministration bevor er sich einem vom Wiener Hof erzwungenen Konfessionswechsel nicht beugte und schließlich den Dienst im Banat quittierte.⁵⁰
Personaltransfer im Südosten der Monarchie Während es im vorangegangenen Beispiel um die Rekrutierung des Personals von außen ging, beschäftigt sich dieses mit einem Akteur, der gewillt war, die Provinz nach langjähriger Tätigkeit zu verlassen. Es handelt sich dabei um den schon mehrfach im vorliegenden Beitrag erwähnten Administrationsrat Samuel von Rebentisch. Rebentisch nahm bereits kurz nach der Eroberung seine Tätigkeit im Banat noch unter der Leitung seines Schwiegervaters und Einrichtungskommissars Alexander Johann von Kallanek auf.⁵¹ Zuvor war Rebentisch in Siebenbürgen und in Slawonien im Verwaltungsbereich tätig gewesen. Zur Betrachtung dieser Personalentscheidung steht uns eines der raren überlieferten Protokolle der Neoacquistischen Subdelegation zur Verfügung.⁵² Das administrative Prozedere sah vor, dass der Kern der Überlegungen der Delegation als empfehlender Vortrag an den Monarchen (ab 1740 an die Monarchin Maria Theresia), übermittelt werde. So dienten die überlieferten Protokolle der Neoacquistischen Subdelegation zumeist als Grundlage für die Referate an den/die Monarch(in).⁵³
Ebd., fol. 21r. Ebd., fol. 14v. Erklärung von Hagen an die Landesadministration, 22.04.1740. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 10, Juni 1740, fol. 472. Im Detail dazu Sabine Jesner: „… ein taugliches Subjectum finden.“ Habsburgische Personalpolitik im neu eroberten Banat (1716 – 1718), in: Franz M. Eybl (Hrsg.), Via Wien. Musik, Literatur und Aufklärungskultur im europäischen Austausch. Bochum 2017, S. 185 – 204, hier 196 f. Protokoll der Neoacquistischen Subdelegation, 18.01.1731. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 6, April 1731, fol. 601r – 602v, 609. Was zudem das häufig eigenhändig angebracht „placet“ des/der Monarchen(in), oder die persönlich formulierten Änderungsvorschläge bzw. Forderung nach der Einholung weiterer Berichte, bezeugen. Exemplarisch das Referat der Hofkammer an Karl VI. über die Besetzung der
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Das vorliegende Beispiel verdeutlicht, dass für die einzelnen Provinzen im Südosten der Monarchie unterschiedliche Fachkompetenzen notwendig waren. Welches Fachwissen nun notwendig war, musste bei Stellenbesetzungen in Verbindung mit den unterschiedlichen Rahmenbedingungen bezüglich Verwaltungsstruktur und Verfasstheit aufeinander abgestimmt werden. Ausbildung und Qualifikation gewannen zunehmend an Bedeutung, und adelige Herkunft begann für die Bekleidung eines höheren öffentlichen Amtes nicht mehr auszureichen. Es geht im Kern um den personellen Transfer des Administrationsrat Rebentisch vom Banat in das benachbarte Fürstentum Siebenbürgen. Der Aufbau dieser Protokolle umschloss eine kurze Überschrift mit dem Datum der Sitzung („Aus der in Neo-acquisticis angeordnete Cameral Haubt Commission dd. 18. Jan. 1731“) sowie eine namentliche Nennung der Sitzungsteilnehmer.⁵⁴ Darauf erfolgte unter dem Terminus Proposito eine kurze Darlegung mit zusammenfassendem Charakter des zu erläuternden Sachverhalts und unter dem folgenden Terminus Conclusio die Empfehlung der Delegation in ausformulierter Form. In einer einzelnen Sitzung wurden zumeist mehrere Punkte abgehandelt. In der Sitzung am 18. Januar 1731 kam unter anderem die Nachfolge der in Siebenbürgen neu zu besetzenden Stelle des Cameral Oberdirectors zur Diskussion. Der ehemalige Stelleninhaber, Hofkammerrat Baron Franz Rainald von Andlern (1698−1771)⁵⁵, hatte den Wunsch geäußert wieder „nacher Wien gezogen zu werden“. Anstatt von Baron von Andlern sollte „ein andr. tauglich- wohlerfahren treues Subjectum wiederumben ausfindig gemacht werden.“⁵⁶ In die engere Auswahl wurde Administrationsrat Rebentisch genommen. Rebentisch hatte den Wunsch geäußert, sich nach Siebenbürgen versetzten zu lassen. Es wird darauf verwiesen, dass Rebentisch seit dem Jahr 1702 im Dienst der Monarchie stand, und im Proposito ein möglicher Wechsel mit Verweis auf „Sechs ohnerzogene Kinder“ unter folgenden Gesichtspunkten formuliert:
Kameralinspektorstelle an De Jean vom 5. April 1727. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 5, Juni 1727, fol. 4, 13r – 15r. „Sub Präs. Ill[ustrissi]mi D[omi]ni L. B. a Brandau, Präs. Dominis Consiliariis, a Harruckern, a Zuana, a Koch. D[omi]nis Secretariis a Cooper, et a Millner, H. Hof- und Hofkriegs Buchhalterey Raithräthe Eberle et Helffenstorffer, Concipista me Luchs.“ Andlern bekleidete nach seiner Tätigkeit in Siebenbürgen die Position des Vizekammerpräsidenten in Schlesien, ab 1752 jene des Repräsentations- und Kammerpräsident und Landeshauptmann in Österreich ob der Enns und ab 1764 die des Hofkommerzienratspräsidenten in Wien. Protokoll der Neoacquistischen Subdelegation vom 18. Januar 1731. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 6, April 1731, fol. 601r.
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schon in das 29te Jahr beständig auf denen äußerist Türk. Gränzen unter vill ausgestanden Ungemach ohnzehliger krankheiten, öffteres Leib und Lebens Gefahr, Ja auch mittels Beysetzung der seinigen, haubtsächlich jedoch nunmehro bereits das 13te Jahr, in dem Temeswarer Banat, bey dasig nun florierend zum Stand gebrachten Land […].⁵⁷
In der Conclusio stehen weniger die persönlichen Beweggründe zum Wechsel in die Nachbarprovinz zur Diskussion, als vielmehr dessen Qualifikationen im Zusammenspiel mit dem zukünftigen Aufgabenbereich. Dabei wurden drei kritische Punkte angeführt, die sich auf die Bewerbung des Kandidaten negativ umlegen ließen. Der erste Kritikpunkt betraf die Befürchtung, für dessen Stelle im Banat schwer einen Nachfolger zu finden. Der zweite hatte ganz konkret mit dessen Qualifikation zu tun: Rebentisch konnte kein Latein. Ein triftiger Hinderungsgrund, da sehr große Teile der siebenbürgischen Amtsgeschäfte in Latein abgewickelt werden mussten. Zu guter Letzt kam ein ökonomischer Aspekt zum Tragen. Gemeinsam mit dem Ungarischen Kammerrat Wolf Conrad von Neffzern hatte Rebentisch im Jahr 1730 das Dreißigst- und Mautwesen im Banat, Siebenbürgen, Serbien, Slawonien und Oltenien (auf vier Jahre) gepachtet (Arenda Societät). Dieser Interessenskonflikt musste gelöst werden. Zum Abschluss wurde hervorgehoben, dass die Verfasstheit Siebenbürgens und die Verwaltungsstruktur basierend auf die Siebenbürgischen Stände (Siebenbürger Sachsen, Ungarn und Szekler) eine andere Form der Leitung als im ständefreien Banat, wo man es „diesseits mit blossen Unterthanen“ zu tun hatte, verlangte. Im Folgenden wurden die Anstellungshindernisse nach und nach abgehandelt sowie von der Deputation für jeden Aspekt eine Lösung erwogen. Bloß die Stellennachbesetzung im Banat fand keine Erwähnung mehr. Die sprachlichen Defizite könnten durch den Hofkammer Sekretär und Aktuar Gebhardt „ad latus adjungieret“ werden, und Rebentisch durch seine anderen Sprachfertigkeiten, walachisch und raitzisch, die mangelnden Lateinkenntnisse kompensieren.⁵⁸ Wenn es Rebentisch schaffe auch die letzte Hindernus der Arenda Societät, welche Ihme zur Ereichnung seiner Intenti, annoch gleichsamb im Weege stehet, abzulainen […] seyed die majora dahin ausgefallen, daß bey dieser der Sache bewandnuß und da nicht ohne Grund zu hoffen, das H. Baron v. Rebentisch mit eben jenem Eyfer, welcher Er in dem Bannat, das allerhöchsten Herren Interesse halber rühmlich bezeiget hat, auch das Camerale in 7bürgen, und der Wallachey zu besorgen sich angelegen seyn lassen würde.⁵⁹
Ebd., fol. 601. Ebd., fol. 601v – 602v, 609. Ebd., fol. 609.
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Sabine Jesner
Auf der Grundlage dieses Protokolls der Neoacquistischen Subdelegation wurde das Referat an Karl VI. formuliert, und schließlich Rebentisch nach Siebenbürgen versetzt.⁶⁰
Amtskommunikation im Banat: Grenzen und Möglichkeiten eines Fallbeispiels Die hier skizzierten Beispiele verdeutlichen, dass die Verschränkung zwischen Amtskommunikation und Personalfragen nicht nur eine Vielzahl an zeitgenössischen Problemstellungen zum Thema Personalmanagement offenbart, sondern dass die Akteure tatsächlich in unterschiedlichen Funktionen als „Fall“ aber auch als Inputgeber im Zuge der Fallbearbeitung oder -besprechung involviert waren. Zudem war die Entscheidung für oder gegen einen Beambten begleitet von unterschiedlichen Möglichkeiten der „Vorbereitung“, wie es exemplarisch aus dem Protokoll der Neoacquisitischen Subdelegation ersichtlich ist, oder in Form der Terna (Dreiervorschlag) als eine normativ geforderte Empfehlung augenscheinlich wird. Infolge der Aktenlage lassen sich nicht alle Fragen zum Thema Personalmanagement gänzlich erforschen und somit abklären. Besonders die Frage, wie man innerhalb der Monarchie von offenen Stellen im Banat erfuhr, kann noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Nichtsdestotrotz lässt das dennoch reiche Quellenmaterial auf einen äußerst intensiven Kontakt zwischen Zentralstellen und Provinzadministration schließen. Der überlieferte amtliche Schriftverkehr reflektiert die Entwicklung einer sich zunehmend verdichteten Verwaltung, die vor allem auf einer gesteuerten, auch verbesserten Ausbildung von Beamten beruhte. Parallel zu diesem Anschwellen kam es zu einer intensivierten Beschäftigung mit der herrschaftlichen Beamtenschaft als Arbeitskraft, die ihrerseits einen erheblichen personellen Zuwachs verbuchte.⁶¹ Die Mehrzahl an
„Ihro May. nach diesem einraten daß referat abzustatten“ ist auf der letzten Seite des Protokolls angeführt. ÖStA, FHKA, NHK, UK, Banater A, Ältere Banater Akten 6, April 1731, fol. 609v. Zur habsburgischen Beamtenschaft im 18. Jahrhundert etwa Eva Faber: Litorale Austriaco. Das österreichische und kroatische Küstenland 1700 – 1780. Trondheim/Graz 1995; Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich. Wien/Köln/Graz 1991; Iryna Vushko: The Politics of Cultural Retreat. Imperial Bureaucracy in Austrian Galicia, 1772– 1867. New Haven/London 2015; Renate Zedinger: Migration und Karriere. Habsburgische Beamte in Brüssel und Wien im 18. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2004; Gernot Peter Obersteiner: Theresianische Verwaltungsreformen im Herzogtum Steiermark. Die Repräsentation und Kammer (1749 – 1763) als neue Landesbehörde des aufgeklärten Absolutismus. Graz 1993. Zur Rolle der Beamtenschaft am
Amtskommunikation und Personalwesen im habsburgischen Banat (1716−1740)
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Stellen mündete zugleich in eine Zunahme an Personalentscheidungen. Mit der Ausnahme der lokal rekrutierten Knesen musste jede dieser Entscheidung, waren die Banater Beamten doch in ihren Funktionen Repräsentanten der habsburgischen Herrschaft im weit entfernt gelegenen Südosten der Monarchie, mit den Behörden in Wien abgesprochen werden. Um die damit verknüpften Verfahren bewältigen zu können, war ein reger Schriftverkehr unumgänglich. Wie die skizzierten Fallbeispiele darlegen, ist die aus der Amtskommunikation zwischen Wien und Temeswar hervorgegangene Typologie an verschriftlichter Kommunikation eine heterogene. Dabei spielen Bewerbungs- und Empfehlungsschreiben gleichsam eine Rolle wie behördeninterne Anträge, Berichte, Bescheide oder die sich in den Protokollen manifestierten Debatten. Entgegen des zweifellos nach wie vor dort und da effektvoll praktizierten Zentrum-Peripherie-Gedankens, welcher dem Zentrum stets ein gestalterisches Übergewicht zuerkennt, lassen sich im Kontext des Banater Personalmanagements durchwegs mit Erfolg gekrönte Initiativen aus der peripheren Provinz eruieren. Am besten sichtbar wird dies durch das Verfahren zur Vorschlagspflicht (Terna) potentieller Kandidaten. Auf dem Weg der Vorselektion konnte die Landesadministration bereits gezielt Wunschkandidaten positionieren, über welche in weiterer Folge des Verfahrens in den Delegationen in Wien und schlussendlich durch den Monarchen verhandelt und entschieden wurde. Dieses lokale Wissen war gleichfalls von Relevanz, wenn es darum ging Banater Sachverhalte in den Wiener Gremien zu besprechen, in welchen die Berichte der Banater Beamtenschaft als Verhandlungsgrundlage nicht fehlen durften und somit gleichsam Teil der Amtskommunikation waren. Infolge der angesprochenen administrativen Techniken wie jene der Evaluation von Bewerbungsschreiben oder jene der Terna lassen sich gleichförmige Prozessverläufe festmachen, die zudem durch ihre Wiederholbarkeit gekennzeichnet sind. Für die Amtskommunikation bedeutet dies, dass eine eingeübte Arbeitstradition aus der Praxis der Verschriftlichung vorhanden war, welche das Ent- und Bestehen von Handlungsketten ermöglichte, denn Schriftgut gewinnt im Zuge des 18. Jahrhunderts ganz allgemein an Autorität. Die sogenannten Intimationdekrete sind ein Produkt dieser Entwicklung. Die Ausstellung derselben diente offiziell als formeller Auftakt für die Aufnahme einer Amtsfunktion im Auftrag des Kaisers. In den Akten selbst finden sich gleichfalls informelle Codes, in welchen die Amtsautorität des habsburgischen Personals greifbar wird; hierbei sind im Besonderen die mit den Unterschriften verknüpften Titel und die formalisierten Anredeformen zu nennen. Dadurch spiegeln sich in der Amtskommunikation die
Hof jüngst Irene Kubiska-Scharl/Michael Pölzl: Das Ringen um Reformen. Der Wiener Hof und sein Personal im Wandel (1766 – 1792). Wien/Innsbruck 2018.
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hierarchischen Strukturen unter den Beteiligten in ihren Funktionen als öffentliche Amtsträger. Eine historische Auseinandersetzung mit Amtskommunikation verlangt nach weiteren Mikrostudien, um zukünftig aus einem komparativen Zugang heraus für frühneuzeitliche herrschaftliche Verwaltungen generalisierbarere Schlüsse ziehen zu können. Hierbei müssen etwa Fragen der Text- bzw. Briefgestaltung sowie zeitliche Referenzkonzepte einer verwaltungsmäßigen Binnenkommunikation Berücksichtigung finden. Ferner scheint die interdisziplinäre Erarbeitung eines theoriebasierten Fundaments zur Kategorisierung von Amtskommunikation als Kommunikationsmedium zur Vertiefung von dergleichen Forschungsfragen weiterhin notwendig.
Stefan Meisterle
Kaiserlich Ostindien – die indischen Niederlassungen Karls VI. Coblon, Banquibazar, Hydsiapour – wenn vom Herrschaftsgebiet Karls VI. die Rede ist, bleiben die Territorien in Indien, in denen unter seiner Regentschaft die kaiserliche Flagge wehte, häufig unbeachtet. Vordergründig aus den spezifischen Erfordernissen des Ostindienhandels als kommerzielle Einrichtungen geschaffen, standen diese ab 1719 erworbenen Gebiete in Indiens Osten (Coblon) sowie Nordosten (Banquibazar und Hydsiapour) mitsamt ihren Tausenden einheimischen Bewohnern über jeweils knapp zwei Jahrzehnte unter der administrativen, juristischen, wirtschaftlichen, politisch-militärischen und kulturellen Kontrolle kaiserlicher Untertanen.¹ Mit der Einstellung der Kompanie von Ostende und de facto des Ostindienhandels unter kaiserlicher Flagge im Zweiten Vertrag von Wien im Jahr 1731 verloren die Niederlassungen zwar ihre eigentliche raison d’être, ungeachtet dessen war die Habsburgermonarchie aber nicht bereit, sie aufzulösen oder gar dem Verfall preiszugeben. Stattdessen bestanden diese Gebiete unter kaiserlicher Kontrolle in Indien, maßgeblich dank aktiver Maßnahmen des Wiener Hofes, noch über ein weiteres Jahrzehnt fort. Karl VI. spielte bei der Sicherung ihres Fortbestandes eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung des Zweiten Vertrags von Wien für die Präsenz in Übersee wurde in Wien und in den südlichen Niederlanden aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert. Zunächst forderte Maria Elisabeth Erzherzogin von Österreich (1680 – 1741), Statthalterin der südlichen Niederlande, die noch amtierenden Direktoren der Kompanie von Ostende auf, Vorschläge zu liefern, wie man die Niederlassungen erhalten und den Ostindienhandel unter kaiserlicher Flagge fort-
Eine detaillierte Darstellung über Entstehung und Entwicklung der Niederlassungen in Bengalen gab Norbert Abbé Laude: La Compagnie d’Ostende et son activité coloniale au Bengale. Brüssel 1944. Rezentere Untersuchungen sind insbesondere Jan Parmentier zu verdanken, etwa Jan Parmentier: Oostende & Co. Het Verhaal van de zuid-nederlandse oost-indiëvaart 1715 – 1735. Gent/Amsterdam 2002; ders.: De holle compagnie. Smokkel en legale handel onder Zuidnederlandse vlag in Bengalen, ca. 1720 – 1744 (Zeven Provincien Reeks Deel 4). Amsterdam 1992. Die Schaffung von Niederlassungen wurde von höchstrangigen Würdenträgern der Habsburgermonarchie wie dem Marquis de Prié, bevollmächtigter Minister des Prinzen Eugen, auch gegen die Widerstände seitens südniederländischer Kaufleute unterstützt. Siehe dazu Karel Degryse: The Factories and Hongs of the Ostend Company. An Assessment, in: John G. Everaert/Jan Parmentier (Hrsg.), International Conference on Shipping, Factories and Colonization. Brüssel 1996, S. 119 – 124. https://doi.org/10.1515/9783110670561-013
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führen könne.² Die Direktoren legten das gewünschte Konzept zwar im Jahr 1732 vor, konzentrierten sich darin allerdings auf Perspektiven für Handelsaktivitäten mit China und lieferten keine verwertbaren Vorschläge zur Zukunft der Niederlassungen.³ Diesen hatte die vehemente Opposition der Seemächte und ihrer Ostindienhändler in Indien inzwischen schwer zugesetzt. So meldeten die Direktoren, dass die Ostindienkompanien Englands und der Niederlande kaiserliche Schiffe in Asien beschlagnahmten, die kaiserliche Flagge schändeten, kaiserliche Untertanen töten und festsetzen würden und auch die indischen Herrscher bereits gegen die „Deutschen“ aufgehetzt hätten.⁴ Diese Berichte verliehen der Frage der indischen Niederlassungen am Wiener Hof eine gewichtige außenpolitische Komponente: Die englisch-niederländischen Aggressionen gegen die kaiserliche Flagge in Ostindien kamen angesichts der angespannten politischen Situation in Europa einer Provokation gleich, die der Wiener Hof nicht ignorieren konnte. Der kaiserliche spanische Staatssekretär Don Ramon de Vilana Perlas Marquis de Rialp (1663 – 1741) antwortete den Direktoren auf ihre diesbezüglichen Klagen: „Je ne doute aucunement que S. M. les prendra particulierement à coeur.“⁵ Er sicherte ferner zu, dass sich eine Ministerialkonferenz mit der Untersuchung der Vorfälle in Bengalen befassen würde.⁶ Im Lichte dieser Entwicklungen traf schließlich der Kaiser die erste einer Reihe weitreichender Entscheidung über die Zukunft der Niederlassungen. In einem Schreiben an seine Schwester Maria Elisabeth vom Januar 1732 erinnerte Karl VI. noch, dass er sich im 1722 ausgestellten Oktroi der Kompanie von Ostende die höchste Souveränität über alle Präsenzen in Indien gesichert hatte – und sich dabei auch die Möglichkeit vorbehalten hatte, diese bei Bedarf später veräußern zu können.⁷ Expliziter formulierte er seine Absichten wenige Wochen später in einem weiteren Schreiben an seine Schwester: „hecha muy sería reflexíon sobre
ÖStA, HHStA, Belgien DD A, Berichte 22, Maria Elisabeth an Karl VI., 07.10.1732. FelixArchief, Antwerpen, IC 5602, Memoire et moiens pour la Conservation des Factories de S.M.I. & C sur les Cotes de Coromandel et de Bengale & du Commerce des Indes en faveur de ses Sujets en General, Proli und de Pret an Maria Elisabeth, 30.09.1732. Zu den Bemühungen der Kompaniedirektoren, die Handelsgeschäfte fortzusetzen, siehe auch Gijs Dreijer: The Afterlife of the Ostend Company, 1727– 1745, in: The Mariner’s mirror 105 (2019), S. 275 – 287. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte 22, Jacomo de Pret und Boschaert an Maria Elisabeth, 09.01.1732. FelixArchief, Antwerpen, IC 5815, Rialp an die Direktoren der Kompanie, 11.10.1730. Ebd. Die Aktionäre der Kompanie von Ostende würde er in diesem Fall für ihre Kosten bei der Errichtung der Niederlassungen entschädigen. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Depeschen rot 12, Karl VI. an Maria Elisabeth, 16.01.1732.
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todo, hé resuelto y deliberado, que dîchas factorías hayan de quedar por mí quenta, y en mí Real nombre por aôra, y haste que pueda deliberar, y disponer de ellas aquello que mas se proporcíone à los Intereses de mí Real servícío“.⁸ Als Grundlage für seine Entscheidung führte der Kaiser einerseits das Oktroi der Kompanie von Ostende ins Treffen: „segun los Articulos 97 y 98 del Octroy me reservé la Soberania de ellas en el caso de terminar la Compañia.“⁹ Andererseits verwies er auf den Inhalt des Zweiten Wiener Vertrags. Dieser gebiete lediglich die Einstellung des kaiserlichen Ostindienhandels von allen ehemals spanischen Ländern in Europa aus. Das Betreiben dieses Handels und die Aufrechterhaltung des Kontaktes zu den Niederlassungen von anderen Häfen aus wären davon allerdings nicht berührt, wie der Kaiser feststellte.¹⁰ In einer kaiserlichen Depesche nach Brüssel vom Februar 1732 verfügte er schließlich auch formal zu den Plätzen in Indien: „loca, portus, ac districtus in Indys Orientalibus […] cessante ad Nos, quà Supremum Dominum“.¹¹ Die Direktoren der Kompanie informierte der Kaiser wenig später über seine Entscheidung. Zunächst stellte er klar, dass die mit England im Zweiten Wiener Vertrag vereinbarte Auflösung und Liquidation der Kompanie nur dann ordnungsgemäß ablaufen könne, wenn das gesamte in Übersee liegende Kapital vollständig erfasst sei. Aus dieser Überzeugung heraus und unter Einhaltung der Bestimmungen des Oktroi sah Karl VI., wie er gegenüber den Direktoren betonte, von einer vorzeitigen Aufgabe der Niederlassungen ab. Stattdessen entschied er sich dafür, sie direkt der kaiserlichen Kontrolle zu unterstellen.¹² Im März 1732 wurde der britische Botschafter in Wien, Thomas Baron von Grantham Robinson (1695 – 1770), darüber informiert, dass der Kaiser die Niederlassungen „provisorio modo“ von einem Gouverneur in seinem Namen verwalten lassen werde, um die noch dort befindlichen kaiserlichen Untertanen nicht ihrem Schicksal zu überlassen.¹³ Anfang April wandte sich Karl VI. in einem persönlichen Schreiben auch direkt an Georg II., König von Großbritannien und Kurfürst von Hannover (1683 – 1760). Im Zusammenhang mit den Ambitionen der Kompaniedirektoren, den Ostindienhandel unter kaiserlicher Flagge nach Hamburg umzuleiten, äußerte Karl VI. in diesem Brief die Absicht, die Niederlassun-
ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Depeschen rot 12, Karl VI. an Maria Elisabeth, 23.02.1732. Ebd. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Depeschen blau 1, Kaiserliche Depesche vom 29.02.1732. Ebd. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 45 – 56, fol. 133v. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 57– 76, Substance de la proposition qui a eté faite à Monsieur de Robinson le 9. de Mars 1732, fol. 24r.
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gen in Indien direkt unter die kaiserliche Verwaltung zu stellen. Als Begründung führte der Kaiser gegenüber dem englischen König an, auf diese Weise die Kaufleute aus den südlichen Niederlanden von weiteren Ostindienfahrten abzuhalten.¹⁴ Auf englischer Seite entgegnete der Botschafter Robinson, man sei in London und Amsterdam der Überzeugung gewesen, dass mit der Einstellung des kaiserlichen Ostindienhandels auch eine Auflösung der Niederlassungen einhergehe.¹⁵ Der Wiener Hof in Person Prinz Eugens von Savoyen (1663 – 1736) gab ihm jedoch zu verstehen, dass in den Vereinbarungen mit Großbritannien nicht definiert worden wäre, wie man mit den Niederlassungen zu verfahren habe. Zugleich erwähnte der Savoyer, dass es den Engländern und Niederländern ja frei stünde, diese zu erwerben – was allerdings auf kein ernsthaftes Interesse seitens der Seemächte stieß.¹⁶
Planmäßige Übernahme Bei der tatsächlichen Unterstellung der Niederlassungen unter kaiserliche Kontrolle ging Karl VI. konsequent vor, wie mehrere Maßnahmen verdeutlichen. Auf Empfehlung der Direktoren der Kompanie veranlasste der Kaiser zunächst die Ernennung eines Gouverneurs, der die kaiserliche Herrschaft repräsentieren und die Niederlassungen verwalten und leiten sollte. Die Wahl dieser Person überließ er den Direktoren, die daraufhin den zu dieser Zeit führenden Angestellten in Indien, François de Schonamille (ca. 1677– 1745), in dieser Funktion bestätigten.¹⁷ Für den designierten Gouverneur erstellte Maria Elisabeth im kaiserlichen Auftrag – und in Abstimmung mit diesem – detaillierte Instruktionen, die zunächst an die Direktoren der Kompanie gingen.¹⁸ Darin wurde dem Gouverneur in Ost-
Charlotte Backera: Wien und London, 1727– 1735. Internationale Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 253). Mainz 2019, S. 353. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 57– 76, Substance de la proposition, fol. 24r. Ebd. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 57– 76, Carta de S. Maj. a la Ser.ma G.ra Archiduquesa Govern.ra de los Payses Baxos, sobre las Factorías de la Compagnie de Ostende, 23.02.1732, fol. 42v; ÖStA, HHStA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22, Maria Elisabeth an Karl VI., 24.03.1732, n° 2 der Beilagen. Maria Elisabeths Bemerkung, sie formuliere die Instruktionen im Sinne des Kaisers, erscheint plausibel, da die Korrespondenzen zwischen Karl VI. und seiner Schwester auf große inhaltliche Übereinstimmungen der beiden schließen lassen. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22,
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indien unter anderem die Erstellung eines umfassenden und exakten Inventars aller Besitzungen und Güter von Wert aufgetragen sowie die Erhebung des Personenstands der europäischen und indischen Einwohner der Niederlassungen.¹⁹ Gegenstand der Instruktionen waren auch Details zur formellen Inbesitznahme der Kolonien durch den Kaiser, darunter die Anordnung, dass die letzten, unter kaiserlicher Flagge nach Indien absegelnden Schiffe „lleven consigo Estandartes, y Banderas con las Armas de este mi Archiduccado de Austria, ornadas del Aguila Imperial […], paraque se quiten todas las Insignias que en dichas Factorias tuviere la Compañia, y se arbolen en su lugar mis dichas Armas, en seña, y manifestacion de que directamente me pertenecen“.²⁰ Dem selben Zweck diente ein an den indischen Großmogul gerichtetes Dokument, in dem die formale Übernahme der Territorien zur Kenntnis gebracht wurde.²¹ Nach mehrfachen Hinweisen des Kaisers wurde der Gouverneur ferner angewiesen, die Niederlassung insbesondere gegen jegliche europäische wie indische Angriffe zu verteidigen und keine wie auch immer geartete Verletzung seiner Souveränität hinzunehmen. Dies hätte er mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bewerkstelligen.²² Beispielhaft wurde dem Gouverneur auch die Freiheit verbrieft, im Bedarfsfall Repressalien gegen indische Schiffe ergreifen zu können: „Vous etes deja instruits que S.M. vous a accordé la permission […] d’user de voye de fait et de represailles sur les Vaisseaux des Maures s’il sera necessaire d’en user ainsi, soit en cas que les Maures eussent occupé les factoreries, ou en cas de refus de justice pour des payemens ou d’outres griefs.“²³ Zum Erhalt des militärischen Personenstandes forderte Karl VI. in einem Schreiben an die Direktoren der Kompanie ferner, dass der Gouverneur die bereits in Ostindien befind-
Schreiben an die Direktoren der Kompanie, 20.03.1732 bzw. n° 6 der Beilagen des Berichtes von Maria Elisabeth an Karl VI. vom 24.03.1732. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 57– 76, Carta de S. Maj. A la Ser.ma G.ra Archiduquesa Govern.ra de los Payses Baxos, fol. 42r; ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22, Instructions pour Vous etabli, et constitué Gouverneur General provisionel, Maria Elisabeth an Karl VI., 24.03.1732, n° 1 der Beilagen. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 57– 76, Carta de S. Maj. A la Ser.ma G.ra Archiduquesa Govern.ra de los Payses Baxos, fol. 42v. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22, Liste de Pieces delivrées en execution des ordres de S.A.S. aux Deputes des Directeurs de la Compagnie Imperiale des Indes, 25.03.1732. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Depeschen blau 1, Kaiserliche Depesche, 29.02.1732, fol. 2r; ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22, Maria Elisabeth an die Direktoren der Kompanie, 25.03.1732. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22 (Berichte der Erzh. Maria Elisabeth 1732), Schreiben an die Direktoren, 20.03.1732, Maria Elisabeth an den Kaiser, 24.03.1732, n° 6 der Beilagen, unfol.
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lichen kaiserlichen Offiziere dort im Dienst zu halten und angemessen zu versorgen hätte. Denn weder sei absehbar, wann die nächsten Schiffe nach Ostindien geschickt werden können, noch dürfe man riskieren, dass ein Mangel an Verpflegung die kaiserlichen Untertanen zur Aufgabe der Niederlassungen nötige.²⁴ In Hinblick auf die in den Niederlassungen ansässigen Arbeiter und Handwerker wurde der Gouverneur angewiesen, diesen die baldige Ankunft weiterer Schiffe aus den Erblanden in Aussicht zu stellen, um sie ebenfalls in Diensten des Kaisers zu halten.²⁵ Zur Finanzierung der Niederlassungen wurden schließlich auch Geldmittel bereitgestellt. Die erste Tranche in Höhe von 26 400 fl. streckte die Kompanie von Ostende vor, der Kaiser sicherte ihr dafür eine volle Entschädigung zu und verpflichtete sich ferner, künftig die Kosten für den laufenden Unterhalt der Kolonien zu bestreiten.²⁶ Die Instruktionen für den Gouverneur, die kaiserlichen Dokumente, die bereitgestellten Geldmittel und das mitreisende Personal wurden auf dem letzten Schiff, das mit dem Einverständnis der Seemächte unter kaiserlicher Flagge von den südlichen Niederlanden aus nach Indien absegeln durfte, nach Bengalen transportiert. Im Jahr 1732 erreichte man die Zwillingsniederlassungen in Banquibazar und dem benachbarten Hydsiapour, die bedeutendsten kaiserlichen Niederlassungen in Indien.²⁷
ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 45 – 56, Karl VI. an die Direktoren der KOE, fol. 135v. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22, Instructions pour Vous etabli, et constitué Gouverneur General provisionel, Maria Elisabeth an Karl VI., 24.03.1732, n° 1 der Beilagen. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 45 – 56, Karl VI. an die Direktoren der Kompanie, fol. 133v; ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 22, Maria Elisabeth an Karl VI., 24.03.1732. Siehe u. a. Michel Huisman: La Belgique commerciale sous l’empereur Charles VI. La Compagnie d’Ostende. Brüssel 1902, S. 498; Parmentier, De holle compagnie, S. 49. Die ZwillingsNiederlassungen in Banquibazar und Hydsiapour waren 1727 nach Jahren intensiver Verhandlungen und kriegerischen Auseinandersetzungen durch die Ostindienfahrer Alexander Hume mit kaiserlichem Auftrag permanent etabliert worden. Siehe dazu auch Laude: La Compagnie d’Ostende, sowie Floris Prims: De Oorlog van Mijnheer Cobbé. Geschiedenis van de Reis van Luitenant-Generaal Cobbé, van zijn Onderhandelingen met den Nabab en van zijn Oorlog tegen de Mooren. 1722– 1724. Antwerpen 1927.
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Neue Handelsinitiativen Die in der Habsburgermonarchie getroffenen Bemühungen trugen entscheidend dazu bei, dass die Niederlassungen nicht nur die Einstellung der Kompanie von Ostende, sondern sogar das letzte Lebensjahrzehnt Karls VI. überdauern konnten. Als unerlässlich für deren Fortbestand erwiesen sich zugleich neue Handelsinitiativen der kaiserlichen Untertanen in Indien. Diese kommerziellen Aktivitäten umfassten sowohl Unternehmungen im sogenannten country trade, dem binnenasiatischen Warenverkehr an den Küsten des Indischen Ozeans, als auch Beteiligungen der kaiserlichen Untertanen an Handelsfahrten unter anderen europäischen Flaggen. Der Gouverneur Schonamille setzte von Banquibazar aus beispielsweise auf eine enge Kooperation mit der nahe gelegenen französischen Niederlassung in Chandernagore sowie insbesondere mit der 1731 gegründeten schwedischen Ostindienkompanie, in der südniederländisches Kapital und Personal der ehemaligen Kompanie von Ostende generell eine wichtige Rolle gespielt hatten.²⁸ Dass diese Aktivitäten den Niedergang der Niederlassungen allerdings lediglich einbremsen konnten, wurde Schonamille in seinen Berichten nach Europa nicht müde zu betonen.²⁹ Der Regierungsstil des kaiserlichen Gouverneurs in Indien ging aus dessen Berichten an Erzherzogin Maria Elisabeth hervor, die jeweils an den Wiener Hof weitergeleitet wurden. Darin betonte Schonamille, der allein in Banquibazar und Hydsiapour die Kontrolle über rund 10 000 Menschen innehatte, dass das Benehmen der Inder deutlich weniger geordnet sei, als man dies aus Europa gewohnt sei.³⁰ In den Beziehungen mit den indischen Autoritäten gestaltete sich nach Darstellung des Gouverneurs ferner der Umstand schwierig, dass deren Entscheidungen stets nur auf den unmittelbaren Nutzen ausgerichtet Zu den Handelsaktivitäten unter fremder Flagge siehe Parmentier, De holle compagnie, insbesondere S. 53 – 70. Zum südniederländischen Einfluss auf die Schwedische Ostindienkompanie siehe u. a. Christian Koninckx: Sweden and India in the eighteenth century: Sweden’s difficulty in gaining access to a crowded market (übersetzt von Cyprian P. Blamires), in: Sushil Chaudhury/ Michel Morineau (Hrsg.), Merchants, companies and trade. Europe and Asia in the early modern era. Cambridge 1999, S. 212– 226; Holden Furber: Rival Empires of Trade in the Orient 1600 – 1800. Minnesota 1976, S. 213. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 24, Schonamille an Maria Elisabeth, 30.12.1734; FelixArchief, Antwerpen, IC 5815, Schonamille an Maria Elisabeth, 06.02.1736 bzw. 20.02.1737 und 30.12.1737. Etwa 5 600 Einwohner lebten im Jahr 1734 dem Inventar Schonamilles zufolge in Banquibazar, weitere rund 4 000 in Hydsiapour. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 23, „Etat des Etablissemens“, François de Schonamille an Maria Elisabeth, 07.01.1734, bzw. Inventaire General, 04.01.1734.
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und zuverlässige und belastbare Vereinbarungen daher eine Ausnahme wären.³¹ Schonamille vertraute zur Durchsetzung seiner Vorstellungen von Ordnung, Gehorsamkeit und Loyalität daher auf eine rigide Linie: „Pour de la Justice, ou fidelité dans les promesses ou engagemens […], il n’en faut atendre d’eux qu’en autant qu’on peut les y contraindre par Politique ou autrement.“³² Am Wiener Hof, wo man bereits 1734 über Schonamilles Regierungsstil Kenntnis erlangt hatte, wurden dagegen keine Einwände erhoben.
Neue politische Linie Die Konsequenz der Habsburgermonarchie in der Frage der Niederlassungen war in Summe zweifellos bemerkenswert, auf Dauer jedoch schwerlich mit anderen, gewichtigen außenpolitischen Interessen in Einklang zu bringen. Aus einer rein ökonomischen Perspektive betrachtet, hatte die von den Seemächten erzwungene Einstellung der Kompanie von Ostende die Niederlassungen obsolet gemacht. Deren schiere Existenz belastete zugleich die diplomatischen Beziehungen mit London und Amsterdam seit geraumer Zeit. Es schien also nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Kaiser die politische Linie in Bezug auf Ostindien korrigieren müsste. Erste Schrammen fügte der Position der Habsburgermonarchie eine Episode des Jahres 1735 zu. Vor dem Hintergrund des Polnischen Thronfolgekrieges glaubten die Direktoren der Kompanie von Ostende, neuen Spielraum für Verhandlungen mit London und Amsterdam über eine Wiederbelebung des Ostindienhandels unter kaiserlicher Flagge zu erkennen.³³ Sie schlugen Karl VI. ein politisches Tauschgeschäft mit England und den Niederlanden vor, das auf die Aufgabe der Niederlassungen abzielte: Indem der Wiener Hof auf alle „Colonies et factoreries“ sowie auf weitere Gründungen verzichte, könnte man im Gegenzug von den Seemächten die Erlaubnis zur Entsendung von drei kaiserlichen Ostindienschiffen pro Jahr erwirken.³⁴ Die Organisation und Durchführung dieser Handelsfahrten würde nach der Vorstellung der Direktoren durch eine revitalisierte Kompanie von Ostende erfolgen, die sich dazu verpflichten könnte, im Inland jährlich Waren im Wert von 200 000 fl. für den Export nach Ostindien zu erwerben, um damit die erbländische Wirtschaft zu stärken.³⁵ Die Initiative fand
ÖStA, HHStA, LA Belgien DD A, Berichte Kt. 23, „Etat des Etablissemens“, François de Schonamille an Maria Elisabeth, 07.01.1734 Ebd. Huisman, Belgique commerciale, S. 506. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 24, Maria Elisabeth an Karl VI., 19.04.1735. Huisman, Belgique commerciale, S. 507.
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tatsächlich gewichtige Unterstützer – allen voran Maria Elisabeth, die den Vorschlag gegenüber dem Kaiser als „tres utile et tres avantageuse, tant pour le bien de son Royal service que pour le commerce de ses sujets“ bezeichnete. Die Aufgabe der Niederlassungen sei als „sacrifice en vue de la pacification generale“ zu betrachten.³⁶ Auch beim alternden Kaiser stieß die Idee auf Interesse – allerdings nicht unmittelbar und auch nicht unbedingt in der von den Direktoren beabsichtigten Weise. Die erste tatsächliche Korrektur der politischen Linie in Sachen Ostindien erfolgt nämlich erst im Jahr 1737 – und damit knapp fünf Jahre, nachdem sich Karl VI. zur Übernahme der Niederlassungen entschieden hatte. Im Lichte übergeordneter außenpolitischer Interessen ordnete der Kaiser an, doch noch einen Verkauf der Territorien in die Wege zu leiten.³⁷ Ausschlaggebend für diesen Paradigmenwechsel war zum einen der sich verschlechternde Zustand der Niederlassungen und ihre fragwürdigen kommerziellen Perspektiven. Eine Weiterführung der Kolonien hätte mit Mitteln des ohnehin bereits hoch verschuldeten Staates finanziert werden müssen. Zum anderen hatte Karl VI. kein Interesse an einer weiteren Störung der Beziehungen zu den Seemächten, deren außenpolitische Unterstützung er insbesondere für eine Anerkennung der Pragmatischen Sanktion suchte. Die Niederlassungen kurzerhand aufzugeben oder ihrem vollständigen Verfall preiszugeben, kam für den Kaiser allerdings weiterhin nicht in Frage. Stattdessen sollte die Abwicklung in Form einer geordneten Veräußerung erfolgen. Doch auch diese neue politische Linie wurde nicht sehr lange verfolgt. Als sich ein Verkauf an die Seemächte mangels Interesses potenzieller Käufer endgültig als illusorisch erwiesen hatte, kam es zu einer neuerlichen Kurskorrektur. Auch diesmal blieb freilich der – eigentlich naheliegende – Befehl zur Räumung der Territorien in Übersee und zur Rückkehr der kaiserlichen Untertanen nach Europa aus. Stattdessen beschloss Karl VI. noch in den letzten Monaten seines Lebens, den Niederlassungen neuerlich – und ungeachtet einer auf 99 Millionen Gulden angewachsenen staatlichen Schuldenlast³⁸ – finanziell zur Seite zu stehen. Im Juni 1740 ordnete er an, Geldmittel in Höhe von „deux mille pistolles“,
ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Berichte Kt. 24, Maria Elisabeth an Karl VI., 19.04.1735. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Depeschen rot 15b, Depesche von Karl VI. an Maria Elisabeth, 10.07.1737. Peter George Muir Dickson: Finance and Government under Maria Theresia 1740 – 1780, 2 Bde. Oxford 1987, Bd. 2, S. 6; Franz Freiherr von Mensi: Die Finanzen Oesterreichs von 1701 bis 1740: Nach archivalischen Quellen dargestellt. Wien 1890, Anhang B, Summarische Daten, 498/536/ Appendix 13/Appendix 18.
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umgerechnet rund 15 000 fl., nach Banquibazar zu transferieren.³⁹ Zwar erschien diese Summe angesichts der im Jahr 1732 für die Betriebskosten eines Jahres veranschlagten Betrages in Höhe von 26 400 fl. allenfalls als ausreichend, um den Fortbestand der Niederlassungen lediglich kurzfristig zu sichern und um die drängendsten Schulden vor Ort tilgen zu können. Der Kaiser fällte mit dieser Anordnung also keine Grundsatzentscheidung über die Zukunft der Niederlassungen. Doch er kaufte damit wertvolle Zeit. Mit seinem Tod im Oktober 1740 vererbte er seiner Tochter Maria Theresia schließlich nicht nur ein bald erbittert umkämpftes großflächiges Erbe in Europa, sondern auch die Präsenz unter kaiserlicher Flagge in Ostindien. Nachdem es bis in den Herbst 1741 noch immer nicht zur Bereitstellung dieses Betrages gekommen war, verlangte Maria Theresia (1717– 1780) vom Statthalter der südlichen Niederlande, dass der Anordnung ihres Vaters ohne weitere Verzögerung Folge geleistet und die Übermittlung der Geldmittel unmittelbar bewerkstelligt werde, „[…] pour soulager des gens, qui pour Mon Service, sont confinés dans un Coin du Monde, si eloignés de leur Patrie et exposés à la derniere misere.“⁴⁰ Auf einem französischen Schiff gelangten im Jahr 1742 die ursprünglich von Karl VI. eingeforderten Geldmittel schließlich nach Banquibazar, wo sie Schonamille in Empfang nahm.⁴¹ Angesichts des inzwischen angehäuften Schuldenstands – allein für den laufenden Betrieb der Niederlassungen seit 1734 hatte Schonamille Ausgaben in Höhe von 87 055 Rupien⁴² getätigt – verbesserte diese finanzielle Unterstützung aus Europa die Lage lediglich geringfügig.⁴³ Dass die Niederlassung trotz dieser Schuldenlast überhaupt weiterhin Bestand hatte, war wie geschildert vor allem der Zusammenarbeit mit Kaufleuten anderer europäischer Nationen, darunter vor allem der schwedischen Ostindienkompanie, zu verdanken.⁴⁴ Aufgrund dieser Zusammenarbeit konnte der kaiserliche Gouverneur eine ausreichende Liquidität sicherstellen, Rückfrachten für Europa zusammenstellen und dringende Bauarbeiten in Banquibazar durchfüh-
ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Depeschen rot 15b, Maria Theresia an Graf Harrach, 25.11. 1741. Zur Umrechnung vgl. Mensi, Finanzen Oesterreichs, S. 756. ÖStA, HHStA, LA, Belgien DD A, Depeschen rot 15b, Maria Theresia an Graf Harrach, 25.11. 1741. Parmentier, De holle compagnie, S. 77. Einer in Coblon im Jahr 1723 gefertigten Umrechnungstabelle entsprach das rund 100 000 fl. ÖStA, HHStA, Ostende 1, E, Bericht des de la Peña an de la Merveille, 30.06.1723, fol. 2v. Parmentier, De holle compagnie, S. 77. Mit der „Suecia“ und der „Fredericus Rex Sueciae“ erreichten 1739 und 1740 zwei Schiffe unter schwedischer Flagge Bengalen – unter maßgeblicher Beteiligung südniederländischer Kaufleute sowie mit Personal der ehemaligen Kompanie von Ostende. Siehe dazu Parmentier, De holle compagnie, S. 74; Koninckx, Sweden and India, S. 218.
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ren lassen. Ungeachtet dessen schwand bei Schonamille der Glaube an den Fortbestand der Niederlassungen wie unterschiedliche Maßnahmen verdeutlichten: So nutzten der Gouverneur und die kaiserlichen Untertanen in Banquibazar schwedische Schiffe, um private Handelsfrachten und Wertgegenstände nach Europa zu transferieren. In einem Brief an Maria Elisabeths bevollmächtigten Minister in den südlichen Niederlanden, Friedrich August Graf Harrach (1696 – 1749), ersuchte Schonamille im Jahr 1740 ausdrücklich um die Erlaubnis zur Rückkehr nach Europa.⁴⁵ Dieses Ansinnen wurde allerdings nicht unterstützt. Stattdessen kam es noch unter Karl VI. zur erwähnten Anweisung, neue Geldmittel für den Fortbestand der Niederlassungen bereitzustellen. So war es schließlich eine politische Entwicklung in Indien, die der Präsenz in Übersee ein Ende setzte. Bedroht von den Marathen, eines aggressiv expandierenden zentralindischen Reiches, verlangte der regionale Herrscher von Bengalen den ansässigen europäischen Niederlassungen höhere Beiträge zur Verteidigung ab. Schonamille konnte diesen allerdings nicht leisten, woraufhin es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam. Mit rund 350 Soldaten und Söldnern nahm er den aussichtslosen Kampf gegen eine indische Übermacht von rund 10 000 Soldaten auf. Nachdem sich die militärische Lage endgültig als ausweglos erwiesen hatte, räumte Schonamille mit den verbliebenen Soldaten, Angestellten und kaiserlichen Untertanen am 9. November 1744 das Feld und gab die Niederlassungen auf. Der kaiserliche Oberbefehlshaber versuchte sich mit seinem Gefolge zunächst noch an der Gangesmündung festzusetzen. Von hier aus plante er, eine Blockade des Ganges zu errichten und ließ nahe gelegene Dörfer plündern und brandschatzen, bevor er mit seiner Gefolgschaft im Februar 1745 auf gekaperten Schiffen die Insel verließ. Diese „Keizerlijke bende“⁴⁶ kehrte jedoch nicht nach Europa zurück, sondern setzte Kurs auf Burma, wo Schonamille und ein Großteil seines Gefolges schließlich den Tod fanden.⁴⁷ Die unter Karl VI. etablierte Präsenz der Habsburgermonarchie in Indien fand damit erst während der Regentschaft Maria Theresias ihr Ende.⁴⁸
Parmentier, De holle compagnie, S. 72– 75. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87– 91. Erst gegen Ende der Regentschaft Maria Theresias sollten die Aktivitäten der Habsburgermonarchie an den Küsten des Indischen Ozeans durch die Initiative des englisch-niederländischen Ostindienfahrers William Bolts eine Wiederbelebung erfahren. Siehe dazu Stefan Meisterle: Country trade unter kaiserlicher Flagge: William Bolts und die zweite österreichische Ostindienkompanie, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 9 (2008/2), S. 63 – 87.
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Vielfältige Motive Die Entscheidung Karls VI., die Niederlassungen im Jahr 1731 zunächst direkt der Krone zu unterstellen und ihren Fortbestand in den darauffolgenden Jahren zu sichern, stellte im Kontext des europäischen Ostindienhandles grundsätzlich kein singuläres Ereignis dar. Knapp zwei Jahre zuvor hatte etwa der dänische König nach der Liquidation der zweiten dänischen Ostindienkompanie deren Niederlassung Tranquebar übernommen, um diese bis zur Neuetablierung und Reorganisation des dänischen Ostindienhandels für die Untertanen der Krone zu sichern.⁴⁹ Die Entscheidung Karls VI. ist dessen ungeachtet alleine schon aufgrund der Tatsachen bemerkenswert, dass der Kaiser – im Gegensatz beispielsweise zum dänischen König – über eine territoriale Großmacht herrschte, die keine große seefahrerische Tradition vorzuweisen hatte und im Überseehandel nicht dauerhaft etabliert war. Insgesamt schien der Kaiser bei der tatsächlichen Übernahme der Niederlassungen ferner einen wohl geordneten Plan zu verfolgen: So trug er unter anderem dafür Sorge, dass ein kaiserlicher Gouverneur ernannt, erforderliche Geldmittel organisiert, notwendige Dokumente ausgefertigt und klare Handlungsanweisungen für die Untertanen in Übersee verfasst und übermittelt wurden. Diese – zumindest in den ersten Jahren – bemerkenswerte Konsequenz in der ostindischen Angelegenheit wirft die Frage nach den Motiven des Kaisers auf. Ihre Beantwortung erfordert mehrfache Erklärungsansätze. Zunächst stellte Karl VI. in Schreiben und Dekreten dar, dass finanzielle Erwägungen eine zentrale Rolle bei seiner Entscheidung zu Übernahme und weiterem Betrieb der Niederlassungen spielten. So hielt er in einem Brief an die Direktoren der Kompanie fest, dass ein Verlust der Territorien noch vor der Abwicklung der Kompanie den Aktionären einen finanziellen Schaden verursachen würde – Schaden, der durch einen geordneten Verkauf der Territorien abgewendet werden könnte.⁵⁰ Darüber hinaus war bei seiner Entscheidung aber auch eine starke außerökonomische Motivation festzustellen. Diese war bereits im Oktroi der Kompanie aus dem Jahr 1722 verschriftlicht worden, in dem Karl VI. seiner Absicht Ausdruck verliehen hatte, einmal erworbene Territorien in Übersee auch erhalten zu wollen. Folgerichtig berief sich Karl VI. auch bei der Übernahme der Niederlassungen im Jahr 1732 mehrfach auf genau jene Formulierungen des Oktrois. Zu beachten ist ferner, dass Karl VI. im Zweiten Wiener Vertrag zwar der Opferung des kaiserlichen Ostindi-
Furber, Rival Empires, S. 213. ÖStA, HHStA, StAbt, Ostindische Kompanien, Ostende 2, Auflösung der Kompagnie 45 – 56, Karl VI. an die Direktoren der Kompanie, fol. 136r.
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enhandels zustimmte, sich aber doch weigerte, auch die Präsenz in Außereuropa aufzugeben und sich in diesem Punkt den Seemächten unterzuordnen. Die aggressiven Handlungen der englischen und niederländischen Ostindienkompanien in Indien mussten schließlich das politische Empfinden des Kaisers berührt haben, sodass er einen entschädigungslosen territorialen Verlust für die Habsburgermonarchie nicht zu akzeptieren bereit war. In diesem Zusammenhang drängt sich weiter der Verdacht auf, dass Karl VI. die Bedeutung Außereuropas auch als Vehikel und Bühne zur Demonstration politischer Macht erfasst hatte. Dies legen insbesondere zwei Indizien nahe. Einerseits hielt Karl VI. an dem Titel „Indiarum rex“, den er als spanischer Thronprätendent geerbt hatte, auch nach dem Ende seiner spanischen Ambitionen als Teil des kaiserlichen Siegels und Wappens fest – ebenso wie an seinen weiteren spanischen Herrschaftstiteln.⁵¹ Bemerkenswert ist andererseits, dass ein markantes Element der Wiener Karlskirche ausgerechnet Außereuropa zum Thema hatte. Eingerahmt wurde dieser bedeutende sakrale Bau von zwei markanten Säulen, die in monumentaler Weise das „Plus Ultra“ des spanischen Wappens zitieren.⁵² Mit diesem Symbol war schon unter Karl V. der Aufbruch aus dem Mittelmeer – vorbei an den beiden Säulen des Herkules bei Gibraltar – in die gesamte Welt versinnbildlicht worden. Die unter Karl VI. errichtete Karlskirche erinnerte unverkennbar an einen alten habsburgischen Herrschaftsanspruch, der auch außerhalb Europas Geltung behalten sollte. Mit Blick auf diese Beweggründe, aber auch auf die diversen Korrespondenzen, gründlich erarbeiteten Erlässe und Entscheidungen sowie auf das Maß an investierter politischer, ökonomischer und organisatorischer Energie ist die Frage nach dem Schicksal der ostindischen Niederlassungen in Summe als eine Materie von einiger politischer Relevanz zu betrachten. Von staatlicher Seite waren in die Lösung dieser Frage mehrere hochrangige Würdenträger involviert, darunter Maria Elisabeth, der Marquis de Rialp – und eben auch Karl VI. Er gab nicht nur, mehrfach in persönlichen Schreiben, die grundlegende politische Line in dieser Angelegenheit vor, sondern zeigte auch Interesse daran, wie die Realisierung dieser Linie erfolgte. Damit übernahm der Kaiser bewusst eine direkte Verant-
Karl Heffner (Hrsg.), Die deutschen Kaiser- und Königs-Siegel nebst denen der Kaiserinnen, Königinnen und Reichsverweser. Würzburg 1875, S. 41. Siehe etwa Karl VI., römisch-deutscher Kaiser, um 1712, Kupferstich von Christoph Weigel: ÖNB Bildarchiv und Porträtsammlung, PORT_00047136_01 (Wien), http://data.onb.ac.at/rec/baa4819876 (24.02. 2020). Bernhard Rill: Karl VI. Habsburg als barocke Großmacht. Graz/Wien/Köln 1992, S. 202. Zu Vergleichen mit der Symbolik Karls V. etwa Franz Matsche: Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des „Kaiserstils“. 2 Bde. (Beiträge zur Kunstgeschichte 16). Berlin/New York 1981, Bd. 1, S. 242– 248.
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wortung auch über jene außereuropäischen Territorien, in denen unter seiner Regentschaft die kaiserliche Flagge wehte.
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Zu verhütung nachtheiliger confusion und unordnung¹ Die Geheime Finanzkonferenz Ziel des folgenden Beitrages ist es die Entstehung und Funktionsweise einer zentralen Einrichtung der Habsburgermonarchie Kaiser Karls VI. vorzustellen, nämlich der 1716 begründeten Finanzkonferenz. Dabei sollen Entscheidungsprozesse, involvierte Persönlichkeiten nicht zuletzt mit Blick auf die Gruppierungen bei Hof, in den Sitzungen behandelte Thematiken, Schwierigkeiten der Verwaltungsstellen untereinander sowie damit die Rolle der Konferenz insgesamt im habsburgischen Verwaltungsapparat thematisiert werden. Die Einrichtung 1716 und Entwicklung der Geheimen Finanzkonferenz bis zu deren Auflösung 1741 bieten jedenfalls die Möglichkeit, ein zentrales Organ mit seinen Erfolgen und letztlichem Scheitern nach dem Tod des Kaisers in den Blick zu nehmen. Welche Kompetenzen wurden dem Gremium zu Beginn übertragen? Behielt es diese bzw. in welchen Bereichen wurde die Konferenz im ersten Jahrzehnt besonders aktiv und in welchen im letzten Jahrzehnt? Sind also gewisse Elemente eines schleichenden Abstiegs zu fassen?² Wie sich das Verhältnis zu den anderen Zentralstellen, insbesondere der Hofkammer und der Universalbankalität, in den drei Jahrzehnten entwickelte, wird erst auf Grundlage weiterer eingehender Studien verlässlich zu beantworten sein. Im vorliegenden Beitrag sollen die in der Finanzkonferenz diskutierten administrativen Schwierigkeiten, Themen sowie Lösungsvorschläge beispielhaft analysiert sowie abschließend die Inhalte der Beratungen der Konferenz vorgestellt werden.
Thomas Fellner/Heinrich Kretschmayr: Die österreichische Zentralverwaltung. 1. Abt.: Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749), Bd. 3: Aktenstücke 1683 – 1749. Wien 1907 (künftig ÖZV 1/3), S. 200. Der Beitrag kann einige dieser Frage nur allgemein bzw. basierend auf einer ersten Auswertung ausgewählter Quellen beantworten. Insbesondere wurden einige Jahrgänge der Protokolle (s. zu diesen unten) ausgewertet, konkret der Indexband für die Jahre 1716 und die Protokolle von 1717, 1719, 1722 und 1735 (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 3, 5, 8 bzw. 21). Bezüglich allgemeiner Fragen, z. B. Teilnehmerkreis bei den Konferenzen, wurden praktisch alle Bände konsultiert. Diese erste Skizze soll in den kommenden Jahren auf eine breitere Auswertungsbasis auch im Hinblick auf die Tätigkeit der Hofkammer und Universalbankalität insgesamt gestellt werden sowie ein besseres Verständnis zur Finanz- und Wirtschaftspolitik Karls VI. im europäischen Kontext gewonnen werden. https://doi.org/10.1515/9783110670561-014
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Die Quellen: Protokolle und Akten Eine geordnete Verschriftlichung der Tätigkeit der mit Finanzangelegenheiten betrauten Ämter war eine anhaltende Forderung der Kameralisten. Eine entsprechende Protokollführung in den Zentralstellen war dabei ein Schlüssel für die jeweiligen Leiter, um jederzeit Einblicke in die Tätigkeit der ihnen unterstellten Stellen zu erhalten. Nicht zuletzt Starhemberg forderte im Rahmen seiner Tätigkeit in der Hofkammer, entsprechende Maßnahmen ein, die sich letztlich in der Hofkammerinstruktion für 1717 sowie auch der Etablierung der Finanzkonferenz niederschlugen. Gerade die Tätigkeit der neu eingerichteten Finanzkonferenz, bei der die Fäden zu einem Gesamtbild zusammen gewoben werden sollten, war ein Mittel, um einen Überblick über die vorhandene Unordnung der kaiserlichen Finanzen zu erhalten und eines der wesentlichen Ziele der Einrichtung der Finanzkonferenz und Graf Starhembergs.³ Kern der vorliegenden Studie sind die geschlossen erhaltenen Bände der Geheimen Finanzkonferenz von 1716 bis 1741. Insgesamt handelt es sich um 26 Bände. Das Spitzenjahr 1717 dokumentiert auf 1928 Seiten 55 Konferenzen.⁴ Die
Das Bemühen um eine geordnete Protokollführung datiert letztlich auf die Maßnahmen Maximilians am Ende des 15. Jahrhunderts zurück, bei denen ein elaboriertes System im Bereich der Hofkammer eingeführt werden sollte, um einen Überblick über die eigenen finanziellen Ressourcen zu erlangen. Graf Starhemberg war um 1700 und in der Regierungszeit Karls VI. einer der einflussreichen Ratgeber, aber stand mit seinen Forderungen keineswegs allein. Seine Tätigkeit bis 1715 ist durch die ihm gewidmete Studie von Brigitte Holl sehr gut aufgearbeitet: Brigitte Holl: Hofkammerpräsident Gundaker Thomas Graf Starhemberg und die österreichische Finanzpolitik der Barockzeit (1703 – 1715) (Archiv für österreichische Geschichte 132). Wien 1976. Vgl. Stefan Seitschek: Tradition als Innovation. Finanzverwaltung in der Habsburgermonarchie um 1700, in: Harald Heppner/Sabine Jesner (Hrsg.), The 18th Century as Period of Innovation, Yearbook of the Society for 18th Century Studies on South Eastern Europe 2 (2019), S. 103 – 130. Zum auch in den Sitzungen behandelten Thema eines Generalrepertoriums s. weiter unten. Zu der Buchführung bzw. Organisation in den Buchhaltereien unter Leopold I. zusammenfassend Körbl, Hofkammerpräsident, S. 85 – 87; Reformvorschläge Starhembergs etwa Holl, Hofkammerpräsident, S. 225 – 228, 363 – 369. Auch in späteren Jahren bot die Organisation der Buchhaltereien stets Diskussionsstoff, etwa bei möglichen Einsparungen im Personalbereich. Im Vergleich dazu trifft man sich 1719 noch 30 Mal. Die Zahl pendelt sich dann auf 25 Sitzungen ein, 1728 sind es dann nur noch 14 Zusammenkünfte. 1729 folgen noch neun Sitzungen, 1732 wird mit fünf der Tiefstand erreicht, um sich dann seit 1735 auf sieben Treffen einzupendeln. Der Umfang der Bände schwankt bis 1730 zwischen 400 und 600 Blatt, im Jahr 1727 sind es sogar 760. Nach 1730 sinkt dann der Umfang der Bände, der sich um 300 Blatt bewegt. Diese sind einheitlich in weißem Leder gebunden, wobei die Bindung nachträglich erfolgt sein dürfte. So ist etwa im Protokoll von 1718 fälschlich ein solches zu einer Sitzung von 1719 eingebunden. Die Konferenzen sind durchnummeriert. Zu den späteren Jahrgängen ist anzumerken, dass manche der durch-
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Protokolle der Konferenzen sind dabei Reinschriften⁵, die kaiserlichen Resolutionen zu den einzelnen Punkten in der Regel in einer anderen Hand unter einem im Vergleich zur jeweiligen Konferenz späteren Datum⁶ oder durchaus auch eigenhändig von Karl VI. eingetragen. Insbesondere die (zumeist kürzeren) Protokolle jener Sitzungen, an denen der Kaiser persönlich teilnahm, tragen am Ende ein eigenhändiges „Placet, Carl“. Neben den Protokolltexten sind immer wieder Beilagen zu den behandelten Fragen am Ende der jeweiligen Sitzungen beigebunden.⁷ Neben dieser zentralen Überlieferung der Tätigkeit der Konferenz sind einige Konvolute zu dieser im sogenannten Nachlass Schierendorf gelangt.⁸ Dieser enthält Konzepte der Protokolle der Konferenz und von dieser ausgehende Dekrete sowie auch Referate an den Kaiser.⁹ Diese Überlieferung ist insofern von Interesse, weil sie schlaglichtartig einen Einblick in die Kanzleitätigkeit der Konferenz erlaubt (s. dazu unten). Ähnliches bietet die Überlieferung der Hof-
nummerierten Sitzungen im Protokoll geteilt wurden, also einen ersten und zweiten Sitzungsteil beinhalten. Den Bänden sind Indices beigebunden, für 1716 und 1717 wurde ein eigener Indexband angelegt. Einzelne kleinere Korrekturen oder Streichungen ganzer Punkte (z. B. mehrfach im Protokoll von 1719) illustrieren jedenfalls, dass mit diesen Texten weiterhin gearbeitet wurde. Immer wieder wurden auch Passagen mit Papierzetteln überklebt. Z. B. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 109v (21.11.1722). Zu denken wäre etwa an den langjährigen Referendar Lachemayr, was erste Schriftvergleiche nahelegen. Einzelne wiederkehrende Hände sind in den Protokollen auszumachen, nicht zuletzt wurde bei persönlicher Anwesenheit des Kaisers das Protokoll in einer anderen Hand als in den anderen Reinschriften bzw. Abschriften verfasst. Ziel der ausstehenden Arbeiten wird es auch sein, diese eventuell zu benennen und gewisse Strukturen herauszuarbeiten. Der Kreis dürfte sich letztlich auf die Kanzlei der Finanzkonferenz beschränken (s. unten), wodurch eventuell durch Vergleiche der Protokolltexte, erhaltener Dekretkonzepte mit deren Vermerken sowie der Reinschriften eine verlässliche Zuordnung aufgrund der Personalwechsel möglich sein wird. Dabei handelt es sich v. a. in den früheren Jahrgängen um Zusammenstellungen zu inhaltlichen Fragen (z. B. Interessenaufstellung des Juden Schlesinger), Protokolle zu relevanten Kommissionen bzw. Konferenzen der Hofkammer oder des Hofkriegsrates bzw. jener untergeordneten Stellen. 1719 folgt auf die Konferenzprotokolle eine große Zahl an Beilagen, die Kameralreferate aber auch Extrakte der Finanzkonferenzprotokolle enthalten. Dieser war in der Hofkammer tätig und u. a. mit Projekten zur Verbesserung der finanziellen Lage sowie der Wirtschaft der Habsburger befasst. Zu diesem Alfred Fischel: Christian Julius von Schierendorff, ein Vorläufer des liberalen Zentralismus im Zeitalter Josefs I. und Karls VI., in: Alfred Fischel, Studien zur Österreichischen Rechtsgeschichte, Wien 1906, S. 137– 305. ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 14– 19.
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kammer, an die ausgefertigte Dekrete gerichtet waren und vereinzelt noch Reinschriften vorliegen.¹⁰
Einrichtung und Rolle der Geheimen Finanzkonferenz Dass Camerale bey vns einzurichten ist mein meist sorgfahlt vndt werdt dazu kein aplicacion noch mitl auch rigorose resolucion wo es notig sparen vndt seindt zwey weg die ausgaben zu reguliren vndt restringiren vndt sehen die einkünfften mit besser wirtschafft […] Dass erster werdt vill von sich selbst dass ander geben vndt besteht dass erst dass alle instancen zamgreifen vndt sich ein iedte selbst stuze in welchen man freylich ein wenig rigoros, absonderlich in anfang sein wirdt müssen.¹¹
Der Bedarf des Landesfürsten an finanziellen Mitteln für sein (stehendes) Heer, den repräsentativen Hof sowie die Verwaltung stieg im Laufe der Frühen Neuzeit zusehends an. Mit Blick auf die Rolle der Habsburger als Kaiser sowie Könige der böhmischen und ungarischen Ländergruppe und damit letztlich eines doppelten bzw. mehrfachen Administrationsapparates war dieses Problem umso drängender, zumal sich dieser um neuen Besitz im Osten Ungarns bzw. insgesamt das spanische Erbe unter Karl VI. nochmals erweiterte. Zwar rechtfertigte man die Kosten für den Aufbau einer effektiven habsburgischen Verwaltung in den hinzugewonnenen Ländern stets mit erhofften künftigen Einnahmen aus der wachsenden Bevölkerung und Wirtschaft, doch blieb das Aufbringen der notwendigen Mittel Hauptdiskussionspunkt in Wien bzw. die Hoffnung durch diplomatische bzw. militärische Misserfolge unerfüllt.¹² Die Einnahmen aus den landesfürstli Aufgrund der umfangreichen Überlieferung im Bereich der Hofkammer konnten an dieser Stelle vorerst nur stichprobenartige Durchsichten vorgenommen werden. Karl (III.) an Graf Wratislaw, 31.07.1711, Alfred Arneth: Eigenhändige Correspondenz des Königs Karl III. von Spanien (nachmals Kaiser Karl VI.) mit dem Obersten Kanzler des Königreichs Böhmen, Grafen Johann Wenzel Wratislaw, in: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 16 (1856), S. 1– 224, hier 199. Allg. zur Regierungszeit mit weiterführender Literatur Karls VI. im Reich Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648−1806. 4 Bde., hier Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684−1745). 2 Aufl. München 2005; Joachim Whaley: Germany and the Holy Roman Empire 2: From the Peace of Westphalia to the dissolution of the Reich 1648−1806. Oxford 2012, S. 105 – 344. Zu Karl VI. Bernd Rill: Karl VI. Habsburg als barocke Großmacht. Graz/Wien/Köln 1992; Stefan Seitschek/Herbert Hutterer/Gerald Theimer (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI. (1711– 1740). Spuren der Herrschaft des „letzten“ Habsburgers. Wien 2011; Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie. Horn 2018. Aktuelle Studien zur kaiserlichen Diplomatie bieten Charlotte Backerra: Wien und London, 1727– 1735. Internationale
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chen Quellen waren schon lange nicht mehr hinreichend um den Bedarf zu decken, weshalb man immer mehr auf die von den Landständen genehmigten Steuern zurückgreifen musste (Kontribution). Dabei erfolgten entsprechende Verhandlungen zwischen den landesfürstlichen Ständen und den Landständen jährlich, wobei man auch auf außerordentliche Belastungen, etwa militärische Erfordernisse oder auch Krönungs- bzw. Huldigungsreisen, Rücksicht nahm und dafür außerordentliche (extraordinari) Mittel zugesagt wurden.¹³ Um die Rolle der Geheimen Finanzkonferenz verstehen zu können, muss kurz auf die mit den Finanzen und Wirtschaft der Monarchie befassten Stellen verwiesen werden.¹⁴
Beziehungen im frühen 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 253). Göttingen 2018; Christian Steppan: Akteure am fremden Hof: politische Kommunikation und Repräsentation kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am russischen Hof (1720 – 1730). Göttingen 2016. Zu Prinz Eugen ist immer noch das Standardwerk Max Braubach: Prinz Eugen von Savoyen. 5 Bde. Wien 1963 – 1965 heranzuziehen. Die ständischen Stellen waren auch für die Einhebung und Verwaltung (Landschaftskassen) zuständig, die Situation komplizierte sich zudem, da die Hofkanzleien die Kontaktstellen zu den Landschaften waren (Thomas Winkelbauer: Nervus rerum Austriacarum. Zur Finanzgeschichte der Habsburgermonarchie um 1700, in: Peter Maťa/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 24). Stuttgart 2006, S. 179 – 215, hier 188 bzw. allg. 204– 212). Zur Rolle der Stände als Aufbringer finanzieller Mittel für den Landesfürsten beispielhaft für Niederösterreich William D. Godsey: The Sinews of Habsburg Power. Lower Austria in a Fiscal-Military State 1650 – 1820. Oxford 2018. Zu den Verhandlungen der notwendigen finanziellen Mittel etwa für die innerösterreichische Erbhuldigungsreise Stefan Seitschek: Die Erbhuldigungsreise 1728. Organisation und Durchführung, in: Renate Zedinger/Marlies Raffler/ Harald Heppner (Hrsg.), Habsburger unterwegs. Von barockem Pomp zur smarten Businesstour. Graz 2017, S. 45 – 85. Allg. zur Organisation und Abhaltung solcher Reisen Hanns Leo Mikoletzky: Hofreisen unter Kaiser Karl VI., in: MÖStA 60 (1952), S. 265 – 285; Wilhelm Rausch: Die Hofreisen Kaiser Karls VI. Diss. Wien 1949. Zum Camerale (Einkünfte aus Kammerherrschaften, Gefälle, Bergregal, Salzwesen, Tabakmonopol, Mauten und Zölle etc.) bzw. Contributionale s. Graphiken bei Hansdieter Körbl: Die Hofkammer und ihr ungetreuer Präsident. Eine Finanzbehörde zur Zeit Leopolds I. (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 54). Wien 2009, S. 350 f. bzw. Thomas Winkelbauer: Grundzüge des habsburgischen Finanz- und Steuerwesens, in: Michael Hochedlinger/Petr Maťa/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Band 1/ 1– 2: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen (MIÖG Erg.Bd. 62). Wien 2019, hier 1/2, S. 767– 824, bes. S. 780 – 790. Dies kann im Rahmen des Beitrags nur kursorisch erfolgen. Einen älteren aber profunden Überblick dazu für die Zeit Karls VI. bietet Franz Freiherr von Mensi: Die Finanzen Österreichs 1701– 1740. Wien 1890, kompaktere Darstellungen sind in den verwaltungsgeschichtlichen Überblickswerken vorhanden, z. B. Thomas Fellner/Heinrich Kretschmayr: Die österreichische Zentralverwaltung. 1. Abt.: Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749), Bd. 1: Geschichtliche Übersicht. Wien 1907 (künftig ÖZV 1/1); Hoc-
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Wichtige Koordinierungsstellen der landesfürstlichen Einnahmen waren die Hofkammer und die dieser zugewiesenen Länderkammern. Dass diese ihre Rolle nicht immer effektiv erfüllen konnte, zeigt nicht zuletzt der Prozess gegen Hofkammerpräsidenten Georg Ludwig Graf Sinzendorf (1616−1681) u. a. wegen Korruption.¹⁵ Tatsächlich bildete die Hofkammer eine der wenigen administrativen Klammern des habsburgischen Länderkomplexes.¹⁶ Erst mit der Eingliederung
hedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte. Für die Regierungszeit Karls VI. s. auch kompakt Peter Rauscher: Verwaltungsgeschichte und Finanzgeschichte. Eine Skizze am Beispiel der kaiserlichen Herrschaft (1526−1740), in: Michael Hochedlinger/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung.Verfassungs-,Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit (VIÖG 57). Wien/München 2010, S. 185 – 211, bes. 193 – 197; Zdislava Röhsner: Die zentrale Finanzverwaltung der Monarchie. In: Seitschek/Hutterer/ Theimer (Hrsg.), Karl VI., S. 112– 118. Allgemein zur Finanzgeschichte mit Blick auf das Heilige Römische Reich die Beiträge in Peter Rauscher (Hrsg.), Kriegführung und Staatsfinanzen. Die Habsburgermonarchie und das Heilige Römische Reich vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des habsburgischen Kaisertums 1740. Münster 2010. Körbl, Hofkammer, S. 144– 340. Zur Hofkammer und der dieser zugeordneten Stellen allg. mit weiterführender Literatur Peter G. M. Dickson/Peter Rauscher: Die Hofkammer im 18. Jahrhundert, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, S. 848 – 855; Mark Hengerer: Die Hofkammer im 17. Jahrhundert, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte, S. 834– 847; Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter (Österreichische Geschichte 1522– 1699, hrsg. von Herwig Wolfram). 2 Bde. Wien 2003/2004, hier Bd. 1, S. 449 – 529; Ders., Nervus; Ders., Grundzüge. Zu den Archivbeständen sowie einem kurzen verwaltungsgeschichtlichen Überblick Inventar des Wiener Hofkammerarchivs (Inventare österreichischer staatlicher Archive VII). Wien 1951 (http://library. hungaricana.hu/en/view/Inventare_07/?pg=0&layout=s). An der Spitze der Hofkammer stand der Hofkammerpräsident, der Vizepräsident und eine wechselnde Anzahl von Hofkammerräten. Insbesondere Starhemberg bemühte sich die Kompetenzen des Präsidenten gegenüber diesem Gremialorgan zu erweitern (allg. zur Organisation Körbl, Hofkammer, S.73 – 78; mit weiterführender Literatur Holl, Hofkammerpräsident; Seitschek, Tradition). Der Wiener Hofkammer waren die Länderkammern mehr oder weniger unterstellt, insbesondere die Ungarische Kammer war stets um eine unabhängige Rolle bemüht, beispielsweise, dass diese über die Ungarische Hofkanzlei mit dem Kaiser und nicht die Hofkammer kommunizieren konnte (zur Ung. Kammer István Kenyeres: Die Ungarische Kammer, die Zipser Kammer und die Kammergüter in Ungarn. In: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/2, S. 917– 927). Besondere Bedeutung hatte zudem die Böhmische Kammer. Daneben gab es letztlich auch als Relikt der österreichischen Länderteilungen des 16. Jahrhunderts die Niederösterreichische, die Innerösterreichische (Graz) sowie Oberösterreichische Kammer (Innsbruck). Erst unter Joseph I. wurden diese endgültig der Hofkammer zugeordnet, doch blieb eine unabhängige Akten- und Buchführung bis zu den Reformen Maria Theresias bestehen. Ein wichtiges Aufgabengebiet der Hofkammer war das Münz- und Bergwesen, was sich in eigenen Selekten bzw. dann später auch Stellen für diesen Bereich im Archiv niederschlägt. Zur Arbeitsweise in der Hofkammer Mark Hengerer: Prozesse des Informierens in der habsburgischen Finanzverwaltung im 16. und
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der ehemals spanischen Gebiete in Italien und den Niederlanden in den Herrschaftsraum Karls VI. sowie der Etablierung von Räten mit entsprechenden Länderzuständigkeiten sowie Abschöpfung der dortigen Einnahmen zur Finanzierung des Verwaltungsapparates verschob sich diese integrative Rolle ein wenig.¹⁷ Vielleicht ist die Schaffung der der Hofkammer überstellten Finanzkonferenz mit ihrer koordinierenden Rolle und der damit in jedem Fall reduzierten Bedeutung der Kammer selbst nicht zuletzt auch auf diesen Einfluss der „spanischen“ Gruppe bei Hof zurückzuführen.¹⁸ Betrachtet man den dort wirkenden Personenkreis (s. unten), so ist immerhin stets ein Vertreter dieser Gruppe bei Hof
17. Jahrhundert, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hrsg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Berlin 2008, S. 163 – 199 bzw. Körbl, Hofkammer, bes. S. 94– 106. Zum Spanischen Rat Heinrich Benedikt: Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Eine Darstellung auf Grund bisher unbekannter Dokumente aus den österreichischen Archiven. Wien/ Leipzig 1927, S. 225 – 245; Virginia León: Carlos VI. El emperador que no pudo ser rey de España. Madrid 2003, S. 261– 278, 333 f., 373 – 380 (zu Reformvorschlägen nach 1718); Hans Reitter: Der Spanische Rat und seine Beziehungen zur Lombardei 1713 – 1720. 2 Bde. Diss. phil.Wien 1964, hier Bd. 1, S. 24– 33; Marcello Verga: Il „sogno spagnolo“ di Carlo VI. Alcune considerazioni sulla monarchia asburgica e i domini italiani nella prima metá del Settecento, in: Cesare Mozzarelli/ Giuseppe Olmi (Hrsg.), Il Trentino nel Settecento fra Sacro Romano Impero e antichi stati italiani (Annali dell′Istituto storico italo-germanico Quaderno 17). Bologna 1985, S. 203 – 261, hier 239 – 246. Zum Höchsten Rat der Niederlande u. a. Klaas van Gelder: Regime Change at a Distance. Austria and the Southern Netherlands Following the War of the Spanish Succession (1716−1725). Leuven u. a. 2016, S. 180 – 187; Renate Zedinger: Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714– 1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 7). Wien u. a. 2000, S. 30 – 95. Zu Neapel für die Finanzverwaltung neben Benedikt, Königreich, S. 136 – 138; Antonio di Vittorio: Gli Austriaci e il regno di Napoli 1707– 1734. Ideologia e politica di sviluppo. Napoli 1973. Zur Lombardei neben Reitter zuletzt Roberto Quirós Rosado: Monarquía de Oriente. La corte de Carlos III y el gobierno de Italia durante la guerra de Sucesión española. Madrid 2017. Zur Finanzverwaltung in den Österreichischen Niederlanden van Gelder, Regime, S. 193−195. Zu dieser Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711– 1740). Darmstadt 2003, bes. S. 70−92; Elisabeth Garms-Cornides: Funktionäre und Karrieren im Italien Karls VI., in: Brigitte Mazohl-Wallnig/Marco Meriggi (Hrsg.), Österreichisches Italien − italienisches Österreich? Interkulturelle Gemeinsamkeiten und nationale Differenzen vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (Zentraleuropa-Studien 5). Wien 1999, S. 207– 225. Summarisch kann auch auf die zahlreichen Beiträge von Virginia León Sanz zu diesem Thema verwiesen werden (z. B. Virginia León Sanz: Patronazgo político en la Corte de Viena: los españoles y el Real Bolsillo Secreto de Carlos VI. Pedralbes. Revista d′Historia Moderna 18-II (1998), S. 577– 598, bzw. zusammenfassend dies., Carlos VI.) bzw. siehe in diesem Band auch den Beitrag von Elisabeth Garms-Cornides mit weiterführender Literatur.
