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German Pages 202 Year 2001
KARL GABRIEL (Hrsg.)
Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände
Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit Martin Albrow, Cardiff · Hans Bertram, München · Kar! Martin Botte, München · Lothar Bossle, Würzburg · Walter L. Bühl, München · Lars Clausen, Kiel · Roland Eckert, Trier · Friedrich Fürstenberg, Bonn · Dieter Giesen, Berlin · Alois Hahn, Trier · Robert Heulage, Regensburg · Wemer Kattetleiter t. Kiel · Franz-Xaver Kaufmann, Bietefeld · Henrik Kreutz, Nümberg · Heinz Laufer t. München · Wolfgang Lipp, Würzburg · Thomas Luckmann, Konstanz · Kurt Lüscher, Konstanz · Rainer Mackensen, Berlin · Georg Mantzaridis, Thessaloniki · Norbert Martin, Koblenz · Julius More!, Innsbruck · Peter Paul MüllerSchmid, Freiburg i. Ü. · Elisabeth Noelle-Neumann, Mainz ·Horst Reimann t. Augsburg · Walter Rüegg, Bem · Johannes Schasching, Rom · Erwin K. Scheuch, Köln · Gerhard Schmidtchen, Zürich · Helmut Schoeck t. Mainz · Dieter Schwab, Regensburg · Hans-Peter Schwarz, Bonn · Mario Signore, Lecce · Josef Solar, Bmo · Franz Stimmer, Lüneburg · Friedrich H. Tenbruck t. Tübingen · Paul Trappe, Basel · Laszlo Vaskovics, Harnberg · Jef Verhoeven, Leuven · Anton C. Zijderveld, Rotterdam · Valentin Zsifkovits, Graz
Herausgegeben von Horst Jürgen Helle, München · Jan Siebert van Hessen, Utrecht Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br. ·Nikolaus Lobkowicz, München Arnold Zingerle, Bayreuth
Band 25
Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände Perspektiven im Spannungsfeld von Wertbindung, Ökonomie und Politik
Herausgegeben von
Karl Gabriel
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände : Perspektiven im Spannungsfeld von Wertbindung, Ökonomie und Politik I Hrsg.: Kar! Gabriel.- Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft ; Bd. 25) ISBN 3-428-10248-7
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4999 ISBN 3-428-10248-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068
Inhaltsverzeichnis Kar/ Gabrief Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael N. Ebertz Entstehungsbedingungen der ,Sozialkirche' im deutschen Katholizismus . . .
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Jochen-Christoph Kaiser Sozialer Protestantismus als kirchliche ,Zweitstruktur' : Entstehungskontext und Entwicklungslinien der Inneren Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Friedrich Fürstenberg Die Zukunft der Sozialreligion und ihrer Organisationsformen . . . . . . . . . . . . 49 Kar/ Gabriel Die soziale Herausforderung des Sozialstaats und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Konrad Hilpert Neue Rollen der Caritas im Kontext der Transformation des Wohlfahrtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Volkhard Krech Religiöse Programmatik und diakonisches Handeln. Erwägungen zur Spezifik kirchlicher Wohlfahrtsverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Dieter Grunow Organisationsdilemmata kirchlicher Wohlfahrtsverbände im gesellschaftlichen Umbruch . . ... . ........ . . . ... . ....... . . . ..... .. ... . ........... 107 Joachim Wiemeyer Ökonomische Herausforderungen für kirchliche Wohlfahrtsverbände .. . ... 125 Manfred Hermanns Die karitativen Dienste im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit und Wertevergewisserung 155 Josef Schmid Europäische Integration und die Zukunft der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Verzeichnis der Mitarbeiter ..... . . . .. ..... . ..... .. .... . ............... .. . 201
Einleitung Von Karl Gabriel Mit der Caritas und der Diakonie als verfasste und verbandlieh organisierte Formen der helfenden Zuwendung zum Not leidenden Nächsten reichen die Kirchen in Deutschland wie an keiner anderen Stelle in die dominierenden Funktionssysteme der Gesellschaft hinein. Aus dem sozialstaatlieh verantworteten und gesteuerten System sozialer Dienstleistungen sind sie nicht nur nicht wegzudenken, sie stehen vielmehr - zumindest der Quantität der Einrichtungen und des Personals nach - an der Spitze der Anbieter in Deutschland. Angesichts einer Entwicklung der Arbeitsmärkte, die den personenbezogenen Dienstleistungen eine immer zentralere Schlüsselstellung für das Beschäftigungsvolumen insgesamt verleiht, wächst heute ihre ökonomische Bedeutung von Tag zu Tag. Für den binnenwirtschaftlichen Bereich und seine Ausgleichsfunktionen gegenüber einer immer globaler werdenden Exportwirtschaft kann ihre ökonomische Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als bundesweit verbreitete Krankenhausträger reichen sie sogar bis in den medizinisch-industriellen Komplex hinein, der dem militärisch-industriellen heute den Rang abzulaufen beginnt. Wie konnte es dazu kommen? Versteht sich die vormoderne Bewusstseins- und Lebensformen immer radikaler hinter sich lassende moderne Gesellschaft mit ihren dominierenden Funktionssystemen von Wirtschaft, Technik, Politik und Gesundheit doch als von Grund auf säkular. Die Ursachen und Beweggründe für diese Entwicklung sind aber nicht so rätselhaft wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Gerade in Deutschland spielen die kirchlich organisierten religiösen Traditionen in einer zweiten Phase der modernen Gesellschaftsentwicklung eine wichtige Rolle. In dieser "zweiten Modeme"' ging und geht es darum, aus dem durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt unterfütterten ökonomischen Liberalismus und der liberalen Demokratie erst eine tragfahige Gesellschaftsfonnation zu machen. Neben anderen Sozialbewegungen sind es die in den Kirchen organisierten Christen, die auf die im Umbruch zur Modeme hervorgetriebene Massennot reagieren, sich zu ihrer Bekämpfung vereinsmäßig zusammenschließen, 1 Zu einem entsprechenden Verständnis von "zweiter Moderne" siehe: Richard Münch, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten, Frankfurt a. M. 1998, 19.
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Kar! Gabriel
schließlich ihre strukturelle Kontingenz erkennen und ihre Überwindung zum zentralen Gegenstand staatlichen Handeins machen. Heute sieht sich der Sozialstaat in Deutschland nach einer über I 00-jährigen Erfolgsgeschichte weitreichenden Herausforderungen gegenüber. Im Anschluss an Franz-Xaver Kaufmann lassen sie sich auf fünf gewissermaßen an die Substanz des sozialstaatliehen Arrangements heranreichende Punkte konzentrieren 2 : (1) Die sozio-ökonomische Herausforderung
Abhängige Beschäftigung - die Erwerbsarbeit - war und ist Angelpunkt für Versicherung, Fürsorge und Versorgung im deutschen Sozialstaat. Strukturelle Arbeitslosigkeit ohne absehbare Chance zur Rückkehr von Vollbeschäftigung wirlt Fragen nach der Zukunft eines arbeitszentrierten Sozialstaats auf. (2) Die demografische Herausforderung Der Sozialstaat organisiert einen Ausgleich zwischen den Generationen, zwischen denen, die sich im Arbeitsprozess befinden und denen, die noch nicht oder nicht mehr ihre Existenz über Arbeit sichern können. Heute befinden sich diese beiden Gruppen noch einigermaßen im Lot, schon in naher Zukunft aber verschieben sich die zahlenmäßigen Relationen zwischen den Generationen so radikal, dass der implizite Gesellschaftsvertrag zwischen den Generationen neu verhandelt werden muss. Ohne die selbstverständliche und relativ gleichmäßige Beteiligung aller an der Bildung des Humanvermögens der nachwachsenden Generation droht die bisherige Geschäftsgrundlage des Generationenausgleichs zu platzen. (3) Die Gefährdung des Sozialstaats als nationalstaatliches Projekt Von ihren Ursprüngen her bis in die Gegenwart hinein lässt sich eine enge Verflechtung zwischen National- und Sozialstaat feststellen. Schon Bismarck verband gezielt die Einführung der Sozialversicherung mit der Stärkung der nationalstaatliehen Ebene. Die sich gerade in jüngster Zeit dramatisch verschärfende internationale Verflechtung der Waren- und Dienstleistungsmärkte, insbesondere aber der Geld- und Kapitalmärkte, schwächt die Fähigkeit der Nationalstaaten, eine eigenständige Wirtschaftsund Sozialpolitik zu betreiben. Erstarkte wirtschaftsliberale Strömungen drängen die Kräfte, die bisher den Sozialstaat getragen haben, in die Defensive. 2 Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a. M. 1997.
Einleitung
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(4) Die soziale Herausforderung Der Sozialstaat lebte und lebt von sozialen Voraussetzungen - z. B. von der unentgeltlichen Arbeit von Frauen -, die künftig nicht mehr ohne weiteres und selbstverständlich zur Verfügung stehen werden. Wie kommt - so ist in dieser Perspektive zu fragen - der Sozialstaat gewissennaßen vom Kopf auf die Füße einer vielfaltigen Wohlfahrtsgesellschaft? (5) Die kulturelle Herausforderung Im Kern geht es beim Sozialstaat immer auch um kulturell-ethische Fragen. Es stellt alles andere als eine Selbstverständlichkeit dar, wenn sich eine staatlich organisierte Gemeinschaft explizit darauf festlegt, für alle ihre Mitglieder menschenwürdige Lebensbedingungen herzustellen und sich wie das Bundesverfassungsgericht 1976 feststellte - zum "Ausgleich der sozialen Gegensätze" und zur Herstellung "einer gerechten Sozialordnung" verpflichtet. Sozialer Ausgleich, Solidarität und Gerechtigkeit als kulturellethische Grundlagen des Sozialstaats erscheinen im Alltagsethos wie in den Diskursen um die gesellschaftlichen Wertgrundlagen heute auf fundamentale Weise fraglich geworden zu sein. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände ihrerseits wiederum sind in eine mehrfache Spannung hineingestellt. Sie bilden einerseits den verfassten, organisierten Teil des kirchlich-diakonischen Handeins ihrer Kirchen. Sie sind gleichzeitig Teil und zwar konstitutiver Teil der sozialstaatlich organisierten Vergesellschaftungsfonn in Deutschland. Die verbandlieh organisierten Aktionsformen der kirchlichen Tradierungsgemeinschaften bilden - mit anderen Wertgemeinschaften zusammen - die intennediäre Ebene des Wohlfahrtssystems. Sie sind gewissennaßen das Bindeglied zwischen Staat und marktförmigen Angeboten einerseits und informellen Hilfefonnen andererseits. Damit sind die Wohlfahrtsverbände aber auch herausgefordert und angefragt, wenn das Wohlfahrtssystem als Ganzes sich in krisenhafte Entwicklungen verstrickt sieht. Gleichzeitig sind sie in die Herausforderungen eingebunden, denen sich die Kirchen in dieser Gesellschaft verstärkt gegenübersehen. Damit ist der sozialstaatlich-gesellschaftliche, verbandliehe und kirchliche Problemhorizont umrissen, der den Rahmen für die Beiträge des vorliegenden Bandes bildet. Den Anfang machen zwei historische Analysen, die den Ursprüngen der verbandlieh organisierten "Sozial-" bzw. "Zweitkirchen" in der modernen Christententumsgeschichte beider Konfessionen nachgehen. Die Beiträge von Michael N. Ebertz und Jochen-Christoph Kaiser ermöglichen es, gewissennaßen auf einen Blick die deutlichen Gemeinsamkeiten in den Entwicklungen beider Konfessionen in den Blick zu nehmen, aber auch die spezifischen Differenzen von katholischer "Sozial-" und protestantischer "Zweitkirche" zu würdigen.
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Kar! Gabriel
Friedrich Fürstenberg stellt die Entwicklung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in den größeren Zusammenhang einer religionssoziologischen Analyse moderner Sozialreligion und schließt damit eine auffällige Lücke im bisherigen wissenschaftlichen Zugang zu Funktion und Rolle des sozialreligiösen Faktors in modernen Gesellschaften. Ohne Abschied vom Form prägenden Merkmal hierarchisch geleiteter Betreuung und ohne entsprechende organisatorische Reformen sieht Fürstenberg wenig Chancen für die Zukunft der wohlfahrtsverbandlieh organisierten Sozialreligion in Deutschland. Karl Gabriel und Konrad Hilpert gehen in ihren Beiträgen von den Herausforderungen und erkennbaren Transformationen des sozialstaatliehen Arrangements in Deutschland aus und skizzieren eine neue Rolle der kirchlichen Wohlfahrtsverbände innerhalb und als spezifischer Teil eines über den Staat hinausreichenden, gesellschaftlichen Wohlfahrtspluralismus. Mit der Erneuerung von Bewegungselementen auf der Ebene der Sozialform (Gabriel) und dem Rückgriff auf genuine Bestände der kirchlichen Sozialverkündigung auf der Ebene der Legitimation (Hilpert) zeichnen sich heute - so die Positionen beider Autoren - neue Wege kirchlicher Wohlfahrtsverbände im Spannungsfeld von (Wohlfahrts-)Staat, (Wohlfahrts-)Gesellschaft und kirchlicher Entwicklung ab. Volker Krech fragt angesichts der zunehmenden Marktförmigkeit des Sozial- und Gesundheitswesens danach, wie kirchliche Wohlfahrtverbände als Zentrum ihrer Spezifik eine genuin religiös-christliche Organisationsprogrammatik mit den professionellen Handlungsstrukturen sozialer Dienstleistungen so zu vermitteln in der Lage sind, dass keine von beiden destruiert wird, es vielmehr zu einem fruchtbaren Vermittlungsverhältnis kommt. Die besten Chancen sieht Krech in der Koordination der beiden Funktionskontexte zur Verbesserung der Strukturqualität der Organisation und in der Kontrolle der professionellen Methoden durch Kriterien, die der religiösen Programmatik entnommen sind. Dieter Grunow sieht die kirchlichen Wohlfahrtsverbände vor der Herausforderung, im gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruch ihren spezifischen, exklusiven Funktionskern zu entdecken und entsprechende Organisations- und Personalstrukturen zu entwickeln. In der Bestimmung und Bearbeitung schlecht strukturierter, quasi "unlösbarer" sozialer Probleme, die sich ökonomischen wie administrativen Effizienzkriterien entziehen, identifiziert er die Kernfunktion kirchlicher Wohlfahrtsverbände. Es käme für Grunow dann darauf an, Glaube, Liebe und die Berücksichtigung der ganzen Person als typische Kommunikationsmedien des religiösen und familiären Systems so organisatorisch und programmatisch in den Wohlfahrtsverbänden zur Geltung zu bringen, dass sie dem wachsenden Effizienz- und Ökonomisierungsdruck standhalten.
Einleitung
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Für Joachim Wiemeyer dagegen stehen gegenwärtig die kirchlichen Wohlfahrtsverbände vor einem ganzen Bündel von weit reichenden ökonomischen Herausforderungen, denen sie gerade wegen ihrer traditionellen Ökonomiefeme nicht gewachsen seien. Gestützt auf wirtschaftsethische Leitperspektiven entwickelt Wiemeyer gewissermaßen ein Programm nachgeholter ökonomischer Modemisierung für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände mit weit reichenden Konsequenzen für ihre Organisations- und Personalpolitik. Manfred Hermanns erweitert die ökonomische Defizitdiagnose karitativer Dienstleistungsunternehmen um Thesen zur Erosion der tragenden Wertgrundlagen und schlägt Konsequenzen vor, die auf eine Wirtschaftlichkeit und Wertevergewisserung verbindende Organisationsentwicklung setzen. Den Abschluss bildet eine Analyse der sozialpolitischen Entwicklungen auf der Ebene der europäischen Integration, die - mehr als die vielbeschworenen Globalisierungstendenzen - Einfluss auf die kirchlichen Wohlfahrtsverbände ausüben. Josef Schmid hält hinsichtlich der Zukunft der deutschen Wohlfahrtsverbände - eingeschlossen der kirchlichen - ein Szenario für das wahrscheinlichste, das zwischen der Wahrung eines nationalen Reservats für die Verbände und ihrer Zerstörung zu Gunsten einer rein marktorientierten Wohlfahrtsproduktion in Europa liegt. Danach haben sich die Verbände auf ein Ende ihrer bisherigen monopolistischen Anbieterstrukturen einzustellen, bleiben aber mit einer beachtlichen Rolle Mitspieler in einem deutlich pluraleren wohlfahrtsstaatliehen System. Die Spannungen - so lassen sich die Analysen, Prognosen und Perspektiven auf den Punkt bringen - wachsen für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Dies gilt zum einen für den Zwischenraum zwischen Kirche, Staat, Wirtschaft und Familie, auf den sie als ihren spezifischen Ort in der Gesellschaft verwiesen sind. Das gilt aber auch für die den jeweiligen Umwelten in den Verbänden zugewandten Strukturen, so dass ihr Auseinanderfliegen in kirchen-, staats-, Wirtschafts- und familienbezogene Teilsysteme für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann. Andererseits wächst heute an vielen Stellen die Einsicht in die Bedeutung und die Notwendigkeit solch spannungsreicher, Systeme und Ebenen übergreifender, vermittelnder Strukturen. Was es für die verbandliehe Caritas bedeutet, dass mit der römischen Entscheidung zur Schwangerschaftskonfliktberatung sich zum ersten Mal ein kirchlicher Rigorismus durchgesetzt hat, der die spannungsreiche Vermittlung als gefährliche Kontamination definiert und ablehnt, muss sich in der nächsten Zeit erweisen. Der größte Teil der vorliegenden Beiträge und die Gesamtkonzeption des Bandes gehen auf Vorträge anlässlich der Veranstaltung der Sektion für Soziologie der Görres-Gesellschaft im Rahmen ihrer Göttinger Generalversammlung am 4. und 5. 10. 1998 zurück. Dem Leiter der Sektion für Sozio-
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Karl Gabriel
logie, Amold Zingerle, sei für die Anregung des Themas und für tatkräftige Unterstützung des Unternehmens gedankt. Den Verantwortlichen der Görres-Gesellschaft sei Dank gesagt für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der ,Sozialwissenschaftlichen Abhandlungen'.
Entstehungsbedingungen der ,Sozialkirche' im deutschen Katholizismus Von Michael N. Ebertz
I. Kirche und Moderne, Moderne in der Kirche "Und wie mit dem Staate, so geht's mit der Religion. Diese wird nicht ,abgeschafft' (... ). Ohne gewaltsamen Angriff und ohne Unterdrückung der Meinungen (... ) werden die religiösen Organisationen und mit ihnen die Kirchen allmählich verschwinden (. .. ), sobald die Erkenntnis des wirklichen Glückes und die Möglichkeit seiner Verwirklichung die Massen durchdringt (...). Die Naturwissenschaft machte die Lehre von der Schöpfung der Erde in sechs Tagen zur Mythe; die Astronomie, die Mathematik und Physik machen den Himmel zu einem Luftgebilde, die Sterne am Himmelszelt, auf denen die Engel thronen, zu Fixsternen und Planeten, deren Natur jedes Engelleben ausschließt (... ). Für die neue Gesellschaft existieren keine Rücksichten. Der unausgesetzte menschliche Fortschritt und die unverfälschte Wissenschaft sind ihr Panier. Hat jemand noch religiöse Bedürfnisse, so mag er sie mit seinesgleichen befriedigen. Die Gesellschaft kümmert sich nicht darum" 1• In der Tat sollten sich wie kaum jemals zuvor "legitime ,kirchenfreie Räume'" des Denkens, Redens und Handeins eröffnen, "deren Ausdehnung angesichts gleichzeitig steigender Mobilitätschancen"2 von Vertretern der Kirchen befürchtet wurde. Nicht nur in Deutschland beschworen diese "die Gefahr einer massenhaften Desertion", welche "nun nicht mehr allein die elitären Schichten (Intellektuelle und einige Teile des Bürgertums) ( ... ), wie es für das 17. und 18. Jahrhundert der Fall war, sondern jetzt gerade auch die unteren Klassen" 3 betraf. Zumal seit Mitte des 19. Jahrhunderts häuften sich deshalb auch allenthalben die monotonen Klagen von Kirchenvertretern, dass "die heiligsten Wahrheiten unserer Religion den frivolsten August Bebei, Die Frau und der Sozialismus, Berlin-Bonn 1977, 444 ff. Franz-Xaver Kaufmann, Theologie in soziologischer Sicht, Freiburg-BaselWien 1973, 157. 3 Carlo Prandi, Der Einfluß der katholischen Kirche auf die populare Religiosität in Italien. Am Beispiel der Erbauungsliteratur, in: Michael N. Ebertz/Franz Schultheis (Hrsg.), Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur Soziologie popularer Religiosität, München 1986, 217-225, hier 219; s.a. Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt - Köln-Aachen-Münster - 17001840, München 1995. 1
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Michael N. Ebertz
Angriffen des modernen Zeitgeistes unterworfen werden" und "materieller Unglaube auch die niedersten Schichten der Gesellschaft durchdringt"4 • Man kann eine solche Drohungs- und jene Bedrohungsrhetorik einschließlich des sie hervortreibenden säkularen Prozesses der Entflechtung und Pluralisierung von Sozialstruktur, Kultur und Einzelperson pauschal als Ausdruck von ,Säkularisierung' bezeichnen, dürfte sich aber mit dieser geschichtsphilosophisch getönten Brille den Blick auf die historischen Realitäten mehr verstellen als erhellen, abgesehen davon, dass sich die Vorhersage vom Ende von Religion bzw. Christentum und Kirche und erst recht die marxistische Prognose von ihrer Auflösung in eine blanke Innerweltlichkeit gerade aus der Sicht der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts als falsch herausstellt. Möglicherweise hat bereits August Bebe[ selbst seiner eigenen Prognose nicht ganz getraut, sah er doch auch beharrende, wenngleich letztlich unterschätzte Kräfte am Werk, deren Interessen auf eine Stützung der überkommenen Kirche (und des Staates) hinausliefen: "Die herrschenden Klassen streben in ihrem eigenen Interesse ( ... ) die Religion als Mittel für ihre Herrschaft zu konservieren, was am deutlichsten in dem bekannten Satze sich ausdrückt: ,Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben"'. 5 Auffällig, wenn auch nicht zufällig, ist zudem, dass Bebe[ die von ihm delegitimierte Religion mit dem Christentum bzw. den christlichen Kirchen identifizierte und diese zusammen mit dem Staat seiner ideologiekritischen Kritik unterzog. 6 Eine differenzierte Betrachtung lässt erkennen, dass sich im 19. Jahrhundert in Deutschland weniger, wie es bestimmte Spielarten der Theorie der Säkularisierung glauben machen wollen, ein dramatischer Verlust, denn ein Wandel, eine Transformation, ja eine ,Modemisierung' von Religion bzw. Christentum und Kirchen vollzogen hat. 7 Franz-Xaver Kaufmann hat zu Recht betont, dass "das Christentum (... ) kein exemter Bereich der Modeme"8 ist. Man muss hierbei, was die katholische Konfessionskirche angeht, nicht erst an das Zweite Vatikanische Konzil denken. Entgegen 4 Dominicus Gollowitz, Pastoraltheologie, Bd. I, Regensburg, 7. Aufl. 1855, Regensburg, 165; s. a. Hubert Brosseder, 1978, Das Priesterbild in der Predigt, München 1978, 268 ff. 5 Bebe/, 485 (Anm. 1). 6 Über die antirevolutionäre und antiaufklärerische Staatsauffassung des preußischen Staates und dessen grundsätzliche Identifikation mit dem überwiegend lutherisch geprägten Staatskirchenturn des 19. Jahrhunderts, "woraus sich auch die Animosität der sozialistischen Arbeiterbewegung gegen das Christentum erklärt", s. Kaufmann, Religion und Modernität, Tübingen 1989, 107. 7 s. Ebertz, ,Ein Haus voll Glorie schauet . . .'. Modemisierungsprozesse der römisch-katholischen Kirche im 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, 62-85. 8 Kaufmann, 268 (Anm. 6).
Entstehungsbedingungen der ,Sozialkirche' im deutschen Katholizismus
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einem gängigen Klischee hat sie in Deutschland, worauf ich mich im Folgenden konzentriere, auf die wachsende Entflechtung und Pluralisierung von Sozialstruktur, Kultur und Einzelperson nicht allein durch eine Abschottung von, sondern auch durch Kompromisse mit und aktive Mitgestaltung der modernen Welt reagiert. Hierzu gehören zahlreiche intermediäre Maßnahmen der Neuverflechtung von Sozialstruktur, Kultur und Einzelperson unter kirchlichem Vorzeichen und der Einbau solcher Strukturelemente in den kirchlichen Kommunikations- und Handlungszusammenhang, welche in unseren Augen ebenso wie in denjenigen der Zeitgenossen als spezifisch modern beurteilt werden. Dabei ist zunächst auf den Einbau bürokratischer Elemente in die traditionale hierarchische Personal- und Ämterstruktur der Kirche und auf den Einbau der Familie in ihre Adressaten- oder Zielgruppenstruktur zu verweisen, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann. 9 Dazu gehören aber auch die folgenden, etwas genauer zu betrachtenden Vorgänge: der Einbau plebiszitärer Elemente in die kirchliche Legitimationsstruktur, der Einbau tendenziell egalitärer, durch freiwillige Mitgliedschaft, Diskussion und andere demokratische Verfahren bestimmter Elemente in die pastorale Kommunikations- und Handlungsstruktur und nicht zuletzt auch der Einbau sozialstaatlicher Elemente in die Leistungsstruktur der Kirche, damit also auch das Einbringen konfessioneller Elemente in die Leistungsstruktur des entstehenden deutschen Sozialstaates. 10
II. Modernisierung im Geist der Sozialpolitik Die Modernisierung der katholischen Kirche erweist sich gerade in Deutschland nicht zuletzt auch an ihrer - und eben nicht nur an der von den protestantischen Kirchen bestimmten 11 - Teilhabe daran, dass dieses 9 s. Ebertz, Die Bürokratisierung der katholischen ,Priesterkirche', in: Paul Hofmann (Hrsg.), Priesterkirche, Düsseldorf, 2. Aufl. 1989; Hartmann Tyrell, Katholizismus und Familie - Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, in: Religion und Kultur. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33, 1993, 126-149, hierl36 ff. 10 Vgl. Ebertz, Grundzüge katholischer Massenreligiosität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Historicum. Zeitschrift für Geschichte 1995/96, 14-19. 11 Zu der "der Sozialpolitik zuträglichen Fusion von Protestantismus und Staat" s. Manfred Schmidt, Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988, 29. Nach Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien 1979, 137, ist es "wohl keine Übertreibung zu sagen, daß die Idee einer umfassenden Daseinsvorsorge als öffentliche Aufgabe den eigentlichen Beitrag des Luthertums zur modernen Staatsidee" darstellt. Zur "Tradition sozialstaatliehen Denkens im Protestantismus" mit Verweis auf die lutherische Regimentenlehre, auf die ,Soziallehre' der protestantischen Universitäten im territorialen Staatsabsolutismus des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, auf den ,Verein für Socialpolitik', den ,Evangelisch-Socialen
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Michael N. Ebertz
Land "auf dem Weg zur Modemisierung nicht an den Gegensätzen von Liberalismus und Sozialismus zerbrochen" ist, "sondern über die Lösung sozialstaatlicher Politik zu einem neuen Integrationsniveau gefunden" 12 hat. Charakteristisch hierfür ist die - binnenkirchlich lange Zeit nicht unumstrittene, ja sogar von der kirchenamtlichen Behörde nur hingenommene, wenn nicht gebremste - kirchliche Ausdifferenzierung intermediärer Strukturen, die als Vereine und Verbände mit unterschiedlichen Zielgruppen und in unterschiedlicher Weise an der ,socialen Frage' und vor allem an der sozialpolitischen Lösung ,sozialer Probleme' durch Staatsintervention orientiert waren. Obwohl in Deutschland die Unterscheidung von Sozialpolitik (als Arbeiterpolitik) und Wohlfahrtspflege (als Armutspolitik) gängig geworden ist und letzterer Terminus - anders der Begriff Wohltätigkeit - erst in der Weimarer Republik auftaucht, 13 ist in diesem sozialpolitischen Zusammenhang auch die Formierung des Deutschen Caritasverbandes zu einem Zentristischen (nicht: zentralistischen!) Sozialleistungsverband zu sehen, der gerade die überkommene ,Charitas' "zur sozialpolitischen Aktion", zur "kirchlichen Sozialpolitik" 14 fortentwickeln wollte und sich als Teil der katholischen Kirche zugleich Anteil am sozialen Sicherungssystem erkämpfte, das seinerseits maßgeblich durch die Zentrumspartei mitgestaltet und fortentwickelt wurde. Der Auf- und Ausbau des sozialen Sicherungssystems durch den - mit dem Protestantismus zunächst noch eng fusionierten - Obrigkeitsstaat und die bürgerlichen Gemeinden zielte sowohl auf die Milderung von Distributionsdefekten der liberalen Marktwirtschaft als auch auf die politische Schwächung revolutionärer Protestbewegung zur Integration breiter, durch die Industrialisierung existenziell betroffener Bevölkerungsgruppen und zur Stabilisierung bzw. Legitimierung der bestehenden Gesellschafts- und Herrschaftsordnung. Zur - auch arbeitsteiligen - Einbindung in ein solches antiliberales wie vor allem antisozialistisches innenpolitisches Programm für die "bedrohlichen Bedürftigen" 15 ließen sich in Deutschland - nach dem Kulturkampf - zunehmend auch Kräfte aus der katholischen Kirche gewinnen, zumal eine solche Einbindung ihrem StreKongreß' und die führenden (protestantischen) Köpfe der ,Kathedersozialisten' s.a. Klaus Tanner, Der Staat des christlichen Ge'meinwohls? Protestantische Staatsutopien und die Krise sozialstaatlicher Institutionen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 39 (1995), 151- 162, hier 153 ff. 12 Kaufmann, 89 (Anm. 6). 13 Vgl. Jochen-Christoph Kaiser, Die Wohlfahrtspflege im Sozialstaat 18901945. Problemfelder und Forschungsperspektiven, in: Christoph Sachße (Hrsg.), Wohlfahrtsverbände im Wohlfahrtsstaat, Kassel 1994, 35-49, hier 36. 14 Kar/ Buchheim, Zeitgeschichtliche Hintergründe zur Geschichte des Deutschen Caritasverbandes, in: Deutscher Caritasverband Freiburg (Hrsg.), 75 Jahre Deutscher Caritasverband, Freiburg 1972, 24--31, hier 27. 15 Volker Hentschel, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland 1880-1980, Frankfurt 1983, 12.