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im Kreis der Konferenzmitglieder festzustellen (z. B. Mikosch, Harrach¹⁹, Althann). Grundsätzlich war schon früh das Problem einer effektiven Zusammenarbeit zwischen der Hofkammer und dem das Kriegswesen koordinierenden Hofkriegsrat erkannt. Eine wichtig verbindende Stelle wurde mit dem Generalkriegskommissariat geschaffen, das letztlich auch beiden zugeordnet war.²⁰ Zur Koordinierung und damit einhergehender vorausschauender Budgetplanung wurde 1697 als Schnittstelle für das Wissen um die ökonomischen Gegebenheiten und militärischen Notwendigkeiten eine interministerielle Konferenz ins Leben gerufen, die Deputation Status publico-oeconomico-militaris.²¹ Ebenso schuf man 1698 die sogenannte Deputierte Geheime Kommission in Cameralibus. Kaiser Leopold I. bestätigte die dazu von dem in Wirtschaftsfragen geschätzten Johann Adam Fürst von Liechtenstein (1657−1712), Reichsvizekanzler Dominik Andreas Graf Kaunitz (1655−1705)²² und den obersten böhmischen Kanzler Franz Ulrich Graf von Kinsky (1634−1699) ausgearbeitete Instruktion am 10. September 1698, also knapp ein Jahr nach Schaffung der Deputation für die finanziell-militärischen Belange.²³ Ein nächster wichtiger Schritt war die Schaffung einer für das öffentliche Interesse wirkenden Bank, die Geld zu günstigeren Konditionen, also niedrigeren Zinssätzen, als die landesfürstlichen Stellen für den Herrscher zur Verfügung stellen sollte. Auslöser war letztlich die durch den Tod von Samuel Oppenheimer 1703 losgetretene Krise. Nach dem Misserfolg des Banco del Giro gelang es durch die Einrichtung der Wiener Stadtbank (1705/1706), einerseits
Z. B. Pečar, Ökonomie, S. 89, 325 f. Dieser pflegte dennoch gute Beziehungen zu Prinz Eugen (ebd.). Zu diesem Michael Hochedlinger: Das stehende Heer, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/2, S. 655 – 763, hier 671– 675. Michael Hochedlinger: Die Deputation des Status politico-oeconomico-militaris, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/1, S. 442– 444; Winkelbauer, Nervus, S. 118 f., 207. Zu diesem Grete Klingenstein: Der Aufstieg des Hauses Kaunitz. Studien zur Herkunft und Bildung des Staatskanzlers Wenzel Anton. Göttingen 1975, S. 41– 74. Vgl. Körbl, Hofkammer, S. 435 – 441 (nach FHKA, SUS, HS 653, fol. 287r – 295v; dort auch Nennung von weiteren Abschriften). Körbl nennt als Mitglieder der Kommission Obersthofmeister Dietrichstein (dann durch Liechtenstein ersetzt), den österreichischen Hofkanzler Julius Friedrich Bucelllini, den Obersten Böhmischen Kanzler Franz Ulrich Graf Kinsky sowie Graf Starhemberg. Haupt verweist auf den Vorsitz Kinskys sowie Kaunitz Rolle als dessen Stellvertreter. Vgl. zur Tätigkeit der Kommission kurz Herbert Haupt: Ein Herr von Stand und Würde. Fürst Johann Adam Andreas von Liechtenstein (1657– 1712). Wien 2016, S. 123 – 126; Gert Kollmer: Die Familie Palm. Soziale Mobilität in ständischer Gesellschaft (Beiträge zur südwestdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Veröffentlichungen des Wirtschaftsarchivs Baden – Württemberg 1). Ostfildern 1983, S. 20 f.
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durch ausreichende Dotierung mit abgesicherten Einnahmen (Gefälle mit veranschlagten Beträgen) und andererseits durch die Integrität des Leiters Graf Starhemberg, ausreichend Vertrauen der Anleger zu gewinnen, sodass diese während der Regierungszeit Karls VI. zu einer wichtigen Stütze kaiserlicher Finanzen wurde. Thomas Winkelbauer betont, dass Starhemberg bei seiner Tätigkeit v. a. „die Sanierung der Staatsfinanzen“ durch möglichst niedrig verzinste Kredite bzw. Bedienung der Verbindlichkeiten allgemein betrieb.²⁴ Mehrfach übernahm die Stadtbank etwa Schulden der staatlichen Stellen in konkreten Anlassfällen in Millionenhöhe, etwa wird bereits in der ersten Sitzung der Finanzkonferenz 1716 auf drei Millionen Gulden und künftig notwendige Aushilfen verwiesen.²⁵ Die Finanzkonferenz beriet am 11. Dezember 1722 (wieder einmal) die prekäre Finanzlage und es wurde deutlich gemacht, dass die Stadtbank vorläufig nicht aushelfen könne, weil ansonsten das ganze Werk „übern hauffen gehen“ werde. Man war also durchaus bemüht, das Vertrauen in bzw. die Zahlungsfähigkeit des Instituts zu erhalten.²⁶ Wichtig für das Funktionieren der Stadtbank war, dass diese nicht zuletzt auch von deren Leiter Starhemberg in ihrem Handeln bewusst von der Hofkammer abgegrenzt war. Über dieser wirkte die Ministerialbancodeputation, die als Mittler zwischen der eigentlich unter dem Schirm der Stadt Wien unabhängig agierenden Stadtbank sowie den landesfürstlichen Stellen, insbe-
Thomas Winkelbauer: Banco del Giro, Wiener Stadtbank, Ministerial-Banco-Deputation, Universalbankalität, Bankalgubernium und Geheime Finanzkonferenz. In: Hochedlinger/Maťa/ Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/2, S. 943 – 956, hier 945. Zum Banco del Giro ebd., S. 943 – 944 bzw. ÖZV 1/1, S. 93 – 105. Zur Entwicklung der Kredite kompakt Ders., Nervus, S. 193 – 203. Die Gefälle der Stadtbank wurden durch die Bancogefällsadministration verwaltet, der Mitglieder des Inneren Rates Wiens unter dem Vorsitz des Bürgermeisters angehörten. In den Ländern wurde teils auf bestehende sowie neu eingerichtete Stellen oder auch die Stände zur Administration zurückgegriffen. Streitigkeiten wären durch die Justiz-Banco-Deputation zu entscheiden, die aus Vertretern der Hofkammer sowie der niederösterreichischen Regierung bestand, als nächste Instanz folgte die Österreichische Hofkanzlei (Ebd., S. 946). 1724 gab es ca. 90 000 Anleger, 1732 belief sich die Summe privater Einlagen auf 51 Millionen fl. Nicht zuletzt die Möglichkeit des freien Handels der Obligationen der Stadtbank, die bald auf den Namen der Stadt liefen, sowie die Verzinsung zwischen fünf bis sieben Prozent schufen das nötige Vertrauen und Anreiz zum Erwerb (Ebd., S. 948). Allg. zur Stadtbank neben den entsprechenden Passagen zum Bankwesen bei Holl, Hofkammerpräsident etwa Rudolf Fuchs, Die Wiener Stadtbank (Beiträge zur Neueren Geschichte Österreichs 8). Frankfurt a. M. 1998; Mensi, Finanzen, S. 179 – 299, 542– 637; ÖZV 1/1, S. 105 – 109; Winkelbauer, Banco, S. 945 – 949. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 8 – 9. 1721 übernahm man beispielsweise 25 Millionen fl. Schulden der Universalbankalität (Mensi, Finanzen, S. 546−552; Winkelbauer, Banco, S. 951; vgl. auch ders., Nervus, S. 202 f.; ÖZV 1/1, S. 134 f.). Siehe auch Übersicht bei Fuchs, Stadtbank, S. 65 – 67. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722) fol. 370r – 373v (11.12.1722).
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sondere der Hofkammer, fungieren sollte. Tatsächlich saßen in dieser auch Vertreter der Stadt mit dem Bürgermeister, doch bildeten die landesfürstlichen Funktionsträger das Übergewicht.²⁷ Im Zuge mehrerer Verwaltungsreformen am Beginn der Herrschaft Karls VI., die jene seines Bruders fortsetzten, erfolgte die Einrichtung neuer sowie die Erlassung adaptierter Instruktionen für bereits bestehende Stellen. Gerade die Revision der mehrere Jahrzehnte alten Hofkammerordnung und damit verbunden jener der ihr zugeordneten Stellen war ein von den habsburgischen Finanzfachleuten lange gefordertes Unterfangen.²⁸ 1712 wurde Graf Starhemberg, seit 1703 Hofkammerpräsident, mit der Neuordnung der Buchhaltereien beauftragt. Die effektive Organisation sowie Kontrolle der landesfürstlichen Finanzen waren ebenso lang geforderte Ziele wie die Errichtung einer Generalkassa.²⁹ Gegen den Willen Starhembergs und v. a. durch Johann Bernhard Mikosch gefördert, wurde Ende 1714 dann die Universalbankalität als quasi staatliche Bank eingerichtet. Starhemberg kritisierte den Mangel an finanzieller Dotierung und damit an einer notwendigen Vertrauensbasis der staatlichen Bank, dennoch konnte er Karl VI. nicht vom Abrücken dieses Vorhabens, das grundsätzlich ja auch der Hofkammerpräsident mehrfach eingemahnt hatte, überzeugen.³⁰ Zunächst wurde die Bankalität dem Bankalgubernium unterstellt, das 1716 aufgehoben wurde. Schließlich war es dann die in diesem Jahr eingerichtete Finanzkonferenz, der die Bankalität regelmäßig Rechenschaft ablegen musste. Grundsätzlich sollte diese für das gesamte Kassawesen als Zentralkassa fungieren, die kaiserlichen Einnahmen und Ausgaben abwickeln, die Kreditangelegenheiten, Schuldenverwaltung und die Rechnungs- bzw. Buchhaltungskontrolle besorgen. Neben Kompetenzen verlor die Hofkammer das dafür abgestellte Personal an die Bankalität.
Inventar, S. 117; Winkelbauer, Banco, S. 945 – 948. Zu den Kritikpunkten bzw. Wirken Starhembergs etwa Hengerer, Hofkammer, S. 843 – 845; Holl, Hofkammerpräsident; Seitschek, Tradition, S. 110 – 118. Siehe darüber. Zu den administrativen Reformvorschlägen, auch die Neuordnung der Buchhaltereien betreffend, bes. Holl, Hofkammerpräsident, S. 362– 391. Nicht zuletzt die Schaffung der Universalbankalität gegen den Willen Starhembergs, der damit verbundenen Eingriffe in Kompetenzen der Hofkammer und wohl letztlich auch die mögliche Konkurrenzsituation der Bankalität mit der Stadtbank bewirkten den Rücktritt Starhembergs als Hofkammerpräsident.Vgl. Kollmer, Familie, S. 34 f. Zur Universalbankalität und Bankalgubernium ÖZV 1/1, S. 109 – 123; Holl, Hofkammerpräsident, S. 402– 432; Winkelbauer, Banco, S. 949 – 951.Vgl. ÖZV 1/3, S. 142– 159 (Einrichtungspatent Bankalität, 14.12.1714, bzw. Arrhen betreffend); ebd., S. 164– 176 (Instruktion für das Bankalgubernium vom 09.03.1715); ebd., S. 177– 182 (Kontrakt für Zusammenarbeit zwischen Ministerialdeputation bzw. Bankalgubernium und Bankalität, 17.03. des Jahres); ebd., S. 183 – 186 (Entschließung zum Verhältnis zwischen Hofkammer und Bankalgubernium). Einige Kompetenzen musste die Bankalität jedoch bald abgeben.
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Insgesamt übertrug man dieser den Bereich des pecuniale, also die Geldangelegenheiten und deren Kontrolle. Als finanzielle Sicherheit wurden dieser gewisse landesfürstliche Fonds wie Taxen, Kautionen oder Arrhen³¹ zugewiesen. Bereits 1714 hatte Karl VI. in einer Instruktion acht Kommissionen in der Hofkammer eingerichtet, 1717 folgte dann schließlich die mehrfach geforderte allgemeine Instruktion für die Hofkammer. Die Einrichtung der Universalbankalität und des Bankalguberniums 1714 bzw. 1715 sowie der dieses ablösenden Geheimen Finanzkonferenz 1716, die letztlich auch Kompetenzkonflikte zwischen Bankalgubernium und Hofkammer bereinigen sollte, macht mit Blick auf die ordnenden Maßnahmen in der Hofkammer deutlich, dass der Kaiser und dessen Ratgeber bemüht waren, geordnete Verhältnisse im Finanzbereich zu schaffen.³² Bereits im ersten überlieferten Protokoll der Finanzkonferenz zur Sitzung am 6. September 1716, bei der neben dem Kaiser selbst Fürst Trautson, die Grafen Starhemberg und Harrach sowie Mikosch anwesend waren (zu diesen unten), wurde bereits ein wichtiges Ziel formuliert: „hoffeten, daß mittels der von denen beywesenden ministris tragenden obsorg dero ganzes cammerweesen in einem beßeren standt gesezet, und solches aufrechterhalten werden wird. Gleichwie aber die sach in sich so wichtig, als beschwerlich ist, daß zu schleuniger fortsezung derselben eine stätte application, mehrere deliberationes, mithin öfftere congressus zu voraus in anfang zu halten, bis das werck in gang gebracht wird, erforderlich seyn wird“³³. Der starke Regelungsbedarf zu Beginn der Einrichtung war den Teilnehmern also bewusst. Die Konferenz selbst sollte jedenfalls so oft wie notwendig zusammengerufen werden. Betrachtet man die hohe Anzahl von 55 (!) Sitzungen im Jahr 1717, zum Vergleich waren es in den letzten Jahren vor 1741 jeweils sieben, wird die erwartete häufige Frequenz zu Beginn bestätigt. Be-
Arrhen meinen v. a. Abgaben des im Verwaltungsapparat tätigen Personals oder auch von Gläubigern für bzw. zu ihren Einlagen (dazu Holl, Hofkammerpräsident, S. 403 f.). Zur Finanzkonferenz kompakt Mensi, Finanzen, S. 460 – 466; Winkelbauer, Banco, S. 949−952. Entsprechende Maßnahmen umfassten letztlich alle Bereiche der landesfürstlichen Administration, wobei zu betonen gilt, dass die Einrichtung neuer Stellen wie der Finanzkonferenz auch entsprechende zumindest ergänzenden Anordnungen für die mit diesen zusammenarbeitenden Ämtern erforderte. Der Instruktion für die Hofkammer vom 30. Dezember 1717 (ÖZV 1/3, S. 203 – 300) folgten solche für die Böhmische (26.04.1719; ÖZV 1/3, S. 301– 347) und Österreichische Hofkanzlei (26.03.1720; ÖZV 1/3, S. 347– 400). Am 14. Dezember 1721 wurde eine neue Konferenzordnung verabschiedet. Selbst in Ungarn wurde mit der Ungarischen Statthaltereirats eine zentrale Stelle ins Leben gerufen (1722/1723); siehe dazu in diesem Band den Beitrag von András Forgó mit weiterführender Literatur. Auch kann in diesem Zusammenhang auf die bereits erwähnten neuen Institutionen zur Verwaltung der ehemals spanischen Länder verwiesen werden (s. oben). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 1.
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schäftigt sich der erste Punkt der Beratungen noch mit der Frage des Vorsitzes in Abwesenheit des Kaisers, der dann dem längst dienenden Minister Trautson zufallen sollte, handelten die nächsten Themen bereits über die „Subordination der cammer und bancalitet“ sowie entsprechende Instruktionen für diese („ein project zur instruction zu concertiren und darinnen wie künfftig die camer und bancalität, in re et modo gefaßet werden und die dabey obhandene defectus verbesert werden könnten“³⁴) und der Harmonie zwischen beiden Stellen. Interessant ist natürlich die Regelung des Verhältnisses zwischen Konferenz und der Hofkammer bzw. Bankalität, zumal explizit auf eine Subordination verwiesen wird. Tatsächlich wurde für einzelne Materien eine Approbation über die Konferenz eingefordert. Deutlich wird das im Punkt zur „Aktivität“ formuliert, wo auch auf entsprechende Anordnungen an die Hofkammer bzw. Bankalität durch die Konferenz verwiesen wird. An dieser Stelle soll nochmals das wichtige Anliegen der vorausschauenden Planung bei Krediten erwähnt werden.³⁵ Nicht von ungefähr erscheint die Finanzkonferenz also an der Spitze der unter das kaiserliche Camerale fallenden Stellen in den Staatskalendern. Der darauffolgende Punkt bezieht sich auf die notwendige plenam cognitionem aerarii respectu omnium partium, weshalb auch Kenntnis zur Disposition der Wiener Stadtbank von Bedeutung wäre, die in Form des mit der Leitung der Bank betrauten Starhemberg garantiert werden sollte. Weitere Punkte waren neben der Harmonie der Minister selbst, der von der Bankalität einzureichende Generalkassastand, das Einlangen und die Hebung der fundi, der vom Generalkriegskommissariatsamt zu verfas-
ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 2. Etwas später wird nochmals auf die notwendigen Instruktionen eingegangen, wobei eine Projektabfassung der Hofkammer auf Grundlage der alten Instruktion und der Bankalität anbefohlen werden sollte, damit sich diese nicht mit der Unwissenheit zu diesem Auftrag künftig für eine fehlende Vollziehung entschuldigen könnten (Ebd., 6). Bereits an dieser Stelle wird also eine gewisse hinhaltende Reaktion von diesen Stellen gegenüber der neuen Einrichtung vermutet. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 2: „So dann ihro kai[serliche] und catho[lische] Maj[estät] die resultata und folgends was an die hofcamer und bancalität per Imperatorem oder sonsten zu expediren wäre, an hand zulaßen, gestalten die behörige expeditiones, vermittels welchen die in pari gradu zustehen kommenden camer und bancalität mit der subordination an die conferenz gewiesen seynd, auch schon an sie ergangen worden wäre“. Zur Approbation ebd., 3 – 4: „sondern auch alle materien, welche zur approbation der finencen conferenz gelangen solle, praepariren und die sonst fürzukehren nöthige dispositiones in denen erfordernußen und des hierzu zuverschaffen benöthigten credits, in der zeit zuerinneren und vorzuschlagen haben, nicht aber, wie bishero [4] geschehen, die casus necessitatis erwarthet werden. Gestalten dann auch die conferenz nach der erkanntnus des standts und cräfften des aerarii und anderen umbständen der camer und bancalität vorzuschreiben und anzuordnen haben wird, was sie thun, und weßen sich zu verhalten haben werden“.
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sende status militari, Restriktion der Ausgaben, Abstellung der Akzidentien³⁶ der Räte, Beamten und Offizianten sowie künftige Aushilfen bzw. Erhöhung des Kredits des Stadtbanco. Am 9. Januar 1717 legte Karl VI. dann die Geschäftsordnung der Geheimen Finanzkonferenz fest.³⁷ Der erste Punkt beschäftigt sich mit den formalen Rahmenbedingungen: Neben der Festlegung des Vorsitzes durch den Kaiser oder bei dessen Abwesenheit des ältesten Ministers wurde darin betont, dass Sitzungen auch bei Fehlen von einem der Minister und zumindest zweimal die Woche gehalten werden sollten. Die Schlüsse wären nach dem Majoritätsprinzip zu fassen. Der anwesende Referendar oder der eigens dazu bestellte Protokollant wurde angewiesen, zu jeder Sitzung ein Protokoll zu führen. Diese wären dann bei Anwesenheit des Kaisers vorzulesen sowie abweichende Vota per epitome, also zusammenfassend aufzunehmen. Dem Protokoll mussten die als Grundlage der Entscheidung dienenden Referate beigelegt werden. Um den sich daraus ergebenden Schreiben an die Hofkammer und Bankalität mehr Glauben zu verleihen, sollten die Niederschriften in Anwesenheit des Kaisers wie die Referate insgesamt vom Kaiser unterfertigt werden, da sie erst „durch die a.g. Genehmhaltung zu ihren kräften gelangen und hierdurch justificirt werden“³⁸. Der zweite Punkt beschäftigt sich dann mit der Kommunikation der zentralen Hofstellen mit der Finanzkonferenz: Die Hofkammer sollte ihre Referate immediat an den Kaiser richten, die Bankalität die Gutachten ad suam majestatem an den Senior der Konferenz abstatten. Der Minister würde diese dann an dem Referenten oder Protokollanten weitergeben und falls es sich um eine bedeutendere Angelegenheit handelte, auch an die anderen Konferenzmitglieder samt Vorakten, damit sich diese bereits vor der Sitzung ein fundiertes Bild darüber machen könnten. Bei dieser „roullirung“ der Akten wäre auf den Rang zu achten, da die beschließende Rückstellung an den Referenten entsprechend Zeit beanspruchte, war dies nur für bedeutendere Fragen vorgesehen. Das Protokoll vom 15. Juni 1728 gibt womöglich Einblicke in ein solch beschleunigtes Entscheidungsverfahren. Kameralreferate hatten die Konferenz am Vortag aus Laxenburg pro voto erreicht, die drei den Gehalt von kaiserlichen Diplomaten betreffend wären „ohne zeit verlust vorzunehmen und denen ministris in ihren wohnungen per extensum [307v] vorzu-
Nebeneinkünfte (Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Kuenste, etc. 64 Bde. und 4 Suppl., Halle, Leipzig 1732– 1754, hier Bd 1 (1732), Sp. 271 f.). ÖZV 1/3, S. 197– 203. ÖZV 1/3, S. 198.
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tragen“.³⁹ Nahm der Kaiser nicht persönlich an der Sitzung teil, wurden ihm die Ergebnisse laut der Geschäftsordnung vorgetragen, wobei der älteste Minister den Kaiser nach den dafür angenehmen Tag fragen sollte. Nach Anhörung der Protokolle sowie der über die Referate gefassten Conclusa würde Karl seine Resolution eigenhändig auf diese setzen. Die Entscheidungen zu den die Bankalität betreffenden Gutachten sollten mit Rückgabe der Akten per Dekret kommuniziert werden. Insgesamt wurde festgehalten, dass die eingelangten Akten nach Protokollierung und der Vorlage beim Kaiser über die Konferenz wieder den Leitern der einbringenden Stellen rückerstattet werden sollten. Handelte es sich um über untergeordnete Stellen eingebrachte Schreiben, würden die Entscheidungen durch die Hand des Referendars mittels Dekret per imperatorem „in gnaden“ mit der Unterschrift des Referendars und des ältesten Ministers sowie dem Petschaft des Registrators angezeigt bzw. angefügt werden. Die allein vom Referendar gezeichneten Konzepte der Ausfertigungen sollten zuvor noch von den Ministern bzw. jenem, der die Sitzung geleitet hatte, revidiert werden. Ein weiterer Punkt hielt dann fest, dass aufgrund der dadurch zu erwartenden Schreibarbeiten und zahlreichen eingehenden Schreiben zur Bewahrung einer Ordnung ein eigener Registrator oder Expeditor abzustellen wäre. Die aus den Quellen erschließbare Praxis (s. unten) bestätigt das hier in Theorie skizzierte Bild. Die Zuständigkeit der Finanzkonferenz war weit gefasst und sollte den Kaiser in allen das Aerar oder Camerale umfassenden Themen, sei nun die Hofkammer, Bankalität oder auch andere Stellen betroffen, wie in Fragen militaris etwa die Kanzleien, beraten. Jedenfalls durfte sich diese nicht in Angelegenheiten der Administration oder Zusammenarbeit der Zentralstellen mit den diesen untergeordneten Stellen einmischen. Die Hofkammer hätte zu ihren Tätigkeiten wöchentliche Auszüge aus den Protokollen, nicht zuletzt zur Bestätigung des Eintrags der zugestellten Dekrete, und die Bankalität Extrakte zu den Empfängen und Ausgaben abzuliefern. Beide zusammen sollten schließlich am Ende des Jahres eine Generalbilanz erstellen und den künftigen Anordnungsstaat planen. Prinzipiell wären Vorschläge zur Verbesserung der Gefälle, Abstellen von Missbräuchen, Einbringung von Krediten, Verringerung unnötiger Ausgaben, Verbesserung des Kommerzes, Förderung von Manufakturen und ähnliches abzuhandeln. Alle Missstände und auch nachlässige Amtspersonen sollten der Konferenz gemeldet werden.
ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 307. Das Protokoll dieses achten Zusammentreffens war in einen ersten (15.06.) und einen zweiten Teil (18.06.) geteilt. Tatsächlich erfolgten dabei die Entscheidungen zu den Diplomatengehältern um zumindest eine Woche früher, als jene zu den Punkten der zweiten Sitzung.
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Der letzte und fünfte Punkt umfasste schließlich die Sorge der Finanzkonferenz um die Aufbringung und Eintreibung hinlänglicher Mittel, wobei es auch um eine gerechte Aufteilung der Kontributionen ging, nicht zuletzt zum Wohl des armen Untertan aufgrund von „verborgenen“ Gülten. Dazu wollte man die Abrechnung mit den Ländern termingerecht abwickeln, Stadtbank und Banco del Giro in guter Ordnung erhalten, die Einsammlung der Arrhen und die dazu erlassenen Patente besser befolgen, die ökonomische Einrichtung Ungarns und Siebenbürgens beachten, die Verträge im Bezug von Liefergeschäfte und deren Laufzeiten berücksichtigen, bei ausbleibenden Gefällen sogleich die Ursachen erforschen, die Auslösung versetzter Kameralgüter forcieren, schädliche Parteilichkeit abstellen, das Generalappaltierungswerk zu kaiserlichen Nutzen durchführen oder die Kontrolle der bzw. regelmäßige Einnahmen aus den Fiskalitäten sowie ein Vorgehen gegen Kontrebande (Schmuggler) umsetzen. Nicht zuletzt wohl den Erfahrungen mit Oppenheimer sowie Krediten mit hohen Zinsen geschuldet, wollte man auch das Gebaren mit den jüdischen Unternehmern entsprechend ordnen.⁴⁰ Die Kameraladministration sollte stets die anvertrauten „Regalien“ überwachen und gute Korrespondenz mit den anderen Stellen halten, „mithin in effectu behoben werde, was die wohlfahrt und aufnahm des gemeinen wesens befördern“.⁴¹ Einrichtung und Kompetenzen der Finanzkonferenz erforderten die Neufassung der von ihren Voten letztlich abhängigen Stellen, insbesondere der Hofkammer, die im Dezember 1717 wie bereits erwähnt eine neue Instruktion erhielt. Den Generalanordnungsstaat, eben ein Budget, sollte demnach die Hofkammer gemeinsam mit der Bankalität in Abstimmung mit dem Hofkriegsrat erstellen, der dann in der Folge in der Finanzkonferenz zu beraten wäre. Dieser setzte sich aus dem Anordnungsstaat pro militari (Militäranordungsstaat von Generalkriegs-
Die Regelung von Kreditschulden sowie Kontrolle der tatsächlich erfolgten Lieferungen nicht zuletzt im Zusammenhang mit gleichzeitig abzuleistenden hohen Zinsen waren mit Blick auf die jüdischen Unternehmer, aber keineswegs ausschließlich, immer wieder Thema in der Finanzkonferenz (Z. B. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 75 – 103, 20.02.1719). In seiner Resolution zum Protokoll vom 1. Juni des Jahres notierte der Kaiser zu ausstehenden Lieferquanten am 25. des Monats etwa: „Gleichwie die juden den contract in nichts adimpliret [adimplere − erfüllen] und also strafmässig, so vill verwundere mich über die nachlässigkeit der camer die alles hat geschehen lassen ohne darauf ein wachtsames aug zu haben. Inn übrigen soll das abgängige quantum in 14 dagen geliefert sein oder die camer wirdt in dessen ermanglung auf der juden conto solches also gleich einkaufen lassen zu einigen exempl aber und ermeßung des schadens seyn die juden oder ihre afterlieferanten den werth [343] an geld von dem ungelieferten gueth dem aerario gratis zu entrichten schuldig, welches also gleich zu vollziehen, Carl“ (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 342 f.). ÖZV 1/3, S. 203. „Behoben“ wohl im Sinne von „ergreifen“ bzw. in Angriff nehmen.
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kommissariat erstellt) und pro camerali zusammen.⁴² Diese Intentionen waren jedenfalls nicht neu, stets blieb in der Habsburgermonarchie das Problem der Kassenvielfalt und der damit fehlende Überblick zu den Einnahmen bzw. zugesagten Geldmitteln oder auch die Frage, ob diese überhaupt im vollen Umfang eingelangt waren. Gerade die Bankalität sollte wie bereits erwähnt mit ihrer geplanten Funktion als Hauptkassa diesen ermöglichen. Letztlich wird etwa 1719 in den Fragen der finanziellen Planung stets darauf hingewiesen, dass zuerst ein „gesamtes Werk“ vorzulegen wäre und sich erst darauf dann weitere Überlegungen stützen könnten.⁴³ Ziel dieser Bemühungen war jedenfalls eine verlässliche Kenntnis der Einkünfte und Ausgaben zu erhalten sowie in weiterer Folge die Erstellung eines Haushalts und Überblicks zur vorhandenen Bedeckung bzw. noch benötigter Mittel zur Bestreitung der geplanten Vorhaben. 1722 wird dies in Bezug auf Überlegungen zur Finanzierung der Ausstände und künftigen Ausgaben explizit betont, „daß alles dises bereits vorhero und öffters gesagt und vorgestellet worden, also daß, wan nicht dergleichen consilia, die proportion zwischen empfang und ausgab einzuführen, ad effectum gebracht werden, alles umbsonst und fruchtlos seyn werde, und daraus nichts anders erfolgen könnte, als daß bey continuirlich machend- und vermehrenden schulden der credit völlig zerfallen“.⁴⁴ Die Verhältnisse erforderten dennoch weiterhin der Regelung, weshalb immer wieder Verbesserungen und Effizienzsteigerung der Administration sowie der Kommunikation der Stellen untereinander, nicht zuletzt in der Finanzkonferenz, diskutiert wurden (s. unten). So beschäftigte man sich Ende Oktober 1728 umfassend mit der Einrichtung der Hofkammer. Nach dem Prozess, in dem man sich um eine Personalreduktion, gegenseitige Kontrolle der Hofkammer sowie Bankalität und Instruktionen für die Buchhaltereien sowie die Handhabung der Generalkassa bemühte, erhielt die Hofkammer am 2. Januar 1732 eine adaptierte Instruktion.⁴⁵
Erste Überlegungen zum Status militari wurden bereits in der ersten Sitzung der Konferenz formuliert, s. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 7. Die Erstellung des Generalanordnungsstaates ist auch einer der Punkte der Hofkammerinstruktion vom 30.12.1717 (ÖZV 1/3, S. 233 f., Punkt 16). Etwa für den Militärhaushalt 1720, ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 619r – 620v (09.11. 1719). Zu den Ansätzen bzw. der Umsetzung einer Budgeterstellung kompakt Winkelbauer, Nervus, S. 187– 193. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 90r (27.04.1722). Zu dieser ÖZV 1/3, S. 411– 419. Zu den Überlegungen für 1728 kurz auch Seitschek, Tradition, S. 122 – 125.
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Zu diesem Zeitpunkt hatte die Finanzkonferenz wohl bereits an Einfluss verloren, nicht zuletzt illustriert dies der Rückzug des Kaisers von den Sitzungen nach 1728. Das Vertrauen Karls VI. genoss jedenfalls weiterhin deren Vorsitzender Graf Starhemberg, allein dessen Funktionen und Person verliehen der Konferenz ein gewisses Gewicht abseits der administrativen Regelungen. Es nimmt daher nicht wunder, dass auch Maria Theresia an diesem erfahrenen Finanzfachmann 1741 festhielt. Damit ist die Frage des bereits mehrfach erwähnten Personenkreises der Finanzkonferenz berührt.
Personenkreis Den Vorsitz in der Konferenz hatte der Kaiser inne, sofern dieser an der jeweiligen Sitzung teilnahm. Insbesondere in den ersten Jahren beteiligte sich Karl VI. regelmäßig persönlich an der Konferenz. 1717 fanden etwa insgesamt 55 Treffen statt, an 18 davon übernahm der Kaiser den Vorsitz. Nach 1728 erlahmte offensichtlich das Interesse an der persönlichen Anwesenheit, Karl VI. besuchte die knapp sieben Sitzungen innerhalb eines Jahres nicht mehr.⁴⁶ Festzuhalten ist, dass Karl die von ihm selbst erlebten Sitzungen in seinem Tagebuch notierte, diesen also eine gewisse Bedeutung in seinem Tagesablauf beimaß.⁴⁷ Die Konferenz arbeitete unter dem Vorsitz Graf Starhembergs bis 1741 weiter, als diese von Maria Theresia in einem Handschreiben aufgehoben wurde (s. unten). Für die Konferenz selbst nominierte Karl VI. erfahrene Funktionsträger bei Hof. Zu den Kandidaten für die Konferenz äußerte sich der Kaiser in einem Schreiben an Prinz Eugen vom 15. Juli 1716. „So habe ich resolviert, die neu projektierte Konferenz also zu benennen, nämlich sub meo und (in meiner Abwesenheit) präsidio des älteren geheimen Rates, welcher der beste Euer Liebden [= Prinz Eugen] wären, im Fall Sie aber nicht finden diese Mühe über sich zu nehmen, ich den Trautson dafür destiniere, nach ihm den Starhemberg, nach selbem den Harrach (wo Euer Liebden keinen besseren finden) und viertens den Stürgk von Graz.“⁴⁸ Die Kanzler waren nicht Teil der Konferenz, da er diese nicht weiter in Geldangelegenheiten involvieren wollte und viele Materien, die diese betreffen würden, in der Konferenz zu behandeln wären. „Den Gschwind (der sonst ein ehrlicher Mann ist)“ hatte er aus Altersgründen nicht berücksichtigt, zumal dieser mittlerweile „im Gedächtnis mangelt und er oft konfus geredet“. Karl wollte je 1716 nahm der Kaiser an den in den letzten Monaten des Jahres abgehaltenen 26 Sitzungen acht Mal teil. Seitschek, Tagebücher, S. 286 f. Nach Braubach, Eugen 3 (1964), S. 452, Anm. 115.
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denfalls aktive Teilnehmer an der Konferenz, die Referendare sollten die Mitglieder selbst vorschlagen, da Sie ja mit diesen arbeiten müssten.⁴⁹ Von diesen Überlegungen wäre ansonsten nur Graf Stella informiert, so Karl in dem Schreiben, und die Entscheidung war auch noch nicht publiziert worden, da er die Rückmeldung des Prinzen erwarten wollte.⁵⁰ Interessanterweise fehlte im Kreis dieser Obersthofmeister Anton Florian Fürst Liechtenstein (1656 – 1721), der den Kaiser schon nach Spanien begleitet hatte, dann aber sukzessive an Vertrauen einbüßte. Nach dessen Tod folgte ihm der bereits genannte Johann Leopold Fürst Trautson (1659 – 1724)⁵¹ als Obersthofmeister nach, dieser hatte bereits seit 1716 den Vorsitz in der Geheimen Finanzkonferenz als Senior übernommen, sofern Karl VI. nicht persönlich anwesend war. Auch sollte bei Abwesenheit des Kaisers „der ältiste minister, als nemblichen der Fürst von Trautsonn so offt als nöthig, die hierzu benannte ministris zusammen zuruffen“.⁵² Tatsächlich sollte der Fürst die Funktion als Senior in der Konferenz bis 1724 wahrnehmen und nahm an den Sitzungen regelmäßig bzw. praktisch immer teil. Ähnlich häufig war Gundaker Thomas Graf Starhemberg (1663 – 1745) anwesend, der nach dem Tod Trautsons auch die führende Rolle in der Konferenz übernahm. Graf Starhemberg selbst leitete seit 1705 die Wiener Stadtbank, war seit 30. April 1706 bis 1744 Präsident der Minisiterialbankodeputation sowie bis 1715 Hofkammerpräsident. In der Hofkammer war er seit 1690 als Rat tätig, bereits 1698 hatte er das Amt des Hofkammervizepräsidenten inne, die er zunächst bis 1700 interimistisch leitete und dann selbst 1703 zum Präsidenten avancierte. Mit der Gründung der Bankalität und des Bankalguberniums resignierte er von dieser Funktion. In den Tagebüchern Karls VI. scheint sein Name regelmäßig auf, was belegt, dass der Kaiser den Rat Starhembergs insbesondere auch in Finanzfragen suchte.⁵³ Der Konferenz gehörten einige weitere kaiserliche Vertrauensleute an, die neben dem Kreis um Prinz Eugen durchaus auch der sogenannten „spanischen“ Gruppe bei Hof zuzurechnen sind.⁵⁴ Aloys Thomas Raimund Graf von Harrach (1669−1742) wird schon im kaiserlichen Schreiben Eugens genannt. Tatsächlich gehörte er dem Gremium seit 1716 an und nahm an den Sitzungen durchwegs teil,
Siehe Transkription des Schreibens bei ebd. Braubach, Eugen 3 (1964), S. 332 f. Zu diesem mit weiterführender Literatur kurz Seitschek, Tagebücher, S. 275 – 277, 280 f. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 1. Ausführlich dazu Seitschek, Tagebücher, S. 270 – 273. Zu Starhemberg v. a. Holl, Hofkammerpräsident. Zu dieser Anm. 17.
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sofern er am Kaiserhof weilte.⁵⁵ Noch im Jahr der innerösterreichischen Huldigungsreise 1728 übernahm Landmarschall Graf Harrach kurz den Vorsitz an Stelle des mitgereisten Starhemberg. Er sollte die Kameralreferate vom Hofkammervizepräsidenten entgegennehmen und die entsprechenden Unterlagen (u. a. Protokolle) zur weiteren Beförderung nach Graz schicken.⁵⁶ Die Konferenz am 29. Juni tagte tatsächlich dann nur zu Dritt, nämlich wohnten dieser die Grafen Harrach und Althann sowie der Referendar Lachemayr bei.⁵⁷ Sein Name scheint sogar im Gremium der Konferenz im Staatskalender auf, als „abwesend/ und ist dermalen Vice-König in Neapel“.⁵⁸ Neben der Regelung von Harrachs Vorsitz während der Abwesenheit Starhembergs wurde um den Weiterbezug seines Gehalts sowie die Mitteilung dieser Tatsache per Dekret an die Kammer explizit durch die Konferenz ersucht. Um diesen Schritt das entsprechende Gewicht zu verleihen, erbat man dabei die „allergnädigste signatur pro legitimation“. Tatsächlich setzte der Kaiser an dieser Stelle sein eigenhändiges Placet, die anderen Resolutionen des Protokolls wurden wiederum von einer anderen Hand, wohl des Referendars Lachemayr, notiert.⁵⁹ Dieser bezog daher auf Befehl Karls VI. auch während seiner Abwesenheit sein Gehalt.⁶⁰ Dies scheint zumindest ein Hinweis auf die besondere Rolle Harrachs bei Hof. Dass der Kaiser in ihn Vertrauen setzte, deutet zumindest die Einsetzung einer Hofkommission unter dessen Vorsitz gemeinsam mit dem Hofkammerpräsident Graf Dietrichstein und Freiherren von Mikosch an, in wel-
Zwischen 1728 und 1734 wirkte Harrach in seiner Funktion als Vizekönig in Neapel und fehlte daher bei den Sitzungen. Dazu Benedikt, Königreich, S. 374– 456; Elisabeth Garms-Cornides: Das Königreich Neapel und die Monarchie des Hauses Österreich, in: Silvia Cassani (Hrsg.), Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige. Ausstellungskatalog. Neapel 1993, S. 17– 34; Peter Stenitzer: Das Wirken Aloys Thomas R. Graf Harrachs als Vizekönig von Neapel (1728 – 1733), in: Cassani (Hrsg.), Barock in Neapel, S. 43 – 55. Zu diesem auch Godsey, Sinews, bes. S. 197– 202. Siehe Beitrag von Pia Wallnig hier. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 314. Die entsprechenden Resolutionsvermerke verweisen dann auch auf Graz (z. B. ebd., fol. 339v). Auch ist ein Referat an den Kaiser zur Bestreitung der Ausgaben vom 19. Juni beigelegt, dass neben Graf Harrach den (interimistischen) Vorsteher der Hofkammer (Vizepräsident Baron von Petschowitz), den Bankalitätspräsident Kollowrath sowie Anton Freiherr von Hilleprand (u. a. Rat bei der Universalbankalität) und Referendar Lachemayr nennt (ebd., unfol., nach fol. 347). In den Sitzungen ohne Starhemberg wurden jeweils nur wenige Punkte (zwischen 5 und 10) besprochen, bei seiner Rückkehr Ende Oktober wandte man sich dann der Hofkammereinrichtung zu (ebd., fol. 379r). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 332r. Kaiserlicher Und Königlicher/ Wie auch Ertz-Herzoglicher Und Dero Residentz-Stadt Wien Staats-/ und Stands- Calender etc., Wien 1729, S. 39. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 314 (18.06.1728). ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 85 (1728 – 1730), Dekret vom 19.10.1728.
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cher über die Verbesserung und Einsparung der Kameralmittel beraten werden sollte, da die Mittel zur Bestreitung der Hof- sowie Zivilausgaben fehlten.⁶¹ Beinahe bei allen Sitzungen bis 1719 war auch Georg Christoph Graf Stürgkh (1666−1739) anwesend. Ab Juni 1719 wirkte dieser als zweiter österreichischer Hofkanzler und schied daher aus dem Gremium der Konferenz aus.⁶² Ab 1722 übernahm der Hofkammerrat Michael Wenzl Graf Althann (1668−1738) einen Sitz in der Konferenz und an dieser regelmäßig teil.⁶³ Zuvor wird er nur sporadisch genannt. Nach dem Tod des kaiserlichen Vertrauten Johann Michael Graf Althann im März 1722 und von Mikosch übernahm er neben Graf Harrach die Vertretung der Interessen dieser Gruppe bei Hof.⁶⁴ Althann wurde dann durch Leopold Viktorin Johann Graf Windischgrätz (1686−1746) ersetzt, der an den Kongressen von Cambrai und Soissons diplomatische Erfahrung gesammelt hatte.⁶⁵ Auffallend selten werden die Hofkammerpräsidenten als Teilnehmer genannt, die auch nicht Teil des Gremiums waren, bei einzelnen Sitzungen aber hinzugezogen wurden. Diese waren Franz Anton Graf Walsegg (1716−1719; erst Ende 1719) und dann Johann Franz Gottfried Graf von Dietrichstein (1719−1739). Letzterer scheint in den ersten Jahren vereinzelt auch als Teilnehmer in seiner Funktion als Bankalitätspräsident (bis November 1719) auf. Diese Funktion übernahm dann Ferdinand Graf von Kollowrat-Krakowsky (1719−1733), der nach dem Ausscheiden als Bankalitätspräsident 1733 selbst zum Ministerialkonferenzrat ernannt wurde und an den Sitzungen ab 1734 durchwegs teilnahm. Nahmen etwa der Hofkammerpräsident oder andere Behördenleiter teil, wurden diese durchaus auch von Mitarbeitern ihrer Stellen begleitet.⁶⁶ ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 84 (1721– 1723), Dekret vom 21.04.1721. Zu diesen Umstrukturierungen Michael Göbl/Michael Hochedlinger: Die Österreichische Hofkanzlei, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.),Verwaltungsgeschichte 1/1, S. 445 – 452, hier 448 f. Am 20. Februar 1722 wurde ihm per Dekret die Verleihung einer Finanzkonferenzratsstelle zu 6000 fl. Besoldung mitgeteilt (ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 84 (1721– 1723), 20.02.1722). Michael Wenzel war der ältere Bruder des Kardinals, Bischofs und Vizekönigs von Neapel Michael Friedrich Graf Althann (1680−1734) und war mit dem Favoriten des Kaisers verwandt. Hans Zwiedineck von Südenhorst: Windisch-Graetz, Leopold Victorin Graf. ADB 43 (1898), S. 415 f. Zu diesen Kongressen Karl-Heinz Lingens: Kongresse im Spektrum der friedenswahrenden Instrumente des Völkerrechts: Cambrai und Soissons als Beispiele der frühneuzeitlichen Praxis, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Köln 1991, S. 205 – 226; Seitschek, Tagebücher, S. 374−390 (mit weiterführender Literatur). Vgl. Literaturhinweise in Beitrag von Leopold Auer in diesem Band. Als am 1. April 1728 über böhmische Angelegenheiten diskutiert wurde, nahmen an dieser Sitzung nicht nur der Hofkammerpräsident Dietrichstein, sondern auch der böhmische Kammerpräsident Graf von Sternberg und zwei weitere Hofkammerräte im Ritterstand (von Stock-
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Bereits 1716 war die Harmonie innerhalb des Gremiums ein wichtiger Faktor, man wünschte „daß die beyweesenden ministri miteinander in guter harmonie stehen, und ein gutes vernemben pflegen sollen, allein dero dienst und das allgemeine weesen vor augen haben und nach möglichkeit solche zubeförderen helffen“.⁶⁷ Bedenkt man die Konfliktlinien der Gruppen bei Hof, die auch in der Konferenz vertreten waren, war diese Harmonie keineswegs selbstverständlich. Hingewiesen kann etwa auf das bereits erwähnte, gegen den expliziten Ratschlags Starhembergs auf Betreiben von Mikosch durchgesetzte Projekt der Universalbankalität werden. Beide fanden sich nun im kleinen Kreis der Sitzungsteilnehmer. Bei den Referendaren gibt es einige Personen, die vereinzelt an den Sitzungen teilnahmen, hauptsächlich nahm diese Funktion Johann Berhard von Mikosch wahr, der bis zu seinem Tod 1721 praktisch immer in den Anwesenheitslisten aufscheint. Mit der Verleihung des Reichsfreiherrenstandes (1719) schied er jedoch in seiner Funktion als Referendar aus und stieg zum Geheimen Rat auf, was ihm die Teilnahme an entsprechenden Konferenzen erlauben sollte.⁶⁸ Neben Starhemberg nannte Karl VI. in seinen Tagebüchern immer wieder den Namen
hammer, von Germetten) teil (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14, 1728, fol. 70r). Von Germetten war Rat in der Hauptkommission der drei Böhmischen Länder, wobei ihm laut Hofkalendern insbesondere die böhmischen Materien zugewiesen waren. Der Bankalitätspräsident wurde am 21. Mai von einem Raitrat begleitet (ebd., fol. 235r). Vgl. z. B. auch Sitzung vom 27. August 1722, vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 224r. Am 8. April 1722 wurde in Anwesenheit des Hofkammerund Bankalitätspräsidenten die vergangenen Überlegungen zu den finanziellen Ausständen vorgelesen sowie darüber dann beraten. Der Kaiser betonte in seiner Resolution neben den Maßnahmen für das praeteritum auch das Augenmerk auf die Bestreitung der laufenden Zahlungen zu legen. Vgl. ebd., fol. 69r−89r (08.04.1722). Dieses Thema beschäftigte die Finanzkonferenz natürlich weiterhin (s. unten). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 5. Zu diesen Rochaden (Resignation Hofkammerpräsident Walsegg, Ersetzung durch Dietrichstein, Mikosch Ernennung zu Rat, Lachemayr zu Referendar) sowie den Hinweis auf die Freiherrenstandsverleihung sind die Dekrete noch im Teilbestand Schierendorf vorhanden, die Finanzkonferenz beriet dazu im November 1719 (ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf, Konv. 81, 09.11.1719). Der Staatskalender von 1721 führt Mikosch dann nicht nur als Geheimen, sondern auch Finanzkonferenzrat (Kaiserlicher Und Königlicher/ Wie auch Ertz-Herzoglicher Und Dero Residentz-Stadt Wien Staats-/ und Stands- Calender etc., Wien 1721, S. 36). Die Konferenz begründete die Erhöhung nicht zuletzt damit, dass er die Oberaufsicht über die Kanzlei und Expeditionen haben werde. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 618 – 619r. Sein Name taucht auch unter den Räten der Hauptkommission der drei Böhmischen Länder auf, jedoch mit dem Zusatz „welcher aber nur zu frequentiren hat/ wan er von andern Verrichtungen abkommen kan“ (ebd., S. 60). 1721 war er laut Staatskalender mit den neoacquistischen Angelegenheiten befasst (Kaiserlicher Und Königlicher/ Wie auch Ertz-Herzoglicher Und Dero Residentz-Stadt/ Wien/ Staats-/ und Stands-Calender etc., Wien 1723, S. 59).
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von Mikosch bei Überlegungen zu Finanzfragen. Mikosch hatte also Zutritt zum Kaiser und genoss dessen Vertrauen, was der Eintrag zu seinem Tod in den persönlichen Notizen Karls VI. belegt (24. Dezember 1721): „umb 3 nacht Mikosch, de[r] aus nichts herkomen machen, nacher in came[r], auch sonst eyfrig, wohl dient, verstand, ich vertru[en] ih[m], gestorben, ½ G[o]tt sy gn[ädig]“.⁶⁹ Dessen Räumlichkeiten⁷⁰ dürften nach seinem Tod für wenige Jahre als Ort der Kanzlei sowie Wohnung des Heizers gedient haben. 1722 musste diese erneut übersiedeln und es wurde als künftiger Ort der Platz der in neue Räumlichkeiten umziehenden Tiroler Kanzlei im Kaiserspital vorgeschlagen. Die Kanzlei könnte dort kostenneutral untergebracht werden und wäre unmittelbar neben der Alten Registratur der Hofkammer angesiedelt. Dort könnte dann umso leichter ein erhofftes Repertorium generale entstehen.⁷¹ Neben Mikosch wird als Sekretär bereits in den frühen Jahren immer wieder Ferdinand Benedikt Lachemayr von Ehrenheim genannt⁷², der dann die Referendarfunktion von Mikosch bis zum Auslaufen der Konferenz 1741 übernahm. Zusammengefasst ist im Gremium eine gewisse personelle Kontinuität festzustellen, auch wenn einzelne Mitglieder durch Tod ausschieden. Im Zeitraum der knapp 25 Jahre der Existenz der Konferenz gehörten dieser Graf Starhemberg sowie der spätere Referendar Lachemayr mit einer bemerkenswerten Regelmäßigkeit an, ähnliches ist zu Graf Harrach mit Ausnahme seines Wirkens in Neapel zu bemerken. Am Beginn der 30er Jahre formten Starhemberg, Althann und Referendar Lachemayr ein Dreierteam, das an den Sitzungen regelmäßig teilnahm. Leopold Viktorin Graf Windischgrätz ersetzte wie bereits erwähnt 1735 Althann.⁷³ Graf Ferdinand Kollowrat-Krakowsky gesellte sich zu dieser Gruppe ab Ende 1733,
Zu diesem Holl, Hofkammerpräsident, S. 409 f.; Seitschek, Tagebücher, bes. S. 267−271. Der Staatskalender führt ihn als Hofkammerrat im Ritterstand und verweist auf seinen Wohnsitz bei den Franziskanern im Orellischen Haus (Kaiserlicher Und Königlicher Wie auch Ertz-Herzoglicher Und Dero Residentz-Stadt Wien Staats-/ und Stands-Calender etc., Wien 1719, S. 40; ebenso Stands-Calender 1721, S. 36). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 25v−27r (28.01.1722). Gleich zu Beginn der Sitzung unter dem Vorsitz des Kaisers Ende März wird dann explizit der Registrator der Finanzkanzlei Johann Karl Nagel von Eisengrub mit der Leitung der Erstellung eines Repertoriums in Bezug gebracht (ebd., fol. 67v−68r). Der Staatskalender von 1719 führt diesen auch namentlich unter den Hofkammersekretären an, genauso wie Mikosch als Hofkammerreferendar aufscheint (Stands-Calender 1719, S. 41 f.). Vgl. Initmationsdekret an Graf Windischgrätz betreffend der verliehenen Finanzkonferenzratsstelle zu 6 000 fl. jährlicher Besoldung, ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 85 (20.05.1735).
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als er zum wirklichen Finanzkonferenzrat ernannt wurde.⁷⁴ Trautson, Starhemberg oder Harrach werden in den Staatskalendern als Ministerialkonferenzräte genannt, Mikosch als einfacher Finanzkonferenzrat und Lachemayr eben etwa 1721 als Geheimer Rat und Referendar.⁷⁵ In diesen frühen Kalendern wird neben den Räten und dem Referendar ein Registrator, drei Kanzlisten sowie ein Türhüter und Kanzleiheizer genannt. Das Personal verringerte sich dann schrittweise, was eventuell auch den Einflussverlust der Konferenz verdeutlichen kann: 1726 werden im Staatskalender nur noch zwei Kanzlisten genannt, die Stellen des Registrators und Türhüters waren unbesetzt. Fehlt die Nennung eines Registrators dann auch in den Kalendern von 1729, 1733 und 1740, war die Türhüterstelle immerhin 1729 bereits nachbesetzt, auch wenn dafür in diesem Jahr der Posten des Kanzleiheizers vakant war. Allein aus Gründen der Notwendigkeit wurde Johann Berger in diese Funktion bestellt, wohnte nach Auskunft der Kalender in der Hofkammer. 1740 arbeitete dann allein ein Kanzlist für die Konferenz.⁷⁶
Arbeits- und Entscheidungsprozesse In den bereits genannten Überlegungen und Instruktionen wird die Arbeitsweise der Konferenz theoretisch festgehalten. Die Prozesse selbst bilden sich in den Konferenzprotokollen ab. In den frühen Protokollen erfolgt regelmäßig zu Beginn der Hinweis auf die Abhörung des Protokolls der vorherigen Treffen und, dass dieses unbedenklich wäre. Im Protokoll zum 7. März 1719 ist etwa bezüglich der vorhergehenden Sitzungen zu lesen: „darauf abgelegte vota seind dem protocollo conform gewesen und Ewer kai[serliche] und cath[olische] Maj[estät] beangenehmeten meistens,
ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 85 (29.12.1733 bzw. bzw. zurückgelangt vom Kaiser am 02.01.1734). Stands-Calender 1721, S. 35 f. In diese Kategorie der Ministerialkonferenzräte fiel nach 1722 auch Michael Wenzel Graf Althann sowie in den letzten Jahren der Konferenz Graf Windischgrätz. 1733 wird Lachemayr dann bereits als Ministerialkonferenzreferendar geführt. Vgl. Angaben nach den digitalisierten Staatshandbüchern der Österreichischen Nationalbibliothek, http://alex.onb.ac.at/cgi−content/alex?aid=shb&size=45 (17.03. 2020). Demnach kann neben den Räten auf folgendes Personal verwiesen werden (auf Grundlage der Kalender der genannten Jahre): Johann Carl Nagel von Eisengrub (Registrator: 1721, 1723), Joseph Andreas Mang (Kanzlist: 1721, 1723), Johann Wilhelm Stab (Kanzlist: 1721, 1723, 1726), Michael Joseph Grünwalder (Kanzlist: 1721, 1723, 1726, 1729), Anton Joseph Groß (Kanzlist: 1729, 1733, 1735, 1737, 1740), Ferdinand Bernhard Roßner (Kanzlist: 1733); Johann Georg Asam (Türhüter: 1721, 1723), Joseph Weintraut (Türhüter: 1729), Carl Gerosi (Kanzleiheizer: 1721, 1723, 1726), Johann Berger (Kanzleiheizer: 1733, 1735, 1737, 1740).
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was deroselben hiemittels eingerathen, wie dan die referata hiernach auch allerg[nädig]st unterzeichnet worden seind“.⁷⁷ In den 30er Jahren fehlen ähnliche Einleitungen durchwegs, die Protokolle setzen gleich mit dem ersten Verhandlungspunkt an. Sind die Sitzungen jahrweise durchnummeriert⁷⁸, so in der Regel auch die einzelnen Verhandlungspunkte innerhalb der Protokolle. Ausnahme stellen hier die Aufzeichnungen der Treffen in Anwesenheit des Kaisers dar, die auch regelmäßig kürzer ausfielen. Am Blattende des Beginns eines Protokolls zu einer Sitzung unter dem Vorsitz des Kaisers am 10. Mai 1722 befindet sich der Vermerk „vorgetragen den 8 9bris 1722“, wohl in der Hand Lachemayrs, was auf die erneute Vorlage des fertigen Sitzungsprotokolls in der nächsten Sitzung im Beisein Karls VI. an diesem Tag verweist.⁷⁹ Nach den einleitenden Angaben folgen die Beratungspunkte, wobei allgemein zu Beginn der Hinweis auf Überlegungen zu den folgenden Kameralreferaten stehen konnte.⁸⁰ Innerhalb der dann folgenden einzelnen Fragen wurde in der Regel zu Beginn der Sachverhalt erläutert, dann die Meinung der berichtenden Stelle angegeben und schließlich das Votum der Konferenz festgehalten. Vereinzelt ist auch die Form der Sitzung greifbar, etwa als über böhmische Angelegenheiten beraten wurde und sich der böhmische Kammerpräsident zu den einzelnen Punkten äußerte.⁸¹
ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), unpag. (vor 156). Die Ausnahme stellen hier die Jahre 1716/1717 dar, da diese durchgehend nummeriert wurden, die letzte Sitzung im Jahr 1717 dann auch die 81. insgesamt ist. Diese Klammer erklärt eventuell dann auch die Anlage eines Index für beide Jahrgänge (ÖStA, FHKA, AHK, GFK, Prot. 3). In späteren Jahren sind Sitzungsprotokolle immer wieder aus sachlichen Gründen geteilt. 1728 erfolgte am 7. April eine Teilung der behandelten Gegenstände, da ein besonderes Protokoll zur Entsendung einer Kommission in böhmischen Angelegenheiten gesondert abgeschlossen wurde. Auch der erste Teil der 7. Sitzung beschäftigte sich mit dieser Frage auf Grundlage einer erfolgten kaiserlichen Resolution, etwa mit einer Instruktion für eine Visitation der böhmischen Kameralgüter sowie einigen Personalangelegenheiten oder den Prager Juden (8. Juni; ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14, 1728, fol. 266r−284v). Ähnlich geschah es wenig später bei der 6. Sitzung, als der erste Teil Überlegungen zur Organisation der Innerösterreichischen Erbhuldigungsreise 1728 beinhaltete (21.05.1728, ebd. 235r – 245). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 116r (10.05.1722). Z. B. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 120r, 178r. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 70r – 108 (01.04.1728). Die Äußerungen zu den einzelnen Punkten wurden dabei in der linken Spalte vermerkt, jene der Hofkammer wie üblich rechts. Dann folgte die Diskussion zu weiteren eingegangenen Berichten, die Voten und schließlich ein Conclusum, das die Punkte auf die drei wesentlichen Fragen der Administration, Personals sowie künftige Verwaltung der behandelten böhmischen Herrschaften reduzierte. Die Finanzkonferenz beriet dann wenige Tage später erneut über diese Vorstellungen (7. April).
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Die Protokolle mit ihren Beilagen⁸² mussten natürlich dem Kaiser vorgelegt werden. Ein Hinweis dazu stellt beispielsweise ein Vermerk am Beginn des Sitzungsprotokoll vom 7. Mai 1728 dar: „relatur suae majestati scar[issi]mae, den 16. Mai 1728, Laxenburgi“.⁸³ Den Prozess kann man etwa anlässlich einer Entscheidung zur Umstrukturierung in der Universalbankalität 1733 nachvollziehen. Ende dieses Jahres schied Ferdinand Graf von Kollowrat-Krakowsky aus und erhielt dafür eine entsprechende Abfindung, als ältester Rat übernahm nun Peter Anton Hillebrand Freiherr von Prandau das kollegialiter zu führende Direktorium. Diese Maßnahmen wurden dem Kaiser in Form eines Referates durch Starhemberg vorgelegt, der Kaiser unterfertigte dieses eigenhändig und schließlich sollten entsprechende Dekrete an Kollowrath und die Universalbankalität gehen.⁸⁴ Betrachtet man die Verteilung der Sitzungen in den jeweiligen Monaten für das erste Jahrzehnt des Bestehens der Finanzkonferenz, so kann festgestellt werden, dass es natürlich eine größere Dichte im ersten Jahresquartal und den letzten beiden Monaten gab, in den Sommermonaten Juni bis August in manchen Jahren sogar keine Sitzungen stattfanden. Interessant ist jedenfalls, dass im Oktober bis 1727 selten Sitzungen stattfanden, dieser Monat also in den Jahren der kaiserlichen Präsenz praktisch konferenzfrei blieb.⁸⁵ Festzuhalten gilt, dass auch Anmerkungen auf der linken Blattseite in Form von Anlagenstrichen, Nummern oder Buchstaben verwiesen nach gängiger Praxis auf diese. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 178r. Unter diesem Datum wurde gleichzeitig die fünfte Konferenz unter dem Vorsitz des Kaisers in Laxenburg gehalten (ebd., fol. 234). Am Beginn der Konferenz vom 14.03.1719 befindet sich hingegen lediglich ein „legatur“-Vermerk (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 156). Zum 15. Protokoll 1722 (11.12.) vermerkte wohl Lachemayr den „relatum“−Vermerk sowie das Datum, wobei ein Teil in der Sitzung am 17. Dezember im Beisein des Kaisers, der Rest aber erst am 8. Januar 1723, als die zweite Sitzung des Jahres unter Vorsitz Karls stattfand, vorgetragen wurde (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8, 1722, fol. 370r). Die entsprechenden Schreiben in ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 85 (29.12.1733 bzw. zurückgelangt vom Kaiser am 2. Januar 1734). Als Grund wird im Referat aufgrund der Umstände die Notwendigkeit betont, dass „zu restabilir-, emporbring- und vermehrung des credits bey dero aerario, respectu personalis bey dero Univ[ersal‐]bancalität eine abänderung vorzunehmen“ wäre. Kollowrath erhielt als Gnade jährlich weiterhin 12 000 fl. zugesprochen und erbat die Nutznießung eines Gutes in Ungarn. Der Vorgang selbst fand Ende 1733 bzw. Anfang 1734 interessanterweise keinen Eingang in die Konferenzprotokolle. Hilleprand erhielt 1737 dann von 1734 an eine Zulage für seine Tätigkeit sowie den Titel eines Direktors der Universalbankaliät verliehen. In den entsprechenden Dekreten wird auch auf dessen Verdienste in Bereitstellung der notwendigen Mittel in seiner 35-jährigen Dienstzeit verwiesen (ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf, Kt. 18, Konv. 85, 21.10.1737). 1719 wurde auf Wunsch der Bankalität und Hofkammer eine Konferenz Ende Oktober gehalten, was aber eine Ausnahme darstellt. 1721 beriet man am 9. Oktober. 1739 erfolgte eine Sitzung am 8. Oktober. Selten fanden Konferenzen auch im Juni statt. 1728, wohl aufgrund der bevorstehenden Reise nach Innerösterreich, wurde hingegen mehrfach getagt.
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in Zeiten der Abwesenheit des Kaisers von Wien getagt wurde, etwa als sich der Hof 1723 in Prag befand.⁸⁶ 1728 traf sich die Konferenz hingegen, wie bereits erwähnt, unter dem Vorsitz Graf Harrachs mit reduziertem Personal in Wien und berichtete nach Graz. Zur Dauer der Sitzung kann bis auf den teils beachtlichen Umfang (vereinzelt knapp 30 Punkte) der beratenen Angelegenheiten vorerst wenig festgestellt werden. Im Protokoll zum 28. Februar 1728 wird am Ende auf ein durch Graf Stürgkh vorgetragenes Referat verwiesen. Zu einigen Punkten hatten die Teilnehmer bereits ihr Votum abgegeben, das Referat wurde jedoch auf die nächste Konferenz verlegt, da es bereits zu spät war.⁸⁷ Grundsätzlich sollten also Referate, Berichte und Gutachten über die Hofkammer und Bankalität die Finanzkonferenz erreichen, die Vorschläge dann abgewogen und in einem Votum dem Kaiser zur finalen Entscheidung vorgelegt werden.⁸⁸ Dabei konnten zudem nicht nur Stellungnahmen von diesen untergeordneten Stellen (Oberösterreichische, Ungarische oder Böhmische Kammer, Schlesische Kammer, Siebenbürger Stellen usw.), sondern auch Beurteilungen des Hofkriegsrates Themen der Sitzungen sein.⁸⁹ Auch Anbringen des Reichsfiskals wurden in der Konferenz beraten.⁹⁰ Das Vorgehen verdeutlicht eine eigenhändige Resolution im Zusammenhang zu bereits genannten Überlegungen zu den böhmischen Kameralherrschaften, die in der Entsendung einer Kommission zur Untersuchung deren Administration mündete: „Placet wie eingerathen doch das nicht in forma inquisicionis da noch keine delicta probirt sondern untersuchung gescheh und alles hieher zu der hofcamer v[on] da zu der conferenz referirt auch so vill moglich zeit und unkosten erspahrt werden, Carl“.⁹¹ Man war jedenfalls um eine stete Verbesserung der Strukturen bemüht. 1719 erfolgte etwa per Die Konferenz tagte etwa am 6. August im Beisein des Kaisers im Prager Schloss, am 29. Juli sowie 15. September im Haus Colloredos auf der Kleinseite. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 9 (1723), fol. 322r, 339r, 347r. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 155−156. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), 11. So ist am Beginn des Protokolls der ersten Sitzung 1728 zu lesen: „Bey gegenwertiger session seind folgende cameral-referata in deliberation kommen“ (17.02.; ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14, 1728, fol. 1r). 1735 richtete der Hofkriegsrat ein Ansinnen an die Hofkammer betreffend einer Nachbesetzung: Da der die Stelle innehabende Militär auf Lebenszeit bestellt, aber durch einen Schlaganfall dienstunfähig war, wollte man einen besoldeten Nachfolger berufen. Die Hofkammer riet davon aufgrund des belasteten Militärbudgets und des Charakters einer extraordinari-Ausgabe ab. Die Konferenz verwies dann auf die besonderen Umstände, auch wenn die Hofkammer gegen die Angelegenheit mit Recht opponieren würde, mit welcher Begründung der Kaiser einer Überbrückungslösung zustimmte. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 35v−36v (19.04.1735). Zu diesem Gernot P. Obersteiner: Das Reichshoffiskalat, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/1, S. 320 – 322. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 119r.
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Dekret eine Rückfrage an Bankalität und Hofkammer zu möglichen Verbesserungsvorschlägen und Rationalisierung der Vorgänge.⁹² Natürlich ging es auch immer wieder um Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Personal der Hofkammer oder des Hofkriegsrates in den im Osten neu gewonnenen Gebieten. Wichtig zum Verständnis des Funktionierens der Konferenz wird also auch sein, welche Stellen in den jeweiligen Beratungen berührt wurden bzw. involviert waren. Vielfach ging es jedenfalls um Besetzungen in den Zentralstellen, Länderkammern und lokalen Ämtern. Wegen einer Bestellung eines subalternen Beamten in der Prager Bankalrepräsentation erhielt man zwar ein Schreiben der Hofkammer, doch hatte auch der Bankalpräsident zuvor schriftlich interveniert und die Kenntnis der „böhmischen“ Sprache eingefordert.⁹³ Die Vorschläge der Bankalität konfirmierte bzw. kommentierte die Hofkammer entsprechend den Instruktionen. Besetzungen in Form von Dreiervorschlägen nehmen dabei zahlenmäßig durchaus einen großen Raum ein (s. unten). Wohl auch aufgrund der schnelleren Erledigung standen diese Punkte an den Enden der Sitzungen. Die Einsendung solcher Dreiervorschläge laut Kameralinstruktion wurde, etwa von der Konferenz und dann der kaiserlichen Resolution („Placet, ad künfftig drei vorzuschlagen“) im Fall einer Bestellung in der Oberösterreichischen Kammer⁹⁴, immer wieder eingefordert. Beratungen zum Verhältnis zwischen der Hofkammer und Bankalität sowie letztlich beider zur Konferenz beschäftigte die kaiserlichen Ratgeber jedenfalls regelmäßig, was an dieser Stelle im Einzelnen nicht nachvollzogen werden kann.⁹⁵ Es gilt zu betonen, dass der formale Aspekt jeglicher Kommunikation von ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 81, Dekret vom 23.12.1719. Die Konferenz neigte eher der Kammer zu, da die Stelle keinen direkten Kontakt mit den Untertanen erforderte. Zudem begründete man die Tauglichkeit des Kandidaten der Hofkammer damit, dass dieser bereits auf Verlangen des verstorbenen Mikosch zum Kassier ernannt worden war. Die kaiserliche Resolution fiel dann auch entsprechend aus, was den Einfluss der spanischen Gruppe, insbesondere kurz nach dem Tod des engsten Vertrauten des Kaisers am 16. März, Graf Althann, verdeutlicht (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8, 1722, fol. 12v – 15v: Sitzung am 28.01.1722, Resolution am 30. März des Jahres). Etwas später wird eine Person auf Empfehlung Fürst Cardonas erstgereiht und dann auch vom Kaiser zum Burgnachtwächter bestellt (ebd., fol. 64v – 65r, 24.03.1722). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 49v – 51r. Wenig später musste dies erneut eingemahnt werden, ebd., fol. 100v – 101r (27.05.1735). So beschäftigte sich eine Deputation mit dieser Frage in einer Sitzung am 1. Oktober 1716, wobei dieser Vertreter der Hofkammer und Universalbankalität angehörten (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 1 (1716), unfol., nach S. 11). Unter anderen verpflichteten sich dabei die Behördenleiter zu dem gewünschten regelmäßigen Austausch und Treffen, wie es der landesfürstliche Dienst notwendig machen würde. Zur Korrespondenz zwischen Hofkammer und Bankalität schlug man drei Arten vor. Bei notwendigen Geldsummen über 1 000 Gulden sollte vorab durch die Hof-
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Bedeutung und in den Instruktionen entsprechend geregelt wurde. Im Zusammenhang dazu ist eventuell die Personalrochade von 1719 bei Hofkammer und insbesondere Universalbankalität von Interesse. Demnach erinnerte die Konferenz mit Blick auf den neu bestellten Bankalitätspräsidenten Kollowrath, dass der aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretene Hofkammerpräsident Graf Walsegg seinen Eid noch in der Ministerialdeputation vor dem aufgestellten Bankalhofgubernium abgelegt hatte, sein unmittelbarer Nachfolger als Bankalitätspräsident und nunmehr neu resolvierter Hofkammerpräsident Dietrichstein jedoch schon vor der Konferenz⁹⁶, wie man es auch weiter halten wollte. Die kaiserliche Resolution stand in der Regel dann unter den Rubren⁹⁷ zu Beginn der jeweiligen Punkte. Nahm der Kaiser persönlich an der Sitzung teil bzw. wurden ihm zu einzelnen wichtigen Punkten umfassendere Teilprotokolle zugestellt, vermerkte er seine Entscheidung mitunter an deren Ende („Placet, Carl“). So notierte er zu den Überlegungen der Finanzierung der Innerösterreichischen (Huldigungs‐)Reise 1728 am Ende eine etwas umfangreichere Resolution, der eine zeitgenössische Transkription beigelegt wurde.⁹⁸ Ansonsten trug er seine Entscheidungen vereinzelt persönlich neben den jeweiligen Entscheidungspunkten
kammer eine kaiserliche Resolution eingeholt werden und diese dann per Befehlsschreiben an die Bankalität intimiert werden. Würde es um unmittelbar notwendige Angelegenheiten gehen, sollten diese zwar durchgeführt, die kaiserliche Entscheidung aber nachträglich eingeholt und der Bankalität wiederum mitgeteilt werden. Bei Summen unter 1 000 Gulden konnten Auszahlungen per Reskript, jedoch mit Unterschrift des Hofkammerpräsidenten, eines Hofkammerrates und des Referendars bzw. Sekretärs erfolgen, um größere Sicherheit gewährzuleisten. Angelegenheiten, die nicht unmittelbar Geldsummen betrafen, sollten in üblicher Weise, aber unter dem Vermerk ex consilio camerae aulicae unter Beisetzung der Unterschrift des Referendars oder Sekretärs erfolgen (s. zu dieser Behördenfirma kurz Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkundenund Aktenlehre der Neuzeit. Wien/München 2009, S. 162 f.). Weitere Sitzungen dazu folgten. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 618v – 619r (09.11.1719). Für Walsegg und Dietrichstein ist also der Karriereweg vom Bankalitätspräsidenten zum Hofkammerpräsidenten festzustellen. Auch bei diesen gibt es zwei Formen. Bei der Punktation ist die Rubrizierung durch Kanzlisten üblich. Schon in den frühen Jahren dürfte Lachemayr diese Aufgabe standardmäßig wahrgenommen haben, wird zu Beginn aber nicht unter den Teilnehmern der Konferenzen genannt (1717 dann als Sekretär angeführt). In den späteren Jahrgängen ist diese Hand des nunmehrigen Referendars bei Protokollen in Anwesenheit des Kaisers bzw. Beratungen zu einem Hauptpunkt (Hofkammerinstruktion 1728) auszumachen, während die Rubren ansonsten in der (Kanzlisten?‐) Hand des Protokolltextes verfasst sind. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 245r: „bei disen protocol ist nichts weiters zu erindern undt approbir die vorgesezte fundos undt wie undt was damit zu bestraiten undt nur zu sehen wie auch der hier lassenden hofstadt geholfen werdt, daß sie bei mein aussein nicht laidte“. Die Transkription unterscheidet sich in dem Buchstabenbestand dabei unwesentlich („approbier“, „vorgesetzte“, „leide“ usw.). Zur Reise Rausch, Hofreisen, S. 95 – 142; Seitschek, Organisation.