Entstehungsbedingungen der ,Sozialkirche' im deutschen Katholizismus
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ben nach konfessioneller Parität, nach Relativierung der protestantischen Hegemonie und nach kirchlichem Legitimationsgewinn ebenso entgegenkam wie ihrem engagierten Interesse, Staat und Gesellschaft nicht den christentumsfeindlichen Kräften zu überlassen. Zudem verhalf eine solche Einbindung dazu, die fortwirkenden Spannungen zwischen Kirche und Staat wie zwischen den Konfessionen produktiv zu regulieren, d. h. in eine sozialintegrative Wertschöpfung zu transformieren. Indem die offizielle Kirche stillschweigend auf die Ausübung ihres- unter Katholiken im 19. Jahrhundert im Gefolge der Säkularisation und dann auch des Kulturkampfs weit verbreiteten - Anspruchs verzichtete, dass sie "und nicht der Staat zur Lösung der sozialen Frage aufgerufen und in der Lage sei" 16, trug sie nicht nur pragmatisch den gegebenen religionspolitischen Bedingungen Rechnung. Sie hatte darüber hinaus auch Anteil daran, die ,soziale Herrschaft' (Max Weber) weitgehend Staat und Gemeinden zu überantworten, deren Monopolisierungsansprüche zugleich aber auch zu begrenzen und sich selbst gesellschaftspolitische Freiheits- und sozialpolitische Zugangs- bzw. Teilhabechancen zu sichern. Die gesellschaftsintegrative Funktion, die ehedem auch - folgt man einigen theoretischen Positionen der klassischen Religionssoziologie - religiös erbracht wurde, geht damit spätestens in dieser Phase der deutschen Gesellschaftsentwicklung des ausgehenden 19. Jahrhunderts weitgehend in die Regie des sich formierenden Sozialstaats über, an dessen organisatorischer wie legitimatorischer Stützung sich dann - neben den evangelischen Kirchen und über den Konkurrenzmechanismus mit ihnen - zunehmend auch die römisch-katholische Kirche in Deutschland beteiligen sollte. Darüber sollte sie im Gegenzug selbst eine organisatorische wie legitimatorische Stützung gewinnen, die bis heute von kaum zu unterschätzender Bedeutung sein dürfte. Auf die gesellschaftliche Figuration und Funktion eines solchen durch den konfessionellen Konkurrenzmechanismus begünstigten symbiotischen Arrangements im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess von (Sozial-) Staat und Kirchen zielt primär mein hier gewählter Ausruck ,Sozialkirche' ab, der zudem noch implizit darauf hinweisen soll, dass ihre Entstehung und Entfaltung , von unten' erfolgte und sich zunächst nicht der direkten Initiative und Steuerung von Kirchenleitungen verdankt, ja in ihrer assoziativen und partizipativen Strukturbildung über die Funktions- und Strukturmuster der kirchlichen ,Gnadenanstalt' hinausragt Der hier gemeinte Ausdruck ,Sozialkirche' verkennt freilich nicht, dass die Geschichte des kirchlich-sozialen Engagements nicht erst mit der staatlichen Sozialpolitik beginnt, zielt aber - auch als Problem anzeigender Begriff - genau auf 16 Kaufmann, I 10 (Anm. 6); vgl. Klaus Schatz, Zwischen Säkularisation und zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1986, 148 ff., 160 f., 165 ff., 177. 2 Gabricl (Hrsg.)
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diesen neuartigen Kontext, in den dieses Engagement seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gerät. Die ,Sozialkirche' entfaltet sich mit dem ,Sozialstaat' und folgt deshalb seiner Logik der Koppelung von ,Zwang' und ,Wohltätigkeit' und schließlich der Umstellung von ,Sanktion' auf ,Leistung' als Maßnahme der Legitimitätsschöpfung und des Integrationsgewinns. Dieser funktionale und strukturelle Verflechtungszusammenhang, der hier ,Sozialkirche' genannt wird, hat zahlreiche, historisch-konkrete Ausdrucksund Kristallisationsformen (vom , Volksverein' über die christliche Sozialverkündigung bis hin zu den CDU-Sozialausschüssen und dem jüngsten Wirtschafts- und sozialpolitischen Konsultationsprozess) hervorgebracht. Einer seiner organisierten Kerne und zugleich eine zentrale Sozialgestalt der ,Sozialkirche' kommt jedoch fortwirkend, auch langfristig gesehen, also über die Zäsur des Zweiten Weltkriegs hinaus, dicht und prototypisch in den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden zum Ausdruck und soll im Folgenden an der Herausbildung des Deutschen Caritasverbandes bestimmt werden, der mit seinen inzwischen mehr als 460000 Hauptamtlichen zum größten nicht-staatlichen Arbeitgeber in Deutschland, ja in Europa geworden ist und damit nicht nur die Innere Mission bzw. das Diakonische Werk, sondern auch die Kirche als ,Gnadenanstalt' an personeller Stärke weit übertroffen hat. Der ,Charitasverband für das katholische Deutschland' wurde 1897 als um Jahrzehnte nachklappendes katholisches Pendant zu der zentralen - in sich selbst wieder fachlich differenzierten - protestantischen Organisationsbildung der ,Inneren Mission' gegründet, die mit ihren im Pietismus ,erweckten' staatsnahen, ja ,staatsfrommen' Gründungsvätern und Förderem wie Johann Hinrich Wichern (1808-1881) und Adolf Stöcker (18351909) auch "ein Kind der konservativen Gegenrevolution" 17 ist und dementsprechend "vom staatlichen Deutschland ( .. .) von Anfang an wesentlich gefördert" 18 wurde. In dialektischer Reaktion auf die auch darin zum AusTanner, 154 f. (Anm. II). Martin Schian, Art. Innere Mission, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III, 1912, 515-538, hier 518. Schon in seinem berühmten- nur stenographisch dokumentierten - Vortrag auf dem unter Revolutionsschock stehenden Wittenberger Kirchentag ( 1848) soll Wiehern, der dann 1857 in den preußischen Staatsdienst berufen wurde, gesagt haben: "Die Innere Mission hat es jetzt schlechterdings mit der Politik zu tun und arbeitet sie nicht in diesem Sinne, so wird die Kirche mit dem Staate untergehen"; zit. nach Erich Beyreuther, Geschichte der Diakonie und inneren Mission in der Neuzeit, Berlin, 3. Aufl. 1983, 107, der auch darauf hinweist, dass ,,hochgestellte Persönlichkeiten des Staates, der Kirche und des Adels" im Central-Ausschuß der Inneren Mission "unter sich" blieben, dessen Stiftungsfonds sich "vor allem durch ein königliches Darlehen" speiste. Ein wichtiges Diskussionsforum für die Innere Mission wurde dann die ,Freie Kirch'7
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druck kommende politische und kulturelle Überlegenheit des Protestantismus, dem ja auch mit zwei Dritteln die Bevölkerungsmehrheit zuzurechnen war, ging der ,Charitasverband' aus dem katholischen Bewegungs-, Vereins- und Verbändewesen und den jährlichen Katholikentagen hervor, die seit den 1860er Jahren die ,sociale Frage' thematisierten und seit den 1880er Jahren "zu einer Massenveranstaltung mit Zehntausenden von Teilnehmern anwuchsen'" 9 . Sozusagen ,sozial gezeugt' wurde er vom 1880 in Mönchengladbach gegründeten , Arbeiterwohl ', der heute weitgehend vergessenen sozialpolitischen ,Denkfabrik' im deutschen Katholizismus; ,Schwangerschaftshilfe' erhielt er von der "Kaderschmiede der katholischsocialen Bewegung"20, nämlich dem 1890 als Bildungs- und Massenorganisation aller sozialer Schichten gegründeten , Volksverein für das katholische Deutschland', bevor er durch Lorenz Werthmann ,zur Welt gebracht' undallerdings erst 19 Jahre später nach mehr oder weniger latenten, innerkirchlichen Zugeständnissen von episkopalen Kontrollrechten und unter Verzicht auf zentralistische Steuerungsrechte - von den deutschen Bischöfen ( 1916) aus der Taufe gehoben, d. h. als legitim anerkannt wurde. , Arbeiterwohl ', der "Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde", forcierte mit seinem Generalsekretär Franz Hitze ( 1851-1921 ), den Werthmann (18581921) während seines Theologiestudiums am Germanicum in Rom bereits als am Campo Santo Teutonico studierenden Kaplan kennen gelernt hatte, mit dem Mönchengladbacher Textilfabrikanten Franz Anton Brandts (1834-1914), der in seinem Arbeiterwohnheim auch Hitze beherbergte und erster Vorsitzender von , Arbeiterwohl' und bis Lebensende auch Präsident des , Volksvereins' war, mit dem Düsseldorfer Landesrat Max Brandts sowie anderen Honoratioren und Unternehmern seit 1891 die Idee einer Gesamtorganisation der "katholischen Wohltätigkeit"21 . Der Verband verlich-Sociale Konferenz', am 27.04.1897 von Adolf Stöcker gegründet, nachdem dieser- mit ,christlich-socialen' Anhängern -aus dem am 29. Mai 1890 gegründeten Evangelisch-socialen Kongreß ausgeschieden war, der als Zentralstelle wissenschaftlicher Erörterungen zunächst alle ,sozialen' Richtungen des Protestantismus unter Mitwirkung von Theologen und Nationalökonomen (z. B. Wagner, Max Weber, v. Hamack) zum Studium der ,socialen Frage' zusammenführte, darunter auch solche, die der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Aufklärung mit verständnisvollerer Sympathie gegenüberstanden und einen nicht-revolutionären Sozialismus bzw. eine radikale Sozialreform (Naumann) vertraten. 19 Josef Mooser, Katholische Volksreligion, Klerus und Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Thesen, in: Schieder, 144-156, hier 148 (wie Anm. 7). 2° Kaufmann, 108 (Anm. 6); vgl. Schatz, 175 f. (Anm. 16); Gotthardt Klein, Der Volksverein für das Katholische Deutschland 1890-1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang, Paderborn-München-Wien-Zürich 1996, bes. 119 ff. 21 s. die abgedruckten Referate und Diskussionsbeiträge der Generalversammlung des Verbandes in der gleichnamigen Zeitschrift Arbeiterwohl 11 ( 1891) 173-223. Unter anderem im Verweis auf "die Lektüre des hoch interessanten und außerordentlich zeitgemäßen Buches von H. Pesch S. J.: ,Die Wohltätigkeits-Anstalten der 2•
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folgte damit eine spezifisch sozialpolitische Umgestaltung der Caritas. Sozialpolitische, d. h. staatlich garantiertes Sozialrecht und staatlich garantierter Sozialanspruch, statt patriarchalische Huld und Mildtätigkeit akzentuierende Intentionen zählten keineswegs zum Gemeingut unter den von den Folgen der Säkularisation, des Kulturkampfs und den Attacken des militant antikatholischen ,Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutschprotestantischen Interessen' betroffenen und zugleich einer traditionalen religiösen Ethik verhafteten deutschen Katholiken, 22 auch nicht unter den Akteuren der katholisch-sozialen Bewegung. Das spezifisch sozialpolitische Profil von ,Arbeiterwohl' und seine Abkehr vom ständisch-patriarchalischen Paradigma wird bereits dadurch markiert, dass in der gleichnamigen Zeitschrift (seit 1905 ,Soziale Kultur') "die kapitalistische Gesellschaft als ein hinzunehmender Tatbestand beschrieben" wurde, "der eine sinnvolle Arbeit zur Behebung der sozialen Missstände nicht ausschließe'.23. Nicht restaurative Erneuerung ständischer Korporationen, wie sie in der katholischen Thematisierung der sozialen Frage lange als Leitbild überwog und von der romantischen Gesellschaftskritik der Wiener Vogelsang-Fraktion angestrebt wurde, sondern inkrementalistische staatliche "Sozialpolitik, Verbesserung der gegebenen Verhältnisse"24, schälten sich hier als - über den Transmissionsriemen des , Volksvereins' breitenwirksam vermittelte - Leit-
christlichen Barmherzigkeit in Wien'", wird die "Tatsache wieder vor Augen geführt, daß wir eine Organisation unserer so reich entwickelten katholischen Caritas überhaupt nicht haben. Die praktischen Bestrebungen der deutschen Katholiken auf dem socialen Gebiete, insbesondere in der Arbeiterfrage, haben ihren Mittelpunkt und ihre Leitung im Verein ,Arbeiterwohl' und in dessen Zeitschrift, die social-politischen in der parlamentarischen Vertretung ihrer Grundsätze durch die Centrumsfraktion. Wo aber ist der tätige Mittelpunkt für unsere gesammte in den Orden, Vereinen und Anstalten verzweigte und weit verästelte katholische Charitas?". S. Max Brandts, Die katholischen Wohlthätigkeitsanstalten und -vereine sowie das kathoIisch-sociale Vereinswesen, insbesondere in der Erzdiözese Köln, Köln 1895; Franz Hitze, Organisation der katholischen Charitas, in: Charitas - Zeitschrift für die Werke der Nächstenliebe im katholischen Deutschland I (1896) 22-27, 43-44; Michael Manderscheid/Hans-Josef Wollasch (Hrsg.), Lorenz Werthmann und die Caritas. Aufgegriffenes und Liegengelassenes der Verbandsgründung im Jahre 1897, Freiburg 1989. 22 s. etwa Buchheim, 26 (Anm. l4) mit Hinweisen auf die Richtung des ,rein religiösen' Katholizismus um den Freiburger (!) Professor für Kirchen- und Kunstgeschichte Franz Xaver Kraus. Der 1886 gegründete Evangelische Bund rief als Reaktion von Katholiken auch das Gegenprojekt des ,Leovereins' auf den Plan, der anders als der , Volksverein' - den Kulturkampfgeist konservieren sollte; s. dazu Schatz, 173 ff. (Anm. 16). Vgl. auch Heinz Hürten, Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800--1960, Mainz 1986, 169 f.; Heinrich Weber, Franz Hitze, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien I ( 1932) 318-338, hier 325, 329. 23 Hürten, 169 (Anm. 22). 24 Hürten, 169 f. (Anm. 22).
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linien heraus, übrigens auch eine - dann selbst von päpstlicher Seite schrittweise vollzogene - Hinwendung zur staatlichen , Demokratie' ?5 Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde auch auf evangelischer Seite erkannt, dass sich "unter dem Einfluß der staatssozialistischen Propaganda, der vom Staate seit 1881 begonnenen Gesetzgebung mit ihren nicht zu bestreitenden segensreichen Folgen, der päpstlichen Enzyklika Rerum novarum (... ) und schließlich der inneren Einsicht bei führenden katholischen Sozialreformern ein Umschwung nicht nur der praktischen Haltung, sondern auch der theoretischen Begründung vollzogen" hatte. Man habe inzwischen die Grenzen des ehedem - von älteren katholischen Sozialreformern, etwa lange noch in früheren Schriften Bischof Wilhelm Emmanuel von Kettelers (vor 1864/ 1869) - massiv abgelehnten "staatlichen Einschreitens zur Durchführung der gottgewollten Lebensordnung (Sonntagsruhe, Frauenund Kinderschutz, angemessene Verkürzung der Arbeitszeit, Sicherstellung eines angemessenen Lohnes) recht weit" gezogen; "so weit, daß praktisch häufig ein völliges Übereinstimmen mit den Forderungen protestantischer Sozialreformer erreicht"26 werde. Die katholische Wendung zur staatlichen Sozialpolitik (und damit die spezifische ,Entbindung' der ,Sozialkirche'), wie sie von der Mönchengladbacher Richtung der katholischen Soziallehre vertreten wurde und in der Klassen übergreifenden Zentrumspartei noch heftig umstritten war, 27 hat sich übrigens auch in der Biografie Hitzes in den 80er Jahren als ,Konversion' vollzogen. 28 Auch in soziologischer Hinsicht entscheidend für seinen Wechsel von Sozialromantik zur pragmatischen Sozialpolitik waren nicht nur die Kritik von Georg von Hertling an Hitze, sondern auch dessen konkrete und dichte Lebenserfahrungen in der Textilfabrik Franz Brandts', der einerseits das typisch patriarchalisch-paternalistische Modell eines in der damaligen Zeit sozial vorbildlichen christlichen ,Fabrikherm' verkörperte, andererseits aber auch über dieses Modell hinaus ging, als er in seiner Fabrik "eine weitgehende Selbstverwaltung der Arbeiter durchführte" und "nicht die von manchen Geistlichen vertretene Devise teilte ,Alles für den Arbeiter, aber nur durch den Unternehmer"'29 . Hitze, der ebenso maßgeblich an der Gründung des Volksvereins, des Caritasverbandes wie - über die Zentrumspartei - an der Wilhelminischen Sozialgesetzgebung beteiligt s. Buchheim, 27 (Anm. 26). Wilhelm Schneemelcher, Art. Katholisch-Sozial, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III, 1912, 1007-1016, hier 1008. 27 Vgl. Kaufmann, llO f. (Anm. 6). 28 s. Hitze, Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft. Nachwort zu der gleichnamigen Schrift, in: Deutsche Arbeit 6 (1921 ), H. 2, 41-70, hier 50. 29 Schatz, 175 (Anm. 16); vgl. Wilhelm Hohn, Art. Brandts, in: Staatslexikon, Bd. I, 5. Aufl., 1926, 1029- 1031. 25
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war und sich immer wieder veranlasst sah, die deutsche Sozialversicherung gegen ihre Gegner zu verteidigen,30 muss überhaupt als die Schlüsselfigur des sozialen, politischen und eben auch karitativen Katholizismus angesehen werden. In ihm als ,Multifunktionär' verkörpern sich die personellen Verflechtungen zwischen diesen Bestrebungen, hatte er doch als Generalsekretär von ,Arbeiterwohl', Schriftführer des ,Volksvereins', Ehrenrat der ersten christlichen Gewerkschaft, Mitglied des preußischen Landtags (1882-1912), Abgeordneter des Deutschen Reichstags (seit 1884) und Professor für Christliche Gesellschaftslehre in Münster ( 1893-1920) eine strategisch entscheidende intermediäre Position inne. 111. Öffnung und Schließung
Diese Umorientierung zur "Pforte der Sozialpolitik", womit sich die deutschen Katholiken "wieder einen Zugang zum Reiche erkämpft"31 hatten, der schließlich sogar in Regierungsbeteiligungen und nach dem Ersten Weltkrieg in der ministeriellen Verantwortung des Zentrums (Reichsarbeitsministerium) mündete, war allerdings immer mit einem Junktim verknüpft, nämlich mit der Forderung nach der Freiheit, ja religionspolitischen Aufwertung der römisch-katholischen Kirche in Deutschland und mit der Ablehnung eines staatsmonopolistischen Sozialpolitikverständnisses zu Gunsten eines dezentralen, föderalen, ja subsidiären und intermediären ,Gemeinwohlpluralismus' (unter kirchlicher Beteiligung). Dieser kommt in Deutschland charakteristischerweise in der - gerade auch durch die Politik des Zentrums bewirkten - Regelung der Beitragsfinanzierung, der Selbstverwaltung und körperschaftlichen Trägervielfalt der Sozialversicherung, im Tarifvertragswesen und im Betriebsrätegesetz zum Ausdruck. 32 Der subsidiäre und intermediäre ,Gemeinwohlpluralismus' manifestiert sich nicht 30 s. etwa seine (Hitze, Zur Würdigung der deutschen Arbeiter-Socialpolitik, Mönchengladbach 1913) Stellungnahmen gegen Ludwig Bernhards, Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik, Berlin, 4. Aufl. 1913. Vgl. auch Heinrich Weber, Streit und Wahrheit um die Deutsche Sozialversicherung, Freiburg 1931, 13. Über die Schlüsselfigur des sozialen, politischen und karitativen Katholizismus in Deutschland, Hitze, fehlt meines Wissens immer noch eine aktualisierte Biographie. Siehe H. Kraneburg, Hitzes sozialpolitische Forderungen und ihre Verwirklichung in der Gesetzgebung, Mönchengladbach 1927; M. Moennig, Die Stellung der deutschen katholischen Sozialpolitiker des 19. Jahrhunderts zur , Staatsintervention' in der sozialen Frage, Münster 1927; F. Mueller, Franz Hitze und sein Werk, Harnburg 1928; ders., Franz Hitze. Altmeister der deutschen Sozialpolitik, in: Wer war Franz Hitze, Münster 1959, 8-19; Weber, (Anm. 22). 3 1 Mueller, 13 (Anm. 30). 32 Vgl. hierzu Schmidt, 23 f., 29 f. (Anm. 11); Kaufmann, 113 f. (Anm. 6); Josef Schmid, Wohlfahrtsverbände in Westeuropa. Zur Bedeutung nationaler Entwicklungspfade in der Sozialpolitik, in: Thomas Rauschenbach/Christoph Sachße/Tho-
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zuletzt in einem sozialrechtlich gefassten Subsidiaritätsprinzip, das bereits in der Weimarer Republik und dann in den einschlägigen Sozialgesetzen der Bundesrepublik (BSHG; JWG; KJHG) den Trägervorrang der Freien Wohlfahrtspflege gewährleistete33 und somit auch die Entfaltung, ja schließlich die Expansion der ,Sozialkirche' erheblich begünstigte 34 - und zwar seit einer Zeit, in der sich ein "Trend zur Sozialreligion" im Sinne eines "durch Solidarität mit der Welt gerechtfertigten (... ) Aktivismus" 35 abzeichnete, die ,Heilskirche' massive Einbrüche erlebte und sich eine Transformation ihrer Sozialgestalt (als ,Gnadenanstalt') von der ,Institutionskirche' zur ,Organisationskirche' ankündigte, d.h. Kirchenmitgliedschaft bzw. Kirchenaustritt zum Thema wurde. 36 Während die relativ geringe Verrechtlichung der Wohlfahrtspflege bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges den freien Trägern "breite Spielräume" eröffnete, war es nach dem Ersten Weltkrieg, der Revolution und der staatlichen Neuordnung, welche auch die Machtbalance zwischen den evangelischen und der katholischen Kirche zu Gunsten der letzteren veränderte, "staatlicherseits (... ) geradezu erwünscht, daß die freien Verbände staatliche Ersatzaufgaben übernahmen. Dafür wurden sie in der Republik nicht nur mit öffentlichen Geldern ausgestattet; die privaten Wohlfahrtsverbände erhielten durch die Reichsfürsorgeverordnung sogar den Vorrang bei sozialen und medizinischen Investitionsaufgaben sowie eine angemessene Vertretung in den neugebildeten kommunalen Wohlfahrtsund Jugendämtem'm. Im Gegenzug haben dann "die freien Verbände während der Hyperinflation jede Politik des Reichsarbeitsministeriums nahezu bedenkenlos" gestützt, "den sogenannten Kleinrentnern, also dem verarmten Mittelstand, der sein oft beträchtliches Barvermögen durch Kriegsanleihen und Geldentwertung verloren hatte, mit höheren Unterstützungssätzen unter die Arme zu greifen als den Sozialrentnern, die einer anderen Gesellschaftsschicht angehörten und von denen man annahm, sie seien an karge Lebensführung ohnehin gewöhnt" 38• mas Olk (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsuntemehmen, Frankfurt 1995, 428-455. 33 Vgl. Joachim Matthes, Gesellschaftspolitische Konzeptionen im Sozialhilferecht. Zur soziologischen Kritik der neuen deutschen Sozialhilfegesetzgebung 1961, Stuttgart 1964. 34 Vgl. Ebertz, Caritas im gesellschaftlichen Wandel - Expansion in die Krise?, in: Markus Lehner/Wilhelm Zauner (Hrsg.), Grundkurs Caritas, Linz 1993, 83-114. 35 Friedrich Fürstenberg, Der Trend zur Sozialreligion, in: Bodo B. Gernper (Hrsg.), Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung, Siegen 1983, 271-284, bes. 281 f.; vgl. auch Markus Rock/fürgen von Rutenberg, Kirchliche Interventionen in den politischen Prozeß, in: Heidrun Abromeit/Göttrik Wewer (Hrsg.), Die Kirchen und die Politik, Opladen 1989, 268 f. 36 Vgl. Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt? Zum Wandel der Sozialgestalt von Kirche, Frankfurt 1998. 37 Kaiser, 38; vgl. 43 (Anm. 13).
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Die Gründung und Entwicklung des Caritasverbandes - und die strukturelle wie kulturelle Entfaltung der deutschen Wohlfahrtsverbändelandschaft überhaupt - ist also auch Ausdruck jenes an politische Tausch- oder Kornpromissbedingungen geknüpften nachhaltigen katholischen Umschwungs zur Zustimmung und Förderung einer aktiven staatlichen Sozialpolitik und eingeflochten in jene innen-, religions- bzw. konfessionspolitischen Konfliktzonen, die sich bereits in der zeitgenössischen Kampfsemantik widerspiegeln, von der die Propaganda Werthmanns geprägt ist: "Warum sollen wir uns organisieren? Lernen wir doch einmal etwas von unseren Gegnern. Diese haben den Nutzen der Organisation schon längst und klar erkannt, (.. .) machen durch ihre Organe und Vertreter Vorschläge und Berichte an die öffentlichen Behörden, finden dort Beachtung und erringen in der öffentlichen Meinung ganz bemerkenswerte Erfolge (... ). Bedenkt man gar nicht, daß wir heutzutage in diesem friedlichen Wettkampf nicht mehr die einzigen sind, sondern daß links und rechts Vereine, Verbände und Genossenschaften mit großen Mitteln, großen geistigen Fähigkeiten unter dem besonderen Schutze der Mächtigen dieser Welt an der Arbeit sind, auf dem weiten Gebiete der Wohltätigkeit langsam und stetig immer mehr sich Geltung zu verschaffen und Terrain zu erobern? Da ist es doch wahrlich die Pflicht der Katholiken, die Augen aufzutun, damit sie nicht auf den verschiedenen Gebieten der Caritas von den Gegnern überflügelt und ihnen dazu noch die besten und einflußreichsten Kräfte aus ihren eigenen Reihen weggeholt werden",
sowie "gleichen Schritt zu halten mit den Gegnern in Aneignung der Errungenschaften der Neuzeit"39.
Mit der Gründung des Caritasverbandes ging es nicht zuletzt darum, den Vorsprung des Central-Ausschusses der Inneren Mission, welche die den verschiedenen Zwecken des praktischen evangelischen Christentums dienenden "Vereine in eine organische Verbindung zu bringen" und "zu einem lebendigen Ganzen zu gestalten" 40 suchte, und anderer (,liberaler', , vaterländischer' und ,gesetzlicher') , Wohltätigkeitsbestrebungen' wettzumachen und sich dieser Konkurrenz zu stellen, indem man die Caritas auf ein Ähnliches Organisations-, Repräsentations-, Reflexions-, Qualifikations- und Publizitätsniveau zu heben trachtete. 41 So sollten die bis dahin bestehenden und kaum überschaubaren Einzelinitiativen des ,caritativen Katholizismus ' (Orden, Pfarreien, Vereine, Genossenschaften, Anstalten), die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und nach dem Kulturkampf als spezifisch katholische Kaiser, 44 f. (Anm. 13). Lorenz Werthmann, Reden und Schriften, hrsg. von Kar/ Borgmann, Freiburg 1958, 40. 40 Martin Faßbender, Art. Innere Mission, in: Staatslexikon, Bd. II, 5. Aufl. 1927, 1486. 41 Werthmann, 40 f. (Anm. 39). 38
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Antworten auf die Nöte der ,industriellen Revolution' wie Pilze aus dem Boden schossen und zunächst noch - anders als die sogenannte bürgerliche öffentliche Wohltätigkeit - am Grundsatz der staatsfreien Hilfe orientiert waren, 42 vor weiterer Zersplitterung bewahrt und "planmäßiger, rationeller, zielbewußter"43 koordiniert werden. Ein zentraler Zweck bestand darin, die nun angezielten "Abstimmungen zwischen den traditionellen Handlungsfeldern des ,sozialen Vereinswesens' und dem sich ausweitenden Verantwortungs- und Verfügungsbereich sozialstaatlicher Regulierung"44 zu erreichen. Der Caritasverband offerierte sich somit in zweifacher Hinsicht als integrative gesellschaftspolitische Kraft, einmal nach ,innen', zum anderen nach ,außen': Als "Trägerin der sozialen Versöhnung" und "Vorschule" für die "soziale Tätigkeit" sollte die verbandlieh organisierte "Caritasbewegung" in den Augen ihres Gründers und ersten Präsidenten dazu beitragen, den zeitgenössischen "sozialen Umsturzbewegungen" entgegen zu arbeiten und am "Wohl der Menschen" mitzuwirken, aber auch an der "Regeneration der christlichen Familie" und an der "sozialen Regeneration der christlichen Gesellschaft in ihren einzelnen Klassen (!) und Gliedern". Zugleich sollte sie "Franktireur", also ,Freischärler' oder "Pfadfinderin für staatliche und gesetzgebensehe Maßnahmen" und überhaupt "Dampf in der sozialen Maschine"45 sein. ,Publizieren', ,Studieren' und ,Organisieren' ist die triadische Parole Werthmanns für die Caritas, in der sich auch zentrale Momente der Modernisierung der katholischen Kirche und Kirchlichkeil des 19. Jahrhunderts überhaupt zum Ausdruck bringen. Auffällig ist dabei auch der Verzicht auf konfessionelles ,Theologisieren' und , Missionieren', worin sich die Programmatik des Deutschen Caritasverbandes einerseits deutlich von derjenigen der ,Inneren Mission' abhob, damit andererseits den Konfessionskonflikt zu Gunsten der gemeinsamen Weltanschauungsgegner abschwächte und zugleich akzeptanz- und anschlussfähig wurde für die Logik des - seit Bismarcks Kaiserlicher Botschaft als bloß ,christlich' Vgl. Schatz, 151 ff. (Anm. 16); Hürten, 79 ff. (Anm. 22). Werthmann, 70 (Anm. 39). 44 Eckhart Pankoke, Organisiertes Helfen, soziale Nähe und bindender Sinn, in: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Der Sozialstaat in der Krise?, Freiburg 1984, 96117, 98. 45 Werthmann, 67-72 (Anm. 39). Dass die Angst vor dem "Umsturz" durch den , Vierten Stand' die zeitgenössische Hypothek darstellte, mit der im Kaiserreich "die gesamte Innenpolitik vor 1914 belastet" war, zeigt Karl Erich Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, 3, zumal die Stimmenanteile der Sozialdemokraten in den Reichstagswahlen seit den 90er Jahren stiegen. Auch der 1890 gegründete , Volksverein' mit dem Mönchengladbacher Textilfabrikanten Franz Anton Brandts als Vorsitzenden und Franz Hitze als Schriftführer (s. auch ,Arbeiterwohl' ) zielte auf die "Bekämpfung der Irrtümer und Umsturz-Bestrebungen auf socialem Gebiete", in Horstwalter Heitzer, Der Volksverein für das Katholische Deutschland im Kaiserreich 1890-1918, Mainz 1983, 229. 42 43
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propagierten, "auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens" zu gestaltenden - Sozialstaats. Allen gängigen Klischees zum Trotz, denen entsprechend sich der Caritasverband vorwiegend in den Bereichen "Armut und Sozialhilfe" betätigt, ist hervorzuheben, dass er bereits früh die "Ablösung der traditionellen Armenpflege ( ... ) durch eine differenzierte und spezialisierte Sorge um den Menschen in seinen verschiedenen Nöten"46 vollzogen hat. Durch seine politisch und rechtlich gewährte institutionelle Teilhabe an der Entfaltung des Sozial- und Gesundheitsstaats war sein Tätigkeitsfeld seit Bestehen auf die Mitwirkung an der sozialen und gesundheitlichen Grundversorgung der Bevölkerung und damit immer weniger allein auf Randgruppen ausgerichtet. Dieser Tatbestand bestimmt bis heute sein inneres wie äußeres Aufgabenprofil in den stationären, teilstationären und ambulanten Einrichtungen47 -und damit einen typisch deutschen Zug der ,Sozialkirche'. Hierzu gehört auch die eigentümlich hybride Grundstruktur des ,Charitasverbandes für das katholische Deutschland', die er mit einigen anderen Verbänden der damaligen Sozialkirche teilte, deren überdiözesane Zentristische (nicht zentralistische) Steuerungsspitze aus der hierarchischen Organisationsform der Bischofskirche hinausragte. Damit "mußte das Werk, das Werthmann aufbaute", wie Oswald von Nell-Breuning schreibt, "etwas vollkommen anderes sein als die das Liebesgebot der Herrn ausführenden, unter der Verantwortung der Bischöfe stehenden caritativen Werke"48 • Auch dies ist ein typisch deutscher Zug der Sozialkirche. "Und wie mit dem Staate, so geht's mit der Religion (... )", postulierte Bebe/. Allerdings sind beide nicht verschwunden. Jener wurde partiell konfessionalisiert, wenn auch nicht , verkirchlicht', und diese politisiert, wenn auch nicht verstaatlicht - zum wechselseitigen Vorteil als , Sozialstaat' und , Sozialkirche ', aber auch mit wechselseitigen Problemen.
46 Erwin Gatz, Karitas und kirchliche Hilfswerke, in: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VII, Freiburg, Basel, Wien 1979, 437-458, hier 441. 47 Vgl. Ebertz, bes. 93 ff. (Anm. 34). 48 Oswald von Nell-Breuning, Solidarität und Subsidiarität, in: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), 88-95, hier 91 (Anm. 44).
Sozialer Protestantismus als kirchliche ,Zweitstruktur': Entstehungskontext und Entwicklungslinien der Inneren Mission Von Jochen-Christoph Kaiser Zwischen der historisch-empirischen Bestandsaufnahme und Interpretation von Vergangenheit und ihrer sozialwissenschaftlich-modellhaften Deutung gibt es häufig nicht nur Unterschiede, sondern auch gemäß dem divergierenden wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der Fächer gelegentlich Kontroversen. Freilich - dieser Streit muss nicht sein, denn mit Blick auf Geschehnisse, Strukturen und Mentalitäten von gestern weisen die oft unabhängig voneinander gewonnenen Ergebnisse am Ende manchmal verblüffende Übereinstimmungen auf. Es scheint, als träfe dies auch für das vorgegebene Thema zu, das in diesem Beitrag vornehmlich aus dem Blickwinkel des Historikers betrachtet werden soll. Nun hat das Fach in den Jahren seit dem Krieg gravierende Veränderungen weg von der traditionellen Ideen- und Politikgeschichte hin zu einer sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive erlebt, - diese Andeutung soll hier genügen. Das gilt - mit Abstrichen - auch für die Kirchengeschichte als theologische Disziplin, jedenfalls so weit sie sich mit der sozialen Frage und mit konfessionellen Wohlfahrtsbestrebungen und -verbänden seit dem 19. Jahrhundert beschäftigt. 1 Seit 1945 lassen sich drei Phasen erkennen, in denen das Thema ,Diakonie' behandelt wurde: Eine herkömmliche Sichtweise, die noch heute nachwirkt, eine revisionistische, die mit dem Aufbruch der 68er Jahre verknüpft ist und eine noch vergleichsweise junge, die seit etwa 10 Jahren zu diesen Fragen arbeitet und die Methodenvielfalt der Sozial-, Religions- und Kirchengeschichte integrieren will. Die ältere Diakoniegeschichte betonte vor allem die pietistisch-erweckliehen Wurzeln des sozialen Protestantismus und blendete das bürgerliche Gemeinwohlinteresse an der Lösung der ,sozialen Frage' weitgehend aus. Die Begründer der Inneren Mission in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen als aufrechte erweckte Christen, die - wegen des vermeint1 Vgl. dazu den Band von Anselm Doering-Manteuffel/Kurt Nowak (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden, Stuttgart et al. 1996.
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lieh besonderen Gespürs evangelikaler Richtungen für soziale Not und Armut - im engen Bund mit der verfassten Kirche die sogenannte christliche Liebestätigkeit begründeten und durch Johann Hinrich Wichern schließlich den Central-Ausschuss für Innere Mission ins Leben riefen. Die politisch konservative Haltung dieser Protagonisten wird bedauernd konstatiert und ihre Fehleinschätzung der revolutionären Situation von 1848 zusammen mit der Überbetonung einer realiter nicht vorhandenen ,communistischen Gefahr' für die Abwendung der Unterschichten von Religion und Kirche verantwortlich gemacht. 2 Dem gegenüber haben die ,Revisionisten' um den Bochumer Sozialethiker Günter Brakelmann seit Mitte der 1960er Jahre die Verbindung Wicherns mit den Ideen der bürgerlichen Sozialreform herausgearbeitet, aber gleichzeitig dezidiert darauf verwiesen, dass seine Ablehnung der Revolution und sein unbedingtes Festhalten an Monarchie und überkommener Gesellschaftsverfassung für soziale Reformen keinen Raum ließen, ja darüber hinaus den Protestantismus in seiner Mehrheit fast ein Jahrhundert lang einem reaktionären, antidemokratischen Politikverständnis verpflichteten, das letztlich für das Scheitern des Protestantismus vor den Herausforderungen der sozialen Frage mit verantwortlich gewesen sei? Die jüngste Richtung wendet sich in der Beurteilung diakonischer Prozesse des 19. Jahrhunderts von den Prämissen der Revisionisten wieder ab, die sich an normativen Modernisierungsparadigmen westlich-demokratischer Prägung orientierten, und entdeckt das innovative Handlungspotenzial Wicherns für die Entfaltung des sozialen Protestantismus und seiner gesellschaftspolitischen Wirkungen wieder neu. Sie argumentiert nicht auf der Folie von heute aus wünschbarer Entwicklungen, sondern nimmt zeitgenössische Aussagen ernst und ordnet die Quellen in ein gesellschafts- respektive kulturgeschichtliches Gesamttableau ein. Kritiker mögen darin Tendenzen eines Neohistorismus erkennen; gleichwohl kann dieses Vorgehen mithelfen, die Rahmenbedingungen diakonischen Handeins neu zu bestimmen und der Engführung einer jeweils voneinander isolierten theologie-, ideen- und politikgeschichtlichen Betrachtung zu entrinnen. 2 Neben anderen vor allem Erich Beyreuther, Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin, 3. erw. Aufl. 1983. 3 So zuerst in seiner Dissertation Günter Brakelmann, Kirche und Sozialismus, Witten 1966; vor kurzem ähnlich noch Johannes Kandel, Protestantischer Sozialkonservatismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Pfarrer Rudolf Todts Auseinandersetzung mit dem Sozialismus im Widerstreit der kirchlichen und politischen Lager, Bonn 1993. - Zur Kritik an diesem Ansatz vgl. jetzt die noch unveröffentlichte Dissertation von Stephan Sturm, Sozialstaat und christlich-sozialer Gedanke. J. H. Wicheros Sozialtheologie und ihre neuere Rezeption in systemtheoretischer Perspektive, Diss. theol., Münster 1999.
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Die Tatsache der Herausbildung eines christlichen Verbandsspektrums unterhalb und neben den Landeskirchen in enger Anlehnung an die bürgerliche Vereinsbewegung des 19. Jahrhunderts hat einzelne Vertreter der Praktischen Theologie und Religionssoziologie wie Dierk Starnitzke, Stephan Sturm und Hermann Steinkamp in jüngster Zeit dazu angeregt, die Impulse von Niklas Luhmann aufzunehmen, nach denen Religion als gesellschaftliches Teilsystem begriffen werden kann, das durch die Differenz dieses Systems zur Umwelt bzw. in Auseinandersetzung mit anderen konkurrierenden Teilsystemen entsteht. Wie jedes Teilsystem gliedert sich auch das Religionssystem nach Funktion, nach dem Selbstbezug als theologischer Reflexion und dem Leistungsbezug für andere Systeme. Die Funktion des Religionssystem ist als Kirche - dem Ort ,geistlicher Kommunikation nach innen' beschreibbar; theologische Reflexion verbindet Funktion und Leistung, stellt aber eine eigenständige Kategorie dar, und die Leistungserbringung für andere Teilsysteme nennt Luhmann - in erheblicher Ausweitung des Terminus - ,Diakonie'. Innerhalb dieser Trias gibt es keine Vor- bzw. Unterordnung einer der drei Orientierungsrichtungen; sie existieren sogar in relativer Unabhängigkeit voneinander. 4 Das gilt in Sonderheit für die ,Diakonie', die ihre Leistungen in erster Linie auf die nichtreligiösen Teilsysteme der Gesellschaft hin orientiert. ,Kirche' ist für sie nur insofern relevant, als kommunikative Prozesse dort diakonische Handlungsmuster beeinflussen können. "Diakonie entwickelt sich damit . . . wie Kirche und Theologie zu einem eigenen Teilbereich christlich-religiösen Lebens und Handeins in Differenz zu den beiden anderen Systemreferenzen."5 Dieses hier nur grob umrissene Modell besitzt für den Historiker hohe Plausibilität; vermag er damit empirisch gewonnene Ergebnisse über den tief greifenden strukturellen Wandel in der Christentumsgeschichte seit Ende des 18. Jahrhunderts doch auch systemtheoretisch zu verorten. So werden ergänzend zu den mit dem methodischen Handwerkszeug von historischer Theologie und Sozialgeschichte erzielten Erkenntnissen zwei zentrale Aspekte verstehbarer, die bislang eher phänomenologisch beschrieben wurden: Einmal das Faktum, dass innerhalb der noch bis zum Ende des Ancien Regime fest gefügten Einheit von Gesellschaft, religiöser Funktion und Kirche Jahrhunderte hindurch die Vernachlässigung diakonischen Handeins und seiner theoretisch-theologischen Ortsbestimmung im Gesamtkontext von Religion konstatierbar ist. Zweitens erscheinen auch die Veränderungen mit Beginn der Moderne in neuem Licht: In dem Maße, wie 4 Vgl. neben Niklas Luhmann selbst (Funktion der Religion, Frankfurt/M. 1977, 4. Auflage 1996) vor allem Dirk Stamitzke, Diakonie als soziales System, Stuttgart et al. 1996, 186 ff.; Sturm (Anm. 3); Hermann Steinkamp, Solidarität und Parteilichkeit. Für eine neue Praxis in Kirche und Gemeinde. Mainz 1994. 5 Stamitzke, 191 (Anm. 4).
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der Bedarf an Religion als Sinnstiftung und -Vermittlung zurückging, verselbstständigte sich der Dienstleistungssektor und trat mit zunehmendem Selbstbewusstsein neben die Kirche, von deren innerreligös-theologischen Diskursen er offensichtlich unabhängig in die Gesellschaft hineinwirken kann. Von diesem Denkmodell ausgehend haben Reinhard K. W. Schmidt, vor allem aber Steinkamp den Begriff der ,Zweitstruktur' kirchlichen Lebens eingeführt.6 Dieser meint, dass sich neben der kirchlich-theologischen Funktions- und Reflexionsebene im 19. Jahrhundert eine bedarfsorientierte diakonische Praxis etablierte, die nur noch in lockerer Beziehung zu den ursprünglich dominierenden innerreligiös-kommunikativen Denkmustern agierte. Konkret zeigt sich das - hier bezogen vor allem auf den protestantischen Bereich - in der Herausbildung eines eigenständigen Organisationsgefüges neben den Landeskirchen und in der Zurückdrängung dogmatischer Setzungen, die noch bis ins 18. Jahrhundert hinein theologisches Nachdenken und innerkirchliches Selbstverständnis zu Lasten diakonischer Funktionalität geprägt hatten. Tatsächlich richtete sich das Interesse der führenden Repräsentanten der Diakonie des 19. Jahrhunderts vornehmlich "auf Lebensbereiche außerhalb der verfaßten Kirche", wenn auch in stetem Rückbezug zu dieser. 7 Bei der Übertragung des empirischen Befunds auf das Modell einer kirchlichen ,Zweitstruktur' ergeben sich für den Historiker allerdings eine Reihe von Fragen, die nicht das Modell als Ganzes, sondern seine Verifizierbarkeit im Hinblick auf bestimmte Einzelaspekte problematisieren: l. So war den Akteuren jener Zeit natürlich nicht bewusst, dass sie mit dem Aufbau eines kirchenunabhängigen religiösen Organisationsspektrums mit Aufgaben auf bestimmten gesellschaftlichen Sektoren eine strategische Grundentscheidung getroffen hatten, die neben Chancen für die Akzeptanz von Religion über den Umweg von Dienstleistung auch Risiken für Fortbestand und Neubelebung des traditionellen Kirchenturns bargen, dem sie sich allerdings noch uneingeschränkt verpflichtet fühlten. 2. Daraus ergibt sich die Frage nach dem inneren Verhältnis von Religion als Kirche, theologischer Reflexion sowie von Religion als diakonischer Dienstleistung im weitesten Sinne: Stimmt es, dass sich die Beziehungen so verselbstständigten, dass am Ende tatsächlich eine Art ,Zweitkirche' entstand? Wenn dem so war, galt das auch für die christliche 6 Reinhard K. W. Schmidt, Zur Konstruktion von Sozialität durch Diakonie. Eine Untersuchung zur Systemgeschichte des Diakonischen Werks, Bem-Frankfurt/M.München 1976; ferner Steinkamp (Anm. 4). 7 Steinkamp, 177 (Anm. 4).
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Gemeinde selbst oder nur für die Außenwahrnehmung durch jene gesellschaftlichen Kräfte, die wohl an Diakonie, nicht aber an religiös-theologischen Diskursen interessiert waren? 3. Kann man angesichts des Breitbandspektrums des protestantischen Verbandswesens, das sich nicht in Innerer Mission erschöpfte, sondern zahlreiche weitere Vereine mit z. T. ganz andersartigen Zielsetzungen umfasste, unter Zugrundelegung des weiten Diakoniebegriffs von Luhmann noch von einer einheitlichen Größe ausgehen, oder muss man nicht konsequenterweise von sich immer weiter ausdifferenzierenden zahlreichen weiteren ,Zweitstrukturen' sprechen? Welche Faktoren hielten das religiöse System in seinen drei Untereinheiten noch zusammen? Oder differenzierten sich diese Teilbereiche so stark aus, dass man mit Gangolf Hübinger , Versäulungstendenzen' mit von einander nahezu abgeschotteten Einzelsegmenten innerhalb des deutschen Protestantismus konstatieren muss? 8 4. Daran anknüpfend ließe sich fragen, was ein theoriegeleiteter Ansatz für historisches Nachfragen leisten kann, wenn er seine eigenen Kategorien so stark ausweitet, dass am Ende Zusammenhänge innerhalb eines reli~ giösen Gesamtsystems kaum noch auszumachen sind. Die Reihe dieser Fragen ließe sich fortsetzen, worauf hier verzichtet werden soll. Stattdessen werden zunächst die gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmenbedingungen skizziert, innerhalb derer die neuartige christliche Liebestätigkeit entstand, die wir als Innere Mission bezeichnen. Daran schließt sich ein Überblick über die Gründung der organisierten Inneren Mission auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 an. Am Ende stehen einige Überlegungen, die das Modell der ,Zweitkirche' oder ,Zweitstruktur' noch einmal aufgreifen und zu dem historischen Befund in Beziehung setzen.
I. Unabhängig davon, dass der soziale Protestantismus unter der Bezeichnung ,Innere Mission' nicht mit dem Stichjahr 1848 beginnt, kommt doch sogleich die Person des Hamburger Theologen Wichern ins Spiel, wenn die Entstehung der modernen Diakonie im 19. Jahrhundert thematisiert wird. In 8 Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. Vgl. dazu die kritischen Besprechungen von Frank-Michael Kuhlemann, Das politische Milieu auf dem Prüfstand, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 3 (1996), 303-212 und Jochen-Christoph Kaiser, Protestantismus und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Zwei neue Studien und ihre Thesen, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), 459-470.
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der Tat war Wichern eine Ausnahmeerscheinung unter jenen evangelischen Theologen und ,Laien', die sich im Vormärz für sozialkaritative Fragen interessierten. Er gehörte zu den wenigen genauen Beobachtern der sozialen Lage, mit der er vor Ort, d. h. in den Hamburger Elendsquartieren, sehr praktisch konfrontiert wurde, und erwies sich in seinen Schriften auch bald als profunder Kenner der angelsächsischen wie deutschen Spezialliteratur. Es ist erstaunlich, wie rasch und unmittelbar Wichern publizistisch und kirchenpolitisch auf den Ausbruch der Märzrevolution in Deutschland reagierte, und er wusste um die scharfen sozialen Spannungen, die neben den liberalen Forderungen nach bürgerlicher Freiheit, politischer Partizipation und der Schaffung eines einheitlichen deutschen Nationalstaats mit für den Ausbruch dieser Erhebung verantwortlich waren. Zwar erschienen ihm Diagnose und Therapievorschläge der intellektuellen Gruppierungen - vor allem des äußerst linken Flügels der Revolutionäre - grundverkehrt, aber die Tatsache, dass es dieses Elend gab, und die Einsicht, dass es mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft werden musste, leitete auch ihn und seine Weggefährten in diesem Epochenjahr 1848. Die Überwindung des Ständestaats durch tief greifende Strukturreformen der Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung seit Jahrhundertbeginn unterwarf werdende Industriestaaten einem raschen Wandel in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht, der zuvor nicht gekannte Probleme mit sich brachte. Auch das Christentum und mit ihm die kirchliche Armenpflege wurden davon tief greifend berührt: Die alten Regeln der Gestaltung bürgerlicher und christlicher Existenz galten nicht mehr ungefragt, und auch Fürsorge für die ,schwachen' Glieder der Gesellschaft als selbstverständliche Konsequenz organisierter Frömmigkeit und stadtbürgerlicher Verantwortung wurde in diesen Wandel einbezogen. Uns interessiert in diesem Zusammenhang zunächst die Entstehung einer neuen Armut und ihre Bekämpfung, weil hier die Ursprünge der Inneren Mission liegen. Man bezeichnet die neue Armut, die nach den Befreiungskriegen 1813/ 15 einsetzte, als Pauperismus. Dieser entstand als Reaktion auf die Reformen in den deutschen Ländern, vor allem in Preußen, die einen grundlegenden Umbau der Wirtschaftsverfassung einleiteten und neben anderem die Bauernbefreiung und die Abschaffung der ständischen Zunftordnung zur Folge hatten. Das Ergebnis war zunächst nicht der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung, sondern eine sich bis zur Märzrevolution hinziehende große Wirtschafts- oder ,Emanzipations'-krise. Viele Handwerker machten sich nun selbstständig, ohne über das notwendige Kapital zu verfügen, und mussten ihre Kleiostbetriebe nach kurzer Zeit wieder schließen. Mit dem schnellen Wachstum der Bevölkerung, die auf dem Lande kein Auskommen mehr fand und deshalb in die großen Städte strömte, bildeten diese Menschen eine neue Unterschicht, die von den Risiken der beginnenden
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Industrialisierung besonders betroffen wurden: Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit und Alter. Dies war die Lage, in der zwischen 1820 und 1848 die Anfange der sozialen Arbeit der Inneren Mission liegen, die sich von der traditionellen kirchlich gebundenen Armenpflege signifikant unterschied. Die Differenz bezog sich vornehmlich auf zwei Bereiche: zunächst auf das Motiv eines Hilfehandeins aus religiöser Verantwortung, das soziale Zuwendung und die Verkündigung der christlichen Botschaft integrieren wollte. Des Weiteren sollte das unkoordinierte Nebeneinander zahlreicher Einzelinitiativen und lokaler Hilfsvereine durch die organisatorische Straffung bzw. den Neuaufbau überregional tätiger protestantischer Hilfsorganisationen überwunden werden. Dieses Programm ist untrennbar mit Wichern verbunden, der seine Vorstellungen erstmals zusammenhängend in seiner berühmten ,Stegreifrede' auf dem ersten protestantischen Kirchentag 1848 in Wittenberg einer größeren Öffentlichkeit vorstellte. Wicherns Idee eines Zusammenschlusses von Einrichtungen der Inneren Mission und - in einem zweiten Schritt - ihrer Organisation in regionalen Verbänden, kam nicht von ungefahr, denn das 19. Jahrhundert ist die ,klassische Periode' der bürgerlichen Vereinsbewegung in Deutschland gewesen.9 Die ,Gesellschaften', ,Assoziationen', ,Bünde' und ,Vereine' tauchten am Ende des 18. Jahrhunderts als Vorboten der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft auf und befriedigten mit ihren Zusammenschlüssen spezifische, in sich unterschiedliche, sich jedoch vielfach berührende Bedürfnisse. Sie erfüllten damit eine Brückenfunktion im Übergang von der Gesellschaft des Ancien Regime zur modernen Welt des 19. Jahrhunderts.
Seit den 1780er Jahren bildeten sich Gruppierungen, die sich künstlerischen, gelehrten, patriotischen und religiösen Aufgaben zuwandten. Im Zeichen gegenseitiger Freundschaft und Brüderlichkeit wollten die Mitglieder untereinander Aufklärung, Bildung und Erbauung betreiben, fühlten sich aber auch dem Allgemeinwohl verpflichtet. Neben die Zielsetzung der sittlichen Vervollkommnung des Individuums trat der Anspruch auf Mitgestaltung des Öffentlichen, was bisher allein Sache der Obrigkeit gewesen war. Dieses Kennzeichen der neuen Vereinsbewegung bedeutete jedoch nicht Konkurrenz oder gar Kritik an bestehenden Politikstrukturen, - die patriotischen Gesellschaften, Lese- und Armenpflegevereine wollten im Gegenteil in Kooperation und Eintracht mit dem Staat ihren Beitrag zum bonum commune erbringen. Die gravierenden Probleme des Pauperismus und die Ent9 Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland, Göttingen 1972, 1-44; Otto Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984. 3 Gabriel ( Hrsg.)
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stehung einer neuen Klasse brachten dann die soziale Frage jenseits der traditionellen ,Besserung der Armen' auf die Tagesordnung. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die christlichen Verbände. 10 Zu ihren unmittelbaren Vorläufern gehörten neben den bürgerlichen Gruppierungen auch die pietistischen Konventikel, die dem Charakter der Landeskirchen als Heilsanstalt misstrauten und das Freiwilligkeilsprinzip zum Gründungselement ihrer Sozietäten machten. Eine Vorreiterfunktion haben die christlichen Zusammenschlüsse bei der Entstehung des Verbandswesens allerdings nicht gehabt, sieht man von den zahlreichen protestantischen Pfarrern ab, die ad personam, nicht als Vertreter ihrer Landeskirchen, in den Vereinen mitwirkten. Die Kirchen - besser und richtiger: kirchliche Gruppen und Einzelpersönlichkeiten - hängten sich, wie Thomas Nipperdey es ausgedrückt hat, an die moderne bürgerliche Verbandsbewegung gleichsam an, in der sie ein wirksames neues Mittel zur Mobilisierung ihrer Anhänger gegen die Säkularisierung und für die Wiederverchristlichung der Gesellschaft sahen. Nicht die Kirchen selbst übernahmen also das Vereinsprinzip und instrumentalisierten es für ihre Zwecke, sondern einzelne ihrer Glieder, die sich als Christen und zugleich Bürger verbandlieh organisierten, was zeitgenössische Beobachter und die spätere Forschung dann häufig unspezifisch als kirchliche Unternehmungen interpretierten. Dem neupietistischen Element verdankten diesen Gründungen zudem eine latent bis offen artikulierte kirchenkritische Haltung, denn "das bestehende Kirchenturn galt in den von der religiösen und sozialen Not tief erregten Kreisen wegen seiner toten Form und seiner Bureaukratie als verdächtig, als unfähig, Leben zu wecken", schrieb der liberale Kieler Theologe Otto Baumgarten 1913 im Rückblick auf die Anfänge des protestantischen Vereinswesens. 11 Das war keine ,Kampfansage' an die Landeskirchen, deutete aber auf deren Schwächen hin. Dabei verstanden die meisten Gründungen des Vormärz ihre Tätigkeit als Angebot an die Kirchen, sich an den Vereinszielen mit Personal und Finanzen zu beteiligen, was diese aber von sich wiesen. Für die Mehrzahl der Vereinsgründungen vom Vormärz bis Ende des Jahrhunderts waren zunächst also zwei, ab 1848 dann drei Strukturmerkmale unabhängig von ihrer inhaltlichen Zielsetzung bestimmend: Sie hielten erstens Distanz zum Landesherrlichen Kirchenregiment, sie verstanden sich zweitens als konfessionsübergreifende Gruppierungen, d. h. sie suchten den Gegensatz reformiert/lutherisch zu überwinden, und 10 Kaiser, Konfessionelle Verbände im 19. Jahrhundert. Versuch einer Typologie, in: Helmut Baier (Hrsg.), Kirche in Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Referate und Fachvorträge des 6. Internationalen Kirchenarchivtags Rom 1991, Neustadt a. d. Aisch 1992, 187-209. 11 Otto Baumgarten, Art. Evangelisches Vereinswesen, in: RGG I V, 1629-1635, 1631.
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sie verfochten schließlich unionistische Tendenzen, nicht so sehr als Vorreiter der von Preußen ausgehenden innerkonfessionellen Union, sondern als Protagonisten einer einheitlichen deutschen Reichskirche. Für die Traktat-, Bibel- und Missionsgesellschaften erweckliehen Ursprungs mussten die dogmatischen Differenzen der lutherischen wie reformierten Orthodoxie zu Gunsten der persönlichen Glaubensentscheidung und ihres praxisbezogenen Frömmigkeitsideals in den Hintergrund treten. Und die sozial-karitativ engagierten (bürgerlichen) Stiftungen und Vereine sahen darin ein Hindernis für die Organisationsfähigkeit und damit Durchschlagskraft ihrer Arbeit über die Territorialgrenzen hinweg. Insgesamt lässt sich damit feststellen, dass die Anfänge der Diakonie einmal aus der Erweckungsbewegung und dann aus der - noch weithin christlich geprägten - bürgerlichen Reformvernunft in Anlehnung an die Spätaufklärung kamen. Ohne dieses Zweckbündnis theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich ganz unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Richtungen ließe sich auch der ungeahnte Erfolg nicht erklären, den Wicherns Initialzündung in Wittenberg 1848 auslöste. Denn seine Vorschläge entsprachen offensichtlich einem latent vorhandenen Erwartungshorizont, der in diakonischem Handeln neben der Kirche die große Chance sah, dem religiösen Leben mit der Zielperspektive einer Re-Christianisierung der Gesellschaft flächendeckend neue Impulse zu verleihen. Der Übergang der Vereinsbewegung zu kirchenpolitischen Themen- und Aufgabenstellungen, der für die zahlreich folgenden Neugründungen der Folgezeit konstitutiv werden sollte, war fließend. In Parallele zu den bürgerlichen Verbänden erhob man seit 1848 verstärkt den Anspruch auf Öffentlichkeitswirkung mit dem Ziel, zunächst im Umfeld der Kirche selbst, dann darüber hinaus in der Gesellschaft Einfluss auszuüben. Dies hatte, auch wenn es in vorsichtiger Form und in Anpassung an die gegebenen staatskirchlichen Strukturen geschah, eine eindeutig politische Komponente und realisierte sich vorerst auf zwei getrennten Ebenen, die allerdings eng miteinander verzahnt waren: Es ging einmal um die genannte Einheit der deutschen Kirchen und gleichzeitig um die ,Lösung' der sozialen Frage, die man bis zur Kurskorrektur durch Theodor Lohmann und Adolf Stoecker noch im Kontext des Pauperismus verortete. Der Exponent dieser - verbal stets in Abrede gestellten - versteckten Politisierung protestantischer Verbandsaktivitäten war wiederum Wiehern, der in Wittenberg 1848 die Gunst der Stunde dazu nutzte, für eine die Landesgrenzen überschreitende kirchliche Einheit und zugleich für ein Globalkonzept zur Besserung der religiösen und sozialen Lage der Not leidenden unterbürgerlichen Schichten zu werben. Das war noch nicht Sozialreform wie sie andere propagierten, aber der Anfang dazu im kirchlichen Raum. - Wichern ist mit seinen unitarischen Zielen an den Partikularinteressen der Landeskirchen,
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der sie beherrschenden Kirchenregimenter und am lutherischen Konfessionalismus gescheitert. Aber sein soziales Anliegen setzte sich durch und begründete in Gestalt des Central-Ausschusses (CA) für Innere Mission und der von ihm ausgehenden und angeregten zahlreichen Innere-Mission-Vereine eine rasch expandierende sozialprotestantische Vereinswelt, die man spätestens seit den I 920er Jahren als den , sozialen Konzern' des evangelischen Deutschland bezeichnen kann. Dies nicht im Sinne eines Wirtschaftsimperiums, sondern als zuvor nicht gekannte BündeJung sozialer und kultureller Aufgabenfelder. II.
Die Märzereignisse hatten die Landeskirchen, die sich als Teil der allgemeinen Staatsverwaltung begriffen und es ja rechtlich auch waren, stark beeindruckt. Dabei überwog ein Gefühl der Unsicherheit, wie man dem sich anbahnenden Neuen begegnen sollte. Andererseits war das Staatskirchenturn schon vor 1848 unter zunehmenden Druck jener Kräfte aus Universitätstheologie und den Eliten eines protestantischen Laienchristentums geraten, die angesichts einer durch die Befreiungskriege entstehenden politischen Sehnsucht nach einem deutschen Nationalstaat auch eine einheitliche deutsche Nationalkirche wollten. Nicht die politische, wohl aber eine kirchliche Einigung förderte auch der preußische König Friedrich Wilhelm IV., der sich davon eine innere Belebung der Kirche und ihres gesellschaftlichen Einflusses im Rahmen jenes christlichen Staates versprach, den der konservative Jurist Friedrich Julius Stahl unermüdlich propagierte. 12 Noch ein anderes Faktum wirkte bei dem Zusammentreten des Wittenberger Kirchentages im September 1848 mit: Die Beschlüsse des Frankfurter Vorparlaments von Anfang April des Jahres hatten gezeigt, dass sich die politische Neuordnung im Rahmen einer Reichsverfassung auch auf die Rechtsstruktur der Landeskirchen auswirken würde: Der die "Grundrechte und Forderungen des deutschen Volkes" betreffende Artikel enthielt nämlich die Empfehlung der Gleichstellung der politischen Rechte aller Bürger "ohne Unterschied der Glaubensbekenntnisse - und die Unabhängigkeit der Kirche vom Staate", die Abschnitt VI, Artikel V, § 147 der Frankfurter Reichsverfassung ein Jahr später (28. III.) dahingehend präzisierte, dass jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten eigenständig ordnen und verwalten sollte. 12 Folgendes nach Helmut Talaz}w, Märzrevolution und Wittenberger Kirchentag, in: Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998. Katalog zur Ausstellung, i. A. des Deutschen Historischen Museums und des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland hrsg. v. Ursula Röper und Carola Jüllig, Berlin 1998, 58-67.