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auf die halbbrüchig verfassten Protokolle oder wurden diese von einer anderen Hand, wohl u. a. jener des Referendars Lachemayr in späteren Jahren, dort durchwegs mit Verweis auf das Resolutionsdatum eingetragen. Manchmal steht auch das Datum, an dem die Entscheidung wieder an die Konferenz zurückgelangte, also „reproduziert“ wurde.⁹⁹ In wenigen Fällen ist die Resolution auf eigenen, kleinformatigen Zetteln beigebunden.¹⁰⁰ In ungarischen Angelegenheiten erfolgte die Resolution durchwegs in Latein.¹⁰¹ Manchmal wurden durch die Resolution weitere Referate eingefordert bzw. die Entscheidung vertagt. So forderte im Fall der Versorgung der „Prinzessin Sobieska“¹⁰² und ihrer Tochter der Kaiser Mitte März einen finalen Bericht („legatur finaliter“).¹⁰³ Dieser schrittweise Prozess sowie die entsprechenden Zeitangaben erlauben jedenfalls über die Protokolle zum Teil detaillierte Einblicke in die Entscheidungsfindung, da diese bei Abweichungen in der Regel auch immer umfangreich begründet werden. Dadurch wird oft der Umgang mit Norm und Praxis greifbar. In der Regel schloss sich Karl VI. den Empfehlungen an („Placet, wie eingerathen“¹⁰⁴), bei Entscheidungsmöglichkeiten nahm er diese wahr, etwa bei der Höhe eines verliehenen Geldbetrags (z. B. Pensionen).¹⁰⁵ So notierte der Kaiser unterm 10. Januar 1733: „Placet, wie eingeraten aber oberösterreichischer Kammer künftig nicht eher traktate vollziehen, bis vorher approbation und ratifikation eingelangt“.¹⁰⁶ Deutlich wird hier der Hinweis auf das Einhalten der Normen, nämlich dass vor
Z. B. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 679r, 683r. Z. B. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), vor fol. 575r (Abschrift!). Etwa die Abtei St. Gotthard betreffend ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 650r – 654r (28.11.1719). Hedwig Elisabeth Amelia von Pfalz-Neuburg, 1673 – 1722, seit 1691 verheiratet mit Jakob Louis Heinrich Sobieski. Die Tochter Maria Clementina sollte den englischen Thronprätendenten James Francis Edward Stuart heiraten (03.09.1719). Zu den diplomatischen Verwicklungen im Zuge des Aufenthalts in Innsbruck bzw. dem Stuarthof in Italien Edward Corp: The Stuarts in Italy 1719 – 1766. A Royal Court in Permanent Exile. Cambridge 2011; kurz zu dieser Episode auch Seitschek, Tagebücher, S. 404– 406. Sitzungen am 14. März bzw. 19. August 1719. Z. B. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 14 (1728), fol. 203v. Gerade in diesem Bereich strebt die vom Autor geplante Studie an, gewisse Tendenzen auszumachen, etwa ob und wann der Kaiser mehr dem Rat der Finanzkonferenz oder der Hofkammer folgte. Aus jetziger Sicht bestätigte er in der Regel das Votum der Finanzkonferenz. Ende Juni 1719 befasste sich die Finanzkonferenz mit einem speziellen Fall. Hatte eine Frau aufgrund der Verdienste ihres Vaters noch eine Pension von 200 Gulden genossen, wollte man ihr nach ihrem Eintritt in das Ursulinenkloster jährlich zwischen 100 und 150 Gulden zugestehen. Der Kaiser entschied sich knapp drei Wochen später für den höheren Betrag von 150 Gulden (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 393 f.). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 18 (1732), fol. 183v.
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größeren Entscheidungen vorab der Kaiser (über die Konferenz) zu konsultieren wäre. 1719 verwies die Konferenz betreffend der Abtretung eines Grundes zur Erbauung der Kirche des Ursulinenklosters am Hradschin, dass es sich dabei schon um eine verbescheidete Angelegenheit handelte und somit ein Ansuchen um Legitimation, man an der Sache selbst aber keinen Anstand nehmen wollte und deshalb zur kaiserlichen Genehmigung weiter empfahl.¹⁰⁷ Deutlich wurde, dass anhand der Angaben mitunter die Bearbeitungs- bzw. Entscheidungsdauer erschlossen werden kann, die unmittelbar erfolgen bzw. von wenigen Tagen hin zu mehreren Monaten (etwa bei Personal- bzw. Besoldungsfragen) umfassen konnte.¹⁰⁸ Die Resolutionszeitpunkte können innerhalb des Protokolls bei den einzelnen Punkten divergieren, auch wenn in der Regel ein „Hauptdatum“ fassbar wird. Darauf, dass manchmal frühere Protokolle ein Datum der Resolution tragen, das der nächsten Sitzung mit Vorsitz des Kaisers entspricht, wurde bereits hingewiesen. Aufgrund von Differenzen zwischen dem Oberststallmeister und der Böhmischen Kammer dauerte die Entscheidung zu Bestellung eines Kaplans 1719 etwa vier Monate, wobei auch hier wieder die Einflussnahme bzw. eventuell Bevorzugung der spanischen Gruppe um Graf Althann, dem Oberststallmeister, greifbar wird, da diesem die Benennung, der Kammer allein die Präsentierung zugestanden wurde.¹⁰⁹ Im Zusammenhang mit der Erstellung des Generalanordnungsstaates für 1719 drängte der Kaiser in einer Resolution am 21. Mai des Jahres die Kammer ihrer Schuldigkeit gemäß die notwendigen Mittel zu beschaffen, insbesondere die bereits länger beschlossene Appaltierung von Gefällen und Ämtern vorzunehmen. Deshalb sollte diese Angelegenheit unter dem Vorsitz Ferdinands Graf Kollowraths unter Zuziehung Starhembergs, Vorsitzenden der Minsterialbankodeputation, den Hofkammerräten im Ritterstand Mikosch bzw. Johann Baptist Zuana und Lachemayr wieder aufgenommen werden.¹¹⁰ An dieser Stelle sei weniger auf die Sache, als auf den Personenkreis verwiesen, der v. a. Mitglieder der Finanzkonferenz bzw. eben der spanischen Gruppe bei Hof (Mikosch) umfasste. Dass sich die Familien verdienter Spanier auch noch nach ihrem Tod der Dankbarkeit des Kaisers erfreuten, belegt etwa die gewährte Pension für die Witwe und den Sohn eines spanischen Kom-
ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 528v−529r. Im Januar 1719 betonte Karl VI. noch, dass Dienstersetzungen innerhalb von zwei Monaten erfolgen sollten (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 07.01.1719, Resolution unterm 16. des Monats). In dieser Sitzung im Januar 1719 traf er mehrere Personal- bzw. Pensionsentscheidungen innerhalb also von neun Tagen, eine andere Entscheidung den Gehalt betreffend ließ aber auch 60 Tage auf sich warten. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 261 f. (resol. 29.04.1719). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 303 f. (02.05.1719).
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mandanten, dessen Übertritt im Spanischen Erbfolgekrieg gleich das ganze Regiment folgte.¹¹¹ „Die Finanzkonferenz war keine Behörde, sondern ein beratendes Organ des Monarchen, das die gesamte Finanzverwaltung und die großen Linien der Finanzpolitik koordinieren und überwachen sollte“.¹¹² Festzuhalten gilt, dass die Staatskalender der Konferenz einen festen Personenkreis zuordneten. Die Finanzkonferenzräte wurden in dieses Gremium durch den Kaiser per Dekret bestellt. Der Vorsitzende der Konferenz hatte das Recht sich mittels Referat direkt an Karl VI. zu wenden.¹¹³ Abgesehen davon nahm dieser zumindest im ersten Jahrzehnt der Existenz der Stelle regelmäßig an den Sitzungen persönlich teil. Auch besaß die Konferenz laut Instruktion ein eigenes Archiv. Selbst ausgestellte Dekrete und deren Form deuten jedenfalls auf Behördencharakter hin, auch wenn diese in den vorliegenden Fällen in der Regel an andere Stellen gerichtet sind bzw. es sich um Versicherungsdekrete für Dienstleute handelt. Leider sind keine der Hofkammer entsprechenden Protokolle zu allen Ein- und Ausgängen der Konferenz erhalten bzw. diese dem Autor bekannt, sondern sind etwa die eingegangenen Referate, die ja laut Geschäftsordnung an die jeweiligen Stellen zurückzustellen waren, allein durch die Dokumentation der Sitzungen greifbar. Einige Konzepte¹¹⁴ und Dekrete¹¹⁵ haben sich in den Beständen des heutigen Hofkammerarchivs erhalten. Es ist jedenfalls schwierig aufgrund dieser „Überreste“ Schlüsse zu ziehen, da die Dekrete zwar chronologisch geordnet sind, nicht jedoch Näheres zu deren Zusammenstellung bekannt ist.¹¹⁶
Hatte man diesen ursprünglich eine Pension von 600 Gulden gewährt, wurde diese 1716 auf 400 und nun 1719 auf 200 Gulden reduziert. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 633v (14.11.1719). Siehe dazu auch den Beitrag von Garms-Cornides in diesem Band. Bekannt ist jedenfalls die Förderung der Familie des Vertrauten Graf Althann nach dessen Tod im März 1722 (dazu kurz Seitschek, Tagebücher, S. 235−239). Winkelbauer, Banco, S. 950. Z. B. Referat Starhembergs, 06.07.1730, ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 85. Einige davon befinden sich im Schierl von Schierendorff zugeordneten Aktennachlass, z. B. ÖStA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf Kt. 18, Konv. 81 (1719), Konv. 85 (1733). In dem Bestand liegen auch einzelne Ausfertigungen vor. Aufgrund des Charakters als Konzepte und Unterfertigungen der in der Kanzlei tätigen Personen ist davon auszugehen, dass diese Splitterbestände aus der Konferenzkanzlei stammen. Insgesamt befinden sich knapp 70 Dekrete in diesem Bestand, also für einen Zeitraum von knapp 25 Jahren eine überschaubare Anzahl. ÖStA, FHKA, ÖHF, Kt. 2098, Konv. 12.1717. Das Konvolut enthält knapp ein halbes Dutzend ausgefertigte sowie weitere, beigelegte Dekrete aus dem Jahr 1717. Mehrere Ordnungsphasen sind jedoch festzustellen, etwa die Rubrizierung auf der Rückseite der Konzepte in anderer Hand sowie die dort vereinzelt jahrweise vorgenommene Durchnum-
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Diese können also die inhaltliche Bandbreite der aktiven Tätigkeit der Finanzkonferenzkanzlei illustrieren, nicht jedoch deren tatsächliches Arbeitspensum. Ähnlich wie die Konferenzprotokolle belegen die Dekrete bzw. Intimate die rege Kommunikation zwischen Finanzkonferenz und Hofkammer sowie der Universalbankalität. Die Art der Kommunikation mit einer der wenigen Zentralstellen der Habsburgermonarchie, eben der Hofkammer, die auch Ungarn und seine Länder miteinbezog, war jedenfalls ein wichtiger Punkt, der mehrfach in den ersten Jahren der Konstituierung der Finanzkonferenz in den Instruktionen festzulegen war. Zwar konnte die Konferenz entsprechende Dekrete an die Hofkammer und Universalbankalität richten, nicht jedoch an diesen untergeordneten Stellen, weshalb entsprechende Verweise zur Erstellung solcher Schreiben auch immer in den Konferenzprotokollen bzw. Schreiben begegnen. Zudem ist die gebieterische Form der Dekrete (in Vollform, per Imperatorem) festzustellen und nicht jene der „Dekrete in Freundschaft“ zwischen gleichrangigen Behörden.¹¹⁷ Es handelt sich jedenfalls um eine für von Zentralstellen bzw. deren Kanzleien charakteristische Form ausgefertigter Dekrete im Auftrag des Kaisers. Grundlage bildete stets eine entsprechende Resolution des Souveräns¹¹⁸, hier in der Regel nach Beratungen in der Finanzkonferenz. Aus dem Dargelegten wird die eher übergeordnete Rolle der Konferenz nicht zuletzt durch die Form der Schreiben deutlich, auch wenn die Hofkammer selbst diese, auch nicht unüblich, als „Intimate“ rubrizierte und damit als Schreiben
merierung und chronologische Reihung der Dekrete nach deren Datum. Die an die Hofkammer gerichteten Dekrete sind etwa wenig überraschend nach dem Präsentierungsdatum geordnet. Zur Klassifizierung solcher Schreiben im objektiven Stil (Dekrete bzw. Dekrete in Freundschaft) allg. Hochedlinger, Aktenkunde, S. 192– 195, 216. So steht etwa zu Beginn „anzufügen“ oder auch bei der Adresse einfach nur, dass das Dekret der Hofkammer „zuzustellen“ wäre (ebd., S. 194). Die typische Intitulatio („Von der …“), Dekretfaltung, Huldversicherung, die „Signatum“Zeile mit Corroboratio oder die eigenhändige Unterfertigung des Konferenzvorsitzenden sowie die Siegel charakterisieren die Stücke als Dekrete der Vollform. Es fehlt ein ex consilio-Vermerk, dafür enthält der Auftragsvermek Hinweise auf Ausstellungsort und Datum. Nicht zuletzt die grammatikalische Konstruktion, den Absender in dritter Person zu nennen, erklärt die nicht persönliche Unterfertigung des Monarchen (ebd.). In Preußen wurden entsprechende Schreiben durch das Kabinett selbst ausgefertigt (Hochedlinger, Aktenkunde, S. 192 f.). Zu Preußen bzw. Praxis im Reich allg. auch Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Leipzig 1969, S. 156−161. Die Ausfertigung von solchen Dekreten an andere Hofstellen ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, ursprünglich fertigte solche Per Imperatorem-Dekrete nur die Reichskanzlei, ab dem 17. Jahrhundert auch die Hofkanzlei aus. Sofern es untergeordnete Stellen betraf, stellte entsprechende Dekrete etwa auch die Hofkammer oder der Hofkriegsrat aus (Hochedlinger, Aktenkunde, S. 193).
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zwischen Gleichrangigen.¹¹⁹ Ähnlich wie auf der inhaltlichen Ebene mit mehrfachen Erinnerungen zu Anweisungen, wird also auch am Umgang mit der äußeren Form der Kommunikation der Stellen untereinander der Versuch der Überordnung bzw. das Gegensteuern der Hofkammer dazu greifbar. Sieht man also von der Hofkammer bzw. Universalbankalität einmal ab, waren der Finanzkonferenz keine unmittelbar mit Verwaltungstätigkeit befasste Stellen zugewiesen. Hauptaufgabe der Finanzkonferenz war die Beratung des Kaisers. Letztlich hatte auch die Hofkammer keine umfassenden Entscheidungsbefugnisse, sondern musste entsprechende kaiserliche Resolutionen durch Stellungnahmen und Empfehlungen vorbereiten¹²⁰ bzw. liefen diese nun über die Finanzkonferenz. Der Vorsitzende der Konferenz konnte jedenfalls unmittelbar dem Kaiser berichten und die Konferenz hatte somit zumindest die Stellung eines Hofmittels bzw. einer Zentralbehörde.
Beratungsthemen Angesichts des Umfangs und Zeitrahmens der Sitzungen der Geheimen Finanzkonferenz und deren Punkte ist eine Kategorisierung der jeweiligen behandelten Fragen notwendig, nicht zuletzt um das Tätigkeitsfeld dieser und dessen Wandel abschätzen zu können. Eine entsprechende Klassifikation bleibt bei allem Bemühen subjektiv, doch kann sie immerhin das Arbeitsprofil der Finanzkonferenz abseits der Normen auf Zahlen basierend verdeutlichen. Eine spezifische Kategorisierung der behandelten Themen schafft natürlich Probleme, da es immer wieder Überschneidungen geben wird. Betrachtet man beispielhaft die für die Hofkammer geplante bzw. umgesetzte Einrichtung der Kommissionen wird die Vermischung von sachlichen bzw. territorialen Zuständigkeiten immer wieder fassbar.¹²¹ Dabei sind einige wiederkehrende, oft eigenständige bzw. durchaus
Z. B. ÖStA, FHKA, ÖHF Kt. 2098, Konv. Dezember 1717 (24.05.1717). Dass es sich um Rubren der Hofkammer handelt, deutet nicht zuletzt das Datum der Ablage an, nämlich jenes des Präsentierungsvermerks und nicht dem des Schreibens selbst (18. Mai). Zur Bezeichnung als Intimat Hochedlinger, Aktenkunde, S. 193. Körbl, Hofkammer, S. 78. Die Staatskalender führen folgende Kommissionen an: 1719 werden etwa sieben Hauptkameralkommissionen sowie dazu anstellende Kommissionen genannt (Staats-Calender 1719, S. 56 − 63). Diese waren die Militärhauptkommission, die Hof- und Reichskommission, die Hauptkommission der Ungarischen und anderen angrenzenden („confinirenden“) Länder, die Kommision in Neoacquisticis, die Hauptkommission der drei Böhmischen Länder, die Hauptkommission der Österreichischen Länder, die Hauptrechnungskommission sowie die Hauptkommission des perpetuierlichen Fundi. 1725 wird dann noch zusätzlich eine Salzkommission
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auch kombinierte Posten fassbar, die folglich auch in der Finanzkonferenz behandelt wurden, wie eben das Camerale, das Militare, Berg- und Hüttenwesen, (ungarisches) Salzwesen, Mauten und Commercien (Handelsfragen) oder Angelegenheiten des Hofstaats. Als Ländergruppen begegnen neben den Königreichen Böhmen und Ungarn, Österreich ob und unter der Enns, die Innerösterreichischen sowie die Ober- und Vorderösterreichischen Länder. An dieser Stelle sollen kurz die Beratungsthemen der Konferenz der untersuchten Jahrgänge anhand von Beispielen vorgestellt werden, wobei die genannten Themenblöcke als Grundlage für eine künftige Auswertung dienen sollen. Über was berieten nun die Konferenzmitglieder? Eine grundsätzliche Unterscheidung ist zwischen allgemeinen Fragestellungen (z. B. Budget) und Einzelanliegen zu treffen. Territorial wurden aus allen Ländern der Habsburgermonarchie Anliegen an die Konferenz getragen mit Ausnahme der ehemals spanischen Gebiete in den Niederlanden und (Süd‐)Italien. Schließlich beriet man auch über das Reich betreffende Fragen.¹²² Gerade der Aspekt der Einflussmöglichkeiten in den unterschiedlichen Territorien der Monarchie ist dabei von Interesse. Thematisch sind es Fragen des Staatshaushaltes, worunter etwa der jährliche Militäretat bzw. allgemein Budgetfragen fallen, die zu Beginn in der Konferenz bzw. den Sitzungen diskutiert wurden. Dabei war man auf die Vorarbeiten insbesondere der Hofkammer und Universalbankalität angewiesen. So ist in einem Dekret an die Hofkammer vom 4. Januar 1717 in Bezug auf die Herstellung der „Richtigkeit“ für das Militärjahr 1716 zu lesen, dass ansonsten „zu beförchten stunde, daß zu höchst schädlichen folgerungen eine unordnung aus der anderen erwachsen, solche je lenger je mehr sich vermehren, sowie eine Bergstädtische Kommission genannt (Staats-Calender 1725, S. LII). Der Schematismus führt später nicht mehr die Kommissionen, sondern die Einteilung der an deren Stelle tretenden Kameralreferenten an. Diese waren für folgende Materien zuständig: Salz- und Bergwerkssachen, Angelegenheiten der drei Böhmischen Länder, Hof- und Reichskameralsachen, Camerali universalis sowie Generalappaltierungs- und Taxsachen, dann in Militari und Camerali betreffend Publica, weiters in Hungaricis, Niederösterreichische und Raitungssachen, in Militari oeconomico, in Innerösterreichischen Angelegenheiten sowie schließlich in Ober- und Vorderösterreichischen Sachen (Kaiserlicher Und Königlicher/ Wie auch Erz-Herzoglicher Und Dero Residentz-Stadt Wien Staats- und Stands Calender etc., Wien 1735, S. 56). Ingesamt gab es also zehn Kameralreferate. Vgl. entsprechende Instruktionen vom 07.02.1714 bzw. 02.02.1732 (ÖZV 1/3, S. 63−121, 411 f., 414). Zu den sechs Hauptkommissionen 1737 Rauscher, Verwaltungsgeschichte, S. 197. So kam etwa der substituierte Reichskommissar zu Parma Carlo Graf Stampa mit dem Ansuchen zur Begleichung der viermonatigen Gehaltsausstände sowie seiner Extraspesen bei der Finanzkonferenz ein. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 18 (1732), fol. 1r (21.02.1732). Wenig später wurde Stampa Plenipotentiar in Reichsitalien (dazu kurz Matthias Schnettger: Reichsitalien und die Plenipotenz, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/1, S. 357 f.).
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folglich immer schwerer aus solcher zu emergiren seyn würde.“¹²³ Mehrfach wurde über jährliche ordinari und extraordinari Zahlungen der Landstände sowie von diesen geleisteten Antizipationen beraten. Darunter fallen zudem allgemeine Überlegungen zum Aufbringen notwendiger Mittel etwa in Form von Krediten bzw. Antizipationen und Subsidien sowie Überlegungen zu Rahmenbedingungen deren Abwicklung.¹²⁴ Zwar wurde immer wieder über die Notwendigkeit zur Aufbringung von Geldmittel durch Kredite bzw. zu deren Bedingungen oder einzelne (Liefer‐)Rückstände beraten, abzuschließende Verträge wurden jedoch nicht bzw. selten thematisiert.¹²⁵ Alltagsgeschäfte im weitesten Sinne blieben also Angelegenheit der Hofkammer, auch wenn immer wieder über offene Forderungen, etwa jüdischer Unternehmer bzw. deren Gläubiger (Stichwort Oppenheimer), beraten wurde.
ÖStA, FHKA, ÖHF, Kt. 2098, Konv. Dezember 1717 (04.01.1717). Damit war nicht zuletzt auch aufgrund der Ansichten Starhembergs (Holl, Hofkammerpräsident, S. 136) die Begleichung von Schulden zur Erhaltung der eigenen Glaubwürdigkeit und Erleichterung der Einwerbung künftiger Kredite verbunden. Bzgl. einer Antizipation von Augsburg ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 670−673 (11.12.1719). In dieser Konferenz wurde erneut die prekäre Finanzlage diskutiert und betont, dass die Stadtbank vorläufig nicht aushelfen könnte. Man überlegte daher etwa an Mittel durch die Einrichtung einer Tabakfabrik, das Postwesen oder dachte an mögliche Kameraleinkünfte aus den neoacquistischen Ländern. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722) fol. 370r−373v (11.12.1722). Insbesondere befasste man sich in dieser Sitzung auch mit der Verbesserung der böhmischen Zollgefälle. Einen Überblick zu Verträgen der Hofkammer mit Lieferanten, insbesondere auch für die Versorgung der Armee, s. ÖStA, FHKA, SUS, KuR, Reihe C. Mehrere Sitzungen der Konferenz im Februar 1719 befassten sich mit dieser Thematik allgemein. Konkret beriet man über einen Kontrakt etwa aufgrund eines Ansuchens des Wiener Bischofs im November 1719. Dabei erhoffte sich dieser eine Erhöhung der Zinssätze seines Kapitals auf sechs Prozent. Die Konferenz verwies in ihrem Votum darauf, dass fünf Prozent aufgrund der Gesamtsituation rund um berührte Stiftungen ohnehin eine Gnade wären und der Kontrakt grundsätzlich aufzuheben wäre. Der Kaiser resolvierte dann auch entsprechend, nämlich, dass sich der Bischof wie andere Betroffene mit den üblichen fünf Prozent begnügen sollte (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, fol. 623v – 625v, 09.11.1719). Thema waren Verträge v. a. auch immer im Zusammenhang von Herrschaften bzw. Nutzung von Grundstücken. Ein interessanter Fall ist etwa eine entsprechende Vereinbarung mit dem kommandierenden General im Banat Graf Mercy, dem ein ödes Dorf und Grund zur Ansiedlung von Untertanen sowie Kultivierung überlassen werden sollte. Dabei wurden mögliche Privilegien, wie etwa Befreiung von Einquartierungen auf bestimmte Zeit erörtert. Die Hofkammer wollte grundsätzlich Partikularherrschaften in den Neoacquistica vermeiden, riet aber aufgrund der Verdienste Mercys und der zeitlichen Befristung dazu. Die Konferenz empfahl dann in den Kontrakt aufzunehmen, dass es sich bei den Anzusiedelnden um keine Ungarn oder derzeit im Banat Sesshaften handeln sollte. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 354r – 355v (21.11. 1722).
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Natürlich beschäftigte man sich mit Fragen der Wirtschaft, etwa Überlegungen zum Manufaktur- und Fabrikswesen¹²⁶ oder auch Projekte zur Verbesserung der Lage in der Habsburgermonarchie. Themen zur Wirtschaft überschneiden sich mit jenen des Handels bzw. der Kommerzien und der Abgaben, etwa im Bereich des Mautwesens. Abgaben leisten aber auch die Länder, beispielsweise durch die von diesen eingenommenen Steuern.¹²⁷ Mehrfach begegnen zudem kaiserliche Geldforderungen. Mit Hinweis auf die beispielhafte Wirkung (auch für christliche Schuldner) lehnte man etwa ein Gesuch der böhmischen Juden zum Erlass offener Beträge ab. Einzig beinhaltete die Resolution ein Entgegenkommen in Form des Abzugs einer kleineren Summe, sofern alle Schulden auf einmal beglichen würden.¹²⁸ Mehrfach wurden Fragen des Berg-¹²⁹ oder Salzwesens berührt. Immer
In der Sitzung am 5. Juni 1719 war die Privilegierung einer neuen Tuchmanufaktur in den Erbländern Thema. Diese beabsichtigte mit Wolle aus der Habsburgermonarchie und Spanien Tücher in gleicher Güte wie die englische Ware herzustellen. Man suchte dazu um ein Privileg für 20 Jahre an. Aufgrund von Bedenken und allgemeinen Erwägungen, etwa einer möglichen Schädigung der Produktion in Böhmen, wurde dann auch in der kaiserlichen Resolution ein entsprechendes privilegium privativum als gefährlich eingeschätzt und allgemeine Überlegungen zu Maßnahmen für entsprechende Initiativen eingefordert, die erneut schriftlich vorzustellen wären, um dann eine Resolution zu fassen.Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 368 – 377. Zu dem Entstehen von Manufakturen kurz Andrea Komlosy: Handelskompanien, Industrieförderung und staatliche Wirtschaftspolitik, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/2, S. 991−1004, hier 997−999. Diese waren zudem eng mit Fragen des Kreditwesens verbunden. So überlegte man sich diese Frage mit Blick auf die Stände des Landes ob der Enns im April 1719. Konkret ging es um hohe Ausstände, die damit verbundenen hohen Zinszahlungen und die Erhaltung der Kreditfähigkeit der Landschaft, was ganz im Interesse des Landesfürsten lag. In der Konferenz wurde demnach darauf hingewiesen, dass seitens des Hofs und des Landes Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Kontributionsfähigkeit notwendig wären (Verringerung Ausgaben, bessere Administration, etc.). Dies würde übrigens auch für andere verschuldete Länder wie Kärnten oder die Steiermark gelten. Die kaiserliche Resolution schlug dann ein Zusammentreten mit der Bancodepution und Erarbeitung von Lösungsvorschlägen vor (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 268 − 275). In diesem Jahr machte man sich in einer Sitzung unter Vorsitz des Kaisers zudem Gedanken über ein Extraordinarium der Länder in Form eines Rezesses auf 15 Jahre über jährlich 1 200 000 Gulden zur Abhilfe der Geldnot (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 500, 10.07.1719). Bei den Abgaben durch die Länder nahm man durchaus Rücksicht auf die Lage dieser, etwa verwies man auf die schwierigen Verhältnisse in Siebenbürgen, wo 200 000 Personen an der Pest oder anderen Krankheiten verstorben waren. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 668r (29.11.1719). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 598v – 599r (22.09.1719). Im Umfeld des Hüttenwesens und Verbesserung der Bergwerkstechniken kann etwa auf die Beratung zur Einführung der Feuermaschine Joseph Emanuels von Fischers zur Wasserhebung in Schemnitz anstatt Gappelpferden verwiesen werden. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 113v – 116r (09.06.1735). Daneben beschäftigten v. a. Bestellungen aber auch organisatorische
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wieder werden auch Fragen des Münzwesens, etwa des Münzverrufs, thematisiert¹³⁰, die ebenso eine eigene Gruppe bilden sollen. Angelegenheiten der Armee, wie Proviantierung, Lieferungen oder Winterquartiere, wurden in der Konferenz diskutiert. Dem Themenblock werden ebenso die Überlegungen zur Finanzierung des Militärjahrs eingeordnet, auch wenn diese gleichfalls in die Kategorie des Budgets fallen. Diffus ist der große Bereich allgemeiner administrativer und damit Organisationsfragen (Administratives), beispielsweise Überlegungen zu neuen Instruktionen bzw. der Einrichtung von Länderverwaltungen¹³¹, Stellen oder Festlegungen der Kommunikationsform bzw. des Rangs zwischen zwei Stellen oder Funktionsträgern. Oft knüpfen sich diese abstrakten Festlegungen an konkrete Einzelfälle.¹³² In diesem Zusammenhang soll in der vom Autor geplanten AusFragen der Bergwerksgebiete. Unmittelbar daran anschließend wird die Person Samuel Michovinis behandelt, der eine Karte zu Ungarn erstellte sowie von den Bergstädten, Kameralherrschaften usw. Karten der Kammer geschenkt hatte. Abgesehen von dieser für unterschiedlichen Bereichen nutzbringenden Tätigkeit unterwies er die Bergscholaren sowie Expektanten in Schemnitz in Geometrie, Trigonomitrie, Hydraulik, Statik und Mechanik, wobei er sich als guter Lehrer erwies. Ebd., fol. 116r – 118r. Siehe zu Bergtreibgappel bzw. Rosskunst Jozef Vozár: Das goldene Bergbuch. Schemnitz, Kremnitz, Neusohl. Košice 2000, S. 89 f. Ende 1722 wurde etwa über die Ausprägung von Münzen und deren Ausführen zum Schaden der Habsburgermonarchie beraten. In den Beschlüssen wird dann auf die besondere Aufmerksamkeit zu diesem Punkt verwiesen sowie, dass zur Einheitlichkeit der Ausprägung bereits vor Jahren entsprechendes an die Münzämter ergangen wäre. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 366, 368v – 369r (25.11.1722). Zur Münzprägung mit weiterführender Literatur vgl. in diesem Band den Beitrag von Anna Fabiankowitsch, So machte sich die Finanzkonferenz in der Sitzung am 6. Februar 1719 gleich zu Beginn auf Grundlage eines Kameralreferates Gedanken zur Einrichtung der fünf Distrikte der Walachei. Weitere Überlegungen zur Administration und der Befassung des ungarischen Landtages damit folgen in der anschließenden vierten Sitzung am 14. Februar. Zur Organisation der kaiserlichen Walachei Șerban Papacostea, Der Absolutismus in den Randgebieten der Habsburgermonarchie. Die Kleine Walachei unter österreichischer Verwaltung (1718 – 1739), in: MÖStA 23 (1970), S. 36 – 63. In diese Gruppe könnte etwa auch die Form der Ablegung des Eids des bestellten böhmischen Kammerpräsidenten Sigmund Valentin Graf Hrzan von Harras (Eduard Maur: Die Böhmische Kammer und die Kammergüter in Böhmen, in: Hochedlinger/Maťa/Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte 1/2, S. 896 – 903, hier 901) fallen, mit der man sich in einer Sitzung am 6. Februar 1719 befasste. Am 8. März entschied Karl VI., dass das Jurament im Geheimen Rat abgelesen werden sollte. 1735 sorgte sich die Konferenz wegen der durch die Hofkammer empfohlenen Vergabe einer innerösterreichischen supernummerar Kammerratsstelle mit Sitz und Stimme, dass aufgrund von anderen Verpflichtungen oder Unpässlichkeiten der wirklichen Kammerräte, die verbleibenden eventuell durch die supernummerari zum Schaden des Aerars überstimmt werden könnten. Man verwies deshalb auf die nächste vakante Stelle, ein Vorschlag, dem auch der Kaiser folgte. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 149r – 150r (20.08.1735).
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wertung erfasst werden, inwieweit über Zentral-, Mittel-, Länder- oder lokale Stellen sowie die damit verbundenen Strukturen beraten und darauf Einfluss genommen wurde. Einige Beispiele: Kritik an verspäteten Mitteilungen oder Ansuchen um nachträgliche Ratifikationen begegnen mehrfach. So vermerkte man 1719 zu Bestellungen im Bereich der Böhmischen Kanzlei, dass es scheinbar schon eine vollzogene Angelegenheit sei, erinnerte aber an die wachsenden Kosten für Besoldungen und Pensionen. Um solche Fälle von nicht akkordierten Extraausgaben künftig zu vermeiden, sollte der Kaiser anbefehlen, dass eben entsprechende Anliegen, wie in der Hofkammerinstruktion vorgesehen, in Form eines Referats an den Hof kommuniziert werden müssten.¹³³ Die Konferenz mahnte auch fehlende Stellungnahmen ein, etwa hätte Anfang November 1719 einem Kameralreferat zum ungarischen Salz auch eine entsprechende Darlegung des Hofkriegsrates beiliegen sollen.¹³⁴ Das bereits erwähnte Referat Graf Stürgkhs befasste sich mit möglichen Unregelmäßigkeiten bei der Rechnungslegung, die von einer unter dessen Vorsitz auf kaiserlichen Befehl eingerichteten Kommission untersucht worden waren. Dabei wurde die mangelnde Kommunikation zwischen Kammer und Buchhalterei festgestellt, weshalb es zu Unregelmäßigkeiten zwischen scheinbarer Bezahlung und Ablieferung gekommen war. Kritik an der Hofkammer, dass diese etwa „übel eingerathen und nicht fideliter referirt“ hätte, verurteilte die Konferenz scharf, da dadurch „daß ganze corpus der camer vor der welt angegriffen, ganz unbegründet diffamiert“ wäre. Nachdem Untersuchungen der Vorakten das Gegenteil belegt hatten, forderte der Hofkammer- und Vizepräsident aufgrund der langen Dauer der Anschuldigungen und fortgesetzter Probleme („herren dienst in viel weege nicht befördere, sondern zu hemmen trachte“) entsprechende Konsequenzen für den kritischen Funktionsträger (u. a. Untersuchung seiner gesamten Amtsführung bzw. Resignation).¹³⁵ Grundsätzlich stellte das Ergebnis der Kommission die Form der Rechnungslegung in Frage, v. a. aufgrund der weitreichenden, unkontrollierten Befugnisse der Buchhalterei und
Sitzung vom 22.09.1719 (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, fol. 594r – 595v). Anlässlich der Mitteilung der Konferierung von Stellen und damit verbundene Besoldungen durch die Österreichische Hofkanzlei kritisierte die Konferenz, dass sich diese dazu vorab mit der Hofkammer abstimmen hätte sollen (konkret ging es um eine Hofratsstelle mit Votum und Sitz). Auch hier verwies man darauf, dass die Angelegenheit nun aber resolviert und damit nicht zu ändern wäre (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 636r−637r, 14.11.1719). Erneut eine Böhmische Institution, nämlich die Kammer, wurde 1735 wegen der Einrichtung einer Schlosskaplanstelle in Zbiroh seitens der Hofkammer gerügt, da eine entsprechende Stiftung bzw. Kontrakte nicht ohne Rücksprache abzuschließen wären. Zudem forderte man für die zu besetzende Stelle einen Dreiervorschlag ein. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 204v−207r (17.12.1735). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 622v – 623r (09.11.1719). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 182 f. (14.03.1719).
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der Hauptrechnungskommission, die letztlich die betroffenen Personen und Familien diesen auslieferten, weshalb der Hofkammer auch eine Revisionsmöglichkeit in solchen Fällen an die Hand gegeben werden sollte.¹³⁶ Es ging aber auch konkret um Rangfragen, etwa ob der Hofkammervizepräsident oder der Bankalitätspräsident den Vorrang haben sollte und wie es weiter mit den Räten im Herrenstand zu halten wäre. Der Kaiser entschied im Sinne des Hofkammervertreters.¹³⁷ Der Bereich der Buchhaltung und die in diesem Zusammenhang stehende regelmäßige Verpflichtung zur Rechnungslegung sind ein weites Themenfeld, das natürlich auch andere Fragenkomplexe berührt. Die Konferenz war zudem mit „Justiz“-fragen befasst, etwa im Fall von Veruntreuungen und entsprechenden Verweisen einzelner Fälle auf den Gerichtsweg. Immobilien wurden ebenso behandelt, etwa wenn es um Besitzfragen, Belehnungen bzw. Streit im Rahmen von Verpachtungen ging. Insbesondere diese Fragengruppe überschneidet sich mit Anliegen Einzelner. Einzelanliegen, v. a. des Personals, stellen zahlenmäßig einen Großteil der behandelten Themen dar, die gewissermaßen ein Auffangbecken bilden. Vom Begriff der Suppliken wird an dieser Stelle abgesehen, da praktisch ein Großteil der Anliegen als solche qualifizierbar wäre, jedenfalls ist zwischen Ansuchen des Personals bzw. Privater zu unterscheiden. Natürlich wurden Fragen des künftigen Budgets umfangreicher referiert sowie in der Konferenz diskutiert als Besetzungen in lokalen Ämtern. Die unter die Kategorie Personal fallenden Aspekte sind dafür besonders facettenreich, etwa wurden Bestellungen, Amtstaxen, Besoldungsfragen, Rechnungslegung bzw.Veruntreuung oder auch Gnadengesuche der Witwen behandelt. Unterschieden sollen etwa Anliegen von Diplomaten (z. B.
Ebd., 185 f. Dieser Fall scheint durchaus von Interesse, da der beschuldigte Johann Christoph von Hattingen nicht nur Hofkammerrat im Ritterstand, sondern auch der Buchhalter der Hofkriegsbuchhalterei war. Einerseits entstammte dieser also nicht dem Herrenstand, andererseits könnten hier die Konfliktlinien zwischen Hofkammer und Hofkriegsrat fassbar werden, auch wenn die Hofkriegsbuchhalterei bis 1749 der Hofkammer zugeordnet war. Der Fall ging jedenfalls noch weiter, Anfang Juni 1719 beriet man über eine Beschwerde des Betroffenen, dass bei der Übernahme von Schriften in seinem Haus eben nicht nur Amtsschriften mitgenommen worden waren. Die kaiserliche Resolution zum 10. Juli 1719 fiel umfangreich aus: „alle originalia und vidimierte oder revidimierte von kameraloffizianten geschrieben abschriften sollen bei der registratur bleiben, die übrigen kameralschriften, so was nüzlichs, sollen copeylich abgeschrieben und die originalen konzepte dem Hattinger zurückgegeben werden“ (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 363 – 365, 05.06.1719). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 679r – 683r (11.12.1719).
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Extraspesen, ausstehendes Gehalt, Reisegelder)¹³⁸, Ansuchen um Pensionen¹³⁹ oder (fromme) Gnadengaben oder Anliegen den Sold bzw. Gehalt oder den Kauf bzw. Pacht von Grund¹⁴⁰ betreffend. Zudem können Fragen zu Verlassenschaften oder Grundbesitz die große Politik berühren.¹⁴¹ Insbesondere bei Gehältern, Gnadengaben oder Pensionen wird regelmäßig auf die klamme finanzielle Situation der kaiserlichen Kassen, die Schwierigkeit der Deckung sowie entsprechende Richtlinien zur Reduzierung solcher Ausgaben hingewiesen, im Einzelfall dann aber wiederum dem Kaiser die Entscheidung überlassen.¹⁴² Auch befasste
Darunter fällt etwa auch die Witwe des Baron Heems bezüglich eines Hauskaufs in Berlin und den damit verbundenen Unterhalt einer katholischen Kapelle, die 2 000 Katholiken frequentierten und noch 5 000 mehr am Land bediente. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 683r – 689r (28.12.1719). Ein Argument für die Gewährung ad dies vitae war nicht zuletzt das hohe Alter des Begünstigten und damit ein absehbarer Zeitrahmen der Ausbezahlung, wie es etwa die Hofkammer im Fall Franz Josephs Graf von Dietrichstein vorbrachte. Die Konferenz riet aufgrund der allgemeinen Finanzlage ab, überließ die Entscheidung aufgrund der Verdienste des Betroffenen aber dem Kaiser. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 103r – 104v (27.04.1722). Dennoch war man sich in solchen Fällen der Möglichkeit eines neuerlichen Ansuchens zur Fortzahlung nach dem Tod durch die Witwe bzw. Erben bewusst und versuchte dies bereits im Fall einer Genehmigung zu berücksichtigen. Man griff zudem auch auf „pensioniertes“ Personal zurück. Etwa hatte man einen zwölf Jahre dienenden erfahrenen Jurist und Kameralist wegen Rekonvaleszenz eine Pension gewährt, gleichzeitig dessen Wiedereinstellung nach Besserung der Gesundheit in Aussicht genommen. 1735 notierte man, dass dieser ohne Verrichtung in Klausenburg lebe, sich mehrfach angetragen hatte und empfahl diesen aufgrund seiner Erfahrung für eine Aufgabe in der Kaschauer Kameraladministration. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 52r – 54v (19.04. 1735). Insbesondere bei Fragen zu Gütern in Ungarn wurde dabei stets auch der Landesbrauch beachtet, etwa die Frage nach der Möglichkeit für einen Betroffenen als gebürtigen Polen überhaupt Güter im Königreich zu erwerben. Dabei wird auf den 15. Landtagsartikel von 1575 verwiesen, der ein Indigenat eigentlich verwehrte. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 81v – 85r (27.05.1735). So wenn es etwa um die Apafische Verlassenschaft (z. B. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, fol. 628, Appendix zur Sitzung am 9.11.1719), um Besitzansprüche von Familien ehemaliger ungarischer „Rebellen“ oder auch den bereits genannten Fall der künftigen Braut des englischen Thronprätendenten und deren unfreiwilligen Aufenthalt in Innsbruck ging. Dabei standen auch über Umwege gewährte Zuwendungen im Raum. Grundsätzlich äußerte die Hofkammer und insbesondere die Bankalität Bedenken, dass etliche Parteien, darunter der Obersthofmeister der Kaiserinwitwe Eleonora, die diesen besonders empfahl, über unterschiedliche Wege (allergnädigste Handschreiben, Versicherungsdekrete) Gnadensummen erhielten, die vorerst nur in Form von Zinsen auf der Stadtbank beglichen werden konnten. Um die Parteien zufrieden zu stellen, verwies die Konferenz auf mögliche ungarische Fiskalitäten. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 657r – 658r (28.11.1719). In diesem Sinne wurde auch das Ansuchen eines verdienten Innerösterreichischen Kriegsrates diskutiert. Zwar hatte der Hof-
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sich die Konferenz mehrfach allgemein mit der Anweisung der Besoldung und fehlenden Mittel bzw. Rückständen bei den Auszahlungen.¹⁴³ Restriktiv war man daher bei den Gehältern¹⁴⁴: 1719 suchte die Hofkammer um Erhöhung der Bezahlung dreier Hofkammersekretäre an. Die Konferenz riet mit dem Hinweis auf die angespannten Verhältnisse und das Ziel Ausgaben zu reduzieren, nicht zu erhöhen, sowie allgemein die damit verbundene schlechte Optik ab.¹⁴⁵ Unverhohlen äußerte dies die Konferenz etwa in einem Votum im Dezember 1719, indem man kritisierte, dass die Hofkammer immer in den Ländern zum Wirtschaften anfangen wolle und nicht bei sich selbst einspare, da die Gehälter ständig stiegen.¹⁴⁶ Gerade Fragen zu Amtsinhabern berühren andere bereits genannte Themenfelder (z. B. Bestellungen im Bereich des Berg- oder Salzwesens). Am Ende der Sitzungen wurden zumeist kumulativ Amtsbestellungen besprochen. Der Kaiser akzeptierte in der Regel die von seinen Stellen vorgeschlagenen, erstgereihten Personen, zog aber durchaus auch andere Personen vor bzw. entschied bei Unstimmigkeiten zwischen den Stellen und der Hofkammer.¹⁴⁷ Für die verantwortungsvolle Stelle als Breslauer Postverwalter, dessen Inhaber u. a.
kriegsrat die Auszahlung etlicher hundert Gulden empfohlen, die Hofkammer riet einerseits wiederum aufgrund des üblen Beispiels für andere Mitglieder von Kommissionen usw. ab, empfahl aber wegen der Verdienste des Betroffenen selbst und seines Vaters eine befristete Summe von 600 Gulden aus besonderer Gnade aus innerösterreichischen Mitteln. Die Konferenz riet dann die Zahlung auf zwei oder drei Jahre zu beschränken, was die kaiserliche Resolution übernahm. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 12v – 13r (05.03.1735). Vor allem beriet man aber über das grundsätzliche Problem des Fehlens der Mittel für die Begleichung der vergangenen Forderungen (praeteritum) sowie der laufenden Besoldungen (currens). Am 31. März 1722 riet die Konferenz den Fokus auf die laufenden Zahlungen zu legen, da ansonsten das „geschrei und lamentieren“ der Zivilbedienten groß wäre, aber dennoch ein vergangenes Quartal aus vorhandenen Mitteln auszubezahlen. Der Kaiser entschied sich dann die Ausstände mittels Anweisungen zu bedienen, sowie Anstrengungen zum Aufbringen der notwendigen Mittel für die laufenden Verpflichtungen und zur künftigen Vermeidung solcher Situationen zu unternehmen. Dazu ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 66r – 67r. Einerseits ist mit diesen Überlegungen die Kategorie Budget betroffen, andererseits aber generell die die Dienstleute betreffende. Einsparungen in diesem Bereich wurden von den Finanzfachleuten immer wieder vorgetragen und begegnen letztlich bis heute. Dazu mit weiterführender Literatur Seitschek, Tradition. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 588−589r. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 675 f. (11.12.1719). Für die Prager Raitoffizierstelle benannte der Kaiser etwa den zweitgereihten Kandidaten, den die Buchhalterei als tauglicher empfohlen hatte. Das Kameralreferat schlug hingegen den Erstgereihten vor, dem sich auch die Konferenz angeschlossen hatte. Da die Personalfragen und Referate an dieser Stelle kumulativ seitens der Konferenz konfirmiert wurden, muss diesem Entscheid gegen die Konferenz vielleicht nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 24r (28.01.1722).
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Postkurse nach Wien, Prag, Leipzig, Berlin, Warschau und Danzig zu unterhalten hatte, bewarb sich auch ein Hermann Crusius, der acht Jahre Dienst bei den Söhnen Graf Althanns geleistet hatte. Obwohl sich Schlesische Kammer, Hofkammer und Finanzkonferenz in Bezug auf einen anderen Kandidaten einig zeigten, benannte Karl VI. wenig überraschend den zweitgereihten ehemaligen Dienstmann der Familie Althann bzw. seines Günstlings.¹⁴⁸ Zu den Besetzungsvorschlägen der lokalen Stellen kann angemerkt werden, dass diese in der Regel von der Konferenz konfirmiert wurden, auch mit der Betonung, dass die jeweils referierenden Stellen die in Frage kommenden Personen und deren Qualifikationen (besser) kannten. Es wurde dann im Protokoll für die folgenden Punkte einfach summarisch darauf verwiesen, dass man mit dem voto camerali konform ging.¹⁴⁹ Gründe für die Bestellung waren neben Qualifikation, durchaus auch eine deutliche Handschrift, sprachliche Fähigkeiten¹⁵⁰, langjährige eigene sowie Dienste von Familienangehörigen.¹⁵¹ Konfession oder die Nation des Kandidaten wurden durchaus thematisiert.¹⁵² Nicht selten hatte ein Vater seinen Sohn bereits
ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8 (1722), fol. 54v−59r. Die Konferenz argumentierte, dass man eigentlich aufgrund dessen Sprachkenntnisse sowie Erfahrung allein zum Erstgereihten raten könne. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 22v (05.03.1735): „resp[ect]u deren übrigen cameralvorträgen ist die gehor[sam]ste conferenz als welcher das personale nicht bekannt mit dem voto camerali allerdings verstanden. resp[ect]u des primo loco vorgeschlagenen subjecti“. Ende Januar 1722 ist dann neben diesem kumulativen Verweis auf die Kamerlareferate auch festgehalten, dass diese am 6. März „allergnädigst applacidirt“, also vom Kaiser genehmigt wurden (ebd., fol. 22v, 28.01.1722). So verwies man etwa bei Ämtern in Ungarn auf entsprechende ungarische bzw. lateinische Sprachkenntnisse (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5, 1719, 214 f.), bei der Brieger Zollbereiterstelle auf Kenntnisse der polnischen Sprache und Straßen. Der entsprechende Kandidat wäre, auch wenn zweitgereiht, nach Meinung der Hofkammer sowie Konferenz daher vorzuziehen (Ebd., 189 f., 14.03.1719). Dabei wurde durchaus differenziert: Hatte das Grazer Bankalkollegium eine Person erstgereiht, wurde von der Hofkammer ein anderer Kandidat vorgezogen, da ersterer bisher in landschaftlichen Diensten gestanden und keine besondere Kenntnisse im Münzwesen hatte. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 196v – 197r (22.10.1735). So verwies man bei einer Gegenhändlerstelle auf die lutherische Konfession des Kandidaten. Die Finanzkonferenz fügte dazu an, künftig keinen lutherischen mehr hinnehmen zu wollen und dann einen katholischen Kandidaten für die Einnehmerstelle vorzuziehen bzw. jenen zu promovieren. Vgl. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 511– 513 (19.08.1719). 1722 begegnet dann im Rahmen des Verkaufs eines Gutes in der kaiserlichen Resolution, dass man möglichst auf einen katholischen Käufer abzielen sollte (ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 8, 1722, 405v – 406v, 11.12.1722). Für die Stelle der niederungarischen Kammerpräfektur betonte die Konferenz zwar die Qualifikation der vorgeschlagenen Person, doch wollte man einem geeigneten Nationalis vor anderen erwägen, da nur wenige für den Adel geeignete Ämter im Königreich verfügbar wären und man
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als Nachfolger unterwiesen und legte mit der Bitte um Resignation gleichzeitig ein entsprechendes Wort für diesen ein.¹⁵³ Zur Qualifikation der künftigen Amtsleute ist ein Votum der Konferenz aufschlussreich, indem der Abschluss eines erwähnten Studiums der Rechte des Bewerbers erhofft wird, da Halbgelehrte oft fehleranfälliger als solche ohne Studium wären.¹⁵⁴ Nicht zuletzt waren es aber auch in Aussicht gestellte höhere Geldbeträge in Form von Kautionen oder Antizipationen, die einen Kandidaten empfahlen.¹⁵⁵ Bei einer Bestellung im Bereich der Innsbrucker Kammer schlug man vor, die nicht zum Zug kommenden Bewerber auf künftige offene Stellen, sogenannte Aperturen, zu vertrösten. Die
daher das odium nationis nicht vermehren wollte. Demnach sprach man das Amt mit erhöhter Besoldung Sigmund Graf Csáky zu. Zwar hatte diesen und Thomas Graf Nadasdy auch die Hofkammer erwogen, doch hatte man aufgrund deren finanziellen Lage Bedenken, diesen die Obsorge über das königliche Aerar zuzusprechen. Siehe ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 562v – 565r. Zum Begriff der natio in der Frühen Neuzeit allg. Reinhard Stauber: Natio(n), Nationes, in: Enzyklopädie der Neuzeit 8 (20008), Sp. 1056 – 1082. Vgl. zur Besetzungspraxis des Spanischen Rats etwa Elisabeth Garms-Cornides, Funktionäre. Anlangen von Jacob Friderich Pluemb wegen 70-jährigen Alters, dass Posten mit Gehalt an Sohn übergehen soll (Verwalter in Schwarz), ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 523 – 525 (20.10.1719). Siehe Erstreihung des Sohnes aufgrund der gemachten Erfahrungen z. B. auch ebd., 221 f. An anderer Stelle lehnte man die Bestellung des Sohnes mit Hinweis auf dessen jungen Alters ungeachtet der Verdienste des Vaters aufgrund der damit verbundenen Verantwortung ab. Konkret ging es um den Vordernberger Amtmann, der die zivile Jurisdiktion über tausende Personen auszuüben hätte. Vgl. ebd., fol. 637r – 638r (14.11.1719). 1735 empfahl man aufgrund des hohen Alters des Siebenbürger Salzeinnehmers und der Qualifikation des Sohnes (Landessprache kundig usw.) von der üblichen Praxis abzuweichen und diesen ohne Besoldung als Adjunkt cum futura successione einzustellen. Der Kaiser stimmte diesen zu, wollte aber keinen Präzedenzfall für die Zukunft schaffen: „Placet sine consequentia pro futuro“. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 56r – 57v (19.04.1735). ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 223 f. Bei Besetzungen 1735 wird etwa mehrfach auf das Jusstudium der Kandidaten verwiesen, ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 135r – 137r (20.08.1735). Entsprechende Empfehlung aufgrund der Zusage einer Kaution ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 191 f. (14.03.1719). Für eine Hofkammerratsstelle ohne Besoldung bot Graf Gaisruck eine Antizipation in Höhe von 50 000 Gulden gegen Banco-Obligationen zu fünf Prozent an, weshalb dieser dann auch den Vorzug bekam. Die Summe sollte nach Wunsch Gaisrucks durch eines der Kärntner Mautämter abgesichert werden. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 10v – 12r (05.03.1735). In dieser Hinsicht besonders umkämpft war 1735 die niederösterreichische Vizedomstelle, für die sich sieben Kandidaten mit z.T. entsprechend hohen Angeboten einfanden. Interessant im Hinblick auf die Verhältnisse bei Hof ist im Rahmen dieser Bestellung eine Bemerkung der Konferenz, die am Schluss auf eine Verringerung der Einkünfte der Stelle aufgrund der Abtretung von Dörfern und Untertanen an Prinz Eugen sowie den Marques de Rialp verwies. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 21 (1735), fol. 105r – 110v (09.06.1735). Zu dieser Praxis kurz Winkelbauer, Grundzüge, S. 784 f.
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Konferenz lehnte dies ab, da diese mit der Aussicht eventuell andere Tätigkeiten vernachlässigen und so an den Bettelstab gezwungen würden.¹⁵⁶ Es kam aber bei Bestellungen auch zu „peinlichen“ Missverständnissen: So hatte man jemand „fälschlich“ bei einem Referat auf die Liste der konfirmierten Innerösterreichischen Kammerräte gesetzt. Da dieser aber bereits den Eid abgelegt, zur Sitzung und Votum zugelassen worden war, stimmte auch die Konferenz in der Einschätzung überein, dass dies nun nicht mehr zu beheben wäre.¹⁵⁷ Nicht immer war man mit den geleisteten Diensten zufrieden. Auf das Ansuchen Anton Graf Würms wegen einer Gnade aufgrund seiner langjährigen Dienste als Kämmerer meinte die Konferenz trocken, dass er in den zwanzig Jahren kaum gedient und sich so verhalten hätte, „daß er mehr ein einsehen als gnad meritiert“.¹⁵⁸ Auch beschäftigte man sich mit Resignationen bzw. wenn Amtsleute ihren Dienst nicht mehr ausüben konnten. So konnte ein Kabinettskurier wegen der „Schwere seines Körpers“ nicht mehr reiten, offerierte dafür aber ein Amtsdarlehen von 8 000 Gulden.¹⁵⁹ Die genannten Bereiche sollten die sachliche und territoriale Breite der Tätigkeit und letztlich abverlangte Expertise der Konferenz(teilnehmer) aufzeigen.¹⁶⁰ Es könnten noch weitere Fragen gestellt werden, etwa wie hoch die Summen waren, zu denen man beriet. Handelte es sich um Gnadengaben, Gehälter oder Pensionen konnte es um knapp 100 Gulden bzw. um mehr gehen, falls man diese Summe auf den jeweils bewilligten Zeitraum hochrechnen möchte, bei Krediten beriet man Beträge in der Höhe mehrerer Millionen Gulden. Da die Konferenz grundsätzlich mit der Frage des Budgets befasst war, ist die Bedeutung
ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 279 f. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 247−249. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), 267. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 5 (1719), fol. 597 (22.09.1719). Folgende sachliche Bereiche wurden bei der ersten Durchsicht einzelner Konferenzprotokolle also zusammengefasst festgestellt und sollen bei den künftigen Auswertungen neben den betroffenen Ländern erfasst werden: Staatshaushalt (Budget, Militare/ Militäretat, allg. Überlegungen zu Krediten, Subsidien, Antizipation); Administratives (allg. Fragen zu Personal, Organisation, Einrichtung; Zentral-, Mittel-, Länder oder lokale Stellen); Wirtschaft (Manufakturen, Fabriken, Projekte); Handel/ Kommerzien (Maut, Zoll); Steuern/ Abgaben (Maut, Zoll, Kontribution); Armee (Proviant, Lieferungen, Winterquartiere); Justiz (Vergleich, Veruntreuung); Buchhaltung (Rechnungslegung, Organisation); Personal (z. B. Bestellung, Taxen, Veruntreuung, Verpachtung, Besoldung, Rechnungslegung, Gnadengesuch-Witwe, Pensionen, Diplomaten-Extraspesen); private Einzelforderungen (Kreditgeber, Lieferanten, fromme Gnadengabe, Pensionen); Bergwesen; Salzhandel (z. B. Schmuggel von polnischer Grenze); Münzumlauf (Münzverruf); Einzelforderungen des Ärars bzw. Schulden bei Kaiser.
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der Konferenz an der Höhe der jeweils behandelten Beträge jedoch wohl kaum nachvollziehbar.¹⁶¹
Ausblick Der Beitrag stand im Zusammenhang mit bei Errichtung der Finanzkonferenz verschriftlichten Zielen unter dem Titel „Zu verhütung nachtheiliger confusion und unordnung“. 1741 klingt das Urteil Maria Theresias dazu in ihrem Handschreiben vernichtend: „Wegen der finanzen conferenz finde selbe unnöthig indeme er (graff) allein mir in selben an die hand gehen solle welches geschwinder und besser seyn wird“. Der stete Wechsel zwischen (langsameren) gremialen Strukturen und mächtigen beratenden, scheinbar effizienteren Einzelpersönlichkeiten ist in der habsburgischen Verwaltungsgeschichte kein Einzelfall. 1745 sah auch das Ende der Universalbankalität. Die Hofkammer gab, von Ungarn und dem Reich abgesehen, in dem ersten Regierungsjahrzehnt sukzessive Kompetenzen an das neu eingerichtete Direktorium ab und sollte erst nach dessen Ende wieder im alten Wirkungskreis entstehen. Das Triumvirat aus Finanzkonferenz, Hofkammer und Universalbankalität verlor jedenfalls ziemlich rasch nach dem Tod Karls VI. an Bedeutung und musste neuen Ideen weichen. Dennoch gelang es schrittweise Erfolge zu verbuchen, auf denen die Regierung Maria Theresias aufbauen konnte. So steigerte sich der Ertrag aus dem Salzmonopol in Böhmen von 300 000 (1664), auf 761 000 (1700) und schließlich 1,7 Millionen Gulden (1739).¹⁶² Inwiefern die Finanzgeschichte zur Zeit Karls VI. eine Geschichte einer Reihe von unverwirklichten Projekten, Rückschlägen oder doch auch von Erfolg war, soll letztlich die geplante Studie zur Finanzkonferenz beleuchten. Als mögliche Vorzeichen des stufenweisen Bedeutungsverlustes des Gremiums können mehrere genannt werden. Zum einen engte sich der Personenkreis der Teilnehmer mit Fortbestand der Konferenz ein. Den markantesten und relevantesten Einschnitt stellte da sicherlich das Ende der persönlichen Teilnahme Karls VI. an den Konferenzen dar. Maß der Kaiser der Konferenz aber daher weniger Bedeutung zu? Der Vorsitzende Starhemberg behielt jedenfalls das Vertrauen des Kaisers und hatte folglich in Finanzfragen als Praeses der Konferenz einen noch exklusiveren Zugang zum Monarchen. Diese Vertrauensstellung überträgt sich ja letztlich mit dessen Übernahme in den Ratgeberkreis auf Maria Eventuell könnte auch hier eine Kategorisierung mit Blick auf mehrere Jahre interessante Schlüsse ergeben, also Summen um 1 000 bzw. 10 000 Gulden, bis zu einigen hundert Tausend Gulden und schließlich Millionenbeträge. Dies soll in einem nächsten Schritt geleistet werden. Winkelbauer, Nervus, S. 213.
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Theresia wie im Handschreiben angedeutet. Hingewiesen wurde zudem auf die sinkende Zahl der Sitzungen pro Jahr. Betrachtet man den Personalstand, sind für die späteren Jahrgänge dessen Reduktion bzw. auch immer wieder mehrjährig vakante Posten festzustellen. Ähnlich wie heute ist wohl davon auszugehen, dass dies nicht nur auf allgemeine finanzielle Engpässe, sondern ebenso auf eine nicht prioritär behandelte Verwaltungsstelle hindeutet. Rasche Nachbesetzungen sind letztlich wohl ein Zeichen der jeweils beigemessenen Relevanz und Notwendigkeit innerhalb des Verwaltungsapparates. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Frage nach den Unterschieden zwischen Norm und Praxis und damit auch jene, inwiefern ein potentieller Einflussverlust der Finanzkonferenz als Institution im Zusammenspiel mit den anderen Zentralstellen fassbar wird. Diese selbst war ja von der Berichterstattung v. a. der Hofkammer in den von ihr behandelten Fragen abhängig. Betrachtet man zunächst die Beratungen selbst, so wird deutlich, dass sich die Konferenz oft mit Geld- oder eben Personalforderungen befasste. Es entsteht der Eindruck, dass von den allgemeinen Fragen bei der Einrichtung der Geheimen Finanzkonferenz und deren Verhältnis zu den anderen Stellen sowie allgemeinen wirtschaftlichen Maßnahmen diese in den späteren Jahren v. a. mit den Anliegen einzelner Funktionsträger befasst war. Ist eventuell auch hier der Einflussverlust greifbar, indem in den letzten Jahren nicht nur seltener, sondern zu weniger bedeutsamen Einzelanliegen innerhalb der Konferenz getagt wurde? Die Funktion der Berichterstattung der behandelten Themen an den Kaiser verblieb der Konferenz jedenfalls. Dass über die Tätigkeit der Konferenz darüber hinaus allgemeine Fragen zur (Wirtschafts‐)Politik der Habsburgermonarchie, zur Rolle der einzelnen Länder und letztlich auch zu Bemühungen über Einbindung der Ressourcen aus dem Reich, den Gruppen bei Hof und ihren Einflussmöglichkeiten oder auch zur Person Karls VI. beantwortet werden könnten, wurde deutlich.
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Auf Kriegsfuß mit dem Zufall? Lotterien in der Habsburgermonarchie ca. 1700 bis 1751 Lotterien mit Gewinnen aus Bargeld, Rentenpapieren und Gütern sind die inklusivsten aller Glücksspiele und dienen seit dem 14. Jahrhundert als weitgehend legitimierte, wenngleich nicht unumstrittene Allokationsmedien und Profitgeneratoren für öffentliche und private Zwecke: vom Warenabsatz und dem Aufbringen von Liquidität über die Reduktion und Konvertierung von Schulden bis zum Einzug inflätionär umlaufender Münzen, Staatspapiere oder Aktien. Theoretisch Alternativen zu Almosen und Spenden, zu höheren oder neuen Steuern oder zum herkömmlichen Verkauf von Anleihen und Rentenpapieren, galten sie als Mittel „ohne Zwang und Beschwärde“ (Wien 1696), „außerordentliche Collecte“¹ oder selbstauferlegte Steuer für armselige, dünkelhafte Narren (William Petty 1662²). Kriege, Armut, klaffende Finanzlöcher und die zunehmende gesellschaftliche Geltung säkularen Glücks³ ließen sie seit dem späten 17. Jahrhundert in einem Prozess beispielhaften Kulturtransfers erneut boomen. 1697 diagnostizierte Gregorio Leti (1630 – 1701) retrospektiv „il vero Secolo delle Lotterie“. Mehr noch trifft dies auf das 18. Jahrhundert zu.⁴
Staatslotterien Die Dynamik ist an der steigenden Zahl zweckgebundener, zumeist sozialkaritativer (Spitäler, Kirchen, Arbeitshäuser), aber auch zentraler königlicher, staatlicher oder ständischer Lotterien ablesbar, mit denen das organisiert Aleatorische in der Gestion der öffentlichen Schuld Fuß fasste. Anleihelotterien (oder Lotterieanleihen), bei denen auch „Nieten“ einen jährlichen Ertrag abwarfen, interessierten vor allem die britische Forschung. Beginnend mit der „Million Adven-
Art. Lotterie, in: Johann Heinrich Zedler: Universal Lexicon, Bd. 18. Halle/Leipzig 1738, Sp. 565. William Petty: A Treatise of Taxes & Contributions. London 1662, Kap. 8. Stefan Brakensiek: Unsicherer Ausgang? Die Geschäftsmodelle von Lotterieunternehmen im 18. Jahrhundert, in: Markus Bernhardt u. a. (Hrsg.), Möglichkeitshorizonte. Zur Pluralität von Zukunftserwartungen und Handlungsoptionen in der Geschichte. Frankfurt/New York 2018, S. 193 – 221, hier 193. Gregorio Leti: Teatro Gallico. Amsterdam 1697, S. 498; Paolo Macry: Giocare la vita. Storia del lotto a Napoli tra Sette e Ottocento. Rom 1997, S. 22. https://doi.org/10.1515/9783110670561-015
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ture“ von 1694 seien sie die erfolgreichste Finanzinnovation⁵ im Rahmen der „Financial Revolution“ mit Raum für Glücksspiel, Spekulation und rationale Investition – in gestückelten Losen auch weniger Bemittelten zugänglich.⁶ Zumeist unbeachtet bleiben jedoch frühere Beispiele wie niederländische städtische Lotterien des 15. und 16. Jahrhunderts mit Leibrentengewinnen oder Venedig, das 1648 dazu überging, freiwillige Anleihen mit Lotterieelementen zu verbinden („Depositi in forma di lotto“).⁷ Venedig stand damit höchstwahrscheinlich für London Pate⁸, während der Erfolg des Modells der „Million Lottery“ auf den Kontinent zurückstrahlte: zunächst 1694 und 1695 nach Frankreich beziehungsweise Holland als Projekt.⁹ Mit mehr oder weniger Erfolg wurde eine Vielzahl von Formaten – mit und ohne Nieten, mit Bargeld- und/oder Rentengewinnen – erprobt. 1700 waren Leibrenten in der „Loterie royale“ (mit Nieten) zu gewinnen¹⁰, 1709 eröffneten die Generalstaaten eine erste „negotiatie by forme van loterye“ (1710 „Staats-Lotery“), 1711 folgte die Provinz Holland. Die Generalität ging 1726 aus Kostengründen zu einfachen Bargewinnlotterien mit Nieten über.¹¹ In London fanden zwischen 1710 und 1740 19 Staatslotterien zumeist als nietenlose Anleihen und weitere bis 1769 nach dem Grundmuster von 1694 statt.¹² Im deutschspra-
Larry Neal: The Rise of Financial Capitalism. International Capital Markets in the Age of Reason. Cambridge 1990, S. 14. Peter G. M. Dickson: The Financial Revolution in England. A Study in the Development of Public Credit 1688 – 1756. London 1967, S. 45, 74 u. 497; gegen Dickson: Anne L. Murphy: Lotteries in the 1690s: Investment or Gamble?, in: Financial History Rev. 22 (2005), S. 227– 246, hier 227 f.; vgl. Bob Harris: Lottery Adventuring in Britain, c.1710 – 1760, in: EHR 133/561 (2018), S. 284– 322. Vgl. z. B. G[errit] A[driaan] Fokker: Geschiedenis der loterijen in de Nederlanden. Amsterdam 1862, S. 42 f.; Luciano Pezzolo: Una finanza d’ancien régime. La Repubblica veneta tra XV e XVIII secolo. Neapel 2006, S. 97– 99; Giovanni Dolcetti: Le bische e il giuoco d’azzardo a Venezia 1172– 1807. Venedig 1903, S. 230. J. A. Thomas: Thomas Neale, a seventeenth-century Projector. Diss. phil. Southampton 1979; Georges Gallais-Hamonno/Christian Rietsch: Learning by doing: the Failure of the 1697 Malt Lottery-Loan, in: Financial Hist. Rev. 20/3 (2013), S. 259 – 277. Avvisi italiani (Wien), 18.12.1694; Gazette (Lyon), 12. u. 19.11., 03.12.1695; Marjolein ʻt Hart: The Devil or the Dutch. Holland’s Impact on the Financial Revolution in England, in: Parliaments, Estates and Representation 11 (1991), S. 39 – 52, hier 50. Marie-Laure Legay: Les loteries royales dans l′Europe des Lumières, 1680 – 1815. Villeneuve d′ Ascq 2014, S. 48 f. Die Lotterie wurde mit Bargewinnen nachgebessert, dann reduziert. Gerrit Adriaan Fokkker: Geschiedenis der loterijen in de Nederlanden. Amsterdam 1862, S. 121– 135; Matthijs Hoekstra: Necessity is the Mother of Invention. The Lottery Loans of Holland during the War of the Spanish Succession. Master thesis Utrecht 2010. Cecil L’Estrange Ewen: Lotteries and Sweepstakes: an historical, legal, and ethical Survey of their Introduction, Suppression and Re-establishment in the British Isles. London 1932, S. 133 – 145; Harris, Lottery Adventuring, S. 288; R[ichard] D. Richards: The Lottery in the History of English Government Finance, in: Ec. Hist., 3 (1934) S. 57– 76.
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chigen Raum bot beispielsweise das lotterieerfahrene Hamburg 1701 erstmals Bares und Leibrenten.¹³ In Württemberg sollte beim 1704 autorisierten „Leibrenten-Banco“ keiner, der Lust habe, „etwas zu hazardiren, leer ausgehen“; 1708/09 folgte eine „Lotteria del Gyro“, 1717 eine weitere.¹⁴ Kurpfalz setzte 1712 auf eine Anleihelotterie (Prämienanleihe), Danzig auf eine Obligationenlotterie (nicht realisiert), Kursachsen 1713 auf eine ständisch garantierte.¹⁵ In der Toskana verfügte Cosimo III. Medici (1642– 1723) 1710 eine Leibrentenlotterie, der man mit Zwang nachhelfen wollte.¹⁶ 1715 wollte Viktor Amadeus II. von Savoyen (1666 – 1732), der zwei Jahre zuvor das Zahlenlotto als unmoralisch beseitigt hatte, seine Finanzen durch Lotterien oder Tontinen¹⁷ aufbessern. John Law (1671– 1729), 1712/ 13 in Amsterdam selbst im Lotteriegeschäft aktiv, entwarf zwar einen Plan, riet aber aus Kosten- und moralischen Gründen, lieber auf herkömmliche Art zu borgen. Lotterien schadeten den Leuten, brächten sie um ihren geringen Verdienst, machten sie mit ihrem Los unzufrieden und weckten den Wunsch nach Reichtum durch Zufall und Glück. Dienstboten kämen in Versuchung, ihre Herrschaften zu bestehlen, Bürgerliche steckten Geld hinein, das ihren Geschäften und Gläubigern helfen sollte. Eine Lotterie könne zwar Geld aus dem Ausland anziehen, aber die Nachbarstaaten würden sich durch das selbe Mittel schadlos halten. Kein gut regiertes Land sollte solche Projekte tolerieren.¹⁸ Den Zug zu Lotterien hielten solche Einwände aus dem Standardrepertoire von Lotteriegegnern auch in Savoyen nicht dauerhaft auf. Ratspensionär Anthonie Heinsius‘ (1641– 1720) Befund von 1711, dass Holland am besten durch Lotterien an Geld kommen könne¹⁹, war auch anderswo kon Mercure historique & politique, März 1712, S. 256 f.; Max Foltz: Geschichte des Danziger Stadthaushalts. Danzig 1912, S. 299; Max Predöhl: Die Entwicklung der Lotterie in Hamburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Lotterie. Hamburg 1908, S. 25; Erik Verg: Von Lotterey und Lotto in Hamburg. Hamburg 1985, S. 48 – 51. A. Rößger: Die Anfänge der Lebensversicherung in Württemberg, in: Württ. Jbb. für Statistik und Landeskunde (1896) 1. H., S. 172– 192, hier 177– 181; Karl Pfaff: Geschichte des Fürstenhauses und Landes Wirtenbergs, Bd. 3/2. Stuttgart 1839, S. 103 u. 142. Albert Zahn: Geschichte und Statistik der Lotterien im Königreich Sachsen. Leipzig 1901, S. 37– 43. Lorenzo Cantini: Legislazione toscana, Bd. 22. Florenz 1806, S. 86 – 89, 94– 96; falsch dargestellt bei Andrea Addobbati: La festa e il gioco nella Toscana del Settecento. Pisa 2002, S. 137. Tontinen sind Leibrenten nach Altersklassen. Die Erträge von Verstorbenen fallen den Lebenden zu. Giuseppe Prato: Problemi monetari e bancari nei secoli 17 e 18. Turin 1916, S. 222 f.; vgl. abweichend Earl J. Hamilton: John Law of Lauriston: Banker, Gamester, Merchant, Chief?, in: The American Economic Rev. 57 (1967), Nr. 2, S. 273 – 282, hier 279 f. A. J. Veenendaal jr. (Hrsg.), De briefwisseling van Anthonie Heinsius 1702– 1720, Bd. 12. ʻs-Gravenhage 1992, S. 574 (Heinsius an Willem Buys, 11.12.1711).
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sensfähig. Für den Theoretiker Ernst Ludwig Carl (1682– 1742) waren sie ein legitimer Zweig der Staatsfinanzen, insofern sie zum Schuldendienst, zu öffentlichen Ausgaben oder generell zum Gemeinwohl beitrugen. Sie lockten Vermögen ans Tageslicht, die den herkömmlichen Mitteln der Besteuerung verborgen blieben und dem Staat entgingen, ihm allein aber – eben als freiwillige Steuer – zustünden.²⁰ Damit avancierten sie zum Supplement und Korrektiv der Unzulänglichkeiten frühmoderner Systeme direkter Besteuerung, des Problems der endemischen Steuervermeidung und der mangelnden Fähigkeit (und Bereitschaft), Vermögen adäquat zu identifizieren.²¹ Alle großen Lotterien rechneten zudem mit ausländischem Kapitalzustrom und begaben sich damit in internationale Konkurrenz. John Law wusste, wovon er sprach; England und die Niederlande bieten dafür handfeste Beispiele.²² Voraussetzung war „Credit“, in mehrfacher Hinsicht die zentrale Kategorie aller Lotterieunternehmen. Möglichkeit oder Aussichtslosigkeit, Erfolg oder Misserfolg einer (Staats)lotterie hingen von der Kreditwürdigkeit ab und waren gleichzeitig deren Prüfstein.²³ Andererseits meinte nicht nur der Marquis Dangeau (1638 – 1720) 1713 mit Blick auf die Generalstaaten, der Rückgriff auf Lotterien beweise mangelnden Kredit.²⁴ Ebenfalls die Niederlande im Auge, schrieb hingegen ein Anonymus 1717: „Wollte Gott man könnte in Teutschland auch dergleichen Lotterien, die so guten Effect hätten, anstellen, man würde gar bald den großen Nutzen empfinden.“²⁵ Inwieweit betraf der fromme Wunsch die Habsburgermonarchie in ihrer notorischen Finanznot und mit einer Budgetverwaltung, in der man schon 1696 nicht mehr „alles auf den casum ankommen lassen“ wollte?²⁶ Wie positionierte sich die diesbezüglich [Ernst Ludwig Carl]: Traité de la richesse des Princes et de leurs etats, et des moyens simples et naturels pour y parvenir, Bd. 3. Paris 1723, S. 305 – 309. Richard Bonney: Revenues, in: ders. (Hrsg.), Economic Systems and State Finance. Oxford 1995, S. 423 – 506, hier 424 u. 434. Gazette (Lyon), 31.10.1710; John Drummond an Earl of Oxford, 05.(16.)6.1712, in: Historical Manuscripts Commission: Calendar of the Manuscripts of the Marquis of Bath. London 1904, S. 181; WD, 21.06.1713. Vgl. z. B. Veenendaal, Briefwisseling 13, S. 597 (B. van der Dussen an Heinsius, 01.08.1712) und Bd. 14, S. 163 f. (Heinsius an Van der Dussen, 26.10.1712); für England: Daniel Defoe an Robert Harley, 13. u. 26.02.1711, in: The Manuscripts of His Grace the Duke of Portland, IV. London 1897, S. 659 u. 663. Félix-Sébastien Feuillet de Conches (Hrsg.), Journal du marquis de Dangeau, Bd. 14. Paris 1858, S. 352. C. V. H. G. [Gottlob Christian von Happe?], Nichts Bessers, als die Accise, wenn man nur will […]. o. O. 1717, S. 121. Der Autor repliziert auf Theodor Ludwig Lau: Auffrichtige Nachricht von dem jetzigen Etat des Finantz-Wesens der Respublicq des Vereinigten Niederlandes. Köln 1717. Thomas Winkelbauer: Nervus rerum Austriacarum. Zur Finanzgeschichte der Habsburgermonarchie um 1700, in: Petr Mat’a/ders. (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leis-
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mangelhaft erforschte Habsburgermonarchie in der skizzierten europäischen Lotteriedynamik?
Projekte und Experimente in Österreich Die öffentlichen Lotterien der Erbländer im 17. Jahrhundert waren durchwegs Glückshäfen. Nur solche Instant- oder Sofortlotterien nach Art der Brieflose kannte und geißelte Abraham a Sancta Clara 1680.²⁷ Eine „klassische“ (aber „Spiloder Glückshaven“ genannte) Lotterie zum Bau eines „Feld- und Soldatenspitals“ mit Verkaufsstellen in Wien, Brünn, Prag, Breslau, Graz, Linz und Innsbruck wurde 1696 ausgeschrieben.²⁸ 1703 empfahl die Hofkammer angesichts „gegenwärthiger unzahlbahren erfordernussen“, den Vorschlag des „Hofjuden“ David Levi aus Triest zur Durchführung eines „Lotto, oder Glikhshaffen“ anzunehmen. Levi hatte bereits mehrere „Extra-Mittel“ projektiert, darunter einen Banco del Giro.²⁹ Seine Lotterie mit Bargeldgewinnen (100 000 Lose à 4 fl), inspiriert vom venezianischen „Lotto pubblico“, sollte dem Ärar 100 000 fl. einbringen und musste unter dem Namen eines akkreditierten Händlers (Johann Baptist Busi) laufen. Am 18. März 1704 wurde das Patent ohne Levis Namen veröffentlicht.³⁰
tungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas. Stuttgart 2006, S. 179 – 215, hier 188 (Zitat); Brigitte Holl: Hofkammerpräsident Gundaker Thomas Graf Starhemberg und die österreichische Finanzpolitik (1703 – 1715). Wien 1976, passim; Franz Frhr. v. Mensi: Die Finanzen Österreichs von 1701 bis 1740. Wien 1890. Abraham a Sancta Clara: Lösch Wienn. Wien 1680, S. 92; vgl. Josef Pauser: „Weil nun der Reichthum so Zuckersüß…“. Glückshäfen in der frühneuzeitlichen Jahrmarkts- und Festkultur Österreichs, in: Martin Scheutz/Vlasta Vales (Hrsg.), Wien und seine WienerInnen. Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte. Wien/Köln/Weimar 2008, S. 65 – 98. ÖStA, FHKA, SUS, Patente 33.39, Errichtung einer Lotterie zwecks Gründung eines Soldatenspitals, 02.04.1696. In einer „klassischen“ Lotterie findet die Ziehung erst nach dem Losverkauf statt. Projekte in ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten Kt. 1651, 02.01.1702; ebda., Kt. 1670, 31.08.1702; ebda., Kt. 1675, 16.11.1702; ebda., Kt. 1717, fol. 751 f. erwähnt weitere „Extra Ordinari Mittel“; Kt. 1721, fol. 636 – 648; ebda., Kt. 1783, „Versicherungs Decret“ wegen weiterer Vorschläge (04.07. 1706). Zum Banco: ÖStA, FHKA, SUS, versch.Vorschläge 15 (s.d.); vgl. ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten, Kt. 1721, 15.03.1704, fol. 645. Als Autor oder Strohmann des Bankprojekts gilt der venezianische Abbate Norbis Pampalunga (?). Hermann Ignaz Bidermann: Die Wiener Stadt-Bank, ihre Entstehung, ihre Eintheilung und Wirksamkeit, ihre Schicksale, in: AÖG 20 (1859), S. 341– 445, hier 351 f. und 416, Anm. 23; Holl, Hofkammerpräsident, S. 104. ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten Kt. 1717, fol. 751 f. (Assecurations Decret, 24.01.1704); FHKA, AHK, HFÖ Akten Kt. 1721, fol. 635 – 643: Referat, die von dem Juden David Levi […] in Vorschlag bringende Aufrichtung eines Lotto oder Glickhafen in […] Wien betr., 15.03.1704, Referat der
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Beide Lotterien hat die Literatur registriert. Nicht aber, ob sie zustande kamen. Von der ersten ist nur das Patent überliefert. Und Levi, anstatt planmäßig nach drei Monaten abzuschließen, erhielt im November 1704 die Erlaubnis, seine Lotterie in allen Erbländern einzuführen und statt Barem „andere Sachen“ anzunehmen. Im Juli 1706 heißt es, die Lotterie sei „schon ziemblich avanciret“ – meist die Formel für dürftigen Absatz. Viele Spielbereite warteten nur auf die erneuerte Bewilligung durch den neuen Kaiser. Die Hofkanzlei unterstützte diese auf ein Jahr, „in welcher Zeit dieser lotto vielleicht seinen effect erreichen: und völlig zu Endt komen dörffte, oder von selbsten cessirn wurdte“.³¹ Wir müssen Letzteres annehmen. Dem Anleihemodell folgend, schlug 1706 der württemberg-oelsische Hofrat Ferdinand Wilhelm „ein Lotto auf arth deren Leib-Renten“ unter der Garantie der Stadt Breslau vor, das dem Ärar binnen 18 Monaten 600 000 fl. „freyes Capital“ verschaffen sollte (und dem Hofrat eine Rekompens von 12 000). Die Hofkammer konnte dem einiges abgewinnen. Das Kapital würde sich mit dem Ableben der „Interessenten“ nach und nach reduzieren und dem „Publico sehr vile bequemlichkeiten“ geboten. Doch schienen ihr einige Voraussetzungen, so die Schaffung des Fonds zur Abstattung der Rentenzahlungen aus der Besteuerung aller Webstühle in Schlesien, wenig realistisch.³² Aber das reichste Land der Monarchie, das wiederholt als Hypothekar für kaiserliche Anleihen herhalten musste³³, hatte auch in Lotteriesachen Potenzial. Obwohl „Lotto“ genannt, lehnte sich dieses wie spätere Projekte an nördliche Vorbilder an. Ein undatierter anonymer Vorschlag stellte (um 1706?) eine „Lotterey auf Leib Renten“ als letzten Ausweg aus der dramatischen Finanznot der Monarchie dar. Die Erträge des Ärars reichten für den teuren Krieg notorisch nicht aus, und die Kontribuenten seien außer Stande, das Erforderliche aufzubringen. Über den „ordinari weeg“ der „hypothecirungen allerhandt Cameral Ämbtern“ könne „auch schon nichts mehr erzwungen werden“, weil „fast alle Capitalisten erschöpffet, und mit ihren geltern verstökhet seindt“. Hingegen habe man sich in
Hofkammer (20.12.1703), Lotterieplan; ÖStA, FHKA, SUS, Patente 38.7 (18.03.1704); Mensi, Finanzen, S. 424; Max Grunwald: Samuel Oppenheimer und sein Kreis. Wien 1913, S. 81. „Lotto“ ist hier eine „klassische“ Lotterie. ÖStA, AVA, Inneres, HK, Allgemein A 1792, 4 ex 1704, Landesfürstl. Patent und Pass (01.11. 1704); ebda., 19 ex 1704; ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ, Akten Kt. 1783, unfol. (04.07.1706). ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten, Kt. 1783, 05., 16. u. 24.07.1706; Holl, Hofkammmerpräsident, S. 160. Nicht belegbar ist, ob ein Ferdinandt von Wilhelm, 1699 für eine Lotterie in Breslau verantwortlich, mit dem Genannten identisch ist. Hamburgischer Relations Courier, 24., 27. u. 28.03. 1699. Winkelbauer, Nervus, S. 201; Mensi, Finanzen, S. 383.
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Hamburg und anderswo öfters bei akutem Geldmangel durch Leibrentenlotterien „in etlichen Tagen mit considerablen Summen aufzuhelffen“ gewusst „und mit grossen Nutzen practicabl befunden“. Falls kein Deckungsfonds aus dem Kamerale möglich sei, könne man sich um einen Kredit bei den erbländischen, besonders den schlesischen Ständen bemühen. Absatz sei, die nötigen Sicherheiten vorausgesetzt, in deutschen, holländischen, italienischen und Schweizer Handelsstädten zu finden, wo „die Capitalisten“ daran gewöhnt seien, auf solche Art „die gelter einzulögen“.³⁴ Grundzüge dieses Plans ähneln stark einer 1701 in Hamburg aufgelegten Lotterie und stimmen teils wörtlich mit dem überein, was 1707 tatsächlich ins Werk gesetzt werden sollte. Um die Reichsstände mit gewöhnlichen und außerordentlichen Auflagen für den Reichskrieg gegen die „gefährlich angewachsene französische Praepotenz“ zu „verschonen“, griff Wien 1706 den Plan auf, eine „ansehenliche summa“ (150 000 Reichstaler) mittels einer Lotterie aus Leibrenten und Bargeldgewinnen zu „negotijren“ und auf die schlesischen Salzgefälle sicherzustellen.³⁵ Hofkammerpräsident Starhemberg riet dem Kaiser zur „Beschleünigung dises höchst ersprüßlichen Werkes“, durch das Geld aus fremden Landen „hereingelayttet“ und „mit solcher Commodität wieder bezahlet wird“, dass jährlich ein Teil des Kapitals „wider heimbfallet und anstirbet“, wobei Verzinsung und Unkosten im ersten Jahr unter zwölf Prozent lägen – von weiteren dadurch zu erzielenden nützlichen Folgen „im Credit=wesen“ ganz zu schweigen.³⁶ Die Transaktion sollte ausdrücklich außerhalb der Erbländer geschehen, und zwar in dem mit so „vermögsahmen Capitalisten“ gesegneten Hamburg. Dort erwirkte der Postmeister und Resident Maximilian Heinrich von Kurtzrock – er hatte das Projekt vorgetragen – als Kommissär zusammen mit dem Syndikus von Bostelen im Mai 1707 die Publikation.³⁷ War dies die „erste wirkliche Staatslotterie“ Österreichs³⁸? Der kaiserliche Auftrag und die Sicherstellung durch die Salzgefälle sprechen dafür; dass sie nicht in Österreich stattfand, dagegen. Zweifellos fügt sie sich in die Bemühungen ÖStA, FHKA, AHK, SUS Versch.Vorschläge 158, fol. 163 – 166, Anmerkung zu einem Project von Lotterey auf Leib Renten. ÖStA, HHStA, Rk, Kleinere Reichsstände 144– 2, Hamburg 1700 – 1718, fol. 98 – 106; Rainer Ramcke: Die Beziehungen zwischen Hamburg und Österreich im 18. Jahrhundert. Kaiserlichreichsstädtisches Verhältnis im Zeichen von Handels- und Finanzinteressen. Hamburg 1969, S. 27 ff.; Holl, Hofkammerpräsident, S. 160. Plan in Paul Jacob Marperger: Montes pietatis […]. Leipzig 1715, S. 321– 331. ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ, Akten Kt. 1784; ebd., Kt. 1785, Vortrag Starhemberg an den Kaiser, 24.07.1706; Holl, Hofkammerpräsident, S. 160. ÖStA, HHStA, Rk, Diplomatische Akten., Hamburg, Berichte 5c, fol. 650 – 656. Mensi, Finanzen, S. 424.
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etwa des Hofkammerrats Christian Julius Schierl von Schierendorf (Schirndorf; 1661– 1726) um höhere Einnahmen aus dem Reich.³⁹ Durch Schierls Hände ging der Plan, und er unterzeichnete die Publikation mit.⁴⁰ Nicht eindeutig belegbar ist, ob die Lotterie erfolgreich war.⁴¹ Vom „guten Ingress“ ist im Juli die Rede⁴², dann schweigen die Quellen. Auf Erfolg könnte der Auftrag der Hofkammer vom September 1707 an den Salzadministrator Anton Massa hindeuten, in Hamburg „eine gewisse bereiths abgeredte Summam geldts“ zu holen und dem Ärar abzuliefern – sowie bei dieser Gelegenheit in Hamburg „oder anderswo“ noch mehr Bares auf den Salzfonds „aufzutreiben“.⁴³ Hamburg war neben Amsterdam, Venedig, Mailand, Prag und Breslau geplanter Absatzort einer Lotterie zum „Behuff der allgemeinen Angelegenheit“ in Wien. Der Breslauer Handelsmann Johann David Strodt, 1706/07 in Breslau Direktor einer Lotterie „dem Armuth zum Besten“⁴⁴, errichtete sie 1709 mit kaiserlicher „Freyheit“. Lose sollte der Verleger Johann Peter van Ghelen (1673 – 1754) verschicken. Die „vierfache Lotterie“ (je zwei miteinander verschränkte Instantund „klassische“ Lotterien) fand jedoch nicht den erforderlichen Zuspruch und versandete nach mehreren Planänderungen und Terminverschiebungen vermutlich 1712. Die größten Probleme hatten dabei die teureren „klassischen“ Lotterien (so eine „Capital-Lotterie“), mit deren Prozedere das Wiener Publikum noch nicht vertraut war.⁴⁵ Wien suchte währenddessen Anleihen in den Niederlanden und England aufzunehmen. Die Probleme, auf die es damit bei den Alliierten stieß, waren sowohl seiner zweifelhaften Kreditwürdigkeit als auch den Anlagepräferenzen in den Geberländern geschuldet. Dort waren die Staatslotterien mit oft sehr vorteilhaften Konditionen attraktive und manchmal politisch prioritäre Alternativen auf dem Kapitalmarkt, wie Prinz Eugen von Savoyen und die Grafen Sinzendorf
Klaus Müller: Das „Reichscamerale“ im 18. Jahrhundert. Beiträge zur kaiserlichen Finanzpolitik, in: Elisabeth Springer/Leopold Kammerhofer (Hrsg.), Archiv und Forschung. Wien/ München 1993, S. 152– 177, hier 154; vgl. Mensi, Finanzen, S. 32 ff. ÖStA, FHKA, SUS, Versch Vorschläge 158, fol. 187. Predöhl, Entwicklung, S. 28; Mensi, Finanzen, S. 425; vgl. Holl, Hofkammmerpräsident, S. 168, ohne Beleg: „kam […] zustande“. Zit. n. Rudolf Sieghart: Die öffentlichen Glückspiele. Wien 1899, S. 27, Fn. 3. ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten 1814, Vollmachts befehl an Massa, 20.09.1707; Holl, Hofkammerpräsident, S. 168 (Mahsa). Marperger, Montes, S. 340 – 347. Zur Gewinnermittlung dienten vier zwanzigseitige „Würfel“. Gedruckter Plan („Nachricht“) in ÖStA, FHKA, SUS, Patente 42.37, Lotterie in Wien 1709, und ÖStA, FHKA, NHK, Bankale r. Nr. 3069, Orientalische Compagnie, Lotterie, Tontina betr.; WD, 22.01., 19.02., 01.07., 27.11.1712.
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und Wratislaw im Januar 1710 vom Duke of Marlborough erfahren mussten.⁴⁶ 1713 ließ der Gesandte Arnold von Heems wissen, dass viele Holländer ihr Geld lieber in Lotterielose investierten als in den nicht lupenreinen Kredit des Kaisers.⁴⁷ Insofern kommt Lotterien mehr Gewicht zu, als ihnen Fernand Braudel im Vergleich mit anderen Anleiheformen konzedierte.⁴⁸ Der Generalthesaurier überlegte sogar, das Kapital für eine Anleihe an Österreich durch eine Lotterie aufzubringen.⁴⁹ In dieser angespannten Situation geriet Wien in Zugzwang. Nachdem Prinz Eugen noch im September 1713 zum Abschluss einer Anleihe in Holland bevollmächtigt wurde, verlangte der Hof im November umfassende Informationen – von der Geschichte und der Einrichtung bis zu „gedancken und sentimenti“ – über den in Holland und England „nützlich bewürkten modo practicandi“ der „sog. Lotterien“, deren erfolgreicher „effect“ kundig sei. Die Frage war, ob solche in den österreichischen und böhmischen Ländern „zum Behuff unserer Finanzen“ eingerichtet werden können.⁵⁰ Aber wusste die eine Hand, was die andere tat? Die Berichte konnten noch kaum eingetroffen sein, als die Deputation des Status publico-oeconomico-militaris die „bewerckstellung“ einer ober- und niederösterreichischen Lotterie von sechs und einer von der böhmischen Kanzlei vorgeschlagenen von zwei Millionen diskutierte. Kurz darauf meinte sie, man solle versuchen, wenigstens die böhmische von zwei und die andere von einer (!) Million „zu introduciren“. Unverständlich bleibt die Begründung der Reduktion damit, dass „die holländische sehr unsicher stehet“. Am 23. Dezember heißt es, dass die böhmische Lotterie „am besten zu seyn befunden, und umb einig: ergäbige fundi sicher zu stellen verordnet“ worden sei, und drei Wochen später, „die projectirte Lotterien [!]“ seien „zu befördern“.⁵¹ Prinz Eugen hatte am 18. Dezember 1713 zurückhaltend optimistisch geschrieben: „Was die vorhabende Lotterie betrifft, das dienet mir zur guten Nachricht und ist nur zu wünschen, dass nach
George Murray (Hrsg.), The Letters and Dispatches of John Churchill, First Duke of Marlborough, from 1702 to 1712, Bd. 4. London 1845, S. 683 (24.01.1710), S. 684 (27.01.1710), S. 686 (31.01.1710); zum niederländischen Kapitalabfluss in diese Lotterie von 1710 s. Veenendaal, Briefwisseling 10, S. 83 (Anthonie Heinsius an Van Vrijbergen, 11.02.1710). ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten Kt. 1956, Bericht Heems, 14.01.1713; vgl. Mensi, Finanzen, S. 375. Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts: Der Handel. München 1986, S. 575 f. Mensi, Finanzen, S. 376, Fn. 3. ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten, Kt. 1978, Kais. Befehl an Baron Heems in Den Haag und an Hoffman in London, 07.11.1713; Holl, Hofkammmerpräsident, S. 332; Mensi, Finanzen, S. 377. ÖStA, KA, HKR, Registratur Protocoll 1713, fol. 963 (25.11.1713), 1002 (09.12.1713), 1063 (23.12. 1713); dass. 1714, fol. 47 (13.01.1714). Zu Problemen der im Oktober 1713 angekündigten holländischen Lotterie von 20 Millionen fl. siehe La Clef du cabinet des princes, November 1713, S. 364, Dezember 1713, S. 433 f. u. Juni 1714, S. 450.
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der darauf habenden Hoffnung auch der Effect demnächst erfolgen möchte.“⁵² Er erfolgte nicht. Am 7. Februar 1714 teilte Prinz Eugen die Aussichtslosigkeit mit, durch eine Lotterie oder eine Anleihe in England zu Geld zu kommen.⁵³ Der zunehmende Rekurs auf Lotterien ist die Zeit der Projektanten und Unternehmer in Sachen organisierter Zufall.⁵⁴ Ein solcher war der 1710 geadelte schlesische Kaufmann Martin Matthias von König, der während und nach dem Krieg mit mehreren Projekten in Wien auftrat – von Manufakturen über Finanzvorschläge und einer Universalbankalität bis zu teuren nietenlosen Anleihe- und billigeren einfachen Lotterien.⁵⁵ Durch schnell aufzubringende Millionen für Armee oder „Hoffs=schulden“ wäre der Kaiser „frembten darleihenden Credits“ mit hohen Zinsen enthoben, brachte er um 1712 vor.⁵⁶ Mit einigen von Königs Lotterieprojekten befasste sich im Januar 1718 die Geheime Finanzkonferenz. Sie präferierte eine Garantie der Stadtbank, wollte aber mit einer Entscheidung bis nach dem Ausgang der „ersten prob“ der neuen Wiener Stadtmagistratslotterie zuwarten.⁵⁷ Diese im Dezember 1717 publizierte reine Geldlotterie zu Gunsten des Bürgerspitals (50 000 Lose à 4 fl, „lauter Treffer“, aber 46 000 „Gewinne“ unter dem Lospreis) war die erste dieser Art seit dem 16. Jahrhundert, die nachweislich mit Erfolg endete (1718). Ankündigungen gingen in „verschiedene Republiquen Zit. nach Ottokar Machalicky: Feldzüge des Prinzen Eugen von Savoyen, II/ VI, Suppl.-H. 1 (Militärische Correspondenz des Prinzen Eugen 1713 und 1714). Wien 1892, S. 330. Max Braubach: Prinz Eugen von Savoyen, Bd. 3. München 1964, S. 426, Anm. 230; Machalicky, Feldzüge, S. 44, behauptet nicht belegbar, Ende 1713 sei eine Lotterie von einer Million ins Leben gerufen worden. Manfred Zollinger: Entrepreneurs of Chance. The Spread of lotto in 18th Century Europe, in: Ludica, 12 (2006), S. 81– 99; ders.: Organisierter Zufall. Lotterieunternehmer im 18. Jahrhundert, in: Herbert Matis/Andreas Resch/Dieter Stiefel (Hrsg.), Unternehmertum im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Unternehmerische Aktivitäten in historischer Perspektive. Münster 2010, S. 11– 36; Legay, Loteries, S. 35 – 46; dies.: Financial Crisis and Statecraft under Louis XIV: the Jacobite Jean Glover and Europe’s first popular Lotteries, in: French Hist. 28 (2014), S. 453 – 470; Brakensiek, Ausgang? ÖStA, FHKA, SUS, Versch. Vorschläge 357, fol. 121– 128, M. M. von König betr. die Einführung von Manufakturen in Schlesien, s. d.; ebd., versch.Vorschläge 167, Projekt des Martin Mathias von König […] was zur Herbeibringung und Fortsetzung des in- und ausländischen Kredits der Bankalität zustatten kommen kann (s.d.); ebd., versch. Vorschläge 29, Vorschläge und Projekte des M. M. v. König […] betr. die Verbesserung der Finanzen, Erhebung der Universal-Bankalität und einer Lotterie, 1715 (fehlt im ÖStA). ÖStA, FHKA, SUS, Versch. Vorschläge 158, Projekt des Martin Mathias König betr. die Errichtung einer Lotterie, fol. 116 u. 208, Allerunderthänigste Vorstellung Eines großen gelt bringenden Lotterj. Das undatierte (aber 1712 oder 1713) Projekt ist von König und Gottfried Groll, der zwischen 1712 und 1719 in ein Bankprojekt involviert war. Heinrich von Poschinger: Die Bankentwicklung im Königreich Sachsen, in: Jbb. für Nationalökonomie u. Statistik 26 (1874), S. 296 – 356, hier 342. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 4 (1718), S. 95 f., 21.01.1718.
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und Reichs-Städte“, internationale Blätter berichteten (Abb. 1).⁵⁸ Der niederösterreichischen Regierung und Kammer missfiel jedoch, dass der Profit zur Gänze der Stadt zukommen und das Ärar leer ausgehen sollte. Da er aber nur klein sei (20 000 fl), „mit dergleichen Lotterie auch in diesen Ländern der anfang“ und den Leuten bei Erfolg Lust auf mehr gemacht werden könnte, sei an der kaiserlichen Resolution nicht zu rütteln, befand die Konferenz.⁵⁹ Als Wien 1719 eine weitere karitative Lotterie beantragte, reklamierte die Hofkammer, „pro futuro“ in derlei Fällen die „dem Ärario zuestehende Gerechtsambe“. Auch möge die Stadt bei künftigen Lotterien ihren „Credit“ zu dessen Nutzen einsetzen.⁶⁰ Die mit kaiserlicher Bewilligung im Herbst 1718 errichtete und im April 1719 abgesagte Lotterie „von allerhand Ost=Indianischen Waaren“ der „Holländischen Handlung“ (20 000 Lose à 4 fl. gab es im Rathaus) stand nicht in Rede.⁶¹ Um diese Zeit begegnete Prinz Eugen dem Angebot des Georges-Louis de La Sarraz, dem Kaiser mittels einer „Staatslotterie“ jährlich 200 000 fl. zu verschaffen, mit Skepsis (ob das ohne Belastung der „sujets“ gehe?).⁶²
Möglichkeitshorizonte Die in Arrhen-Sachen angeordnete Kommission hatte um 1716/17 referiert, König habe am Beispiel der Holländer gelernt, „daß das leichteste und prompteste Mittel, eine merckliche Summe gegen gar ein geringes Interesse“ und sukzessive Rückzahlung zu erhalten, „eine wohl eingerichtete Lotterie wäre“.⁶³ Welche Möglichkeitshorizonte dabei für Wien bestanden, offenbaren die Stellungnahmen zu mehreren von König gleichzeitig vorgeschlagenen Lotterien, darunter eine „Triple Lotterie“ und eine Lotterieanleihe von knapp fünf Millionen Gulden zu vier Prozent Kosten. In die Auslotungen flossen die allgemeinen Rahmenbedin-
WD, 31.12.1717 u. 04.01.1718; Avvisi italiani, 25.12.1717; Suite de la Clef (Verdun), März 1718, S. 211 f.; HAStK, Best. 90, A 859, Wiener Lotterie; Tägliche Ziehungs=Listen der Wienerischen Statt=Magistrats=Lotterie. Wien 1718; Mensi, Finanzen, S. 425 f. ÖStA, FHKA, AHK, GFK Prot. 4 (1718), S. 93 ff., 21.01.1718. ÖStA, AVA, Inneres, HK, Allgemein A 1792, 3 ex 1719. WD, 05.11.1718, 08.03. u. 26.04.1719; Avvisi italiani, 05. und 30.11.1718, 11.03. u. 29.04.1719. Alfred Ritter von Arneth: Prinz Eugen von Savoyen, Bd. 3. Wien 1858, S. 533. ÖStA, FHKA, SUS, Versch. Vorschläge 158, fol. 117– 123, Prothocoll von der in Arrhen Sachen angeordt. Comission de dato 15ten Junii (o. J.); teilweise gleichlautend ebd., fol. 175 – 188, Memoriæ Gratia Auffgezeugnete Anmerkhung uber die projectirte Lotteriæ; dass. in ÖStA, FHKA, SUS, Versch. Vorschläge 76, Fasz. 2, fol. 759 – 772, Erläuterung der von dem Hr. König projectirten Lotterie. Es handelt sich um den Text eines anonymen Berichterstatters. Im Folgenden stütze ich mich auf diese Dokumente. Auf Folioangaben wird verzichtet.
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Abb. 1: Plan der Wiener Stadtlotterie 1718; Wiennerisches Diarium vom 4. Januar 1718.
gungen, eine aus den bisherigen Lotterieerfahrungen gespeiste Risikoaversion beim Betreten von Neuland und der Wunsch, mit anderen Ländern gleichzuziehen, ein. Dass Lotterien einzurichten seien, stand außer Frage. Sie erscheinen
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durch die freiwillige Teilnahme und das Beispiel des Auslandes politisch doppelt legitimiert. Angesichts der aktuellen Bedürfnisse in diesen geldklammen Zeiten müsse man alle Mittel und Wege erwägen, dem schwer belasteten Ärar zu Hilfe zu kommen. Geld und „Credit“ seien vorhanden – wenn auch weniger als in „Republiquen“ – und das Zutrauen werde bei richtiger Handhabung wachsen. Die Zeiten hätten sich geändert, die vorgeschlagenen Lotterien (zumal als Anleihe) unterschieden sich von den vorigen, „übel reüssirten“, die allen Lotterien „einen merckhlichen miscredit angelainet haben“. Daher könne – in Anspielung auf Strodts vierfache – der Terminus „Triple Lotterie“ abschrecken. Wolle man aber einen „Versuch“ unternehmen, wäre es nicht „übl“, bei Schierendorf und Starhemberg über die „Beschaffenheit“ früherer Lotterien nachzufragen, konkret der nach Hamburg „transportirten“. Aber größere und teurere Lotterien rührten an das Zentralproblem Kredit und Vertrauen. Für ein „importirliches werckh“ sei derzeit der dazu unabdingbare „Credit mehr als zuvill abgängig“. Es wäre „bedenkhlich“, ein solches Unternehmen zu beginnen und es wieder einstellen zu müssen. Das würde den Eindruck erwecken, dass „wenig Geldt oder wenig Trauen“ vorhanden sei. Die Reputation im Ausland und der „publique Credit“ könnten darunter leiden. Zudem werde eine Lotterie für ein „extrem Mittel“ zur Geldaufbringung gehalten. Es zeige „gleichsamb[, dass] das Aerarium kein Credit mehr habe“, auf andere Weise „Geldt zu finden“ (s.o. Dangeau). Seine Schwäche zu erkennen geben, sei aber wider alle gute Politik. Dem wurde entgegen gehalten, das Kreditwesen könne nicht leiden, wenn die Lotterie nicht unter dem Namen des kaiserlichen Ärars, sondern der Stadt publiziert werde. In anderen Ländern seien Lotterien kein Extremmittel, sondern Routine. Die Schwäche des Ärars käme „wenig“ an den Tag, wenn er nicht schon zuvor längst zutage liege. Schließlich wurde die überall vernehmbare merkantilistische Befürchtung geäußert, Ausländer könnten die größten Gewinne machen und Geld aus dem Land ziehen. Doch ins Positive gewendet, beweise die Gewinnauszahlung an Ausländer Korrektheit, die sie vermutlich noch mehr zum Spiel animierten.Weil zudem wohl „tausendfach“ mehr In- als Ausländer spielen würden, sei nicht anzunehmen, dass gerade auf diese die größten Gewinne fielen. Soziale, moralische und ökonomische Gefahren, wie sie Law artikuliert hatte, kamen in Wien nicht aufs Tapet. Vielmehr ging es darum, das Volk zu ködern. Nach Ansicht der Kommission sei „pro initio“ nur an eine kleine Lotterie zu denken, zumal in einem Land, „wo Cento per Cento mehrer miste Trauen als Credit vol zu Trauen ist“ und die ökonomische Mentalität der Einwohner ein Hindernis. Deren „Genius“ sei nicht so „incliniret wie bey Republiquen“ und ziele eher auf einen „mechanicè“ zu gewinnenden sicheren Kreuzer ab „als auff einen durch Kaufmann hazard, und Industrie“ (im Sinne eines künstlichen Werks wie das einer Lotterie) zu erhoffenden Gewinn. Man solle also „zu einer rechtschaf-
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fenen, und soliden probe“ in Form einer ganz kleinen Lotterie von 100 000 Losen à zwei oder drei Gulden und mit Bargewinnen schreiten – auch wenn der Kaiser nur wenig lukriere –, um durch die geringe Einlage „das Volckh zur Interessirung desto mehr anzufrischen“. Eine solche Lotterie werde von den Einwohnern Wiens binnen eines Monats „ohnfehlbar completirt“. Ein anderes Gutachten meinte, man möge als Anreiz eine zu drei und dann eine zu 50 Gulden (aber mit weniger als 100 000 Losen), oder wenigstens zwei kleine (zu 10 und 2 fl) errichten. Voraussetzung zur Beförderung und Sicherstellung sei jedenfalls „eine anständtige guarantie“, wofür niemand tauglicher sei als die niederösterreichischen Landstände. Diese hätten auch schon ihre Bereitschaft signalisiert, wenn man ihnen eine „Gegen-Versicherung“ auf das Contributionale einräume. Andere präferierten den „Credit“ der Stadtbank, den aber mit einer kleinen Lotterie zu beanspruchen nicht „reputirlich“ sei. Um die Lotteriemaschine weiter in Gang zu bringen, sei Misstrauen zu vermeiden, indem das Personal „accreditirt“ werde. Weiters sollten Käufer einer namhaften Zahl von Losen das Recht auf Einsicht in die Bücher haben; um viele ausländische Kaufleute, „die ohnedem dergleichen Liebhaber seindt“, zu erreichen, müsse die Publikation wenige Wochen vor der Frankfurter und Leipziger Messe geschehen; um die „Partheyen“ nicht aus Sorge um jahrelanges Ausbleiben der Ziehung vor der Teilnahme abzuschrecken, solle die Rückzahlung der Einsätze binnen eines Jahrs garantiert oder eine Bürgschaft akzeptiert werden, dass Lose erst zu bezahlen sind, wenn die Lotterie „complet“ geworden ist; man könne Loskäufer von der Arrhenbezahlung befreien und – schon mit einem Bein in der Unfreiwilligkeit – Städte, Distrikte sowie ganze Länder zum kollektiven Loskauf bewegen, „welches der Contribuent kaum merckhte“; wirksam wäre das „Exempel“ des Kaisers als Loskäufer. Den König von Preußen als werbewirksamen Spieler hatte sich schon Gottfried Wilhelm Leibniz für sein Lotterieprojekt gewünscht.⁶⁴
Das „große Millionen Spiel“ Herr von König war ein Vordenker, als er 1715/16 eine Handelskompanie in Verbindung mit einer Lotterie plante. Leibniz war informiert, fand die Lotterie schlecht konzipiert und meinte, wegen des drohenden Krieges mit den Türken sei Leibniz an J. Ph. Schmid, 15.08.1715, in: Christian Kortholt (Hrsg.), Leibnitii Epistolæ ad diversos, Bd. 3. Leipzig 1738, S. 302 f.; s. Leibniz‘ Entwurf vom Juli 1700 für einen kurbrandenburgischen Befehl zur Ermächtigung der Sozietät der Wissenschaften, Lotterien durchzuführen, in Adolf Harnack: Geschichte der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 2. Berlin 1900, S. 101 f.
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nicht die Zeit für eine Kompanie.⁶⁵ Bekanntlich kam der Krieg (König möge sein Lotterieprojekt in England vorlegen) und mit dem Frieden die vom Kaiser betriebene Gründung der Orientalischen Kompanie. 1721 erhielt diese zur besseren Kapitalisierung das Privileg für Lotterien.⁶⁶ Solche Kombinationen, im frühen 17. Jahrhundert in England praktiziert, lagen im Trend: In Harburg gab es dafür 1716 und 1720 Pläne.⁶⁷ Zu dieser Zeit des spekulativen „Windhandels“ beanspruchten mehrere Gesellschaften in den Niederlanden Lotterien.⁶⁸ Die Utrechter Kompanie war damit erfolgreich.⁶⁹ Die Ostendische Kompanie, wiederholt zu Vorschüssen angehalten, kam wie die Lawsche und die South Sea Company ohne Lotterie aus, beteiligte sich aber 1729 – sicher nicht aus ganz freien Stücken – mit 3 000 Losen an der in den habsburgischen Niederlanden zugunsten der kaiserlichen Finanzen organisierten „Loterie Royale“.⁷⁰ Planautor und Direktor in Wien war Johann Christoph Sprögel (geb. 1686).⁷¹ Rudolf Sieghart zeichnet ihn als verschlagenen und rücksichtslosen Geschäftsmann.⁷² Doch Sprögel erweist sich weniger als einer der verschrienen Projek-
Margot Faak/Wenchao Li: Leibniz als Reichshofrat. Berlin 2016, S. 98 f.; Kortholt, Epistolæ, S. 302 f.; G. W. Leibniz: Gesammelte Werke. Transkriptionen des Briefwechsels 1715, (www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veröffentlichungen/Transkriptionen1715bea.pdf), N. 316 (Leibniz an Theobald Schöttel, 11.09.1715); dass. 1716 (www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veröffentlichungen/Transkriptionen1716bea.pdf), N. 10 (J. P. Schmid an Leibniz, 04.01.1716), N. 95 (ders. an dens., 01.02.1716), N. 135 (ders. an dens., 22.02.1716), N. 644 (ders. an dens., 05.09.1716. In zwei Lotterieplänen Königs ist die Rede von einer niederösterreichischen Handelskompagnie. ÖStA, FHKA, SUS, Versch. Vorschläge 158, fol. 135. Franz Martin Mayer: Die Anfänge des Handels und der Industrie in Österreich und die orientalische Compagnie. Innsbruck 1882; Sieghart, Glückspiele, S. 58 – 83; Josef Dullinger: Die Handelskompagnien Österreichs nach dem Oriente und nach Ostindien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift f. Social- u. Wirthschaftsgesch. 7 (1900), S. 44– 83; Mensi, Finanzen, S. 426 – 428. A. J. G. Cummings: The Harburgh Company and its Lottery 1716 – 23, in: Business History 28/3 (1986), S. 1– 18; Ewen, Lotteris, S. 183 – 186; Daniel Defoe: The Harburg Lottery Bubble, in: ders., His Life and recently discovered Writings, extending from 1716 to 1729, ed. William Lee, Bd. 3, London 1869, S. 175 – 177. Het groote tafereel der dwaasheid […]. 1720, S. 9 – 21. Fokker, Geschiedenis, S. 145 – 149; Secreete correspondentie, over de Provinciaale Compagnie tot Utrecht. [1720 – 1721], passim. Norbert Laude: La Compagnie d’Ostende et son activité coloniale au Bengal (1725 – 1730). Brüssel 1944, S. 76 f. Zeitgenossen vermuteten, der Plan sei vom dänischen Kommerzienrat Johann Hörman, der einen solchen 1707 in Bayern präsentierte. BHStA, Gesandtschaft Wien 354, Die orientalische Kompanie zu Wien, die große Lotterie und das neue Fragamt betr.; vgl. Johann Th. Koch: Geschichte des Lotteriewesens in Bayern. München 1908, S. 26 u. 29. Sieghart, Glückspiele, S. 71 (Widerspruch bzgl. Urheberschaft zu S. 62, Fn. 5).
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tanten denn als willkommenes, vielseitiges Talent. Promovierter Mediziner (Jena 1709), war der gebürtige Hamburger Assessor des medizinischen Kollegiums in Augsburg und seit 1717 Mitglied der naturforschenden Akademie Leopoldina(‐Carolina). Er widmete der Kaisergemahlin zur Geburt Maria Theresias eine Schrift zur Kinderpflege (gedruckt 1722), wurde Stadtarzt in Hamburg und gab dort 1718 seine „Anatomia“ und David Beuthers Werk über die „Verwandelung geringer Metalle in Gold und Silber“ heraus.⁷³ Im Januar 1720 übermittelte er den Staaten von Holland das Projekt von „eenige favorable Loteryen“. Es wurde begutachtet, aber nicht verwirklicht. Hingegen erhielt er in den Niederlanden ein Patent für eine Feuerlöschmaschine.⁷⁴ 1720 oder 1721 zog Sprögel in die Erblande und trat – neben seiner Funktion als Lotteriedirektor mit einer jährlichen „Pension“ von 6 000 fl. – in den Dienst der kaiserlichen Ärar-Bergwerke in Kroatien und Kärnten. Außerdem richtete er für den Kaiser ein „Leib=Gedings=System“ „practicable“ ein. 1726 suchte er um den Adelstitel als Sprögl von Spröglowich an. „Belehnt“ mit einem fiskalischem Terrain, würde ihm ein solcher Charakter bei seinen Untergebenen mehr „Respect“ verschaffen.⁷⁵ Nach seiner Karriere in Österreich befand sich „van Sprögel“ in Amsterdam, wo er 1736 ein chemisch-pharmazeutisches „Collegium“ gründete und Christian Wolffs mathematische und experimentalphilosophische Schriften übersetzte, die 1738 bis 1742/43 erschienen. 1741 ging er einen Vertrag als „Schmelzmeister und Trenner von Mineralien und Metallen“ für ein Minenprojekt in Brasilien ein.⁷⁶
BHStA, Gesandtschaft Wien 354; Сhristian Gottlieb Jocher: Allgemeines Gelehrten-Lexikon, Bd. 4. Leipzig 1751; Hans Schröder/Anton H. Kellinghusen: Lexikon der Hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Bd. 7. Hamburg 1879, S. 264; Johann D. F. Neigebauer: Geschichte der kaiserlich Leopold Carolingischen Deutschen Akademie der Naturforscher. Jena 1860, S. 207; Acta physico-medica Academiae Caesareae Leopoldino-Carolinae naturae curiosorum […], Bd. 1. Nürnberg 1727, Nr. 327. Resolutien van de Heeren Staaten van Holland […] genoomen in de jaare 1720, S. 75 f., 92 und 94; BHStA, Gesandtschaft Wien 354: Die orientalische Kompanie zu Wien […] betr. [1721]; Das „Octrooi“ für die „vuurblussende machinerie“ vom Oktober 1722 lautet auf Sprögel (Sprogel) und Zacharias Gryl. National Archief (Den Haag), Staten van Holland, Nr. 3.01.04.01, Inv. Nr. 1675 u. 1676. ÖStA, AVA, Adel, RAA 403.26, Sprögl von Spröglowich (11.02.1726). Im November 1729 (!) soll der Kaiser Sprögel eine Herrschaft in Kroatien im Wert von 200 000 fl. „verehret“ haben. Des Neueröffneten Historischen Bilder-Saals 9. T. (1729 – 1733), S. 881. Johann Christoph von Sprögel: Programma ad collegium chymico-pharmaceuticum dogmaticum […]. Amsterdam, 26. Mai 1736; Huib F. Zuidervaart: Science for the Public: the Translation of Popular Texts on Experimental Philosophy into the Dutch Language in mid-eighteenth Century, in: Stefanie Stockhorst (Hrsg.), Cultural Transfer through Translation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation. Amsterdam 2010, S. 231– 262, hier 253.
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Seine Wiener Lotterie war ebenso groß angelegt (100 000 Lose, Gesamtsumme fast 87 Millionen in 100 Klassen mit kontinuierlich steigenden Lospreisen über 25 Jahre Laufzeit) wie sie skandalös endete. Gepriesen als „Spaar-Büchse“ mit „des Sortis angenehme[m] Lusus“, aber dezidiert „kein simple Spiel / sondern eine gewisse sichere Art von Banco, oder Monte di deposito“, wo Arme und Reiche „ihr Glück mit wenigem Gelde / ohne Rischio, auf grossen Gewinn / probiren“ können und irgendwann jeder etwas gewinnen müsse⁷⁷, stand am Ende ein Debakel. Fatal wirkte sich die reziproke, aber asymmetrische Verschränkung von Lotterie- und Gesellschaftskapital aus.⁷⁸ Die Teilnahme an der Lotterie war zumal für Begüterte als Investition in die Kompanie gedacht.⁷⁹ Deren Aktien (à 1 000 fl) sollten um den doppelten Nominalwert bei Erlegung einer gleich hohen Barsumme als Bezahlung zum Weiterspielen angenommen werden (was die Kassa schwer belastete), während Abnehmern von 100 Losen, die bis zur 50. Lotterie im Spiel blieben, eine „Lotterie-Action“ als Prämie winkte. Die South Sea Bubble und die „Turbulenzen“ um John Laws Compagnie d’Occident in frischer Erinnerung, wurden „Scrupel wegen Actien-Handel“ vom Tisch gewischt, weil hier alles solide eingerichtet sei.⁸⁰ Manche glaubten es: „Post tenebras Mississipii Lux Orientalis“, lautet eine Losdevise, „Besser als Mississippi“ eine andere.⁸¹ Lotteriegelder sollten in den profitablen Aktivitäten der Kompanie „rouliren“ und diese die Liquidität der Lotteriekasse sicherstellen. Die Substanz der Lotterie hänge „hauptsächlich“ vom Erfolg der Gesellschaft ab, für die sie aber als Kapitalpumpe fungierte.⁸² Sprögel sagte später, er habe der Kompanie den „Nervum rerum“ verschafft, „ohne welchem die nichts rechts hätte ausrichten können“.⁸³ Dass ihre Gewinne unter den Erwartungen blieben, sollte das Gefüge unterminieren. Schon vor Beginn wurden Kritik und Zweifel am Gelingen laut. Eine Schrift riet davon ab, etwas „Considerables“ zu riskieren, weil ein Profit für Spieler wegen der unvorteilhaften Quoten ein „Miracul“ wäre. Sofort erschien eine Replik.⁸⁴ Bei der ersten Ziehung im September 1721 waren noch nicht alle Lose abgesetzt; 6 000
Ausführlicher Bericht über ein hundert der Römisch=Kaiserlich=Orientalischen Compagnie privilegirte Lotterien […], in: WD, 13.06.1721; ÖStA, FHKA, SUS Patente 51.25, Lotterie der oriental. Kompanie (29.04.1721); Gründliche Information, in: WD, 12.09.1722; Copia eines Schreibens […] die […] hundert Lotterien, deren Einrichtung, Zustand und Success betreffend. Regensburg 1722. Vgl. Mayer, Anfänge, S. 46. Notifikation der Kompanie, in: WD, 26.04.1721. Copia eines Schreibens. WD, 19.06.1726 u. 05.06.1728. Copia eines Schreibens. ÖStA, AVA, Adel, RAA 403.26, Sprögl von Spröglowich (11.02.1726). Abgedrungene Verantwortung die […] Lotterien der […] Orientalischen Compagnie betreffend. [Juli 1721].
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hatte der Kaiser genommen und damit dem Werk „Credit, Aufnahm und Reputation“ verschafft, hieß es später.⁸⁵ Ende 1722 kamen die immer höheren Baranforderungen für Lose und die lange Laufzeit als „große Difficultäten“ für die Spielenden zur Sprache. Beiden sollten Planänderungen abhelfen, angeblich auf Wunsch und zum Vorteil einiger stark involvierten „Interessenten“, aber mit negativen Gesamtfolgen. So wurde die Ziehungsfrequenz ab September 1724 auf drei pro Quartal erhöht.⁸⁶ Das forderte den Spielwilligen in kürzerer Zeit mehr Mittel zur Nachzahlung für ihre nicht gezogenen Lose in die Folgeklassen ab. Die Devise eines Loses der Augsburger Lotterie von 1727 verdeutlicht den Druck: „Eine gute Beysteur zur Continuation der baaren Einlag der Wienner Lotterie“ erhoffte sich jemand vom Gewinn. Der Banquier und Losbesitzer Isenflamm nahm sich England und die Niederlande zum Vorbild und eröffnete mit „Mietlosen“ zu geringem Preis auf bestimmte Ziehungen einen Parallelmarkt für jene, „welche mit wenigem Geld ihr Glük in dieser Lotterie probiren wollen“.⁸⁷ Gleichzeitig konnten nicht gezogene Lose auf Kredit, von dem nur die Zinsen bar zu erlegen waren, weiterspielen. Aber auch diese „Interesse-Lose“ fielen übermäßig an die Lotterie zurück.⁸⁸ 1726 kamen Gerüchte über die Zahlungsunfähigkeit der Lotteriekasse auf. Dem Dementi folgten weitere Vorteile für Spieler zu Lasten des Betriebsfonds.⁸⁹ Außer zwei Millionen, die von der Kompanie zurückfließen sollten⁹⁰, hatte sich der Kaiser, dem man den halben Gewinn aus der Lotterie zugesagt hatte, mit einer namhaften Summe (wieviel, war unklar; 2,5 Millionen für eine von der Kompanie erzwungene Anleihe?⁹¹) bedient – offiziell in Erwartung eines supponierten Überschusses, faktisch „als mit Dero propren Gut“.⁹²
Sieghart, Glückspiele, S. 63; ÖStA, FHKA, NHK, Bankale rote Nr. 3069, Orientalische Compagnie, Lotterie, Tontina betr., Summarische Beweis=Gründe. Gezogene Lose mit hoher Losnummer deuten aber vielleicht doch auf ausreichenden Verkauf hin. S. WD, 16.03.1725. StaNü, Archiv der Grafen v. Seckendorff-Aberdar Obernzenn, Blaues Schloss, Akten 508, Nr. 8: Copia Schreibens aus Wien von 12ten Xbris 1722; ÖStA, FHKA, SUS HS 983, Acta die Oriental. Compagnie und Linzer-Fabrique betr. ab Anno 1719 – 1756, fol. 123 u. 142; ÖStA, FHKA, SUS Patente Kt. 61.13 (12.1723). WD, 23. u. 27.01.1726; Harris, Lottery Adventuring, S. 299 f. ÖStA, FHKA, NHK, Bankale rote Nr. 3069, Orientalische Compagnie, Lotterie, Tontina betr., anon. Schreiben an den Kaiser, [1727]; ÖStA, FHKA, SUS HS 983, fol. 143. ÖStA, FHKA, SUS, Patente 61.13 (30.03.1726); ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, fol. 138 u. 141; WD, 25.09.1726, 27.09.1727 u. 23.03.1729. Mayer, Anfänge, S. 115. Heinrich Benedikt: Finanzen und Wirtschaft unter Karl VI., in: Der Donauraum 9 (1964), S. 43 – 59, hier 50. ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, fol. 138; ÖStA, FHKA, NHK, Bankale rote Nr. 3069, Orientalische Compagnie […], Summarische Beweisgründe (Zitat); Sieghart, Glückspiele, S. 79.
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Obwohl andere, ebenfalls in die Millionen gehende Lotterieprojekte als unrealisierbar galten, weil die laufende Lotterie „wahrhafftig die Leüthe müde und verlegen“ mache⁹³, wusste man deren Problemen nur mit schneeballsystemartiger Lotterielogik zu begegnen. 1729 sollte eine verlustfreie „Versicherungs-Lotterie“ („Banque d’Assurance“) in 80 Klassen Kapital zur Auszahlung der Gewinne der ersten einspielen. Die Bargewinne garantierte ein Konsortium aus Wiener Großhändlern und Banquiers, für die Leibrenten in Tontinenform hafteten Kaiser und Kompanie.⁹⁴ Erfinder („mit Vernehmung des Sprögels“) und Direktor war ein Abbé Claude de Louan Nauti (Claudio Deloüan Nauti), dem man später attestierte, er habe in solchen Dingen „nur eine superficial experiens und Wissenschaft“.⁹⁵ Um die Teilnahme anzuregen und das „Verlassen“ der Lose zugunsten der Option für fixe Leibrenten hintanzuhalten, sollten – neben anderen Vergünstigungen – Lose teilweise mit Staatsschuldenpapieren erworben werden können. Der Erfolg blieb aus. Die Lotterie überforderte die Kaufkraft eines breiteren Publikums, aber man gab Nautis Planänderungen die Schuld.⁹⁶ Dem von Johann Philipp Graf Harrach (1678 – 1764) kolportierten Argwohn, der Kaiser werde nach seiner Art über diese Lotterie ebenso verfügen wie über die erste („diposer à sa méthode per fas et nefas“), war bald der Boden entzogen.⁹⁷ Die alte Lotterie war 1730 insolvent, was zunächst verschwiegen wurde, um sie nicht zu „discreditiren“. Doch Losinhaber stießen Lose zu Dumpingpreisen ab. Höchste politische Brisanz herrschte auch für den Kredit des Hofes. Laut Kompaniedirektor Max Emanuel Hilleprandt drohte ein vielleicht größeres „Falliment“ als das Oppenheimers. Den beiden Lotterien (und den Losbesitzern) könne nur eine von Sprögel bereits ausgearbeitete „Gyro-“ oder „50fache Lotterie“ mit kaiserlicher Garantie helfen. Karl VI.
ÖStA, FHKA, SUS,Versch.Vorschläge 239, fol. 452– 463, Project sub titulo vel modo: Kayserlich privilegirte Universal=Banco=Lotterie, fol. 463 (undatiert). ÖStA, AVA, Inneres, HK, Allgemein A 1792, 8 ex 1729. Die Europäische Fama, 319. T., 1729, S. 621 f., schreibt Sprögel das Projekt einer Leibrentensozietät (Tontine) zu; ohne Sprögels Name: [David Fassmann], Sonderbahre Nationen-Gespräche, Oder Curieuse Discurse […], 17. Entrevue, Berlin 1729, S. 9 f. Zu einem undatierten, in vielem ähnlichen Projekt Hamburger Kaufleute vgl. Mensi, Finanzen, S. 429 f.; Sieghart, Glückspiele, S. 71– 75, der aus Nauti zwei Personen macht. ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, fol. 53 (16.05.1730). 1737 erschien in Florenz eine vom „Sig. Abbate Nauti“ annotierte „Storia di Francesco Eugenio Principe di Savoja“. Von einem Abbé Nauti sind aus dem Jahr 1743 in Venedig verfasste Briefe an J.-J. Rousseau überliefert. Ralph A. Leigh (Hrsg.), Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, Bd.1. Genf 1965, Nr. 77, 82 u. 89; William Acher: Un informateur de Jean-Jacques Rousseau et de l’Ambassade de France à Venise (1743 – 1745), in: Annali di Cà Foscari 33 (1994), S. 5 – 38. ÖStA, FHKA, SUS HS 983, fol. 46 – 54, 82– 116; ÖStA, FHKA, AHK, HFÖ Akten Kt. 2393 (12.1729); Mensi, Finanzen, S. 428 f. Zit. nach Benedikt, Finanzen, S. 53.
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gab sein Placet „ex necessitate“. Bereits angekündigt, folgte die Annullierung. Losbesitzer der alten Lotterie hätten abgelehnt.⁹⁸ Es gab aber auch das Abraten Starhembergs, an den sich der Kaiser wegen Unterstützung durch die Stadtbank gewendet hatte.⁹⁹ Die Ziehungen der alten Lotterie wurden im Juni 1730 sistiert. Auch das Schicksal der Nautischen war damit frühzeitig besiegelt. Sprögel kam als angeblicher Hauptschuldiger des „fatalen Verfalls“ und wegen persönlicher Schulden in Arrest.¹⁰⁰ Er habe sich in diverse Spekulationen, „chymische und sehr schädliche Negotia“ und Bergwerksunternehmungen eingelassen¹⁰¹ und sei „verschiedener criminum Stellionatûs et falsi vollkommentlich überführet“¹⁰². Aus der Haft legte er 1731 den Plan einer „Glücks- oder Spaar Lotterie“ zur „Restabilisirung der Lotterie und des publiquen Crediti“ vor, um binnen sechs Jahren „fast alle Schulden“ zu bezahlen (und dem Kaiser etwas in die Hofkassa zu bringen). Er sei „aus allen Lotterie Principiis solide combinirt“ und den mehrheitlich relativ risikoaversen Einheimischen angepasst.¹⁰³ Die Ausführung unterblieb. Hingegen stellte der Kaiser mit Vorbehalt des Regresses gegen die Verantwortlichen der Pleite aus einem eigenen Fonds 335 000 fl. für noch unbezahlte Gewinne der alten Lotterie, den Ersatz der von ihm entnommenen Gelder und die Übergabe der Kompanie an die „Interessenten“ in Aussicht. Das in Fabriken und anderem gebundene Kapital liquid zu machen, war weiterhin unmöglich. Die Übergabe erfolgte 1734, die restlichen 16 Ziehungen wurden 1735 nach einem Plan des immer noch arrestierten Sprögel durchgeführt, die – als taktische Absichtserklärung („Intention“) – versprochene kaiserliche „Aushülf“ von 2,5 Millionen blieb aus.¹⁰⁴ Samuel von Schmettau beispielsweise, 1731 im Zusammenhang mit ÖStA, FHKA, SUS Patente 61.11, Ausführlicher Bericht von der Kayserl. Privilegirten und Guarantirten 50-fachen Lotterie (15.05.1730); ebd., 61.13, Publikation der Kayserlich=Privilegirten Orientalischen Compagnie alten 100=fachen Lotterie Gewinn=Zahlung betr. (20.05.1730); ÖStA, AVA, Inneres, HK, Allgemein A 1792, 7 ex 1730; WD, 20.05. u. 03.06.1730; Sieghart, Glückspiele, S. 76 f. Die neben Barem als Gewinne vorgesehenen Obligationen hätten „gyriret und vernegotiiret“ werden können. ÖStA, FHKA, SUS HS 983, fol. 64 f., Billet des Kaisers an Starhemberg, 03.06.1730; ebd., fol. 66 – 73, Referat Johann Christoph Bartensteins an Kaiser. ÖStA, AVA, Inneres, HK, Allgemein A 1792, 7 ex 1731, fol. 24 („Verwahr“-Befehl, 19.04.1731); ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, fol. 77 u. 124, Nr. 25 (Brief des Barons Bartenstein). Mayer, Anfänge, S. 114 f. ÖStA, FHKA, AHK, SUS, HS 983, fol. 124. ÖStA, FHKA, Versch. Vorschläge 158, fol. 189 – 206. ÖStA, FHKA, AHK, SUS HS 983, fol. 118 – 126 u. 138; Neues Kaiserl. Patent, die […] Lotterie betreffend (23.04.1731), in: WD, 25.04.1731; Den Lotterie-Interessenten versprochene Aushülf und Ubergebung der Orientalischen Compagnie Effecten, 11.07.1734, in: Suppl. Cod. austr., Bd. 2.Wien 1752, S. 852 f.; ÖStA, AVA, Inneres, HK, Allgemein A 1792, 11 ex 1734; ÖStA, FHKA, NHK, Bankale
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einem Projekt zur Lösung des Lotterieproblems genannt, hatte auf seine „LotterieHypotheken“ Geld aufgenommen, fand sich in „verdrüßlichen Lotterieschuldenhändeln“ und setzte vergeblich auf die kaiserliche Aushilfe bzw. Garantie.¹⁰⁵ Der mit der Abwicklung betraute Großhändler Jacob Föhr schlug unter anderem noch eine Lotterie vor, mit der er die alten Lose und Gewinnforderungen „aus der Pfitze des Miß-Credits und Unwerths“ ziehen wollte. Weil aber mit der alten Lotterie der „Credit“ der Kompanie „zugleich versuncken“ sei und vermutlich niemand mehr diesem Namen traue, wollte er das Lotterieprivileg an zwei solvente „ehrliche Caventen“ zedieren. Es gelang nicht. 1736 betrugen die Passiva der Kompanie 3,6 Millionen Gulden inklusive 3,45 Millionen an Lotterieforderungen.¹⁰⁶ Zu Beginn hatte die Eigenwerbung des „großen Millionen Spiel[s]“ wie bei jeder Lotterie Imaginationen materiellen Glücks bis hinab zum armen „Dienstmensch“ geschürt: „Die Orientalische Compagni[e] hat solche Mittel vorgenomen das man kan durch die Lotteri[e] auß Armuth bald zum Reichthum kom[men].“¹⁰⁷ Nun zog ihr „Verfall“ laut Föhr „viel Himmel=schreiende Unheil“ nach sich. Viel ist von „Armen“ als Opfer die Rede, aber Daten über die soziale Streuung fehlen. Föhr bemühte sich vergeblich um einen Konsens zwischen ärmeren und reicheren Gläubigern (zwischen „de lucro captando“ und „de damno vitando“), deren Forderungen von wenigen Gulden bis zu den 120 000 des Kardinals von Kollonitsch (vermutlich inklusive Kompanieaktien) reichten.¹⁰⁸ Sie erhielten zunächst Schuldscheine auf die Kompaniemasse und bezogen „Dividenden“.¹⁰⁹ Maria Theresia hätte zwar die Sache gerne mit einem Gewinn für die Stadtbank und für sich erledigt, doch lag ihr „noch mehr daran“, überhaupt „aus dieser abgeschmackten, unbilligen Lotteriesache herauszukommen“.¹¹⁰ Erst 1754 wurden die „Lotterie=Verwandten“ mit einem Drittel ihrer Forderungen (ab 500 fl. gegen
rote Nr. 3069, Orientalische Compagnie, Lotterie, Tontina betr., Summarische Beweis-Gründe, die Verbindlichkeit Ihro Kaiserl. Maitt. zu Remedirung der 100fachen Lotterie betr. Später wurde Jacob Föhr als Autor des Ziehungsplans genannt. [Jacob Föhr]: Veritas cum utili in compendio. Wien [1740], unpag. Mercurii Relation (München), 24.02.1731; Theresius von Seckendorf-Aberdar: Versuch einer Lebensbeschreibung des Feldmarschalls Grafen von Seckendorff, Bd. 2. 1792, S. 21; ÖStA, FHKA, SUS HS 983, fol. 77. [Föhr], Veritas, unpag. Neuer Hand-Calender auf das Jahr 1723. Wien [1722], Monatsblatt Mai. ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, fol. 76, Nota (04.07.1730); [Föhr], Veritas. Vgl. z. B. WD, 01.03.1741, 10.04.1742, 26.06.1751. Maria Theresia an Anton Frhr. von Doblhoff, 05.07.1754, in Alfred von Arneth (Hrsg.), Briefe der Kaiserin Maria Theresia an ihre Kinder und Freunde, Bd. 4. Wien 1881, S. 222.
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vierprozentige Obligationen der Stadtbank, darunter bar) abgespeist.¹¹¹ Schon 1731 hatten Kursachsen und Preußen, wo einige starke „Interessenten“ herkamen, mit Verboten der Teilnahme an ausländischen Lotterien reagiert. Unter dem Bankrott litt der allgemeine Kredit.¹¹² In den Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit Preußen war der Umgang des Wiener Hofes mit den Lotterieschulden einer der Streitpunkte. General von Schmettau, der inzwischen die Seiten gewechselt hatte, soll Friedrich II. darauf hingewiesen haben. Doch Wien betrachtete die Lotterie als Privatunternehmen.¹¹³ Das war sie zwar formaljuristisch, aber eine vom Hof unabhängige und von Interventionen anderer Interessensvertreter freie Geschäftsgebarung war nicht gegeben. Lastete man Sprögel schlechtes „maneggio“ an, nannte er Unwillen und Missbilligung, die „timide und taedios“ machen sollten, „wie mir es bey der alten Lotterie meistentheils ergangen ist“.¹¹⁴ So verweisen die genannten Elemente, die zum Fiasko führten¹¹⁵, auf systemische Interferenzen, die die Geschäftsführung beeinträchtigten. Föhr wiederum machte die Kompanie verantwortlich: Hätte sie ihr Kapital besser angelegt und höhere Renditen erzielt, wäre „das famose Falliment“ nicht erfolgt.¹¹⁶ Einige Zeit lang jedoch hatte die Hundertfache Lotterie nach den Intentionen ihrer Betreiber funktioniert und Perspektiven auf eine Nutzung dieses Instruments eröffnet. Dass sie dazu beigetragen habe, Wien „zu einer vollkommenen Handels=Stadt“ zu machen¹¹⁷, erscheint übertrieben. Aber es heißt, die Gewinnbestätigungen (Pagherò) hätten einen den Stadtbankobligationen gleichrangigen „Credit“ erworben und seien in Wechselstuben für Geld gut gewesen. Setze man weiter auf Lotterien, bleibe das Geld, das zuvor für fremde Lotterien ausgegeben wurde, im Lande, und man ziehe „considerable Summen von auswärthigem Geld herein“. Daher müsse jeder in der Sache auch nur wenig Erfahrene zugeben, „daß eine wohl und getreulich geführte Lotterie alle Zeit einen Monarchen eine nuzli-
ÖStA, FHKA, SUS HS 983, Nr. 32 (Dekret, 25.07.1754); WD, 25.01.1755; Viktor Hofmann: Beiträge zur neueren österreichischen Wirtschaftsgeschichte, in: AÖG 108/2 (1920), S. 118 f. Maurice Sautai: Les préliminaires de la Guerre de Succession d’Autriche. Paris 1907, S. 466 (Note sur la Cour de Vienne, Dez. 1738). Maximilian v. Hoen/Andreas Kienast: Österreichischer Erbfolgekrieg 1740 – 1748, Bd. 3. Wien 1898, S. 982– 984; [Karl Joseph M. v. Fürst und Kupferberg]: Ausführliche Beantwortung der von dem Wiener Hofe herausgegebenen sogenannten kurtzen Verzeichniß einiger […] friedbrüchigen Unternehmungen. Berlin 1756, S. 26; Standhaffte Widerlegung der sogenannten ausführlichen königlich-preußischen Beantwortung […]. Wien/Prag 1757, S. 46. ÖStA, FHKA, versch. Vorschläge 158, fol. 292v (30.07.1731). Vgl. Sieghart, Glückspiele, S. 69 – 79, dem ich nicht in allen Punkten folge. [Föhr], Veritas, unpag. Johann Basilius Küchelbecker: Allerneueste Nachricht vom Römisch-Käyserlichen Hofe. Hannover 1730, S. 705. Vgl. auch die Ausgabe von 1732.
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che Sache seye“.¹¹⁸ Graf Rudolph Chotek (1706 – 1771) schwebte jedenfalls zwanzig Jahre später der Betrieb von Lotterien als eine der Aktivitäten der Kommerzkompanie Triest-Fiume vor.¹¹⁹
Porzellan, Piae causae und der neue Hegemon Zu den Gläubigern der Kompanie gehörte Claudius Innocentius du Paquier (um 1679 – 1751), der Leiter der Wiener Porzellanmanufaktur. Um deren Absatz nachzuhelfen, durfte er 1728/29 selbst eine erste Lotterie mit seinen Fabrikaten veranstalten, 1734/35 eine zweite. Dieser gab der sächsische Hauptmann Johann Martin Kühn, Mandatar sächsischer Gläubiger der Orientalischen Lotterie, nach dem Debakel wenig Chancen: „Da auch das Wort Lotterie in den Ohren der hiesigen Menschen sehr fatal klinget, glaubet man gäntzlich, es dürffte die vorseyende Porcelaine Lotterie ins Stocken geraten.“¹²⁰ Belege für die Richtigkeit seiner Prognose fehlen. Als der Ziehungstermin verschoben wurde, waren noch Lose zu haben, aber Du Paquier hatte zugesagt, nicht abgesetzte Lose auf sein Konto ziehen zu lassen.¹²¹ Wie in anderen Teilen Europas waren karitative Fürsorge und Institutionen der Disziplinierung starke Vektoren für Lotterien. Vielleicht um 1718 (1715?) entstand das nicht realisierte Projekt einer Instant-Lotterie (vierteljährlich 100 000 Lose à 17 Kreuzer). Sie sollte den Fonds zur Unterbringung und Erziehung aufsichtsloser Kinder in Wien im Armenhaus schaffen und als Almosensubstitut von den Kanzeln herab beworben werden.¹²² 1728 führte das St. Johann Nepomuk-
ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, fol. 148 (Beantworttung über verschiedene Lotterie quaestiones), auch fol. 137. Helma Houtman-De Smedt: Charles Proli, Antwerps zakenman en bankier: 1723 – 1786. Brüssel 1983, S. 73. [Föhr], Veritas, unpag.; WD, 19. u. 22.01.1729, 24.11.1734; Rainer Rückert: Der „Catalogus“ der Wiener Porcellaine-Lotterie des Jahres 1735, in: Keramos 145 (1994), S. 11– 65; Kühn (12.02.1735) zit. n. Alessandro Monti: Der Preis des weißen Goldes. Preispolitik und -strategie im Merkantilsystem am Beispiel der Porzellanmanufaktur Meißen 1710 – 1830. München 2011, S. 373 (ich danke Herrn Monti für Präzisierungen). WD, 08.01. u. 09.03.1735. ÖStA, AVA, FHKA, SUS, Nachlass Schierendorf 12.51, fol. 1– 32, Vorschläge für eine Lotterie zur Erziehung armer Waisenkinder. Das Archiv datiert 1715, Stefan Seitschek: Lotterie zur Erziehung armer Kinder, in: Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI. 1711– 1740, Begleitband zur Ausstellung. Wien 2011, S. 208 f., „nach 1717“; vgl. das ähnlich konzipierte Projekt in ÖStA, FHKA, SUS,Versch.Vorschläge 239, fol. 452– 463, Project sub titulo vel modo: Kays. priv. Universal=Banco=Lotterie.
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Spital in Wien eine Lotterie aus geschenkten „Effecten“ durch, 1731 eine weitere mit 4 fl. das Los.¹²³ 1739 stellte der Kaiser eine Entschließung bezüglich einer Lotterie zur Finanzierung von Zucht- und Arbeitshäusern in Mähren in Aussicht.¹²⁴ Im April 1740 wurde die Stadt Wien bzw. die Kommission zu Fragen der Armenversorgung und des Bettelwesens mit einer „Armen-Lotterie“ aktiv. Die Ziehung fand im erzbischöflichen Palais statt. Angeblich hatten die kaiserliche Familie und der künftige Kaiser Franz Stephan 6 000, andere Standespersonen 800 bis 1 200 Lose genommen.¹²⁵ „Armen-Leut-Lotterien“ setzten ab der Mitte der 1740er Jahre wieder ein. Ebenfalls „ad pias causas“ dienten die ab 1736 entwickelten Lotterien unter der Garantie der oberösterreichischen Landstände. Der ursprüngliche Plan, jährlich drei zu veranstalten, wurde wegen Aufwandsbelastung, Kostenerwägungen und einkalkulierter Spielerpsychologie auf zwei abgeändert (je 25 000 Lose à 4 fl, wobei die 21 000 „Gewinner“ von 2 fl. zur Teilnahme an der zweiten nur zwei aufzuzahlen hatten).¹²⁶ Verkaufsstellen gab es in Linz,Wien und Regensburg, Kollekteure sollten außerdem in Prag, Graz und Innsbruck rekrutiert werden. Die erste „landschaftliche Lotterie“ wurde im August 1737 (Abb. 2), die zweite am Ostermarkt 1738 im Landhaus gezogen.¹²⁷ Am 1. Juli folgte die Publikation einer dritten mit Mindestgewinnen in Höhe des Lospreises. Die Ziehung ging nach mehrmaligen Verschiebungen und einer Gewinnplanänderung im April 1739 vonstatten.¹²⁸ Bemerkenswert ist das Zustandekommen dieser Unternehmen. Hofrat Johann Bernhard von Pelßer (Pelser) – er hatte 1730 angeregt, Sprögel zu arrestieren – beschied dem oberösterreichischen Landschaftsagenten in Wien Franz August von Greiner, dass er den Lotterieplan approbieren wolle und der Meinung sei, „daß dieses Geschäfft bey Hoff umb die Ratification anzubringen
WD, 07. u. 10.04.1728, 05.05.1731. Christian d’Elvert: Der Spielberg als Residenz der Landesfürsten, Landesfestung und Strafanstalt. Brünn 1860, S. 41– 46. Plan in ÖStA, AVA, FA Harrach Kt. 424.2 und 424.3; Kurtz-gefasster historischer Nachrichten […] a. d. J. 1740 25. St. (Juni), S. 494; WD, 06.07., 27.07., 03.08., 10.09. u. 17.09.1740 OÖLA, Landschaftsakten Sch. 1389, K. XIV. 12, Nr. 2, Acten, die ad pias causas in O: Österreich publicirte Lotterie betr. 1736 (Anmerkhung uber den getrukhten Loterie Plan); Pläne ebda. und in ÖStA, AVA, FA Harrach Kt. 424.3 (Wien. Armenversorgung). Die Lotterie wird erwähnt von Hans Commenda: Volkskunde der Stadt Linz an der Donau, Bd. 2. Linz 1959, S. 271. OÖLA, Stiftsarchiv Mondsee, Handschrift 3, fol. 364v (1738). Ich danke Petr Mat’a für diese Quelle. Kurtz-gefasster historischer Nachrichten […] auf das Jahr 1737, 21. St. (Mai), S. 414; ebd., 26. St. (Juni), S. 514; 47. St. (November), S. 942; ebd., 1738, 4. St. (Januar), S. 74 f.; 44. St. (Okt.), S. 894 f.; WD, 31.01., 15.04. u. 02.05.1739.
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nicht erforderlich sein derffte“. Die Herren Verordneten könnten „ohne weiters sich anzumelden“ vorgehen.¹²⁹
Abb. 2: Los mit Devise zur zweiten Oberösterreichischen Lotterie 1737; Linz, OÖLA, Landschaftsakten Sch. 1389: K. XIV.12.
Das illustriert nicht nur, wie gerade den oberösterreichischen Ständen trotz zunehmender landesfürstlicher Ingerenz Kompetenzen in Finanzsachen verblieben.¹³⁰ Es legt auch eine der Hürden für eine Staatslotterie, eine zentralstaatliche Gestion des Lotteriewesens offen. Den „Credit“, der den zentralen Institutionen abging (allerdings auch anderen deutschen Fürsten und Potentaten abgesprochen wurde¹³¹), genossen offenbar eher lokale oder regionale Körperschaften, Stände und Kommunen, zumal deren Lotterien zudem überschaubar dimensioniert waren. Ständische Garantien oder der Kredit der Wiener Stadtbank schienen
ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, fol. 77, Nota (04.07.1730); OÖLA, Landschaftsakten Sch. 1389, K. XIV. 12, Nr. 2: Acten, die […] Lotterie betr. 1736 (Extract deß Herrn Doctor Greiner […] Schreiben […], Wien, 10.10.1736). Zu Pelser, Jurist und Hofrat der österreichischen Hofkanzlei s. Max Braubach: Eine Satire auf den Wiener Hof aus den letzten Jahren des Kaiser Karls VI., in: MIÖG 53 (1939), S. 21– 78, hier 68 f. Georg Heilingsetzer: Die oberösterreichischen Stände nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Mitt. des oberösterr. Musealvereins 137 (1992) S. 91– 102, hier 100; Petr Mat’a: Landstände und Landtage in den böhmischen und österreichischen Ländern (1620 – 1740). Von der Niedergangsgeschichte zur Interaktionsanalyse, in: ders./Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistung und Grenzen des Absolutismusparadigmas. Stuttgart 2006, S. 345 – 400, bes. 361. Polemisch: C. V. H. G., Nichts Bessers, S. 121.
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aber stets (wie auch anderswo) für größere Lotterien zur profitablen Entschuldung des Ärars eine günstige Voraussetzung.¹³² Freilich war keine Lotterie gegen das omnipräsente Scheitern gefeit. Mangelnde Kaufkraft vereitelte neben anderen Faktoren (Kriege, Nöte, Format, Design, Infrastruktur usw.) so manchen erhofften Erfolg. Lotterien beruhen eben „nur in suppositis“, wie man auch in Wien wusste.¹³³ Andererseits mag die im internationalen Vergleich insgesamt dürftige Bilanz in den österreichischen Erbländern als Indiz für deren auch in anderen Belangen attestierte relative Rückständigkeit¹³⁴ gelten und ist damit der Iberischen Halbinsel nicht unähnlich. Trotz aller Modernisierungsansätze im Finanzwesen¹³⁵ gelang dem Hof und den Zentralbehörden der Aufholprozess in Sachen Lotterien gegenüber anderen Großmächten vorerst nicht. Glückshäfen, wie sie beispielsweise die Familie Kaiser zwischen 1717 und 1727 am Graben betrieb, zog der Hof 1720 (und 1729) allerdings als Ausdruck der landesfürstlichen Monopolisierungsbestrebungen in seine Kompetenz.¹³⁶ Unterdessen, zu einer Zeit, als die Niederlande und England ihre Märkte bereits durch Verbote schützten, nutzten ausländische Lotterien die Spielkapazität am Wiener Platz ungehindert ab. Schon während der Orientalischen Lotterie bediente der im Loshandel rege Ghelen als offizieller Kollekteur für die kursächsische Lotterie beispielsweise einen Grafen Khevenhüller.¹³⁷ Der Krach der „Hundertfachen“ hatte längst nicht alle Lotterielust ausgelöscht. Nach 1735 nahmen entsprechende Inserate stark zu. Nicht nur das änderte sich nach 1740. Franz Stephan erbte, bestätigte und förderte zunächst die von Karl VII. 1744 privilegierte und bis 1752 bestehende sogenannte „Reichs-Lotterie“ (ohne Bezug zu einer gleichnamigen, 1731 zur Finanzierung des Reichskammergerichts vorgeschlagenen).¹³⁸ Doch die Lotterie-
ÖStA, HHStA, AKA 3 – 7, Conto, Waß der künfftige Haupt giro und Lotterie Banco, in 10 Jahr für einen Einnahm und Außgaab praeter propter hätte, nicht weniger waß dißfalls für ein Avanzo zuhoffen, mittelst dessen das Kay. Aerarium nach und nach mit profit auß allen Schuldenlast kommen kann, anbey zur Consolation aller Creditoren, weillen Sie nebst Verhoffenden grossen Gewinn ihr anforderung lebendiger machen, und pro Bono publico dienet (undatiert, 1711– 1740; um 1730?): „Schulden Bezahlungs Lotterie“ mit Garantie der Landstände. ÖStA, FHKA, SUS, HS 983, Acta, fol. 143. Günther Chaloupek: Die Ära des Merkantilismus, in: ders./Peter Eigner/Michael Wagner (Hrsg.), Wien. Wirtschaftsgeschichte 1: Industrie. Wien 1991, S. 37– 100, hier 49. Winkelbauer, Nervus, S. 212 f. Pauser, Reichthum, S. 88 – 91. ÖStA, HHStA, SB, Khevenhüller, Kammer 8 – 40, Schreiben Ghelens, 07.07.1725. ÖStA, HHStA, RHR, Gewerbeprivilegien 9 – 43, fol. 548, Privilegium zur Errichtung einer Lotterie für kais. Rat Johann Philipp Sechehaye; ÖStA, HHStA, RHR, Grat Feud, Gewerbe-, Fabriksund Handlungsprivilegien 2– 5 – 13, Frankfurt, verschiedene Handelsleute erhalten das Privileg
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zukunft Österreichs lag in einem nördlich der Alpen noch recht unbekannten Format. Seit 1732 veröffentlichte Ghelen die Ziehungsergebnisse der Zahlenlottos von Venedig, Mailand, Rom und Neapel. Als 1736 Gerüchte über die Einführung des Lottos wie in Bayern kursierten, wollte Jacob Föhr die Orientalische Kompanie und deren Privileg nicht übergangen wissen.¹³⁹ Lottopläne lagen bereits in den Österreichischen Niederlanden und 1737 in Linz vor.¹⁴⁰ 1739 in der Toskana etabliert, rückte Österreich in die Nähe. Für Wien erfolgte 1749 mit dem Verbot jeglicher Werbung für ausländische Lotterien zum Schutz der neu eingerichteten Silberglückshäfen¹⁴¹ ein erster Schritt zur rein fiskalisch motivierten, durch diverse karitative Zuwendungen nur oberflächlich kaschierten Abschöpfung der Spielbereitschaft. Sie gipfelte 1751 im Privilegium privativum zur Einführung des Lottos in den Erbländern. Die Verpachtung garantierte einen risikolosen Ertrag.¹⁴² Diesem zentralstaatlich sanktionierten, quasi-monopolistischen und populären Hegemon hatten selbst die gerade erst gestarteten Lotterien der mährischen Lehnbank zu weichen.¹⁴³ Der Sorge, andere Modelle erfolgreich durchzusetzen, war man enthoben. Als es aber 1769 darum ging, den Markt durch zusätzliche Lotterien auszuweiten, forderte Maria Theresia Gutachten und Pläne und sofort den der „vormahlsgewesten Spregelschen grossen Lotterie“ zur Einsicht.¹⁴⁴ Vielleicht ein Indiz für ein selektives historisches Gedächtnis, sicher aber ein Beleg dafür, dass der Zufall in den Staatsfinanzen doch noch seinen Platz behauptet hatte.