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Jetzt galt es, angesichts des scheinbar unmittelbar bevorstehenden Endes der jahrhundertealten Symbiose von Staat und Kirche, enger zusammenzurücken, um die kommende Trennung von Staat und Kirche, die als existenzbedrohend für die Kirche empfunden wurde, gemeinsam besser zu bestehen. Es waren jedoch nicht offizielle Vertreter der Landeskirchen, die zur Septemberversammlung aufriefen, sondern bekannte Protestanten, die sich als Privatpersonen hier engagierten. Von zwei regionalen Zentren gingen die Bemühungen um einen Kirchentag aus: Im Umfeld der preußischen Rheinprovinz, an der Universität Bonn, traten der Theologe /saak August Domer und der Jurist Moritz August von Bethmann-Hollweg vehement für die Bildung einer Nationalkirche ein. Eine Konferenz von mehr als 100 rheinischen Theologen sprach sich im Mai 1848 in Bonn für den Vorschlag aus, eine Generalsynode einzuberufen, um die anstehenden Probleme und Chancen zu klären. Auch wenn sich die Anregung nicht durchsetzte, gehört diese Initiative zur Vorgeschichte von Wittenberg. In Südhessen war es die sogenannte Sandhofkonferenz, eine Versammlung erweckter Theologen und einzelner Laien, die seit Anfang der 1840er Jahre regelmäßig zusammenkamen und sich auf ihrer Jahrestagung Anfang Mai 1848 angesichts der kirchenpolitisch bedrohlichen Auspizien ebenfalls für die Einberufung einer zentralen Versammlung deutscher Protestanten plädierten, die sie als ,Kirchentag' bezeichneten. Begründet wurde dieser Vorstoß mit dem Argument, ,.die Kirche dürfe nicht stumm und starr über sich ergehen lassen", was der Staat nach seiner Trennung von ihr tun werde; keinesfalls könne es "dem bisherigen Kirchenregiment überlassen bleiben, ihr eine Verfassung zu oktroyieren". Von dieser zweiten Sandhofkonferenz gingen die entscheidenden Impulse für das Zustandekommen von Wittenberg aus: Ihre Initiatoren verschickten an 93 Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus eine Einladung, in denen Vorschläge für das Programm und die Zielsetzungen gemacht wurden. Darin hieß es u. a.: "Die evangelischen Konfessionen Deutschlands treten zu einem Kirchenbund zusammen; dieser ist keine Union, sondern eine zeitgemäße Erneuerung des Corpus Evangelicorum - der Vertretung der ev. Reichsstände auf den Reichstagen seit dem Westfälischen Frieden; jede Konfession bleibt bei der Ordnung ihres Verhältnisses zum Staat und ihrer inneren Angelegenheiten unabhängig vom Kirchenbund". Der Wittenberger Kirchentag stieß innerhalb des deutschen Protestantismus auf ein überwältigendes Echo, wenn auch nicht bei allen Richtungen. Am 21. September versammelten sich etwa 500 Teilnehmer in der Wittenberger Schlosskirche; die meisten kamen aus der Preußischen Landeskirche, unter ihnen viele Vertreter der orthodoxen Richtung aber auch der Vermitt-
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lungstheologie; nur die konfessionellen Lutheraner und die Rationalisten waren nicht erschienen. Das Einleitungsreferat hielt der gerade von Bann nach Berlin berufene Theologe Karl lmmanuel Nitzsch, - einer der bedeutendsten Vertreter der Vermittlungstheologie und Vorkämpfer der Union. Der Name Nitzsch stand also für ein bestimmtes Programm, und nicht von ungefähr entzündete sich an seinem Vortrag über die Notwendigkeit und Möglichkeit eines Kirchenbundes eine heftige Kontroverse. Freilich konnte er sich am Ende durchsetzen und die Versammlung zu dem Votum bewegen, ein solcher Bund sei wünschenswert. Mehr war auch gar nicht denkbar, denn die Teilnehmer wussten sehr wohl, dass sei kein eigentliches Mandat zur Gründung einer kirchlichen Konföderation über landeskirchliche Grenzen hinaus besaßen. Jeder Versuch, sich darüber hinwegzusetzen, wäre bei den konservativen Legitimisten und in der diesen nahe stehenden Öffentlichkeit als ,revolutionärer Akt' empfunden und entsprechend verworfen worden. Wichern hatte zu den Unterzeichnern der Einladung gehört, die er auch in seiner Hauspostille, den Fliegenden Blättern, abdruckte. Kritisch fügte er hinzu, er vermisse in dem Aufruf die Beschäftigung mit anderen praktischen großen Zeitfragen, versicherte jedoch seinen Lesern, dass in Wittenberg genug Raum bleiben werde, dies öffentlich anzusprechen. 13 Wichern war offenbar der Einzige, für den die Revolution auch soziale Ursachen hatte, die er auf dem Kirchentag zum Thema machen wollte. Auf der Tagesordnung stand die Innere Mission zunächst ganz hinten, aber Wiehern, den die Furcht plagte, die Versammlung könnte sich auflösen, bevor sein Thema behandelt wurde, setzte es durch, dass dieses ganz nach vom an die erste Stelle rückte. Als wesentliches Ziel hatte er im Auge, die Diakonie als wichtige Aufgabe des zu gründenden Kirchenbundes anerkennen zu lassen, ohne sie ihm rechtlich zu inkorporieren. Die Innere Mission als freier Verband und ihre Einbettung in die kirchlichen Aufgabengebiete wurden am 22. und 23 September 1848 diskutiert. Wichern erkannte die Gunst der Stunde, als ihn die Versammelten aufforderten, sich grundsätzlicher zu diesem Thema zu äußern. Wohl ohne Manuskript hielt er dann einen vier- bis fünfstündigen Vortrag, der einen ungeheuren Eindruck machte. Dabei war er kein besonders befähigter Redner, zumal er seinen Ausführungen - in der Absicht ihre Wirkung zu verstärken - mit derart vielen Zahlen und Fakten spickte, dass die Protokollanten kaum mitkamen. So ist denn auch keine einigermaßen vollständige Fassung seines Referats überliefert. Das, was wir als Denkschrift an die deutsche 13 Einladung nach Wittenberg, in: Fliegende Blätter, V. Serie, Anfang September 1848, Nr. 17; s. ferner das fragmentarische Protokoll der Wichern und die Innere Mission betr. Sitzungen des IGrchentages, in: Wiehern, Gesammelte Werke, hrsg. von Peter Meinhold, Bd. 1, Berlin-Hamburg 1962, 155-171.
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Nation ( 1849) kennen, stellt nicht etwa die Druckversion seines Vortrags dar, sondern ist etwas Neues, Eigenständiges in systematischer Reflexion. Wichern begann nicht mit der Inneren Mission, sondern mit einer Analyse der Ursachen der Revolution. In herumreisenden Handwerksgesellen und dem Proletariat der großen Städte sah er die Trägerschichten der Revolution. Die Kirche habe gerade diese Klientel vernachlässigt, vor allem die bis ins Ausland wandemden Gesellen, die damit ungeschützt der revolutionären Propaganda ausgesetzt gewesen seien und diese weitergetragen hätten. In der Inneren Mission stehe der Kirche jedoch ein Mittel zur Verfügung, um diesen Schaden wieder gutzumachen. Damit war Wichern bei seinem Gegenstand und berichtete nun über die Anfänge der Inneren Mission in Deutschland und darüber hinaus. Freilich sei das Vorhandene noch nicht ausreichend: Vor allem müssten die glaubenslosen Menschen wieder durch die Verkündigung des Wortes Gottes erreicht werden, was die Kirche selbst bisher schuldhaft versäumt habe. Dafür habe sie Buße zu tun und müsse deshalb die Arbeit der Inneren Mission zu ihrer eigenen erklären. Das war auch der Zusammenhang, in dem Wichern jene dann berühmt gewordene Formulierung benutzte. Die Kirche müsse erklären: "Die Liebe gehört mir wie der Glaube." Es ging ihm damit aber nicht nur oder in erster Linie um eine theologische Primäraussage, als die sie später vielfach interpretiert wurde, sondern um das schlichtere kirchenpolitische Anliegen, den anvisierten Kirchenbund für die Arbeit der Inneren Mission in die Pflicht zu nehmen.
Dann zog er praktische Konsequenzen aus dem zuvor Gesagten und regte die Gründung eines Central-Ausschusses an, der in enger Verbindung mit der Leitung des künftigen Kirchenbundes zu schaffen sei. Die vorhandenen, aber vielfach zersplitterten Aktivitäten christlicher Liebestätigkeit müssten zusammengefasst und dadurch verstärkt werden, dass jeder hier Tätige von der Arbeit der anderen wisse. Die Knüpfung kommunikativer Netze im Sachbereich Diakonie mit all seinen theologischen und sozialen Facetten nicht Leitungskompetenz - wollte er dem Central-Ausschuss zuweisen und deutete damit in Richtung eines Modells, das sich als durchsetzungsfähig und damit zukunftsträchtig erweisen sollte. Denn eine bundesweit operierende Diakoniebehörde mit weit reichenden Weisungskompetenzen hätte in Wittenberg auch keine Chance gehabt. Außerdem entsprach dieses Modell den föderalistischen staatlichen und kirchlichen Strukturen in Deutschland und war damit auch für kommende Zeiten besser gerüstet als ein zentrales , Diakonie-Konsistorium'. Jedenfalls stimmte die Versammlung auf Anregung des Vorsitzenden v. Bethmann-Hollweg Wicherns Plänen in allen Punkten zu, und damit nahm in Wittenberg eine Entwicklung ihren Ausgang, die mit dem im Januar 1849 förmlich konstituierten Berliner Central-Ausschuss ein wirksames dia-
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konisches Koordinierungs- und Beratungsgremien schuf oder - in den Worten des alten Bodelschwingh um die Jahrhundertwende - einen "Generalstab der Liebesarmee" im ,Krieg' gegen Unglaube, Armut und soziales Elend. 14 Dies zur Gründungsgeschichte der Inneren Mission. Bevor auf das eingangs genannte Modell der kirchlichen ,Zweitstruktur' noch einmal eingegangen wird, soll das Gesagte in Form einiger Thesen zusammengefasst werden: 1. Wichern und die Innere Mission sahen soziales Elend/soziale Devianz primär unter dem Blickwinkel der bewussten Abwendung von Gott und Kirche und begriffen sie als Ausfluss menschlicher Schuld. Deshalb stand die Verkündigung des Evangeliums für sie an erster Stelle; diese musste allerdings, um überhaupt gehört zu werden, soziale Hilfen für die Armutsklientel integrieren.
2. Wichern selbst verfolgte ein doppeltes Konzept: Freie Entfaltung der Diakonie bei gleichzeitiger Nähe zur Kirche bzw. unter ihrer ,Schirmherrschaft'. Letztlich zielte auch er auf eine gewisse Verkirchlichung der Inneren Mission, dies jedoch bei Wahrung ihrer verbandliehen Eigenständigkeit und der Anerkennung eines besonderen kirchlichen Amtes (Diakonat). Ihre verbandliehe Eigenständigkeit behielt die Innere Mission bis heute; der Diakonat wurde erst 1996 von der EKD akzeptiert.15 3. Den die Träger der Inneren Mission einigenden Organisationsrahmen bildeten freie christlichen Vereine, nicht die verfasste Kirche. Das Verhältnis von Kirche und christlichen Assoziationen/Vereinen und damit auch zur Inneren Mission blieb deshalb diffus bis distanziert; das schloss nicht aus, dass sich zahlreiche Theologen, andere Kirchenbeamte und ,Laien' auf den unterschiedlichsten Ebenen des kirchlichen Lebens in der Diakonie engagierten. 4. Der Wittenberger Kirchentag war eine freie Versammlung von protestantischen Persönlichkeiten (,Honoratioren'), die nicht im Auftrag der Landeskirchen handelten und daher kein synodal-kirchliches Mandat besaßen. Daran und an den konfessionellen Problemen scheiterte 1848 die anvisierte Gründung eines protestantischen Kirchenbundes. 14 Vgl. Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission, München 1989, 113. 15 Dazu Kaiser, Der Diakonat als geordnetes Amt der Kirche. Ein EKD-Gutachten, eine alte Frage und ihre Aktualität, in: Diakonie. Jubiläumsjahrbuch 1998, Stuttgart 1998, 212-219; ferner ders., Ist Diakonie Kirche? Ein altes-neues Thema in historischer Perspektive, in: Diakonisches Werk der EKD (Hrsg.), Diakonie ist Kirche. Zur Konfessionalität eines Woh1fahrtsverbandes, Stuttgart 1999.
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5. Wicherns Vorschlag, eine Neuorganisation der bestehenden diakonischen Arbeitsfelder in Form des Central-Ausschusses zu gründen, wurde von den Wittenberger Teilnehmern um so lieber aufgegriffen, als ihr eigentliches Ziel, nämlich der Kirchenbund, keine Realisierungschance hatte. 6. Das Wittenberger Forum war von so großer Bedeutung für die Diakonie, weil ihr Anliegen hier erstmals öffentlichkeitswirksam bekannt gemacht werden konnte. Damit setzte ein innerprotestantischer Bewusstseinswandel im Hinblick auf die notwendige Zusammengehörigkeit von ,Glaube und Liebe' ein, der auch auf die Landeskirchen ausstrahlte. Damit rückte die ,soziale Frage' der Zeit jetzt erstmals in den Horizont des deutschen Gesamtprotestantismus, der im Kontext der Herausbildung des Sozialstaats auf diesen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausüben sollte. 7. Von Wittenberg ging die Schaffung eines evangelisch-sozialen Netzwerkes aus, das noch heute besteht und die Innere Mission neben dem Deutschen Caritasverband zu einem der wichtigsten freien Träger des dualen Systems sozialer Sicherung gemacht hat. 8. Das Verhältnis der Inneren Mission zu Staat und Politik im 19. Jahrhundert blieb ambivalent: Soziales Engagement beinhaltete in Phase I (Wicherngeneration) noch nicht die Forderung nach einer aktiven staatlichen Sozialpolitik. Dahinter stand die Anschauung der weltanschaulich/religiösen Homogenität der ,Nation' als Zielperspektive, die eine besondere Sozialpolitik nicht erforderte, - Christengemeinde und Bürgergemeinde schienen identisch, 16 - schon damals ein Anachronismus. 9. Mit dieser Auffassung konnte Wichern allerdings für die zeittypische ,reaktionäre' Politik einer spätfeudal-bürgerlichen und gegen politische Reformen jeder Art gerichtete Staatsgesinnung in Anspruch genommen werden. 17 Andererseits setzte Wichern de facto gerade auch auf die bürgerliche Reformvernunft und drängte die kirchliche Orthodoxie wie die konservativen Eliten seiner Zeit auf ein bisher nicht behandeltes und in den kommenden Jahrzehnten immer dringlicher werdendes neues Politikziel: Die Lösung der sozialen Frage als Vorbedingung der erstrebten Re-Christianisierung. 10. Die weltanschauliche Ausdifferenzierung/Pluralisierung der Gesellschaft war in der Zeit nach Wichern gegen Ende des 19. Jahrhunderts dafür mitverantwortlich, innerhalb der Diakonie ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Christentum und Kirche sich nicht auf sichere 16 Vgl. den gleichnamigen Beitrag von Kar[ Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zollikon-Zürich 1946. 17 Brakelmann (Anm. 3).
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Besitzstände zurückziehen, sondern im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen und damit verknüpfter sozialpolitischer Konzepte offensiv für ihren Mitgestaltungsanspruch kämpfen müssten. Umgekehrt begriffen die verfassten Kirchen zunehmend, dass Diakonie und Innere Mission mit ihrem sozialen Engagement einen zentralen Beitrag für die Stellung des religiösen Faktors innerhalb der Gesellschaft leisteten. Als ,Werteproduzenten' neben anderen waren die Kirchen auf diakonisches Handeln angewiesen und erklärten es mehr und mehr zu ihrer eigenen Sache, - überließen die konkret-praktische Arbeit aber nach wie vor der institutionalisierten Diakonie. 18 Seit 1848 entwickelte sich die Innere Mission vergleichsweise rasch zum Leitverband des deutschen Protestantismus. Eigentlich eher Dachorganisation heterogener diakonischer und kultureller Aktivitäten denn klassischer Mitgliederverein - wie etwa der Gustav-Adolf-Verein, der liberale Protestantenverein oder der erst 1886 gegründete Evangelische Bund - wurde die Diakonie bald zur einflussreichsten Größe des evangelischen Deutschlands außerhalb der Landeskirchen. Ein dichtes Netzwerk von Landesverbänden, einzelnen Einrichtungen und zahlreichen sogenannten Fachverbänden, die unterschiedlichste Arbeitsfelder betreuten, erstreckte sich bis zur Jahrhundertwende über das gesamte Reich. Hinzu traten die dem Central-Ausschuss assoziierten evangelische Frauen-, Männer- und Jugendvereine, so dass die Innere Mission eigentlich überall präsent war. Trotz gelegentlicher Dissonanzen im Verhältnis zu den Landeskirchen, die kein arbeitsfaltiges Dach im Sinne einer Zentralinstanz besaßen und auf ihr jeweiliges Territorium beschränkt blieben, erkannte man hier nicht nur contre creur die Leistungen an, die im Namen der Diakonie inner- wie außerhalb des Sinnenraums der Kirchen erbracht wurden.
111. Die eingangs behauptete hohe Plausibilität des Luhmannschen Modells und die Übertragung des diakonischen Dienstleistungsbereichs auf den Begriff der kirchlichen ,Zweitstruktur' bedarf abschließend noch einiger Überlegungen aus historischer Perspektive: Betrachtet man das Selbstver18 Daran änderte faktisch auch die im Gefolge der Barth'schen Theologie nach 1945 wieder aufkommende Forderung nach Zentrierung diakonischen Handeins auf die Gemeinde nichts. Steinkamp (Anm. 4), 163 ff. hält Appelle zu einer ,Diak:onisierung der Gemeinde' (Jürgen Moltmann) oder einer ,Kirche für andere' (Ernst Lange) für zutreffend aber letztlich folgenlos, denn die volkskirchliche Realität sehe diakonisches Handeln auf Gemeindeebene nicht vor: Hier zahle man Kirchensteuern und nehme die Kasualien als 'Serviceleistungen der Religionsgemeinschaften in Anspruch.
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ständnis der leitenden Funktionäre - meistens von ihren Landeskirchen für den Dienst in der Diakonie beurlaubte Geistliche -, so fühlten sich diese theologisch wie mental ungebrochen in ihrer Arbeit als Teil der Kirche und pochten nur dann auf die Eigenständigkeil der Diakonie, wenn die konsistorialen Apparate ihre Freiräume einzuengen drohten. Trotz der seit der IahThundertwende zu beobachtenden Professionalisierung des Personals existierte bis 1945 noch kaum die - heute häufig beklagte - Kluft zwischen religiösem Anspruch und der Motivation der Mitarbeiterschaft. Die Außenwahrnehmung veränderte sich allerdings zusehends: Die Klienten wie die von den Kirchen selbst nicht mehr erreichten Segmente der Gesellschaft identifizieren mit dem von ihnen erfahrenen diakonischen Handeln oftmals das Gesicht einer Kirche, deren theologische, institutionelle und seelsorgerische Wirksamkeit sie nichts mehr anzugehen scheint. Die vereinsrechtliche Unabhängigkeit der Inneren Mission verursachte deshalb seitens der Amtskirche auch Begehrlichkeiten, die sich vor allem nach 1918 und erst recht nach 1933 und 1945 in der Tendenz äußerten, den diakonischen Komplex zu verkirchlichen. Das alte Anliegen Wicherns und seiner Weggefährten, über den Umweg sozialer Zuwendung und kultureller Einflussnahme der Kirche selbst neue geistliche Impulse zu verleihen und die zunehmende Entfremdung zwischen ihr und der Gesamtgesellschaft aufzuheben, wurde nun von Theologie, Landeskirchen und EKD verstärkt aufgegriffen. Eröffnete sich hier doch augenscheinlich die Chance, Kirche über diakonische Dienstleistung wieder zu einem mitbestimmenden Faktor des öffentlichen Lebens zu machen. Freilich lehnte die Innere Mission eine institutionelle Unterstellung ab, auch wenn sie die genannten theologiepolitischen Implikationen teilte. Selbst in den großen Krisen des 20. Jahrhunderts hielt sie an dieser Form von Unabhängigkeit fest: zunächst ab 1929 im Kontext des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft, dann im Schatten nationalsozialistischer Gleichschaltungspolitik und der drastischen Beschneidung wichtiger Arbeitsfelder, schließlich nach 1945 mit der Konkurrenz des neuen Kirchlichen Hilfswerks von Eugen Gerstenmaier und der Zwangsverkirchlichung in SBZ und DDR. 19 Insofern kann man hier in der Tat von einer ,Zweitstruktur' oder gar ,-kirche' sprechen, wenn man dabei vornehmlich den organisatorischen Rahmen im Blick hat. Wicherns Sicht der sozialen Frage war primär von seiner religiösen Einstellung bestimmt. Mit religiösen Mitteln wollte er sie auch lösen und 19 Zur Diakonie in der DDR vgl. jetzt den Beitrag von Ernst Petzold, Eingeengt und doch in Freiheit. Diakonie der evangelischen Kirchen in der DDR, in: Kaiser (Hrsg.), Soziale Arbeit in historischer Perspektive. Zum geschichtlichen Ort der Diakonie in Deutschland (FS Helmut Talazko), Stuttgart 1998, 152-190; s. a. lngolf Hübner/ders. (Hrsg.), Diakonie im geteilten Deutschland. Zur diakonischen Arbeit unter den Bedingungen der DDR, Stuttgart 1999.
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instrumentalisierte soziale Arbeit als Medium für die Durchsetzung seines Re-Christianisierungsprogramms. Nicht um ,absichtslose Liebe' in der Zuwendung zum hilfsbedürftigen Nächsten ging es ihm, 20 sondern allein um dieses Ziel. Freilich erwies sich der Weg dorthin letztlich als untauglich. Da aber auch alle anderen Konzepte bei der Realisierung dieser Utopie einer erneuerten christlichen Gesellschaft scheitern mussten, trifft die Kritik der ,Revisionisten' am falschen, ,reaktionären' Kurs der Inneren Mission seit 1848 nicht den Punkt, zumal sie heutige theologische wie politische Standards zu Beurteilungskriterien erhebt. Bereits 1947 hatte der Leiter des neugegründeten Kirchlichen Hilfswerks, Eugen Gerstenmaier, Wicherns Konzeption kritisiert und die ,alte' Innere Mission wegen ihres Festhaltens an der von Wichern gestellten doppelten Aufgabe von Mission und sozialer Arbeit für nicht mehr zeitgemäß erklärt. Gerstenmaier forderte nun die Errichtung eines besonderen diakonischen Amtes der Kirche mit der Begründung, die neue Diakonie in Gestalt des Hilfswerks verzichte ganz bewusst auf Verkündigung und konzentriere sich allein auf soziales Hilfehandeln. Es gebe auch die ,schweigende Tat im Dienste Jesu'; in diesem Zusammenhang komme es "auf das Apriori der absichtslosen Liebe" an, mithin auf Hilfe ohne Vorbedingungen oder Nebenzwecke. Wegen des engen staatskirchlichen Zusammenhangs seien die Kirchen der Wichernzeit nicht frei gewesen, sich bei der Lösung der sozialen Frage auch politisch zu engagieren, - gleiches gelte für die Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches. Erst jetzt - nach dem Zweiten Weltkrieg - könne eine Organisation wie das Hilfswerk als Teil der verfassten Kirche - und nicht als , bloßer Verein' wie die Innere Mission - auch politisch agieren und damit Wicherns Vermächtnis erfüllen. Gerstenmaier hat für diese These den Beweis nicht erbracht: Einmal, weil er 1949 in die Politik ging und soziale Fragen nicht mehr zu seinen Kerninteressen zählten, und dann, weil ,sein' Hilfswerk mit dem wirtschaftlichen Wiederaufschwung in der Bundesrepublik zunehmend Funktionsverluste hinnehmen musste und sich 1956/57 mit der Inneren Mission unter Anerkennung des freien Verbandscharakters und des Doppelauftrags vereinigte. Damit war das Experiment einer verkirchlichten Diakonie gescheitert. Wie ein Nachhutgefecht mutet es an, wenn Johannes Degen Mitte der 1970er Jahre in seiner provokanten Studie über , Diakonie und Restauration' die treffende Feststellung machte, Gerstenmaiers ,absichtslose Liebe' bleibe eine "Chimäre", weil es eine an keinerlei Interessen religiöser oder gesellschaftspolitischer Art gebundene Diakonie selbst dann nicht geben könne, wenn sie einen solchen Ansatz zum Leitmotiv ihres sozialen Handeins 20 Dieser Topos stammt von Eugen Gerstenmaier, , Wichern II'. Zum Verhältnis von Diakonie und Sozialpolitik, in: Herbert Krimm (Hrsg.), Das diakonische Amt der Kirche, Stuttgart, 2. Aufl. 1965, 467-518, 492.
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mache. 21 Vielmehr bedeute die behauptete intentionale Voraussetzungslosigkeit im Gegenteil eine grundsätzliche Offenheit für ganz unterschiedliche, ja entgegengesetzte Funktionalisierungen innerhalb der Gesellschaft und sei Ausdruck eines fehlenden theoretischen Konzepts. Grundsätzlicher hat Schmidt in seiner oben erwähnten, fast zeitgleich zu Degen entstandenen Untersuchung die Hilfswerksgründung einer Kritik unterzogen: 22 Unter Bezug auf Luhmanns These, dass die gesellschaftlichen Systeme auch gegenüber der ihnen assoziierten Subsysteme eine InnenAußen-Differenz stabilisieren müssen, um überhaupt funktionieren zu können, spricht Schmidt von einer "Unschärfe-Relation", da auch das Hilfswerk gleichsam zwei Herren dienen wollte: der Kirche und der Gesellschaft. Damit aber blieb es ,fremdbestimmt' und bewegte sich im prekären Bereich "organisatorischer Heteronomie", 23 an der es schließlich zerbrach. Was wäre die Konsequenz gewesen, wenn sich das Hilfswerk als eigenständige Größe behauptet hätte: wahrscheinlich die Durchsetzung einer autonomen Repräsentation des diakonischen Handeins einer Kirche, der als ,Restkirche' am Ende nur noch Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung blieben. Mit diesen Funktionen allein hätte Kirche jedoch kaum mehr verdeutlichen können, ob und welche Bezüge zur sozialen Wirklichkeit sie letztlich noch besaß?4 Noch einmal zurück zu Wiehern : Seine stets durchgehaltene theologische Option hielt an überkommenen religiösen Inhalten fest, setzte aber andererseits "auf Variation in den Verkündigungsformen" und - hier sehr erfolgreich! -auf Ausweitung der sozialen Funktionen. 25 Damit erfüllte Wichems Theologie "genau die von Luhmann diagnostizierte Anforderung religiöser Ausdifferenzierung bei gleichzeitiger Expansion in Leistung." Kritiker wie Brakelmann hätten sich - so formuliert Sturm in seiner Antikritik - unter Konzentration auf begründungstheoretische Prämissen und unter Absehung von anwendungstheoretischen Erwägungen in eine interpretatorische Sackgasse begeben, die schließlich "zu einer Rückführung von vormoderner Sozialpolitik auf eine vormoderne Theologie bei Wichern avanciert" sei. 21 Johannes Degen, Diakonie und Restauration. Kritik am sozialen Protestantismus in der BRD, Darmstadt-Neuwied 1976, 43. 196. S.a. Kaiser, Eugen Gerstenmaier in Kirche und Gesellschaft nach 1945, in: Wolfgang Huber (Hrsg.), Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, München 1990, 69-92, bes. 86 f. 22 Schmidt (Anm. 6). 23 Schmidt, 15. 17 (Anm. 6). 24 Hierzu Joachim Matthes, Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Harnburg 1964 und ders., Der soziologische Aspekt der institutionellen Diakonie, in: Die Innere Mission 51 (1961 ), 249- 253. 25 s. Sturm (Anm. 3) und das gleichnamige Ms. einer Zusammenfassung der Thesen seiner Dissertation, Münster 1999.
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Diesem werde "ein an die Bedingungen der Moderne angepaßter Liberalismus und religiöser Sozialismus entgegengestellt. Gleichzeitig wird ein unmittelbar politisches Engagement erwartet und dementsprechend eine unzureichende politische Konkretion bei Wichern kritisiert." 26 Weil ,funktionale Differenzierung' als Kennzeichen moderner Gesellschaften jedoch bedeutet, dass Teilsysteme sich nicht unvermittelt des Codes anderer Teilsysteme bedienen können, garantieren innertheologisch durchaus ,richtige' Argumente keinen kommunikativen Erfolg mehr, sofern sie allein auf begründungstheoretischen Erwägungen fußen und die Frage der konkreten Anwendbarkeit außer Acht lassen. - Wicherns Theologie wandte sich zugleich gegen dogmatische Verengungen in der innerkirchlichen Kommunikation wie gegen eine Reduktion theologischer Positionen auf Moral und Zivilreligion bei diakonischen Dienstleistungen unter Beibehaltung des religiösen Aprioris seines Konzeptes. Deshalb legten er und seine Innere Mission auch keine Vorschläge zur strukturellen Umgestaltung des politischen und ökonomischen Bereichs vor und vermieden auf diese Weise Eingriffe in systemfremde Codes. Stattdessen formulierten sie ,Unterbrechungsregeln', d.h. sie benannten Motive und Voraussetzungen für Situationen, in denen es sinnvoll erscheinen konnte, nicht politischen, ökonomischen oder rechtlichen, sondern moralisch-religiösen Kommunikationsmustern zu folgen. Steinkamp wies kürzlich noch einmal darauf hin, dass die "gesellschaftliche ,Nachfrage' nach Diakonie offenbar unabhängig davon [sei], ob die ... ,eigentliche' Funktion von Religion als Sinnstiftung, Sinnvermittlung noch gefragt ist". 27 Auch empirisch habe Luhmann damit zutreffend die ",geteilte' kirchliche Präsenz" in der Gesellschaft beschrieben. Daraus kann man mit Steinkamp folgern, dass nur für die Kerngemeinde eine ,religiösspirituelle' Versorgung noch Sinn macht, während darüber hinaus für die nominellen Mitlieder der Volkskirche Diakonie und andere soziale Angebote bereitstehen müssen.
Es sieht so aus, als ob die angenommene ,Zweitstruktur' von Kirche nicht nur theoretisches Modell, sondern zugleich Ergebnis unvoreingenommener empirisch-historischer Beobachtungen ist. Ein Blick in das Neue Testament und in die Kirchengeschichte der Spätantike wie des Mittelalters 26 "Auf der Seite des Interpreten handelt es sich offenkundig um ein begründungstheoretisches Modernisierungsprogramm, das sich gleichzeitig anwendungstheoretisch in hohem Maße altprotestantisch verhält, indem es mit Hilfe ideenpolitischer Säkularisierungsbegriffe politische Ideale und Utopien einfordert, die zwar dem Gehalt, nicht aber der Form nach, in der sie vorgetragen werden, den Bedingungen moderner Gesellschaften entsprechen, wie sie sich systemtheoretisch entwickeln lassen." in: Sturm (Anm. 3). 27 Folgendes nach Steinkamp, 179; 199 ff. (Anm. 4).
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bestätigt die Vermutung, dass solche , Zweitstrukturen' älter als das 19. Jahrhundert sind. Allerdings wurden sie hier erstmals reflektiert, wenngleich in Kategorien, die sich in erster Linie damaliger theologischer Sprachformen bedienten und deshalb von vielen Zeitgenossen wie auch von einer späteren Konfessions- und Kirchengeschichte, die sozialwissenschaftliehe Denkmuster und Methoden lange vernachlässigte, nicht rezipiert wurden. - Kirche und Theologie werden sich freilich fragen, was dieses Ergebnis für sie und ,ihre' Diakonie austrägt? Vielleicht kann sich die Antwort auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber auseinander driftenden Entwicklungen im kirchlichen Milieu beziehen und mehr noch auf die Chance zur Überwindung der viel beklagten Theorielosigkeit diakonischen Handelns, die Luhmann ironisch als ,organisierten Okkasionalismus der Zuwendung zu den Armen und Benachteiligten' bezeichnet hat. 28 Jedenfalls ergeben sich daraus gewichtige Aspekte und Argumente für eine Neubewertung der Diakonie und ihrer kirchlichen wie gesellschaftlichen Funktion in den letzten 150 Jahren - und damit wäre angesichts der globalen Herausforderungen für die konfessionellen Organisationen in unseren dual konzipierten sozialen Sicherungssystemen zu Beginn des Millenniums schon viel gewonnen.
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Luhf1Ulnn, 120 (Anm. 4).
Die Zukunft der Sozialreligion und ihrer Organisationsformen Von Friedrich Fürstenberg Jede auf die Bundesrepublik bezogene religionssoziologische Analyse muss sich mit einem scheinbar widersprüchlichen Befund auseinander setzen. Eingebettet in einen fortbestehenden institutionellen Rahmen oder aber doch in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Form prägenden Kraft wird ,entinstitutionalisierte Religiosität' nicht nur als Randerscheinung wahrnehmbar. Gleichzeitig führen sozialreligiöse Solidaritätsforderungen und -erfahrungen zu neuen Organisationsformen. Die Amtskirchen bestehen mit ihrem Repräsentations- und Öffentlichkeitsanspruch fort. Sie mühen sich, individualisierte und privatisierte Religiosität ebenso zu integrieren wie Aktivgruppen, die auf gesellschaftliche Veränderung gerichtet sind. Sie tun dies insbesondere durch personale Dienstleistungen und soziale Gestaltungsimpulse.
I. Sozialreligion als Antwort auf säkulare Modernisierung Man kann die gegenwärtige Situation als Ergebnis eines Modernisierungsprozesses interpretieren, der zu einer umfassenden Säkularisierung von Bewusstseins- und Organisationsstrukturen geführt hat. Dies hat jedoch den ,religiösen Faktor' (G. Lenski) in seiner konfessionellen Ausprägung nicht verdrängt. Er hat lediglich die Sozialform seiner Wirksamkeit verändert. In Deutschland haben sich die konfessionellen Territorialkirchen mit ihren institutionellen Amtsstrukturen behauptet. Teils in Partnerschaft mit dem Staat, teils in kämpferischer Auseinandersetzung mit ihm, konnten sie allmählich weitgehende materielle Bestandsgarantien aushandeln. Auf dieser Grundlage, die als Volkskirchenprinzip ihre ideologische Überformung erhielt, wurden insbesondere im katholischen Bereich nach dem Verbandsprinzip "betont konfessionell geprägte Sonderinstitutionen für alle Lebensbereiche" 1 geschaffen. Es entstand eine spezifische Mischform von Volks- und Verbandskirche. Kirche repräsentierte als staatsgeschützte Insti1 Kar/ Gabriel/Franz-Xaver Kaufmann, Der Katholizismus in den deutschsprachigen Ländern, in: Gegenwartskunde SH 5 (1988), 153. 4 Gabriel (Hrsg.l
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tution die Glaubensmacht auch gegenüber dem nominellen Kirchenvolk und wirkte zugleich als Verband in wesentlichen gesellschaftlichen Belangen mit. Durch umfassende Milieubildung sollten geistliche Glaubensgemeinschaft und weltliche Solidargemeinschaft einander entsprechen. Im sozialen Katholizismus erreichte diese schon zur Jahrhundertwende ihre Idealform, während der als Staatskirche bis 1918 geschützte Protestantismus zunächst in organisatorischer Rückständigkeit verharrte? Johann Heinrich Wichems konservative Initiative zur Gründung der Inneren Mission legte zwar das Fundament verbandlieh organisierter kirchlicher Sozialhilfe, dies aber in deutlicher Distanz zu den Landeskirchen. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts hatte sich als Folge in der Bundesrepublik ansatzweise eine konfessionell differenzierte Sozialreligion christlicher Prägung mit folgenden Merkmalen etabliert: - Aufwertung der Sozialfunktionen mit entsprechender Schwerpunktverlagerung von der Seelsorge zur Fürsorge, vom Pastoral zur Diakonie. - Entinstitutionalisierung der individuellen Religiosität bei zunehmender Gemeinschaftsbindung öffentlicher Manifestationen, - eine Politisierungstendenz durch eine immer stärker auf die Gestaltung sozialer Wirklichkeit gerichtete Verkündigung bis hin zur Einsegnung von Ackerschleppen einerseits und Solidaritätserklärungen für rebellierende Freiheitskämpfer in Entwicklungsländern andererseits. Die Erfahrung der Kirchen, in einer säkularen Welt wirken zu müssen, führte zu einer allmählichen Einbettung ihrer Wertvorstellungen in säkulare Organisationsmuster nach dem jeweiligen Stand gesellschaftlicher Modemisierung. Dies entspricht durchaus einem christlichen Grundverständnis, das an die Stelle der Weltflucht das zu verantwortende Hineinwirken in die Welt setzt. Hierzu stellt Wolfgang Ockenfels für die katholische Kirche fest: "Wenn soziale, ökonomische und politische Strukturen heilsrelevant, also nicht gleichgültig für das Heilswirken sind, dann kann sich die Kirche nicht auf den privaten Bereich religiöser Innerlichkeit und Moralität zurückziehen".3 Aus protestantischer Sicht ist nach Eitert Herms darauf zu achten, "daß das evangelische Christentum zu einer Organisationsgestalt führt, durch die es als unverwechselbarer und zuverlässiger Faktor im gesellschaftlichen Leben erfahren werden und sich bewähren kann". 4 In dem Maße, in dem sich die Kirchen mit den Existenzproblemen ihrer Mitglieder solidarisch erklären, müssen sie sich auch mit Mitteln und Zwe2 Vgl. Eilert Herms, Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49 (1989), 17. 3 Wolfgang Ockenfels, Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49 (1989), 6. 4 Herms, 17 (Anm. 2).
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cken der Daseinsbewältigung auf den verschiedenen Handlungsebenen auseinandersetzen. Im Schwanken zwischen fundamentalistischem Rückzug auf starre Prinzipien und sozial innovatorischem Christentum hat sich bisher immer wieder eine prinzipielle Offenheit gegenüber den Forderungen, aber auch Gefährdungen des Tages durchgesetzt. Die Bereitschaft, diesen schwierigen Weg zu gehen, ist wahrscheinlich Voraussetzung für eine glaubwürdige Nachfolge Christi in der Gegenwart. Eine religionssoziologische Analyse der Fortentwicklung dieser von den Konfessionen vertretenen ,Sozialreligion' soll sich auf zwei wesentliche Manifestationen beschränken: den Verbandsaspekt, also im katholischen Bereich den sozialen Verbandskatholizismus, sowie den Bewegungsaspekt, also die katholische Sozialbewegung. Im Bereich des Protestantismus sind hierzu u. a. die Einrichtungen des Diakonischen Werks sowie gesellschaftpolitische Initiativen, z.B. im Rahmen der Kirchentage, zu nennen. Abschließend ist dann zu klären, inwieweit hierdurch angesichts fortdauernder gesellschaftlicher Strukturveränderungen eine konfessionelle Mobilisierung und Prägung des ,religiösen Faktors' stattfindet, so weit sich dies mit den Mitteln der Sozialforschung feststellen lässt. II. Sozialreligion und Verbandsprinzip Ansatzpunkte für die soziale Wirkung religiöser Überzeugungen sind die personalen, aber auch sozial vermittelten Problemsituationen in konkreten Lebensbereichen. Entsprechend einer Auffassung, die sie als ,Fügungen' und ,Prüfungen' erscheinen lässt, war die traditionelle Organisationsform von Hilfestellungen im kirchlichen Bereich vor allem die Seelsorge, ergänzt durch personale Fürsorge. Angesichts der massenhaften Entstabilisierung von Lebenslagen im 19. Jahrhundert als Folge gesellschaftlicher Umwälzungen im Industrialisierungsprozess wurde strukturwirksame Sozialpolitik erforderlich. Sie gliederte allmählich personale Diakonie in ein umfassendes Betreuungsnetz ein, unter der Voraussetzung, dass diese sich komplementär zu staatlichen Initiativen als ,freier Wohlfahrtsverband' organisiert. Hierdurch wurde die allmähliche Herausbildung eines sozialen Verbandskatholizismus entscheidend gefördert, der seinerseits die Entstehung des modernen Sozialstaats nicht unerheblich beeinflusst hat. Ähnlich wie die Geschichte der Inneren Mission zeigt auch die Geschichte des 1897 gegründeten Caritasverbands für das katholische Deutschland deutlich die lange Zeit zögernde Haltung der amtlich verfassten Kirche, hierfür ein eigenständiges Organisationsmodell zu schaffen. Die ,Proklamation' der Caritas als Diözesanverband der Erzdiözese Köln am 27.2.1916 durch den Erzbischof war nicht ein nachträgliches kirchenamtliches Placet sondern Zeichen, dass der Verband zur Erfüllung eines kirchen-
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amtlichen Auftrags oberhirtlieh errichtet worden ist. 5 Erst am 3.12.1927 erfolgte die Eintragung in das Vereinsregister, wobei dieser bürgerlichrechtliche Status "der kirchenrechtlichen consecration nur das Gewand, das für ihr Auftreten im weltlichen Rechtsverkehr [ ... ] erforderlich ist"6 verleihen sollte. Entscheidende Änderungen brachten das Bundessozialhilfegesetz vom 30.6.1961 und das Jugendwohlfahrtsgesetz vom 11.8.1961. Caritas und Diakonisches Werk wurden gleichsam staatlich geförderte und damit auch kontrollierte Organe einer nach dem Verbandsprinzip organisierten freien Wohlfahrtspflege. Die Mitwirkung der Kirchen wurde gesetzlich festgeschrieben, gleichzeitig aber auch dieser Wirkungsbereich staatlich geregelt. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Alltagspraxis sollen an einem Beispiel, der Diözesan-Arbeitsgemeinschaft der Heime und Ausbildungsstätten der katholischen Altenhilfe in der Erzdiözese Köln, veranschaulicht werden: "Das am I. Januar 1975 in Kraft getretene Gesetz über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime für Volljährige, dessen Ausführung gemäß Artikel 83 GG den Bundesländern obliegt und das nahezu alles im Heimwesen in staatliche Ordnung und Aufsichten zwängt (Heimaufsichtsverordnung, Erfordernisse der Heimverträge, Mitwirkung der Heimbewohner, Anzeige-, Buchführung- und Meldepflichten, Auskunft und Nachschau, Eignungsvoraussetzungen für Heimleiter und Heimpersonal u. a.), aber auch die Existenzsicherung der Häuser durch Pflegesätze, die mit den Kostenträgern ausgehandelt werden mußten, sind Gegenstände der Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlungen, natürlich auch hier, wie im Krankenhauswesen, das Eigene der katholischen Heime, wie es z. B. ein Referat ,Hilfe zur Sinnerkenntnis und Bewältigung des Alters - ein Dienst der Kirche an der Gesellschaft' zeigt."7
Grundlage dieser staatlichen Regelungsdichte ist zweifellos die Sicherung sozialstaatlicher Rechtsansprüche des Bürgers, die durch Einsatz von öffentlichen Finanzmitteln sicher gestellt werden. Das Ausmaß kirchlicher Abhängigkeit wird aus dem Bericht des Generalvikars zur Finanzlage des Erzbistums Köln vor dem Priesterrat am 24.11.1993 deutlich: In diesem Jahr wurden hier 17,83 % der Kirchensteuereinnahmen für soziale Dienste, davon 34,71 % für Caritasverbände, aufgewendet. Deren Kosten betrugen jedoch ein Mehrfaches dieser Mittel, woran sich der Staat durch Zuschüsse zu Bauinvestitionen und die Finanzierung des laufenden Betriebs nach dem Selbstkostendeckungsprinzip beteiligte. 3 Manfred Baldus, Gründung des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln e. V. - 1904, 1916 oder wann?, in: Norbert Feldhoff/Alfred Dünner (Hrsg.), Die verbandliehe Caritas, Freiburg i. B. 1991, 15. 6 Baldus, 16 (Anm. 5). 7 Bruno Splett, Zur Chronik des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln, Köln 1987, 150.
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Diese Verbindung von verhandlicher Organisation und sozialstaatlicher Funktion hat nach Waller Fürst zu einem ,brisanten Antagonismus' von Diakonie und Pastoral geführt. Die eigenen, professionalisierten Organisationsstrukturen der Diakonie gefahrden aus theologischer Sicht einerseits die Identität von Christentum und Kirche, andererseits sind sie die Möglichkeitsbedingung gesellschaftlicher Relevanz des Glaubens. 8 Die Synthese von Professionalität und Konfessionalität, die auch das Diakonische Werk anstrebt, gleicht eher einem permanenten Spannungszustand, der auch zu kreativen Lösungen anregt. Die Problematik einer zum Zwecke gesellschaftlicher Wirksamkeit verbandsmäßig organisierten Sozialreligion, eines ,Christentums in der Öffentlichkeit', liegt aber nicht allein in der möglichen Instrumentalisierung im Rahmen staatlich regulierter und weitgehend finanzierter Sozialprogramme. Sie entsteht auch durch die Bindung an Organisationsformen, die im Verlauf des gesellschaftlichen Strukturwandels obsolet werden können, so dass ursprüngliche Intention und tatsächliche Wirkung nicht mehr einander entsprechen. Auch dies kann am Beispiel karitativer Einrichtungen und Aktivitäten gezeigt werden. Max Webers warnender Hinweis auf das ,eherne Gehäuse der Hörigkeit' als Ergebnis der Bürokratisierung gilt auch für die Versuche, Mitmenschlichkeit gleichsam "systemisch" zu organisieren. Sie werden durch verstärkte Markt· und Wettbewerbsorientierung eher gefördert. Die ursprüngliche christliche Liebestätigkeit in der Form personaler Fürsorge wurde, wie schon erwähnt, angesichts der Notwendigkeit einer umfassenden Stabilisierung in das staatliche System sozialer Sicherung integriert. Je weniger Einkommenssicherung und bürokratische Versorgungsmechanismen allein zur individuellen Wohlfahrtssicherung und ·Steigerung ausreichten, desto wichtiger wurden jenseits von Markt und Staat Förderungs- und Betreuungsmaßnahmen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Gerade die kirchlichen Einrichtungen boten sich für diese Lebenshilfe in personalen Bezügen an. Entscheidend für das gegenwärtige Problembewusstsein wurde aber die Erkenntnis, dass Hilfen zur Verbesserung von Lebenslagen letztlich durch Selbsthilfe, durch soziale Aktivierung abgelöst werden müssen, die die Betroffenen zur Wahrnehmung von Chancen motiviert. Soziale Aktivierung beinhaltet aber stets größere Selbstbestimmung und auch Selbstverantwortung. Hierin liegt eine grundlegende Herausforderung der herkömmlichen, zu Großorganisationen zusammengeschlossenen Diakonie. Traditionelle Aufgabenkreise der sozialen Fürsorge und der sozialen Sicherung sind zwar weiterhin notwendig, aber nicht hinreichend. Die Gründe hierfür 8 Walter Fürst, Pastorale Diakonie - Diakonische Pastoral. Eine Zauberformel für die Bewährung der Kirche in der modernen Gesellschaft?, in: Norbert Feldhoff/ Alfred Dünner (Hrsg.), Die verbandliehe Caritas, Freiburg i. B. 1991, 55.
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liegen nicht allein in den sichtbaren Grenzen der Finanzierbarkeit, sondern auch in einem Wandel im säkularen Bewusstsein der , Weltchristen', das sich auf Handlungsinitiativen in Lebensformen richtet, die Freiräume für Selbsterfahrung und Schutz gegen deren ideologische Vereinnahmung sowie Chancen für eine dialogische Kommunikation bieten. Dies alles ist in hierarchisch geleiteten Versorgungs- und Betreuungsmodellen nicht gegeben. Die Diskussion über ein entwicklungsorientiertes Sozialmanagement,9 das den Leistungsprozess durch Sinnvermittlung qualifiziert und eine lernfähige Organisation ermöglicht, ist im Gange. In diese Richtung weist auch das vom Diakonischen Werk vertretene Leitbild der partizipationsorientierten ,Dienstgemeinschaft'. Aus religionssoziologischer Sicht lässt sich die These aufstellen, dass in der kirchlich verfassten Sozialreligion nicht nur die Seelsorge, sondern auch die Fürsorge als Diakonie mit einem bisher nicht bewältigten Grundproblem konfrontiert wird. Die Modemisierung hat nicht allein die Institutionen und Organisationsformen und damit die Handlungsfelder der Individuen erreicht, sondern auch deren Handlungsorientierungen und Handlungsstrategien. Dies ist zwar schon seit langem bekannt und wird nicht ganz zutreffend unter dem Schlagwort ,Individualisierung' permanent diskutiert. Hinter diesem Etikett verbirgt sich aber die soziologisch ebenso wichtige Frage nach dem Handlungsspielraum, den modernen Menschen suchen und beanspruchen und den sie nach eigener Entscheidung sinnvoll gestalten wollen. "Der Anspruch der Kirchen, Normen aufzustellen, die über den engeren Bereich der religiösen Überzeugungen und religiösen Praxis hinausreichen und in das private und gesellschaftliche Leben eingreifen, wird von der Bevölkerung zunehmend zurückgewiesen" .10 Aus dieser Sicht werden Institutions- und Organisationsleistungen zu Angeboten, die angenommen bzw. akzeptiert werden müssen. Die volle Tragweite dieser Trends wird den Amtsträgem der Sozialreligion erst allmählich bewusst und dabei eher als Risiko für die Bestandserhaltung denn als Chance für die Revitalisierung erstarrter Strukturen interpretiert. Bezogen auf die Diakonie als wichtigstes Fundament eines sozialen Verbandschristentums lassen sich folgende Problemfelder charakterisieren, deren organisatorische Gestaltung die Zukunft der kirchlich institutionalisierten Sozialreligion wesentlich prägen wird: - Karitatives Handeln als Lebenshilfe kann sich nicht nur als rein fürsorgliche Betreuung zur Verminderung von Lebensrisiken und Lebensängsten 9 Rüdiger Klimecki/Hans Nokielski, Sozialmanagement-Innovationszwang und Entwicklungspotentiale von Wohlfahrtsverbänden, in: Caritas 94 (1993), 40-51. 10 Renate Köcher, Wandel des religiösen Bewußtseins in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gegenwartskunde SH 5 (1988), 150 f.
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verstehen. Es geht auch um die Partnerschaft mit ,mündigen Weltchristen ', die sozialpädagogische Orientierungs- und Anpassungshilfen brauchen, um in kritischer Distanz gegenüber der manipulierenden Umwelt einen gestaltenden Einfluss auf die Situation nehmen zu können. In diesem Sinne wäre auch das Leitbild der Anwaltschaft zu interpretieren, die, wo immer möglich, als Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen ist. - Eine derartige Aktivierung ist nur möglich, wenn auch im institutionellen Rahmen die Chance zur Mitwirkung gegeben wird. Wer an seiner Gestaltung nicht teilhat, fühlt sich auch nicht für dessen Aufrechterhaltung mitverantwortlich. Das Ziel der Aktivierung und Mitwirkung wird jedoch nicht durch Proklamationen und Verwaltungsakte erreicht. Es ist gerade angesichts der offenkundigen Individualisierungstendenz zur Abwehr sozialer Isolierung eine solidarische Gemeinschaftserfahrung unumgänglich, die den Menschen handlungsfähig macht. Dies setzt voraus, dass er seine Situation erkennt, dass er einen Handlungsspielraum erhält, und dass ihm Orientierungsmaßnahmen und Verhaltensmuster angeboten werden. Fehlen diese Voraussetzungen, werden soziale Werke weiterhin für die Betroffenen administrativ geregelt mit den bekannten Entfremdungserscheinungen. Die Einrede, Selbstständigkeit werde häufig nicht gewünscht, verkennt den im christlichen Menschenbild begründeten Auftrag, als Person zu handeln. - Je mehr der Mensch von institutionellen Hilfestellungen und ordnenden Eingriffen abhängig wird, desto schwieriger ist es für ihn, sich selbst nicht als Spielball übergeordneter Kräfte, sondern als eigenverantwortliche Person zu erfahren. Selbst- und fremdverschuldete Unmündigkeit sind ebenso wenig eine tragfähige Basis für moderne Kirchenfrömmigkeit wie immanente Kontingenzerfahrungen auf Grund eines Institutionenversagens. Insofern ist es geradezu eine Tragik der kirchlichen Sozialverbände, dass es angesichts staatlicher Regulierung immer schwieriger wird, mit ihrer Hilfe persönliche Lebensräume zu schaffen, in denen realistische Einschätzungen der eigenen Situation auch zu deren Bewältigung, und zwar als Eigenleistung des Individuums führen. Ein bürokratisch verwaltetes Subventionssystem wäre also in ein umfassenderes, auf Wahlfreiheit basierendes Förderungssystem zu verwandeln. In ihm müssten christliche Solidargemeinschaften im Sinne individuell wahrnehmbarer Mitmenschlichkeit eine Chance haben. Dies ist die vielleicht größte Herausforderung für eine Reform der Diakonie in institutionell verfassten und gesicherten, aber zunehmend nach dem Verbandsprinzip handelnden Kirchen.
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111. Sozialreligion und soziale Bewegung In dem Maße, in dem sich im Verlauf der Modernisierung Religiosität immer weniger in traditionell institutionalisierte Verhaltensmuster, insbesondere Kirchlichkeit einbetten ließ, wurde nach Äquivalenten bzw. Stützen kirchlicher Bindung gesucht. Sie sollten zugleich eine gesellschaftliche Aktivierung bewirken, einmal, um die zunehmend segmentierte Lebenswelt zu erfassen, zum anderen, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Als Folge entstand die katholische Sozialbewegung auf der Grundlage einer sozialethischen Verkündigung. Zwar handelte es sich "bei den päpstlichen Enzykliken und bischöflichen Hirtenworten (... ) um praxisbezogene, rahmenhafte Orientierungen, welche die Richtung anzeigen, in der konkrete Lösungen zu suchen sind". 11 Aber die Systematisierung dieser Orientierungsimpulse zur katholischen Soziallehre ist trotz der hierbei manifest werdenden Interpretationsunterschiede doch ein hinreichend geschlossenes Fundament für gesellschaftspolitische Initiativen in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehrmeinung. Im Protestantismus fehlt diese Voraussetzung, so dass gesellschaftspolitisches Handeln weniger an langfristige Strategien und stärker an aktuelle Entscheidungssituationen gekoppelt ist. Ein Beispiel sind die Kirchentage, die als "Einübungen in die Weltverantwortung des Christen" 12 interpretiert werden. Der Rückgang institutioneller Prägekraft im traditionell kirchlichen Raum wurde auf diese Weise kompensiert durch institutionell kontrollierte und integrierte, auf die Gesellschaftsgestaltung gerichtete Aktivitäten. Als Folge entstanden Ausprägungen einer meist verbandlieh organisierten Sozialbewegung mit dem Ziel gesellschaftlicher Strukturanpassungen und -Veränderungen. Hierzu zählen der Volksverein für das katholische Deutschland und die Katholische Aktion. Für die Gegenwart sind z. B. die Katholische Arbeitnehmerbewegung, das Kolpingwerk, die Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung und der Bund Katholischer Unternehmer, aber auch zahlreiche kirchliche Initiativgruppen zu nennen. Offensichtlich versteht sich auch der Caritas- Verband als "Bewegungsorganisation". 13 Diese Vereinigungen tragen in dem Maße Bewegungscharakter, in dem sie innerweltlichen Sozialaktivismus zeigen. Sie sind aber auch in dem Maße Manifestationen einer Sozialreligion, in dem sie durch kirchlich bestimmte Deutungsschemata und Handlungsmaximen legitimiert werden.
Ockenfels, 8 (Anm. 3). Jürgen Gohde, Konfessionalität und Professionalität-Bericht über die Diakonische Konferenz 13.-15.10.1997 in Bremen, in: Diakonie-Korrespondenz 6 (1997), 3. 13 Kar/ Gabriel, Funktion der verbandliehen Caritas im Postkatholizismus, in: Caritas 91 (1990), 575. 11
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Wo sich der institutionelle Einfluss nicht zur katholischen Soziallehre verfestigen konnte, entstanden Formen einer politischen Theologie, die wie in der sogenannten Theologie der Befreiung direkte Affinität zu gesellschaftspolitischen Bewegungen zeigten und von deren immanenter Dynamik erfasst wurden. Dementsprechend trat dann die Einbindung in eine noch durch transzendentale Bezüge geformte Sozialreligion zurück. Deren organisationssoziologisches Dilemma zeigt sich sowohl darin, dass sie nicht als permanente Revolution stabilisierbar ist, dass sie aber auch nicht auf der Grundlage affirmativ auf die Gegenwart bezogener Lehrmeinungen in die Zukunft wirken kann. Letzteres zeigt sich in dem deutlich wahrzunehmenden Widerspruch von Wert- und Sachkompetenz, auf den Ockenfels hingewiesen hat. 14 Religiös fundierte Sozialbewegungen können sich durch Berufung auf die kirchliche Wertkompetenz stabilisieren. Sie benötigen zur erfolgreichen Problembewältigung aber auch situationsadäquate Sachkompetenz, die dem sozialen Wandel unterliegt. Das jeweilige Verhalten wird so zu einer Gratwanderung zwischen Prinzipientreue im Sinne der Wertkonformität und einem gegebenenfalls sogar opportunistischen Pragmatismus, der Wertstrukturen aus erfahrungswissenschaftlicher Perspektive relativiert. Auch religiös motiviertes Handeln in der Welt bleibt letztlich an die Bedingungen sozialer Wirksamkeit gebunden. Die sozialreligiöse Prägung sozialer Bewegungen ist allerdings nicht erst ein Phänomen der Moderne, wie z. B. die Religionsgeschichte des Mittelalters zeigt. Neu ist hingegen die Konkurtenzsituation, in der die Kirchen hinsichtlich ihrer Legitimationsfunktion mit rein innerweltlich ausgerichteten Weltanschauungen stehen. Diese Konkurrenzsituation wirkt sich besonders im Hinblick auf die mögliche Sozialbindung der sogenannten , vagabundierenden Religiosität' aus. Mit diesem Ausdruck habe ich 1982 den Versuch der Wertbindung ohne Orientierung an tradierten Verhaltensmustern gekennzeichnet, die z. B. als rudimentäre Privatreligion oder aber als Elemente neu entstehender ,Diesseitsreligionen' nachweisbar sind. 15 Konfessionelle Sozialbewegungen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind auch ein Versuch, vagabundierende Religiosität wieder zu integrieren. Hierbei konkurrieren sie mit innerweltlichen Deutungsschemata und Zielkonzepten, die in klassischer Form z. B. des Liberalismus und Sozialismus auch als Säkularisate fragmentierter christlicher Wertvorstellungen interpretierbar sind. Inzwischen haben sich Ockenfels, 9 (Anm. 3). Friedrich Fürstenberg, Der Trend zur Sozialreligion, in: Bodo G. Gernper (Hrsg.), Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung. Für Kar! Klein zum 70. Geburtstag, Siegen 1982, 271-284. 14
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aber gesellschaftsbezogene Zielvorstellungen vor einem global erfahrenen Problemhorizont immer stärker segmentiert und von übergreifenden Weltanschauungen gelöst. Beispiele sind die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung. Diese neuen sozialen Bewegungen werden durch Aussonderung und Absolutsetzung von Partialaspekten wirksam und widerstehen durch diese einseitige Orientierung einer sozialreligiösen Integration. Denn jede Relativierung ihres Anliegens im Rahmen einer umfassenden Wertstruktur, z. B. eines christlich geformten Menschenbilds, mindert zunächst den zugleich totalen und eindimensionalen Wirkungsanspruch. Hierauf beruht das vielleicht gegenwärtig größte Dilemma der Sozialreligion christlicher Prägung: einerseits die Vereinnahmung durch partielle politische Programme bzw. rasch sich ändernde ,Forderungen des Tages' zu vermeiden, andererseits die soziale Dynamik der Zeit aufzufangen. Als ein Ausweg bietet sich die Anerkennung des , mündigen Weltchristen' an, der eigenverantwortlich Problemsituationen bestehen muss, trotzdem aber nicht ohne Rückbindung an die Glaubensgemeinde bleibt, die auch für unterschiedliche Meinungen und Interessen vertretende Teilnehmer offen bleibt. Dies würde eine organisatorische Verankerung von Toleranzmustern bedingen, die sich erst ansatzweise zeigen. IV. Grenzen der Organisierbarkeil des ,religiösen Faktors' Die Zukunft der Sozialreligion hängt zweifellos von der Gestaltbarkeil konfessioneller Verbände und Bewegungen ab. Sie betrifft einerseits deren Wert- und Zielbindung, andererseits deren immanente Problemlösungskompetenz. Insofern kommt jeder sozialreligiösen Ausformung zwar zentrale Bedeutung als Manifestation der innerweltlichen Wirksamkeit von Glaubenshaltungen zu. Der Kern der Glaubenswirklichkeit ist aber nicht in diesen Aktivitäten zu suchen, er entzieht sich auch der empirischen Erfassung. Wenn in der Gegenwart den sozialreligiösen Phänomenen besondere Bedeutsamkeit zukommt, so muss doch einschränkend darauf hingewiesen werden, dass hierin auch die gegenwärtige Hochschätzung öffentlicher Präsenz und Partizipation zum Ausdruck gelangt. Je mehr sich Insititutionenschwäche zeigt, desto wichtiger wird organisierte Mitgliederpartizipation und -repräsentanz. Hierfür bietet sich insbesondere das Feld sozialpolitischer Initiativen an. Ein Beispiel hierfür ist der Aufruf der katholischen Deutschen Bischofskonferenz vom 29.10.1998 an die Tarifparteien zur weiteren Lohnzurückhaltung. Diese Aktivierung des ,religiösen Faktors' im Sinne erwünschter Verhaltensweisen ist aber begrenzt auf spezifische Anlässe und Problemsituationen. Christliche Verkündigung und Lebensführung hingegen zielt auf die menschliche Existenz schlechthin. Es ist also zu fragen, ob Sozialreligion in ihren wahrnehmbaren Organisationsformen
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diesen sinngebenden Hintergrund im Rahmen einer "kirchlichen Zweitstruktur"16 oder "Sozialkirche" 17 widerspiegelt, oder ob sie nur dessen Surrogat bzw. dessen letztlich doch säkularisierende Reduktion ist. Ein möglicher Indikator ist die Rückbindung sozialreligiöser Aktivitäten an den kirchlichen Verkündigungsauftrag. Das Maß hierfür ist aber nicht die Erfassbarkeit durch zweckmäßige Organisation sondern die freiwillige Hinwendung durch Teilhabe. Mit anderen Worten: Der ,religiöse Faktor' ist nur begrenzt organisierbar. So wie die Aktivierung des Individuums im Modernisierungsprozess noch nicht die eigenverantwortlich handelnde Person hervorgebracht hat, so wenig sind die Aktivierung des Kirchenvolks und seine organisatorische Betreuung für sich genommen schon Indiz eines lebendigen Glaubens. Allerdings öffnen die Organisationsformen der Sozialreligion trotz ihrer immanenten Problematik doch den sonst verschlossenen Weg zu über-individuell konstitutierten, aber den Einzelnen durchaus betreffenden Problemfeldern, in denen sich mitmenschliche Solidarität erweisen muss. Insofern ist eine Zukunft der Religion auch nicht ohne sozialreligiöse Aktivierung vorstellbar. Sozialgeschichte und soziale Gegenwart zeigen, dass hier auch der Ursprung wesentlicher sozialer Innovationen liegt, sowohl im Sinne der Entdeckung und Vermittlung von Problemlagen, als auch in der Form von Initiativen, die schließlich Vorbild für generelle Problemlösungen wurden. Gerade auf dem Feld der Sozial- und Gesellschaftspolitik begegnen die Konfessionen ihrem eigenen Säkularisat: Die , Sozialreligion' ist, zumindest in Teilbereichen ihrer Wirksamkeit, auch auf dem Wege, sich in einem kirchlich unspezifischen sozialkulturellen Grundkonsens zu manifestieren. Dies mag als Erweiterung oder als Nivellierung verstanden werden.