über eine Reichslotterie (16.08.1747); ÖStA, HHStA, Rk, Ministerialkorrespondenz 7– 1– 16, Correspondenz des Widmann mit verschiedenen Personen 1747, u. 11– 1– 27 (1748), 22.09. u. 11.06. 1748. [Föhr], Veritas, unpag. Manfred Zollinger: Wetten auf die Genueser Lotterie. Eine kulturelle Geographie der LottoExpansion, in: Ludica 17– 18 (2011– 2012), S. 65 – 88; OÖLA, Landschaftsakten Sch. 1389, K. XIV. 12, bes. Nr. 5. Suppl. Cod. austr., Bd. 5. Wien 1777, S. 408; Sieghart, Glückspiele, S. 84 ff. Manfred Zollinger: Monopole und ihre Verpachtung: Das Lottoregal, in: Michael Hochedlinger/Petr Maťa/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (MIÖG Erg.-Bd. 62). Wien 2019, S. 939 – 942. ÖStA, AVA, FHKA, NHK, Kommerz Böhmen Akten 1253, Fasz. 61, k.k. privilegirte Lehenbank in Mähren, Teil 1: 1751– 1763, Octroy vom 09.01.1751, fol. 1– 30, hier 17 f.; Adolf Beer: Die österreichische Handelspolitik unter Maria Theresia und Josef II., in: AÖG 86 (1898), S. 1– 205, hier 147. ÖStA, HKA, Kamerale, rote Nr. 1565, Subdivision 4: Lotto di Genova allhier, und in den Erblanden, Nr. 14: Nota an Rechenkammer, Juli 1769.
Teil IV: Repräsentation von Herrschaft
Friedrich Polleroß
Karl VI. im Porträt – Typen & Maler
Während die Porträts Maria Theresias und Josephs II. in den letzten Jahren sogar in monographischen Dissertationen bearbeitet wurden¹, besitzen wir zu Karl VI. nicht einmal einen ersten Überblick. Es existiert zwar eine Diplomarbeit zu den kaiserlichen Hofmalern aus dem Jahre 1990, die aber nur den Wissensstand der Literatur an wenigen Bildern zusammen fasst.² Immerhin gibt es Künstlermonographien zu den Malern Jacques van Schuppen³, Johann Kupetzky⁴ und Martin van Meytens⁵. Der einzige gut erforschte Bereich aus der Epoche Karls VI. ist jener zum Bilderstreit im Spanischen Erbfolgekrieg.⁶ Trotz fehlender Grundlagenforschung in Form von Topographien und Museumskatalogen soll daher hier erstmals der Versuch unternommen werden, einige zentrale Fragen dieser Thematik wenigstens anzuschneiden. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass alle quantitativen Beurteilungen in meinen Ausführungen daher natürlich mit entsprechender Vorsicht zu werten sind. Im ersten Teil soll der Bogen von den Kinderbildnissen bis zu den Darstellungen am Sterbebett Angelika Schmitt-Vorster: Pro Deo et Populo: Die Porträts Josephs II. (1765 – 1790). Untersuchungen zu Bestand, Ikonographie und Verbreitung des Kaiserbildnisses im Zeitalter der Aufklärung. Diss. phil. München 2006; Anne-Sophie Banakas: Die zwei Körper der Herrscherin: der politische und der natürliche Körper in den Porträts von Maria Theresia (1740 – 1780), in: MIÖG 126 (2018), S. 73 – 109. Anna Piuk: Maler am Hofe Kaiser Karls VI. (1711– 1740). Dipl.-Arb. Wien 1990, S. 22– 60. Pierre Schreiden: Jacques Van Schuppen 1670 – 1751. L’influence française à Vienne dans les art plastiques au cours de la première moitié du XVIIIe siècle. Brüssel 1983. Eduard A. Safarik: Johann Kupezky (1666 – 1740). Ein Meister des Barockporträts. Ausstellungskatalog. Aachen 2001; Eduard A. Safarik: Johann Kupezky (1660 – 1740). Gesamtwerk hg. von Zdeněk Kazlepka. Brno 2014. Birgitta Lisholm: Martin van Meytens d.y. Hans liv och hans verk. Malmö 1974; Agnes HussleinArco/Georg Lechner (Hrsg.), Martin van Meytens der Jüngere. Ausstellungskatalog. Wien 2014. Hubert Winkler: Bildnis und Gebrauch. Zum Umgang mit dem fürstlichen Bildnis in der frühen Neuzeit. Vermählungen – Gesandtschaftswesen – Spanischer Erbfolgekrieg (Dissertationen der Universität Wien 239). Wien 1993, S. 221– 251; Friedrich Polleroß: Hispaniarum et Indiarum Rex. Zur Repräsentation Kaiser Karls VI. als König von Spanien, in: Jordi Jané (Hrsg.), Denkmodelle. Akten des 8. Spanisch-österreichischen Symposions 13.–18. Dezember 1999 in Tarragona. Tarragona 2000, S. 121– 175; Diane H. Bodart: Philippe V ou Charles III? La guerre des portraits à Rome et dans les royaumes italiens de la couronne d’Espagne, in: Antonio Álvarez-Ossorio/Bernardo J. García García/Virginia León (Hrsg.), La pérdida de Europa. La guerra de Succesión por la Monarquía de España. Madrid 2007, S. 99 – 133; Friedrich Polleroß: Die Kunst der Diplomatie. Auf den Spuren des kaiserlichen Botschafters Leopold Joseph Graf von Lamberg (1653 – 1706). Petersberg 2010, S. 373 – 412. https://doi.org/10.1515/9783110670561-016
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gespannt werden. Dann soll die besonders schwierige Frage nach den Hofporträtisten dieser Epoche zumindest gestellt werden.
Das kaiserliche Bildnis im Lebenslauf Da Erzherzog Karl nach dem lang ersehnten Thronfolger der zweite Sohn Kaiser Leopolds war, kam seiner Geburt nicht mehr eine ganz so zentrale Bedeutung zu wie jener Josephs I. Es gibt daher auch weniger Kinderbildnisse als vom ersten Sohn der Kaiserin Eleonora Magdalena von Pfalz-Neuburg. Zwei einander ähnliche Druckgraphiken entstanden vermutlich um 1690 und damit zum Zeitpunkt, als der fünfjährige Prinz einen eigenen Hofstaat bekam und damit öffentlich sichtbar wurde – ein Schabkunstblatt stammt von Peter Schenk in Amsterdam⁷ und ein Kupferstich von Philipp Kilian in Augsburg⁸ (Abb. 1). Beide basieren wohl auf einem Wiener Gemälde.⁹ Ein auch qualitativ beachtliches Gemälde des jugendlichen Erzherzogs hat sich im Schloss Drosendorf erhalten. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um „des Ertzhertzogs contrefait v. Sconiangs“, für welches Graf Leopold Joseph von Lamberg im Dezember 1699 22 Gulden und 30 Kreuzer bezahlt hat. Die Zuschreibung an Anthonis Schoonjans (1655– 1726) ist auch stilistisch plausibel.¹⁰ Eine ikonographische Variante dieser Darstellung mit Rüstung und Erzherzogshut zeigt ein Gemälde, das der kaiserliche Botschafter 1700/1701 in Rom anfertigen ließ.¹¹ Ein ganzfiguriges und vielleicht ebenfalls von Schoonjans stammendes Gemälde in der Präsidentschaftskanzlei mit Harnisch, Helm, Feldherrenstab und Hermelinmantel spricht wohl dafür, dass man Anfang des Jahrhunderts durch die militärische Kleidung schon den Eindruck vermitteln wollte, dass man am Wiener Hof das spanische Erbe für den jungen Prinzen auch mit militärischen Mitteln verteidigen werde. Eine ähnliche politische Zukunftshoffnung visualisierte offensichtlich auch das Gemälde des kaiserlichen Pferdemalers Johann Georg Hamilton (1672– 1737) von 1702, wo der Thronprätendent wohl nicht zufällig bei einer schwierigen Übung der spanischen Reitschule auf einem grauen spanischen Hengst porträtiert wurde.
Wien, ÖNB Bildarchiv, PORT_00047239_01. Robert Zijlma: Philipp Kilian (continued) to Wolfgang Kilian (Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts XVIII). Amsterdam 1976, S. 22, Nr. 235 A. Ein weiteres Kinderbildnis überliefert ein Kupferstich von Carl Gustav von Amling: Karl Holubar/Wolfgang Christian Huber: Die Krone des Landes. Klosterneuburg 1996, S. 169, Kat.-Nr. 66. Polleroß, Lamberg, S. 380, Abb. 366. Polleroß, Lamberg, S. 388 – 390, Abb. 372.
Karl VI. im Porträt – Typen & Maler
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Abb. 1: Erzherzog Karl im Alter von etwa fünf Jahren, Kupferstich von Philipp Kilian, um 1690; Wien, ÖNB Bildarchiv.
Der siebzehnjährige Erzherzog befindet sich in Begleitung seines Erziehers sowie späteren spanischen Obersthofmeisters Fürst Florian Anton von Liechtenstein und übt gerade die sogenannte Piaffe, die auch als „spanischer Tritt“ bekannt ist.¹² Dieses Gemälde ist meines Wissens nach die einzige derartige Darstellung eines Erzherzogs und lässt sich nur mit Velázquez‘ Porträt des Infanten Balthasar Carlos beim Reitunterricht vergleichen.¹³
Johann Kräfftner: Pferde, Wagen, Ställe. Pferdetradition im Haus Liechtenstein. München u. a. 2006, S. 29 – 30. Friedrich Polleroß: „Theatro della Gloria Austriaca“. Das Reiterporträt als Herrschaftszeichen der Casa de Austria, in: Alexandra Merle/Éric Leroy du Cardonnoy (Hrsg.), Les Habsbourg en
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Einen ersten Porträtboom gab es nach 1700 und vor allem ab 1703, als Erzherzog Karl zum Nachfolger von König Karl II. von Spanien ernannt wurde. Dabei hat man offensichtlich von Seiten des Wiener Hofes eine Kampagne gestartet, um das Bildnis des Habsburgers gegen den vom Testament bevorzugten Bourbonen Philipp V. in Stellung zu bringen. Mindestens drei Druckgraphiken von Karl als „HISPAN[IARUM] et INDIAR[UM] REX“ basieren auf der Porträtaufnahme des seit 1698 als kaiserlicher Kammermaler in Wien tätigen Frans van Stampart, der diese ausdrücklich „ad vivum pinxit“¹⁴. Bei den aufgrund der zahlreichen Kopien bzw. Gemälden nach Druckgraphiken in der Wiedergabe des Gesichtes sehr willkürlichen Gemälden des habsburgischen Thronprätendenten lassen sich im Wesentlichen drei Porträttypen unterscheiden, von denen sowohl ganzfigurige Gemälde als auch Brustbilder existieren: 1. Den zeitgenössischen Quellen zufolge wurde Karl zunächst „in habito negro alla spagnolo“ porträtiert. Die in Spanien seit Philipp II. übliche Kleidung des Herrschers bestand aus dem schwarzen Mantelkleid mit der weißen Gollila sowie der Collane des Goldenen Vlieses als Zeichen für den Hausorden der spanischen Könige. Dazu kam die nur in heraldischer Form existierende spanische Königskrone; 2. das Bildnis mit Harnisch und Spangenkrone – mit oder ohne Hermelinmantel sowie Szepter; 3. das Porträt des Erzherzogs mit Marschallsstab und einer Schlachtenszene im Hintergrund. Die erste Variante wird etwa in einem nicht sehr qualitätsvollen Gemälde aus dem Kunsthandel überliefert – mit der Krone auf einem Beistelltisch, der mit dem spanischen Königswappen dekoriert ist.¹⁵ Denselben Typus findet man auf einem Gemälde, welches 1706 von Johann Philipp Ruckenbauer für den Habsburgersaal des Chorherrenstiftes St. Florian geschaffen wurde.¹⁶
Europe. Circulations, échanges, regards croisés (Studia Habsburgica 1). Reims 2018, S. 79 – 92, Fig. 1– 29, hier Fig. 28 und 30. Polleroß, Spanien, S. 129 – 151, Abb. 3; Polleroß, Lamberg, S. 402, Abb. 379. Ölgemälde 154 x 122 cm: http://www.artnet.com/artists/austrian-school-18/der-junge-kaiserkarl-vi-1685 -1740-als-k%C3 %B6nig-von-D0D-_wl3j9CYZ2vx4YaX7w2. Rupert Feuchtmüller/Elisabeth Kovács (Hrsg.), Welt des Barock. Ausstellungskatalog. Linz 1986, Kat.-Nr, 14.15. (Abb.); Elisabeth Ollinger u. a.: Der Traum vom Weltreich. Österreichs unvollendeter Escorial. Klosterneuburg 1999, Kat.-Nr. 17.
Karl VI. im Porträt – Typen & Maler
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Die künstlerisch bedeutenderen späteren Gemälde der Neapolitaner Maler Niccolò Maria Vaccaro (1659 – 1720)¹⁷ und Francesco Solimena (1657– 1747)¹⁸ zeigen Karl hingegen in einem roten Samtmantel bzw. in einer Uniform und paraphrasieren damit nicht ein Vorbild der spanischen Habsburger, sondern ein Bildnis des Rivalen Philipp V.¹⁹, der die bunte französische Hoftracht am Madrider Hof eingeführt hat. Vermutlich sollten beide Gemälde nach der Rückeroberung Neapels ein Staatsporträt des Bourbonen ersetzen. Das Porträt Vaccaros und ein Gemälde in Wiener Privatbesitz zeigen Karl jedoch nicht in Hofkleidung, sondern mit Küriss, Waffenrock und Dreispitz; dabei scheint es sich um die Kleidung eines Artillerioffiziers zu handeln.²⁰ Während der Reise nach Spanien entstanden weitere Bildnisse: 1703 wurde Karl in Düsseldorf vom kurpfälzischen Hofmaler Jan Frans van Douven (1656– 1727) porträtiert²¹, und 1704 schuf der englische Hofmaler Sir Godfrey Kneller (1646 – 1723) ein ganzfiguriges Porträt des Habsburgers in Rüstung sowie mit Hermelinmantel für Königin Anna von Großbritannien, das sich in den königlichen Sammlungen erhalten hat²² und auch in einem Schabkunstblatt von John Smith reproduziert wurde²³. Der beim englischen Gemälde zu sehende Meeresausblick hinter dem gerüsteten Prinzen wurde bei einem anderen bedeutenden Gemälde dieser Thematik von Stampart gleichsam zum Hauptmotiv aufgewertet. Die Meeresansicht
Jaume Sobrequés i Callicó (Hrsg.), Catalunya i la Guerra de Successió. Ausstellungskatalog. Barcelona 2007, S. 98. Wolfgang Prohaska/Nicola Spinosa (Hrsg.), Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige. Ausstellungskatalog. Neapel 1993, S. 228 – 229, Kat.-Nr. 46. Vgl. das Gemälde von Miguel Jacinto Meléndez: Fernando Checa Cremades (Hrsg.), La Orden del Toisón de Oro y sus soberanos (1430 – 2011). Ausstellungskatalog. Madrid 2011, S. 212– 213. Vgl. Erich Gabriel: Die Bewaffnung des kaiserlichen Heeres zur Zeit des Prinzen Eugen, in: Karl Gutkas (Hrsg.), Prinz Eugen und das barocke Österreich. Salzburg/Wien 1985, S. 123 – 128, hier 128. Gerda Mraz: Prinz Eugen. Sein Leben, Sein Wirken. Seine Zeit. Wien/München 1985, S. 59 (Abb.); Arnold Houbraken: De groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, 3. Teil. Amsterdam 1721, S. 352: „Weinig jaren daar na, als Karel de tweede Koning van Spanje kwam te sterven, en de Aartshertog Karel van Oostenryk te Weenen tot Koning van Spanjen uitgeroepen werd, werd die van hem, als hy over Dusseldorp zyn reis nam, naar ’t leven afgeschildert, ook naderhand de Princes Elizabeth, Dochter des Hertogs van Brunswyk, die naderhand in ’t jaar 1709 tot den Keizerlyken troon verheven werd. Zoo dat Douven de eer heeft gehad van 3 Keizers. 3 Keizerinnen. 5 Koningen. 7 Koninginnen, en een groot getal van Vorsten en Princen naar ’t leven af te schilderen, waar door zyn konstroem verspreit, en zyn gouden oegst ingezamelt werd. Zeker het helpt veel tot een mans geluk, dat hy Konst bezit, en teffens zig by elk weet bemint te maken.“ Gemälde 239,5 x 148,3 cm: https://www.rct.uk/collection/404952/holy-roman-emperor-char les-vi-1685 -1740-when-archduke-charles. Wien, ÖNB Bildarchiv, PORT_00047232_01.
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auf dem monumentalen Gemälde des kaiserlichen Kammermalers wurde als der Hafen von Barcelona gedeutet und auf die Rückeroberung der katalanischen Hauptstadt im Jahre 1705 bezogen.²⁴ Dieser Zusammenhang muss aber meines Erachtens in Frage gestellt werden, da der Habsburger mit dem Erzherzogshut und damit offensichtlich vor der Ausrufung zum König im Jahre 1703 porträtiert wurde. Der Feldherrentypus wurde jedoch zumindest in der Graphik auch nach 1703 fortgeführt, wie ein anonymes Blatt aus dem Bildarchiv der Nationalbibliothek²⁵ verrät. Nach der Verlobung bzw. Vermählung des Jahres 1708 finden wir häufig auch Pendantporträts von Karl und seiner Gattin Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel.²⁶ Dies gilt etwa für die Rundbilder der Fürsten Esterházy in Forchtenstein²⁷ sowie für die Ovalgemälde im Czerninschen Schloss Jindřichův Hradec in Südböhmen (Abb. 2). Damals entstand außerdem das Gemälde des braunschweigischen Hofmalers Christoph Bernhard Francke (um 1665 – 1729), welches die angehende Königin von Spanien mit einer Büste ihres Gemahls zeigt.²⁸ Auf dem Gemälde im Rathaus in Stockerau wurde Karl wie in den oben gezeigten Beispielen in der schwarzen spanischen Tracht auf einem Ovalgemälde in der Hand seiner Gattin gemalt, während die Krone daneben erscheint.²⁹ Als Karl 1711 die Nachfolge seine Bruders auf dem Kaiserthron sowie als König von Ungarn und Böhmen antrat, kam es zu einer neuen Form des Staatsporträts, wobei in den meisten Fällen eine oder alle vier Kronen auf einem Tischchen die neue Machtfülle Karls veranschaulichen.³⁰ Das ikonographisch wichtigste Beispiel für das Kaiserporträt bildet das Gemälde von Johann Gottfried Auerbach und Jacob van Schuppen nach 1726. Es zeigt den Herrscher im liturgischen Ornat der Kaiserkrönung mit Alba, Stola und Dalmatica (Abb. 3), wie es naheliegender Weise auch Wien, KHM, GG 7508: Jaume Sobrequés i Callicó, Catalunya, S. 83. Wien, ÖNB Bildarchiv, PORT_00047204_01. Vgl. dazu auch die Luxusvariante in Form der Marmorreliefs der Gebrüder Strudel: Manfred Koller: Die Brüder Strudel. Hofkünstler und Gründer der Wiener Kunstakademie. Innsbruck/Wien 1993, S. 189 – 195. Mit Gegenstück von Elisabeth Christine: Stefan Körner: Burg Forchtenstein. Tresor der Fürsten Esterházy. Wien 2009, S. 111 (Abb.). Zu diesem Maler siehe Paul Jonas Meier: Bernhard Christoph Francken. Ein braunschweigischer Bildnismaler im 1. Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig 14, Wolfenbüttel 1916, S. 100 – 112. Simon Fischer: Das Rathaus Stockerau: zwischen bürgerlichem Selbstverständnis und landesfürstlicher Herrschaftslegitimation; ein Fallbeispiel für die neuzeitliche Rathäuserlandschaft in Niederösterreich. Dipl.-Arb. Wien 2013, S. 47– 48. Zur Thematik der unterschiedlichen Herrschaften siehe Friedrich Polleroß: Kaiser, König, Landesfürst: Habsburgische „Dreifaltigkeit“ im Porträt, in: Andreas Beyer/Ulrich Schütte/Lutz Unbehaun (Hrsg.), Bildnis, Fürst und Territorium (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur 2). München/Berlin 2000, S. 189 – 218. Siehe auch den Beitrag von Sandra Hertel in diesem Band.
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Abb. 2: Erzherzog Karl als spanischer König, Ölgemälde eines unbekannten Malers, um 1705/ 1708; Jindřichův Hradec, Schloss Hradec.
auf dem Kupferstich des Kaisers im 1737 veröffentlichten Handbuch „Teutsches Staatsrecht“ von Johann Jacob Moser abgebildet wurde.³¹ Das eindrucksvolle Porträt diente allerdings „nur“ für den Festsaal der kaiserlichen Akademie, der damals im Palais des Akademiepräsidenten Gundacker Graf Althann (1665 – 1747) eingerichtet worden war.³² Erst 1739 wurde um 150 Gulden eine Kopie davon für das
Johann Jacob Moser: Teutsches Staats-Recht, 1. Theil, Nürnberg 1737, ad pag. 431. Schreiden, Van Schuppen, S. 81, Kat.-Nr. 49, Abb. 56; Elfriede Baum: Katalog des Österreichischen Barockmuseums im Unteren Belvedere in Wien. Wien/München 1980, S. 48 – 49, Kat.-
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„Ratszimmer“ des 1738 vollendeten Rathauses in Stockerau angefertigt, wie ein Brief im Akademiearchiv bestätigt.³³ Später oder zusätzlich wurde der Herrscher meist mit dem spanischen Mantelkleid aus Goldbrokat und mit einem Federnhut porträtiert. Eindeutig signiert und datiert ist das Gemälde des Joanneums von Johann Gottfried Auerbach aus dem Jahre 1737, welches Karl VI. mit blauen Federn, blauen Ärmeln und blauen Schuhmaschen zeigt.³⁴ In beiden Fällen wurde die Reichskrone als einziges Sinnbild des höchsten Amtes dargestellt. Eine Variante dieses Typus porträtiert den Herrscher mit blauen Federn, aber im schwarzen Mantelkleid. Ein hochwertiges Halbfigurenbildnis dieser Art kam offensichtlich nach dem Abschluss des Wiener Friedens von 1725 als diplomatisches Geschenk an König Philipp V. von Spanien und gilt als ein Werk von Auerbach.³⁵ Ebenfalls im schwarzen Mantelkleid, aber mit roten Federn erscheint der Kaiser auf dem gleichfalls Auerbach zugeschriebenen ganzfigurigen Gemälde aus dem Besitz der Fürsten von Anhalt-Bernburg im Belvedere um 1730.³⁶ Dieser Typus wurde auf Brustbildern der Auktionshäuser Lempertz und Dorotheum³⁷ kopiert bzw. paraphrasiert. Augenscheinlich wird hier neben dem Qualitätsunterschied der einzelnen Gemälde, sowie die Tatsache, dass Karl VI. nicht mit der ottonischen Kaiserkrone, sondern mit der heraldischen Kaiserkrone dargestellt wurde. In der zeitgenössischen Fachliteratur galt letztere als moderne Hauskrone: „Die Kaiserkrone existiert in zweifacher Form; antik, wie sie in Nürnberg verwahrt wird. Siehe Figur IX. & als moderne Hauskrone. Siehe Figur VIII, die erstmals verwendet wurde als Karl V. den französischen König Franz I. gefangen hielt und sich als Kaiser vom König unterscheiden wollte.“³⁸
Nr. 13; Jutta Götzmann: Kaiserliche Legitimation im Bildnis, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich, 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Essays. Dresden 2006, S. 256 – 271, Abb. 2. Karl Gutkas (Hrsg.), Prinz Eugen und das barocke Österreich. Ausstellungskatalog Schloss Hof/Niederweiden. Wien 1986, S. 71, Kat.-Nr. 1.74; Fischer, Stockerau, S. 39 f, 62 f, Abb. 22. Hans Ottomeyer/Jutta Götzmann/Ansgar Reiss (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Ausstellungskatalog Berlin. Dresden 2006, S. 194– 196, Kat.-Nr. III. 74; Barbara Kaiser: GesICHt und DU. Ausstellungskatalog. Graz 2018, S. 15 (Abb.). Carmen García-Frías Checa/Javier Jordán de Urríes y de Colina (Hrsg.), El retrato en las colecciones reales de patrimonio nacional de Juan de Flandes a Antonio Lopez. Ausstellungskatalog. Madrid 2015, S. 299 – 302. Stella Rollig/Georg Lechner (Hrsg.), Maria Theresia und die Kunst. Ausstellungskatalog. Wien 2017, S. 52– 53 (mit Gegenstück). Dorotheum, Auktion Kaiserhaus und Historica, 30. November 2017, Lot Nr. 7. „Corona Caesaris est duplex; antiqua, quae Norimbergae adservatur;Vid. Fig. IX. & domestica nova, vid. Fig.VIII., qua primum usus est Carolus V. cum enim Fransciscus I. Rex Galliarum clausa
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Abb. 3: Karl VI. im kaiserlichen Ornat, Ölgemälde von Johann Gottfried Auerbach und Jacques van Schuppen, nach 1726; Wien, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste.
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Seltener als die kaiserliche Ikonographie sind hingegen die Darstellungen von Karl VI. nur als König von Ungarn³⁹ bzw. als König von Böhmen⁴⁰, wenn dies aus dem spezifischen Kontext des Auftraggebers oder Präsentationsortes gewünscht war. Ein Staatsporträt Karls als böhmischer König sowie ein Gegenstück seiner Gattin im monumentalen Format von 320 x 165 cm wurde vermutlich von Auerbach um 1732 angefertigt – bezeichnenderweise für das Schloss Eckartsau des böhmischen Obersthofkanzlers Franz Ferdinand von Kinsky (1678 – 1741).⁴¹ Eine halbfigurige Variante dieses Porträts in Warschau gilt wohl zurecht als Werk von Kupetzky⁴² (Abb. 4). Vermutlich schon vor der Prager Krönung im Jahre 1723 war ein Gemälde entstanden, welches Karl VI. in Rüstung sowie mit verzeichneter Reichskrone zeigt, aber den Ausblick auf die Prager Karlsbrücke freigibt. Von Karl VI. im ungarischen Krönungsornat existiert ein Staatsporträt von Johann Jacob Matern di Cilano (1687– 1777), das 1728 vom Bürgermeister der Stadt Bratislava, Johann Christoph Burgstaller (1674– 1758) in Auftrag gegeben wurde⁴³ (Abb. 5). Es handelt sich offensichtlich um die Kopie eines 1712 vom Wiener Hofmaler Jakob Mich(e)l angefertigten Originals. Außerdem kennen wir drei Miniaturen mit etwas
uteretur, Caesaream à Regia distingui voluit.“ (Ludwig Debiel S.J.: Ars Scutaria. Honori (….) Dominorum Baccalaureorum. Wien 1733, S. 55). Zu den Darstellungen der ungarischen Könige siehe Géza Galavics: Die Künstlerische Repräsentation der Habsburger Könige in Ungarn bis 1848, in: István Fazekas/Gábor Ujvary (Hrsg.), Kaiser und König. Österreich und Ungarn. Eine historische Reise. Ausstellungskatalog.Wien 2001, S. 9 – 18; Friedrich Polleroß: Austriacus Hungariae Rex. Zur Darstellung der Habsburger als ungarische Könige in der frühneuzeitlichen Graphik, in: Orsolya Bubryák (Hrsg.), „Ez világ, mint egy kert…“. Tanulmányok Galavics Géza tiszteletére. Budapest 2010, S. 63 – 78; Jana Luková/Martina Vyskupová: Portraits of Members of the House of Habsburg – Habsburg-Lorraine in the Collections of the Bratislava City Gallery. Ausstellungskatalog. Bratislava 2017. Zu den Krönungen und Darstellungen der böhmischen Könige siehe Benita Berning: „Nach alltem löblichen Gebrauch“. Die böhmischen Königskrönungen der Frühen Neuzeit (1526 – 1743) (Stuttgarter Historische Forschungen 6). Köln/Weimar/Wien 2008; Ivana Kyzourová/Vít Vlnas (Hrsg.), The Sceptre and the Crown: Charles IV and the Bohemian Royal Coronations. Ausstellungskatalog. Prag 2016. Wien, KHM, GG 8859 und 8858: Karl Fürst Schwarzenberg: Die Sankt Wenzels-Krone und die böhmischen Insignien. 2. Aufl.Wien/München 1982, Abb. 9 und 10; Štěpán Vácha/Irena Veselá/Vít Vlnas/Petra Vokáčová: Karel VI. a Alžběta Kristýna. Česká korunovace 1723. Praha/Litomyšl 2009, S. 423 – 425, Kat.-Nr. 1; Václav Bůžek/Rostislav Smíšek: Habsburkové 1526 – 1740: Země Koruny české ve středoevropské monarchii [Habsburger 1526 – 1740: Länder der tschechischen Krone in der mitteleuropäischen Monarchie]. Praha 2017, S. 538. Muzeum Narodowe w Warszawie, Inv.-Nr. 158374: http://cyfrowe.mnw.art.pl/dmuseion/doc metadata?id=21838&show_nav=true&full_screen=true. Luková/Vyskupová, Habsburg, S. 35 – 36.
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Abb. 4: Karl VI. als König von Böhmen, Ölgemälde von Jan Kupetzky (?), um 1725; Warschau, Muzeum Narodowe w Warszawie.
anderer Kleidung sowie eine Druckgraphik dieses Typus.⁴⁴ Das für die ungarische Krönung charakteristische Motiv des berittenen Herrschers auf dem Krönungshügel wurde hingegen nur auf einem Kupferstich im Imhoff‘schen „Bildersaal“ (Nürnberg 1733) sowie auf Medaillen festgehalten.⁴⁵
Robert Keil: Die Porträtminiaturen des Hauses Habsburg. Wien 1999, S. 34, Kat.-Nr. 13 und 14; Polleroß, Ungarn, S. 67, Abb. 6. Štefan Holčík/Jana Luková/Zuzana Francová: Coronation Festivities Bratislava / Krönungsfeierlichkeiten Preßburg 1563 – 1830. Bratislava 2015, S. 75 – 77 (Abb.); Gábor Ference Soltész/ Csaba Tóth/Géza Pálffy: Coronatio Hungarica in nummis. A magyar uralkodók koronázsási érmei és zsetonjaj (1508 – 1916). Budapest 2016, S. 176 – 196.
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Abb. 5: Karl VI. als König von Ungarn, Ölgemälde von Johann Jacob Matern di Cilano, 1728; Bratislava, Galerie der Stadt Bratislava.
Eine seit dem 16. Jahrhundert bei den österreichischen Habsburgern nicht mehr übliche Form der monumentalen Darstellung war jene im Ornat bzw. besser gesagt als Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies (Abb. 6), war doch dieses Amt seit Philipp II. mit der Würde des Königs von Spanien verbunden und wurde daher auch von Karl VI. beansprucht, während Philipp V. eine spanische Version des Ordens begründete. Mit diesem Bildnis folgte der Habsburger bewusst oder unbewusst dem Vorbild Karls II., dessen ganzfiguriges Gemälde von Juan Carreno de Miranda (1614– 1685) dem kaiserlichen Botschafter Ferdinand Bonaventura von Harrach
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1678 geschenkt worden war.⁴⁶ Neben dem lebensgroßen Gemälde im Heeresgeschichtlichen Museum existiert auch ein nur 53 x 43 cm großes Ölgemälde⁴⁷, das vielleicht als Vorlage für einen Kupferstich gedient haben könnte. Tatsächlich gibt es auch einen Kupferstich von Gustav Adolf Müller nach einem Grisaillegemälde von van Schuppen.⁴⁸ Die beiden Darstellungen besitzen einige Gemeinsamkeiten, wie das quadratische Format, die Raumbühne und die Form des Tisches. Auch die Faltengestaltung und die Stofflichkeit sind ähnlich, trotzdem wirkt das Farbgemälde insgesamt schwächer, so dass es schwerfällt, van Schuppen dafür verantwortlich zu machen. Die gleiche nicht nur visualisierte, sondern tatsächliche Monumentalität führt das 297 x 196 cm große Gemälde vor, das um 1730 datiert wird und den Herrscher im Ordensornat mit allen seinen Insignien zeigt: „Das Porträt geht auf eine mehrfach wiederholtes Bildnisaufnahme“ Auerbachs um 1730 zurück.⁴⁹ Für die Zuschreibung des Bildes an van Schuppen spricht jedoch nicht nur die malerische Qualität des Gemäldes, sondern auch der Fußpolster, den wir bereits beim früheren Staatsporträt des Akademiedirektors gesehen haben. Denn diese bei den Habsburgern an sich unbekannte Insignie ist das Kennzeichen für das sogenannte „lit de justice“, den Gerichts- bzw. Parlamentsthron der französischen Könige⁵⁰, und findet sich häufig in Verbindung mit der Darstellung des Herrschers als Souverän des Ordens vom Heiligen Geist.⁵¹ Von einem solchen Bildnis Ludwigs XIV. hatte der offensichtlich französisch geschulte Wiener Hofmaler das Motiv übernommen. Häufiger als im Vliesornat wurde Karl VI. hingegen mit Harnisch und Feldherrenstab vor dem Schlachtfeld porträtiert. Die älteste Form schließt an die spanischen Beispiele an. Das um 1715 entstandene Gemälde in Kuttenberg/Kutna Horta⁵² zeigt im Hintergrund eine brennende Stadt – auch in diesen Fällen dürfte damit Barcelona gemeint sein. Das Gemälde paraphrasiert ebenso wie das Porträt des Herrschers vor dem Schlachtfeld aus der Zeit um 1735, das vermutlich zurecht
Wien, KHM, GG 3464 (Leihgabe im HGM): Hermann Fillitz (Hrsg.), Tresors de la toison d’or. Ausstellungskatalog. Brüssel 1987, Kat.-Nr. 17 und 18; Checa Cremades, Toison, S. 174– 175. Wien, KHM, GG 9113: Silvano Cavazza (Hrsg.), Gorizia barocca. Una città italiana nell’impero degli Asburgo. Ausstellungskatalog. Gorizia 1999, Kat,-Nr. III/34, Abb. S. 122. Schreiden, Van Schuppen, S. 80, Kat.-Nr. 42 und S. 43, Abb. 49 und 50; S. 90, Kat.-Nr. 112 und 113, Abb. 121 und 122. Rotraud Bauer u. a.: Kunsthistorisches Museum Wien – Weltliche und Geistliche Schatzkammer. Bildführer. Wien 1987, S. 61– 62, Kat.-Nr. 60 (Karl Schütz; Abb.). Elizabeth A. R. Brown/Richard C. Famiglietti: The Lit de Justice. Semantics, Ceremonial, and the Parlement of Paris 1300 – 1600 (Beihefte der Francia 31). Sigmaringen 1994. Emanuel Coquery: Le portrait de Louis, in: ders. (Hrsg.), Visages du Grand Siècle. Le portrait français sous le règne de Louis XIV 1660 – 1715. Paris 1997, S. 74– 89, hier 77. Vácha, Karel VI., Taf. VIII.
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Abb. 6: Kaiser Karl VI. im Ornat des Ordens vom Goldenen Vlies, Ölgemälde von Johann Gottfried Auerbach (?), um 1725; Wien, Heeresgeschichtliches Museum.
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Auerbach zugeschrieben wird⁵³, vielleicht bewusst die Pose des Schlachtenporträts Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud aus dem Jahre 1694.⁵⁴ Möglicherweise erfolgte die Übernahme aber auch nicht direkt, sondern als rein künstlerischer Rückgriff auf das Rigaud‘sche Porträt des Kurprinzen Friedrich August II. von Sachsen von 1715.⁵⁵ Den Höhepunkt der Feldherrendarstellung bildete allerdings das Reiterporträt. Hier stand Karl VI. sowohl in der kaiserlichen als auch in spanischer Tradition, wie vor allem die Druckgraphik verrät.⁵⁶ Es existiert jedoch auch ein kleines Reiterbildnis um 1705 aus einer Serie mit Porträts von Leopold I., Ludwig XIV. und Prinz Eugen.⁵⁷ In der spanischen Tradition des Jugendbildnisses steht auch ein Reiterporträt des Herrschers im Kunsthandel, das als Gemeinschaftswerk von Auerbach mit dem Pferdemaler Johann Georg de Hamilton bezeichnet wird.⁵⁸ Durch die Initialen „P.V.B.“ für den Antwerpener Maler Pieter van Bloemen (1657– 1720) gesichert und 1719 datiert ist ein kleines Gemälde im Kunsthandel, welches den Kaiser im Harnisch auf dem Pferd und auf dem Schlachtfeld zeigt. Ein monumentales Gemälde dieses Typus scheint es jedoch – ebenfalls als Gegenstück zum Savoyer – nur im Kaisersaal des Stiftes St. Florian⁵⁹ zu geben. Hier trägt der Kaiser wieder ebenso wie auf dem frühen Brustbild eine Offiziersuniform mit Küriss, Stiefeln und Dreispitz⁶⁰ (Abb. 7). Die zuletzt genannte Darstellung bezieht sich ebenso wie das allegorische Reiterbildnis des Kaisers von Paolo de Matteis (1662– 1728) für Feldmarschall und
Walter Koschatzky (Hrsg.), Maria Theresia und ihre Zeit. Ausstellungskatalog.Wien 1980, Kat.Nr. 05.01 (Farbabbildung). Stéphan Perreau: Hyacinthe Rigaud 1659 – 1743. Le peintre des rois. Montpellier 2004, S. 87. Die Vermittlung könnte auch durch eine Miniaturkopie erfolgt sein: Unter einer Krone. Kunst und Kultur der sächsisch-polnischen Union. Ausstellungskatalog. Leipzig 1997, S. 289, Kat.Nr. 519. Polleroß, Spanien, S. 133, Abb. 5; Polleroß: Reiterbildnis, S. 91– 92, Abb. 28 – 29. Ausgestellt bei der Antiquitätenmesse in der Hofburg 2015. http://www.artnet.de/k%C3 %BCnstler/johann-gottfried-auerbach-and-johann-georg-de-ha milton/reiterbildnis-kaiser-karl-vi-acv-N9yXMjU_YgiweUL_cA2. Elisabeth Kovács: Die Apotheose des Hauses Österreich. Repräsentation und politischer Anspruch, in: Feuchtmüller/Kovács (Hrsg.), Welt, S. 53 – 86, hier 81– 83 (Abb.); Werner Telesko/ Friedrich Buchmayr: Der „Marmorsaal“ im Augustiner-Chorherrenstift St. Florian. Die Verherrlichung des Türkensiegers Kaiser Karl VI. im Lichte schriftlicher und bildlicher Quellen, in: Jb Oö Mv 158 (2013), S. 211– 258. Die gleiche Uniform findet sich auf dem Grazer Thesenblatt von Wolfgang Kilian von 1727: Gregor Martin Lechner/Bernhard Rameder: Österreichs Glorie am Trogerhimmel: die Göttweiger Kaiserstiege. Zum 250. Todesjahr Paul Trogers (1698 – 1762). Ausstellungskatalog. Göttweig 2012, S. 249 f., Kat.-Nr. P 223.
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Vizekönig Wirich Graf Daun⁶¹ auf den Sieg der kaiserlichen Armee über die Türken 1716 bei Peterwardein und 1717 bei Belgrad. Das Reiterporträt des Herrschers von Johann Gottfried Auerbach und Johann Georg von Hamilton in der Winterreitschule der Hofburg um 1735 hat hingegen weniger mit den kriegerischen Ambitionen des Herrschers zu tun, sondern muss wohl als Gründungsbild für den Neubau dieser Institution verstanden werden. Ungewöhnlicher ist es hingegen, dass Karl VI. auf dem von Francesco Solimena und Johann Gottfried Auerbach 1728 geschaffenen Gemälde der neu eingerichteten kaiserlichen Gemäldegalerie in der Stallburg ebenfalls mit der nicht gerade zur Kunstförderung passenden Rüstung erscheint.⁶² Möglicherweise haben wir es hier mit einer bewussten Visualisierung des für Karls Kunstpolitik zentralen Motto „con arma et litterae“ zu tun.⁶³ Und tatsächlich gibt es nicht wenige Gemälde, die den Typus des traditionellen Staatsporträts mit Baldachin und Insignientischchen aufgreifen, aber den Herrscher statt im Ornat oder Mantelkleid im Harnisch und mit Feldherrenstab zeigen. Ein frühes Beispiel dafür bietet das Gemälde von Philippe van Roy für das Rathaus in Brüssel, eine spätere Darstellung verkörpert das Auerbach zugeschriebene Gemälde des Schwarzspanierklosters⁶⁴ (Abb. 8).Selten sind hingegen die Darstellungen Karls VI. als Jäger: nachweisbar sind ein halbfiguriges Porträt im Jagdkostüm im Kunsthandel sowie ein ganzfiguriges Beispiel aus dem Kunsthistorischen Museum (Abb. 9). Dazu gibt es auch ein Gegenstück von Elisabeth Christine. Weitere Jagdporträts des kaiserlichen Ehepaares haben sich in Zagreb erhalten.⁶⁵ Auch kaiserliche Jagden in der Steiermark wurde in mehreren Gemälden dokumentiert: ein 169 x 122 cm großes Grisaillegemälde von Johann Veit Hauck (1663 – 1746) des Kunsthistorischen Museums stammt aus dem Jagdschloss
Wolfgang Prohaska/Nicola Spinosa (Hrsg.), Barock in Neapel. Kunst zur Zeit der österreichischen Vizekönige. Ausstellungskatalog. Neapel 1993, S. 158 – 159, Kat.-Nr. 13. Gudrun Swoboda/Robert Wald: Solimenas Dedikationsbild von 1728 und seine Überarbeitung in Wien, in: Gudrun Swoboda/Sabine Haag (Hrsg.), Die Galerie Kaiser Karls VI. in Wien. Solimenas Widmungsbild und Storffers Inventar (1720 – 1733). Wien 2010, S. 46 – 61. Franz Matsche: Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des „Kaiserstils“ (Beiträge zur Kunstgeschichte 16). 2 Bde. Berlin/New York 1981; Friedrich Polleroß: „Monumenta Virtutis Austriacae“. Addenda zur Kunstpolitik Kaiser Karls VI., in: Markus Hörsch/Elisabeth Oy-Marra (Hrsg.), Kunst, Politik, Religion. Studien zur Kunst in Süddeutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei. Festschrift für Franz Matsche. Petersberg 2000, S. 99 – 122; Friedrich Polleroß: Augusta Carolinae Virtutis Monumenta. Zur Architekturpolitik Kaiser Karls VI. und seiner Programmatik, in: Stefan Seitschek u. a. (Hrsg.), 300 Jahre Karl VI. 1711– 1740. Spuren der Herrschaft des „letzten“ Habsburgers. Wien 2011, S. 218 – 234. Julia Strobl: Die Wiener Schwarzspanierkirche und ihre barocke Ausstattung. Masterarbeit Wien 2016, S. 107 und 109 – 110, Abb. 89. Marijana Schneider: Portreti 16 – 18. Stoljeća. Zagreb 1982, S. 35 – 36.
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Abb. 7: Reiterporträt Kaiser Karls VI., Ölgemälde eines unbekannten Malers, um 1730; St. Florian, Augustinerchorherrenstift, Marmorsaal.
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Eckartsau⁶⁶; der Grazer Hofmaler schuf um 1728/30 außerdem ein Gemälde der Gamsjagd am Reiting bei Leoben, eine „Hetzjagd von Hasen“, ein „Eingestelltes Jagen“ bei Strechau sowie eine „Wildschweinjagd bei Ehrnau“.⁶⁷ Einige Dokumentationsbilder gibt es auch von der böhmischen Krönungsreise, wobei die Sitzung des Landtages das interessanteste ist.⁶⁸ Allgemein bekannt ist hingegen das Bild von der öffentlichen Tafel mit dem Hochzeitspaar Maria Theresia und Franz Stephan von Lothringen aus dem Jahre 1736, wo der Kaiser ebenso wie auf dem böhmischen Gemälde an den roten Federn seines Hutes deutlich in der Menge erkennbar ist.⁶⁹ Vom Hochzeitsgruppenporträt ist es nicht weit zum Familienporträt. Dieses ist im allgemeinen Bewusstsein mit Maria Theresia und ihrem Hofmaler Martin van Meytens verbunden. Aber die Anfänge erfolgten bereits 1730 als van Meytens ein Miniaturporträt von Karl VI. und seiner Familie schuf (Abb. 10), das dem Kaiser so gut gefiel, dass er ihn gleich zum Kammermaler ernannte: „Die kayserl. Majestäten trugen ihm auf ihre Portraits, nebst der drey Erzherzoginnen ihres auf einer einzigen Tafel in Miniatur zu verfertigen. […] Der Kayser hatte eine so grosse Freude über diese Arbeit, dass er dem Künstler sogleich das Dekret, als Kammermaler anfertigen liess.“⁷⁰ Von der Aufbahrung des Kaisers gibt es meines Wissens nach ebenfalls nur Miniaturen.⁷¹Abschließend seien noch einige kaum bekannte Allegorien vorgestellt. Vermutlich erst mehrere Jahre nach der Prager Krönung von 1723 entstand eine allegorische Darstellung dieses Staatsaktes: Karl VI. und Elisabeth Christine thronen mit einer kaiserlichen Krone unter einem Baldachin mit Doppeladler und erwarten die Kronen Böhmens (Abb. 11). Dahinter segnet ein Bischof – vielleicht der Hl. Adalbert von Prag – mit einem Kelch das Kaiserpaar, während Fama und Saturn ewigen Ruhm verkünden.⁷²
Günther Heinz/Karl Schütz: Porträtgalerie zur Geschichte Österreichs von 1400 bis 1800. Wien 1976, S. 166, Kat.-Nr. 141. Victoria Redl: Johann Veit Hauckh. Ein steirischer Barockmaler (1663 – 1746). Diss. phil. Graz 1986, S. 24– 25. Vácha, Karel, S. 433 – 441; Bůžek/Smíšek, Habsburgkové, S. 459. Petra Kalousek: Das Zeremoniell unter Joseph I. und Karl VI., in: Hellmut Lorenz/Anna MaderKratky (Hrsg.), Die Wiener Hofburg 1705 – 1835. Die kaiserliche Residenz vom Barock bis zum Klassizismus (Veröffentlichungen zur Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg 3). Wien 2016, S. 320 – 325, Abb. 252. Leben Herrn Martin von Meytens (Augsburg 1770), in: Lisholm, Meytens, S. 119; Ilsebill Barta: Familienporträts der Habsburger. Dynastische Repräsentation im Zeitalter der Aufklärung. Wien/ Köln/Weimar 2001, S. 90, Taf. 1. Keil, Porträtminiaturen, S. 36, Kat.-Nr. 18. Dorotheum: Auktion Alte Meister, 18.04. 2012.
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Abb. 8: Kaiser Karl VI. im Harnisch, Ölgemälde von Johann Gottfried Auerbach (?), um 1725; Wien, Schottenstift.
Der aus Prag stammende und nach 1710 in Wien ansässige Maler Johann Michael Bretschneider (1656– 1729) malte 1712 auf einem heute im Stift Neukloster in Wiener Neustadt befindlichen Gemälde einen fiktiven Kaisersaal in Form eines prunkvollen Galerieraums mit einem Zyklus von fünf Szenen aus dem Leben Alexander des Großen nach Charles Lebrun sowie 16 Ovalporträts habsburgischer Kaiser mit ihren
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Abb. 9: Kaiser Karl VI. im Jagdkostüm, Ölgemälde eines unbekannten Malers, um 1725; Wien, Kunsthistorisches Museum.
Devisen (Abb. 12). Das Bildnis des regierenden Kaisers Karl VI. wird im Zentrum des Bildes unter einem Baldachin präsentiert.⁷³
Simone und Peter Huber: Johann Michael Bretschneiders Habsburger-Galeriebild im Stift Neukloster, Wiener Neustadt. Wiener Neustadt 2018.
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Abb. 10: Kaiser Karl VI. mit seiner Familie, Miniaturporträt von Martin van Meytens, 1730; Wien, Bundesmobilienverwaltung.
Eine solche Installation des Staatsporträts Karls VI. erfolgte um 1715 auch im Ständesaal des Rathauses in Brüssel als Abschluss einer Landesfürstengalerie. Gegenüber von Baldachin, Bildnis und Thron wurde eine Tapisserie von Urbain Leyniers nach Victor Janssens angebracht, die in allegorischer Form die Huldigung Flanderns vor Karl VI. vorstellt.⁷⁴
Duerloo, Netherlands, S. 473, Fig. 5.
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Abb. 11: Allegorie auf die Krönung von Karl VI. und Elisabeth Christine zu Königen von Böhmen, Ölskizze eines unbekannten Malers, Ausschnitt, Mitte 18. Jh. (?); Wien, Dorotheum.
Hofkammermaler und andere Porträtisten Die Stellung, Aufgabe und der Personalstand der kaiserlichen Hof-, Kammer- und/ oder Kabinettmaler ist trotz der grundlegenden Forschungen von Herbert Haupt⁷⁵ nach wie vor nicht klar zu differenzieren, da viele Künstler beide Titel erhielten und „Kabinettmaler“ wohl nur die Übersetzung der französischen Form von Kammermaler ist.⁷⁶ Und auch die Einträge in den Hofkammeramtszahlbüchern helfen nicht sehr viel weiter.⁷⁷ Wir finden folgende Kammermaler registriert:⁷⁸
Siehe zuletzt Herbert Haupt: Das Handwerk bei Hof, in: Michael Hochedlinger/Petr Mat’a/ Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Band 1/1 (MIÖG Ergänzungsband 62). Wien 2019, S. 227– 230. Allgemein zu diesem Stand siehe: Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1985; Dagmar Eichberger/Philippe Lorentz/Andreas Tacke (Hrsg.), Der
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Abb. 12: Allegorischer „Kaisersaal“, Ölgemälde von Johann Michael Bretschneider, 1712; Wiener Neustadt, Museum Neukloster.
Philibert von Ouden-Allen, bis 1715: der Utrechter Künstler (1635 – 1715) ist für seine Stadtansichten bekannt und erhielt unter Karl VI. nur mehr eine Pension.⁷⁹
Künstler zwischen Hof und Stadt. Petersberg 2017. Zur Situation in Wien Veronika Kaiser: Hofkünstler versus Hofmusiker. Zur sozialen Situation der bildenden Künstler und Musiker am Hof in Wien zur Zeit Karls VI. Dipl.-Arb. Wien 2009. Herbert Haupt: Kulturgeschichtliche Regesten aus den Kameralzahlamtsbüchern Kaiser Karls VI. Teil 1: Die Jahre 1715 bis 1719, in: MÖStA 38 (1985), S. 370 – 411; Herbert Haupt: Kunst und Kultur in den Kameralzahlamtsbüchern Kaiser Karls VI. Teil I: Die Jahre 1715 bis 1727 (MÖStA Erg.-Bd. 12). Wien 1993. Irene Kubiska-Scharl/Michael Pölzl: Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711– 1768. Eine Darstellung anhand der Hofkalender und Hofparteienprotokolle (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 58). Innsbruck/Wien/Bozen 2013. Haupt, 1715 – 1719, S. 376.
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Johann Adalbert Kratochwill, 1712 – 1731: der 1670 in Prag geborene Maler war laut Staatskalender für 1722 „Indianischer Cammer-Mahler“, also Spezialist für Lackmalereien.⁸⁰ Johann Friedrich Fischer Edler von Ehrenbach 1712– 1740: der vermutlich um 1680 im Herzogtum Sachsen-Eisenach geborene Künstler wurde am 1. April 1712 zum Kammermaler Karls VI. mit einer Jahresbesoldung von 1 000 Gulden ernannt; er wurde 1729 zum kaiserlichen Hofrat befördert und 1731 in den Reichsadelsstand erhoben; ab 1745 bekam er eine Pension ausbezahlt. 1741 erhielt er „wegen verferttigung deren königlichen portraiten“ 500 fl.⁸¹ Philipp Ferdinand von Hamilton, 1712– 1740: der 1664 in Brüssel geborene und 1750 in Wien verstorbene Tiermaler war seit 1. Januar 1702 Kabinett- und seit 1. Juli 1705 kaiserlicher Kammermaler mit einer Jahresbesoldung von 1 000 fl.⁸² Ignaz Heinitz von Heinzenthal, 1713 – 1740: Der Wiener (1657– 1742) wurde mit 1. Januar 1713 als kaiserlicher Kammermaler und Galerieadjunkt angestellt. Er ist für Tier- und Pflanzenporträts bekannt.⁸³ Johann Franz Hörl/Hard, 1717–?: der um 1653 in Böhmen geborene Maler heiratete 1700 die Witwe des kaiserlichen Hofmalers Matthias Heyinger, wurde 1717 zum Hofmaler ernannt, war aber offensichtlich nur als Theatermaler und Entwerfer von Trauergerüsten tätig.⁸⁴ Johann Anton Nägelein, 1718 – 1736: war ein bereits unter Joseph I. beschäftigter Porträtmaler. So heißt es in einer Rechnung der Ausgaben des Kaisers aus der geheimen Kammer für die Kunst im Jahre 1707: „Dem Antoni Negelein′, k. Cammer-Mahler à conto der Contrefaiten 300 fl“; im Jahre 1710: „Dem Antoni Negelein, k. Cammer-Mahler, à conto der in der k. geheimben Cammer gelieferten Porträts 150 fl.“⁸⁵
Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 13 (1865), S. 142. Haupt, 1715 – 1719, S. 403; Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 40. München/Leipzig 2004, S. 362; Herbert Haupt: Das Hof- und hofbefreite Handwerk im barocken Wien 1620 bis 1770. Ein Handbuch (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 46). Wien 2007, S. 415. Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 68. Berlin/New York 2011, S. 485 – 486; Haupt, 1715 – 1719, S. 404; Haupt, Handbuch, S. 481; Miklós Mojzer (Hrsg.), Zsánermetamorfózisok: világi műfajok a közép-europai barokk festészetben/ The metamorphosis of themes: secular subjects in the art of the Baroque in Central Europe. Ausstellungskatalog. Székesfehérvár 1993, S. 367. Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 71. Berlin/Boston 2011, S. 205 – 206; Haupt, 1715 – 1719, S. 404; Haupt, Handbuch, S. 494; Mojzer, Metamorphosis, S. 369. Haupt, 1715 – 1719, S. 405. Wurzbach, Lexikon, Bd. 20 (1869), S. 123.
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Johann Georg von Hamilton, 1720 – 1737: der um 1672 vielleicht in München geborene Tiermaler starb 1737 in Wien. Er führte den Titel eines Hof-, Kammerund Kabinettmalers.⁸⁶ 1698 malte er ein Reiterporträt Josephs I., später schuf er Gemälde für Laxenburg und Schönbrunn.⁸⁷ Johann Martin Rausch von Traubenberg, 1722 – 1740 ff.: der Kammermaler und Galerieinspektor (1698 – 1773) wurde 1743 zum Vormund der Kinder Auerbachs ernannt⁸⁸; er könnte also einer von dessen Mitarbeitern gewesen sein. Jakob van Schuppen 1722– 1740.⁸⁹ Abraham Godyn, 1722– 1740: der für seine Fresken in Prag bekannte Antwerpener Künstler (geb. um 1665, gest. nach 1724) gilt zwar in der älteren Literatur als Hofmaler „seiner kaiserlichen und katholischen Majestät“⁹⁰, aber hat entweder länger gelebt als bisher bekannt oder einen gleichnamigen Sohn gehabt. Maria Anna Kratochwill, 1723 – 1740: war ebenso wie ihr Ehemann Spezialistin für Lackmalerei. Johann Gottfried Auerbach, 1735 – 1740: der 1687 in Mühlhausen/Thüringen geborene Künstler soll 1716 nach Wien gekommen sein; 1728 malte er das Gesicht in Solimenas Galeriebild, wurde jedoch erst 1735 Hof- und 1741 Kammermaler. Zusätzlich erschwert wird die Zuschreibungsfrage, da Auerbachs Sohn Johann Karl (1723 – 1788) ebenfalls Porträtist war und ab 1737 bei van Meytens an der Akademie ausgebildet wurde.⁹¹ Maximilian Haindl/ Hannl, 1736 – 1740.⁹²
Aus dem vorangehenden Überblick wurde schon deutlich, dass bei vielen Gemälden die kunsthistorischen Zuschreibungen nicht gesichert sind und für mehrere Werke einfach Auerbach genannt wird, obwohl dieser erst 1735 als Hofmaler auf-
Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 68. Berlin/New York 2011, S. 378 – 379; Haupt, Handbuch, S. 480 – 481; Ludmila Ourodová-Hronková: Johann Georg de Hamilton ve službách Adama Františka ze Schwarzenbergu [Johann Georg von Hamilton im Dienste von Adam František von Schwarzenberg], in: Schwarzenbergové v české a středoevropské kulturní historii. Národní památkový ústav, územní odborné pracoviště v Českých Budějovicích. České Budějovice 2015, S. 229 – 250. Mojzer, Metamorphosis, S. 366 – 367. Haupt, Handbuch, S. 628. Siehe Anm. 3. Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 56. München/Leipzig 2007, S. 465 – 466. Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 5. München/Leipzig 1992, S. 619 – 620. Eduard A. Safarik: Künstler aus dem Umkreis von Johann Kupezky. Ausgewählte Werke, hrsg. von Zdeněk Kazlepka. Brno 2014, S. 17– 20.
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scheint und erst 1741 zum Kammermaler ernannt wurde.⁹³ Darüber hinaus wissen wir von drei Beispielen, wo dieser Künstler nur das Gesicht des Herrschers malte, während die Gesamtkomposition von van Schuppen, Hamilton bzw. Solimena stammt, d. h. wir müssen auch mit der Zusammenarbeit bzw. Arbeitsteilung zweier Künstler rechnen. Davon abgesehen gibt es auch bei den Wiener Hofmalern die Problematik von Werkstattmitarbeitern und Kopisten. Zwei Beispiele sollen dies veranschaulichen: Von den zahlreichen Bildnissen, die Karl VI. mit rotem Federnhut zeigen, stammt dasjenige im Linzer Landesmuseum aus dem Harrachschen Schloss Aschach, sodass es naheliegend wäre, Frans van Stampart als Maler zu vermuten. Ein nur in Details wie der Form des Tisches abweichendes Gemälde aus dem Jahre 1736 im Stift Klosterneuburg wurde hingegen von dem „bis dato unbekannten Maler Johann Nepomuk Kellner“ angefertigt, der hier „in der Manier“ des Hofmalers Auerbach arbeitete.⁹⁴ Tatsächlich stand Johann Gottfried Auerbach 1728 im freundschaftlichen Kontakt mit dem Kabinettmaler Johann Friedrich Fischer⁹⁵ sowie mit dem Maler Johann Baptist Glunck⁹⁶, und auch Kellner könnte nicht nur ein weiterer Kollege, sondern auch einer der Mitarbeiter im Atelier des Hofmalers gewesen sein. Methodisch stellt sich jedoch die Frage, ob das Linzer Gemälde ebenfalls von Kellner stammt, oder ob das Klosterneuburger Bild auf ein anderes Original zurückgeht bzw. der Kopist Kellner selbständig die Details verändert hat. Mit diesen wenigen Bemerkungen sollte wenigstens die Schwierigkeit einer stilistischen Aufarbeitung der höfischen Porträtmalerei zur Zeit Karls VI. aufgezeigt werden.
Haupt, Handbuch, S. 201– 202. Wolfgang Christian Huber (Hrsg.), Kirche – Kloster – Kaiserin. Maria Theresia und das sakrale Österreich. Ausstellungskatalog. Klosterneuburg 2017, S. 139, Kat.-Nr. K 1. Fischer wurde von 1714– 17 mit einem Jahresgehalt von 1 000 fl. (!) honoriert: Haupt, Hofamtszahlbücher, S. 371. Er ist vermutlich ident mit dem Miniaturmaler Josef Anton Fischer, der Karl VI. zwischen 1714 und 1721 porträtierte: Keil, Porträtminiaturen, S. 34. Haupt, Handbuch, S. 201.
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Ein Herrscher – viele Kronen Die Insignien als Teil der Herrscherrepräsentation Karls VI. und seiner Familie In historischen Herrscherdarstellungen gehören die Krönungsinsignien zum ikonografischen Repertoire der Porträtmalerei. Krone, Zepter und Reichsapfel sind Symbole königlicher Souveränität und Macht und stehen pars pro toto für die Königswürde selbst. Auch außereuropäische Kulturen verfügten über kronenähnliche Herrschaftssymbole, die den Führer eines Volkes oder Gebieter eines Landes auszeichneten. Ob auf historischen Darstellungen oder in den Hausmärchen des 19. Jahrhunderts, die in modernen Kinderbüchern fortleben: Ein König und eine Königin sind in erster Linie an ihren Kronen zu erkennen. Kronen haben jedoch im königlichen Alltag eine untergeordnete Rolle. Als Zeremonialobjekte werden sie meistens nur am Anfang der Herrschaft – bei der Krönung – und beim Tod eines Herrschers als Funeralkrone verwendet. Deutlich häufiger als tatsächlich auf dem Kopf des Monarchen und der Monarchin sind Kronen auf den Herrscherporträts zu sehen. Martin Warnke hat auf die Doppeleigenschaft von Herrscherbildnissen hingewiesen, die einerseits eine reale Person und ihre Charakterzüge und andererseits ein Amt und dessen Macht und Würde darstellten.¹ Diese Porträts fungierten als Stellvertreter für den abwesenden Souverän und garantierten die Präsenz seiner Autorität in allen Landesteilen. Daher waren die Bildnisse der realen Person gleichzeitig physisch ähnlich und idealisiert, repräsentierten sie doch nicht nur die Person des Herrschers sondern auch sein sakral überhöhtes, würdevolles Amt.² Im Folgenden soll die besondere Bedeutung der Kronen für die visuelle Inszenierung des Herrschers anhand der Bildnisse von Karl VI. und seiner Familie anschaulich gemacht werden. Bei den Habsburgern werden die machtpolitischen Intentionen der Darstellung von Kronen in ihrer bildlichen Herrscherrepräsen-
Martin Warnke: Herrscherbildnis, in: Uwe Fleckner/ders./Hendrik Ziegler (Hrsg.), Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 1: Abdankung bis Huldigung. München 2011, S. 481– 490, hier 482. Louis Marin: Das Porträt des Königs. Berlin 2005, S. 15; Stella Junger: Präsentation im Bildnis deutscher Fürsten des 18. Jahrhunderts. Sachsen-Polen, Bayern und Brandenburg-Preußen zwischen Absolutismus und Aufklärung (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe X, Bd. 6). Münster 2011, S. 4. Für die Habsburger Friedrich Polleroß: Kaiser, König, Lanndesfürst: Habsburgische „Dreifaltigkeit“ im Porträt, in: Andreas Beyer (Hrsg.), Bildnis, Fürst und Territorium (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur 2). München 2000, S. 189 – 218. https://doi.org/10.1515/9783110670561-017
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tation besonders deutlich, da sie in der Frühen Neuzeit über mehrere Kronen verfügten, denen in der zeremoniellen Praxis ganz unterschiedliche Funktionen zukamen. Jede Krone hat eine eigene Geschichte und Tradition, eine unterschiedliche sakrale Bedeutung und einen anderen Aufbewahrungsort; manche Kronen änderten ihr Aussehen, andere existierten nur in Gemälden und Druckwerken. Von den Kronen, die Karl VI. zu tragen im Laufe seines Lebens berechtigt war, hatte die mittelalterliche Kaiserkrone den höchsten Rang, sie war die bedeutendste Krone in der westlichen Christenheit. Die spanische und die ungarische Krone gehörten zu souveränen Königreichen, wohingegen die böhmische Krone mit der Kurfürstenwürde einherging und Teil des Heiligen Römischen Reiches war. Anders als die spanische Krone waren die böhmische und die ungarische heilige Kronen. Sie gingen zurück auf den heiligen Wenzel, bzw. den heiligen König Stephan, was beiden Kronen eine zusätzliche Würde verlieh. Insbesondere die ungarische Krone wurde im Königreich gesondert verehrt. Für drei der vier genannten Kronen – die Kronen Böhmens, Ungarns und des Reiches – sah die jeweilige Tradition des Landes eine eigenständige Krönung vor, bei der die Krone von einem Kirchenvertreter auf den Kopf des Herrschers gesetzt wurde. Diese Krönungen waren jeweils Teil eines festlichen Gottesdienstes und gingen mit der Salbung des Monarchen einher. Neben der spanischen galt noch für eine weitere Krone von Karl eine Ausnahme: den Österreichischen Erzherzogshut. Schon seine Bezeichnung als Hut relativiert die Bedeutung der Insignie für die Herrschaft in den Österreichischen Erblanden. Karl wurde wie alle anderen Habsburger vor ihm und seine Tochter nach ihm nicht mit dem Erzherzogshut „gekrönt“, der österreichische Herrschaftsantritt sah lediglich einen Gottesdienst und den Schwur der niederösterreichischen Landstände in der Wiener Hofburg vor.³ Der Erzherzogshut wurde zur Zeit Karls VI. lediglich für die Erbhuldigungszeremonien von seinem Aufbewahrungsort im Stift Klosterneuburg in die Wiener Hofburg gebracht und auch nicht vom österreichischen Landesherrn auf dem Kopf getragen. Er legitimierte die Huldigungszeremonie durch die niederösterreichischen Stände und symbolisierte den Schutz des Landes durch den hl. Leopold.⁴
William Godsey: Herrschaft und politische Kultur im Habsburgerreich. Die niederösterreichsiche Erbhuldigung (ca. 1648 – 1848), in: Roland Gehrke (Hrsg.), Aufbrüche in die Moderne. Frühparlamentarisumus zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus 1750 – 1850. Schlesien – Deutschland – Mitteleuropa (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 12). Köln/Weimar/Wien 2005, S. 141– 177. Ilse Schütz: Der Österreichische Erzherzogshut, in: Karl Holubar/Wolfgang Christian Huber (Hrsg.), Die Krone des Landes. Klosterneuburg und Österreich. Ausstellungskatalog. Wien 1996,
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Die spanische Krone Bei seiner Geburt am 1. Oktober 1685 als dritter Sohn aus der dritten Ehe Kaiser Leopolds I. war Erzherzog Karl zunächst nicht als zukünftiger Landesherr vorgesehen. Nach dem Tod des kinderlosen spanischen Königs Karls II. kam er jedoch als Erbe des Königreichs Spanien in Frage. Bereits lange vor dem absehbaren Aussterben der spanischen Linie des Hauses Habsburg hatte Leopold I. eigene Ansprüche gegenüber anderen europäischen Dynastien geltend gemacht. Trotz anders lautender Teilungsverträge zwischen Österreich und Frankreich hatte Karl II. zuletzt den Enkel Ludwigs XIV., Philipp von Anjou, zum Gesamterben seiner Reiche bestimmt.⁵ Am 8. Mai 1701 nahm Philipp V. die Huldigung der spanischen Würdenträger entgegen und wurde somit auch formal als spanischer König bestätigt.⁶ Am 12. September 1703 wurde Erzherzog Karl in der Retirada der Favorita in Wien als König Karl III. von Spanien proklamiert.⁷ Nachdem Karl die Entwicklung der militärischen Lage zunächst in Wien und dann in Lissabon abgewartet hatte, reiste er im August 1705 nach Barcelona. Nach kurzer Belagerung zog er am 7. November 1705 mit einem Triumphzug in die eroberte Stadt ein.⁸ 1706 konnte er seine Herrschaft in Katalonien ausbauen, doch trotz mehrmaliger Eroberung bedeutender kastilischer Städte gelang es ihm während des Erbfolgekriegs nicht, sich des ganzen Landes zu bemächtigen und als König anerkannt zu werden.⁹ Mit seiner Proklamation zum spanischen König musste Karl sich auch entsprechend inszenieren, um seinen Anspruch visuell zu untermauern. Schnell wurden Medaillen und Kupferstiche produziert, die Karl mit der Kette des Ordens
S. 55 – 62, hier 59; Anna Hedwig Benna: Hut oder Krone? Ein Beitrag zur Ikonographie des Erzherzoghutes, in: MÖStA 24 (1971), S. 87– 139, hier 126 – 127. Joaquim Albareda Salvadó: La guerra d Sucesión de España. Barcelona 2010, S. 46 – 64; Stefan Schmid: Der Spanische Erbfolgekrieg. Geschichte eines vergessenen Weltkriegs (1701– 1714). Köln/ Weimar/Wien 2011, S. 114. Zu den diplomatischen Bemühungen in Madrid am Ende des Lebens Karls II. etwa Joaquim E. López i Camps: La embajada espanola del conde Ferdinand von Harrach y la formación del austracismo, in: Friedrich Edelmayer/Virginia León Sanz/José Ignacio Ruiz Rodríguez (Hrsg.), Hispania-Austria III. Der Spanische Erbfolgekrieg (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 13). Wien/München 2008, S. 11−26. Ebd., S. 118. ÖStA, HHStA, OMeA, Zeremonialprotokolle 6, fol. 278r–279r. Bernd Rill: Karl VI. Habsburg als barocke Großmacht. Graz/Wien/Köln 1992, S. 65. Schmid: Der Spanische Erbfolgekrieg, S. 484– 491.Vgl. auch den Beitrag von Virginia León Sanz in diesem Band.
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vom Goldenen Vlies und der spanischen Krone zeigten.¹⁰ In diesen Darstellungen setzten die Künstler Insignien und Symbole der spanischen Königswürde ein, griffen dabei aber nicht direkt auf Traditionen und Topoi spanischer Königsporträts zurück. Im Spanischen Königreich hatten Krönungen und somit auch die traditionellen Krönungsinsignien seit dem Mittelalter keine Rolle mehr gespielt. In der Erbmonarchie wurde der Thronfolger automatisch zum König, sobald der Vorgänger starb, eine zeremonielle Investitur unterblieb in der Frühen Neuzeit. Aus dem Mittelalter sind einige Kronen erhalten geblieben, die den einzelnen Königreichen zuzuordnen sind, eine Krone für das erst durch Karl I., bzw. V. (1500 – 1558) vereinigte spanische Königreichs gab es hingegen nicht.¹¹ Auch auf den Staatsporträts und repräsentativen Gemälden der spanischen Könige im 16. und 17. Jahrhundert spielten Kronen keine große Rolle.¹² Philipp IV. ist auf den berühmten Gemälden seines Hofmalers Velázquez nie mit einer Krone, sondern in strenger spanischer Tracht mit anderen Symbolen seiner Herrschaftswürde, wie etwa einem Degen, Staatspapieren oder einem Harnisch dargestellt worden.¹³ Häufiger wurden die spanischen Könige in Kupferstichen mit einer Krone gezeigt. In diesen Werken entsprach die gezeichnete Krone der heraldischen Bügelkrone, die auch über dem königlich-spanischen Wappen zu sehen war und ist. Das spanische Wappen, welches die königliche Autorität und die Gesamtheit der einzelnen, vom spanischen König regierten Länder symbolisierte, spielte für die Repräsentation der Monarchie stets eine bedeutende Rolle.¹⁴ Es visualisierte das Selbstverständnis Spaniens in der Frühen Neuzeit, eine aus mehreren historischen Staaten zusammengesetzte Monarchie zu sein. Dazu gehörten auch die zahlreichen vom spanischen König regierten Länder außerhalb der iberischen Halbinsel.
Friedrich Polleroß: Hispaniarum et Indiarum Rex. Zur Repräsentation Kaiser Karls VI. als König von Spanien, in: Jordi Jané (Hrsg.), Denkmodelle. Akten des 8. spanisch-österreichischen Symposions 13.–18. Dezember 1999 in Tarragona. Tarragona 2000, S. 121– 175, hier 125. Regine Jorzick: Herrschaftssymbolik und Staat. Die Vermittlung königlicher Herrschaft im Spanien der frühen Neuzeit (1556 – 1598) (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 4). Wien/München 1998, S. 78 – 80. Vgl. z. B. Paulus Pontius, Bildnis des Philippo IV., 1632 (München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 30323 D). Javier Portús Pérez: Velázquez und die Rhetorik des höfischen Porträts, in: Sabine Haag (Hrsg.), Velázquez. Ausstellungskatalog. Wien/München 2014, S. 33 – 55. Jorzic, Herrschaftssymbolik und Staat, S. 95.
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Karl setzte das königlich-spanische Wappen jedoch in seiner visuellen Inszenierung nicht ein.¹⁵ Stattdessen trug er auf seinen Bildnissen als spanischer Thronprätendent die Collane des Ordens vom Goldenen Vlies, dem Hausorden der Habsburger (Abb. 1).¹⁶ Als spanischer König war er der Großmeister des Vliesordens und beanspruchte somit den traditionsreichen Orden für das Haus Österreich. Mit der Erbteilung zwischen Karl V. und Ferdinand I. 1521 wurde der burgundische Orden der spanischen Linie zugesprochen, galt aber als Hausorden der Casa d’Austria.¹⁷ Für Erzherzog Karl bedeutete die Ordenscollane somit deutlich mehr als nur die Inanspruchnahme eines Symbols der spanischen Königswürde: Die Collane bekräftigte den dynastischen Erbanspruch des Hauses Österreich in Spanien und verwies auf die älteren Rechte der Habsburger. Nach dem Verlust der spanischen Königswürde verzichteten die Habsburger auch nicht auf ihren Hausorden, sondern führten ihn als österreichische Linie weiter. Anders als bei den verbreiteten Porträts spanischer Könige stellte sich Karl als König Karl III. mit einer Krone dar, wobei die heraldische Bügelkrone als Vorlage fungierte. Ein Gemälde von Godfrey Kneller, das während Karls Aufenthalt in London im Auftrag von Königin Anne entstand¹⁸, zeigt den proklamierten König, wie er besitzergreifend die mit Edelsteinen besetzte Bügelkrone umfasst. Auch ein Kupferstich des Wiener Hofmalers Frans van Stampart porträtiert Karl mit der Bügelkrone im Hintergrund, der Ordenscollane und im typischen spanischen Mantelkleid mit Degen.¹⁹ Im Gegensatz zu den durch die Erbfolge legitimierten und politisch unangefochtenen Königen Spaniens suchte der österreichische Erzherzog nach einem zusätzlichen Mittel, seinen Anspruch und die politischen Konsequenzen seiner Proklamation in Wien visuell zu untermauern und seine Rechtmäßigkeit als König zu propagieren. Dass er dazu nicht auf das spanische Wappen, sondern auf die heraldische Bügelkrone zurückgriff, mag eine Reaktion auf die Inszenierung Philipps V. sein, der seit 1701 das spanische Wappen führte,
Vgl. zu den Porträts von Karl III. als spanischer König den Beitrag von Friedrich Polleroß in diesem Band. Pollero, Hispaniarum et Indiarum Rex, S. 131. Vgl. Leopold Auer: Der Übergang des Ordens an die österreichischen Habsburger, in: Das Haus Österreich und der Orden vom Goldenen Vlies. Beiträge zum wissenschaftlichen Symposium am 30.11. und 1.12. 2006 in Stift Heiligenkreuz. Graz 2007, S. 53 – 64; Fernando Checa Cremades (Hrsg.), La Orden del Toisón de Oro y sus soberanos (1430 – 2011), Ausstellungskatalog. Madrid 2011; Charles Terlinden: Der Orden vom goldenen Vlies (Die Kronen des Hauses Österreich 6).Wien 1970. Sir Godfrey Kneller, Holy Roman Emperor Charles VI., when Archduke Charles, c. 1704– 1705 (London, Royal Collection Trust, Inv.-Nr. 404952). Pieter van Gunst nach Frans van Stampart, Karl als spanischer König, 1703 (Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. RP-P-1967– 987); vgl. auch Polleroß: Hispaniarum et Indiarum Rex, S. 129 f., Abb. 3.
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Abb. 1: Karl III. als spanischer König, Kupferstich eines unbekannten Künstlers, o. D.; Wien, ÖNB Bildarchiv.
sich jedoch nicht mit einer Krone porträtieren ließ. Zudem war es in den Bildnissen der österreichischen Habsburger sehr verbreitet, die Kronen des Porträtierten an der Seite oder im Hintergrund zu zeigen. Hier versuchte Karl wohlmöglich die österreichischen mit den spanischen Traditionen zu verbinden. Dass zur visuellen Untermauerung seines Anspruchs auf die spanische Krone keine Krönung und noch nicht einmal eine real existierende Krone vonnöten war unterstreicht ein weiteres Mal die große propagandistische Funktion bildlicher Herrschaftsinszenierung.
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Karl VI. als Kaiser Mit dem Tod seines Bruders Joseph I. wurde Karl auch zu dessen Nachfolger im Heiligen Römischen Reich und bekleidete ab 1711 das würdevolle Amt eines Kaisers. In der Folge nahm dieser höchste Rang auch in seiner visuellen Repräsentation die größte Rolle ein. Mehrfach wurde Karl – ob in spanischer Hoftracht oder im Ornat des Ordens vom Goldenen Vlies – mit der Reichskrone Ottos des Großen dargestellt.²⁰ Am häufigsten ist Karl mit mehreren seiner Kronen porträtiert worden, wodurch auch seine weiteren Herrschaften symbolisiert wurden. Um seine kaiserliche Macht bildlich zu inszenieren wurde jedoch nicht nur die in Nürnberg aufbewahrte Reichskrone eingesetzt, sondern auch eine Mitrakrone. Eine solche Kronenform hat auch die berühmte Rudolfskrone, die von den Habsburgern ebenso als Hauskrone und ab 1804 als österreichische Kaiserkrone verwendet wurde.²¹ Zu sehen ist die Mitrakrone beispielsweise in einem Stich von Gottlieb Heiss, in der Karl VI. in einem habsburgischen Ahnentempel verherrlicht wird (Abb. 2).²² Minerva und Fortitudo bekrönen eine Büste Karls, der im Zentrum seiner kaiserlichen Vorfahren steht, mit einer Kaiserkrone unter dem Auge Gottes.²³ Die Krone ist jedoch nicht die Rudolfskrone, sondern eine heraldische Mitrakrone, die auch in anderen habsburgischen Herrscherdarstellungen Verwendung findet. Sie ist beispielsweise auch in einer Elfenbeinskulptur Karls VI. mit der Personifikation des Heiligen Römischen Reiches zu sehen, welche dem Kaiser auf einem Kissen eine Krone präsentiert.²⁴ Die Mitrakrone war in der Frühen Neuzeit ebenso wie die Reichskrone ein Symbol des Kaisertums, „da der Kaiser das Recht besaß, sich eines bischofsgleichen Ornates zu bedienen.“²⁵ In der heraldischen Darstellung besteht die Krone aus einem Bügel von der Stirn zum Nacken und zwei, sich zur Mitte hochziehenden Hörnern, die den Stoff einer bischöflichen Mitra nachahmen. Die Mitrakrone wurde zur Bekrönung des kaiserlichen Wappens schon seit dem
Vgl. z. B. Friedrich Hella, Karl VI., o.D. (Wien, Heeresgeschichtliches Museum, Inv.-Nr. 1468/ 2016). Hermann Fillitz: Die österreichische Kaiserkrone und die Insignien des Kaisertums Österreich (Die Kronen des Hauses Österreich 1). Wien/München 1959, S. 20. Gottlieb Heiss, Karl VI. als römisch-deutscher Kaiser, o.D. (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung, Inv.-Nr. NB 515645-B). Ilsebill Barta: Familienporträts der Habsburger. Dynastische Repräsentation im Zeitalter der Aufklärung (Mobiliendepot Sammlungsband 11). Wien/Köln/Weimar 2001, S. 41, Abb. 13. Matthias Steinl, Kaiser Karl VI. zu Pferd mit der Personifikation des Hl. Römischen Reiches, um 1711/1712 (Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. KK 4664). Fillitz, Die österreichische Kaiserkrone, S. 21.
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Abb. 2: Karl VI. als römisch-deutscher Kaiser, Kupferstich von Gottlieb Heiss, o. D.; Wien, ÖNB Bildarchiv.
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Spätmittelalter verwendet. Zur Propagierung der kaiserlichen Würde der habsburgischen Dynastie ließ Rudolf II. seine Hauskrone der Form einer Mitrakrone anpassen, zudem vereinigte die Krone durch die Darstellungen der Krönungen Rudolfs in Frankfurt, Pressburg und Prag sämtliche königliche Würden des Monarchen.²⁶ Anders als die Reichskrone, die von der Reichsstadt Nürnberg aufbewahrt und nur zur Wahl und Krönung des römischen Kaisers, bzw. Königs verwendet wurde,verkörperte die von den Habsburgern beauftragte und behütete Mitrakrone somit den programmatischen Anspruch der Domus Austriaca auf die Kaiserwürde. Dass die Rudolfskrone dabei nicht als Äquivalent für die Reichskrone gesehen wurde, verdeutlicht ein Porträt Kaiser Karls vom Hofmaler Johann Gottfried Auerbach (vgl. Abb. 6 im Beitrag von Friedrich Polleroß). Im Hintergrund sind sowohl die Nürnberger Reichskrone, als auch die Rudolfskrone deutlich zu erkennen. Es handelt sich dabei wohl um das einzige Porträt eines Habsburgers, das beide Kronen nebeneinander zeigt. Die Mitrakrone wurde aber nicht nur für die Inszenierung des Kaisers verwendet, sondern ist auch auf Porträts der Kaiserin Elisabeth Christine, seiner Gemahlin, zu sehen. Zwei von Johann Gottfried Auerbach als Pendants angefertigte, großformatige Gemälde des Kaiserpaares zeigen neben beiden Personen eine heraldische Mitrakrone und einen Reichsapfel auf einem roten Kissen. Im Gegensatz zu Kaiser Karl hält Elisabeth Christine kein Zepter in der Hand, da sie als Kaiserin keine juristischen und politischen Herrschafts- und Regierungsbefugnisse besaß, diese standen nur ihrem Mann als gewähltem und gekrönten Kaiser zu. Dennoch ist auch Elisabeth Christine, dem Krönungsordo des Heiligen Römischen Reiches entsprechend, mit der Nürnberger Kaiserkrone gekrönt worden.²⁷ Eben jene Krone wurde daher auch in Porträts der Kaiserin als Insignie ihres Titels und ihrer Würde verwendet.²⁸
Die „österreichischen“ Kronen In dem Moment, als Karl seinen verstorbenen Bruder Kaiser Joseph I. beerbte, wurde er auch Landesherr der Österreichischen Erblande sowie König von Böh-
Ebd., S. 22– 23. Katrin Keller: Frauen und dynastische Herrschaft. Eine Einleitung, in: Bettina Braun/dies./ Matthias Schnettger (Hrsg.), Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit (VIÖG 64). Wien 2016, S. 13 – 26, hier 25. Johann Gottfried Auerbach, Kaiserin Elisabeth Christine, 1731 (Bayerische Schlösserverwaltung, Eremitage Bayreuth).
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men und von Ungarn. Dementsprechend wurden von ihm Gemälde, Stiche, Medaillen und Münzen mit den Insignien dieser beiden Königreiche angefertigt. Häufig wurden Porträts mit nur einer der beiden Kronen für die Institutionen der jeweiligen Länder angefertigt. Sie zeigten dann lediglich Karl als Landesherrn und symbolisierten seine politische und juristische Bedeutung für das einzelne Königreich, nicht jedoch den österreichischen Landesherrn oder seine Funktion als Kaiser. Auch ließen sich ungarische und böhmische Adelige, die in einem politischen oder persönlichen Naheverhältnis zu Karl standen, gerne Porträts ihres Herrn mit der entsprechenden Krone anfertigen, um dadurch ihre persönliche Bedeutung für das ungarische oder böhmische Königreich zum Ausdruck zu bringen. Ein Gemälde in Schloss Eckartsau in Österreich zeigt Karl als König von Böhmen im Krönungsornat (Abb. 3), wobei er – wie bei den Krönungsfeierlichkeiten in Prag – die Krone auf dem Kopf trägt.²⁹ Etwas versteckt wurde auf dem Tisch neben ihm auch die Kaiserkrone, nicht aber die ungarische Krone dargestellt. Da Karl als böhmischer König ein Kurfürst und in Personalunion Reichsoberhaupt war, stellt dieses Porträt seine beiden Machtpositionen im Reich in den Mittelpunkt. Weder die österreichische Landesherrschaft noch das souveräne Königreich Ungarn spielen dabei eine Rolle, denn Karl inszenierte hier seinen Anteil an der Gesamtheit des Reiches und der Stabilität der Reichsverfassung. Im Pendant-Gemälde wurde auch Elisabeth Christine mit der böhmischen Krone auf dem Kopf und der Reichskrone im Hintergrund dargestellt, sie verweist darauf mit ihrer linken Hand ebenfalls direkt auf die zentrale Insignie des Reiches. Somit kam der jeweiligen Krone bei der Darstellung des Herrscherpaares eine gleich große Bedeutung zu. Die Krone verwies hier, ähnlich wie bei der Mitrakrone auf den beiden Pendant-Gemälden, auf die königliche Würde, den Rang und den Titel einer Person, nicht unbedingt jedoch auf die tatsächlichen Herrschaftsbefugnisse. Zur Unterscheidung vom selbstherrschenden Monarchen und dem angeheirateten Partner wurden andere Mittel in der visuellen Inszenierung eingesetzt. Deutlich wird dies, wenn die Betonung von Tradition und Kontinuität in der visuellen Repräsentation des Hauses Habsburg bei Karls Erbin Maria Theresia betrachtet wird. Maria Theresia war eben nicht nur die Gemahlin eines Herrschers – das war sie nur in ihrer Funktion als Kaiserin – sondern selbstherrschende Königin von Böhmen und Ungarn. Dies wurde in ihrem Titel, in der bildlichen und
Zu böhmischen Krönungen in der Frühen Neuzeit vgl. Benita Berning: „Nach alltem löblichen Gebrauch“. Die böhmischen Königskrönungen der Frühen Neuzeit (1526 – 1743) (Stuttgarter Historische Forschungen 6). Köln/Weimar/Wien 2008.
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Abb. 3: Karl VI. als König von Böhmen, Ölgemälde von Martin van Meytens, 1730; Wien, Kunsthistorisches Museum.
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textlichen Repräsentation und insbesondere im jeweiligen Krönungszeremoniell deutlich zum Ausdruck gebracht.³⁰ Auch ihr Krönungsbild³¹ als böhmische Königin orientierte sich ausschließlich an dem Porträt ihres Vaters, dessen Herrschaftsbefugnisse sie erbte, und nicht am Porträt der böhmischen Königin Elisabeth Christine. Martin van Meytens übernahm die Körper- und Kopfhaltung, den Krönungsmantel und die Platzierung der Insignien und stellte Maria Theresia in eine ungebrochene Kontinuität zu Karl VI., wodurch die Huldigung der böhmischen Stände für den Wittelsbacher Karl VII. durch die Habsburger ostentativ ignoriert wurde. Auffällig ist hier, dass anders als auf Karls Porträt die ungarische Stephanskrone neben Maria Theresia zu sehen ist. Außerdem ist dieses Porträt eines der wenigen, die Maria Theresia mit der Reichskrone zeigen, obwohl sie zur Zeit der böhmischen Krönung im Jahr 1743 noch nicht Kaiserin war. Die Reichskrone könnte hier als Anspruch des Hauses bewusst im Gemälde verblieben sein, da diese bereits in Karls Porträt die böhmische Kurwürde mit der Kaiserwürde schicksalshaft verband. Die Stephanskrone war zu diesem Zeitpunkt die höchste Würde Maria Theresias, auch spielte das Königreich Ungarn gerade in der Anfangsphase der Regierung eine bedeutende Rolle im Österreichischen Erbfolgekrieg. Sie verweist auch auf eine weitere, programmatische Botschaft des Bildes und auf Maria Theresias Ziel im Erbfolgekrieg, nämlich die in der Pragmatischen Sanktion festgeschriebene Unteilbarkeit der habsburgischen Länder wieder herzustellen und die – in zeitgenössischen Quellen so bezeichneten – „österreichischen Kronen“³² wieder zu vereinen. Anders als unter Maria Theresia spielte der österreichische Erzherzogshut in der visuellen Repräsentation von Karl VI. eine eher untergeordnete Rolle. Diese
Zu den Titeln vgl. Regina Dauser: Ehren-Namen. Herrschertitulaturen im völkerrechtlichen Vertrag 1648 – 1748 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 46). Köln/Weimar/Wien 2017, S. 265 – 267; Eduard Holzmair: Maria Theresia als Trägerin ʻmännlicherʼ Titel. Eine numismatische Studie, in: MIÖG 72 (1964), S. 122 – 134. Zum Zeremoniell vgl. Berning: Die böhmischen Königskrönungen, S. 179 – 185; Sandra Hertel: Maria Theresia als ʻKönig von Ungarnʼ im Krönungszeremoniell in Preßburg (1741), in: Frühneuzeit-Info 27 (2016), S. 110 – 123; Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Eine Kaiserin in ihrer Zeit. München 2017, S. 86 – 89. Martin van Meytens (?), Maria Theresia als Königin von Böhmen, nach 1745 (KHM, GG 2590), siehe Werner Telesko/Sandra Hertel/Stefanie Linsboth (Hrsg.), Die Repräsentation Maria Theresias. Herrschaft und Bildpolitik im Zeitalter der Aufklärung (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 19). Wien/Köln/Weimar 2020, S. 456, Taf. 4. Aufgrund der abgebildeten Reichskrone wird das Bild auf 1745 und später datiert, es könnte aber ebenso bereits 1743 produziert worden sein. ÖStA, HHStA, Haus A, Ministerium des kaiserlichen Hauses, Titel und Wappen 1, Konv. 3, fol. 27r.
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Insignie war vor allem der Darstellung seiner Schwestern, den geborenen Erzherzoginnen, vorbehalten. Karls ältere Schwester Maria Elisabeth, die von 1725 bis 1741 Statthalterin der Österreichischen Niederlande war, wurde bereits als Kind mit dem Klosterneuburger Hut porträtiert. Er wies sie als Mitglied des „allerhöchsten Erzhauses“ aus und definierte ihr Kapital auf dem dynastischen Heiratsmarkt. Da sie zeitlebens unverheiratet blieb, konnte sie sich als Statthalterin ihres Bruders weiterhin mit dem Landessymbol des Hauses Österreich inszenieren, meistens gemeinsam mit dem österreichischen Bindenschild.³³
Fazit Die Inszenierung Karls VI. mit seinen Kronen ist keinesfalls Zufall, sondern gibt Auskunft über das politische Verständnis des Herrschers und sein jeweiliges Verhältnis zu den einzelnen Teilen seines Reiches. Nach dem Verlust Spaniens, der als Karls Lebenstrauma angesehen werden kann, bevorzugte Karl keines seiner Länder, sein Interesse galt der Sicherung ihrer Unteilbarkeit. Zwar hatte die Reichskrone den höchsten Rang und spielte demnach auch eine wichtige Rolle in seiner Inszenierung, doch auffällig ist die große Präsenz der Mitrakrone in seinen Porträts und Stichen. Sie symbolisiert das Programm seines wahrscheinlich wichtigsten Gesetzes, nämlich der Pragmatischen Sanktion.³⁴ In dieser manifestierte Karl nur in weiterer Konsequenz die weibliche Erbfolge für die Österreichischen Erblande und die dazu gehörenden Königreiche, in erster Linie war dieses Dokument die Erklärung der Unteilbarkeit seiner Länder. Im Zuge der Anerkennung dieses Gesetzestextes wurde nach Böhmen auch Ungarn endgültig in eine Erbmonarchie umgewandelt. Dieser Prozess war im Reich, einer Wahlmonarchie, nicht durchführbar, hier war der unbegrenzte Zugang zur Krone und die weibliche Erbfolge dem Haus Habsburg verschlossen. Die rudolfinische Hauskrone – die in ihrer Form auf die kaiserliche Würde verweist, aber auch die Krönungen in Böhmen und Ungarn darstellt – vereint jedoch all jene Würden und Titel, die die Habsburger im Verlauf der Frühen Neuzeit anhäufen konnten. Dadurch entsprach sie nicht nur den Absichten der Pragmatischen Sanktion, son-
Vgl. etwa den unsignierten Kupferstich: Maria Elisabeth, Erzherzogin von Österreich, o.D. (ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung, PORT_00047506_03). Vgl. Wilhelm Brauneder: Die Pragmatische Sanktion als Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713 bis 1918, in: Helfried Valentinitsch (Hrsg.), Recht und Geschichte. Festschrift Hermann Baltl zum 70. Geburtstag. Graz 1988, S. 51– 84; Irmgard Pangerl: Die Pragmatische Sanktion und ihre Folgen, in: Elfriede Iby/Martin Mutschlechner/Werner Telesko/Karl Vocelka (Hrsg.), Maria Theresia 1717– 1780. Strategin – Mutter – Reformerin. Ausstellungskatalog. Wien 2017, S. 57– 63.
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dern auch dem Anspruch des Hauses, stets den Kaiser stellen zu können. So ist es kein Wunder, dass die Mitrakrone auch in der Inszenierung von Karls Tochter Maria Theresia eine Rolle spielt, war es doch ihre zentrale Aufgabe, die habsburgischen Länder und Titel unter weiblicher Führung zu verteidigen und zusammen zu halten.³⁵
Vgl. Sandra Hertel: Ein einzigartiges Erzhaus. Das Geschichtsbewusstsein Maria Theresias und ihre Herrschaftstitel, in: Telesko/dies./Linsboth (Hrsg.), Repräsentation Maria Theresias, S. 94– 105.
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Constanter Continent Orbem Zur Repräsentation Karls VI. auf Münzen und Medaillen Das Sammeln von antiken Münzen zählte zu den persönlichen Interessen Karls VI.¹ Schon in frühen Jahren verreiste er mit seiner Numothek und investierte später in die Pflege seiner Sammlung. Der Einfluss numismatischer Artefakte auf den Nachruhm früherer Herrscher war dem Monarchen also durchaus bewusst. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Akzente Karl VI. in der eigenen Münz- und Medaillenprägung setzte, um seine Regentschaft der Nachwelt ehrenvoll zu überliefern. Karls Großreich umfasste unterschiedliche Währungsgebiete, deren Münzprägungen bislang nur isoliert voneinander untersucht und keiner übergreifenden Forschung unterzogen wurden.² Die Medaillenprägung konnte Maria Theresia Rath umfassend darstellen und katalogisieren, allerdings liegt ihre Arbeit ausschließlich als nicht publizierte Dissertation vor.³ Unabhängig davon wurden die Bildsprache der Medaillen und ihre bedeutende Rolle in der Herrscherrepräsentation Karls VI. von Franz Matsche eindrücklich analysiert.⁴ Der vorliegende Beitrag liefert nun eine Zusammenschau der Münz- und Medaillengeschichte und veranschaulicht unter dem Aspekt der Selbstdarstellung Karls VI. seine Maßnahmen zur Verbesserung der Münzprägung bzw. zur Förderung der Medaillenkunst.
Münzprägungen – ein typologischer Überblick Karl ließ von den (Finanz‐) Verwaltungen seiner jeweiligen Herrschaftsgebiete zwischen 1705 und 1740 – den lokalen Bedingungen und Währungstraditionen
Elisabeth Hassmann/Heinz Winter: Numophylacium Imperatoris. Das Wiener Münzkabinett im 18. Jahrhundert. Wien 2016, S. 21– 39. Ein grundsätzlicher Überblick bei Günther Probszt: Österreichische Münz- und Geldgeschichte. Von den Anfängen bis 1918. 2. Aufl. Wien 1983, S. 476 – 492; Belgische Nationalbank (Hrsg.), Münzen und Medaillen des Österreichischen Heldenzeitalters 1683 – 1794. Ausstellungskatalog. Brüssel 1987, S. 61– 91. Maria Theresia Rath: Kaiser Karl VI. in der Medaille (1685 – 1740). Diss. phil. Leuven 1980. Franz Matsche: Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des „Kaiserstils“ (Beiträge zur Kunstgeschichte 16). 2 Bde. Berlin/New York 1981. https://doi.org/10.1515/9783110670561-018
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entsprechend – Münzen prägen.⁵ Es waren 27 Münzstätten für ihn tätig und etwa 50 unterschiedliche Münzsorten wurden in seinem Namen ausgegeben. Karls Herrschertitel, sein Porträt und sein Wappen repräsentierten sein Prägerecht, garantierten die Gültigkeit des Geldes und manifestierten zugleich den Herrschaftsanspruch des Monarchen.⁶
Königreich Spanien⁷ Während des Spanischen Erbfolgekriegs prägte Karl als Thronprätendent neben kleinen Silber- und Billonmünzen in den Münzstätten Barcelona (1705 – 1714), Valencia (1706 – 1707) und Saragossa (1706 – 1710) auch goldene Escudos auf Mallorca (1707). Sein erstes Münzporträt, das schon kurz nach der Einnahme Barcelonas auf silbernen Croats erschien, zeigte ihn im nach links gewandten Profil mit schulterlangem, leicht gewellten Haar, langer Nase und markanter Unterlippe.⁸ Diese individuellen Züge kamen Karls Physiognomie vermutlich durchaus nahe, allerdings befand sich auf den Prägungen seines Vorgängers, des letzten spanischen Habsburgers, Karls II. exakt dasselbe Münzporträt (Abb. 1).⁹ Möglicherweise griffen die Stempelschneider der Münzstätte von Barcelona auf alte Porträtvorlagen zurück, um die Münzprägung für Karl III. nach der Eroberung der Stadt schnellstmöglich zu bewerkstelligen. Die täuschende Ähnlichkeit der Münzbilder stellte seine Machtergreifung jedenfalls in eine (ikonografische) Tradition zur Regierung Karls II. (1661– 1700), wodurch er als Prägeherr politische Kontinuität vermitteln konnte, um seine Position im Kampf um den Thron zu stärken.¹⁰
Eine Systematisierung der Münzstände bei Bernhard Prokisch: Grunddaten zur europäischen Münzprägung der Neuzeit ca. 1500 – 1990. Wien 1993. Münzen als Symbole von Legitimität und politischer Macht in Spanien: Rainer Wohlfeil: Das frühneuzeitliche Spanien im Spiegel numismatischer Zeugnisse, in: Sabine Panzram (Hrsg.), Städte im Wandel. Bauliche Inszenierung und literarische Stilisierung lokaler Eliten auf der Iberischen Halbinsel. Hamburg 2007, S. 361– 397. Juan Ramón Cayón/Carlos Castán: Monedas españolas desde los Visigodos hasta el quinto Centenario del Descubrimiento de America. Madrid 1991, S. 571– 574; Joaquim Botet y Sisó: Les Monedes catalanes. Estudi y Descripció de les Monedes carolingies, comtals, senyorials, reyals y locals Propries de Catalunya 3. Barcelona 1911, S. 204– 205. Cayón/Castán, Monedas, Nrn. 7161– 1762 (Typ 3); Antoni Badia i Torres: Càtaleg dels Croats de Barcelona 1285 – 1706. Barcelona 1969, S. 207– 209. Cayón/Castán, Monedas, Nrn. 6604 u. 6627 (Typ 29). Hingegen unterscheidet sich das Münzporträt Philipps IV. u. a. in der Frisur, vgl. Badia i Torres, Càtaleg, S. 203 – 206. Zu einem Standbild Karls III. nach dem Vorbild Karls II. in Wien: Friedrich
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Abb. 1: Münzstätte Barcelona: Vorderseiten der Croats von a) Karl II. 1698 und b) Karl III. 1706; Wien, Kunsthistorisches Museum.
Die Silbermünzen des spanischen Festlands trugen den kurzen Herrschertitel „CAROL[VS] III. DG HISP[ANIARVM] REX“. Auf dem 2-Reales-Stück wurde der Machtanspruch Karls darüber hinaus durch das für diese Münzsorte übliche, heraldische Münzbild ausgedrückt. Es zeigt einen bekrönten Schild mit den Wappen von (1) Kastilien und Leon, (2) Aragon und Sizilien, (eingepfropft) Granada, (3) Österreich und Alt-Burgund, (4) Neu-Burgund und Brabant sowie (aufgelegt) Flandern und Tirol.¹¹ Das „CAROLOS“-Monogramm auf der Rückseite hat gleichfalls ein historisches Vorbild, es geht auf einen 2-Real von 1682 aus der Münzstätte Segovia für Karl II. zurück.¹² Auch auf Mallorca folgte Karl den vorherrschenden Prägetraditionen, indem er einfache, zweifache und vierfache Escudos ausgab, deren Münzbilder und Legenden sowohl auf die Krone Aragons verwiesen als auch lokalen Bezug hatten.¹³ So befand sich auf dem Avers anstatt eines Porträts der bekrönte Schild von Aragon und auf dem Revers das Stadtwappen Palmas. Die Münzlegende in Form der Herrschertitulatur „CAROLVS III R[EX] ARA[GONORVM] MAIORICARV[M] CATOLICVS“ unterschied sich abermals lediglich durch die Ordnungszahl von jener seines Vorgängers.
Polleroß: HISPANIARUM ET INDIARUM REX. Zur Repräsentation Kaiser Karls VI. als König von Spanien, in: Jordi Jané (Hrsg.), Denkmodelle. Akten des achten spanisch-österreichischen Symposiums 13.–18. Dezember 1999 in Tarragona. Tarragona 2000, S. 128. Cayón/Castán, Monedas, Nrn. 1766 – 7175 (Typ 5). Ebd., Nr. 6666 (Typ 35 A). Rafael Tauler Fesser: Oro Macuquino. Catálogo Imperio español 1474 a 1756. Madrid 2011, S. 115 – 118, 265 – 272, 385 – 388.
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Herzogtum Mailand¹⁴ Nach der Einnahme Mailands, ließ man im April 1707 für die geplante Huldigungsfeier „in der Müntz viele Gedenck-Pfenning verfertigen“, um das Porträt des neuen Königs im Volk zu verteilen.¹⁵ Das Nominalspektrum der regulären Münzprägung, die sich zunächst auf das Jahr 1707 beschränkte, bestand aus dem silbernen Filippo und dessen Teilstücken, sowie dem kleinen, kupfernen Quattrini. Diese führten den Herrschertitel „CAROLVS III. REX HISPANIAR[VM] MEDIOLANI DVX ETC.“ und zeigten Karl im rechtsgewandten Profilporträt mit Allongeperücke, Harnisch und dem Orden vom Goldenen Vlies. Auf den Rückseiten der Silbermünzen symbolisierte wiederum ein bekrönter Wappenschild den Anspruch auf das spanische Erbe (Abb. 2).¹⁶ Erst in den 1720er Jahren brachte die mailändische Münzstätte jährliche Emissionen und ein breiteres Spektrum an Kleinsilbermünzen (Soldi) hervor; überdies wurden 1724 goldene Scudi geprägt. Die Münzlegende enthielt schließlich den Kaisertitel und das Herrscherporträt wurde zusätzlich mit einem Lorbeerkranz ausgestattet.¹⁷ Eine ikonografische Ausnahme bildeten die 5-SoldiMünzen (1722, 1737) mit dem heiligen Ambrosius auf der Vorderseite und dem Reichsadler mit dem Mailänder Wappen auf der Rückseite.¹⁸ Dieses Rückseitenbild, das sich auch auf den 60-Soldi-Münzen (1725) befand, interpretierte Schulz als Anpassung des mailändischen Münzwesens an jenes der habsburgischen Länder.¹⁹
Corpus Nummorum Italicorum (CNI), Bd. 5: Lombardia – Milano. Bologna 1914, S. 369 – 383; Victor von Miller zu Aichholz/August von Loehr/Eduard Holzmair: Österreichische Münzprägungen 1519 – 1938. 2. Aufl. Wien 1948, S. 210; Karl Schulz: Die Münzstätte Mailand während der habsburgisch-österreichischen Periode, in: Giovanni Gorini (Hrsg), La zecca di Milano. Atti del Convegno internazionale di studio, Milano 9 – 14 maggio 1983. Mailand 1984, S. 463 – 477; Rodolfo Martini: La Monetazione di Filippo V di Borbone e di Carlo III d’Asburgo/Carlo VI Imperatore della Zecca di Milano nelle civiche Raccolte numismatiche di Milano (1701– 1737). Mailand 1997, S. 21– 50. Wienerisches Diarium (WD) 388 (20. April 1707), S. 4; Hubert Winkler: Bildnis und Gebrauch. Zum Umgang mit dem Bildnis in der Frühen Neuzeit. Vermählungen – Gesandtschaftswesen – Spanischer Erbfolgekrieg. Wien 1993, S. 249; Polleroß, Spanien, S. 128. (1) Kastilien und Leon; (2) Sizilien; (aufgelegt) Portugal; (eingepfropft) Granada; (3) geteilt von Österreich und Alt-Burgund; (4) geteilt von Neu-Burgund und Brabant; (eingepfropft) Flandern und Tirol; (Herzschild) Mailand. Felipe Mateu y Lopis: El Titulo „Dux Mediolani“ del „Rex Hispaniarum“, in: Numismatica e Antichità classica 4 (1975), S. 360 – 361. 1720 und 1721 wurden (möglicherweise irrtümlich) Filippi und Halb-Filippi mit der Legende „CAROLVS III. REX HISPANIAR[UM]“ geprägt, vgl. Martini, Monetazione, Nrn. 172– 173, S. 31. Ebd., S. 32, 46 – 47. Schulz, Mailand, S. 465 – 466.
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Abb. 2: Münzstätte Mailand: Filippo 1707; Wien, Kunsthistorisches Museum.
Herzogtum Mantua²⁰ Die Münzstätte in Mantua begann ihre Tätigkeit für Karl VI. im Jahr 1714 mit der Produktion von Lira-Münzen. Nach einer mehrjährigen Pause verlief die Münzprägung, die sich auf kleine Billon- und Kupfermünzen beschränkte, von 1731 bis 1736 und endete mit einer letzten Emission 1739. Bei den Münzen Mantuas wird deutlich, dass die Ausführung der Herrschertitulatur nicht vom Durchmesser der Münzen abhängig war. Während die Billonmünzen (Lira, 10- u. 5-Soldi) dank Abbreviaturen den langen Herrschertitel „CAROLVS VI. R[OMANORVM] I[MPERATOR] S[EMPER] A[VGVSTUS] G[ERMANIAE] H[ISPANIAE] H[VNGARIAE] B[OHEMIAE] R[EX] A[RCHIDVX] A[VSTRIAE] DVX MANTVAE“ unterbrachten, beschränkten sich die gleichgroßen Kupfermünzen auf „CAR[OLVS] (VI. ROM[ANORVM]) IMP[ERATOR] DVX MAN[TVAE]“. Der Sesino, die Kupfermünze mit dem geringsten Nominalwert, führte den Prägeherrn letztlich überhaupt nicht an. Auch hinsichtlich der Münzbilder lassen sich die Prägungen in zwei Gruppen teilen: die Billonmünzen bildeten die Profilbüste Karls VI. mit Lorbeerkranz, Kürass und Feldherrenmantel auf der Vorderseite und den Reichsadler mit dem Wappen Mantuas auf der Rückseite ab, und standen somit ikonografisch mit den erbländischen und mailändischen Prägungen in Verbindung. Die Kupfermünzen zeigten hingegen anstatt des Porträts den bekrönten Bindenschild (Soldone), eine strahlende Sonne (Soldo) bzw. ein Kreuz
CNI 4: Lombardia – Zecche minori. Bologna 1913, S. 405 – 411; Probszt, Geldgeschichte, S. 482; Lorenzo Bignotti: Manuale descrittivo della Zecca di Mantova dalle Origini (circa 1150) a la Chiusura (1848) e Casale Monferrato per il Periodico della Signoria Gonzaghesca (1536 – 1707). Mantua 1984, S. 123 – 124.
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(Sesino) und ersetzten den rückseitigen Adler durch den ausgeschriebenen Nominalwert mit dem Zusatz „DI MANTOVA“.
Königreich Neapel²¹ Die Münzprägung Neapels bestand ebenfalls nur aus Silber- und Kupfermünzen und fand in zwei Phasen, von 1714 bis 1719 sowie von 1730 bis 1733, statt. Davon abgesehen wurden anlässlich des feierlichen Einzugs des Vizekönigs (31. Juli 1707) Gedenkmünzen mit dem Porträt Karls III. an die Untertanen ausgegeben.²² Sie führen die Umschrift „CAR. III. DG. REX HISP. E. NEAP.“ mit der Devise „FIDE ET ARMIS“ und waren die einzigen Münzen, die Karl als König von Spanien und Neapel auswiesen. Auf allen regulären neapolitanischen Prägungen der ersten Prägephase erschien der Kaiser im rechtsgewandten Profilporträt mit dem Titel „CAROLUS VI. DG. ROMANORUM IMPERATOR HISPANIAE UTRIUSQUE SICILIAE REX.“ Er nannte sich auf seinen Münzen demnach in neapolitanischer Tradition – wie dies auch sein Vorgänger Karl II. tat – „König beider Sizilien“, noch bevor er 1720 die Insel Sizilien übernahm.²³ Der Herrschertitel änderte sich schließlich auf den Münzen der zweiten Prägephase (ab 1730), indem der spanische Königstitel entfiel, und das Wort „REX“ in der Legende nicht mehr aufschien („CAROL. VI. D. G. ROM. IMP. UTR. SIC. HIERUS“). Hinzu trat allerdings der Anspruch auf das Königreich Jerusalem, der auf der Rückseite der neapolitanischen Piaster zusätzlich im Wappenschild dargestellt wurde.²⁴ Zu den Münzen dieser Periode zählten auch kleine silberne Carlinos mit dem für Neapel traditionellen Rückseitenbild des
CNI 20: Italia meridionale continentale – Napoli, Bd. 2: Da Filippo II alla Chiusura della Zecca. Bologna 1943, S. 527– 535. Ebd., Nrn. 1– 3 (S. 527); Marcus Landau: Rom, Wien, Neapel während des Spanischen Erbfolgekrieges: ein Beitrag zur Geschichte des Kampfes zwischen Papsttum und Kaisertum. Leipzig 1885, S. 322; Heinrich Benedikt: Das Königreich Neapel unter Kaiser Karl VI. Eine Darstellung bisher unbekannter Dokumente aus den österreichischen Archiven. Wien/Leipzig 1927, S. 54; Probszt, Geldgeschichte, S. 483 – 484. Den Titel „König beider Sizilien“ führte Karl nicht nur auf seinen Münzen schon vor 1720, sondern auch auf seinen Siegeln, vgl. Otto Posse: Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige, Bd. 5. Dresden 1913, S. 82, Nr. 16 (Bd. 4, Tafel 4, Nr. 3); außerdem Diodorus Sidonius: Vollständig, Neu-vermehrtes Teutsch-Frantzösisches Titular-Buch (…). Weissenfels 1713, S. 1– 2. CNI 20: Nr. 23 (S. 531). Wenngleich der Anspruch auf Jerusalem erst ab 1730 auf Münzen erschien, wurde er bereits anlässlich der niederösterreichischen Erbhuldigung (1712) in einem Gedicht postuliert und wurde u. a. ins Stifterwappen der Karlskirche aufgenommen, vgl. Polleroß, Spanien, S. 169 – 173.
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umstrahlten griechischen Kreuzes unter der Legende „IN HOC SIGNO VINCES“.²⁵ Sowohl die Legenden als auch die Münzbilder verdeutlichen, dass die Münzprägung Neapels in keiner Weise auf die Prägungen in Österreich, Böhmen und Ungarn Bezug nahm, wo Karl bis zu seinem Tod den Titel „König von Spanien“ beanspruchte.
Königreich Sardinien²⁶ Auf Sardinien prägte die Münzstätte der Hauptstadt Cagliari für Karl von 1709 bis 1716 goldenen Scudi, silberne 2 ½-Reales und kupferne 3-, bzw. 1-Caligiaresi.²⁷ Die Ikonografie folgte auch hier den bewährten, lokalen Traditionen. Zwischen 1709 und 1711 lautete der Herrschertitel auf sämtlichen Prägungen „CAROL[VS] III. HISP[ANIARVM] ET SARD[INIAE] REX“ und ab 1712 „CAROL[VS] VI. IMP[ERATOR] ARA[GONIAE] ET SARD[INIAE] REX“. Beide Titelvarianten wurden auch schon von Karls Vorgängern verwendet, ebenso wie die seit Ferdinand II. (1452– 1516) für Sardinien typische Reverslegende mit biblischem Bezug „INIMICOS EIVS INDVAM CONFVSIO“²⁸, die unter Karl auf allen sardischen Gold- und Silbermünzen erschien. Die Scudi zeigten traditionell auf dem Avers den bekrönten Wappenschild Aragons und auf dem Revers ein Lilienkreuz. Auf den Silber- und Kupfermünzen war hingegen vorderseitig die Profilbüste Karls mit langen Locken abgebildet und rückseitig das Wappenbild Siziliens, ein Wiederkreuz, in dessen Winkeln sich vier umkreiste Kugeln bzw. Köpfe befanden.
Königreich Sizilien²⁹ Nachdem Karl Sizilien im „Tausch“ gegen Sardinien übernommen hatte, prägte die Münzstätte in Palermo von 1720 bis 1734 in seinem Namen ein umfangreiches Nominalspektrum bestehend aus Gold-, Silber- und Kupfermünzen. Den Auftakt markierten goldene und silberne Gedächtnismünzen auf seine Inthronisierung
Benedikt, Neapel, S. 435 – 436. Enrico Piras: Le Monete della Sardegna dal IV Secolo A.C. al 1842. Sassari 1996. CNI 2: Piemonte e Sardegna. Bologna 1911. S. 470 – 473; Probszt, Geldgeschichte, S. 484. Ps. 132,18: inimicos eius induam confusione super ipsum autem florebit sanctificatio eius (EÜ: Ich bedecke seine Feinde mit Schande, doch auf ihm erglänzt seine Krone). Probszt, Geldgeschichte, S. 484– 485; Rodolfo Spahr: Le Monete Siciliane dagli Aragonesi ai Borboni (1282– 1836). Palermo 1959, S. 238 – 253.
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mit der Rückseitenumschrift „AVGVSTISSIMÆ. DOMV. RESTITUTA. 1720“.³⁰ Es ist auffallend, dass Karl seinen Kaisertitel nur auf den Kupferprägungen führte, wohingegen er auf den Gold- und Silbermünzen als „Karl III., König von Spanien und beider Sizilien“ (bis 1722) bzw. als „König von Sizilien und Jerusalem“ (1730 bis 1734) bezeichnet wurde. Im Gegensatz zu den neapolitanischen Prägungen blieb das Wort „REX“ auf den Prägungen Palermos auch nach 1730 Teil der Münzlegende. Auf den Vorderseiten der Münzen befand sich Karls Profilbüste mit Lorbeerkranz und Kürass, auf den Rückseiten ein bekrönter Adler mit aufgelegtem Bindenschild über einem Lilienkreuz, dessen Hasten kleine Köpfe mit schwebenden Kronen zierten. 1732/1733 wurden zusätzlich zu den bereits bestehenden Nominalen erstmals die überdimensionale Großsilbermünze Oncia d’argento (zu 30 Tari) mit einem Gewicht von 74 Gramm, und die Oncia d’oro zu 4,4 Gramm ausgebracht.³¹ Ihr Rückseitenbild, ein aus den Flammen emporsteigender Phönix, und ihre Umschriften³² symbolisierten das „Wiedererwachen“ eines alten, italienischen Goldgewichts.³³ Beide Münzsorten wurden von Karls Nachfolgern übernommen und bis Ende des 18. Jahrhunderts ausgeprägt.
Spanische bzw. Österreichische Niederlande³⁴ Die Münzstätten der niederländischen Provinzen setzten für Karl das bestehende, beinahe ein Jahrhundert alte Münzsystem fort. Antwerpen prägte von 1709 bis 1711 Goldmünzen (Souverain) sowie große und mittelgroße Silbermünzen (Patagon, Schilling), indes produzierte die Münzstätte in Brügge vorerst ausschließlich Silbermünzen im Jahr 1709. Der Herrschertitel auf den niederländischen Münzen lautete „CAROLUS III. D.G. HISP[ANIARUM] ET INDIARUM REX ARCHID[UX] AUST[RIAE] DUX BURG[UNDIAE] BRABANT[IAE] ETC.“ und wurde ab 1712 um den Kaisertitel ergänzt.
Spahr, Monete, Nrn. 1– 2 (S. 239 – 240). Ebd., Nrn. 62– 63 (S. 249 – 250). Oncia d’argento: OBLITA EX AVRO ARGENTEA RESVRGIT; Oncia d’oro: VNCIA REVRGIT. Art. Oncia, in: Friedrich von Schrötter: Wörterbuch der Münzkunde. Berlin/Leipzig 1930, S. 472. Der Phönix galt überdies als Symbol der „Erneuerung habsburgischer Herrschaft in Spanien“, s. Polleroß, Spanien, S. 132. Miller zu Aichholz/Loehr/Holzmair: Münzprägungen, S. 210; Hugo Vanhoudt: De Munten van de Bourgondische, Spaanse en Oostenrijkse Nederlanden, en van de Franse en Hollandse Periode 1434– 1830. Heverlee 2015, S. 520 – 525.
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Die Münzbilder folgten von Anfang an lokalen Vorbildern und stellten auch später keinen Bezug zu den Prägungen der übrigen habsburgischen Länder her. Eine Tradition der niederländischen Münzikonografie war die starke Betonung des Ordens vom Goldenen Vlies, beispielsweise in Form der Ordenscollane als markante Rahmung des Wappens auf der Rückseite des Souverains oder durch ein in das burgundische Astkreuz des Patagons eingehängtes Feuereisen mit Feuerstein und Widderfell.³⁵ Auf den Rückseiten der Liards erschien mit dem bekrönten Monogramm Karls VI. als dreifaches „C“ ein neues Münzbild, das offensichtlich an ein Feuereisen erinnern sollte (Abb. 3).
Abb. 3: Münzstätte Brüssel: Liard 1713; Wien, Kunsthistorisches Museum.
Bedingt durch den Edelmetallmangel lag der Prägeschwerpunkt nach der Kaiserkrönung bei kupfernen Liards, die von den Münzstätten in Antwerpen, Brügge und Brüssel zwischen 1712 und 1716 in millionenfacher Auflage produziert wurden.³⁶ Zur Zeit- und Kostenersparnis wurden dabei häufig alte Münzen überprägt, wie dies beispielsweise auf einem Brüsseler Liard von 1713 erkennbar ist, auf dem sich im Porträt Karls VI. ein altes Wappen abzeichnet (vgl. Abb. 3).³⁷ Erst ab 1719 nahm Antwerpen die Edelmetallprägung mit (doppelten) Souverains d‘or und silbernen Dukatonen in sehr geringen Stückzahlen wieder auf. Im letzten Regierungsjahrzehnt Karls VI. fand in den nun Österreichischen Niederlanden keine Münzprägung statt.
Vgl. Renate Holzschuh-Hofer: Feuereisen im Dienst politischer Propaganda von Burgund bis Habsburg. Zur Entwicklung der Symbolik des Ordens vom Goldenen Vlies von Herzog Philipp dem Guten bis Kaiser Ferdinand I., in: RIAH Journal 006, https://www.riha-journal.org/articles/2010/ holzschuh-hofer-feuereisen-im-dienst-politischer-propaganda (10.08. 2010). Vanhoudt, Munten, S. 538 – 543. Vgl. ebd., S. 540.Vermutlich handelt es sich bei den Überprägungen um Liards von Karl II., vgl. ebd., S. 722– 723.
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Habsburgische Erbkönigreiche und Länder³⁸ Die 1693 von Leopold I. (1640 – 1705) verabschiedete Münzordnung³⁹, die im Erzherzogtum Österreich sowie den Ländern der böhmischen und der ungarischen Krone einen einheitlichen Münzfuß vorsah, hatte Joseph I. (1678 – 1711) fortgesetzt und übernahm auch Karl VI. weitgehend.⁴⁰ 1712 und 1713 wurden außerdem in der besetzten Prägestätte in München kaiserliche Dukaten und Kleinsilbermünzen für Karl VI. geprägt.⁴¹ Zeitgleich brachte die Reichsstadt Augsburg nach österreichischem Fuß Taler und Halbtaler im Namen des Kaisers heraus.⁴² 1717 veranlasste Karl eine etwa 10 %ige Herabsetzung des Feingehalts der Kleinsilbermünzen (Kreuzer bis Pfennig) und erließ im Laufe seiner Regierungszeit diverse Patente zur Regulierung des Geldumlaufs.⁴³ Auf seinen erbländischen Münzen präsentierte sich Karl VI. mit Allongeperücke, Lorbeerkranz, Harnisch und Feldherrenmantel als Ausdruck seiner politischen Macht, und verwies über die Vliescollane auf das „Burgundische Erbe“ und den damit verbundenen Herrschaftsanspruch auf Spanien⁴⁴, den auch sein Herrschertitel proklamierte: „CAR[OLVS] VI. D[EI] G[RATIA] R[OMANORVM] I[MPERATOR] S[EMPER] A[VGVSTUS] G[ERMANIAE] HI[SPANIAE] HV[NGARIAE] Johann Newald: Beitrag zur Geschichte des österreichischen Münzwesens im ersten Viertel des XVIII. Jahrhunderts. Wien 1881; Miller zu Aichholz/Loehr/Holzmair, Münzprägungen, S. 210 – 240; Helmut Jungwirth: Corpus Nummorum Austriacorum (CNA), Band 5: Leopold I. – Karl VI. (1657– 1740). Wien 1975, S. 152– 225; Wolfgang Hahn: Die Münzprägung der Habsburger im Österreichischen Reichskreis von Maximilian I. bis Ferdinand III. (1490 – 1657) – von Leopold I. bis zu den Reformen Maria Theresias (1657– 1746). Wien 2016, S. 203 – 214. Eduard Holzmair: Geld und Münze unter Kaiser Leopold I., in: MIÖG 60 (1952), S. 238 – 250; Miller zu Aichholz/Loehr/Holzmair, Münzprägungen, S. 158, 192. Im Österreichischen Erzherzogtum waren die Münzstätten: Wien, Graz, St. Veit, Hall in Tirol; im Königreich Böhmen: Prag und Kuttenberg; in Schlesien: Breslau und Brieg; im Königreich Ungarn: Kremnitz, Nagybanya, Pressburg und im Fürstentum Siebenbürgen Karlsburg tätig, vgl. Prokisch, Grunddaten, S. 2– 6; CNA 5, S. 152– 225. Miller zu Aichholz/Loehr/Holzmair, Münzprägungen, S. 204. Probszt, Geldgeschichte, S. 476. Siegfried Becher: Das österreichische Münzwesen vom Jahre 1524 bis 1838 in historischer, statistischer und legislativer Hinsicht, Bd. 2. Wien 1838, S. 144– 181; Hahn, Münzprägung, S. 204. Das Goldenen Vlies als Referenz auf das „Burgundische Erbe“ (vgl. Matsche, Karl VI., S. 252– 271) war der einzige Spanienbezug in Karls Münzporträt, denn der Löwenskalp auf der Schulter von Herrscherbüsten, den von Karl V. bis Karl II. bzw. Leopold I. beiden habsburgische Linien in ihrer Ikonografie führten, wurde von Karl VI. nicht aufgenommen, vgl. Guido Bruck: Habsburger als „Herculier“, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 50 (1953), S. 194. Die Rüstung als politisches Symbol im Herrscherporträt: Christina Posselt-Kuhli: Kunstheld versus Kriegsheld? Heroisierung durch Kunst im Kontext von Krieg und Frieden in der Frühen Neuzeit. Würzburg 2017, S. 83 – 85.
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B[OHEMIAE] REX ARCHIDVX AVSTRIAE DVX BVRG[VNDIAE] COM[ES] TYROL[IS]“. Bereits 1712 legte Karl nach den Vorschlägen seines Antiquitäten- und Medaillen-Inspektors Carl Gustav Heraeus (1671– 1725) die Vereinheitlichung der Münzbilder und Legenden fest.⁴⁵ Die kaiserlichen Prägungen sollten sich von nun an nur durch die Hervorhebung des Münzstandes voneinander unterscheiden: zum einen anhand des Brustschilds des rückseitigen kaiserlichen Adlers und zum anderen durch die Adaptierung der Herrschertitulatur. Außerdem sollte der Harnisch auf den Münzporträts durch einen Kürass mit Pteryges ersetzt werden, „umb das Numisma in etwelcher Observanz der Antiquitet zu halten“. Als Sicherheitsmerkmal sollte die Randschrift der Taler („CONSTANTER CONTINET ORBEM“) als eine Abwandlung von Karls Devise („Constantia et Fortitudine“) in metaphorischer Anspielung auf sein Weltreich das Münzrund zusammenhalten, um das illegale Beschneiden des Randes zu verhindern.⁴⁶ Diese Gestaltungsvorgaben wurden jedoch erst schrittweise ab 1718 umgesetzt. Die ungarischen Münzen waren von dieser Normierung ausgenommen und behielten ihre teilweise jahrhundertalten Bildtraditionen bei. So erschien der Herrscher auf den Vorderseiten der Dukaten weiterhin als Standfigur im ungarischen Krönungsornat, die Rückseiten der meisten Münzsorten blieben der Patrona Hungariae vorbehalten.⁴⁷
Prägetechniken: eine Frage von Qualität und Quantität Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren in den Münzstätten Europas unterschiedlichste Prägetechniken gebräuchlich, weshalb zwischen den Münzen teilweise erhebliche Qualitätsunterschiede bestanden. Die Münzenprägung Karls VI. ist aufgrund der geografischen Ausdehnung seines Reichs ein Spiegelbild dieser Diversität und zugleich ein Zeugnis des produktionstechnischen Wandels jener Zeit.
Transkription bei Newald, Beitrag, S. 40 – 45. Für die habsburgische Münzprägung war dies ein Novum; seit Leopold I. wurden die Münzen zwar gerändelt, aber das Prägen eines Schriftzugs war bisher unüblich, vgl. Franz Leypold: Die Randstäbe der habsburgischen Taler und Halbtaler von Joseph I. bis Franz II., in: NZ 99 (1985), S. 31– 40. Über doppeldeutige Randschriften: Adauctus Voigt: Beschreibung der bisher bekannten böhmischen Münzen nach chronologischer Ordnung nebst einem kurzen Begriff des Lebens der Münzfürsten, und anderer, auf welche sie gepräget worden. Mit eingestreueten historischen Nachrichten von dem Bergbaue in Böhmen. Prag 1789, S. 170. Grundlegend Lajos Huszár: Münzkatalog Ungarn von 1000 bis heute. München 1979.
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So erfolgte seine Münzproduktion teilweise noch mit Hammerprägung, indem ein Münzrohling zwischen zwei gravierte Stempel gelegt und mit Hammerschlägen auf den Oberstempel geprägt wurde. Qualitätsvolle Ergebnisse waren bei dieser Methode umso schwieriger zu erzielen, je größer und je dicker eine Münze war. So lassen beispielsweise die Wölbungen und ungleichmäßigen Münzbilder der Filippi darauf schließen, dass in Mailand sowohl die Schrötlingsproduktion als auch die Prägung noch manuell erfolgten (vgl. Abb. 2). Hinsichtlich der Prägetechnik zählte die norditalienische Münzstätte daher zu den rückständigsten ihrer Zeit, zumal sie erst 1777 über zeitgemäße Münzprägewerke verfügte.⁴⁸ Eine Optimierung der Prägetechnik versprach nicht nur repräsentablere Münzbilder, sondern konnte das (Ver‐)Fälschen der Münzen erschweren. Insofern war die technologisch komplexe Walzenprägung in den meisten Münzstätten Anfang des 18. Jahrhunderts technischer Standard. Hierbei wurde ein Metallstreifen (Zain) zwischen zwei mechanisch angetriebenen Walzen hindurchgeführt, auf denen jeweils mehrere Vorder- bzw. Rückseitenbilder graviert waren. Durch die Rotation der Walzen wurde der Zain beidseitig geprägt und die einzelnen Münzen konnten nach dem Prägevorgang aus dem Zain gestanzt werden. Diese Technik steigerte einerseits die Effizienz der Münzstätten, war jedoch auch anfällig für Prägefehler. Liefen die beiden Walzen nicht synchron, so befanden sich die Vorder- und Rückseitenbilder nicht mehr exakt übereinander und auf den ausgestanzten Münzplättchen erschien eines der Münzbilder dezentriert, wie dies beispielsweise bei der Croat-Prägung in Barcelona häufig geschah (vgl. Abb. 1). Ein weiterer Nachteil war, dass sich mehrere Münzbilder auf einer Walze befanden und daher die gesamte Walze erneuert werden musste, sobald eines der Bilder beschädigt war. Dieses Manko konnte das sogenannte Taschenwerk beheben: Indem gewölbte Stempel mit nur einem Münzbild in ein Walzwerk montiert wurden, konnten diese bei Beschädigungen einzeln ausgewechselt werden. Das Wiener Münzamt verfügte seit 1657 über ein Taschenwerk für die Münzprägung.⁴⁹ Zur Prägung von großformatigen Münzen und Medaillen setzte sich zu dieser Zeit in Frankreich, England und Schweden bereits die Spindelpresse (auch Stoßwerk, Anwurf oder Balancier) durch. Bei dieser Prägetechnik wurde der Schrötling auf einen im Boden verankerten Unterstempel gelegt und der Oberstempel durch eine vertikal geführte, per Hand angeworfene Spindel darauf geschlagen. Sowohl Leopold I. als auch Joseph I. waren bestrebt, solche Spindelwerke in ihren Münzstätten zu installieren. Möglicherweise holte Leopold I. um 1700 deshalb den schwedischen Medailleur Daniel Warou (1674– 1729) zu Hilfe,
Schulz, Mailand, S. 466 – 467. Bernhard Koch: Das Österreichische Hauptmünzamt, in: NZ 100 (1989), S. 11–112, hier S. 49.
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der mit dieser Technik vertraut war und 1710/1711 begann, in der Münzstätte Kremnitz ein Stoßwerk für die Münzprägung einzurichten, das aber erst ab 1718 betriebsbereit war.⁵⁰ Ein weiterer Anwurf wurde zeitgleich im Wiener Münzhaus in der Wollzeile errichtet, auf ihm konnten 1716 testweise erstmals Taler geprägt werden.⁵¹
„so schönes Geld als irgendswo in Europa“ In seiner 1717 erlassenen Münzordnung regelte Karl VI. nicht nur den Feingehalt der Kleinmünzen, sondern legte auch fest, dass die Talerprägung nicht mehr auf dem Taschenwerk, sondern auf der Spindelpresse zu erfolgen hatte. Da die technische Umstellung neue Prägestempel erforderte, war nun die Gelegenheit gekommen, das Münzporträt nach den bereits 1712 bekundeten Vorstellungen zu überarbeiten (Abb. 4).⁵² Darüber hinaus verordnete der Kaiser, dass „unser höchstes Bildnus nur von einem, und zwar von durch unsere gnädigste approbation erküsten künstler und maister gestochen“ werde.⁵³ Es ist naheliegend, dass damit Benedict Richter (1670 – 1737) gemeint war, der seit 1714 in Wien für Karl tätig war und zuvor in Schweden und Frankreich Erfahrungen mit der neuen Prägetechnik sammeln konnte.⁵⁴ Zur Qualitätssicherung sollten zudem in Wien vereinheitlichte Bildpunzen für alle übrigen erbländischen Münzstätten hergestellt werden, was Richters Kapazitäten wohl erschöpfte, denn es sind auch von Daniel Warou und Antonio Gennaro (1679 – 1744) Punzen zur Stempelherstellung bezeugt.⁵⁵ Karls Maßnahmen zur Verbesserung der Münzprägung blieben nicht unbemerkt, denn 1730 schrieb der Topograf Johann Basilius Küchelbecker (1697– 1757) anerkennend, dass man in Wien „einen so saubern und schönen Stempel führet,
Art. Warou, Daniel, in: Constant Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 53. Wien 1886, S. 91– 92; Gyula Rudnay: Warou Dániel körmöcbányai fővésnök (1674– 1729) [Daniel Warou, Chefgraveur aus Kremnica/Körmöcbánya], in: Numizmatikai közlöny 32– 33 (1933/1934), S. 34– 83. Koch, Hauptmünzamt, S. 53 – 54. Vgl. Rath, Medaille 1, S. 55 – 56; Hahn, Münzprägung, S. 205. Thomas Fellner/Heinrich Kretschmayr: Die österreichische Zentralverwaltung. I. Abteilung: Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749), Bd. 3: Aktenstücke 1683 – 1749. Wien 1907, S. 294. Art. Richter, Bengt/Benedikt, in: Georg Caspar Nagler (Hrsg.), Neues allgemeines KünstlerLexicon, Bd. 13. München 1843, S. 135. Newald, Beitrag, S. 50 – 54.
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Abb. 4: Münzstätte Wien: Talervorderseiten von a) 1717 (Taschenwerk) und b) 1718 (Spindelpresse); Wien, Kunsthistorisches Museum.
und so schönes Geld schlägt als irgendswo in Europa.“⁵⁶ Um das hohe Niveau der kaiserlichen Prägungen langfristig halten zu können, ordnete Karl VI. bereits 1715 an, dass Richter heimische Künstler in der Graviertechnik zu instruieren und perfektionieren habe, ehe er 1733 auf Anraten seines Münzstempelschneiders Antonio Gennaro eine Graveurakademie im Wiener Münzamt einrichtete.⁵⁷ Gennaro war als Direktor dafür verantwortlich, fortwährend vier Scholaren im Gravieren von Münzen und Medaillen auszubilden, damit die habsburgischen Münzstätten kontinuierlich mit qualifizierten Stempelschneidern versorgt werden konnten. Die Einrichtung einer Ausbildungsstätte für Graveure und die in Wien zentral organisierte Herstellung von Bildpunzen und Prägewerkzeugen sind die nachhaltigsten Maßnahmen Karls hinsichtlich der habsburgischen Münz- und Medaillenproduktion, von denen seine Nachfolger, allen voran Maria Theresia, profitierten. Die Stellung der Wiener Münzstätte äußerte sich schließlich in der Bezeichnung „Hauptmünzamt“, die ihr 1715 erstmals zukam und die sie bis 1989 führte.⁵⁸
Johann Blasius Küchelbecker: Allerneueste Nachricht vom Römisch-Käyserlichen Hofe nebst einer ausführlichen historischen Beschreibung der kayserlichen Residentz-Stadt Wien, (…). Hannover 1730, S. 639. Newald, Beitrag, S. 53; Daniel Kianička: Die Wiener Graveurakademie und die Münzstätte in Kremnitz im 18. Jahrhundert, in: Mitteilungen der Österreichischen Numismatischen Gesellschaft 48/3 (2008), S. 153– 161. Bernhard Koch: Die Geschichte der Münzstätte Wien, in: Wolfgang Häusler (Hrsg.), Geld. 800 Jahre Münzstätte Wien. Wien 1994, S. 208.
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Medaillen – Herkunft, Anlässe und Ikonografie Um die Jahrhundertwende entwickelte sich die Prägemedaille zu einem europaweit verbreiteten, höfischen Repräsentations- und politischen Erinnerungsmedium.⁵⁹ Die Vorteile dieser „Denkmünzen“ gegenüber anderen Kunstgattungen lagen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Hand: Medaillen waren handlich, transportabel, kostengünstig reproduzierbar und auf Grund ihres Materials für die Ewigkeit bestimmt. Kein anderer Bildträger schien geeigneter, Herrschaftsgeschichte(n) möglichst weit zu verbreiten und zugleich für die Nachwelt zu bewahren. Dem Zeitgeist entsprechend erlebte auch die habsburgische Medaillenprägung unter Karl VI. einen beachtlichen Aufschwung. Die über 300 unterschiedlichen Medaillen, die während Karls Regierungszeit auf ihn geprägt wurden, bilden drei thematische Schwerpunkte: Krönungen bzw. Huldigungen (28 %), militärische Erfolge (24 %) und Friedensschlüsse (15 %). Daneben existierten Medaillen auf persönliche und dynastische Ereignisse (10 %), Gnadenmedaillen (7 %) und Grundsteinmedaillen (6 %), sowie Prägungen mit diversen innen- oder reichspolitischen Themen (10 %). Die Medaillenprägung diente demnach der Repräsentation Karls VI. (Krönungen, Huldigungen, Gnadenmedaillen) und beförderte die (militärische) Erinnerungskultur.⁶⁰
Produktionszentren Die Medaillenprägung Karls VI. war nicht zentral organisiert, vielmehr waren etwa 50 Medailleure unterschiedlicher Herkunft an der Produktion beteiligt.⁶¹ Die Auswertung der Künstlersignaturen auf den Medaillen ergab, dass 50 % der Medaillen aus deutschen Städten des Heiligen Römischen Reichs, 23 % aus Wien, 6 %
Thomas Weißbrich: Medaillen und Gedächtniskunst. Aspekte militärischer Erinnerungskultur um 1700, in: Carl Horst (Hrsg.), Militärische Erinnerungskulturen vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Träger, Medien, Deutungskonkurrenzen. Göttingen 2012, S. 158 – 161. Zur Bildsymbolik von Friedensmedaillen: Werner Telesko: Rastatt – „Ruhestadt“. Visualisierungen der Friedenschlüsse der Jahre 1713/1714 zwischen traditioneller Symbolik und Bildreportage, in: Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hrsg.), Utrecht – Rastatt – Baden 1712– 1714: Ein europäisches Friedenswerk am Ende des Zeitalters Ludwigs XIV. Göttingen 2013, S. 373 – 393; Vladimir Simić: Patriotism and propaganda: Habsburg media promotion of the peace treaty of Passarowitz, in: Charles Ingrao/Jovan Pešalj/Nikola Samardzic (Hrsg.), Peace of Passarowitz 1718. West Lafayette 2011, S. 267– 290. Rath, Medaille 1, S. 34, 43 – 46.
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aus den Niederlanden und 2 % aus anderen Ländern stammten.⁶² 19 % haben keine Signatur, jedoch kann ein Großteil dieser Medaillen deutschen Künstlern zugeschrieben werden.⁶³ Die Dominanz der Medaillen aus dem Reich, zeigt die Bedeutsamkeit der deutschen Medaillenproduktion in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Allen voran stand die freie Reichstadt Nürnberg, die sich bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Medaillenkunst entwickelte. Dazu trug zuvorderst die Medaillen-Werkstätte von Lazarus Gottlieb Lauffer (gest. 1709) bei, die mehr als 700 Prägestempel besaß und u. a. Medaillen von Philipp Heinrich Müller (1654– 1719), Georg Wilhelm Vestner (1677– 1740) und Peter Paul Werner (1689 – 1771) vertrieb.⁶⁴ Caspar Gottlieb Lauffer (1674– 1745), der den erfolgreichen Medaillenverlag des Vaters fortführte, erhielt 1714 von Karl VI. ein Privileg, das ihn ermächtigte, seine Medaillen überall im Reich zu prägen, und, das seine Erfindungen durch Geldstrafe vor Nachahmungen schützen sollte.⁶⁵ Ein solches „Copyright“ sprach der Kaiser auch dem Medailleur Georg Wilhelm Vestner (1720) und dessen Sohn Andreas (1738) zu.⁶⁶ In der Stempelsammlung des ehemaligen Wiener Hauptmünzamtes sind über 40 Prägestempel auf Karl VI. von Nürnberger Medailleuren erhalten.⁶⁷ Dies ist ein Indiz dafür, dass deren Produktion womöglich vom Hof beauftragt wurde, und somit ein Recht auf die Übernahme der Stempel bestand. In Wien vollzog sich der Wandel von der Gussmedaille zur Prägemedaille erst um die Jahrhundertwende, als den Wiener Medailleuren ab 1698 das private Spindelwerk eines aus Nürnberg eingewanderten Medaillenverlegers zur Verfügung stand.⁶⁸ Um Missbrauch vorzubeugen, ließ der Wiener Münzmeister das Prägewerk kurzzeitig konfiszieren, jedoch gelangte es 1701 in den Besitz des Medailleurs Johann Georg Seidlitz (gest. 1713), der ein kaiserliches Privileg besaß,
Basierend auf dem Katalog von Rath umfasst die Auswertung 307 Medaillentypen; Varianten wurden nicht aufgenommen. Beispielsweise Mirko Schöder: Der Medailleur und Stempelschneider Albrecht Krieger. Medaillenkunst des Barock in Leipzig. Neustadt an der Orla 2019, S. 53 – 56. Dieter Fischer/Hermann Maué: Medaillen und Schaumünzen auf Ereignisse in der Reichsstadt Nürnberg. Nürnberg 2014, S. 13 – 15. ÖStA, HHStA, RHR, Gewerbe-, Fabriks- und Handlungsprivilegien 11, fol. 30 – 35r (03.12.1714). Friedrich Lehne: Kaiserliche Schaumünzenprivilegien, in: NZ 70 (1937), S. 93 – 98; Francisca Bernheimer: Georg Wilhelm Vestner und Andreas Vestner. Zwei Nürnberger Medailleure. München 1984, S. 31– 35. Eduard Fiala: Katalog der Mü nzen- und Medaillen-Stempel-Sammlung des k. k. Hauptmü nzamtes in Wien, Bd. 1. Wien 1901, S. 191– 201. Karl Schulz: Die Medaille in Österreich, in: NZ 100 (1989), S. 173 – 207, hier S. 181– 183.
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Schaumünzen auf einem Stoßwerk herzustellen.⁶⁹ Anfangs war die Produktion der Wiener Prägemedaille demnach nicht an die kaiserliche Münzstätte gebunden, sondern oblag ebenso wie zuvor die Gussmedaille den Ressourcen der Künstler. Dies änderte sich, als Karl VI. seinem Antiquitäteninspektor Carl Gustav Heraeus die Konzeption von Medaillen für eine „Historia numismatica“ übertrug.⁷⁰ 1716 wurde das nach Seidlitz‘ Tod wieder eingezogene Medaillenstoßwerk im Wiener Münzhaus aufgestellt, wo es der kaiserlichen Medaillenprägung zur Verfügung stand und sein Betrieb überwacht werden konnte.⁷¹ Heraeus durfte die von ihm erfundenen Medaillen auf eigene Rechnung im Münzamt ausprägen und verkaufen, er musste seine Entwürfe allerdings im Vorfeld vom Kaiser genehmigen lassen.⁷² Dieser stellte Heraeus die Kammermedailleure Daniel Warou und Benedikt Richter zur Seite, die im Stil der französischen Schule ausgebildet worden waren. Darüber hinaus schnitten auch die Wiener Münzeisenschneider Michael Hoffmann (um 1650 – 1736), Hieronymus Fuchs (um 1689 – 1751), Philipp Christoph von Becker (1676 – 1743) und Antonio Gennaro Medaillenstempel für Karl VI. Der Einfluss von Heraeus auf die künstlerische Arbeit der Medailleure ist nicht belegt; seine Inventionen machten jedenfalls nur einen Bruchteil der auf Karl geschaffenen Medaillen aus, da er seine Tätigkeit für den Kaiser frühzeitig beendete.⁷³ In Folge entwarf der Hofpoet Johann Karl Newen (1683 – 1767)⁷⁴ Konzepte für Medaillen, etwa anlässlich des Wiener Friedensvertrags (1725) zwischen Karl VI. und Philipp V.⁷⁵ Heraeus veröffentlichte die von ihm erfundenen Medaillen mit Abbildungen und Beschreibungen nach dem Vorbild der „histoire metallique“ Ludwigs XIV. in mehreren Druckschriften.⁷⁶ Bernhard Koch/Karl Schulz: Johann Georg Seidlitz. Zu seinem Leben und Werk, in: NZ 101 (1989), S. 99 – 110. Matsche, Karl VI., S. 43 – 45; Hassmann/Winter, Numophylacium, S. 30, 201, Anm. 87; Auszug des Dekrets: Eduard Fiala: Katalog der Mü nzen- und Medaillen-Stempel-Sammlung des k. k. Hauptmü nzamtes in Wien, Bd. 4. Wien 1906, S. 1166. Rath, Medaille 1, S. 84– 85, 123. Ebd., S. 32. Über sein Bergbauunternehmen in der Veitsch und die gegen ihn gerichteten Vorwürfe der Veruntreuung von Sammlungsobjekten Joseph Bergmann: Über K. Carl’s VI. Rath und Hof-Antiquarius Carl Gustav Heraeus, dessen Stammbuch und Correspondenz: Ein Beitrag zur Geschichte des k. k. Münz- u. Antiken-Cabinets, in: Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 13 (1854), S. 539 – 553; Hassmann/Winter, Numophylacium, S. 31– 33. Art. Newen, Johann Karl, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 23 (1886), S. 565 – 566. Bericht über den Versuch einer großen Schaumünze: WD 64 (11.08.1725), S. 7; Erläuterungsblatt der Preismedaille der kaiserlichen Kunstakademie: Matsche, Karl VI., Abb. 57. Carl Gustav Heraeus: Vermischte Neben-Arbeiten. Wien 1715 (1716) – enthält u. a. 16 Medaillen, davon auch nicht realisierte Entwürfe, darin auch ders.: Bedeutungen und Innschrifften Einiger
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Das zeitgenössische Interesse für Erinnerungsmedaillen verdeutlichen überdies Verkaufskataloge, Flugblätter und Zeitungsannoncen.⁷⁷ Beispielsweise druckte das Wiener Diarium eine Beschreibung der Medaille auf die „Quadruppel-Allianz“ und informierte über deren Verkauf im Münzhaus und in der kaiserlichen Reichsund Hofbuchdruckerei.⁷⁸
Aspekte der Repräsentation: Porträts und Wahlspruch Verglichen mit der „Série uniforme“ Ludwigs XIV. (1638 – 1715) ergeben die Medaillen Karls VI. kein einheitliches Erscheinungsbild.⁷⁹ Zwar waren die Richtlinien zur Gestaltung der Münzporträts auch für die Medaillenprägung maßgebend, allerdings war eine strikte Normierung nach französischem Vorbild wohl nicht erwünscht. So gravierte alleine der Kammermedailleur Benedikt Richter zehn unterschiedliche Medaillenporträts Karls VI.,⁸⁰ die verschiedengestaltig antike Kaiserikonografie rezipierten, indem beispielsweise der Porträtkopf all’antica mit geschwungenem Halsabschnitt endete, oder der Kaiser in Rückenansicht erschien, wie es u. a. von Münzen Kaiser Trajans (53 – 117) bekannt war.⁸¹ Die feinen
Wienerischen redenden Erleuchtungen Bey Welt-erwünschter Geburt Des Durchlauchtigsten ErzHerzogs Leopoldi etc. etc. Wien 1716 – mit 3 Medaillen; ders.: Brevis explicatio numismatum aliquot ex iis quae in imperatoris Carolis VI historia numismatica aeternitati Augusti dicantur. o.O., o. J. (1719) – enthält 35 Medaillen; ders.: Inscriptiones et symbola varii argumenti. Nürnberg 1721 – enthält u. a. 42 Medaillen (S. 13 – 98); s. dazu Massimo Scandola: Le livre des médailles de Louis XIV et ceux des empereurs d’Autriche, in: Yvan Loskoutoff (Hrsg.), Les médailles de Louis XIV et leur livre. Mont-Saint-Aignan 2016, S. 365 – 366. Fischer/Maué, Nürnberg, S. 14– 15; Rath, Medaille 1, S. 13 – 14. WD 1770 (17.07.1720), S. 2, 10. Die Beschreibung ist eine deutschsprachige Version der 1721 von Heraeus veröffentlichten lateinischen Erläuterung, vgl. Heraeus, Inscriptiones, Nr. 63. Die „Série uniforme“ der „Histoire métallique“ Ludwigs XIV. umfasste in ihrer 1702 publizierten Fassung 286 Medaillen mit einem normierten Durchmesser (41 mm) und vereinheitlichten, dem Alterungsprozess Ludwigs nachempfundenen Porträts, s. Jean-Paul Divo: Catalogue des médailles de Louis XIV. Zürich 1982, S. 17. Zur Entstehungsgeschichte der Medaillen: Sylvie de Turckheim-Pey: Médailles du Grand Siècle. Histoire métallique de Louis XIV. Paris 2004. Einen Verglich zwischen der Medaillenprägung Karls VI. und Ludwigs XIV. liefert Rath, Medaille 1, S. 18 – 22. Rath, Medaille 2, Nrn.: 56, 99, 108, 120 A/B,152 A/B, 193, 272, 313. Vgl. Rath, Medaille 1, S. 55 – 56. Siehe auch Theresia Hauenfels: Visualisierung von Herrschaftsanspruch: die Habsburger und Habsburg-Lothringer in Bildern. Wien 2005, S. 248; Heinz Winter: Glanz des Hauses Habsburg. Die habsburgische Medaille im Münzkabinett des Kunst-
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Nuancen der Romanitas, wurden bewusst eingesetzt, um (anlassbezogen) auf Tugenden der Cäsaren zu verweisen und fanden in weiterer Folge in Anlehnung an das Medaillenporträt Karls auch in andere Kunstgattungen Eingang, um den Kaiser „in seiner Würde als welthistorische Größe nach antiken Vorbildern“ zu inszenieren.⁸² Durch die Verknüpfung mythologischer, religiöser, astrologischer und ereignisspezifischer Bild- und Textelemente entstand auf den Medaillen „ein vielschichtiges Beziehungs- und Bedeutungsgeflecht“.⁸³ Beispielsweise folgte die bei Karl VI. vordergründige Herkules-Symbolik einer bis auf Kaiser Maximilian I. (1459 – 1519) zurückreichenden habsburgischen Tradition, demonstrierte aber insbesondere durch die zwei Säulen von Gibraltar – als Referenz auf die Imprese Karls V. (1500 – 1558) – auch den territorialpolitischen Machtanspruch Karls VI.⁸⁴ Außerdem präsentierte Heraeus die Doppelsäule in Verbindung mit der Devise „Fortitudine et Constantia“ als „Emblema Morale“ auf der Rückseite einer undatierten Medaille.⁸⁵ Das bekrönte und zur Symbolisierung von Krieg und Frieden mit Lorbeer- und Palmzweigen umwundene Säulenpaar stellte er in seinen Erläuterungen als Verkörperung des Mottos dar und bezeichnete es letztlich als Stütze der Krone Karls VI.⁸⁶ Auf den Krönungs- und Gnadenmedaillen erschien die Devise hingegen zusammen mit dem „symbolum proprium“ Karls VI., der von Wolken umgebenen Weltkugel. Diese Imprese bezog den persönlichen Leitspruch auf den Regierungsstil des Kaisers, der sein Reich ebenso standhaft und tapfer beschirmen und lenken möge, wie der Wolkenkranz den Erdball.⁸⁷ Die Erfüllung dieser Intention durch die beiden Tugendideale wurde schließlich auf einem niederländischen Jeton anlässlich der Eroberung Belgrads (1717) emblematisch verkündet und mit Karls Kampf gegen die Osmanen assoziiert. Die Rückseite zeigte unter der kaiserlichen Devise einen Löwen, der seine Jungen vor einem Drachen und vor Schlangen verteidigt, während – als Zeichen der Unvergänglichkeit des Reichs –
historischen Museums. Wien 2009, Nr. 77 (S. 84, Taf. 22), Nr. 80 (S. 84, Taf. 23); vgl. auch Bernhard Woytek: Die Reichsprägung des Kaisers Traianus (98 – 117). Wien 2010, S. 78 – 79. Ingeborg Schemper-Sparholz: Das Münzbildnis als kritische Form in der höfischen Porträtplastik des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien 92 (1996), S. 172– 179; Matsche, Karl VI., S. 67. Weißbrich, Gedächtniskunst, S. 162. Bruck, Herculier, S. 191– 198; Posselt-Kuhli, Kunstheld, S. 144– 155; Hauenfels, Visualisierung, S. 246– 250; Matsche, Karl VI., S. 33, 240 – 253, 343 – 371; Polleroß, Spanien, S. 133 – 137. Gisela Förschner: Frankfurter Krönungsmedaillen aus den Beständen des Münzkabinetts. Frankfurt am Main 1992, Nrn. 218 – 219 (S. 225). Heraeus, Inscriptiones, S. 23; Matsche, Karl VI., S. 351. Matsche, Karl VI., S. 64, 319 – 321.
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ein Adler mit dem Halbmond in den Klauen zur Sonne aufsteigt (Abb. 5).⁸⁸ Der Wahlspruch Karls VI. wurde mitunter auch adaptiert und doppeldeutig eingesetzt. Er fand sich beispielsweise in der oben erwähnten Randschrift „CONSTANTER CONTINET ORBEM“ wieder, die das Münzrund ebenso umschloss und schützen sollte, wie Karl VI. durch seine „Constatia et Fortitudine“ sein Reich (und das Christentum) vor Schaden bewahrte, oder wie die Wolken den Globus umhüllten.
Abb. 5: Münzstätte Antwerpen: Jeton auf die Eroberung Belgrads 1717; Wien, Kunsthistorisches Museum.
Fazit: Repräsentation zwischen Tradition und Innovation Als Medien der Herrscherrepräsentation erfüllten Münzen und Medaillen unterschiedliche Zwecke. Während Medaillen im historiografischen Sinn vorrangig der Erinnerung dienten⁸⁹, waren Münzen ihrer Geldfunktion verpflichtet. Als offizielle Zahlungsmittel mussten Münzen Stabilität suggerieren, weshalb ihre Gestaltung meist konservativ ausfiel. Dies äußert sich bei Karl VI. in der Weiterführung lokaler Prägetraditionen, wie der Übernahme von Münztypen seiner Vorgänger.⁹⁰ Die breitgestreute Münzprägung Karls VI. lässt erkennen, dass auf den Münzen sein Titel und das rückseitige Wappen meist an den Münzstand angepasst waren und nicht sein komplettes Herrschaftsgebiet repräsentierten.⁹¹ Das Wappen verkörperte demnach nicht nur die Rechtsnachfolge in deren Tradition der Herrscher stand, sondern auch den Münzstand und legitimierte dadurch die Ausübung des Münzregals.⁹²
Yvon Kenis: Catalogue des medailles et jetons des Pays-Bas Autrichiens 1714– 1794. Brüssel 2000, Nr. 144. Ein ähnliches Emblem in: o.A.: Invictissimo, gloriosissimo, potentissimoque, Romanorum Imperatori Carolo Sexto et Regi Hispaniae III. Duci Brabantiae IV. 11. Octobris 1717. Inaugurato Bruxellis. Applausus chronographicus. Brüssel 1717, S. 11. Grundlegend Christopher Eimer: An Introduction to Commemorative Medals. London 1989. Vgl. u. a. Barcelona, Sardinien, Mailand, Niederlande. Vgl. u. a. Mallorca, Mantua, Sardinien. Zur Heraldik auf neuzeitlichen Münzen: Probszt, Geldgeschichte, S. 45 – 50.