16 Hermann Steinkamp, Diakonie als ,Kirchliche Zweitstruktur' - Thesen, in: DCV Materialien lO (1987), 34-39. 17 Michael N. Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt? Zum Wandel der Sozialgestalt der Kirchen, Frankfurt/M. 1998.
Die soziale Herausforderung des Sozialstaats und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Von Kar! Gabriel
I. Einleitung Von ihren Urspriingen her sind die kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland eng mit dem Erstarken der Konfessionen im 19. Jahrhundert und ihren Ausprägungen als Bewegungen - in der heutigen Terminologie würden wir sagen - für personenbezogene Dienstleistungen verbunden. 1 Pauperisierung und Proletarisierung weiter Teile der Bevölkerung riefen unter den Christen die Reaktion hervor, die bis dahin geltenden ständischen Schranken der Hilfeverpflichtung zu überschreiten und neue Anstrengungen zur Linderung und Beseitigung der Not zu initiieren. Im Katholizismus waren es neben den karitativen Orden und den auf spezielle Nöte und Gruppen ausgerichteten Anstaltsgriindungen Vereine, die sich zur Linderung konkreter Not zusammenschlossen. Parallele Prozesse im Protestantismus lassen sich leicht identifizieren. Die Wahl der modernen bürgerlichen Rechtsform des Vereins in beiden Kirchen wie ihre schnelle und spontane Verbreitung verweisen auf das Bewegungselement im kirchlichen Aufbruch des 19. Jahrhunderts. Die Vereine repräsentierten eine kirchlich gebundene private Wohltätigkeitsbewegung im Gegenüber zur öffentlichen Armenhilfe? 1 Hierzu und zum Folgenden siehe: Erwin Gatz (Hrsg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. V Caritas und soziale Dienste, Freiburg i.Br. 1997, 39-112; Josef Mooser, Das katholische Milieu in der bürgerlichen Gesellschaft. Zum Vereinswesen des Katholizismus im späten Deutschen Kaiserreich, in: Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.), Religion im Kaiserreich, Gütersloh 1996, 59-92; Ewald Frie, Zwischen Katholizismus und Wohlfahrtsstaat. Skizze einer Verbandsgeschichte der Deutschen Caritas, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 38 (1997), 2142. Zu Vorarbeiten für diesen Abschnitt siehe: Kar/ Gabriel, Caritas - Teil der Sozialbewegung?, in: Eugen Baidas u. a. (Hrsg.), Meinungsbild Caritas. Die Allensbacher Studien zum Leitbildprozeß. Perspektiven Bd. 2, Freiburg 1997, 134 f.; Karl Gabriel, Caritas als Teil der Sozialbewegung, in: Caritas. Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft 100 (1999), 4-10. 2 Christoph Sachße, Verein, Verband und Wohlfahrtsstaat: Entstehung und Entwicklung der "dualen" Wohlfahrtspflege, in: Thomas Rauschenbach u. a. (Hrsg.),
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Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein dominierte in beiden Kirchen die Auffassung, die aus der Balance geratene Gesellschaft und ihre Notlagen ließen sich allein durch das christliche Hilfeengagement beheben. Das letzte Drittel des Jahrhunderts war dadurch geprägt, dass die christlichen Sozialbewegungen näher an die sozialreformerischen Strömungen heranrückten, die neben der Gesinnungsreform und der helfenden Tat auch die Zuständereform zur Lösung der sozialen Frage zum Programm machten. Die kirchlich gebundene private Wohltätigkeitsbewegung mündete am Ende des Jahrhunderts in komplex gegliederte Bewegungsorganisationen ein. Sie behaupteten für die private, kirchliche Wohltätigkeit ein eigenes, von der Staatstätigkeit freies Feld. Auf diesem Weg wurden die kirchlichen Wohlfahrtsbewegungen zu Stützpfeilern des spezifisch deutschen Wegs in eine "duale Wohlfahrtspflege"3 . Auf dem skizzierten historischen Hintergrund stellt sich heute - etwa im gegenwärtigen Prozess der verbandliehen ldentitätsvergewisserung - die Frage, welche Rolle dem Bewegungselement der Verbände heute zuzukommen vermag. Der Kontext der Frage hat sich dabei tiefgreifend verändert. Der entfaltete Sozialstaat von heute sieht sich einer weit reichenden "sozialen Herausforderung"4 gegenüber. Sie zwingt die kirchlichen Wohlfahrtsverbände zu einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Bewegungselement in ihrer Geschichte und ihren Selbstvergewisserungsdiskursen. Was macht - so möchte ich zunächst fragen - die "soziale Herausforderung" des entfalteten Sozialstaats heute aus?
II. Die soziale Herausforderung des Sozialstaats 1. (Markt-)Wirtschaft und (Sozial-)Staat: Eine verengte Perspektive
Der entfaltete Sozialstaat von heute birgt die Gefahr in sich, einer auf zwei Pole verkürzten Ordnungsvorstellung Vorschub zu leisten. 5 Der soziale Staat tritt dort auf den Plan, wo das Versagen einer marktwirtschaftliehen Ordnung zu kompensieren ist. Der Markt schafft Ungleichgewichte und Abhängigkeiten zwischen Kapital und Arbeit, die sozialstaatlich domestiziert werden müssen. Er führt zu Verteilungsergebnissen, die der Korrektur durch eine zweite sozialstaatliche Einkommensverteilung bedürfen. Und: Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen, Frankfurt a. M. 1995, 125-130. 3 Sachße, 130-134 (Anm. 2). 4 Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a. M. 1997, 99-113. 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Wamfried Dettling, Politik und Lebenswelt Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Gütersloh 1995, 61 ff.
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Der Markt greift notwendigerweise auf ein Humanvermögen zurück, dessen Herstellung sozialstaatlich gesichert werden muss. Kommt man nicht umhin, neben dem Marktversagen auch ein Staatsversagen zu konstatieren, so wiederholt sich im Rahmen des dualistischen Ordnungsmodells das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen. Wo der Staat versagt, bedarf es des Marktes, der Privatisierung und Deregulierung als Allheilmittel für das Staatsversagen. Nur ein von sozialstaatliehen Regulierungen möglichst freier Arbeitsmarkt - so heißt es dann -, vermag wieder Vollbeschäftigung zu schaffen. Verkrustete sozialstaatliche Einkommensverteilungen und Dienstleistungsproduktionen - so in der Logik des ordnungspolitischen Dualismus von Markt und Staat - können nur durch mehr Markt aufgebrochen und zu neuen Anpassungen gezwungen werden. Auf Markt und Staat konzentriert bleibt ein "dritter Sektor" außerhalb der Wahrnehmung: nämlich all jene Beiträge zur Wohlfahrtsproduktion, die weder über einen Markttausch, noch über die Einräumung sozialstaatlicher Rechte zu Stande kommen. 6 Lässt man den ordnungspolitischen Dualismus hinter sich, wird erkennbar: Jenseits von Markt und Staat existiert eine überraschende Vielfalt von Aktivitäten, die Wohlbefinden und Wohlfahrt hervorbringen. Sie werden nicht in entgeltlichten Beschäftigungsverhältnissen erbracht und gehen deshalb auch nicht in die Berechnung des Sozialprodukts ein. Die Heterogenität wird schon in den vielen Begriffen deutlich, die in den letzten Jahren für diesen "dritten Sektor" in Umlauf gekommen sind: Haushaltsproduktion, informeller Sektor, non-profit Sector, nicht-professioneller Hilfesektor, Selbsthilfe, freiwillige Fremdhilfe, Hilfebewegung. 7 Es geht im Kern um jenseits von Markt und Staat aus der Gesellschaft selbst kommende Aktivitäten, die, würden sie nicht unentgeltlich, informell, in Selbsthilfe bzw. wechselseitiger Fremdhilfe erbracht, durch Markttausch oder sozialstaatliche Leistungen sicher gestellt werden müssten. 2. Selbsthilfe und Haushaltsproduktion: Der Entdeckungszusammenhang des "dritten Sektors" durch die Selbsthilfe- und Frauenbewegung
In das Bewusstsein der Öffentlichkeit wie der Sozialpolitik rückte der "dritte Sektor" erst in den 80er Jahren, als die Selbsthilfebewegung auf die Schwächen und Grenzen des öffentlichen Dienstleistungsystems mit Nach6 Zur Diskussion um den "dritten Sektor" siehe neuerdings: Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.), Dritter Sektor - Dritte Kraft. Versuch einer Standortbestimmung, Düsseldorf 1998; Helmut K. Anheier u. a. (Hrsg.), Der Dritte Sektor in Deutschland. Organisationen zwischen Staat und Markt im gesellschaftlichen Wandel, Berlin 1998. 7 Kaufmann, 99 (Anm. 4 ).
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druck aufmerksam machte. Im Laufe der 80er Jahre bildeten sich bis zu 45.000 Selbsthilfegruppen in der Bundesrepublik Deutschland, die ihren Schwerpunkt in der Bewältigung psycho-sozialer und gesundheitsbezogener Probleme hatten. 8 Es zeigte sich, dass viele mit den modernisierten Lebensweisen verbundenen psycho-sozialen Problemlagen im ausdifferenzierten und professionalisierten Hilfesystem des Sozialstaats keine Bewältigung fanden. Die Kritik richtete sich gegen eine zu weit getriebene Verrechtlichung der Hilfe, gegen die Bürokratisierung der Hilfestrukturen und gegen eine einseitige Professionalisierung der Hilfe ohne angemessene Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen. Die Selbsthilfebewegung brachte ins öffentliche Bewusstsein, was bis dahin an den Rand gedrängt wurde: die Grenzen formeller, professionalisierter Hilfe und die unverzichtbare soziale Dimension in der Bewältigung von Problemlagen. 9 Sicherheit im Sinne von Geborgenheit - so drang nun ins Bewusstsein übersteigt die Möglichkeiten der Institutionen sozialer Sicherung und hängt entscheidend von der Einbindung in unterstützende Gruppen und Netzwerke ab. Professionelle Helfer tun sich schwer, die Eigenkompetenz von Betroffenen angemessen zu stärken und stehen damit leicht ihrer sozialen Aktivierung und der Erweiterung ihrer Fähigkeiten der Problembewältigung im Wege. Es wurde deutlich, wie stark die positive Nutzung des professionellen Hilfesystems für die Betroffenen von deren vorgängiger Einbindung in ein nichtprofessionelles, alltägliches Unterstützungsnetz abhängen. Damit kam zum ersten Mal pointiert ans Licht, dass die geld-, insbesondere aber die personenbezogenen Dienstleistungen des sozialstaatliehen Hilfesystems es mit sozialen Zusammenhängen zu tun haben, ohne deren Berücksichtigung die sozialstaatliche Hilfe nicht nur in Gefahr ist, ihr Ziel zu verfehlen, sondern sogar eher kontraproduktive Wirkungen hervorzurufen geneigt ist. Nachdem die Selbsthilfebewegung gewissermaßen das Eis gebrochen hatte, war es vornehmlich die Frauenbewegung, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine zweite Sphäre lenkte, die ebenfalls dem sozialstaat8 Karl-Otto Hondrich/Claudia Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, 52; Wolfgang Thiel, Selbsthilfe als Fremdhilfe. Über Struktur und Bedeutung der Arbeit von Selbsthilfegruppen, in: Strachwitz (Hrsg.), 327-347 (Anm. 6). 9 Ralf G. Heinze/Heiner Keupp, Gesellschaftliche Bedeutung von Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit Gutachten im Auftrag der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, in: Kornmission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Bd. 3 Zukunft der Arbeit sowie Entkoppelung von Erwerbsarbeit und soziale Sicherung, München/Dresden 1998, 129 ff.; Kar/ Gabriel, Krankheitsbewältigung in Gemeinschaft. Die soziale Dimension von Gesundheit und Krankheit aus soziologischer und medizinhistorischer Sicht, in: Günter Koch/Josef Pretscher (Hrsg.), Heilende Gemeinschaft, Würzburg 1996, 43 ff.
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liehen Handeln voraus liegt: die familiale Wohlfahrtsproduktion. Beim Aufbau und der Erhaltung des Humanvermögens bringen Familien jährlich unentgeltlich Leistungen, die, wenn man sie denn in Geldwert umrechnet, die unvorstellbare Summe von ca. DM 12 Billionen ergäben. 10 Auch hat die Forschung der letzten Jahre gezeigt, dass der engere Familienkontext nach wie vor das wichtigste Zentrum wechselseitiger Hilfe darstellt. 11 Im Krisenfall helfen in erster Linie die einer Haushaltsgemeinschaft angehörenden Personen einander. Durchweg zeigt sich, dass unter den hilfegebenden Personen eindeutig die Frauen dominieren, während die Männer stärker die Hilfeempfangenden sind. Brauchen ältere Menschen für bestimmte alltägliche Verrichtungen Hilfe, können sie sie am ehesten aus der engeren Familie erwarten. Tritt Pflegebedürftigkeit ein, so werden nicht selten zuvor getrennte Haushalte wieder zusammengelegt. In Umrissen wird damit erkennbar, vor welch ausweglosen Problemen die sozialstaatliche Dienstleistungserbringung stünde, wenn sie nicht mehr auf die unentgeltlichen Leistungen der Haushalte und Familien in der Wohlfahrtsproduktion rechnen könnte. Die Vorstellung, man könne den familialen Zusammenhalt als Lastenesel nutzen, um in Krisenzeiten sich von öffentlichen Leistungen entlasten zu können, trügt. Angesichts der Veränderungen in den Lebenskonzepten von Frauen - darauf weist auch der 5. Familienbericht hin - wird es ohne eine neue Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu Einbrüchen in der familialen Wohlfahrtsproduktion kommen. 12 Dabei dürfte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Schlüsselproblem für den Fortbestand der Leistungen der Familien sein. Fraglich werden aber auch Leitbilder und Ideale einer möglichst ungebundenen Lebensführung, wie sie gegenwärtig gerade die Herrschenden in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medienwelt vordemonstrieren und damit die kulturellen Ressourcen der Wohlfahrtsproduktion untergraben. 13 3. Wohlfahrtspluralismus als Herausforderung
Hat man die Wohlfahrtsproduktion als Ganze im Blick, so geht es um das Zusammenspiel von mindestens vier unterschiedlichen Produzenten von 10 M. Hi/zenbrecher, Die schattenwirtschaftliche Wertschöpfung der Heimarbeit, in: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik 201 (1986), 107-130; Kaufmann, 101 (Anm. 4). 11 Zu einem Überblick siehe: Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland, München 1995, 59-63. 12 Fünfter Familienbericht Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland - Zukunft des Humanvennögens, Bonn 1994. 13 Rosemarie von Schweitzer, Geschlechtersolidarität und Modernität in der Familienforschung, in: Gabrief u. a. (Hrsg.), Modernität und Solidarität. FS Kaufmann. Freiburg 1997, 52 f.
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Wohlfahrtsleistungen. 14 Als Erstes geht es um die Relation zur informellen Basis der Wohlfahrtsproduktion. Ohne Bezug zu den in Familien, Selbsthilfegruppen und sonstigen informellen Zusammenschlüssen unentgeltlich erbrachten Leistungen bewegt sich der Sozialstaat wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Die sozialstaatliche Intervention muss Rücksicht nehmen auf die Eigendynamiken informeller Beziehungen und in ihrer Stützung und Förderung eine wichtige Aufgabe sehen. In der Gegenseitigkeit unmittelbarer, solidarischer Beziehungen und Netzwerke hat der Sozialstaat seinen lange in Vergessenheit geratenen Grund, seinen festen Boden, ohne den er eine nutzlose, ja kontraproduktive Veranstaltung zu werden droht. Die Einsichten in die komplexen sozialen Voraussetzungen der Wohlfahrtsproduktion haben dem Prinzip der Subsidiarität in den letzten Jahren auch dort zu einer breiten Renaissance verholfen, wo man ihm früher distanziert und verständnislos gegenüberstand. 15 Allerdings wird man gerade in der Relation vom Sozialstaat zu seiner informellen Basis die Doppelseitigkeit des Prinzips nicht aus den Augen verlieren dürfen: Vorrang der selbstbestimmten Eigentätigkeit und der gemeinschaftlichen Problemlösung vor sozialstaatlicher Intervention einerseits, andererseits aber auch die Verpflichtung zu öffentlich verantworteter Hilfe, wo die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind, sondern erst geschaffen werden müssen. In den Fällen, in denen die Entdeckung und Betonung der sozialen Basis der Wohlfahrtsproduktion einseitig von Einsparungsinteressen motiviert und geprägt ist, pflegt man die erste Dimension des Prinzips von der zweiten mehr oder weniger zu lösen und zu isolieren. Im Wohlfahrtspluralismus hat es der Sozialstaat aber nicht nur mit dem Sektor der Haushaltsproduktion und der informellen Hilfe zu tun, sondern auch mit intermediären, zivilgesellschaftlichen Kräften. Wie oben schon deutlich wurde, gehört es zu den Besonderheiten gerade des deutschen Sozialstaats, von Anfang an wertgebundene Kräfte aus der Gesellschaft in seine duale Struktur eingebunden zu haben. Traditionell sind es die Wohlfahrtsverbände, die eine solche Zwischenebene zwischen Haushaltsproduktion und Selbsthilfe einerseits und Staat und Markt andererseits einnehmen. 16 Die Herausforderung durch die Selbsthilfebewegung und die Kritik 14 Zum Wohlfahrtspluralismus vgl.: Adalbert Evers/Thomas Olk (Hrsg.). Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Opladen 1996. 13 Amo Waschkuhn, Was ist Subsidiarität? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip: Von Thomas von Aquin bis zur .,Civil Society", Opladen 1995; Sachße, Subsidiarität. Zur Karriere eines sozialpolitischen Ordnungsbegriffs, in: Zeitschrift für Sozialreform 40 (1994), 717-738; ders., Entwicklung und Perspektiven des Subsidiaritätsprinzips, in: Strachwitz (Hrsg.), 369-382 (Anm. 6). 16 Adalben Evers/Thomas Olk, Wohlfahrtspluralismus - Analytische und normativ-politische Dimensionen eines Leitbegriffs, in: dies. (Hrsg.), 22 ff. (Anm. 14); Josef Schmid, Wohlfahrtsverbände in modernen Wohlfahrtsstaaten, Opladen 1996;
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an ihrer allzu großen Staatsnähe mit allen Problemen der Verrechtlichung, Bürokratisierung und Professionalisierung ihres Handeins haben charakteristische Veränderungen innerhalb der Wohlfahrtsverbände in Gang gebracht. Zum einen sind sie stärker als früher bemüht, ihre gemeindliche und ehrenamtliche Basis im Blick zu haben und zu aktivieren. Zum anderen verstehen sie sich deutlicher als früher auch als Akteure im politischen Feld. Sie beginnen sich damit von Verbänden zu unterscheiden, die lediglich - in die sozialpolitischen Entscheidungsprozesse und -eliten eingebunden - die Maßnahmen staatlichen Handeins von oben nach unten treuhänderisch weitergeben bzw. zur Durchsetzung bringen. Gleichzeitig gehören sie zu den Nonprofit-Organisationen mit einer spezifischen GemeinwohlverpflichtungY Soweit die Wohlfahrtsverbände Elemente sozialer Bewegung reaktivieren, machen sie darauf aufmerksam, dass der Sozialstaat auf aktivierende und legitimierende Ressourcen aus den zivilgesellschaftlichen, sozialen Bewegungen angewiesen ist und bleibt. 18 Die sozialstaatliche Seite wiederum ist herausgefordert, sich neu auf die sozialen Kräfte aus der Gesellschaft als Träger und Förderer einer Sozialkultur einzustellen und sich subsidiär unterstützend auf sie einzulassen. Schließlich wird der Wohlfahrtspluralismus komplettiert durch eine wachsende Zahl gewinnorientierter, privater Anbieter wohlfahrtsbezogener sozialer Dienstleistungen. Im Gesundheitswesen schon immer vertreten, erobern sie im Augenblick größere Anteile sozialer Dienste insbesondere im pflegerischen Bereich. Wie am deutlichsten an der gesetzlichen Regelung der Pflegeleistungen im Rahmen der Pflegeversicherung ablesbar ist, verfolgt die Sozialpolitik der letzten Jahre das Ziel, den Spielraum privater Anbieter sozial-pflegerischer Dienste zu erweitern. Über die Schaffung eines Wettbewerbs unter den Anbietern von Wohlfahrtsdiensten erhoffte und erhofft sie sich eine Verbesserung ihrer Leistungen im Interesse der nun als Kunden definierten Betroffenen. Es liegt auf der Hand, dass in der Privatisierung sozialer Dienste neben Chancen eine Reihe von Gefährdungen angelegt
Gabriel, Caritas angesichts fortschreitender Säkularisierung, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Band V Caritas und soziale Dienste, Freiburg i.Br. 1997, 444-448; Michael N. Ebertz, Dampf im fünften Sektor. Die Herausforderung der Caritas zwischen Staat und Markt, persönlichem Netzwerk und Kirche, in: H. Puschmann (Hrsg.), Not sehen und handeln. Caritas. Aufgaben, Herausforderungen, Perspektiven, Freiburg im Br. 1996, 40 ff. 17 Christoph Badelt (Hrsg.), Handbuch der Nonprofit-Organisationen. Strukturen und Management, Stuttgart 1997. 18 Vgl. Eduard Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus- Theorie der Sozialpolitik ( 1929) Neudruck Frankfurt a. M. 1980.
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sind, wie die Selektion günstiger Risiken kaufkräftiger Kunden durch die Privaten auf Kosten der übrigen Betroffenen wie Anbieter. 19 Die soziale Herausforderung des Sozialstaats besteht vornehmlich darin so lässt sich resümieren - , den Wohlfahrtspluralismus so aufeinander abzustimmen, dass gerade unter den heutigen, äußeren, restriktiven Bedingungen seine unverzichtbaren Leistungen erhalten bleiben und eine produktive Weiterentwicklung erfahren. Die Perspektive eines erweiterten Wohlfahrtspluralismus enthält dazu Chancen und Möglichkeiten. Im Kern geht es darum, die Wohlfahrtsproduktion vom Kopf - heute zunehmend bestehend aus einem Doppelkopf von Staat und Markt - gewissermaßen auf die Füße eines subsidiären Wohlfahrtspluralismus zu stellen. Im Kontext der skizzierten sozialen Herausforderung des Sozialstaats möchte ich im nächsten Schritt nach den Umrissen eines Profils der kirchlichen Wohlfahrtsverbände als Bewegungsorganisationen heute fragen.
111. Kirchliche Wohlfahrtsverbände als Bewegungsorganisationen heute Von den herkömmlichen Verbänden unterscheiden sich Bewegungsorganisationen bzw. Bewegungsverbände dadurch, dass sie den sozialen Bewegungen nahe stehen und die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit zum Adressaten ihres Handeins haben. 20 Die neuere Forschung zu den sozialen Bewegungen schenkt den organisierten Elementen von Bewegungsmilieus eine größere Aufmerksamkeit und sucht den klassischen Gegensatz von Bewegung und Organisation stärker zu überwinden. Neuerdings werden auch Verbindungen zwischen dem Forschungsfeld der (Neuen) sozialen Bewegungen und der Theorie des "dritten Sektors" hergestellt. 21 Bewegungsorganisationen zielen auf der Grundlage von als problematisch definierten sozialen Verhältnissen und Zuständen auf Bewusstseinsund Gesellschaftsveränderung. 22 Sie suchen die Öffentlichkeit für ihre Ziele zu gewinnen. Es geht ihnen darum, Leiderfahrungen von Einzelnen und Gruppen öffentlich zu Gehör zu bringen, die sie verursachenden gesell19 Vgl. Friedhelm Hengsbach, Eine "Euro-Caritas" in der Staats- oder Marktfalle? Die Funktion privater Wohlfahrtsverbände in der Europäischen Union, in: H. Puschmann (Hrsg.), 153-163 (Anm. 16). 20 Hierzu und zum Folgenden siehe: Gabriel, Allensbacher, 135-137 (Anm.l) und Gabriel, Zeitschrift, 7-9 (Anm. I); Karl-Fritz Daiber, Diakonie und Caritas tragen zum Aufbau und Erhalt der Zivilgesellschaft bei, in: Caritas 100 (1999), 11-18. 21 Roland Roth, Jenseits von Markt und Staat. Dritter Sektor und neue soziale Bewegungen, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4 ( 1992), 12-20. 22 Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a. M. 1987. 118.
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schaftliehen Verhältnisse zu problematisieren und die Menschen für Veränderungshandeln zu stimulieren und zu mobilisieren. Bewegungsorganisationen bilden gewissermaßen eine Brücke zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich. 23 Sie vermitteln zwischen Erfahrungen des Unrechts, Leids und sozialer Ausgrenzung im privaten Alltag in eine diskursive Öffentlichkeit hinein. Sie spüren Leid und Unrecht auf und machen es zu einer öffentlichen Angelegenheit als Voraussetzung ihrer politischen Veränderbarkeil. Ihr spezifischer Beitrag zur Politik besteht darin, eine "Soziale Politik" im Interesse der von Unrecht und Leid Betroffenen möglich und politisch durchsetzbar zu machen. Als Bewegungsorganisationen wurzeln die kirchlichen Wohlfahrtsverbände in den Erfahrungen von sozialem Leid, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung, wie sie eine vom wirtschaftlichen Konkurrenzprinzip und organisierten Machtstrukturen geprägte Gesellschaft immer aufs Neue hervorbringt. 24 In ihrer täglichen Arbeit werden sie mit den sich verändernden Erfahrungen und Betroffenheilen von Leid, Notlagen und sozialem Unrecht konfrontiert. Gleichzeitig gehen sie den Belastungen und Ausgrenzungen nach, die in einer Gesellschaft der Erfolgreichen und Glücklichen die Schwelle öffentlicher Wahrnehmung und Anerkennung noch nicht überschritten haben. Sie suchen der stets spürbaren Tendenz, Notlagen ins Dunkel privater Einzelschicksale abzudrängen, entgegen zu wirken. Als Bewegungsorganisationen basieren die kirchlichen Wohlfahrtsverbänden auf Werttraditionen und -gemeinschaften, die ihnen Kriterien an die Hand geben, gesellschaftliche Zustände der Leiderzeugung als problematisch und veränderungswürdig zu definieren. 25 Primärer Adressat ihres auf Problematisierung und Veränderung von Zuständen gerichteten Handeins ist die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit. In historischer Perspektive löst die Öffentlichkeit als erster Adressat des verbandliehen Handeins die Versuche direkter Einflussnahme auf die "Obrigkeit" zu Gunsten der Armen ab, wie auch den direkten Einbezug in eines der wertgebundenen, parteipolitisch organisierten Lager.26 Als Bewegungsorganisationen sind die kirchlichen 23 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M., 3. Auflage 1993, 441 f.; Bemhard Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegung. Sonderheft 34 der Kötner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1994, 42-76. 24 Hierzu und zum Folgenden siehe: Hengsbach (Anm. 19); Gabriel, Religion und Kirche im Spiegel- und Diskursmodell von Öffentlichkeit, in: Jahrbuch für biblische Theologie II (1996), 31-51. 25 Eckart Pankoke, Subsidiäre Solidarität und freies Engagement: Zur "anderen" Modernität der Wohlfahrtsverbände, in: Rauschenbach u. a. (Hrsg.), 54-82 (Anm. 2). 26 lose Casanova, Chancen und Gefahren öffentlicher Religion, in: Otto Kalischeuer (Hrsg.), Das Europa der Religionen, Frankfurt a. M. 1996, 192-197.