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Das Porträt auf der anderen Seite repräsentierte die natürliche Person des Herrschers, der als Münzherr mit seinem Bildnis die Gültigkeit der Prägung garantierte. Es sollte einerseits das Vertrauen der Untertanen in die Qualität der Münzen bestärken und erfüllte andererseits auch repräsentative, propagandistische und politische Funktionen, etwa, wenn beim Regierungsantritt Münzen mit dem Bildnis des neuen Herrschers ins Volk geworfen wurden. Durch die Akzeptanz der Münzen drückte das Volk wiederum die Akzeptanz des Regenten aus.⁹³ Die Zweiheit von Porträt (Wertgarantie) und Wappen (Legitimierung des Prägerechts) kommt daher einem Qualitätssiegel nahe, das als visuelle Kurzform die rechtliche Basis der Münzprägung bestätigt.⁹⁴ Diese beiden Ebenen der Machtsymbolik wurden auf den Talern Karls VI. durch die Randschrift um eine dritte Ebene ergänzt.⁹⁵ Die von Karl VI. befohlene Vereinheitlichung der erbländischen Münzbilder und die Verbesserung der Prägequalität waren in erster Linie Sicherheitsmaßnahmen, die das Fälschen der Münzen erschweren sollten.⁹⁶ Gleichzeitig beförderten diese Maßnahmen aber auch das Erscheinungsbild der Münzen, auf deren Gestaltung Carl Gustav Heraeus nachhaltig Einfluss nahm. Mit dem Auftrag einer „Historia numismatica“ wollte Karl VI. die Medaille verstärkt als repräsentatives und auch historiografisches Medium für sich nutzen. Diesem Bestreben entsprechend erreichte die habsburgische Medaillenprägung unter seiner Regierung einen deutlichen Aufschwung, wie beispielsweise aus der großen Anzahl von unterschiedlichen Medaillen anlässlich der Wahl und der Krönung zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs hervorgeht.⁹⁷ Wie Matsche eindrücklich darstellte, nahm die Medaille hinsichtlich ihrer ikonografischen und inhaltlichen Vielfalt unter allen Kunstkategorien eine herausragende Rolle ein. Obwohl Karl VI. die strategisch geplante und zentralisiert produzierte „Histoire Metallique“ Ludwigs XIV. zum Vorbild hatte, war seine Medaillenproduktion weder institutionalisiert noch zentriert.⁹⁸ Dennoch traf er Maßnahmen, die schrittweise zu einer Zentralisierung führten, da er Heraeus mit deren Konzeption beauftragte und ihm ein Medaillenprägewerk in der Wiener Münzstätte zur Verfügung stellte. Außerdem wandelte sich unter seiner Regierung die Wiener
Beispielsweise sollen während des Spanischen Erbfolgekriegs in Neapel einige Untertanen die Münzen mit dem Porträt Philipps V. nicht angenommen haben, um so ihre Ablehnung des durch die Münzen repräsentierten Herrschers auszudrückten, s. Winkler, Bildnis, S. 242, 244. Zur „Körperreferenz von Wappen und Porträt“ Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. 4. Aufl. München 2011, S. 115 – 142. Vgl. Belting, Bild-Anthropologie, S. 140 – 141. Fellner/Kretschmayr, Aktenstücke, S. 294. Über 100 Medaillenvarianten, s. Förschner, Krönungsmedaillen, Nrn. 125 – 232, S. 158 – 263. Weißbrich, Gedächtniskunst, S. 159.
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Münzstätte zum k. u. k. Hauptmünzamt, wo Bildvorlagen für die übrigen Münzstätten hergestellt wurden und sich die Ausbildungsstätte für Stempelschneider befand. Ein Vorausblick auf die Medaillenprägung Maria Theresias (1717– 1780) zeigt, dass in ihrer Regierungszeit der Anteil der Wiener Prägungen (67 %) deutlich zunahm und Wien ins Zentrum ihrer Medaillenproduktion rückte.⁹⁹ Somit schuf Karl VI. während seiner Regierungszeit für die Wiener Medaillenprägung ein bedeutendes Fundament, auf dem seine Nachfolgerin aufbauen konnte.
Dazu Anna Fabiankowitsch: Striking Images. Coins and Medals of Maria Theresa (1740 – 1780) as means of Visual Communication of Sovereignty in Royal Representation Strategies, in: Marion Romberg (Hrsg.), Empresses and Queens in Courtly Public Spheres from the 17th to the 20th Century. Leiden (in Vorbereitung).
Andrea Sommer-Mathis/Danièle Lipp
Neue Quellen zum Musiktheater am Hofe Erzherzog Karls in Barcelona während des Spanischen Erbfolgekrieges (1705 – 1713) Die Einführung der italienischen Oper in Barcelona (Andrea Sommer-Mathis)
Nachdem Kaiser Leopold I. seinen 18-jährigen Sohn, Erzherzog Karl, am 12. September 1703 zum spanischen König – und damit zum Gegenkönig Philipps V. von Anjou – proklamiert hatte, sandte er ihn auf die iberische Halbinsel, um die Ansprüche der österreichischen Habsburger auf den spanischen Thron auch persönlich zu verteidigen. In Wien war Karl an einem Hof mit einer überaus reichen musikalischen und musiktheatralischen Tradition aufgewachsen, die sich bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.¹ Kaum hatte der junge Monarch seine Residenz in Barcelona eingerichtet und den Königspalast nach seinen Vorstellungen und repräsentativen Bedürfnissen adaptiert², so wollte er auch hier musiktheatralische Aktivitäten nach dem Vorbild seines Heimathofes setzen und begann sogleich, die dafür notwendigen Spezialisten zu engagieren: Librettisten, Komponisten, Instrumentalisten, Sänger und Bühnenbildner. Sie stammten alle aus Italien – aus Neapel, Rom, Mailand und Venedig, also aus den großen Zentren der italienischen Oper. Darunter be-
Der erste Teil des vorliegenden Beitrags basiert auf einem Artikel, der 2017 in spanischer Sprache erschienen ist: Andrea Sommer-Mathis: La transferencia de músicos y música de la corte real de Barcelona a la corte imperial de Viena en las primeras décadas del siglo XVIII, in: Tess Knighton/ Ascensión Mazuela (Hrsg.), Música i política a l’època de l’arxiduc Carles en el context europeu. Barcelona 2017, S. 47 – 61. Der zweite Teil ist ein Originalbeitrag von Danièle Lipp. Vgl. u. a. Herbert Seifert: Die Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jahrhundert (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 25). Tutzing 1985; ders.: Barock (circa 1618 bis 1740), in: Wien Musikgeschichte. Von der Prähistorie bis zur Gegenwart (Geschichte der Stadt Wien 7). Wien/ Berlin 2011, S. 143 – 212. Vgl. AHN, Fondo del Archiduque, leg. 8698 und 8699. https://doi.org/10.1515/9783110670561-019
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fanden sich so renommierte Künstler wie die Dichter Apostolo Zeno³ und Pietro Pariati⁴, die Komponisten Antonio Caldara⁵, Andrea Stefano Fiorè⁶, Francesco Gasparini⁷, Emanuele d’Astorga⁸ und Giuseppe Porsile⁹, die Sänger und Sänge-
Vgl. Willy Pietzsch: Apostolo Zeno in seiner Abhängigkeit von der französischen Tragödie. Leipzig 1907; Max Fehr: Apostolo Zeno (1668 – 1750) und seine Reform des Operntextes. Ein Beitrag zur Geschichte des Librettos. Zürich 1912; Elena Sala Di Felice: Zeno: da Venezia a Vienna. Dal teatro impresariale al teatro di corte, in: Maria Teresa Muraro (Hrsg.), L’opera italiana a Vienna prima di Metastasio (Studi di musica veneta 16). Florenz 1990, S. 65 – 114; dies.: Zeno, Metastasio e il teatro di corte, in: Paulo Chiarini/Herbert Zeman (Hrsg.), Italia-Austria alla ricerca del passato comune (Atti dell’Istituto italiano di studi germanici 5). Rom 1955, S. 523 – 568; Alfred Noe: Zeno, Apostolo, in: Oesterreichisches Musiklexikon online: https://www.musiklexikon.ac.at/ml/ musik_Z/Zeno_Apostolo.xml (30.10. 2019). Vgl. Giovanna Gronda: La carriera di un librettista. Pietro Pariati da Reggio di Lombardia (Proscenio 5). Reggio Emilia 1990; darin u. a. Herbert Seifert: Pietro Pariati poeta cesareo, S. 45 – 71, wieder veröffentlicht in: ders., Texte zur Musikdramatik im 17. und 18. Jahrhundert. Aufsätze und Vorträge, hrsg. von Matthias Pernerstorfer (Summa Summarum 2). Wien 2014, S. 539 – 557; Alexander Rausch: Pariati, Pietro, in: Oesterreichisches Musiklexikon online: https:// www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_P/Pariati_Pietro.xml (30.10. 2019). Vgl. Brian W. Pritchard (Hrsg.), Antonio Caldara. Essays on His Life and Times. Aldershot 1987; Angela Romagnoli: Caldara, Antonio, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG). 2. neubearb. Aufl. Personenteil, Bd. 3 (Bj–Cal). Kassel u. a. 2000, Sp. 1660 – 1674; Ursula Kirkendale: Antonio Caldara. Life and Venetian-Roman Oratorios. 2. durchgesehene und übersetzte Aufl. Florenz 2007 (Original: Antonio Caldara. Sein Leben und seine venezianischrömischen Oratorien (Wiener musikwissenschaftliche Beiträge 6). Graz/Köln 1966); Andrea Zedler: Antonio Caldaras Kantatenschaffen zwischen römischen Conversazioni und dem Zeremoniell des Wiener Hofes, in: Studien zur Musikwissenschaft 57 (2013), S. 117– 140; dies., Die Kantaten Antonio Caldaras für Principe Francesco Maria Ruspoli und Kaiser Karl VI. Diss. phil. Graz 2017; Milada Jonášová/Tomislav Volek (Hrsg.), Antonio Caldara nel suo tempo. Prag 2017; Elisabeth Th. Hilscher: Caldara, Antonio, in: Oesterreichisches Musiklexikon online: https://www. musiklexikon.ac.at/ml/musik_C/Caldara_Antonio.xml (30.10. 2019). Vgl. Mariateresa Dellabora: Fiorè, Andrea Stefano, in: Finscher, MGG, Personenteil, Bd. 6 (E– Fra). Kassel u. a. 2001, Sp. 1220 – 1222 (kein Hinweis auf Fiorès Kompositionstätigkeit für den Hof Karls in Barcelona). Lisa Navach: Gasparini, Francesco, in: Finscher, MGG, Personenteil, Bd. 7 (Fra–Gre). Kassel u. a. 2002, Sp. 575 – 582 (kein Hinweis auf Gasparinis Kompositionstätigkeit für den Hof Karls in Barcelona). Vgl. Hans Volkmann: Emanuel d’Astorga, 2 Bde. Leipzig 1911 (Bd. 1, Kap. IV: War Astorga 1709 in Barcelona?); Frank Walker: Astorga and a Neapolitan Librettist, in: Monthly Musical Record 81 (1951), S. 90 – 96; O. Tiby: Emmanuele d’Astorga: aggiunte e correzioni da apportare alle ricerche del Prof. Hans Volkmann, in: Acta musicologica 25 (1953), S. 93 – 111; Daniel Brandenburg: Astorga, Emanuele d’, in: Finscher, MGG, Personenteil, Bd. 1 (Aa–Bae), Kassel u. a. 1999, Sp. 1096 – 1098; Andrea Sommer-Mathis, Entre Nápoles, Barcelona y Viena. Nuevos documentos sobre la circulación de músicos a principios del siglo XVIII, in: Artigrama 12 (1996 – 1997), S. 45 – 77, hier S. 58 – 60.
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rinnen Giulio Cavalletti, Ranuccio Valentini, Pietro Paolo Pezzoni, Elena Marani und Angela Reparini¹⁰ sowie der Bühnenarchitekt Ferdinando Galli Bibiena¹¹. Nicht alle dieser Künstler kamen auch persönlich nach Barcelona, sondern einige von ihnen sandten bloß ihre Werke dorthin. Karl beabsichtigte aber, nach dem Modell des Kaiserhofes ein festes Ensemble einzurichten, das in der Lage war, Musik und vor allem Opern nach den repräsentativen Erfordernissen seines neuen Königshofes zu produzieren. Die Anlässe, die das Hofzeremoniell dafür vorsah, waren dieselben wie in Wien: Hochzeiten und vor allem Geburts- und Namenstage von Mitgliedern der habsburgischen Familie. Das erste Ereignis, das Karl mit einer italienischen Festoper feiern wollte, war seine eigene Eheschließung mit Prinzessin Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel, die am 23. April 1708 in Wien per procurationem mit Kaiser Joseph I. als Stellvertreter des Bruders vollzogen worden war und nach der Ankunft seiner Frau in Barcelona am 1. August 1708 ratifiziert werden sollte.¹² Erhalten hat sich
Vgl. Andrea Sommer-Mathis: Politik und Musikerreisen zu Beginn des 18. Jahrhunderts am Beispiel Giuseppe Porsiles, in: Christian Meyer (Hrsg.), Les Musiciens et ses voyages. Pratiques, réseaux et représentations. Berlin 2003, S. 29 – 42; Elisabeth Th. Fritz-Hilscher: Porsile, Giuseppe, in: Finscher, MGG, Personenteil, Bd. 13 (Pal–Rib). Kassel u. a. 2005, Sp. 788 – 790; Danièle Lipp: Giuseppe Porsile, in: Dizionario Biografico degli Italiani 85 (2016), http://www.treccani.it/ enciclopedia/giuseppe-antonio-gennaro-giovanni-porsile_(Dizionario-Biografico)/ (28.10. 2019); Rudolf Flotzinger/Christian Fastl: Porsile (Borsile, Persile, Porcile, Porsille, Porzille), Giuseppe (Joseph), in: Oesterreichisches Musiklexikon online: https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_ P/Porsile_Giuseppe.xml (30.10. 2019). Vgl. zu den Sängern in Barcelona u. a. Sommer-Mathis, Entre Nápoles, S. 49 – 54. Vgl. Deanna Lenzi: L’attività dei bolognesi Ferdinando, Alessandro e G. Carlo Sicinio Galli Bibiena in terra iberica, in: José Luis Colomer/Amadeo Serra Desfilis (Hrsg.), España y Bolonia. Siete siglos de relaciones artísticas y culturales. Madrid 2006, S. 293 – 306, hier S. 298; Laura Bernardini: Ferdinando Galli Bibiena alla corte di Barcellona e la scenografia per la Festa della Peschiera, in: Quaderns d’Italià 14 (2009), S. 131– 158. Vgl. zur Hochzeit u. a. O.A.: Beschreibung / Der den 23. April 1708. beschehenen Vermählung / Zwischen Ihrer Röm. Kayserl. Majestät / JOSEPHO I. Als MANDATARIO Ihrer Cathol. Majestät / CARL des Dritten / Königs in Spannien /ec. / Und / Der Durchleuchtigsten Princeßin / ELISABETHA CHRISTINA, Hertzogin von Braunschweig und Lüneburg / Wolffenbüttlischer Linie / ec. / Sodann darauff erfolgter Abreyß nach Spannien. Wien / bey Joh. Baptist Schönwetter / Kays. Hof= und Univ. Buchhandler. o.J. [1708]; Francisco de Castellví: Relacion y Solemne Casamiento del Rey Carlos; Sircunstancias [sic!], que precedieron, viage, embarco, y arribo à Cataluña de la Reyna Doña Isabel Christina; Fiestas, y ostentosa y solemne entrada en Barcelona; Solemnidad publica del Real Desposorio, y Gracias que hizo el Rey Carlos en esta festiva ocasion, in: Narraciones históricas desde el año 1700 hasta el año 1725 (Manuskript in: ÖStA, HHStA, HS W 345, fol. 1r–44v; Edition hrsg. von Josep M. Mundet i Gifre und José M. Alsina Roca, Bd. 2. Madrid 1998); Marcus Landau: Geschichte Kaiser Karls VI. als König von Spanien. Stuttgart 1889, S. 385 – 398, 481– 487; Andrea Sommer-Mathis: Österreich im Kampf um das spanische Erbe, in: dies., Tu
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das Libretto eines kurzen „Scherzo pastorale“ mit dem Titel L’Imeneo ¹³ – ein Titel, der sich direkt auf die Eheverbindung bezog, doch die eigentliche Hochzeitsoper kennen wir nicht. Lange galt das „componimento da camera per musica“ von Pietro Pariati und Antonio Caldara Il più bel nome ¹⁴ als Hochzeitsoper¹⁵, doch scheint es wahrscheinlicher, dass dieses Werk erst anlässlich von Elisabeth Christines Namenstag im November 1708 aufgeführt wurde, wie schon der Titel („Der schönste Name“) andeutet.
Das Engagement Ferdinando Galli Bibienas Für eine Kammerkomposition in einem Akt, die für eine intime Inszenierung in den Appartements des Königspaares konzipiert war, wurde üblicherweise nicht viel szenischer Aufwand getrieben. Karl hatte aber den damals schon renommierten Bühnenbildner Ferdinando Galli Bibiena (1656 – 1743) aus Bologna beauftragt, die Hochzeitsfestlichkeiten für ihn auszustatten. Dieser hatte im Juni 1708 die Bühnenbilder für die Oper Engelberta ¹⁶ (Libretto von Apostolo Zeno, Musik von Andrea Fioré) entworfen, die während des Aufenthalts von Elisabeth
felix Austria nube. Hochzeitsfeste der Habsburger im 18. Jahrhundert (dramma per musica 4). Wien 1994, S. 11– 30. O.A.: L’Imeneo. Scherzo pastorale. Da recitarsi nelle nozze della Cattolica Maestà di Carlo Terzo Monarca delle Spagne, &c. con la Serenissima Elisabetta Cristina Principessa di Brunsvuich Vuolfenbvttel. Per Rafaele Figuerò, Stampatore del Rè N.S. Barcelona 1708. O.A.: Il più bel nome. Componimento da camera per musica nel festeggiarsi il nome felicissimo di Sua Maestà Cattolica Elisabetta Cristina Regina de le Spagne. – Von diesem Werk hat sich kein Libretto, sondern nur eine undatierte handschriftliche Partitur in der Bibliothek des Konservatoriums von Brüssel erhalten (Bc/584); Veröffentlichung der Partitur in den Denkmälern der Tonkunst Österreichs: Antonio Caldara (1670 – 1736), Il più bel Nome (1708), Componimento da Camera per Musica. Chi s’arma di virtù (1709), Serenata, hrsg. von Thomas Griffin (DTÖ 162), Wien 2020. Ursula Kirkendale vermutete, dass die Aufführung von Il più bel nome während des Aufenthalts von Elisabeth Christine in Mailand stattgefunden habe, bevor sie von dort über Genua nach Barcelona weiterreiste (vgl. Kirkendale, Antonio Caldara, S. 52– 54). – 2008 fand in Barcelona eine Tagung zu „Il più bel nome de Antonio Caldara (1708), i les musiques de l’època de la Guerra de Successió“ statt, deren Vorträge in der katalanischen Zeitschrift Recerca musicològica 19 (2009) veröffentlicht wurden; sie bringen allerdings kaum neue Forschungsergebnisse, sondern basieren zum Teil auf den längst überholten Angaben von José Rafael Carreras y Bulbena: Carlos d’Austria y Elisabeth de Brunswich Wolfenbüttel a Barcelona y Girona. Barcelona 1902. L’Engelberta. Drama per musica da rappresentarsi nel Regio Teatro di Milano l’anno 1708 alla presenza della S.R.M. di Elisabetta Cristina Regina di Spagna &c.&c. e consagrato alla medema. In Milano per gli Eredi Ghisolfi.
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Christine in Mailand auf ihrer Reise nach Barcelona aufgeführt wurde.¹⁷ Dafür waren mehrere Dekorationswechsel vorgesehen; im Libretto werden nicht weniger als acht Bühnenbilder genannt: eine Landschaft mit Blick auf Stadt und Palast¹⁸, ein Saal¹⁹, ein Innenhof ²⁰, ein Garten²¹, ein Wald²², ein Kabinett²³, eine kaiserliche Grabstätte, die dann zu den Elysischen Gefilden wurde²⁴, und schließlich ein Amphitheater mit einer Wolkenmaschine samt Monstern, die sich in den Palast der Unschuld verwandeln sollte²⁵. Ferdinando Galli Bibiena wird hier noch als Architekt im Dienste des Herzogs von Parma angeführt²⁶, war aber bereits am 6. Mai 1708 an den Hof Karls nach Barcelona abgereist. Aus Dokumenten, die sich im Mailänder Staatsarchiv erhalten haben²⁷, kennt man den Tag, an dem Ferdinando Galli Bibiena in die Dienste des habsburgischen Prätendenten auf den spanischen Thron eintrat: Es war der 9. Juli 1708, also fast ein Monat vor der Ankunft von Elisabeth Christine in Barcelona.²⁸ Nur drei Monate später, am 8. Oktober 1708, ernannte Karl den Bühnenbildner zu seinem „Primer Architecto, Cavo Maestro mayor, y Pintor de mi Real Camara“²⁹. Es scheint schwer
Vgl. dazu Danièle Lipp im zweiten Teil dieses Beitrags. „Campagna ingombrata da folti alberi, i quali abbattuti da una Truppa di Guastadori dano [sic!] luogo alla vista di una Città da una parte, e di un Palazzo delicioso in Campagna dall’altra.“ „Salone Imperiale, in cui sono dipinte le Vittorie di Cesare.“ „Cortile interno di Palazzo Suburbano.“ „Giardino contiguo agli Appartamenti Imperiali.“ „Principio di foltissimo Bosco.“ „Gabinetto Imperiale.“ „Luogo de sepolcri Imperiali, che tramutandosi figureranno un imagine de Campi Elisij con la loro lucida trasparenza.“ „Luogo Magnifico à foggia di vasto Amfiteatro. Nell’alto una continua nuvolosa sempre in giro con dentro diversi orridi mostri, che poscia si tramuta nella Reggia dell’Innocenza.“ „Le Scene sono del Sig. Ferdinando Galli Bibiena Ingegnere, & Architetto di S.A.S. di Parma.“ Mailand, Archivio di Stato di Milano (I-Mas), Finanze, Apprensioni, cartella 399. Vgl. Bernardini, Ferdinando Galli Bibiena, S. 135; dies.: Teatro e musica a Barcellona alla corte di Carlo III d’Asburgo, in: Recerca Musicològica 19 (2009), S. 199 – 227, hier S. 202, Anm. 6. ÖStA, HHStA, OMeA, ÄR 15 (1715 – 1717), fol. 663: Referat vom 6. März 1717 mit Abschrift des spanischen Dekrets vom 8. Oktober 1708: „[…] Por quanto se halla Ferdinando Galli Bibiena exercitando en mi Real Seruicio su acreditada habilidad en la Architectura, y Pintura, hauiendo manifestado su Zelo en hauerse venido desde Italia a esta Ciudad al referido fin, para que pueda continuar su merito con la aplicacion, y acierto que hasta aqui; He resuelto hazerle merzed (como por la presente se la hago) del titulo de primer Architecto, Cavo Maestro mayor, y Pintor de mi Real Camara, y Fiestas de Theatro que se executaren para mi Real diuersion, concediendole todas las prerrogatiuas, y exempciones, que por razon del mencionado titulo le tocan, y pertenezen, segun las han gozado los demas de su genero, sin que se le falte en cossa alguna. Portanto mando vse el referido Ferdinando Galli Bibiena del titulo de primer Architecto, cauo Maestro mayor, y Pintor en la forma que queda expresado, gozando Juntamente de las exempciones, y prerrogatiuas, que le
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vorstellbar, dass der Monarch dies getan hätte, ohne zuvor einen handfesten Beweis der Talente Galli Bibienas gesehen zu haben. Auf jeden Fall blieb Ferdinando Galli Bibiena als Architekt und Bühnenbildner nicht nur bis zum 9. November 1711 im Dienste von Karl in Barcelona, sondern begleitete ihn auch nach dessen Regierungsübernahme nach Wien, wo er seine Tätigkeit fortsetzte, unterstützt von seinen Söhnen Alessandro, Giuseppe und Antonio. Als Ferdinando im Jahre 1716 nach Bologna zurückkehrte, blieben seine Söhne in Wien und sorgten gemeinsam für die Bühnenausstattung der kaiserlichen Hofoper.³⁰ Ferdinando Galli Bibiena wird eine wichtige Reform in der Szenografie zugeschrieben – die sogenannte Winkelperspektive („la maniera di vedere le scene per angolo“), die er anstelle der strengen Zentralperspektive einführte, welche die Bühnenbilder des 17. Jahrhunderts dominiert hatte. Galli Bibiena beschrieb seine neue Methode in dem Traktat L’architettura civile ³¹, der 1711 in Parma mit einer Widmung an seinen habsburgischen Mäzen Karl veröffentlicht wurde. Zu den in München erhaltenen Zeichnungen von Ferdinando Galli Bibiena für Barcelona gehören fünf Aquarellzeichnungen, die für eine Festa della Peschiera – ein „Fest auf dem Fischteich“, somit eine Freilichtaufführung – bestimmt waren, von der leider weder der genaue Titel noch das Datum der Aufführung bekannt
corresponden; Que assi prozede de mi Real Voluntad. Dado en Barzelona a ocho de Octubre de mill Setecientos y ocho. Yo, el Rey.“ Ferdinando Galli Bibiena hatte schon 1713 die Nachfolge seines Bruders Francesco und Antonio Beduzzis als Bühnenarchitekt am Kaiserhof angetreten, erhielt allerdings erst 1717, nachdem er Wien bereits verlassen hatte, ein kaiserliches Dekret als „Erster Architetto und Ingegnier Theatrale“ (ÖStA, HHStA, OMeA, Prot. 8, 1713 – 1717, fol. 643r – 643v: Dekret vom 31.03.1717). 1723 wurde seine Position offiziell auf seinen Sohn Giuseppe übertragen, und dessen Bruder Antonio übernahm die Stelle des zweiten Bühneningenieurs (ÖStA, HHStA, OMeA, Prot. 10, fol. 4v–5v: Referat vom 13.01.1723). Vgl. Andrea Sommer-Mathis: Von Barcelona nach Wien. Die Einrichtung des Musik- und Theaterbetriebes am Wiener Hof durch Kaiser Karl VI., in: Josef Gmeiner u. a. (Hrsg.), Musica conservata. Günter Brosche zum 60. Geburtstag. Tutzing 1999, S. 355 – 380, hier 360, 367 f.; Martina Frank: I Bibiena a Vienna: la corte e altri committenti, in: Deanna Lenzi/Jadranka Bentini (Hrsg.), I Bibiena una famiglia europea. Ausstellungskatalog, Pinacoteca Bologna. Venedig 2000, S. 109 – 120; dies.: Skizzen, Zeichnungen und Druckgrafiken als Quellen für die Wiener Tätigkeit der Galli Bibiena, in: Andrea Sommer-Mathis/Daniela Franke/Rudi Risatti (Hrsg.), Spettacolo barocco! Triumph des Theaters. Ausstellungskatalog, Theatermuseum Wien. Petersberg 2016, S. 151– 167. O.A.: L’architettura civile preparata su la geometria e ridotta alle prospettive. Considerazioni pratiche di Ferdinando Galli Bibiena cittadino bolognese architetto primario, capo mastro maggiore, e pittore di camera, e feste di teatro della Maestà di Carlo III. il monarca delle Spagne dissegnate, e descritte in cinque parti […] Dedicata alla Sacra Cattolica Real Maestà di Carlo III. Re delle Spagne, d’Ungheria, Boemia &c. (Paolo Monti) Parma 1711.
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ist.³² Die Maßangaben der „Palmi di Barcellona“ und das Bild einer kleinen Krone deuten jedoch darauf hin, dass die Entwürfe aus Barcelona stammen könnten, und es ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei um die Bühnenbilder für die vorläufig noch unbekannte Hochzeitsoper handelt. Aus den Jahren, die Karl in Katalonien verbrachte (1705 – 1711) haben sich drei Libretti erhalten, die alle in der Druckerei von Rafaele Figuerò in Barcelona gedruckt wurden. Neben L’Imeneo sind dies Zenobia in Palmira ³³ und Scipione nelle Spagne ³⁴. Außerdem befinden sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek mehrere Abschriften von Partituren mit besonderen Merkmalen: Sie stammen von demselben Kopisten oder aus derselben Werkstatt und weisen die gleichen Zeichnungen einer kleinen Hand zur Angabe der Da capoArien auf.³⁵ Außerdem sind die Titelblätter von zumindest vier dieser Werke auf recht aufwendige Art illustriert: L’Atenaide ³⁶, eine Pasticcio-Oper von Andrea Stefano Fiorè, Antonio Caldara und Francesco Gasparini, mit einem Libretto von Apostolo Zeno sowie drei Kammermusikwerke derselben Komponisten mit Libretti von Pietro Pariati: die bereits erwähnte kleine Oper Il nome più glorioso ³⁷ mit Musik von Antonio Caldara, weiters L’oracolo del Fato ³⁸ von Francesco Gasparini und Ercole in cielo ³⁹ von Andrea Stefano Fiorè. München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. 41349, 35331– 35334; vgl. Elena Tamburini: Ferdinando Galli Bibiena. Spettacolo sulla peschiera della Lonja a Barcellona, 1708, in: Lenzi/ Bentini (Hrsg.), I Bibiena, S. 249 – 254 (Kat.-Nr. 21a – 21e); Andrea Sommer-Mathis: Vier Bühnenbildentwürfe für eine Freilichtaufführung in Barcelona, in: dies./Franke/Risatti (Hrsg.), Spettacolo barocco, S. 314 und 317 (Kat.-Nr. 8. 7– 10). O.A.: Zenobia in Palmira. Drama per musica. Da rappresentarsi nel Regio Teatro di Barcellona. Alla presenza delle Sacre R. R. Cattoliche M. M. di Carlo III ed Elisabetta Cristina Monarchi delle Spagne. (Rafaele Figuerò) Barcelona 1709. O.A.: Scipione nelle Spagne. Drama per musica. Da rappresentarsi nel Regio Teatro di Barcellona. Alla presenza delle Sacre R. R. Cattoliche M. M. di Carlo III ed Elisabetta Cristina Monarchi delle Spagne. (Rafaele Figuerò) Barcelona [1710]. Vgl. ausführlicher dazu Danièle Lipp im zweiten Teil dieses Beitrags. Wien, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Musiksammlung (MS), Mus. Hs. 18091/1– 3: Atenaide. Drama per musica. Poesia di Apostolo Zeno. Musica di Andrea Fioré [Akt I], Antonio Caldara [Akt II], Francesco Gasparini [Akt III]. ÖNB, MS, Mus. Hs. 18238: Il nome più glorioso. Componimento da camera per musica festeggiandosi il nome glorioso di Sua Maestà Cat. Carlo III delle Spagne. Poesia del Dottor Pietro Pariati. Musica di Antonio Caldara. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17253: L’oracolo del Fato. Componimento da camera per musica nel festeggiarsi il nome felicissimo di S.M. Cattolica Elisabetta Christina Regina delle Spagne. Poesia del Dot[to]r Pietro Pariati. Musica del N: Casparini [sic!]. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17259: Ercole in cielo. Componimento da camera per musica nel festeggiarsi il giorno natalizio di Sua Maestà Cattolica Carlo Terzo Re delle Spagne. Poesia del Dottor Pietro Pariati. Musica di Andrea Fiorè.
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Die genauen Daten der Aufführungen dieser Opern sind unbekannt, nicht jedoch ihre festlichen Anlässe; es handelte sich fast immer um die Namens- oder Geburtstage der Monarchen. Das einzige Werk, das auf Grund des ausführlichen Berichts von Giovanni Francesco Gemelli Careri⁴⁰ genau datiert werden kann, ist Zenobia in Palmira. Die Oper wurde am 28. November 1708 in der Lonja (Börse) von Barcelona erstaufgeführt und Anfang des folgenden Jahres zweimal wiederholt.⁴¹ Bis vor kurzem galt Fortunato Chelleri als Komponist der Oper, doch dürfte zumindest der zweite Akt von Andrea Fiorè stammen. In der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek hat sich nämlich der zweite Akt einer Zenobia erhalten⁴², und der Text dieses Teils der Partitur stimmt mit dem des 1709 gedruckten Librettos von Apostolo Zeno und Pietro Pariati⁴³ weitgehend überein. Man kann davon ausgehen, dass während der Regentschaft von Karl und Elisabeth Christine in Barcelona noch weit mehr Opern und Kammermusik nach italienischem Vorbild aufgeführt wurden, darunter auch die Pastorale Dafni ⁴⁴ des italienischen Komponisten spanischen Ursprungs Emanuele d’Astorga sowie Il nascimento dell’Aurora ⁴⁵ des venezianischen Komponisten Tomaso Albinoni.⁴⁶ Einige dieser Opernproduktionen hatten allerdings mehr Auswirkungen auf die Entwicklung des Wiener Theaters als auf das spanische, respektive katalanische, weil sie nach Karls Rückkehr an seinen Heimathof auch in Wien aufgeführt
[Giovanni Francesco Gemelli Careri:] Aggiunta a’ viaggi di Europa di D. Gio: Francesco Gemelli Careri Giudice della G.C. della Vicaria, e Regio Uditore per S.M. delle Squadre di galee, e vascelli di Napoli. Ove si contiene spezialmente il viaggio della Maestà di CARLO III. da Vienna a Barcelona, e quanto è accaduto di più notabile in guerra dalla morte del Serenissimo Carlo II. sino al presente. (Felice Mosca) Neapel 1711. Ebd., S. 68: „Nel Regio Teatro la sera delli 28. [Novembre] si rappresentò un’Operetta in musica, detta la Zenobia in Palmiera [sic!] (che si fe venire da Milano, dove era stata molti anni prima rappresentata con gradimento universale) coll’assistenza delle Maestà loro assise in due sedie, e della Nobiltà in banchi, che riuscì ottima, benche non siano stati, che cinque Rappresentanti.“ S. 72: „Nel Real Teatro alli 9 [Gennaro 1709] si rappresentò la Zenobia in palmiera [sic!], assistendovi molte Dame, e Nobiltà in Banchi, sedendo le Maestà loro avanti in due sedie, poste sopra una Pradella. Le mutazioni di scena nuovamente fatte dal Bibiena furono assai vaghe, e vistose.“ S. 76: Nel 9. [Febrajo] si rappresentò la Zenobia in Palmiera nel Regio Teatro, recitandovi la Lapparini da Zenobia, e d’Aspasia la Cioccioli.“ ÖNB, MS, Mus. Hs. 17234. Vgl. Anm. 33. ÖNB, MS, SA. 68. B. 2 (Fonds Kiesewetter): Dafni. Dramma pastorale per musica tenuta à Barcellona avanti le loro Maestà Cattoliche l’anno 1709. alli di giugno. Musica del Baron d’Astorga. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17738: Il Nascimento dell’Aurora. Festa Pastorale. Musica del Sig.or Tommaso Albinoni Veneto. Vgl. dazu Danièle Lipp im zweiten Teil dieses Beitrags.
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wurden und die meisten der in Barcelona angestellten Künstler ihre Tätigkeit auch am Kaiserhof Karls VI. fortsetzten.⁴⁷
Das Engagement Antonio Caldaras Ferdinando Galli Bibiena diente als Garant für die Kontinuität im szenischen Bereich; für die musikalische Weiterentwicklung der Oper am kaiserlichen Hof sorgte vor allem der venezianische Komponist Antonio Caldara (1670 – 1736), der mit mehreren Kompositionen auch schon zum Opernbetrieb des katalanischen Hofes beigetragen hatte. Dank einiger im Wiener Haus-, Hof und Staatsarchiv erhaltener Briefe gibt es neue Erkenntnisse über die in Fachkreisen mehrfach diskutierte Frage, ob und, wenn ja, wann Caldara in den Dienst von Erzherzog Karl in Barcelona eintrat. So berichtet Marino Francesco Maria Caracciolo Principe di Avellino in einem Brief vom 9. August 1710 an den spanischen Staatssekretär Don Juan Antonio Romeo y Anderaz Marqués de Erendazu, dass verschiedene römische Adelige dem damaligen Kapellmeister des Principe Francesco Maria Ruspoli, Antonio Caldara, mehrfach vorgeschlagen hatten, an den Hof des habsburgischen ‚Gegenkönigs‘ Karl in Barcelona zu wechseln und diesem dort als Kapellmeister mit einem jährlichen Gehalt von 1000 Escudos zu dienen. Zunächst antwortete Caldara ausweichend, dass er seinen alten Vater nicht im Stich lassen könne und auch zu große Angst habe, über das Meer nach Barcelona zu reisen, aber schließlich ließ er sich doch auf Verhandlungen ein und bat darum, die Reise auf dem Landweg absolvieren zu dürfen; gleichzeitig ersuchte er auch um ein höheres Gehalt.⁴⁸
Vgl. Sommer-Mathis,Von Barcelona nach Wien, S. 355 – 380; dies.: Música y teatro en las cortes de Madrid, Barcelona y Viena durante el conflicto dinástico Habsburgo-Borbón. Pretensiones políticas y teatro cortesano, in: Antonio Álvarez-Ossorio/Bernardo J. García García/Virginia León (Hrsg.), La pérdida de Europa. La guerra de Sucesión por la Monarquía de España. Madrid 2007, S. 181– 198, hier S. 184– 190. ÖStA, HHStA, Span. Rat, Rom, Kt. 4 (Berichte, Weisungen 1710 – 1711), Fasz. 4, unfol., Brief des Principe di Avellino an Don Juan Antonio Romeo y Anderaz Marqués de Erendazu, Rom 09.08. 1710: „Señor mio. El M[aestr]o de Capilla Antonio Caldara me hà representado muy por menor las proposiciones, que le han hecho el Marques Clerici, el Reg[en]te Caroello, el P[adr]e Caraffa, y ultimam[en]te una intimacion de parte del Marquès de Rofrano, que en el termino de dos meses deua presentarse en Barzelona, para seruir â S[u] M[agestad] de Maestro de Capilla; y como el referido Caldara assegura, que no hà dado esperanza positiua de passar â essa Corte, al P[adr]e Caraffa, que es el que mas hà instado en este negocio, ofreciendole la prouision de mil escudos al año de parte del Rey: el Caldara dize, que siempre hà respondido, que no podia abandonar â su Padre, q[ue] es muy anziano, y que de ningun modo se queria arriesgar â passar el mar, por el
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Allerdings verzögerte sich die Umsetzung dieses Vorhabens immer wieder, und laut einem weiteren Brief des Principe di Avellino vom 11. April 1711 befand sich Caldara zu diesem Zeitpunkt immer noch in Rom und wartete auf Passbriefe aus Frankreich für seine Reise auf dem Landweg. Man hoffte allerdings weiterhin zuversichtlich, dass Caldara möglichst bald abreisen würde, gewährte ihm aber dennoch einen zusätzlichen Monat, um seine Angelegenheiten zu regeln.⁴⁹ Leider konnte bisher kein weiteres Dokument entdeckt werden, das Caldaras tatsächliche Abreise aus Rom und seine Ankunft in Barcelona bestätigt hätte, bekannt ist nur, dass er sich 1711 für längere Zeit vom Fürsten Ruspoli beurlauben ließ⁵⁰, ganz offensichtlich in der Hoffnung auf eine dauerhafte Stelle in kaiserlichen Diensten.
temor, que tiene: y creyendo que el medio del d[ic]ho P[adr]e Caraffa no lo fuesse para tratar esta materia, por no ser Ministro de S[u] M[agestad] hà dudado, se si derivan estas diligencias de su R[ea]l Orden; y se hà valido de mi, declarandose, que de muy buena gana acceptarà la fortuna de ir â seruir â S[u] M[agestad] por Maestro de su R[ea]l Capilla: y assi se seruirà V[uestra] S[eñoría] auisarme la intencion, que tiene el Rey; q[ue] aunque el Caldara esta muy resignado â lo q[ue] S[u] M[agestad] dispusiere, tocante al estipendio; no obstante, si por su R[ea]l benign[ida]d y clemencia quisiere mandarle añadir alguna cosa mas â los mil escud[o]s q[ue] le han ofrecido, y viage franco, irà mas contento: y para q[ue] pueda ponerse en camino, serà precisso dar orden al Marq[ué]s Clerici, ô, â otro, que le dè lo necessario: Y en sabiendo q[ue] es gusto de S[u] M[agestad] seruirse de d[ic]ho Caldara, no dexarè yo de solicitarle el passaporte, para que haga su viage por tierra. De todo espero que V[uestra] S[eñoría] me dè auiso; y quedo â su Obed[ienci]a con la fina vol[unta]d q[ue] spre. Dios g[uard]e a V[uestra] S[eñoría] mu[cho]s a[ño]s como deseo. Roma 9 de Agosto de 1710.“ ÖStA, HHStA, Span. Rat Rom, Kt. 4, Fasz. 5, unfol., Brief des Principe di Avellino an den Marqués de Erendazu vom 11.04.1711: „S[eñor] mio. En conformidad de lo quede orden del Rey me preuiene V[uestra] S[eñoría] en la Carta que por duplicado e reciuido con f[ec]ha de 3 de henero tocante âl Musico Antonio Caldara, le e precisado a este a que cumpliendo con su ôferta, pase quanto antes a esa Corte dandole todo este mes de tiempo paraque pueda preuenirse y componer sus cosas, Y si bien a procurado ver si se le podia dispensar queda en cumplir la promesa por la forma con que le echo hablar; y para que por defecto de medios no se detenga mas, escriuo con este correo al Marques Clerici que me embie los que le pareciere y que dejen bien puesto el decoro del Rey para que se ponga en Viaje, y que solicite los Pasaportes de Francia paraque vaya por tierra que fue esta una de las primeras condiciones con que ôfrecio iría a seruir a su Mag[esta]d el Salario que se le acordò por medio del P[adr]e Garrafa [sic!] segun este me a informado son mil escudos Romanos consignados en Milan y que se le deuerân pagar por mesadas o, como le tendrâ mas comodidad y en esto no se habla ni se hace nouedad. Yo espero q[ue] embiando el Marques Clerici los medios se pondrâ inmediatamente en camino, como procurare lo haga paraque S[u] M[agestad] tenga la satisfacion de ver quanto antes este Virtuoso a sus pies. Dios g[uard]e a V[uestra] S[eñoría] m[ucho]s a[ño]s como deseo. Roma 11 de Abril 1711.“ Avvisi aus Rom vom 18.04.1711: „Il sud[ett]o P[ri]n[ci]pe Panfilio si uà diuertendo in far preparare l’opera in musica, che uuol’ far recitare nel prossimo mese di maggio nel suo Casino à Monte Magnonapoli, il che fa crescer la uolontà all’E[ccellentissi]mo Ottoboni, ed al s[igno]r
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Erzherzog Karl hatte Barcelona nach dem Tod seines Bruders Joseph I. (17. April 1711) verlassen, um die Nachfolge im Reich anzutreten. Auf seiner Reise zur Kaiserkrönung in Frankfurt am Main machte Karl vom 13. Oktober bis 10. November 1711 Station in Mailand, wohin auch Caldara gereist war, um seinem Interesse an einer Position am Kaiserhof auch persönlich Nachdruck zu verleihen. Der Komponist hielt sich nachweislich bis zum 17. November 1711 in Mailand auf und folgte möglicherweise Karl auch nach Frankfurt. Tatsächlich belegt werden kann vorläufig allerdings nur seine Anwesenheit in Wien im Jahre 1712, wo ihm am 19. Mai eine Tochter geboren wurde.⁵¹ Caldara hoffte darauf, dass ihn der neu gekrönte Kaiser Karl VI. zu seinem Hofkapellmeister ernennen würde, doch dieser zog ihm den bisherigen Vizekapellmeister Marc’Antonio Ziani vor, sodass Caldara im August desselben Jahres enttäuscht nach Rom zurückkehrte und wieder in die Dienste des Fürsten Ruspoli eintrat. Der Tod Zianis im Januar 1715 weckte in Caldara neue Hoffnung auf eine prominente Stelle am Wiener Hof, und er richtete wieder eine Supplik⁵² an den
P[ri]n[ci]pe Ruspoli di far l’istesso, benche quest’ultimo resti priuo di un gran Soggetto Virtuoso di Musica come è il s[igno]r Caldara, il quale si è impegnato col Sig[no]r P[ri]n[ci]pe d’Auellino Amb[asciato]r Cattolico di passare al seruizio del Re Carlo 3.o in Barcellona.“ Vgl. Kirkendale, Antonio Caldara, S. 82– 84. ÖStA, HHStA, OMeA ÄR 14 (1714– 1715), fol. 1r–2v, Abschrift eines undatierten [1715 ?] Bittgesuchs von Antonio Caldara an Kaiser Karl VI.: „Antonio Caldara vm[ilissi]mo S[ervito]re della M[aestà] V[ostra], auendo auuto notizia della Vacanza del posto di Maestro della Imperial Cappella, ricorre alla sua Clemenza, per esserne aggraziato, e se pure la di lui lontananza da cotesta corte non facesse giungere in tempo la supplica, ne fa porgere vn’altra alla M[aestà] V[ostra] per la carica di Vicemaestro. Non crede l’o[rato]re d’auer tanto demeritato appresso la Clemenza Cesarea, che per lui non abbia a spuntar mai grazia veruna. Egli abbandonò tutto in Roma per auer la fortuna di seruire Carlo III, ed ebbe poi licenza da Carlo III e VI per vn’anno di ritorno in Italia per la salute della propria Consorte, ed accommodamento d’interessi paterni, il che auendo compito per meglio stabilirsi in Vienna, è rimasto fin’ora deluso dalla sua, per altro, ben fondata speranza. Ha scritto molte lettere di supplica al Sig[no]re Conte di Mollart: ha vbbidito con ogni prontezza a i commandi d’Augusto peruenutigli per mezzo del sig[no]r Conte medesimo; ma pur anche viue solamente nel suo gran desiderio di ritornare a piedi della M[aestà] V[ostra] la di cui Beneficenza non è possible, che si scordi di chi ha già auuta la sorte d’auerle prestato seruitù, e per ciò forse non indegno della Clemenza della M[aestà] V[ostra] il pouero Or[ato]re non ha per se appresso ad Augusto, che Augusto medesimo, e però prende ardire di fargli porgere q[ues]ta supplica, la quale quando non potesse ottenere vna delle due soprascritte richieste, almeno spera d’ottenere attualmente il primo posto, già goduto da chi supplica, di compositore di Cammera. Consoli la M[aestà] V[ostra] l’vmile suo seruo Caldara, che non desidera altro in q[ues]to Mondo, che seruire l’Augustissimo Imperadore Carlo VI p[er] propria sua Gloria e della Grazia &.“; fol. 371v–372r, Referat vom 29.06.1715, Punkt 41: betr. Bittgesuch von Caldara, zu dem der Kapellmeister sich nicht äußert, „weillen Er von deß Supplicanten Capacität keine gnugsambe in-
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Kaiser, in der er darauf hinwies, dass er Rom seinerzeit verlassen habe, um Karl in Barcelona zu dienen, ohne jedoch anzugeben, wann und für wie lange. Er verwies in seinem Schreiben auch auf die Erlaubnis Karls, wegen gesundheitlicher Probleme seiner Frau und zur Regelung persönlicher Angelegenheiten für ein Jahr nach Italien zurückzukehren. Caldara war der Überzeugung, dass Kaiser Karl VI. seine Dienste und Verdienste in Barcelona unmöglich vergessen haben könne und ihm daher, wenn schon nicht die Position des Kapell- oder Vizekapellmeisters, so zumindest die Stelle als erster „Kammerkomponist“ gewähren müsste. Spät, aber doch sollte Antonio Caldara mit seinem Gesuch Erfolg haben: 1717 wurde er rückwirkend ab 1. Januar 1716 zum Vizekapellmeister ernannt⁵³ und trat damit die Nachfolge von Johann Joseph Fux an, der zum Hofkapellmeister avancierte.⁵⁴ Antonio Caldara erfreute sich in der Folge bis zu seinem Tod am 28. Dezember 1736 großer Wertschätzung von Seiten des Wiener Kaiserhofes. Am Beispiel der Künstler, die sowohl am Königshof in Barcelona als auch am Kaiserhof in Wien für Erzherzog Karl respektive Kaiser Karl VI. tätig waren, lässt sich die Kontinuität im kulturellen Leben an den beiden Höfen nachweisen, denn Karl VI. bestätigte fast alle Komponisten, Musiker, Sänger und Bühnenbildner, die ihm in seiner katalanischen Residenz gedient hatten, und privilegierte dabei einige – wie den Bühnenbildner Ferdinando Galli Bibiena und den Komponisten Antonio Caldara – in besonderer Weise.
Zum aktuellen Stand der Forschung zum Musiktheater am Hofe Erzherzog Karls in Barcelona (Danièle Lipp)
Jahrzehntelang galt die 1902 erschienene zweisprachige Publikation Carlos d’Austria y Elisabeth de Brunswich Wolfenbüttel a Barcelona y Girona des katalanischen Musikwissenschaftlers José Carreras y Bulbena⁵⁵ als das Standardwerk
formation habe“, weshalb er dem Kaiser die Entscheidung überlässt, der sich aber in seiner Resolution (fol. 381r) nicht zu Caldara äußert. ÖStA, HHStA, OMeA, ÄR 15 (1715 – 1717), fol. 633r–634v und ÖStA, HHStA, OMeA, Prot. 8, 1713 – 1717, fol. 625. ÖStA, HHStA, OMeA, Sonderreihe 191: „Der Röm. Kay. May. Caroli VI. Hofstatt de Anno 1712“, fol. 76r–77r (Kapell- und Vizekapellmeister). Carreras y Bulbena, Carlos d’Austria. Vgl. Anm. 15.
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über das musikalische Leben in Barcelona während der Regierungszeit Erzherzog Karls. Es war allerdings von Anfang an – aufgrund seiner teils ungenauen Quellenangaben und allzu fantasievollen Mutmaßungen, was die Zusammensetzung der Kapelle und die Opernaufführungen betrifft – nur begrenzt als ernstzunehmende Informationsquelle anzusehen. Erst Herbert Seiferts Forschungen zu Pietro Pariatis Schaffen als poeta cesareo ⁵⁶ und schließlich Andrea Sommer-Mathis’ grundlegende Publikationen⁵⁷ zum Musikleben am katalanischen Königshof zwischen 1705 und 1711 ermöglichten genaue und vor allem durch Quellen gesicherte Erkenntnisse über die Musikkultur am katalanischen Hof. Weitere Forschungen zum höfischen Musikleben in Barcelona bauten auf den von SommerMathis veröffentlichten Dokumenten aus Wien, Madrid und Neapel auf.⁵⁸ Zusätzliche Recherchen in Barcelona erwiesen sich im Hinblick auf die Opernaufführungen, bis auf wenige Ausnahmen, als nicht ergiebig;⁵⁹ es fand sich bloß eine ausführliche Beschreibung⁶⁰ der Aufführung einer „serenata española“, die allerdings vom portugiesischen Botschafter am katalanischen Hof anlässlich der Vermählung des Königs Joaõ V. von Portugal mit Erzherzogin Maria Anna, der Schwester Karls, in Barcelona veranstaltet wurde und daher in diesem Zusammenhang keine Berücksichtigung findet.⁶¹ Seifert, Pietro Pariati. Sommer-Mathis, Österreich im Kampf; dies., Entre Nápoles, S. 45 – 77; dies., Von Barcelona nach Wien; dies.: Da Barcellona a Vienna. Il personale teatrale e musicale alla corte dell’Imperatore Carlo VI, in: Franco Carmelo Greco (Hrsg.), I percorsi della scena. Cultura e comunicazione del teatro nell’Europa del Settecento. Neapel 2001, S. 343 – 358; dies.: Música y teatro. Danièle Lipp: Musik am Hofe Karls III. in Barcelona (1705 – 1713). Dipl.-Arb. Wien 2005; dies.: Músicos italianos entre las cortes de Carlos III/VI en Barcelona y Viena, in: Álvarez-Ossorio/García García/León (Hrsg.), La pérdida de Europa, S. 159 – 179; dies.: Italienische Musiker am Wiener Kaiserhof zwischen 1712 und 1740. Ursachen und Verläufe der Migration nach Wien, in: Josef Ehmer/Karl Ille (Hrsg.), Italienische Anteile am multikulturellen Wien. Wien 2009, S. 152– 167; dies.: Musik am Hofe Karls III. in Barcelona (1705 – 1713). Saarbrücken 2010; dies.: La Capilla Real de Barcelona (1705 – 1713): constitución de la capilla y migración de músicos a la corte de Barcelona y a la corte imperial vienesa, in: Tess Knighton/Ascensión Mazuela (Hrsg.), Música i política a l’època de l’arxiduc Carles en el context europeu. Barcelona 2017, S. 29 – 46. Die katalanischen Quellen im Arxiu de la Corona d’Aragó (E-Bac) liefern unter anderem Informationen zu den Umbauarbeiten im königlichen Palast anlässlich der Adaption mehrerer Räume für musikalische Aufführungen. E-Bac: Dietari de la Generalitat del trieni de 1707 á 1710, 227r (05.02.1709). Danièle Lipp: „Numeroso Culto, musico festejo, en aplauso de las felicissimas, y reales bodas“. A Spanish Serenata at Archduke Charles’ Court in Barcelona Celebrating the Marriage of his Sister Marianna of Austria with King João V of Portugal on 5th February 1709. A brief analysis about court ceremonial in Barcelona during the War of Spanish Succession based on contemporary descriptions of this celebration, in: Iskrena Yordanova/Paologiovanni Maione (Hrsg.), Serenata and Festa Teatrale in 18th Century Europe. Wien 2018, S. 3 – 15.
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Die Tagebücher Karls VI. als musikhistorische Quelle Stefan Seitscheks 2018 im Druck erschienene Dissertation über die Tagebücher Kaiser Karls VI. eröffnet zusätzliche wertvolle Einblicke in das Musikleben am katalanischen Hof.⁶² Dass Karl selbst großes musikalisches Talent besaß, ist hinlänglich bekannt. Die zahlreichen Eintragungen in den ab 1. Januar 1707 geführten Tagebuchaufzeichnungen zeigen zudem eindrucksvoll, mit welch großem Einsatz sich Karl auch persönlich um die Organisation seiner Hofkapelle kümmerte. So notierte der junge Monarch am 13. März 1708: „music capelmeister komen“.⁶³ Der hier erwähnte Kapellmeister ist der junge Neapolitaner Giuseppe Porsile, der zusammen mit mehreren Musikern der neapolitanischen Hofmusikkapelle im Spätherbst 1707 nach Barcelona berufen worden war. Neapel war 1707 von den Habsburgern erobert worden, und Karl konnte nun auch professionelle Musiker aus ‚seiner‘ neapolitanischen Hofmusikkapelle für Barcelona anfordern. Die katalanische Kapelle, die vor der Ankunft von Karls Gemahlin, Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, im Jahre 1708 primär aus Trompetern und einem Pauker bestand, wurde nun durch die Aufnahme von Streichern, Sängern und Sängerinnen, aber auch von Organisten, Lautenisten und Holzbläsern erweitert, um dadurch die musikalische Unterhaltung am Königshof zu sichern. Man konnte nun größere und kleinere musikdramatische Werke, aber auch Tafelmusik und sakrale Musik aufführen.⁶⁴ Die neuen Mitglieder der Hofkapelle erwiesen sich dafür als besonders gut geeignet, wie sich aus der folgenden Eintragung Karls vom 15. März 1708 entnehmen lässt: „musicanten probiren, gut, suprano gar“⁶⁵, und drei Tage später: „neu musiccapellen gut, wol gesungen […] gross vesper, ney capellmeister gut“⁶⁶. Karl besprach mit dem Kaplan Juan Matheo Buzzi de Magni, der auch als sein Zeremonienmeister fungierte, die musikalischen Aufführungen während der Karwoche 1708 und erwähnte eine „prop opera“⁶⁷ (Opernprobe) im September 1708. Zwei Monate später, am 28. November 1708, notierte der Monarch schließlich: „comedi, opera, wohl ablafen“.⁶⁸
Stefan Seitschek: Die Tagebücher Kaiser Karls VI. Zwischen Arbeitseifer und Melancholie. Horn 2018. Ebd., S. 322. Lipp, Musik am Hofe Karls III., S. 23 – 45, 76 – 98. Seitschek, Tagebücher, S. 322. Ebd. Ebd., S. 323. Leider nennt Karl nicht den Namen des Werkes, weshalb man diesem Eintrag keine Oper zuordnen kann.
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Das sind nur einige wenige Beispiele für die Einträge, die Karl im Zusammenhang mit seiner Musikkapelle in Barcelona tätigte. Bei einer systematischen Auswertung der Jahre 1707 bis 1711 könnten Karls Tagebücher zweifellos noch weitere wertvolle Informationen zur Chronologie und Organisation des Musiklebens am katalanischen Hof in diesem Zeitraum liefern, die in diesem Beitrag nur angedeutet werden können.
Mailänder Archivdokumente als Quelle für das Musikleben in Barcelona Erste Hinweise auf Archivquellen aus Mailand finden sich in Deanna Lenzis Beitrag über die Tätigkeit der Bühnenbildnerfamilie Galli Bibiena auf der iberischen Halbinsel sowie in den beiden Publikationen von Laura Bernardini über das Musikleben am Hofe Karls III.⁶⁹ Das Herzogtum Mailand war, wie das Königreich Neapel, im Zuge des Spanischen Erbfolgekriegs den Habsburgern zugefallen. Die neuen Herrscher ließen darauf das Vermögen der bourbonentreuen Adeligen konfiszieren und konnten damit die zum Teil sehr aufwendigen musikalischen Aktivitäten am katalanischen Königshof finanzieren. Allerdings wurde nur ein Teil der dortigen Ausgaben durch Mailand abgedeckt; ein weiterer Teil, die Gehälter der Musiker, die aus Neapel stammten, wurde vom Vizekönig aus Neapel angewiesen, wie Andrea Sommer-Mathis 1996 belegen konnte.⁷⁰ Das im Staatsarchiv in Mailand erhaltene Konvolut von rund dreihundert nicht nummerierten Folios⁷¹ aus den Jahren 1707 bis 1713 enthält unter anderem Zahlungsanweisungen an Komponisten, Librettisten und Kopisten von Partituren. Des Weiteren finden sich Rechnungen über den Ankauf von Kostümen und Bühnenbildern, Gehaltslisten für die Sänger und Sängerinnen am katalanischen Hof sowie ein Auftrag zum Kauf von Streichinstrumenten, einem Cembalo und einer Orgel. Die Mailänder Dokumente liefern zahlreiche neue Informationen zu vielen verschiedenen Aspekten des Musiklebens in Barcelona unter der Herrschaft Karls, wobei der Fokus dieses Beitrags auf den musiktheatralischen Werken
Ebd. – Es handelt sich dabei um die Oper Zenobia in Palmira; vgl. dazu Andrea SommerMathis im ersten Teil dieses Beitrags und Danièle Lipp: „Este es vuestro Carlos, este es vuestro Rey“: Representation of Political Propaganda in Musical life at the Habsburg Court in Barcelona during the War of Spanish Succession (1705 – 1713), in: Music in Art 42 (2017), S. 98 – 108. Lenzi, L’attività dei Bolognesi, S. 298; Bernardini, Ferdinando Galli Bibiena; dies.: Teatro e musica a Barcellona. Sommer-Mathis, Entre Nápoles, S. 49 – 50. I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399.
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liegen soll, die am katalanischen Hof aufgeführt wurden oder für eine dortige Aufführung vorgesehen waren. Ein genauer Vergleich der Mailänder Quellen mit den bisher bekannten Dokumenten und Forschungsergebnissen eröffnet neue Perspektiven bei der Zuordnung der aus Barcelona bekannten musikdramatischen Werke, deren Abschriften sich bis auf eine Ausnahme in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten haben.⁷² Möglicherweise können aber auch weitere Werke, die sich in Wien befinden, mit dem katalanischen Hof in Verbindung gebracht werden. Der junge König hatte offensichtlich großes Interesse daran, seine Musikkapelle der kaiserlichen Kapelle seines Bruders in Wien ebenbürtig zu machen. Das bedeutete natürlich auch, dass das Instrumentarium besonders hochwertig sein sollte. Deshalb beauftragte der Staatssekretär Don Juan Antonio Romeo y Anderaz den Mailänder „Magistrato ordinario“ Giorgio Marchese Clerici im August 1707 mit dem Ankauf von Streichinstrumenten samt den dazugehörigen Bögen und Saiten.⁷³ Der Marchese bestellte seinerseits sechs Violinen, zwei Bratschen und ein Violoncello bei keinem Geringeren als Antonio Stradivari⁷⁴ und bat darum, dass diese von höchster Qualität sein und so schnell wie möglich geliefert werden sollten.⁷⁵ Clerici organisierte auch den Transport einer Orgel, die der Orgelbauer Giovanni Battista Reyna für den Hof angefertigt hatte. Das Instrument wurde verpackt und von Como über Mailand nach Genua geschickt, um von dort per Schiff nach Barcelona befördert zu werden. Zusätzlich bestellte Romeo y Anderaz
Das „Componimento da camera per musica“ Il più bel nome befindet sich im Conservatoire Royal de Musique in Brüssel (B-Bc 584); vgl. dazu Andrea Sommer-Mathis im ersten Teil dieses Beitrags. I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399: „Copia. De orden de Su Magestad remito a V[uestra] S[eñoría] la inclusa lista para que V[uestra] S[eñoría] disponga que los Instrum[en]tos musicos contenidos en ella, se hagan luego en Cremona, y Juntam[en]te con las Cuerdas, que assi mismo expresa, procure V[uestra] S[eñoría] embiarlos à esta Ciudad quanto antes sea posible, como Su Mag[esta]d lo espera de la pontualidad, y cuydado de V[uestra] S[eñoría]. G[uar]de Dios à V[uestra] S[eñoría] m[ucho]s a[ño]s como desseo. Barcel[on]a 23. de Ag[os]to de 1707. B[eso] l[os] m[anos] de V[uestra] S[eñoría] Su M[agesta]d Sec[reta]rio = D[o]n Ant[oni]o Romeo y Anderaz. S[eño]r Marq[ue]s Clerici.“ Fausto Cacciatori: Antonio Stradivari, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 94 (2019), S. 304– 308, hier 306. I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399: „Lista delli Instrom[en]ti musicali, che si deuono quanto più presto si puole, mandare delli migliori, che si possino hauere, ó ordinarli subito in Cremona. Violini 6. / Contralti 2. / Contrapasso grande 1. / Una quantità proporzionata delle Corde. / Cada Violino con il suo soprafodero. / Per cadaun Instrom[en]to due Archi, e due Seglie, sopra le quali stanno le Corde pronte.“ Zuerst veröffentlicht in: Lipp, „Este es nuestro Carlos“, S. 106.
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im selben Sommer noch ein Cembalo, das ebenfalls unverzüglich nach Spanien verschifft werden sollte. Die Mailänder Dokumente verzeichnen zwischen 1708 und 1710 Geldanweisungen für folgende Komponisten: Tomaso Albinoni (1671– 1751), Antonio Caldara (1670 – 1736), Andrea Fiorè (1686 – 1732), Francesco Gasparini (1661– 1727), Antonio Lotti (1666 – 1740) und Paolo Magni (c.1650 – 1737). Allerdings geben sie nur in zwei Fällen an, wofür die Künstler diese Zahlungen erhielten: Francesco Gasparini wurde im November 1710 für zwei Werke – leider ohne Angabe der Titel – bezahlt, Andrea Fiorè für Ercole in cielo und Atenaide. ⁷⁶ Die Librettisten Pietro Pariati (1665 – 1733) und Apostolo Zeno (1668 – 1750) wurden ebenfalls mehrmals für ihre Leistungen entlohnt, ebenso die Kopisten Giuseppe Ferrario, Francesco Rugiero und Carlo Agostino Righino für die Abschriften verschiedener musikalischer Werke, u. a. von Amor generoso und Zenobia in Palmira. Des Weiteren wurden Überweisungen für folgende namentlich erwähnte Kompositionen getätigt: Atenaide, Ercole in cielo, Il nome più glorioso, L’oracolo del Fato und La Circe fatta saggia. Außerdem findet sich eine Zahlungsanweisung an einen gewissen Antonio Zaccheo, der mit der Abschrift einer Oper aus Bologna nach Barcelona gereist war.⁷⁷ Zaccheo war nicht der einzige Italiener, der für den Transport sowohl von Originalkompositionen als auch von Kopien musikdramatischer Werke von Italien nach Barcelona entlohnt wurde. So finden sich Ende 1709 eine Zahlung an Antonio Francesco Motta für die Übersendung von einigen Opern und „Serenate“, Rechnungsbelege an weitere Italiener für die Lieferung von nicht näher bezeichneten „Intermedie“, „Composizioni di musica“ und „Serenate“ sowie für Abschriften von „Intermezzi buffi“ und „Opere pastorali“. Karl übernahm, wie oben erwähnt, die Tradition des Wiener Kaiserhofs, was Anzahl und Anlässe der musiktheatralischen Aktivitäten betrifft, und adaptierte sie im Rahmen seiner Möglichkeiten. Wir können davon ausgehen, dass ab dem Sommer 1708 bis März 1713⁷⁸ annähernd zwanzig kleinere und größere Werke in Barcelona aufgeführt wurden: die (noch unbekannte) Hochzeitsoper, mehrere kleinere musikdramatische Werke, also „Serenate“ oder „Componimenti per
I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399; zu Francesco Gasparini siehe Schreiben vom 10. November 1710: „Ho ricevuto Io Francesco Gasparini dal Signor Antonio Francesco Motte […] di due Composizione di Musica fatte per la Maestà di Carlo 3. […]“; zu Andrea Fiorè siehe undatierte Ausgabenaufstellung: „A Andrea Fiorè Maestro di Capella per haver messo in musica parte dell’opera d’Ercole in Cielo [et] dell’Atenaide.“ I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399 (12.1708): „Al Antonio Zaccheo per l’opera in Musica venuta da Bologna.“ Karl reiste im September 1711 von Barcelona ab; Elisabeth Christine verließ Barcelona hingegen erst im März 1713.
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musica“, außerdem jährlich vier Kompositionen anlässlich der Geburts- und Namenstage des Königspaares, vielleicht auch eine Oper während des Faschings sowie wahrscheinlich sogar drei Oratorien. Bisher können allerdings nur die Produktionen der folgenden vier Werke als gesichert gelten: Dafni (Emanuele Rincón d’Astorga; Eustachio Manfredi), L’Imeneo (?; „Alfesibeo Sebetio“⁷⁹), Scipione nelle Spagne (Antonio Caldara?; Apostolo Zeno) und Zenobia in Palmira (Andrea Fiorè; Apostolo Zeno/Pietro Pariati).Weitere Werke weisen Merkmale auf, die an Aufführungen am katalanischen Königshof denken lassen: L’Atenaide (Andrea Fiorè/Antonio Caldara/Francesco Gasparini; Apostolo Zeno), Ercole in cielo (Andrea Fiorè; Pietro Pariati), Il nascimento dell’Aurora (Tomaso Albinoni; Pietro Pariati?), Il nome più glorioso (Antonio Caldara; Pietro Pariati), Il più bel nome (Antonio Caldara; Pietro Pariati) und L’oracolo del Fato (Francesco Gasparini; Pietro Pariati).⁸⁰ Die von Ferdinando Galli Bibiena angefertigten Skizzen zu Bühnenbildern für die oben erwähnte Oper mit dem Arbeitstitel „Festa della Peschiera“ können aufgrund der Maßangabe „palmi di Barcellona“ ebenfalls mit dem katalanischen Hof in Verbindung gebracht werden. Allerdings ist auch in diesem Fall nicht geklärt, ob es tatsächlich zu einer Produktion dieses Werkes kam.⁸¹ Die Auswertung der Mailänder Quellen erhärtet nicht nur die Annahme, dass die genannten Kompositionen in Barcelona aufgeführt oder zumindest für den katalanischen Hof bestimmt waren, sondern die bisherige Liste kann auch noch um folgende Titel erweitert werden: L’amor generoso, La Circe fatta saggia, Tito Manlio (indirekt durch Zahlungen an den Komponisten Paolo Magni), die beiden Oratorien L’umiltà coronata und Il voto crudele. Auch das „dramma per musica“ L’inimico generoso (Antonio Caldara?), ein weiteres Oratorium L’esaltation di Salamone (sic!) (Giuseppe Porsile; Bernardino Maddali) und die „Pastorale“ Le pazzie degli amanti (Carlo Francesco Pollarolo; Francesco Passarini) können hinzugefügt werden.
Die Verwendung des Pseudonyms „Alfesibeo Sebetio“ lässt auf ein Mitglied der Arcadia schließen, allerdings ließ sich kein Dichter finden, der dieses Pseudonym benutzte. Da die Aufführung der spanischen Serenata vom portugiesischen Botschafter organisiert wurde, fand sie hier keine Berücksichtigung; vgl. Lipp, Numeroso Culto, S. 3 – 15. Maria Teresa Muraro/Elena Povoledo: Disegni teatrali dei Bibiena. Ausstellungskatalog, Fondazione Cini. Vicenza 1970, S. 22– 25; Tamburini, Ferdinando Galli Bibiena; Sommer-Mathis, Vier Bühnenbildentwürfe.
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Neue Erkenntnisse zum musiktheatralischen Repertoire am Hofe Karls in Barcelona Die Werke, die für eine Aufführung in Barcelona in Betracht kommen oder in Verbindung mit dem katalanischen Hof stehen, weisen einige Besonderheiten auf. Sie müssen mindestens zwei der unten genannten Merkmale aufweisen, um eine Zuordnung zum katalanischen Hof wahrscheinlich zu machen; das Auftreten mehrerer dieser Merkmale erhöht diese Wahrscheinlichkeit. 1. Eine Abschrift der Partitur befindet sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (L’Atenaide, La Circe fatta saggia, Dafni, Ercole in cielo, L’esaltation di Salamone, L’inimico generoso, Il nascimento dell’Aurora, Il nome più glorioso, L’oracolo del Fato, Le pazzie degli amanti, Tito Manlio, L’umiltà coronata, Il voto crudele, Zenobia in Palmira). 2. Es gibt ein gesichertes Datum für ihre Produktion in Barcelona (L’Imeneo: August 1708, Zenobia in Palmira: Herbst/Winter 1708/09, Dafni: Juni/Juli 1709⁸², Scipione nelle Spagne: 1710⁸³). 3. Der Anlass für die Aufführung wird auf dem Titelblatt angegeben (L’oracolo del Fato: Namenstag der Königin, Il più bel nome: Namenstag der Königin, Ercole in cielo: Geburtstag des Königs, Il nome più glorioso: Namenstag des Königs, L’Imeneo: Vermählung des Königspaares im Sommer 1708).⁸⁴ 4. Das Titelblatt oder die Widmung des Werkes deuten auf eine mögliche Verbindung zu Barcelona hin (Le pazzie degli amanti, Tito Manlio). 5. Die Partituren weisen ein besonders aufwendig illustriertes Titelblatt auf (L’Atenaide, Ercole in cielo, Il nome più glorioso, Il più bel nome, L’oracolo del Fato, L’umiltà coronata, Il voto crudele). 6. In der Abschrift der Partitur findet sich mehrfach die Darstellung einer Hand, die auf Da capo-Stellen hinweist (L’Atenaide, Ercole in cielo, Il nome più glorioso, Il più bel nome, L’umiltà coronata).
ÖNB, MS, Mus. Hs. SA. 68. B. 2: Dafni. Dramma Pastorale per Musica. Tenuto à Barcellona avanti le loro Maestà Cattoliche. L’anno 1709 alli di Giugno. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Textb. Sammelband 2(2): Scipione nelle Spagne. Drama (sic!) per musica da rappresentarsi nel Regio Teatro di Barcellona. Alla Presenza delle Sacre Reale Cattoliche Maestà di Carlo Terzo ed Elisabetta Cristina Monarchi delle Spagne in Barcellona. Per Rafaele Figuerò, Stampatore del Rè Nostro Signore; vgl. Poesie Drammatiche di Apostolo Zeno, Bd. 4. Orleans 1786. S. 1: „Scipione nelle Spagne. Pubblicato per la prima volta in Barcelona 1710“. Die Werke, die nach 1711 entstanden sind, bezeichnen die Monarchen als Kaiser und Kaiserin und nicht mehr als König und Königin von Spanien.
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Es gibt weitere Vertonungen desselben Sujets für spätere Aufführungen am Wiener Kaiserhof (L’Atenaide: 1714, L’esaltazion (sic!) di Salomone: 1727, L’oracolo del Fato: 1719, Scipione nelle Spagne: 1722, Zenobia in Palmira: 1732, 1740). 8. In den Archivquellen finden sich Belege der Zahlungen an die Komponisten und Librettisten (Tomaso Albinoni, Antonio Caldara, Andrea Fiorè, Francesco Gasparini, Antonio Lotti, Paolo Magni, Pietro Pariati, Apostolo Zeno). 9. Es können keine Wiener Aufführungen dieser Werke in den Jahren zwischen 1703 und 1711 nachgewiesen werden. 10. Die mitwirkenden Sänger und Sängerinnen werden in den Musikhandschriften und Libretti nicht genannt.⁸⁵ Die oben erwähnten undatierten Partiturabschriften der Werke Antonio Caldaras, Andrea Fiorès und Francesco Gasparinis in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek wurden aufgrund der besonderen Beschaffenheit ihrer Titelblätter, der Angabe des Anlasses der jeweiligen Aufführung sowie fehlender Aufführungsdaten der Regentschaft Karls am katalanischen Hof zugeordnet. Der Großteil dieser Kompositionen weist als Besonderheit auch die kleine Hand zur Kennzeichnung der Da capo-Stellen auf. Die Ähnlichkeit dieser Abschriften dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen sein, dass sie von demselben Kopisten oder in derselben Kopistenwerkstatt angefertigt wurden. Es handelt sich dabei nicht um Aufführungsmaterial, sondern um Partituren für die Privatbibliothek des Königs bzw. späteren Kaisers Karl VI. Die Rechnungsbelege in den Mailänder Quellen bestätigen diese Zuordnung, denn die drei genannten Komponisten sowie die beiden Librettisten Pietro Pariati und Apostolo Zeno erhielten mehrmals Zahlungen für Libretti und Kompositionen für den katalanischen Hof; allerdings werden nur im Falle von Andrea Fiorè die Titel der Werke erwähnt: Ercole in cielo und Atenaide. Pietro Pariati verfasste das Libretto zu Ercole in cielo, der Venezianer Apostolo Zeno lieferte die Textvorlage zum „drama (sic!) per musica“ Atenaide, einer Pasticcio-Oper, die von drei Komponisten bearbeitet wurde (1. Akt: Fiorè, 2. Akt: Caldara, 3. Akt: Gasparini). Und Karl III. engagierte dieselben Komponisten auch für die Vertonung weiterer Libretti, die ebenfalls von Pariati und Zeno stammen. So schrieb Caldara die Musik zu Il nome più glorioso und Il più bel nome, und auch die 1710 aufgeführte dreiaktige Oper Scipione nelle Spagne dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit von
In den Abschriften der Werke aus der Regierungszeit Kaiser Josephs I. (1705 – 1711), die sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten haben, sind die Namen der Sänger und Sängerinnen der Kaiserlichen Hofmusikkapelle verzeichnet.
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Caldara stammen.⁸⁶ Andrea Fiorè könnte die Kompositionsaufträge vielleicht auch deshalb erhalten haben, weil er zuvor schon die Musik zu L’Engelberta verfasst hatte, einem „dramma per musica“, das im Juni 1708 aus Anlass der Durchreise von Elisabeth Christine in Mailand gegeben worden war.⁸⁷ Den Text zu dieser Oper lieferte wiederum Apostolo Zeno. Für die Organisation der Aufführungen in Mailand dürfte Federico Piantanida zuständig gewesen sein.⁸⁸ Dieser sollte, wie aus den Mailänder Quellen hervorgeht, in den Jahren 1708 bis 1710 auch wiederholt für den katalanischen Hof tätig werden; er war u. a. für den Einkauf der Bühnenkostüme für Barcelona zuständig. Möglicherweise diente er auch als Mittelsmann zwischen dem katalanischen Hof und den Mailänder bzw. venezianischen Komponisten und Textdichtern. Die Verbindung zu Apostolo Zeno bestand jedenfalls schon seit dem Winter 1706, wie aus einem Schreiben Zenos an Piantanida zu entnehmen ist.⁸⁹ Laut den Mailänder Dokumenten fertigte der Kopist Francesco Rugiero eine Abschrift von L’amor generoso für Barcelona an. Berücksichtigt man die musikalischen Vorlieben des Monarchen, so dürfte es sich dabei um Francesco Gasparinis gleichnamiges „dramma per musica“ gehandelt haben, das im Dezember 1707 in Venedig am Teatro San Cassiano seine Premiere gehabt hatte.⁹⁰ Auch in diesem Fall vertonte Gasparini ein Libretto Zenos; allerdings ist die entsprechende Partitur in Wien nicht erhalten. Weitaus unwahrscheinlicher ist eine Aufführung von La Circe fatta saggia in Barcelona. Zwar scheint in den Mailänder Dokumenten eine Zahlung für zwei Abschriften von diesem Werk auf,⁹¹ doch geht aus dem in Wien gedruckten Libretto hervor, dass diese Serenata 1713 am Kaiserhof aufgeführt wurde.⁹² In dem Mailänder Konvolut findet sich im August 1709 unter der Anmerkung „Opera e serenate“ eine Zahlungsanweisung von 25 Doppie an den Venezianer Tomaso Albinoni; gleichzeitig sollte auch der Librettist Pietro Pariati 50 Doppie erhalten. Der Titel des Werks wird nicht erwähnt, doch dürfte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Albinonis „festa pastorale“ Il nascimento dell’Aurora
Von Caldara stammt auch die Neuvertonung von Apostolo Zenos „dramma per musica“ Scipione nelle Spagne, die 1722 zum Namenstag Kaiser Karls VI. am Wiener Hof aufgeführt wurde. Vgl. Sommer-Mathis, Österreich im Kampf, S. 20 – 21. Lenzi, L’attività dei bolognesi, S. 298. Apostolo Zeno: Lettere di Apostolo Zeno Cittadino Veneziano, Bd. 1. Venedig 1785, S. 18 – 19. Eleonor Selfridge-Field: A New Chronology of Venetian Opera and Related Genres, 1660 – 1760. Stanford, California 2007, S. 280 – 281. I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399: „Circe fatta saggia, Copie due“. Andrea Sommer-Mathis: Festa teatrale e serenata alla corte imperiale di Vienna nella prima metà del Settecento, in: Yordanova/Maione (Hrsg.), Serenata and Festa Teatrale, S. 61– 81, hier 62.
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handeln.⁹³ Schon 1990 hatte Herbert Seifert Albinonis Komposition aufgrund einer eingehenden Textanalyse dem katalanischen Hof zugeordnet und Pietro Pariati als möglichen Autor genannt, nicht zuletzt deshalb, weil Albinoni und Pariati zur selben Zeit gemeinsam auch an dem „dramma musicale“ Astarto arbeiteten.⁹⁴ In diesem Zusammenhang sind auch weitere Zahlungsbelege, der erste vom Dezember 1708, an den Lakaien des Mailänders Francesco Gerolamo Marchese Crevena besonders aufschlussreich. Der Lakai hatte „Intermedie“ für die Oper in Barcelona aus Venedig mitgebracht. Im Januar 1710 erhielt der Marchese weitere Zahlungen für zusätzliche „Intermezzi“. Der Adelige könnte als Mittelsmann zwischen dem katalanischen Hof und Tomaso Albinoni fungiert haben, denn Crevena war auch Taufpate von Zuanne Antonio Albinoni, dem zweiten Sohn des Komponisten.⁹⁵ Auch der Mailänder Komponist und Kapellmeister Paolo Magni erhielt laut Archivquellen eine einmalige Zahlung für die Bearbeitung von „Cantate nell oppera [sic!], et Compositione della Serenata“.⁹⁶ Es könnte sich dabei um die Überarbeitung des ersten Akts der Oper Tito Manlio gehandelt haben, die ihre Premiere am 8. Februar 1710 in Mailand hatte.⁹⁷ Die in Wien erhaltene Abschrift dieses Werks weist auf diese Änderungen hin – „Poesia Vecchia ma rifatta nelle Ariette“⁹⁸ – und nennt Andrea Fiorè als Autor des zweiten und dritten Akts. Für Wien ließ sich kein Aufführungsdatum eruieren, was ein weiteres Indiz dafür sein könnte, dass diese Abschrift ursprünglich für den katalanischen Hof angefertigt wurde, im Zuge der Rückkehr der Monarchen an den Kaiserhof nach Wien gelangte und schließlich im Bestand der kaiserlichen Hofmusikkapelle verblieb. Bis jetzt ist man in der Fachliteratur davon ausgegangen, dass die beiden Oratorien Il voto crudele und L’umiltà coronata von Antonio Lotti und Pietro Pariati für Wien bestimmt waren. Allerdings erhielt der Venezianer Antonio Lotti bereits im Sommer 1709 zwanzig Doppie, die mit großer Wahrscheinlichkeit für
ÖNB, MS, Mus. Hs. 17738: Il nascimento dell’Aurora. Seifert, Pietro Pariati, S. 49 – 51. Remo Giazotto: Tomaso Albinoni. Musico di violino dilettante veneto (1671– 1750). Mailand 1945, S. 309. I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399: ohne Datum. „Al [?] Paolo magni Compositore di musice p[er] sue fatiche fatte in reagiustar Le Cantate nell oppera, et Composit[ione] della Serenata“. http://corago.unibo.it/opera/0000374136 (26.04. 2020). ÖNB, MS, Mus. Hs. 17233: [Titelblatt:] Tito Manlio // Drama rappresentato nel Reggio Ducal Teatro // di Milano l’Anno 1710 // Poesia Vecchia ma rifatta nelle Ariette // E in qualche Recitativo // Musica Nova // Primo Atto è del Sig[nor] Paolo Magni Mastro [sic] // di Capella della Regia Ducal Corte di Mil[ano].// La Musica del Atto Seccondo, e Terzo e del // Sig[nor] Andrea Fiorè Maestro di Capella // di S[ua] A[ltezza] R[eale] di Savoia.
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die Komposition dieser Oratorien bestimmt waren.⁹⁹ Diese Werke wurden möglicherweise für eine Produktion in Barcelona in Auftrag gegeben. Durch den unerwarteten Tod von Kaiser Joseph I. im April 1711 kam es dann aber nicht mehr zu ihrer Aufführung, und die Oratorien dürften erst unter der Regierung Kaiser Karls VI. zum ersten Mal in Wien gezeigt worden sein. Durch einen Vergleich der Mailänder Quellen mit den Beständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek könnte vielleicht noch ein weiteres Werk Antonio Caldaras dem katalanischen Hof zugeordnet werden, obwohl es auch in diesem Fall keinerlei Hinweis dafür gibt, dass es tatsächlich zur Aufführung gelangte. Wie schon erwähnt, wurde Antonio Zaccheo für den Transport einer Partitur aus Bologna bezahlt. Es könnte sich dabei um Caldaras „dramma per musica“ L’inimico generoso handeln, das 1709 in Bologna im Teatro Malvezzi präsentiert worden war;¹⁰⁰ ein Vergleich des Librettos der italienischen Aufführung mit einer Abschrift von L’inimico generoso in der Wiener Musiksammlung lässt dies vermuten.¹⁰¹ Der Text des Librettos stimmt mit nur sehr kleinen Abweichungen mit demjenigen der Partitur überein. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um die in den Rechnungen erwähnte Abschrift handeln dürfte, ist die Tatsache, dass in der Partitur weder die Namen der Sänger und Sängerinnen noch ein Aufführungsdatum oder der Anlass der Aufführung vermerkt sind. Zu den Werken, die möglicherweise mit Barcelona in Verbindung stehen, gehören auch Opern, die Komponisten von sich aus nach Barcelona schickten, um eine Belohnung zu erhalten, wie etwa im Falle von Carlo Francesco Pollarolos „Pastorale“ Le pazzie degli amanti, deren Abschrift sich ebenfalls in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten hat. Die Widmung Pollarolos an die „Maestà Cattolica di Carlo Terzo Rè delle Spagne“ und die Tatsache, dass Ercole (Herkules) – eine der wichtigsten Identifikationsfiguren von Karl (VI.)¹⁰² – einer der Protagonisten der Handlung ist, kann in diesem Sinne gedeutet werden.¹⁰³
I-Mas, Finanze, Apprensioni, cartella 399 (13.09.1709): „doppie 20 pagabile in Venezia ad Antonio Lotti“. L’inimico generoso. Drama [sic!] per musica da rappresentarsi in Bologna nel Teatro Malvezzi l’anno M.DCCIX. In Bologna Per Costantino Pisarri, sotto le Scuole all’Insegna di S. Michel. Con licenza de’ Superiori. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17200. Vgl. Andrea Sommer-Mathis: Antiker Mythos auf dem Wiener Theater. Der Wandel des Herakles-Bildes in den musikdramatischen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Joachim Dalfen/ Christine Harrauer (Hrsg.), Antiker Mythos erzählt und angewandt bis in die Gegenwart (Wiener Studien, Beiheft 28). Wien 2004, S. 237– 263.
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Andrea Sommer-Mathis/Danièle Lipp
Schließlich könnte auch das Oratorium L’esaltation di Salamone (sic!) von Giuseppe Porsile für, möglicherweise sogar in Barcelona komponiert worden sein. Der Neapolitaner Giuseppe Porsile war Ende 1707 nach Barcelona gerufen worden, um die neu gegründete Kapelle zu leiten.¹⁰⁴ Bis jetzt konnte allerdings keines seiner in Wien erhaltenen Werke seiner Tätigkeit als Kapellmeister, Komponist und Organist am katalanischen Hof zugeordnet werden. Wenn wir jedoch auch in diesem Fall die Tatsache in Betracht ziehen, dass – wie bei den oben erwähnten Opern – zwei unterschiedliche Abschriften dieses Oratoriums in der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten geblieben sind, so könnte dies ein Hinweis auf eine mögliche Aufführung in Spanien sein. Wir wissen von einer Produktion in Wien im Jahre 1727 und von einer weiteren Abschrift des Oratoriums mit dem gleich lautenden Titel L’esaltazion di Salomone, deren Komposition ursprünglich Carlo Badia zugeschrieben wurde.¹⁰⁵ Während die Partitur der Wiener Aufführung die Namen der Sänger nennt, gibt es in der nicht datierten Abschrift keinerlei Hinweis auf die Ausführenden. Es liegt also durchaus im Bereich des Möglichen, dass es sich auch in diesem Fall um eine Komposition für Barcelona handelt. Die Funktion des Kapellmeisters in Barcelona umfasste auch Kompositionsaufträge, wie Giuseppe Porsile selbst in einem Bittgesuch um seine Wiederaufnahme in kaiserliche Dienste aus dem Jahre 1717 anmerkte.¹⁰⁶ Die Quellen aus Mailand liefern demnach nicht nur wertvolle neue Einsichten in das Musikleben am Hofe Karls III. in Barcelona, sondern erweitern auch die bisherigen Forschungsergebnisse über die Werke, die in Spanien aufgeführt oder für den katalanischen Hof angefertigt wurden. Es wäre zweifellos wichtig, die in Wien erhaltenen und bisher nicht datierbaren Partiturabschriften einer neuerlichen Überprüfung zu unterziehen, um mögliche Verbindungen mit Barcelona entweder endgültig auszuschließen oder zu verifizieren. Und vielleicht liegen auch in anderen italienischen Archiven noch weitere Quellen, die zusätzliche Erkenntnisse zur spanischen Zeit Karls liefern könnten.
Der wertvolle Hinweis auf die Widmung in Pollarolos Werk ist Lorenzo Bianconi zu verdanken. Siehe auch Marco Bizzarini: Carlo Francesco Pollarolo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 84 (2015), http://www.treccani.it/enciclopedia/carlo-francesco-pollarolo_(Diziona rio-Biografico)/ (28.04. 2020). Auch Bizzarini vermutet, dass das Werk ursprünglich für den katalanischen Hof komponiert und erst danach im Herbst 1711 in Rovigo aufgeführt wurde. Zur Biografie Porsiles siehe Sommer-Mathis, Politik und Musikerreisen; Danièle Lipp: Giuseppe Porsile. ÖNB, MS, Mus. Hs. 18099; Stimmen Mus. Hs. 18100. Sommer-Mathis, Politik und Musikerreisen, S. 36 – 37.
Neue Quellen zum Musiktheater am Hofe Erzherzog Karls in Barcelona
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Liste der in Barcelona aufgeführten musikdramatischen Werke Werke mit einem Aufführungsdatum Titel
Komponisten / Librettisten
L’Imeneo ¹⁰⁷ „Scherzo pastorale“; August
? / „Alfesibeo Sebetio“
Zenobia in Palmira ¹⁰⁸ „Dramma per musica“; Herbst/Winter /
Andrea Fiorè / Apostolo Zeno, Pietro Pariati
Numeroso culto ¹⁰⁹ „Serenata española“; Februar
?/?
Dafni ¹¹⁰ „Dramma pastorale“; Juni
Emanuele Rincón d’Astorga / Eustachio Manfredi
Scipione nelle Spagne ¹¹¹ „Dramma per musica“;
Antonio Caldara? / Apostolo Zeno
Werke ohne ein Aufführungsdatum Titel
Komponisten /Librettisten
L’Atenaide ¹¹² „Dramma per musica“
Andrea Fiorè, Antonio Caldara, Francesco Gasparini / Apostolo Zeno
Ercole in cielo ¹¹³ „Componimento da camera“
Andrea Fiorè / Pietro Pariati
Il nascimento dell’Aurora ¹¹⁴ „Festa pastorale“
Tomaso Albinoni / Pietro Pariati?
Barcelona, Biblioteca de Catalunya, Dipòsit de Reserva, F. Bon. 3005. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17234; Libretti: Barcelona, Biblioteca de Catalunya, Dipòsit de Reserva M8 – 66; Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Textb. Sammelbd. 2(1). Barcelona, Biblioteca de Catalunya, F. Bon. 600. ÖNB, MS, Mus. Hs. SA 68 B2 Fonds Kiesewetter. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Textb. Sammelbd. 2(2). ÖNB, MS, Mus. Hs. 18091/1– 3. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17259. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17738.
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Andrea Sommer-Mathis/Danièle Lipp
Werke ohne ein Aufführungsdatum (Fortsetzung) Titel
Komponisten /Librettisten
Il nome più glorioso ¹¹⁵ „Componimento da camera“
Antonio Caldara / Pietro Pariati
Il più bel nome ¹¹⁶ „Componimento da camera“
Antonio Caldara / Pietro Pariati
L’oracolo del Fato ¹¹⁷ „Componimento da camera“
Francesco Gasparini / Pietro Pariati
Festa della Peschiera „Dramma per musica“?¹¹⁸
? / ?, Bühnenbild: Ferdinando Galli Bibiena
Werke mit einer möglichen Verbindung nach Barcelona Titel
Komponisten /Librettisten
Il voto crudele ¹¹⁹ „Oratorio“
Antonio Lotti / Pietro Pariati
L’humiltà coronata ¹²⁰ „Oratorio“
Antonio Lotti / Pietro Pariati
La Circe fatta saggia ¹²¹ „Serenata“
Francesco Conti / ?
Tito Manlio ¹²² „Dramma“
Paolo Magni, Andrea Fiorè / Matteo Noris
L’esaltation di Salamone ¹²³ „Oratorio“
Giuseppe Porsile / Pietro Pariati
L’amor generoso ¹²⁴
Francesco Gasparini / Apostolo Zeno
254.
ÖNB, MS, Mus. Hs. 18238. Brüssel, Conservatoire Royal, BC 584. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17253. Muraro/Povoledo, Disegni teatrali, S. 22– 25; Tamburini, Ferdinando Galli Bibiena, S. 249 – ÖNB, MS, Mus. Hs. 17695. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17671. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17188 und Mus. Hs. 17188/ 1– 4. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17233. ÖNB, MS, Mus. Hs. 18111. Selfridge-Field, A New Chronology, S. 280 – 281.
Neue Quellen zum Musiktheater am Hofe Erzherzog Karls in Barcelona
Werke mit einer möglichen Verbindung nach Barcelona (Fortsetzung) Titel
Komponisten /Librettisten
Le pazzie degli amanti ¹²⁵ „Pastorale“
Carlo Francesco Pollarolo / Francesco Passarini
L’inimico generoso ¹²⁶ „Dramma per musica“
Antonio Caldara / ?
ÖNB, MS, Mus. Hs. 17671. ÖNB, MS, Mus. Hs. 17200.
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Teil V: Epilog
Thomas Wallnig
Distant Reading Austria Ein Essay über die Habsburgermonarchie des langen 18. Jahrhunderts und die digitale Transformation der Geschichtswissenschaften
„Revolutionäre“ Wissenschaft, die Habsburgermonarchie und das digitale Paradigma Dieser Text präsentiert drei Fallstudien aus der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Ideengeschichte der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie, die mithilfe von digitalen Methoden erarbeitet worden sind. Diese Fallstudien hängen inhaltlich nicht miteinander zusammen und ihr Potential kann auf den folgenden Seiten auch nur anskizziert, nicht ausgeschöpft werden. Zweck dieses Textes ist nicht die Präsentation geschichtswissenschaftlicher Ergebnisse im gewohnten Sinn, sondern die Reflexion über den Wert dessen, was auf der fluiden, präkeren und ephemeren Ebene der Betrachung und Analyse von geschichtswissenschaftlich verwertbaren Daten überhaupt ausgesagt werden kann. Er ist bewusst mit „Essay“ überschrieben und er richtet sich an all jene, die sich auf eine Debatte zum Verhältnis von traditioneller und digitaler Methodologie einlassen wollen. Er will nach keiner Seite hin einen Überblick bieten und mag, je nach Perspektive, an manchen Stellen als komplex oder seicht wahrgenommen werden. Seine Argumentation zielt nicht auf Antworten, sondern auf eine präzisere Formulierung der Frage nach dem Aussagbaren in digitaler Geschichte. Epistemische Fluidität ist freilich nichts Neues; sie war stets integraler Bestandteil wissenschaftlicher Entwicklung. In seiner wegweisenden Studie The Structure of Scientific Revolutions beschrieb der amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn Umbrüche im wissenschaftlichen Weltbild als Folge eines Zusammenwirkens von inner- und außerwissenschaftlichen Faktoren.¹ Seine strenge Scheidung von „normaler“ und „revolutionärer“ Wissenschaft, angewandt auf den Übergang zur kopernikanischen Astronomie, ist in ihrer Ra-
Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962. https://doi.org/10.1515/9783110670561-020
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dikalität nicht zu halten², doch sie deutet auf zwei bedeutsame Gegebenheiten hin: einmal auf ein nicht-kontinuierliches Element in der Entwicklung von Wissenschaften, weiters auf die epistemischen Hybride, die sich in beschleunigten Übergangsphasen bilden. In diesen wird Wissensfortschritt nicht akkumulativ gedacht, sondern definiert sich durch das Postulat veränderter erkenntnistheoretischer Grundlagen. Zwischen Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium und der Formulierung der Keplerschen Gesetze, sowie zwischen diesen und Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica vergingen jeweils mehrere Jahrzehnte. Will man Wege dieser Art als Strecken denken, so befinden sich die digitalen Geisteswissenschaften gegenwärtig auf einem beliebigen Punkt eines ähnlichen Verlaufes: Sie behaupten einen Erkenntnismodus, der von großen Teilen der Fachgemeinschaft nicht anerkannt wird. Das liegt auch daran, dass der Umfang und die Grenze dieses Erkenntnismodus noch nicht klar umrissen sind. Kepler wollte, um in der Analogie zu bleiben, seine Gesetze mit Magnetismus als allumfassener Kraft begründen, womit er, im Gegensatz zu seinen Berechnungsformeln, Unrecht hatte. Die Rückkehr zur „normalen Wissenschaft“ ist denn auch immer ein Prozess der Anpassung, in dem sich verschiedene Erkenntnismodi mischen. Ebenso ist es ein Prozess der Kanonisierung, in dem diese Erkenntnismodi ihre jeweilige Autorität institutionell gegeneinander behaupten müssen: in Form von Lehrstühlen, Wissenschaftspreisen – oder, negativ gewendet, in erbittert ausgetragenen Debatten um „Wissenschaftlichkeit“. Den vielen Schritten auf diesem Weg der „revolutionären Wissenschaft“ haftet etwas Unfertiges und Exploratives an. Eine wissenschaftspolitisch geprägte Sprache verwendet dafür heute vermehrt Worte wie „Innovation“ und „Risikofreudigkeit“, was freilich wenig anderes ausdrückt als die Ablehnung traditionellen kumulativen Arbeitens. Die Ausführungen der folgenden Seiten vertreten keine solche Ideologie des wissenschaftlichen Fortschritts; sie reflektieren ihre eigenen Unzulänglichkeiten ohne Begeisterung. Zugleich versuchen sie, diese Reflexion in einen breiteren Kontext zu stellen und damit zur argumentativen Konsolidierung des Feldes beizutragen. Sie versuchen, ein Problem zu benennen. Sie ermutigen zur Strukturierung und Schärfung der Widerrede. Zum Gegenstand haben sie die so genannte Habsburgermonarchie der späten Neuzeit. Zwischen der Mitte des 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich Wien als politisches Zentrum der von den habsburgischen Kaisern be Zur Kritik an Kuhn vgl. Jutta Schickore: Geschichte und Philosophie der Wissenschaften; sowie Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie, in: Mariane Sommer/Staffan Müller-Wille/ Carsten Reinhardt (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 2017, S. 20 – 32 bzw. S. 32– 45.
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herrschten Länder und Länderkomplexe. Hier bildeten sich Elemente einer komplexen Staatlichkeit aus, die, später auf verfassungsmäßiger Grundlage, den Rahmen dieses heterogenen Herrschaftsgebildes bis zum Ende des Ersten Weltkriegs abstecken sollten. In den rund zweihundert Jahren vom Westfälischen Frieden bis zu den Revolutionen von 1848 erschien die werdende Monarchia Austriaca als Kompositstaat mit unterschiedlich verwalteten Territorien; als fiscal-military state, den militärische Notwendigkeiten zur Effizienzsteigerung im Steuerwesen zwangen; als eine kameralistisch gedachte Einheit mit Ansätzen zu kolonialen Ambitionen; als ein frühneuzeitliches Imperium nach spanischem Vorbild; als ein aufgeklärtabsolutistisches Staatswesen³ – und während dieser gesamten Zeit auch als einen Motor und Katalysator für räumliche und soziale Mobilität. Die Habsburgermonarchie war eine durch unterschiedliche Gruppen unterschiedlich vorgestellte imagined community ebenso wie ein per Triangulation vermessenes Territorium, ein Gegenstand von Geschichtskonstruktion ebenso wie von politischer Theologie. In diesen Deutungs- und Forschungsansätzen verbinden sich historische Wahrnehmungsmuster und akademische Paradigmen. Ihnen gegenüber stehen große Mengen an historischem Material, aufbereitet in Editionen, Quellenverzeichnissen und Handbüchern⁴; erforscht in oft überraschend segregierten disziplinären Kontexten; erzählt oft in Biographien, Prosopographien oder Ländergeschichten. Obwohl ihr Gegenstand also vergleichsweise leicht durch historische Eckdaten und geospatiale Koordinaten einschränkbar scheint, ergeben sie kein großes Gesamtbild. Kaum ein*e (deutschsprachige*r) Historiker*in wagt sich heute an solch ein Unterfangen; und wenn doch, so ist die perspektivisch bedingte Distanz vom Gegenstand meist der erste erhobene Kritikpunkt, und zugleich der am schwersten zu entkräftende. Doch eben jene größere Dimension, die sich in der nicht-digitalen Geschichtswissenschaft zumeist auf handhabbare Ausschnitte beschränken lässt, drängt sich gleichsam auf, wenn digitale Methoden der Erfassung, Aufbereitung, Systematisierung und Speicherung von Daten hinzutreten. Wer digital arbeitet, kann nicht umhin, sich mit dem „Distanten“ auseinanderzusetzen.
Einen Überblick über die verschiedenen Forschungszugänge bietet Petr Mat’a: Die Habsburgermonarchie, in: Michael Hochedlinger/Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (MIÖG Erg.-Bd. 62). Wien 2019, S. 29 – 62. Einen Überblick hierzu bietet Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16. – 18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch (MIÖG Erg.-Bd. 44). Wien/München 2004.
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Thomas Wallnig
Was aber bedeutet „digitales Arbeiten“? Grundsätzlich ist jede Information, die im Rahmen geisteswissenschaftlicher Forschung mit Hilfe eines Computers verarbeitet wird, per se digital. Wird freilich etwa aus einem Word-Dokument ein Buch generiert, so geht in diesem die computerlesbare Information verloren. Ein Teil der digitalen Arbeit besteht darin, diese Maschinlesbarkeit wiederherzustellen, und zwar so weit wie möglich unter Verwendung breit geteilter Standards.⁵ Die Harmonisierung von Daten durch die Verwendung solch gemeinsamer Standards ermöglicht dann die Durchsuchbarkeit mehrerer Ressourcen gleichzeitig, also etwa die Suche nach Personen- oder Ortsnamen, nach einer Status- oder Funktionsbezeichnung über mehrere Editionen und Datenbanken hinweg. Damit wird grundsätzlich die Funktion eines Index erfüllt, welcher aber hier in allen seinen Dimensionen anwendbar und unbeschränkt erweiterbar ist. Man kann nun in einem zweiten Schritt darangehen, die aufgesuchten Daten zu analysieren und zu visualisieren, und einige Datenbanken bieten bereits visuelle Explorations-Werkzeuge wie Graphen- oder Kartendarstellungen, die die traditionellen Feld-basierten Suchfunktionen ergänzen.⁶ Obwohl sich zwischen Suche und Interpretation naturgemäß keine scharfe Trennlinie ziehen lässt, besteht doch ein epistemischer Unterschied zwischen Datenexploration und Datenanalyse. Im Falle der zweiteren nämlich existieren definierte quantifizierende Verfahren, durch die der Sinn der mathematischen Prozesse wissenschaftlich verbindlich bestimmt wird. Das Darstellen kleinerer oder größerer Zahlenwerte aus einer Datenbank hat nicht dieselbe epistemische Qualität wie beispielsweise die Zentralitätswerte der Sozialen Netzwerkanalyse. Verfahren dieser Art können von Menschen oder in der Folge auch selbsttätig von Computern auf das Material angewendet werden, wodurch ein Bild dessen entstehen kann, was aus der Sicht des Computers ähnlich oder unterschiedlich erscheint.⁷ Die Fallbeispiele der folgenden Seiten verorten sich etwa in der Mitte des angedeuteten Spektrums. Sie bieten mehr als das bloße Ergebnis einer Suche in Datenbanken, da sie einige Aufbereitungsschritte beinhalten. Sodann machen sie an (einfachen) Zählfunktionen ihre Interpretationen fest. Weder wurde mit kom-
Zum Verhältnis zwischen analogen und digitalen Publikationsformen siehe grundlegend Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels, 3 Bde. Norderstedt 2013. Beispielsweise der Datenverbund Kalliope: https://kalliope-verbund.info/de/index.html (10.04. 2020). Peter Andorfer: Turing Test für das Topic Modeling. Von Menschen und Maschinen erstellte inhaltliche Analysen der Korrespondenz von Leo von Thun-Hohenstein im Vergleich, in: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (2017), doi:10.17175/2017_002 (10.04. 2020).
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plexen mathematischen Verfahren gearbeitet, noch wurde das Ergebnis in einen Selbstlernprozess des Computers zurückgeführt. Dennoch stellen sie sich, wie der Titel des Beitrags andeutet, in den Kontext von Forschungen, die seit einigen Jahren um einen reflektierten Umgang mit großen Mengen digital verarbeiteter geisteswissenschaftlicher Daten bemüht sind. Der Literaturwissenschaftler Franco Moretti publizierte 2013 sein wegweisendes Buch Distant Reading, in dem er sich dem Problem einer Geschichte der „neuzeitlichen europäischen Literatur“ anhand von vergleichsweise großen Datenmengen, also vor allem anhand der Bücher außerhalb des gängigen literarischen Kanons, näherte. Er erstellte Karten und Grafiken zu Verkaufszahlen, Baumdiagramme zur Verwendung von Erzählelementen in der Kriminalliteratur, Ähnlichkeitsberechnungen von Titeln, Netzwerkanalysen einzelner Werke, und Ähnliches. Obwohl er die begriffliche Stringenz des kleinen Korpus vermisste⁸, hinderte ihn das nicht, sein trained judgement ⁹ auf ungewohnte und unerwartete Evidenz anzuwenden und damit eine Literaturgeschichte in Mustern aus der Distanz, nicht in nationalen Entwicklungszusammenhängen, zu schreiben. Im Akzeptieren des epistemischen Wertes solch eines informierten Betrachtens aus der Distanz liegt die gegenwärtige Herausforderung in der „digitalen Transformation“ der Geisteswissenschaften als „revolutionärer Wissenschaft“. Motivation kann für die Forschenden dabei nicht nur die Sorge um Nachhaltigkeit und Interoperabilität der produzierten Forschungsdaten sein, sondern auch das Bestreben, die Interpretation derselben eben nicht den Maschinen und den Menschen ohne trained judgement zu überlassen.
Philipp Wilhelm Hörnigks „Österreich über alles“ und Historical GIS Im Jahr 1684 veröffentlichte Philipp Wilhelm von Hörnigk anonym den Traktat „Österreich über alles, wann es nur will“. Das Werk verarbeitete Ergebnisse aus einer vom Autor durchgeführten Erhebung von wirtschaftlichen Daten in den Erblanden.¹⁰ Ebenso wie sein Schwager Johann Joachim Becher zählte Hörnigk zu den Repräsentanten des später so genannten Kameralismus, einer wirtschaftspolitischen Lehre, die vor allem im Heiligen Römischen Reich in Reaktion auf den
Franco Moretti: Distant Reading. London 2013, S. 1– 2. Lorraine Daston/Peter Galison: Objectivity. New York 2007, S. 309 – 362. Philipp Wilhelm Hörnigk: Österreich über alles, wann es nur will. s.l. 1684.
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westeuropäischen „Merkantilismus“ entwickelt wurde und die, ähnlich wie dieser, die Macht staatlicher Institutionen durch planbare Verfügbarmachung finanzieller Ressourcen steigern sollte.¹¹ Die verwaltungsgeschichtliche Forschung rückt diese Ideen in einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit staatlicher Ressourcenmobilisierung für militärische Zwecke und interessiert sich vor allem für deren administrative Ausgestaltung und Umsetzung.¹² Wirtschaftshistorisch inspirierte Arbeiten hingegen interessieren sich für Wirtschaftswissen als Expertenwissen und für Handel und Geldwirtschaft als „interconnected spheres of circulation under the category ‚commerce‘ based on the cameralistic political economy.“¹³ Gefragt wird hier auch nach der Brauchbarkeit des Begriffs „Kameralismus“ an sich und nach dem Verhältnis der von kameralistischen Autoren imaginierten Verhältnisse im Gegensatz zu den realen Verhältnissen in der Verwaltung: „What we learn from studying the textbooks produced in the course of the eighteenth century illuminates therefore these conceptions of ‘good order’, not whether economic administration and practice was in fact orderly.“¹⁴ Dieser Punkt der Debatte soll für die folgende Argumentation herausgehoben und zugespitzt werden. Wenn, erstens, kameralistische Theorie und politische Umsetzung potentiell divergieren, und wenn, zweitens, dennoch Konsens darüber besteht, dass die Effizienzsteigerung in der Fiskalpolitik ein zentrales Moment der frühneuzeitlichen staatlichen Integrationsprozesse war, dann liegt genau in der angesprochenen Divergenz das projektive Moment der fiscal military states, der imaginierte Raum der künftigen Staaten. Es ist eine Raumimagination, die weitgehend vor der Phase der auf Triangulierung beruhenden kartographischen Erfassung von Staatsterritorien liegt¹⁵ und die demnach ein räumliches Gebilde zur Vorstellung bringt, das sich in der Interaktion von wirtschaftlichen und administrativen Räumen formt.
Herbert Matis/Herbert Streissler: Philipp Wilhelm von Hörnigk und die wirtschaftstheoretischen und -politischen Vorstellungen des Kameralismus Hörnigk. Düsseldorf 1997; Franz-Stefan Seitschek: Tradition als Innovation. Finanzverwaltung in der Habsburgermonarchie um 1700, in: Harald Heppner/Sabine Jesner (Hrsg.), The 18th Century as Period of Innovation. Graz 2019, S. 103 – 130, bes. 107– 112. Seitschek, Tradition als Innovation, bes. S. 104– 107 (und dort referierte Literatur). Klemens Kaps/Kolya Lichy: Conference Report: The Four Wings of Mercury, in: Thomas Wallnig/Marion Romberg/Joëlle Weis (Hrsg.), Digital Eighteenth Century. Wien 2019, S. 153 – 166. Keith Tribe: Baltic Cameralism?, in: Marten Seppel/Keith Tribe (Hrsg.), Cameralism in Practice: State Administration and Economy in Early Modern Europe. Melton 2017, S. 39 – 64, hier 39. Wolfgang Göderle: Modernisierung nach Vermessung? Das Wissen des modernen Staats in Zentraleuropa, circa 1760 – 1890, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 155 – 186.
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Das wird deutlich, wenn man die in „Österreich über alles“ vorkommenden Ortsnamen nach Häufigkeit des Vorkommens visualisiert (Abb. 1)¹⁶. „Österreich“ meint dabei die Gesamtheit der habsburgisch beherrschten Länder Zentraleuropas und präfiguriert damit einen Zustand, der politisch erst in den folgenden Jahrhunderten hergestellt werden würde.
Abb. 1: Visualisierung der Ortsnamen (global), in: Hörnigk, Österreich über alles (alle) mit Hilfe von Palladio (https://hdlab.stanford.edu/palladio/).
Es äußert sich hier ein fundamentales Problem der Visualisierung historischer Daten mit GIS. Es existieren an erster Stelle Orte, die problemlos georeferenziert werden können, etwa „Wien“. Es finden sich, zweitens, Raumbezeichnungen, die grundsätzlich politische Einheiten abbilden, welche auch eine territoriale Komponente aufweisen, etwa „Kärnten“ – hier wurde die jeweilige Visualisierung, fraglos problematisch, am zeitgenössisch relevanten politischen Hauptort verankert. Drittens freilich sind diese Kategorien nicht immer eindeutig, kann doch „Böhmen“ potentiell ein Land und einen Länderkomplex meinen, und ist doch der Hauptbegriff des Werkes – „Österreich“ – gerade dadurch markiert, dass damit nicht die beiden Erzherzogtümer gemeint sind, wiewohl „Wien“ als Hauptstadt durchaus die Intention des Autors trifft. So wurden sowohl „Öster-
Die folgenden Visualisierungen wurden mit dem web-basierten Visualisierungstool Palladio erstellt: https://hdlab.stanford.edu/palladio/ (10.04. 2020). Zugrunde gelegt wurde die folgende Edition des Werkes: Gustav Otruba (Hrsg.), Philipp Wilhelm von Hörnigk: Österreich über alles, wenn es nur will. Wien 1964. Das eingescannte Werk wurde mit der OCR-Funktion von Adobe bearbeitet, die Extraktion der named entities erfolgte händisch.
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reich“ als auch „Deutschland“ von der Visualisierung ausgenommen. Es geht in Hörnigks Werk ja vor allem darum, wie „Österreich“ einen Modellfall für den Rest des Heiligen Römischen Reiches darstellen soll, sodass sich am Ende „alle Glieder des Deutsch-österreichischen Staats auf einmal erfreuen und wohl befinden“.¹⁷ Solche Sätze entziehen sich demnach der Visualisierung. Viertens schließlich finden sich im Text Toponyme, die geographische oder handelspolitische Regionen benennen, denen auch mit viel Willkür nicht schlüssig ein politischer Hauptort zugewiesen werden kann – etwa Dalmatien (hier verankert am Ort Zadar/Zara) oder die „Tartarei“ (Kasan). Auf Visualisierungen des „adriatischen“ und des „baltischen Meeres“ wurde verzichtet.
Abb. 2: Visualisierung der Ortsnamen (Europa), in: Hörnigk, Österreich über alles (Europa) mit Hilfe von Palladio (https://hdlab.stanford.edu/palladio/).
Das angesprochene Problem verdient eine grundlegende Reflexion im Bereich der computergestützten geospatialen Forschung. Führende Ressourcen auf diesem Feld schöpfen aus Projekten und Datensammlungen zur alten und mittelalterlichen Geschichte.¹⁸ Sie arbeiten weit mehr als neuzeitliche historische Projekte mit materieller und archäologischer Evidenz, sie beruhen oft auf der Kohärenz eines einzigen Bezugsrahmens (etwa, bei „Orbis“, dem römischen Straßensystem) und sie müssen – trotz wacher Aufmerksamkeit für die literarische Dimension von
Otruba, Hörnigk: Österreich über alles, S. 122. Pelagios: https://pelagios.org/; Orbis: http://orbis.stanford.edu/ (10.04. 2020); Mihailo Popović/Veronika Polloczek/Bernhard Koschicek/Stefan Eichert (Hrsg.), Power in Landscape. Geographic and Digital Approaches on Historical Research. Leipzig 2019.
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Raumbegriffen¹⁹ – nicht im selben Ausmaß die latente Überlagerung kultureller, geographischer und staatlich-administrativer Semantik reflektieren. Diese Überlagerung, die sich ihrerseits mehrfach differenziert, ist einer der Gründe für das Fehlen eines allgemein brauchbaren historischen Gazetteers für das spätmittelalterliche und (früh)neuzeitliche Europa.²⁰ Wenn also die Visualisierung der bei Hörnigk erwähnten Länder und Regionen problematisch erscheint, so kann man daraus die Konsequenz ziehen, sich auf Orte zu beschränken, die eindeutig mit Geokoordinaten versehen werden können (Abb. 3). Hier zeigt sich nun ein bemerkenswerter Unterschied: An der ersten Karte (Abb. 1 und 2) werden England, Frankreich und Holland klar als aufgebaute Gegenbilder zu Österreich sichtbar, deren wirtschaftliche Ingerenz in Zentraleuropa durch merkantilistische Politik zurückzudrängen ist; Böhmen, Schlesien und Ungarn sind hingegen klare positive Referenzpunkte. Auf der zweiten Karte (Abb. 3) verbleiben hingegen vor allem die Handels- oder Produktionszentren, also Augsburg, Frankfurt, Meißen, Mailand oder Venedig. Der Gegensatz Wien – Paris ist auch hier sachlich eher unspezifisch; er bildet weniger einen spezifischen handelspolitischen Vergleich als eher die zentrale Erzählachse des Textes ab. Viele weitere Analysen ließen sich von diesen Überlegungen ausgehend konzipieren. So könnte durch Kookkurrenz-Analyse das jeweilige semantische Feld zu einzelnen Orte ermittelt werden, und zwar sowohl im Hinblick auf spezifische Waren und Warengruppen, als auch im Hinblick auf negativ oder positiv besetzte Wörter. Auch Geschlechter-Stereotype unterstützen die Grundaussagen von „Österreich über alles“.²¹ Zum zweiten könnte, wäre die Datengrundlage gegeben, mithilfe von Text-Reuse-Software festgestellt werden, inwiefern sich Teile des Hörnigkschen Werkes tatsächlich in präskriptiven Texten des 18. Jahrhunderts wiederfinden.²² Schließlich könnte der bei Hörnigk imaginierte Raum der Habsburgermonarchie kontrastiert werden mit anderen zeitgenössischen – potentiell konkurrierenden – Integrationsklammern. Ein Beispiel hierfür könnte die Ver-
Im Hinblick besonders auf Herodot Elto Barker/Stefan Bouzarovski/Christopher Pelling/Leif Isaksen (Hrsg.), New Worlds from Old Texts. Revisiting Ancient Space and Place. Oxford 2015. Arno Bosse: Space, in: Howard Hotson/Thomas Wallnig (Hrsg.), Reassembling the Republic of Letters in the Digital Age. Standards, Systems, Scholarship. Göttingen 2019, S. 79 – 96, doi: https:// doi.org/10.17875/gup2019 – 1146 (10.04. 2020). Zu fragen wäre etwa nach Ko-okkurrenzen von Begriffen wie „Frau*“ / „Weib*“ mit solchen wie „frech“, „verwegen“, „närrisch“. Sinnfällig ist auch der Satz: „Der Staat ist sich fürzustellen als ein reicher Mann, der sein Geld in vielen Beuteln hat.“ – Otruba, Hörnigk: Österreich über alles, S. 141. Otruba, Hörnigk: Österreich über alles, S. 33.
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breitung des Kultes des Johann Nepomuk sein, der nach seiner Heiligsprechung 1729 als inoffizieller „Staatsheiliger“ der Gesamtmonarchie inszeniert wurde.²³
Abb. 3: Visualisierung der Ortsnamen (nur eindeutig lokalisierbare Orte), in: Hörnigk, Österreich über alles (nur eindeutig lokalisierbare Orte) mit Hilfe von Palladio.
Dennoch kann festgehalten werden, dass Hörnigk mit zwei unterschiedlichen Raumbegriffen arbeitet: mit „Ländern“, die vom politisch Konkreten bis zum regional Diffusen reichen; und mit konkreten Orten, die die Zentren des wirtschaftlichen Lebens ausmachen. Die Divergenz der beiden dokumentiert die Abstraktionsleistung der Kameralistik. Ebenso dokumentiert sie den Unterschied zwischen einer Geographie der zentraleuropäischen Wirtschaftszentren und der imaginierten Habsburgermonarchie.
Hofadel, Reichsadel und digitale Prosopographie Forschungen zu Adel und Hof in der europäischen Vormoderne haben in den vergangenen Jahrzehnten einer ehedem herrscher(*innen)zentrierten Ge-
Thomas Winkelbauer: Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter (Österreichische Geschichte 1522−1699, hrsg. von Herwig Wolfram). 2 Bde. Wien 2003/2004, hier Bd. 2, S. 208 – 210. Der Zusammenhang zwischen Heiligenkult-Politik und monarchischer (nicht staatlicher) Integration wird in verschiedenen Facetten beschrieben in Elisabeth Ducreux (Hrsg.), Dévotion et légitimation. Patronages sacrés dans l’Europe des Habsbourg. Liège 2016.
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schichtsperspektive ein klares Gegengewicht gegenübergestellt. Beobachtet werden kann dabei ein ursprünglich soziologischer, später kulturhistorisch weiterentwickelter Ansatz, der nach Elementen politischer Kommunikation fragt einerseits²⁴; ein verwaltungsgeschichtlicher und prosopographischer Ansatz andererseits, der nach der Rolle von Adeligen und deren Netzwerken an den Höfen und in den Vertretungskörperschaften der Frühen Neuzeit fragt.²⁵ Alle Arbeiten müssen freilich mit dem dynamischen Moment von Staatsbildungsprozessen umgehen und können zugleich Beobachtungen formulieren, die auf breiterem Zahlenmaterial fußen, etwa der „Befund, dass die habsburgische Standeserhebungspolitik vom 16. bis zum 18. Jahrhundert auf eine Titelinflation hinauslief.“²⁶ Bei den habsburgischen Kaisern des frühen 17. Jahrhunderts bildete sich die politische Strategie etwa in der vermehrten Vergabe von Freiherren- und Grafentiteln an Gefolgsleute ab. Solche Standeserhebungen wurden von habsburgischen Kaisern aus kaiserlicher oder landesfürstlicher Autorität vorgenommen, also, grob gesprochen, im Wege der Reichskanzlei oder der jeweiligen Hofkanzleien. Wiewohl der Ablösungsprozess der beiden Bereiche komplex vonstattenging und sich nicht alle Gnadenakte eindeutig zuordnen lassen, bilden sich die beiden Sphären dennoch in unterschiedlichen archivalischen Überlieferungen ab: den Reichs- und den Hofadelsakten.²⁷ Diese beiden Überlieferungen werden in den folgenden Abbildungen visualisiert, und zwar zuerst ausschließlich im Hinblick auf das Ausstellungsdatum. An erster Stelle steht eine nach Jahrzehnten geordnete Darstellung der Zahl der
Gedacht ist etwa an Arbeiten von Claudia Opitz-Belakhal, Andreas Pečar oder an jene aus dem weiten Forschungsfeld der „Kulturgeschichte des Politischen“. Hier sind jene Forschungstraditionen gemeint, die sich in der „Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie“ bündeln. Petr Mat’a: Der Adel in der Habsburgermonarchie: Standeserhebungen und adelsrechtliche Regelungen, in: Michael Hochedlinger/ders./Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (MIÖG Erg.-Bd. 62). Wien 2019, S. 117– 148, hier 122. – Diese kompakte Zusammenfassung der äußerst komplexen Materie enthält auch zahlreiche quantitative Aufschlüsselungen. Das Archiviformationssystem des Österreichischen Staatsarchivs, Scope, bietet dazu die folgenden Informationen: https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?id=1699 (Reich); https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=1706 (Hof), (10.04. 2020). – Grundlage des verwendeten Datenmaterials sind die Einträge zu den entsprechenden Bestandsgruppen im Archivinformationssystem sowie die Einträge zu Hofadelsverleihungen in: Karl Friedrich Frank: Standeserhebungen und Gnadenakte für das Deutsche Reich und die Österreichischen Erblande, Bd. 1– 5. Schloss Senftenegg 1967– 1974; Peter Frank-Döfering: Adelslexikon des österreichischen Kaisertums 1804– 1918. Wien/Freiburg/Basel 1989.
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Hofadelsakten für den gesamten Zeitraum 1500 – 1900, gefolgt von jeweils spezifischen Ausschnitten zum Zeitraum 1680 – 1740, geordnet nach Jahren.
Die erste Abbildung verweist auf markante Episoden der habsburgischen Geschichte, mithin auf den Versuch, neue Eliten an das Herrscherhaus zu binden: die relativ kurzfristige Titelflut des ausgehenden 16. Jahrhunderts sowie der neuerliche Anstieg während des Dreißigjährigen Krieges, die sukzessive Zunahme gegen Ende des 18. Jahrhunderts und die Jahrzehnte enormer Konjunktur im frühen 19. Jahrhundert.
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Schwerer zu lesen sind die Abbildungen zum Zeitraum 1680 – 1740, bei denen die Zahl der jährlich ausgestellten Hof- und Reichsadelsakten verglichen wird.²⁸ Bemerkenswert ist der vergleichsweise stärkere Zuwachs der letzteren in den 1690er Jahren, erkennbar ist in beiden Grafiken die Phase der Regentschaft Josephs I., während der Befund für die Regierungszeit Karls VI. grundsätzlich vergleichbare Tendenzen zeigt: Einer aktiveren Phase der ersten Regierungsjahre folgt ein Rückgang in den 1720er Jahren. Solche Beobachtungen können freilich nicht mehr sein als Beschreibungen von Datenmustern, deren sukzessive historische Kontextualisierung eine bessere Datengrundlage und ein möglichst kollaborativ verhandeltes trained judgement voraussetzen würde. Von Vorteil wären zudem granular annotierte Daten, wenn also bei jedem einzelnen Akt strukturierte Informationen zur Natur des Gnadenaktes, der involvierten Person(en) und politischen Entitäten wie Länder oder Ämter existierten. Eine dadurch mögliche Verfeinerung der Fragestellung soll durch die folgenden Abbildungen angedeutet werden, in denen die aufgenommenen Aktenbeschreibungen nach den Strings „Graf*“ und „Freih*“ durchsucht und die Ergebnisse ebenfalls als Häufigkeitsgrafik visualisiert wurden.²⁹
Die Qualität der Datengrundlage wird dadurch eingeschränkt, dass Akten mit fehlender oder zweifelhafter Datierung weggelassen wurden. Es ist klar, dass diese Verlaufskurven, wenn überhaupt, nur grobe Trends abbilden können. Die Datengrundlage ist aus den oben genannten Gründen der Unvollständigkeit ungenügend, hinzu kommt, dass die Erwähnung von Adelstiteln nicht zwangsläufig Teil der Aktenbeschreibung ist, nicht zwangsläufig etwas über die Natur des Gnadenaktes aussagt und dass nicht selten mehrere Adelstitel – auch Hof- und Reichsadel gemeinsam – in einer Beschreibung vorkommen. Ebenso ist die Treffsicherheit der trunkierten Suchbegriffe diskutabel. – Interessante Erweite-
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Erkennbar ist bei der Trunkierung „Graf*“ ein Verhältnis zwischen der Abnahme der Reichsadelsakten und der Zunahme der Hofadelsakten in der Regierungszeit Karls VI., bei der Trunkierung „Freih*“ bestätigt sich der Trend einer grundsätzlichen Abnahme in den 1720er Jahren. Solche Ausführungen können freilich nicht mehr als Andeutungen sein, bedürfte es doch für ihre ernsthafte Weiterverfolgung einer soliden maschinlesbaren
rungen der Versuchsanordnung könnten darin bestehen, Suchläufe nach weiteren Adelsrängen durchzuführen bzw. die jeweiligen Zahlen untereinander und zur Gesamtzahl in Relation zu setzen.
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und granular annotierten Datengrundlage.³⁰ Wo eine solche vorhanden ist, kann digitale Prosopographie mit anderen Mitteln und in anderer Komplexität betrieben werden.³¹ Ein Beispiel ist die von Maxim Romanov bearbeitete Geschichte des Islam (Taʾrīḫ al-islām) aus der Feder des al-Ḏahabī, eines damaszener Schriftstellers des 14. Jahrhunderts.³² Es können nun freilich umfangreiche biographische Sammlungen wie die des al-Ḏahabī nicht direkt mit umfangreichen Aktenbeständen wie den genannten verglichen werden. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie eine in sich geschlossene Menge darstellen, die im konkreten Fall sogar eine vergleichbare Dimension von rund 30 000 (Hofadelsakten) für einen vergleichbaren Zeitraum von einigen Jahrhunderten aufweist. Gemeinsam ist ebenfalls, dass in beiden Korpora Personen zentrale Entitäten sind und dass diese Personen mit Attributen charakterisiert werden, die – bei aller Komplexität – den Anspruch einer Norm dokumentieren und nicht beliebig sind. Sind es bei den Adelsakten die Adelstitel und Ämterbezeichnungen, so sind es im Arabischen – in Ermangelung von „Adel“ im westlichen Sinn – nisbaŧs, deskriptive Namen „that behave as social markers“, indem sie geographische, intellektuelle und standesmäßige Affiliationen referieren: „Combining thousands of such biographical profiles and subsetting them with different parameters, we can get detailed insights into chronological and geographical patterns of a variety of social, religious, and professional groups that can be identified in a specific biographical collection.“³³ Die Aussagekraft solcher Einsichten hängt schließlich nicht nur von der Datenqualität, sondern auch von der Treffsicherheit der Fragestellung ab. Dass dies auch im Bereich der komplexen Europäischen Vormoderne durchaus möglich ist, zeigen Pilotstudien zur Mobilität bei benediktinischen und jesuitischen Wissenschaftern sowie zur Hochschulfrequenz während des Dreißigjährigen Krieges.³⁴
Eine Initiative zur Erarbeitung einer solchen ist seit 2020 die „Digital Habsburg Platform“, eine Kooperation zwischen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ACDH-CH und IHB) sowie der Universität Wien (IfÖG). In diesem Sinn wird ein Projekt unter dem Titel „The Viennese Court – A Prosopographical Portal“ vorgehen, das ab Herbst 2020 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das habsburgische Hofpersonal des späten 17. Jahrhunderts erforschen wird. Die folgenden Ausführungen beruhen auf Maxim Romanov: Algorithmic Analysis of Medieval Arabic Biographical Collections, in: Speculum 92/S1 (October 2017), S. 226 – 246. Romanov, Algorithmic Analysis, S. 232. Howard Hotson: Prosopographical Data; sowie Thomas Wallnig/Dagmar Mrozik: Modelling Religious Orders, in: Hotson/Wallnig, Reassembling the Republic of Letters, S. 358 – 365, sowie 384– 392.
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Was sich aber anhand den gemachten Beobachtungen festmachen lässt, sind über den langen Zeitraum deutlich akzentuierte Verlaufskurven und ansatzweise wahrnehmbare Zäsuren beim Regierungsantritt neuer Herrscher. Dass sich darin ihre jewelige politische Agenda spiegelte, kann angenommen werden.
Karl Anton von Martini, Christian Wolff und Hugo Grotius: Naturrecht und digitale Ideengeschichte Man mag sich heute fragen, wie eine digitale Adaption von Ideengeschichte aussehen kann, wo doch schon im nicht-digitalen Bereich keine methodische Einigkeit über deren Gegenstand besteht.³⁵ Die folgenden Ausführungen setzen voraus, dass Begriffe und Formulierungen Ideen tragen und transportieren können, ohne mit ihnen ident zu sein; dass sich in ihnen Diskurse zeigen können, für deren Beschreibung es freilich umfangreicher Corpora aus unterschiedlich gearteten Quellen bedarf. Die Frage, welche Auswahl an Quellen annähernd repräsentativ sein kann, bleibt dabei auch im Digitalen ebenso offen, wie jene – bereits zuvor gestellte – nach dem Verhältnis von Text und gesellschaftlicher Praxis. Schlüssig und relativ leicht durchzuführen erscheinen etwa bibliographische Auswertungen auf der Basis von klar umgrenzten Texten, besonders wenn – wie bei den Anciens und Modernes in der Encyclopédie – eine klare Distinktion zwischen zwei Referenzgruppen gegeben ist.³⁶ Es kann weiters von Interesse sein, die Häufung von Argumenten – beispielsweise Rekurse auf „Grundrechte“ in Gerichtsprozessen – zu betrachten, was aber bereits lange vor der Zeit digitaler Technologien möglich war und durchgeführt wurde.³⁷ Man kann Wörter zählen, um etwa den Unterschied zwischen Recht und Rechten und die historische Überlagerung der beiden zu verdeutlichen.³⁸ Mehrere Projekte im Bereich vormoderner Ideen- und Begriffsgeschichte bemühen sich gegenwärtig darum, den richtigen methodischen Zuschnitt in Be-
Einen Überblick über den Stand der Debatte bietet etwa Darrin McMahon/Samuel Moyn (Hrsg.), Rethinking Modern European Intellectual History. Oxford 2014. Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy. Chicago 2011, bes. S. 24– 36. Wolfgang Schmale: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma. Berlin/Boston 1997. Dan Edelstein: On the Spirit of Rights. Chicago 2019, S. 21– 24.
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ziehung zur richtigen Corpusbildung zu bringen.³⁹ Im Rahmen der COST-Action „Worlds of Related Coercions in Work“ arbeitet eine Gruppe an einer digitalen Plattform, die die gemeinsame Durchsuchbarkeit und Analyse großer Datenbestände mit Blick auf das Vokabular von Zwang und Arbeit ermöglichen soll.⁴⁰ Hier wird von der von Maria Ågren angewendeten Verb-orientierten Methode ausgegangen.⁴¹ Im Hinblick auf die vormoderne Naturrechtslehre bemüht sich ein Forschungsnetzwerk um die Verknüpfung biographischer und intellektueller Profile von Naturrechtslehrern – zumeist im Heiligen Römischen Reich – in einer Datenbank.⁴² Auch datenwissenschaftliche Forschung hat sich ideengeschichtlichen Fragen zugewendet. Besonders vielversprechend erscheint dabei ein Ansatz, bei dem bewusst zwischen der Veränderung von concepts und jener von word meanings unterschieden wird. Damit verschiebt sich der algorithmische Ansatz vom Wort und seiner Umgebung hin zur Suche nach „vocabulary associated with particular concepts“.⁴³ Hier wird im bearbeiteten Korpus – etwa niederländischen Zeitschriften der Jahre 1890 – 1990 – nicht nach Frequenzen derselben Wörter während des fraglichen Zeitraums gesucht, sondern von Begrifflichkeiten des Anfangszeitpunkts ausgegangen und von dort aus die Änderung der Ko-okkurrenzen bestimmt. Vor diesem Hintergrund setzen die folgenden Überlegungen zur Lehrschrift des bedeutenden Wiener Naturrechtslehrers Karl Anton von Martini (1726 – 1800) an. Seine „Positiones de iure naturali“ wurden als Lehrbuch vielfach aufgelegt⁴⁴ und enthalten, in 816 Paragraphen unterteilt, eine Herleitung naturrechtlich fundierter Rechtspraxis aus allgemeinen philosophischen Prinzipien. Die rechtsgeschichtliche Forschung charakterisiert Martini als einen der wesentlichen Naturrechtslehrer der Habsburgermonarchie, dies besonders aufgrund seiner Lehrtätigkeit an der Universität Wien sowie durch seine aktive Mitgestaltung von Rechtsmaterie, etwa dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch.
Franco Motta, Alessandro Maurini und andere arbeiten an text mining-Strategien zur Geschichte der Menschenrechte in der italienischen Aufklärung, wozu aber zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch kein methodisches Konzept vorliegt. https://www.worck.eu/organisation/taskforce-di/ (10.04. 2020). Maria Ågren: Making a Living, Making a Difference. Gender and Work in Early Modern European Society. New York 2016, S. 13 – 19. http://naturallawdatabase.thulb.uni-jena.de/home.html (10.04. 2020). Gabriel Recchia/Ewan Jones/Paul Nulty/John Regan/Peter de Bolla: Tracing Shifting Conceptual Vocabularies through Time, in: Knowledge Engineering and Knowledge Management (2016), S. 19 – 28, hier 20; doi.org/10.1007/978-3-319-58694-6_2 (10.04. 2020). Verwendet wurde die digital verfügbare Ausgabe Koblenz 1780.
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Ebenso spricht die rechtshistorische Forschung Martinis Abhängigkeit vom deutschen Aufklärungsphilosophen Christian Wolff (1679 – 1754) an, eine Abhängigkeit, die auch in Martinis Schriften klar greifbar wird. Ivo Cerman, der sich ebenso mit anderen Protagonisten der katholischen Naturrechtslehre im Habsburgerreich um die Mitte des 18. Jahrhunderts befasst hat, arbeitet dabei besonders einen Faktor heraus: Martini und andere beziehen Naturrecht nicht auf ein höchstes Prinzip, sondern leiten es von der gottgegebenen menschlichen Vernunft ab und erhalten somit das Postulat der Willensfreiheit.⁴⁵ Gerichtet ist diese Auffassung gegen Autoren wie Pufendorf oder Thomasius, bei denen Moralität in die Sphäre des positiven Rechts gerückt und das höchste Prinzip im Bereich der Soziabilität gesucht wurde. Der im protestantischen Bereich umstrittene Wolff bot der katholischen Reformphilosophie hier, wie auch etwa in der Naturphilosophie, ein brauchbares Referenzmodell.⁴⁶ Die folgende Tabelle bieten einen Vergleich von drei Traktaten: Martinis „Positiones“⁴⁷, Wolffs „Grundsätze des Natur- und Völkerrechts“⁴⁸ – und, der wesentliche Referenzpunkt für die gesamte frühneuzeitliche Debatte, Grotius’ „De jure belli ac pacis.“⁴⁹ Dargestellt werden die zehn Wörter, die sich im Korpus am häufigsten im Umfeld des gesuchten (trunkierten) Hauptbegriffs befinden.⁵⁰
Ivo Cerman: Nicolaus Ignaz Königsmann. Natural Law in Prague before 1752, in: Grotiana 41 (2020), S. 177– 197. Thomas Wallnig: Critical Monks. The German Benedictines, 1680 – 1740. Leiden/Boston 2019, S. 189 – 191. Der Text (44,421 Wörter) wurde im HTR-Programm Transkribus mit einem eigenen Modell (beruhend auf dem Modell Noscemus GM v1) bearbeitet. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle 1754. – Verwendet wurde die lemmatisierte Version (185,329 Wörter) aus dem „Deutschen Textarchiv“: http://www.deutsches textarchiv.de/book/show/wolff_voelckerrecht_1754 (20.04. 2020). Es existierte zum Zeitpunkt der Abfassung des Beitrages von diesem Text keine Volltextversion außer der englischen: Jean Barbeyrac/Richard Tuck (Hrsg.), Hugo Grotius: The Rights of War and Peace. Indianapolis 2005 (https://oll.libertyfund.org/titles/grotius-the-rights-of-war-and-peace2005-ed-3-vols; 10.04. 2020). – Von Samuel Pufendorfs „De iure naturae ac gentium libri octo,“ mit dem sich ebenfalls ein Vergleich angeboten hätte, lag überhaupt keine Version im Volltext vor. Durchgeführt wurde die Analyse mit Voyant Tools (https://voyant-tools.org/; 10.04. 2020). Der trunkierte Begriff schließt alle vorhandenen grammatikalischen Formen ein, die in einem Menü ersichtlich und somit kontrollierbar sind. Die Anzahl der Treffer bei den Hauptbegriffen liegt meist im unteren bis mittleren dreistelligen Bereich. Jeweils wurden sprachenspezifische Stopwörter aus der Rechnung eliminiert. Mitunter finden sich dieselben Begriffe häufig im selben Satz miteinander verwendet, daher erscheinen sie auch unter den Kookkurrenzen. Die Berechnung der „collocates“ wird hier erläutert: https://voyant-tools.org/docs/#!/guide/corpuscollocates.
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Hauptbegriff Martini
Wolff
Grotius
Iu* / Recht* ius, naturalis, obligationes, / right iure, naturae, perfectum, stricte, belli, naturali, homines
Sache, Recht, Natur, Ius, Volk, Gebrauch, nennen, Mensch, zukommen, Handlung
war, right, called, king, reason, property, law, man, nature, properly
Leg* / Gese* naturali, naturalis, natura/ law les, naturalium, obligationes, principiis, iure, ius, naturae, obligationis
Natur, Gesetz, Handlung, verbieten, nennen, Recht, verbinden, Vertrag, einrichten, Willen
nature, nations, law, Moses, according, contrary, God, right, called, given
Natur* / na- ius, leges, natura, ratio, ture homines, hominis, legum, vi, cognitio, naturae
Gesetz, Recht, Mensch, Rechte, verbinden, Handlung, Wesen, gemäß, verbieten, Verbindlichkeit
law, nations, things, man, right, reason, contrary, according, state
Deu*⁵¹ / Gott* / God
officiis, colendum, naturali, Gott, Handlung, Mensch, dilexit, ens, facile, natura, Pflicht, verbinden, nennen, naturalis, pietate, prior groß, schuldig, Tugend, erkennen
man, law, things, laws, power, kings, nature, people, right, given
Hom* / Mensch* / man
ius, natura, intelligitur, naturali, status, actiones, arbitrio, essentia, iure, iura
Natur, Recht, Handlung, verbinden, Mensch, Vollkommenheit, Zustand, Wesen, Ding, Geschlecht
God, right, nature, law, good, reason, shall, says, natural, commit
Oblig* / Pflicht* / obliged
iura, ius, leges, legis, moralis, lege, obligatio, lex, ratione, actiones
Mensch, Gott, Pflicht, Volk, law, king, kings, sufeinander, Kind, erfordern, fer, arms, authority, Eltern, leisten, schuldig make, people, according, Jews
Princi* / Prinzi* / prince
cognoscendi, conclusiones, [kaum Nennungen] iuris, nexu, legitimo, legum, accessorium, agendi, caput, certis
Nexu* / ver- vis, actione, boni, conclubinden siones, inevitabili, legitimo, principiis, ratio, adest, beneficiis
verbinden, Handlung, Gesetz, Recht, Sache, Natur, einander, Kraft, Mensch, Gott
right, power, king, people, laws, make, subjects, great, approbation, father [kaum Nennungen]
Was kann dieser Datenbefund aussagen? Es fällt auf, dass bei einigen Begriffen die Liste der häufigsten Kookkurrenzen (bezogen auf den Wortstamm) mehr Übereinstimmungen aufweist, bei anderen
Die fünf häufigsten Ko-okkurenzen für „Dei“: cultus, bonitate, cultum, gloriam, providentia; für Deo: natura, absolute, abstrahat, accipiunt, actiones.
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weniger. Bei den Begriffen „Ius*“, „Natur*“ und „Hom*“ existieren zumindest drei gleiche Kookkurrenzen bei allen drei Werken; bei anderen – etwa „Deu*“ und „Princi*“ – ist dies in weit geringerem Ausmaß der Fall. Interessant sind die auch inhaltlich verwandten Begriffe „Leg*“ und „Oblig*“. Beim ersten Begriff gibt es mehrere Übereinstimmungen zwischen Grotius und Wolff; der bei Martini starke Begriff „oblig*“ hat bei den anderen beiden keine Entsprechung. Umgekehrt illustriert auch das semantische Feld von „oblig*“ bei Martini eine klare Ausrichtung sowohl an (Natur‐)Recht als auch an Gesetz(en). Während mit Wolff immerhin „Pflicht“ gemeinsam ist, spielen bei Grotius die konkreten Akteure und die Mittel zur Durchsetzung von Macht eine größere Rolle. Darin spiegelt sich sowohl die Entwicklung „von der Tugendethik zur Pflichtethik“⁵² als auch jene der zunehmend abstrakten Auffassung von Herrschaft und Staatlichkeit. Bemerkenswert ist schließlich das Bild, das sich bei Wolff im Hinblick auf Wörter ergibt, die im Zusammenhang mit menschlichem Handeln und dessen Spielraum stehen. Sichtbar wird darin das philosophische Anliegen, Naturrecht auf das Verhältnis von menschlichem Erkenntnisvermögen und menschlicher Handlungsfähigkeit zu beziehen – das, was erkannt werden kann, das, was dem Menschen (bzw. Gott und der Natur) zukommt, was deren Zustand und Wesen entspricht. Weder bei Martini noch bei Grotius ist diese metaphysische Bearbeitung des Themas vordergrüdig, wiewohl der Wolffsche Leitbegriff des „nexus“ – der „Verbindung“ dieser Bereiche – auch bei Martini mit einem einschlägigen Wortfeld dokumentiert ist. Ebenso interessant ist abschließend die zweimalige biblische Referenz bei Grotius („Moses“, „Jews“). Diese Auseinandersetzung mit der alttestamentlichen Grundlegung von Naturrecht spielt bei Wolff und Martini keine zentrale Rolle (mehr). Mit dem Gesagten ergeben sich einige Perspektiven, nach denen die genannten Werke – und viele weitere mehr – miteinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Wären entsprechend auswertbare Daten vorhanden, so könnte man etwa die zitierte Literatur, Bibelstellen und Klassikerzitate miteinander vergleichen. Lägen alle Texte gleichermaßen linguistisch annotiert (in derselben Sprache) vor, so könnte man den semantischen Befund um einen morphosyntaktischen erweitern und etwa Wortartenhäufigkeit, verwendete Zeiten und Modus betrachten. Leichter vielleicht als auf der ideellen Ebene, sind in der Dimension der sprachlichen Oberfläche und epistemischen Funktionalität die
Richard Bruch: Ethik und Naturrecht im deutschen Katholizismus des 18. Jahrhunderts. Von der Tugendethik zur Pflichtethik. Tübingen/Basel 1997.
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Werke der „Höhenkammliteratur“ mit allen anderen vergleichbar; deren gibt es viele. Festgehalten werden kann jedenfalls, dass sich alle drei Werke in gewissen Aspekten ähneln: Martini und Wolff im Hinblick auf die Konzeption von Natur, Recht und Tugend und Staat; Wolff und Grotius im Hinblick auf den philosophischen Zugriff auf das Thema.
Fazit: Welche Dimension? Versuchen wir, einige der Beobachtungen aus den drei gezeigten Fallstudien zusammenzufassen. Bei Hörnigk zeigte sich der Unterschied zwischen der imiaginierten Geographie der Habsburgermonarchie und der tatsächlichen Topographie der wirtschaftlichen Zentren; bei den Adelsakten zeigten sich Zäsuren bei Herrschaftswechseln; bei Martini, Wolff und Grotius verschiedene Dimensionen von Ähnlichkeit und Unterschied im frühneuzeitlichen Naturrechtsdenken. Ergeben diese Befunde ein Gesamtbild? Potentiell ja. Es bedürfte größerer Mengen an verlässlichen Daten, um ausgewählte Vergleichsanordnungen erzeugen zu können; viele von Ihnen wurden auf den vergangenen Seiten anskizziert. Will man diese aber in Angriff nehmen, so muss man zuerst den approximativen Aussagemodus solcher Datenanalyse-Befunde – Beobachtungen, Diskussionsgrundlagen, keine „Ergebnisse“ – anerkennen. Welche Geschichtswissenschaft ist es aber, die diese Frage mit sich zu klären hat? Es sind viele heterogener Strömungen, die methodisch unterschiedlich vorbereitet in die digitale Transformation gehen. Dass sie sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum um eine gemeinsame Sprache bemüht haben, könnte dann zur Herausforderung werden, wenn sie sich anschicken, Deutungshoheit über dieselben Daten zu erheben, Daten, deren Wiederverwertbarkeit und Interoperabilität mittelfristig unumgänglich sein wird. Die Fallbeispiele der vorangegangenen Seiten sollten illustrieren, an welchen Fragen etwa die methodologischen Debatten der Wirtschafts-, Sozial- und Ideengeschichte zum langen 18. Jahrhundert hier ansetzen könnten. Das erstrebte Ziel ist dabei nicht die totalitäre Utopie des einen Korpus und der einen Fragestellung. Ziel ist vielmehr eine erneuerte methodologischen Reflexion über das Verhältnis von klein und groß⁵³ und somit eine integrierende Vgl. (wiewohl umstritten) David Armitage/Jo Guldi: The History Manifesto. Cambridge 2014; Eva Schauerte: Histories of Scale. Die Digitalisierung der Zeit durch Verfahren der Kliodynamik, in: Joseph Vogl/Bernhard Siegert/Friedrich Balke (Hrsg.), Mikrozeit und Tiefenzeit. Paderborn 2019, S. 111– 126.
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Anknüpfung an methodische Traditionen und Debatten aus der Zeit vor dem digital turn. Viele digitale Quellensammlungen und Editionen reflektieren implizit den nationalstaatlichen Bilck des 19. Jahrhunderts, den zu überwinden sich die historischen Sozial- und Kulturwissenschaften zum Anliegen gemacht hatten; erstere bewusst mit Betonung des Quantitativen. Vor diesem Hintergrund gilt es, das „Nicht-Lesen“⁵⁴ methodisch abzusichern, damit die Errungenschaften der kulturwissenschaftlichen Wende nicht einem neuen Datenpositivismus geopfert werden. Sichtbarer als in anderen Bereichen sind die Ergebnisse computergestützter geisteswissenachaftlicher Forschung im Hinblick auf diese Herausforderungen konfrontiert. Franco Moretti (der sich als Literaturwissenschaftler zu „soziologischem Formalismus“ bekennt) leitet sein Werk mit einer Referenz auf den Historiker Carlo Ginzburg ein. Fernand Braudels „longue durée“ spielt darin eine explizite Rolle.⁵⁵ Es sind dies zwei der wichtigsten Theoretiker des Großen und des Kleinen, die die Geschichtswissenschaften im 20. Jahrhundert hatten. Moretti weiß um sie, wenn er in assoziativ anmutender Sprache schreibt, was ihm seine Datenvisualisierungen sagen.
Steffen Martus: Distant Reading. Weltliteratur gescannt, in: Die Zeit (4. August 2016); https:// www.zeit.de/2016/33/distant-reading-franco-moretti (10.04. 2020). Moretti, Distant Reading S. 1– 2, 85 – 87; „sociological formalism“: ebd., S. 59.
Abkürzungsverzeichnis ADB ÄR ÄZA AHK AHN AÖG AVA Banater A BHStA BNB CNA CNI Cod. DTÖ E-Bac Ec. Hist. EHR FA FBPG FHKA GFK GG Gr. Korr. GStA PK HA HAStK HF U HGM HK HHStA HquP HS HStA H HZ I-Mas Jb Oö Mv KA LA LAr MGG MIÖG MÖStA
Allgemeine Deutsche Biographie Ältere Reihe Hofzeremonielldepartement, Ältere Zeremonialakten Alte Hofkammer Archivo Histórico Nacional (Madrid) Archiv für Österreichische Geschichte Allgemeines Verwaltungsarchiv (Wien, ÖStA) Banater Akten Bayerisches Hauptstaatsarchiv (München) Biblioteca Nazionale Braidense Corpus Nummorum Austriacorum Corpus Nummorum Italicorum Codex Denkmäler der Tonkunst in Österreich Arxiu de la Corona d’Aragó Economic History English Historical Review Familienarchiv Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Finanz- und Hofkammerarchiv Geheime Finanzkonferenz Gemäldegalerie Große Korrespondenz Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz Hausarchiv Historisches Archiv der Stadt Köln Hoffinanz Ungarn Heeresgeschichtliches Museum Hofkanzlei Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Wien, ÖStA) Hofquartierprotokolle Handschrift Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover Historische Zeitschrift Archivio di Stato di Milano Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines Kriegsarchiv (Wien, ÖStA) Länderabteilungen Landesarchiv Die Musik in Geschichte und Gegenwart Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs
https://doi.org/10.1515/9783110670561-021
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Abkürzungsverzeichnis
MS NHK NZ ÖNB ÖStA OLMA OMeA OMaA OÖLA ÖZV
Musiksammlung Neue Hofkammer Numismatische Zeitschrift Österreichische Nationalbibliothek (Wien) Österreichisches Staatsarchiv (Wien) Länderabteilungen, Niederösterreichisches Landmarschallamt Hofarchive, Obersthofmeisteramt Hofarchive, Oberstmarschallamt Oberösterreichisches Landesarchiv Thomas Fellner/Heinrich Kretschmayr: Die österreichische Zentralverwaltung. Wien 1907 ff. Prot. Protokoll(e) in Hofparteiensachen PS Psalm QIÖG Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung RHR Reichsarchive, Reichshofrat Rk Reichsarchive, Reichskanzlei SB Sonderbestände Sb Sonderband SP State Papers Span. Rat Spanischer Rat SR Sonderreihe StAbt Diplomatie und Außenpolitik vor 1848, Staatenabteilungen StaNü Staatsarchiv Nürnberg TNA The National Archives UA Ungarische Akten UK Ungarisches Kamerale VIÖG Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichte VUG Vermischte Ungarische Gegenstände WA Wirtschaftsarchiv WD Wiennerisches Diarium WStLA Wiener Stadt- und Landesarchiv ZA Zeremonialakten ZA Prot. Hofarchive, OMeA, Hofzeremonielldepartement, Zeremonialprotokolle ZHF Zeitschrift für historische Forschung
Allgemeine Abkürzungen a.a.O. Art. Aufl. Bd., Bde. bzw. ders. dies. Diss.
am angegebenen Ort Artikel Auflage Band, Bände beziehungsweise derselbe dieselbe(n) Dissertation
Abkürzungsverzeichnis
ebd. Erg.-Bd. erw. EÜ f. bzw. ff. Fasz. fl. H. Hrsg. Kt. Konv. Leg. o.A. o.D. T Tb u. a.m u. ö. u. U. u.v.a. undat. unfol. Univ. Urk. usw. v v. a. x. Z. z. B. z. T.
ebenda Ergänzungsband erweiterte Einheitübersetzung folgende Faszikel bzw. Faszikulatur Gulden Heft Herausgeber Karton Konvolut legajo(s) ohne Autor bzw. anonym ohne Datum Teil/ tomus Taschenbuch und andere(s) mehr und öfter unter Umständen und viele andere undatiert unfoliiert Universität Urkunde und so weiter verso vor allem Kreuzer Ziffer zum Beispiel zum Teil
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Abbildungsnachweise Beitrag Friedrich Polleroß Abb. 1
Wien, © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Graphiksammlung, PORT_00047238_01. Abb. 2 © Foto: Friedrich Polleroß. Abb. 3 Wien, Akademie der Bildenden Künste, Gemäldegalerie, GG 97. Abb. 4 © Muzeum Narodowe w Warszawie, M.Oob.1904. Abb. 5 © Galerie der Stadt Bratislava, A135. Abb. 6 Wien, © Heeresgeschichtliches Museum, Inv.-Nr. 11597/2010. Abb. 7 © Foto: Martin Mádl. Abb. 8 Wien, © Institut für Kunstgeschichte. Abb. 9 Wien, © KHM-Museumsverband, GG 2719. Abb. 10 Wien, © Bundesmobilienverwaltung, Objektstandort: Hofmobiliendepot, Möbel Museum Wien, MD 048358/000, Foto: Marianne Haller. Abb. 11 © Foto: Friedrich Polleroß. Abb. 12 © Museum Neukloster.
Beitrag Anna Fabiankowitsch Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5
Wien, © KHM-Museumsverband, a) MK 21.323aα, b) MK 21.328aα. Wien, © KHM-Museumsverband, MK 7.624bα. Wien, © KHM-Museumsverband, MK 171.402. Wien, © KHM-Museumsverband, a) MK 162.696; b) MK 162.697. Wien, © KHM-Museumsverband, MK 1.476aβ.
Beitrag Sandra Hertel Abb. 1 Wien, © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Graphiksammlung, PORT_00047219_01. Abb. 2 Wien, © Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Graphiksammlung, NB 515645-B. Abb. 3 Wien, © KHM-Museumsverband, GG 8859.
Beitrag Manfred Zollinger Abb. 1 Wien, © Universitätsbibliothek. Abb. 2 Linz, © Oberösterreichisches Landesarchiv.
Beitrag Pia Wallnig Abb. 1 © Österreichisches Staatsarchiv.
https://doi.org/10.1515/9783110670561-022
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Abbildungsnachweise
Beitrag Thomas Wallnig Abb. 1 – 3 © Thomas Wallnig.