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Wohlfahrtsverbände auf funktionierende demokratische Prozesse und Institutionen angewiesen. Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit ermöglichen ihnen, mit ihren Themen einen Zugang zur Öffentlichkeit zu finden. In ihr wird in diskursiven Prozessen der Meinungsbildung um die Geltung von Beurteilungskriterien wie um die Bewertung von gesellschaftlichen Zuständen gerungen. In diese zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit bringen die Verbände die Leiderfahrungen und Schicksale der Betroffenen ein, ringen um ihre auf Veränderung drängende öffentliche Anerkennung und kämpfen für entsprechende Prozesse des Werte- und Bewusstseinswandels. In Kooperation mit anderen Bewegungskräften schaffen sie damit die Voraussetzungen dafür, dass die ins Private abgedrängten Erfahrungen des Leids und des Unrechts an die Öffentlichkeit kommen, in der Interessenauseinandersetzung Beachtung finden und in den formellen demokratisch-politischen Entscheidungsprozessen angemessen berücksichtigt werden?7 Ihrem Ursprung wie ihrer Weiterentwicklung nach ist die sozialstaatlich orientierte Politik auf soziale Bewegungen und Bewegungsorganisationen angewiesen, die Wertmaßstäbe zur Beurteilung der Leid erzeugenden Ergebnisse des Wirtschafts- und Gesellschaftsprozesses hervorbringen, wach halten und für ihre öffentliche Geltung sorgen. 28 Ohne sie werden die sozialstaatliehen Institutionen zu - als Belastungen definierten - toten Apparaten, deren Beschneidung und Abschaffung lediglich eine Frage der Zeit ist. Als Bewegungsorganisationen ist das Handeln der kirchlichen Wohlfahrtsverbände nicht nur auf das Agieren im Rahmen der sozialstaatliehen Institutionen gerichtet, sondern auch und gerade auf die Erhaltung und Weiterentwicklung der kulturell-wertmäßigen Voraussetzungen und Grundlagen sozialstaatlicher Verantwortung.
IV. Die verbandliehe Caritas auf dem Weg zur Bewegungsorganisation?- Empirische Hinweise Im gegenwärtigen verbandliehen Handeln der Caritas wie in ihren Selbstvergewisserungsprozessen lassen sich Spurenelemente des skizzierten Modells einer am Bezugsfeld zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit orientierten Bewegungsorganisation erkennen. 29 Das nach einem langen kontroversen Diskussionsprozess entwickelte Leitbild des Deutschen Caritasverban27 Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände können dabei an Tendenzen anknüpfen, wie die beiden Kirchen in Deutschland selbst heute ihr Verhältnis zur Politik definieren: Vgl. "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit". Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover/Bonn 1997, 7 f. 28 So schon Heimann (Anm. 18); siehe auch: Kaufmann, Christentum und Wohlfahrtsstaat, in: Zeitschrift für Sozialrefonn 34 (1988), 65-89.
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des nimmt direkt Bezug zum Thema Bewegungsorganisation.30 Teil der Sozialbewegungen zu sein, betrachtet der Verband als Element seines Organisationsprofils. Unter der Überschrift "Der Deutsche Caritasverband ist Teil der Sozialbewegung"31 werden unterschiedliche Ebenen angesprochen. Als Erstes die Ebene der Beteiligung aller Interessierten - seien sie nun beruflich oder ehrenamtlich engagiert - an der Verwirklichung der Ziele und Aufgaben des Verbandes mit den entsprechenden verbandsinternen Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Zum Zweiten die Ebene der Förderung des ehrenamtlichen karitativen Einsatzes in den traditionellen Sozialformen der Pfarrgemeinden wie in den sozial engagierten Initiativen und Freiwilligenzentren. Hier geht der Verband die Selbstverpflichtung ein, sich für verbesserte Rahmenbedingungen für das Ehrenamt und die Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen Ehrenamtlichen und beruflich Handelnden einzusetzen. Schließlich die gesellschaftlich-kulturelle Ebene, wo es heißt: "Er fördert die Idee einer Sozialbewegung und arbeitet mit sozial engagierten Menschen, Initiativen und Organisationen zusammen an der Verwirklichung einer solidarischen Gesellschaft"32 . Fragt man danach, inwieweit das Organisationsprofil "Bewegungsorganisation" zum einen im gegenwärtigen öffentlichen Erscheinungsbild der Caritas, zum anderen im Bild der Mitarbeiter vom eigenen Verband verankert ist, kommt man auf der Grundlage der Allensbacher Studien zum Leitbildprozess zu folgenden Ergebnissen: Mehrheitlich ist das Bild der Caritas in der Gesellschaft durch das einer kirchlichen Hilfsorganisation mit der primären Zuständigkeit für jene Gruppen geprägt, die sonst in Gefahr stünden, durch das Hilfenetz zu fallen. 33 Bei einem Drittel der Befragten lassen sich auch darüber hinausgehende Elemente ausmachen, die die Caritas als "Anwalt der Armen" und "Soziales Gewissen der Nation bzw. der Kirche" 29 Zur Leitbilddiskussion in der verbandliehen Caritas siehe die Beiträge in: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Zeit für ein Leitbild. Sonderheft der Zeitschrift Caritas, Freiburg i. Br. 1994; Renale Köcher, Meinungsbild Caritas. Die Allensbacher Studien zum Leitbildprozeß. Bd. 1, Freiburg i. Br. 1997; Eugen Baldas/Johann M. Gleich/Udo Schmälzle, Meinungsbild Caritas. Die Allensbacher Studien zum Leitbildprozeß. Bd. 2 und 3, Freiburg i. Br. 1997. Zur vergleichbaren Diskussionslage mit dem Hintergrund ,.Diakonisches Werk" vgl. Daiber (Anm. 20); Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Leitbild Diakonie - damit Leben gelingt!, Stuttgart 1997; Evangelische Kirche in Deutschland, Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine evangelische Denkschrift, Gütersloh 1998. 30 Leitbild des Deutschen Caritasverbands, in: Baidas u. a. (Hrsg.), 266 f. (Anm. 29). 31 Baidas u. a. (Hrsg.), 266 (Anm. 29). 32 Baidas u. a. (Hrsg.), 267 (Anm. 29). 33 Köcher, 28 f. (Anm. 29); siehe hierzu und zum Folgenden auch: Gabriel, Allensbacher, 137-142 (Anm. 1).
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und als "Kämpferin gegen soziale Ungerechtigkeit" in die Nähe einer Bewegungsorganisation rücken. Die Mitarbeiter der verbandliehen Caritas selbst rechnen die .,Förderung sozialen Bewußtseins" beinahe einhellig (91%) zu den Aufgaben der Caritas.34 Knapp die Hälfte verbindet mit der Bewusstseinsförderung auch die Aufgabe politischer Einflussnahme. Die dem Verband zugesprochene Anwaltsfunktion zeigt allerdings eine dominierende Prägung durch ein Selbstverständnis als "Helferanwalt" in deutlicher Distanz zur politischen Einflussnahme. Im Idealbild der Caritasmitarbeiter gruppieren sich die bewegungsnahen Aspekte um die Statements .,Nimmt sozialpolitisch Einfluß", "Versucht wirklich etwas zu ändern" und .,Erprobt neue Wege, fördert Pilot- und Modellprojekte", die in der Faktorenanalyse einen eigenen Faktor bilden?5 Im Unterschied zum Idealbild vom helfenden Anwalt reichen die Zustimmungen zu den bewegungsnahen Statements kaum über die 50%-Grenze hinaus, so dass sie nicht zum Konsens der Caritasmitarbeiter gerechnet werden können. 36 Wo das Leitbild selbst von der verbandliehen Caritas als Teil der Sozialbewegung spricht, eilt es also der mehrheitlichen Bewusstseinslage in der Gesellschaft wie bei den befragten Mitarbeitern voraus. Soll dieser im augenblicklichen gesellschaftlichen Kontext besonders zentrale Aspekt des Leitbild-Organisationsprofils nicht an der Realität scheitern, bedarf es in diesem Punkt besonderer Anstrengungen bei den künftigen Umsetzungsbemühungen des Leitbilds. Besitzt doch für den Beitrag der verbandliehen Caritas zur Bewältigung der sozialen Herausforderung des wohlfahrtsstaatliehen Gesellschaftsmodells gerade das Bewegungselement eine hohe Bedeutung.
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Gabriel, 100 ff. (Anm. 1). Gabriel, 162 f. (Anm. 1). Gabriel, 149 ff. (Anm. 1).
Neue Rollen der Caritas im Kontext der Transformation des Wohlfahrtsstaates Von Konrad Hilpert Schematisch vereinfacht beruhte das Sozialwesen in Deutschland bis vor wenigen Jahren im wesentlichen auf zwei Säulen: den öffentlich, staatlich oder kommunal organisierten sozialstaatliehen Systemen und den im Begriff der freien Wohlfahrtspflege zusammengefassten vielfaltigen Hilfsorganisationen, die sich teils kirchlich konfessionellen, teils allgemein humanitären Impulsen verdanken. Ihr Verhältnis war allerdings keineswegs das eines Nebeneinanders von Anbietern, die miteinander um Zuständigkeit für dieselben Aufgaben, um die Regie beim Helfen und Einfluss auf die Menschen konkurrieren. Genauso wenig lässt es sich aber auch als komplementäres Miteinander charakterisieren, in dem die freie Wohlfahrt arbeitsteilig sich bestimmter menschlicher Notlagen annimmt, die die sozialstaatliehen Systeme aus Gründen der Effizienz, der weltanschaulichen Zurückhaltung oder der Machtakkumulation nicht bedienen können oder wollen. Dass es derlei Notlagen gibt, die mit den Instrumenten sozialstaatlicher Hilfe nicht behoben werden oder auch nur erträglich gemacht werden können, ist dabei keine Frage. Aber auch, wenn es um das Begleiten Sterbender, um Beratung in persönlichen Konfliktfällen oder um die Vermittlung menschlicher Nähe für sozial Isolierte geht, geschieht dies auf der Grundlage und in Rückbezug auf ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung. Dieses ordnete freie Wohlfahrt und staatliche Sozialtätigkeit einander so zu, dass sowohl enge Kooperation wie auch Eigenständigkeil möglich wurden. Der Konstellation nach haben beide Partner etwas einzubringen, was der je andere aus sich selbst heraus nicht leisten kann; gleichzeitig gibt es aber auch Bereiche, in denen beide nebeneinander wirken. Diese drei Bereiche liegen aber nicht einfach für immer fest; vielmehr handelt es sich bei dem ganzen Verhältnis um eine komplexe Balance. Die beiden Akteure nehmen aufeinander Bezug und beeinflussen sich gegenseitig: Die staatliche Sozialgesetzgebung gibt dem Wirken der Wohlfahrtsverbände den rechtlichen Rahmen vor und garantiert, dass sie seine Aufgaben erfüllen können. Ferner übernimmt sie die Verantwortung für die Gesamtplanung und sorgt so dafür, dass dort, wo mehrere Anbieter das gleiche Aufgabengebiet betreuen, durch Konkurrenz nicht Kräfte vergeudet werden bzw. Versorgungslücken entstehen.
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Umgekehrt verpflichtet sich die kirchliche Caritas als einer der bedeutendsten Akteure der freien Wohlfahrt in Deutschland, bestimmte Aufgaben zu übernehmen und dafür Personen, Organisation und Sachkompetenz bereitzustellen. Ferner kann sie eine Art Vorreiterfunktion für das staatlich garantierte Helfen übernehmen, insofern sie zusätzlich zu ihrer Mitverantwortung innerhalb des Systems neue Nöte aufspüren kann, diese nach besten Kräften abdecken und dann Anregungen an den Staat weitergeben und ihn zur groBflächigeren Lösung des Problems auffordern kann. Vielleicht lag gerade hier der Grund, dass die Politik (Regierung, Parteien, Ministerien, Parlamentsausschüsse) den Wohlfahrtsverbänden in der Sozialpolitik faktisch schon immer mehr Einfluss in Gestalt von Beratungen, Anhörungen, regelmäßigen Kontaktgesprächen eingeräumt hat, als es die schematische Zuordnung erwarten lässt. Seine normative Bestimmung und sozialpolitische Legitimationsformel fand dieses komplexe Ergänzungsverhältnis im Subsidiaritätsprinzip. Dabei wurde dieses allerdings in einer sehr spezifischen Weise verstanden und zur Geltung gebracht, nämlich als grundsätzlicher Vorrang der freien Träger vor der öffentlichen Sozialaktivität Der ursprüngliche Sinn des Subsidiaritätsprinzips, wie es zum erstenmal und gleichsam klassisch in der Enzyklika Quadragesimo anno aus dem Jahr 1931 formuliert worden war, ist sehr viel offener und unspezifischer: Er besagt "lediglich", dass die Zuständigkeit und die Art der Unterstützung zwischen umfassenderer und kleinerer sozialer Einheit so zu regeln sind, dass die kleinere und damit zwangsläufig personnähere Gemeinschaft durch die Überlegenheit der größeren an Macht, Finanzressourcen, Organisationsgrad usw. nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt wird. Das Subsidiaritätsprinzip bezweckt also eigentlich, dass der Einzelne oder die je kleinere Gemeinschaft, die Hilfe braucht, nicht einfach als Empfänger von Hilfe behandelt werden, sondern soweit als möglich selbst in Stand gesetzt werden, aktiv an der Befreiung aus ihrer Not mitzuwirken. 1 Selbstverständlich können Mitarbeiter, Einrichtungen und Helfergruppen der Caritas die der Lebenswelt eines Bedürftigen bzw. einer sozialen Problemgruppe näheren Helfer sein, aber sie sind es nicht in jedem Fall und schon gar nicht automatisch. Dies jedoch setzt das Verständnis des Subsidiaritätsprinzips im bundesdeutschen Sozialrecht im Grunde voraus.
1 Nach Oswald von Nell-Breuning, Solidarität und Subsidiarität, in: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Der Sozialstaat in der Krise?, Freiburg 1984, 88-95, hier: 93.
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I. Die neuen Herausforderungen Aufs Ganze gesehen, ist auf dem Boden der geschilderten Zuordnung im Laufe der Jahrzehnte ein sehr dichtes und insgesamt sehr leistungsfähiges Sozialsystem entstanden, das sowohl historisch als auch im Vergleich mit den meisten anderen Ländern seinesgleichen sucht. Einer seiner Vorzüge besteht auch darin, dass es dem Hilfesuchenden in vielen Bereichen die Möglichkeit bietet, jene Hilfe zu wählen, die seinen persönlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen am meisten entspricht. Die Unterschiede in der Konzeption des Helfens, der Motivation und der berufsethischen Prägung des Personals forderten sicher immer wieder zum Vergleich heraus, blieben aber lange Zeit ohne einschneidende Konsequenzen, auch wenn Schwächen im Leistungsangebot offenkundig wurden. Fragt man nach den Nachteilen dieses Arrangements, so wird man am ehesten auf den Verdacht der Ressourcenverschwendung, auf die Klage über allzu starke Reglementierungen durch die staatlichen Vorgaben und auf das Bedauern über die scheinbar zwangsläufige Verwischung des explizit kirchlichen Profils stoßen. Außerdem ist offensichtlich, dass es nicht dazu geeignet war, der Verfestigung sozialer Notlagen irgendwie entgegenzuwirken. Seit einigen Jahren mehren sich die Anzeichen, dass dieses Verhältnis von Sozialstaat und freier Wohlfahrt immer stärker unter Druck geraten ist. Wenigstens vier Entwicklungen sind daran ursächlich beteiligt: Die erste und in der sozialpolitischen Diskussion am stärksten thematisierte ist zweifellos die Tatsache, dass der Sozialstaat an seine finanziellen Grenzen stößt. Man kann mit Fug und Recht darüber streiten, welche Risiken in welchem Umfang durch die Gesamtheit abgesichert werden sollen und können, und man muss diese Diskussion führen; gleichwohl ist es völlig unzweifelhaft, dass die Erwartung, die Palette sozialstaatlich verbürgter Leistungen ließe sich noch ausweiten oder auch nur ohne spürbare Einschnitte fortsetzen, illusionär ist und über kurz oder lang selbst die bestehenden Solidarsysteme und die von diesen ausgehende Sicherheit unterminieren würde. Dieser Begrenztheit der Ressourcen entspricht von der Seite der Nachfrage her eine zweite Entwicklung, die unübersehbar ist, nämlich die, dass der Gesamtbedarf an sozialer Unterstützung wächst. Die Gründe dafür liegen teils in der demographischen Entwicklung (höhere Lebenserwartung, höherer Anteil von älteren Menschen an der Gesamtpopulation usw.), teils in Auswirkungen der Internationalisierung des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt ("Globalisierung"). Eine dritte Herausforderung besteht im politisch ermöglichten und gewollten Auftreten privater Anbieter von Hilfeleistungen vor allem im Pflege- und Betreuungsbereich, die mit den großen Wohlfahrtsverbänden in den Wettbewerb treten. Die Transformation der solidarischen Hilfe zu einer
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Dienstleistung, die ihren Preis hat und sich auf dem Markt gegen Konkurrenz behaupten muss, zieht viel mehr nach sich als bloß einen mentalen Wandel, nämlich die Ausrichtung karitativer Einrichtungen an Wirtschaftlichkeit, Effizienz und Kundenorientierung unter Einbeziehung selbst von Strategien des Marketing. Gleichwohl liegt auf der Hand, dass Kostenoptimierung und optimale Hilfe bei Not weder notwendig noch uneingeschränkt zusammengehen. Schließlich ist auf eine vierte Entwicklung hinzuweisen, die eigentlich erst in dem Maße in die Wahrnehmung drängt, als sie Leerstellen hinterlässt, nämlich der strukturelle Bedeutungsverlust jener sozialen Verbindungen, die herkömmlich einen erheblichen Teil der sozialen Hilfe erbracht haben: Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Kirchengemeinde und die vielfachen Verknüpfungen im Rahmen der traditionellen Sozialmilieus. Dem, was häufig als zunehmende Individualisierung der Lebensgestaltung auf den Punkt gebracht oder aber mit dem Unterton der moralischen Anklage als Entsolidarisierung bedauert wird, liegen ja Beobachtungen zu Grunde, die völlig unstrittig sind wie die, dass die Zahl der in einem Haushalt zusammenlebenden Personen stark im Sinken begriffen ist, dass Verbreitung und Akzeptanz von nichtehelichen Lebensgemeinschaften zunehmen, dass die Zahl der Alleinerziehenden ansteigt, dass Beziehungen und Familien weniger stabil sind oder dass der Anteil der erwerbstätigen Frauen zunimmt. Immer mehr Menschen geben also - teils aus eigenem Wunsch, teils von außen veranlasst - ihrer Biographie einen individuellen Zuschnitt, der Flexibilität und Mobilität voraussetzt und auf ein hohes Maß an Autonomie ausgerichtet ist. Dies bedeutet nicht automatisch, dass sie, wie oft beklagt wird, egoistischer eingestellt wären als die Angehörigen früherer Generationen; aber es bedeutet sehr wohl, dass sich diese neuen Lebensstile vielfach nicht mit der Erbringung jener Unterstützung vereinbaren lassen, die mit den traditionell eingelebten Lebensformen verbunden war und - mit welchen Gefühlen auch immer - so selbstverständlich geleistet wurde, dass sie im System der sozialen Sicherung überhaupt nicht eigens zum Thema gemacht wurde. Wer wochentags in München arbeitet und ein Ein-ZimmerAppartment am Stadtrand bewohnt und sich am Wochenende mit seinem in Harnburg arbeitenden Lebenspartner trifft, kann eben nicht zusätzlich noch ein älteres Familienmitglied betreuen oder gar pflegen. Gerade die Unterstützung und Pflege älterer Menschen ist ja paradigmatisch für einen Bereich sozialer Unterstützung, der bisher zum ganz überwiegenden Anteil im familiären Zusammenhang, also von den Familienangehörigen - sprich: den Frauen - erbracht wurde, wo aber auf Grund der genannten Entwicklungen abgesehen werden kann, dass schon in naher Zukunft eine Versorgungslücke entstehen wird, die sozialpolitisches Intervenieren auf den Plan ruft.
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Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung solcher Entwicklungen erfährt die Berufung und Einforderung des Subsidiaritätsprinzips unübersehbar eine neue Blüte. Freilich ist die Stoßrichtung jetzt vielfach eine andere als zu den Zeiten des Aufbaus des bundesrepublikanischen Wohlfahrtswesens. Ging es damals um die Auswahl des Trägers sozialstaatlich verbürgter Hilfe, so geht es heute vielfach um die Ausgliederung von bisher geleisteten Diensten aus dem Katalog der Solidaraufgaben. Diese Selbstentlastung der öffentlichen Hände geschieht sowohl auf dem Weg, dass bestimmte Leistungen nicht mehr erbracht werden und ein anderer Träger gesucht wird, als auch auf dem, dass Kosten für bestimmte Leistungen budgetiert und die Zuteilungen an die Hilfebedürftigen mittels des Spiels von Angebot und Nachfrage erfolgt, also dem Markt überantwortet wird. Nicht selten ist es der Staat selbst, der die neue Konkurrenz organisiert, indem er die Bedingungen definiert, unter denen Konkurrenz für die Erbringung medizinischer, pflegerischer oder psychosozialer Leistungen durch erwerbswirtschaftliche Einrichtungen zugelassen wird, und Unternehmungen sowie Personal ermuntert, davon Gebrauch zu machen. Damit aber gerät das herkömmliche Arrangement faktisch und völlig unspektakulär in einen erheblichen Veränderungsprozess. Dieser hat aber auch Auswirkungen auf den Stellenwert, das Selbstverständnis und das Aufgabenspektrum der freien Wohlfahrt und ihrer Akteure.
II. Umrisse der politischen Transformation des Wohlfahrtssektors Bei allen Überlegungen, wie Solidarität angesichts des aus den oben geschilderten Entwicklungen resultierenden Veränderungsdrucks zugeteilt und organisiert werden könne, darf eines bislang als unbestritten gelten: dass es zu den Aufgaben des Staates gehört, um das Wohl aller Bürger besorgt zu sein und institutionell die elementaren Daseinsvoraussetzungen für die, die in Not geraten sind, zu sichern. Diese Überzeugung ist als Prinzip der Sozialstaatlichkeil im Grundgesetz ausdrücklich für unabänderlich erklärt2 und genießt in der Bevölkerung wie auch bei den wichtigsten politischen Kräften ein hohes Maß an Zustimmung. Das Problem der notwendigen Transformation des Wohlfahrtssektors unter den Bedingungen beschleunigter Modernität stellt sich infolgedessen nicht als Frage, ob der Staat sich von der Funktion, sich um das soziale Wohl zu kümmern, überhaupt zurückziehen soll; vielmehr geht es darum, wie die gesellschaftlichen Bedingungen verändert werden müssen, damit Solidarität, aber mit ihr auch gegenseitige Achtung und Toleranz von Andersartigen, gesichert und bestärkt werden, und was Staat und Politik dazu tun müssen, um diese 2
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Bedingungen zu ermöglichen bzw. zu organisieren. Daher sind sich alle Analytiker und Prognostiker wenigstens darin einig, dass es einen Weg zurück zu den Sicherheiten früherer Jahrzehnte nicht geben wird; die Veränderungen der wirtschaftlichen, informationellen und politischen Gegebenheiten sind dafür zu grundlegend. Die Hoffnung, ein zukünftiges Wirtschaftswachstum würde alle sozialen Probleme und damit auch die des Sozialstaats im Wesentlichen lösen können, wäre ebenso illusionär wie eine schonungslose Ausrichtung aller sozialen Leistungen und Dienste auf ökonomische Effizienz inhuman sein müsste. Im Gegensatz dazu kristallisieren sich in der sozialphilosophischen und sozialwissenschaftliehen Diskussion heute3 , soweit ich das beobachten kann, vor allem drei politische Aufgaben als zukunftsweisend heraus, nämlich erstens die Aktivierung der Bürger als Gesellschaftswesen, zweitens das Aufbrechen der Verengung des Verständnisses von Arbeit auf Erwerbsarbeit und drittens die Kultivierung der Motivationsquellen für Solidarität. Das erste Anliegen, oft zusammengebracht mit dem Stichwort "Zivilgesellschaft"4, gilt der (Wieder-)Gewinnung eines umfassenden Verständnisses von aktivem Bürgersein. Dabei geht es aber nicht um eine theoretische Nachbesserung oder um eine Anreicherung eines Grundbegriffs der politischen Rhetorik zum Zweck staatsbürgerlicher Paränese, sondern um die Korrektur eines in der politischen Routine wie auch in der Mentalität vieler Bürger eingeschliffenen Denkens, das die Rolle des Bürgers faktisch ausschließlich an zwei Bereichen festmacht: an Teilhabe und Einfluss auf den Staat als dem Bereich, wo es um das Gemeinwohl geht, und an der Teilnahme am Markt als dem Bereich, der von privaten und geschäftlichen Interessen bestimmt wird. 5 Dass sich das Bürgersein in diesen beiden Rollen nicht erschöpft, war zwar im konkret gelebten Leben des Einzelnen klar, doch spielte es in der theoretischen Reflexion wie in der ordnungspolitischen Diskussion so gut wie keine Rolle. Und auch das öffentliche 3 Siehe u.a. Wamfried Dettling, Politik und Lebenswelt Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Gütersloh 1995; Peter L. Berger (Hrsg.), Die Grenzen der Gemeinschaft: Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften, Gütersloh 1997; Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaats, Frankfurt a. M. 1997. 4 Siehe bes. Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt 1989; Krzysztof Michalski (Hrsg.), Europa und die Civil Society. Castel-Gandolfo-Gespräche 1989, Stuttgart 1991; Axel Honneth, Konzeptionen der »civil society«, in: Merkur 46 (1992) 61-66; Michael Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, hrsg. von Otto Kallscheuer, aus dem Amerik. von Christiane Goldmann, Stuttgart 1996; Emest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995; Wolf Rainer Wendt u. a., Zivilgesellschaft und soziales Handeln. Bürgerschaftliebes Engagement in eigenen und gemeinschaftlichen Belangen, Freiburg i. Br. 1996. 5 Vgl. Dettling, 62 f. (Anm. 3).
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Bewusstsein gab sich mit dieser binären Sicht zufrieden, funktionierte doch das damit verbundene Sozialsystem ganz gut und vergleichsweise bequem: Neue oder neu erkannte Aufgaben waren jeweils zusätzlich finanzierbar; der "Stress" einer andauernden Suche nach gangbaren und qualitativ besseren Lösungen blieb so erspart. Heute ist nicht nur diese vergleichsweise komfortable Rahmenbedingung entfallen, sondern es wird auch an vielen Stellen deutlich gespürt, dass die gesellschaftliche Existenz des Menschen nicht nur aus Wirtschaften und Wahrnehmung der politischen Rechte bestehen kann, sondern dass dazu auch gehört, einen - wenn auch noch so kleinen - Bereich sozialer Beziehungen mitgestalten zu können, Verantwortung für andere zu übernehmen und soziale Achtung entgegengebracht zu bekommen. Und deutlich wird da und dort auch erkannt, dass das, was der Einzelne als Respektierung des Eigenen vom Staat und von den anderen fordert, davon lebt, dass er den gleichen Respekt aufbringt und, statt jede sich bietende Gelegenheit zur Maximierung der eigenen Wünsche (bis hin zur Illegalität) auszunutzen, auch Input leisten muss. Es ist infolgedessen keineswegs nur Ausdruck einer nostalgischen Wellenbewegung, wenn kommunitaristische Sozialphilosophen in kritischer Abhebung von den neuzeitlichen Gesellschaftsvertrags~ theorien den Wert von Gemeinschaften wieder betonen6 und sie für mehr halten als Folklore und sich selbst genügenden Konservativismus. Dahinter steht vielmehr die Einsicht, dass der moderne Staat in seinen klassischen politischen Funktionen nur lebensfähig bleibt, wenn es zwischen Wirtschaft und Staat einen reichhaltigen und ausgeprägt selbständigen Bereich der Gesellschaft gibt. Der konzeptionellen Idee nach will Gesellschaft hierbei nicht nur der Ort der Meinungsbildung im Vorfeld und in wechselseitiger Abhängigkeit von der Politik sein, und auch nicht bloß der rechtlich geschützte Raum, in dem die großen und einflussreichen Institutionen der Kirchen, Gewerkschaften, Berufsverbände, Hochschulen und Forschungseinrichtungen ihren Zielsetzungen nachgehen können. Vielmehr ist Gesellschaft auch und zuerst der Raum, wo Menschen sich immer wieder von neuem miteinander verknüpfen und gemeinsam Ziele verfolgen können, die über die Interessen der Einzelnen hinausreichen. Und Gesellschaft ist auch der Ort, wo die Menschen Probleme, von denen sie betroffen werden, in die eigenen Hände nehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen, der Ort, 6 Für einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser in sich vielfaltigen Strömung siehe Walter Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus? Frankfurt a. M.-New York 1994, und Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M.-New York, 2. Auflage 1994. Eine Lektüre im Blick auf Schnittstellen mit Christlicher Sozialethik bietet Konrad Hilpert, Individuelle Freiheitsentfaltung und Gemeinwohlbezug. Auf der Suche nach den verkannten Grundlagen liberaler Gesellschaften: Der Kommunitarismus, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 36 (1995), 172-190.
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wo sie Kooperationspartner finden können und somit Initiative und Engagement angeregt werden. Die Gesellschaft aktiver Bürger ist M. a. W. der Ort, an dem sich Menschen um das Gemeinwohl bemühen (das häufig aJiein vom Staat erwartet wird, der diese Erwartung in der Realität aber immer wieder auch enttäuscht). Im Unterschied zu früher jedoch müssen solche Vernetzungen unter Menschen heute viel öfter erst "künstlich" hergestellt werden, da die Menschen mobiler geworden sind und Mobilität tendenziell zu Lasten der gewachsenen Bande geht oder sie erst gar nicht entstehen lässt. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass der Grad dieser Mobilität zwischen den sozialen Schichten stark differiert. Politik ist hier gefragt, zunächst einmal insofern, als sie solche Bindungen zulässt und sie sodann weniger als bedrohlichen Machtfaktor denn als Potenzial ansieht, soziale Lösungen zu finden 7 , aber auch, indem sie sie als Ausdruck des Bürgerwiiiens ernst nimmt und sie ideeJI und unter Umständen auch materieJI fördert. Dieses Anliegen taucht auch im sog. Sozialwort der Evangelischen Kirche Deutschlands und der Deutschen Bischofskonferenz vom Frühjahr 1997 auf. Dort wird im fünften Kapitel unter der Überschrift "Den Sozialstaat reformieren" eine neue Besinnung auf die Sozialkultur gefordert. In ihr liege - so heißt es wörtlich - "ein großes Potential für soziale Phantasie und Engagement. Den vorhandenen ethischen und sozialen Ressourcen in der Gesellschaft muß mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt werden. Dies betrifft vor allem soziale Netzwerke und Dienste, lokale Beschäftigungsinitiativen, ehrenamtliches Engagement und Selbsthilfegruppen."8 Beim zweiten Punkt -Aufbrechen der Verengung des Verständnisses von Arbeit auf Erwerbsarbeit - handelt es sich kaum darum, das soziale Pro7 Im Rückblick auf die Ordnungspolitik der 60er und 70er Jahre diagnostiziert Dettling, 63, (Anm. 3), kritisch: "Während besonders in der deutschen Tradition der Staat als Ort und Hüter gemeinsamer Interessen, des Gemeinwohls angesehen wurde, galt der Markt als Arena privater und geschäftlicher Interessen, die durch eine unsichtbare Hand in public benefits, in gemeinsame Vorteile, verwandelt wurden ( . ..). Denkfiguren wie diese haben die Gesellschaft und ihre sozialen Ressourcen brachliegen lassen. (.. .) Das hatte weitreichende Folgen. Gemeinschaften und soziale Beziehungen jenseits von Markt und Staat blieben aus der Betrachtung - und aus der Politik - ausgeblendet: So offensichtlich es sie gab, so wichtig auch ihre Leistungen, ihre Funktionen für die Menschen und für die Gesellschaft waren; sie wurden als selbstverständlich erachtet (Familie), als Folklore oder Freizeit gepflegt (Vereine, Freiwillige Feuerwehr), als vorwiegend ländliche Tradition kultiviert, in jedem Falle aber als soziale Ressourcen ausgebeutet, ohne daß sich jemand Gedanken gemacht hätte, wie sie zu erneuern seien." 8 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover-Bann 1997, Nr. 221.
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blem der hohen Arbeitslosigkeit in den Industriegesellschaften durch eine semantische Manipulation lösen oder wenigstens im Einzelfall abfedern zu wollen. Vielmehr geht es darum, die hohe Arbeitslosigkeit zum Anlass zu nehmen, das gesamte Spektrum menschlicher Arbeit in den Blick zu nehmen und sich der sozialen Bedeutung gerade der Tätigkeiten zu vergewissem und sie gesellschaftlich anzuerkennen, die nicht Erwerbsarbeiten sind, also sozialer Dienstleistungen wie Erziehung der Kleinkinder, der Abfederung der psychosozialen Anpassungsschwierigkeiten von Jugendlichen in den Systemen von Schule, Ausbildung und Arbeit, der Pflege älterer Menschen und der Versorgung chronisch Kranker, der Haushaltung, der freiwilligen Engagements bei Feuerwehr, Rotem Kreuz usw. Sie wurden im allgemeinen Bewusstsein der letzten Jahrzehnte vielfach als leichte Nebenarbeiten angesehen und waren mit erheblich weniger Prestige ausgestattet als die klassischen Erwerbstätigkeiten, was sich auch in der geringen oder gar nicht erfolgenden Bezahlung niederschlug. Diese Dienstleistungen werden aber auch dort und dann erbracht, wenn an Erwerbsarbeit Mangel herrscht; und sie werden zu ganz erheblichen Teilen gerade von solchen erbracht, die- sei es freiwillig oder unfreiwillig -einer Erwerbsarbeit nicht nachgehen. Allein schon wegen dieses Sachverhalts scheint es aus Gründen der Gerechtigkeit dringlich und aus Gründen des knapper werdenden Guts Erwerbsarbeit als Folge der Internationalisierung des Wettbewerbs ratsam, über Regelung, soziale Absicherung und auch über Anerkennung jener Formen von Arbeit neu nachzudenken, die bislang für selbstverständlich genommen wurden. Dazu braucht es aber nicht nur einen gewaltigen Schub in der mentalen Einstellung der Bevölkerungsmehrheit, eben die Relativierung der Gleichsetzung von Arbeit mit Erwerbsarbeit, sondern auch politische Rahmenbedingungen und Signale, die das Ausmaß dieser im Stillen geleisteten Arbeiten zunächst einmal öffentlich sichtbar machen, die dann in einem zweiten Schritt denen, die sie erbringen, eine sozialrechtliche Absicherung garantieren, und ihnen schließlich unter Umständen auch Ansprüche auf Starthilfen oder Vorteile bei einem späteren Wiedereinstieg in eine Erwerbstätigkeit einräumen. Auch finanzielle Anerkennung, und sei sie im Verhältnis zu einer Erwerbsarbeit gleicher Dauer und Qualität noch so niedrig, kann eine Maßnahme sein, um die scharfe Trennung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit wirkungsvoll zu überwinden (Modell: Erziehungsgeld). Wie die beiden schon näher erläuterten Anliegen ergibt sich auch das dritte daraus, dass etwas, was bislang mehr oder weniger selbstverständlich funktioniert hat und worüber deshalb kaum ein Wort verloren wurde, an Selbstverständlichkeit einbüßt. Die Sozialpolitik muss sich in Zukunft auch um die Ressourcen der Motivation sorgen, weil die traditionellen Quellen, die Freiwilligkeit, Pflichtgefühl und Bereitschaft zu solidarischem Einsatz für andere hervorgebracht haben, knapper sprudeln. Diese Beobachtung darf 6 Gabriel (Hng.)
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wohl nicht dazu führen, neue Formen der Solidaritäts"produktion" zu übersehen. Gleichwohl muss es eine Aufgabe für die Politik sein, es nicht einfach bei der immer weiteren Verknappung von Solidarität zu belassen, die sie aber andererseits auch nicht kompensieren kann. Was sie allerdings kann und auch tun muss, ist die Thematisierung und öffentliche Diskussion der Frage, welche Wertorientierungen und Bereitschaften die Gesellschaft benötigt, damit menschliche Existenz in ihr auch in Zukunft als gelungen und human erfahren werden kann. 9 Insofern ist in der Formulierung der dritten Leitlinie für die Politik mit Bedacht von einer notwendigen "Kultivierung" der Motivationsquellen für Solidarität die Rede und nicht davon, dass der Staat selbst als Motivationsbeschaffer auf den Plan tritt.
111. Perspektiven des Caritasverbandes in der Bürgergesellschaft Welche Konsequenzen kann ein im Sinne dieser Leitlinien verändertes Wohlfahrtswesen für den Caritasverband als einen der Akteure der freien Wohlfahrtspflege haben? Grundsätzlich darf man dazu zunächst feststellen, dass der Verband und seine Fachverbände als solche zivilgesellschaftliche Akteure bzw. traditioneller ausgedrückt intermediäre Institutionen sind. Gleichwohl wird die Transformation des Wohlfahrtsstaats auch die Konzeption des Caritasverbands verändern. Zwar dürften diese Veränderungen weniger die theologische Grundlage und den ekklesiologischen Ort betreffen; aber die Schwerpunkte werden sich verlagern, neue Aufgaben müssen wahrgenommen werden, und das Verhältnis zum Staat dürfte insgesamt ein unabhängigeres werden. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich zunächst einmal daraus, dass in Zukunft nicht mehr alle Not mit den Instrumenten des Wohlfahrtsstaats bedient werden kann. In qualitativer Hinsicht war für die kirchlichen Verbände schon immer klar, dass das, was der Sozialstaat geben kann, nämlich in erster Linie Recht und Geld, nicht jede Art von Not und die wenigsten Notlagen völlig heilt. Aber heute ist obendrein klar, dass es auch quantitative Grenzen gibt; und diese bestehen nicht nur in der Schmerzgrenze der finanziellen Belastung der Beitragszahler, sondern auch im Grad der Büro9 Denn in ,,Zeiten, in denen die Einkommen geringer, die Menschen am Rande der Gesellschaft mehr und das Geld in den privaten und öffentlichen Kassen weniger werden, ( . ..) werden auch Solidarität und gesellschaftliche Moral zu knappen Gütern. Die neue Lage muß nicht bedeuten, daß sich die modernen Gesellschaften auf einen Sozialdarwinismus hin entwickeln, aber sie stellt in jedem Falle die Solidarität der Mehrheit auf eine harte Probe. Die moralischen Grundlagen für eine solidarische Gesellschaft müssen neu ausgehandelt werden." [Dett/ing, 50 (Anm. 3; ohne Hervorhebungen)].
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kratisierung, in der Überregulierung und im Übermaß an staatlichem Einfluss. Gleichzeitig verliert eine Säule, die traditionell die soziale Sicherheit ganz wesentlich mitgetragen und ermöglicht hat, nämlich Familie und Nachbarschaft, als Folge eines komplexen Gemenges von brüchigeren Beziehungen, Vermeidung und veränderten Biografieprojekten an Bedeutung, wobei in diesem Zusammenhang offenbleiben kann, inwieweit sich auch darin noch einmal Konsequenzen des organisierten Sozialstaats manifestieren könnten. So wachsen auch von dieser Seite der freien Wohlfahrt neue Aufgaben oder wenigstens Erwartungen zu. Beide Verknappungen berühren die freien Wohlfahrtsverbände, jedenfalls insoweit, als diese bislang wohlfahrtsstaatliche Aufgaben im Auftrag des Staates ausgeübt haben. Sie werden das auch weiterhin tun, freilich in einem veränderten Kontext. Die stärkste Veränderung dürfte von der Einführung des Markts und der Zulassung des Wettbewerbs um die Erbringung sozialer Dienste zu erwarten sein. Damit büßen die Verbände nicht nur einen Teil ihrer privilegierten Stellung ein. Ein zusätzlicher Effekt ist vielmehr auch, dass dadurch ins Innere des Verbandes Bewegung kommt, weil die Überlegung unausweichlich ist, wie man mitbieten kann und durch niedrigere Kosten und bessere Leistung öffentliche Mittel und "Aufträge" sichert. Der Wettbewerb zwingt die Anbieter sozialer Leistungen förmlich, sich stärker an den Bedürfnissen der Klienten auszurichten und auf deren jeweilige Besonderheiten einzugehen, weil jetzt diese es sein werden, die darüber entscheiden, wer die benötigte soziale Dienstleistung erbringen soll. Allerdings gilt das immer nur im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten, so dass Kundenorientierung auf der einen Seite zu einer Verbesserung des Angebots im Sinne von Eingehen auf individuelle Bedürfnisse führen kann, auf der anderen Seite aber auch zur Ausgliederung bzw. Privatisierung bestehender Standards, so dass nur noch ein Teil der Bevölkerung, eben die Kaufkräftigen, in deren Genuss kommt. Obendrein zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre eindeutig, dass alle privaten Anbieter am Markt dazu neigen, die Kosten der Modernisierung soweit möglich auf die Allgemeinheit zu verlagern, so dass die Ausweitung des Marktes faktisch die Verschiebung von Kosten und sozialen Problemen nach sich zieht (Beispiel: Frühverrentung). Mehr Wettbewerb im sozialen Bereich mag ein Instrument sein, um das sozial Notwendige wieder zu stärkerer Konvergenz mit dem ökonomisch Vernünftigen zu zwingen, aber er garantiert keineswegs schon von sich aus (sozusagen in Umkehrung der Vorstellung von der invisible hand) eine ausreichende Versorgung und die Berücksichtigung aller, die wirklich Not leiden. Vor allem ist dieser Mechanismus systemfremd gegenüber vielem, was Menschen in Notlagen auch brauchen, beispielsweise Zeit und Zuwendung. Bei derartigen Kollisionen wird der Caritasverband in Zukunft nicht
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darum herumkommen, zu klären und zu entscheiden, welche Dienstleistungen marktkonform angeboten werden sollen bzw. können und welche nicht. Was aber die Vielzahl und das Neuerscheinen von Nöten betrifft, wird die Caritas als organisierter Verband - noch stärker als bisher schon - in zwei Rollen gefordert werden, nämlich als Anwalt der Schwachen und Übersehenen und als "Pfadfinder", der auf neue Formen menschlicher Not aufmerksam macht und Modelle entwickelt, wie helfend mit ihnen umgegangen werden kann. 10 Diese können dann später in das Leistungsangebot anderer, unter Umständen auch der öffentlichen Träger übernommen werden. Es ist evident, dass gerade mit diesen Rollen auch ein größeres Spannungs- und Reibungspotenzial zur Politik verbunden sein wird. Jenseits der Aufgaben jedoch, die sich auf den Sozialstaat beziehen, wird die Caritas der Zukunft in erheblich stärkerem Maß in der Sphäre der Gesellschaft und des bürgerschaftliehen Engagements tätig sein müssen. Wenn Menschen sich freiwillig mit dem Ziel zusammenschließen zu helfen, setzt das im Regelfall voraus, dass es sich um eine Not handelt, die wahrgenommen wird, sei es unmittelbar durch die eigene Anschauung, sei es vermittelt durch Anlaufstellen oder Beschreibungen vertrauenswürdiger Personen. Die Rolle eines Solidaritätsagenten in diesem wichtigen Feld wird der Caritasverband aber nicht in erster Linie dadurch spielen können, dass er sich der entsprechenden Notlagen selbst annimmt, sondern dadurch, dass er Netzwerke der Hilfen knüpft und Helfer anleitet. Dabei wird es in vielen Fällen nicht so sein, dass die Hilfe ganz ohne sozialstaatliche Leistungen wird auskommen müssen; um so wichtiger wird es aber, fall- oder gruppenbezogene Initiativen zu koordinieren und das Zusammenwirken von Angehörigen, Hilfskräften und ehrenamtlichen Helfern mit professionellem Rat zu begleiten. Dazu gehört auch die Vermittlung von fachlichen Kompetenzen bezüglich Notlagen, Bedürfnissen, Rechten und Hilfsmaßnahmen mittels Kursen oder regelmäßig stattfindenden Besprechungen. Ein Ansatzpunkt für das Ingangbringen solcher Vernetzungen durch den Caritasverband sind naheliegenderweise die Kirchengemeinden. Die Situation dort ist relativ günstig, insofern die Gemeinden seit zwei Jahrzehnten daran arbeiten, Diakonie (in Ausführung von Impulsen des II. Vatikanums und der Würzburger Synode) als eine konstitutive Grundfunktion des Gemeindeseins zurückzugewinnen. 11 Allerdings scheint die gemeindliche 10 So bereits bei Lorenz Werthmann, Rede bei der 4. öffentlichen Versammlung der 46. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Neisse am 31.8.1899, in: Verhandlungen der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands 46 (1899), 318-330, hier 321. 11 Ohne diese Feststellung empirisch belegen zu können, darf hier auf zwei unverdächtige Anzeichen verwiesen werden: das fast einstimmige Postulat der gegenseitigen Durchdringung von Caritas und Gemeinde in fast sämtlichen theologischen
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Orientierung angesichts der kirchlichen Entwicklung und der planensehen Antworten darauf (Seelsorgeverbände) für die nähere Zukunft keineswegs gesichert. Möglicherweise besteht aber eine andere Chance in der Zukunft darin, dass der Caritasverband als Plattform und Moderator für die Aktivierung und Bündelung von Solidaritätsinitiativen und Selbsthilfegruppen im gesellschaftlichen Feld auftritt. Als konkretes Beispiel für einen Bereich, in dem so etwas heute schon im Gange ist, sei die Hospizbewegung genannt. Ferner wächst dem Caritasverband eben auch dadurch ein neues Aufgabenfeld zu, dass die Selbstverständlichkeit, mit der Familien bis heute Solidarleistungen erbracht haben, abnimmt bzw. die Familie als Lebensform, die Solidarität zwischen den Generationen, Geschlechtern und Vitalitäten hervorbringt, immer öfter vermieden wird. Angesichts dieser Entwicklung wird die Caritas in Zukunft einen Schwerpunkt darauf setzen müssen, die konkreten Familien zu stärken, sie beim Tragen der Lasten zu unterstützen und ihnen in schwierigen Situationen mit Rat und Tat beizustehen. Dies hat aber nicht nur punktuell im Fall von Krisen zu geschehen, sondern viel nachhaltiger und präventiv durch Hilfen, die bereits im Vorfeld deutlich erfahren lassen, dass die Solidarleistung zu bewältigen und mit dem eigenen Lebenskonzept (etwa hinsichtlich der Erwartungen an den Berut) vereinbar ist; eine wichtige Rolle wird auch die Ermöglichung ehrenamtlicher Tätigkeit und der Einsatz für deren angemessene Anerkennung von seiten der Kirche wie von seiten der Politik sein. Schließlich gibt es noch einen weiteren Bereich, dessen sich der Caritasverband in der Zukunft wird stärker annehmen müssen als je zuvor, nämlich den der internationalen Solidarität. Das sozialstaatliche System ist nationalstaatlich verfasst, und es erscheint für absehbare Zeiträume kaum vorstellbar, dass sich dies ändert. Die bescheidenen Mittel aber, die der moderne Nationalstaat an Entwicklungshilfe leistet, gehören systematisch weniger zur Sozial- als zur Außen-, Wirtschafts- und Friedenspolitik. Durch diese nationalstaatliche Beschränktheit bleibt nicht nur die meiste Not, die weltweit besteht, tendenziell unbearbeitet; es werden auch die historischen und ökonomischen Interdependenzen und Transfers verdeckt, die Nöte generieren oder perpetuieren. Insofern kann sich der Caritasverband in der Zivilgesellschaft auch dem Ziel verpflichtet wissen, der Verengung der Wahrnehmung auf die Not in Deutschland entgegenzutreten und das Bewusstsein für die Nöte in der Menschheit weltweit zum Thema zu machen und ihnen wenigstens punktuell und exemplarisch durch Solidarisierungsaktionen entgegenzutreten. Auch im Weltmaßstab scheint die zivilArbeiten zu den Themen Gemeinde, Pastoral und Caritas sowie die institutionelle Verortung der Gemeindeebene in den Organen des Deutschen Caritasverbands bzw. der Caritas in der Gemeindearbeit der meisten Pfarreien (etwa Pfarrgemeinderat, Helferkreise u. ä. m.).
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gesellschaftliche (bzw. kirchenmitgliedschaftsaktive) Organisation von konkreten Projekten, die effektivste und obendrein am wenigsten der Gefahr des Patemalismus ausgesetzte Form der Hilfe zu sein. Im Vergleich zur bisherigen Einbindung der organisierten Caritas in den Sozialstaat gibt es also eine Reihe von erheblichen Unterschieden. Der erste besteht darin, dass das Hilfesystem insgesamt komplexer ist; es wird nicht mehr nur von zwei, sondern im Grunde von vielen Akteuren bestimmt. Desweiteren erweist es sich als notwendig, verschiedene Hilfebereiche je nach Reichweite (Familie, Gemeinde, Netzwerke, international) zu unterscheiden. Eine fixe Zuordnung zwischen Sozialstaat und Caritas findet nur noch in einem Feld, nämlich dem der sozialstaatliehen Solidarität, statt. Gleichzeitig verliert der Caritasverband die Vorrangigkeit; anstelle der Absprache unter den Wohlfahrtsverbänden über die jeweiligen Anteile am Sozialbudget des Staats tritt der Wettbewerb mit privatwirtschaftliehen Anbietem. Schließlich hat sich die Rolle des Caritasverbands erweitert: Er ist nicht mehr nur Subjekt von Hilfe (das bleibt er nach wie vor), sondern auch Anwalt in der politischen Diskussion, Pfadfinder, Plattform und Koordinator, auch Animator und Berater.
IV. Die neuen Rollen der Caritas und die Perspektive der katholischen Soziallehre Gesellschaftliche Entwicklungen erzwingen die Transfonnation des Wohlfahrtswesens; diese fordert ihrerseits den Caritasverband als einen der wichtigsten und größten Akteure der freien Wohlfahrt heraus, seine Rolle neu zu bestimmen. Sind nun diese sich abzeichnenden neuen Rollen bloße Reaktionen auf Druck von außen oder lassen sie sich selbst auch noch einmal von innen, also vom nonnativen Vorrat der Tradition der katholischen Soziallehre her, verantworten und gestalten? Bei einer Antwort auf diese Frage ist es von vomherein klar, dass es nicht um eine Rekonstruktion in Gestalt einer logischen Deduktion, sondern lediglich um Anschlüsse und Kontinuitäten gehen kann. Immerhin sind auch derartige Anschlüsse mehr als bloß terminologische Übersetzungsarbeit oder theoretische Selbstbestätigung, nämlich auch nonnative Kriterien, die bestätigend oder aber kritisch zur Geltung gebracht werden können. - Vor allem die folgenden Anschlüsse sind unübersehbar: 1. Zur Steuerungsaufgabe des modernen Staats gehört unaufgebbar die Abwendung struktureller Notlagen (Sozialpolitik) wie auch die Vorsorge für generelle Risiken. Dies ergibt sich einerseits aus der Gemeinwohlbezogenheit des Staates und andererseits aus der tendenziellen Ohnmacht des einzelnen Subjekts gegenüber der strukturellen Bedingtheit und unbeschränkten Reichweite der zugemuteten Risiken. Hundert Jahre nach Rerum nova-
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rum, wo diese Pflicht des Staates zur Intervention im Sozialen nach langem Zögern und der Favorisierung anderer Lösungen endlich auch kirchenamtlich auf höchster Ebene anerkannt wurde 12 , würde der Weg zu einem aus der Pflicht zur Sorge um die Wohlfahrt entlassenen Staat einen Schritt um 150 Jahre zurück in den Nachtwächterstaat bedeuten, der sich damit begnügen wollte, dem Einzelnen individuelle Freiheitsrechte zu garantieren.
2. Optimierung der Kosten auch im Sozialleistungssektor mittels Einführung marktwirtschaftlicher Komponenten (Wettbewerb, Dienstleistungsuntemehmen, Qualitätskontrolle, Managementmethoden, Public Relation usw.) mag heute schon und noch stärker in der Zukunft unumgänglich sein und sollte nicht von vomherein in Bausch und Bogen als für gemeinwohlorientierte Institutionen unangemessen tabuisiert werden. Aber darüber darf unter keinen Umständen das Wohl der Hilfsbedürftigen ins Hintertreffen geraten; Minimalisierung der Kosten und erst recht Profitorientierung dürfen nicht die obersten Ziele sein, wenn dabei die Humanität der Hilfe in Gestalt der Erhaltung eines Höchstmaßes an Autonomie, von menschlicher Zuwendung, Raum für Anteilnahme und seelischen Beistand "geopfert" werden müssen. Solche Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, gibt es aber auch in dem, was Mitarbeitern abverlangt oder an Arbeitsbedingungen zugemutet werden kann. Nach beiden Richtungen hin verlangt das Personalitätsprinzip der katholischen Soziallehre 13 der Ökonomisierung Schranken zu setzen bzw. drängt darauf, beim Bemühen um Minimierung der Kosten durch institutionelle Vorkehrungen auch die Lebensqualität der Hilfesuchenden und der Helfenden zu berücksichtigen. Auch ein funktionierender Markt, wenn er denn im Bereich sozialer Dienstleistungen überhaupt je konsequent stattfinden würde bzw. dürfte, legt sich solche Zügel nicht von selbst an. 3. Das Konzept der aktiven Bürgergesellschaft ist weder primär noch ausschließlich dazu erfunden worden, um den Bedarf an Solidarität in einer sich modernisierenden Gesellschaft auch in Zukunft befriedigen zu können. Es ist vielmehr die inhaltliche Füllung dessen, was Republik als Vision in der Neuzeit schon immer angezielt hat. 14 Sie deckt sich der Sache nach in 12 Rerum novarum Nm. 25-35 (deutsche Übersetzungen dieses und weiterer im Folgenden genannten Dokumente der katholischen Soziallehre in: Texte zur katholischen Soziallehre, hrsg. v. Bundesverband der kath. Arbeitnehmer-Bewegung, Bomheim-Kevelaer, 8. Auflage 1992). 13 Klassisch formuliert in Mater et Magistra Nr. 219 f.: "Der Mensch muß der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein. Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-Sein angelegt und zugleich zu einer höheren Ordnung berufen ist, die die Natur übersteigt und diese zugleich überwindet." 14 In Immanuel Kants Schrift ,,Zum ewigen Frieden" werden als die Kennzeichen der republikanischen Verfassung genannt: die Freiheit der Glieder einer Gesell-
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vielem mit der Betonung der Notwendigkeit sogenannter intermediärer Gemeinschaften in der Tradition der katholischen Soziallehre. 15 ,.Intermediär" meinte dabei nämlich genau den sozialen Raum zwischen dem Einzelnen bzw. der Familie als ,.Urzelle" der Gesellschaft und dem Staat als dem übergreifenden, ebenfalls für natürlich angesehenen Gesellschaftsgebilde. Ihre Bedeutung sah man zum einen in der sozial gestaltenden und in der Energien bündelnden Kraft, zum anderen in ihrer Nichtstaatlichkeit und damit staatsbeschränkenden Funktion. Nicht zuletzt war aus der Sicht der Kirche die intermediäre Ebene natürlich auch deshalb von besonderem Interesse, weil sie ihre eigene Existenz als sichtbare gesellschaftliche Größe nach dem Ende der religiös-politischen "Einheitskultur" 16 nur als Vergemeiosehaftung dieser Art definieren konnte. Während die Tradition allerdings beim Begriff "intermediäre Gemeinschaften" vor allem Körperschaften, Genossenschaften, Gewerkschaften und Verbände vor Augen hatte 17 , geht es beim Konzept der Zivilgesellschaft heute auch und sogar vornehmlich um freie Vergemeinschaftungen in Gestalt von Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, Vereinigungen und projektbezogenen Solidargruppen. Bei genauerem Hinsehen kann die Caritas in vielen ihrer eigenen Organisationsformen und Aufgabenprofilen Ansatzpunkte und Vorläufer eines solchen zivilgesellschaftlichen Engagements entdecken und sie in einer veränderten gesellschaftlichen Umgebung durch Emstnehmen, Delegieren von Kompetenzen, Unterstützung und Bildungsangebote revitalisieren (z. B. Vinzenzkonferenzen, Sozialverbände wie SkF, Telefonseelsorge u. ä.). 4. In dem Sinne, wie das Subsidiaritätsprinzip in der deutschen Sozialgesetzgebung aufgenommen und verbindlich interpretiert wurde, unterliegt es bei der heutigen Entwicklung faktisch einem Auszehrungsprozess. Sobald man sich aber an seinem ursprünglichen Gehalt orientiert 18 , kann man entdecken, dass durch die skizzierten Umorientierungen im Wohlfahrtssektor eine Entwicklung in Gang gekommen ist, für die etwas ganz wesentlich ist, was letztlich auch das Ziel des Subsidiaritätsprinzips ist, nämlich: zu verschaft, die Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung und die Gleichheit derselben in der Rechtsordnung (BA 20-22). Die Verfassung hat ihren Grund in "der Idee des ursprünglichen [Gesellschafts-] Vertrags", wie Kant ausdrücklich hinzufügt. Der vertragliche Zusammenschluss der Bürger erscheint dadurch zugleich als Grundlage wie als Rahmen und Modell aller weiteren Vereinigungen unter Bürgern. Außer Kant müssten in diesem Zusammenhang auch John Locke und Alexis de Tocqueville genannt werden. 15 Z. B. Pacem in terris Nr. 24 (s. auch die in Anm. 16 genannten Stellen). 16 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1922, 178-185 u. ö. 17 Siehe Pacem in terris Nr. 24; Gaudium et spes Nr. 68; Laborern exercens Nm. 18 und 20; Sollicitudo rei socialis Nr. 15; Centesimus annus Nr. 13. 18 Siehe den in Anm. 1 genannten Aufsatz von Nell-Breunings.
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hindern, dass eine säuberliche Aufspaltung entsteht zwischen Personenverbänden, die über große Hilfsmöglichkeiten verfügen und sie nach eigenem Gutdünken gewähren können, und den Einzelnen, die auf Hilfe angewiesen sind, bzw. zwischen Staat und Großorganisationen, die durch Behörden, Logistik und Ressourcen alle Aktivitäten an sich ziehen und kontrollieren, und den vielen Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt, als passiv zu bleiben und sich in einer Haltung der Erwartung, dass das für sie Notwendige getan wird, einzurichten. Das Subsidiaritätsprinzip in der Tradition der katholischen Soziallehre zielt letztlich auf die Vermeidung von Abhängigkeit durch Hilfe und das Konzept der Zivilgesellschaft auf den Bürger als aktives Subjekt, das durchaus auch zum Gemeinwesen etwas beitragen kann. Statt dessen gehen die neuen Bemühungen von der Überzeugung aus, dass jedes Mitglied der Gesellschaft über Fähigkeiten und Bereitschaften verfügt, die es für sich selbst und für andere nutzbar machen kann, und dass nur ganz wenige nichts können als nur Hilfe zu empfangen. Deshalb richten sie sich gerade darauf, beide Seiten, die Hilfesuchenden und die Hilfegebenden, zu Vergemeinschaftungen anzuregen und zwar beginnend mit den kleinen Lebenswelten (also "von unten"), um sie dazu zu bringen, ihre eigenen Potenziale zu entfalten. Behörden, Staat, aber auch Verbände haben einerseits die Aufgabe, dort einzuspringen, wo dies auf Grund der Schwere eines Falls oder der Umstände nicht funktionieren kann, andererseits die Funktion, die institutionellen, verwaltungsmäßigen und kompetenzmäßigen Voraussetzungen zu verbessern. 19 Das gegenüber der Tradition Neue besteht darin, dass Subsidiarität nicht auf die Zuständigkeit von Institutionen und im Sinne eines fixen Arrangements angewandt wird, sondern auf das aktivierbare Potenzial von Personen, Lebenswelten und Selbsthilfegruppen und im Sinne eines flexiblen Arrangements. 5. Wenn man in der Tradition der katholischen Soziallehre von Solidarität gesprochen und überlegt hat, wie man sie organisieren könne, hat man vor allem an "Einrichtungen" gedacht. Dies schließt aber in keiner Weise aus, dass in Zukunft Solidarität auch mittels anderer Arten und Formen organisiert und praktiziert wird. 20 Die wichtigste dieser neuen Formen ist die Einbindung in eine Gruppe oder Initiative, die sich freiwillig zu Gunsten eines gemeinwohlbezogenen Ziels engagiert und die im Verbundsystem wirksam wird. Hier, in den Netzwerken bzw. bescheidener durch Vernetzung der institutionellen Hilfen mit bestehenden sozialen, familiären, nachbarschaftlichen, kollegialen oder freundschaftlichen Netzen zu einem ArranSiehe Dettling, 191 f. (Anm. 3). Im Sozialwort (Anm. 8) heißt es dazu: "An die Stelle herkömmlicher Formen der Solidarität tritt zunehmend die freiwillige solidarische Einbindung in Gruppen, die häufig durch gemeinsames Engagement für eine gemeinsame Sache neu entstehen." (Nr. 157). 19
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gement liegt ein soziales Potenzial, das im Sinne der solidarischen Auffang-, Binde- und Transfermöglichkeiten, an denen der katholischen Soziallehre so sehr liegt, größte Aufmerksamkeit und Unterstützung verdient in seinem Drang, Bevormundungen zu durchbrechen, wenn man sich denn nicht einfach mit den vielfach als Entsolidarisierung beklagten Folgen der beschleunigten Modemisierung und Individualisierung abfinden möchte.
Religiöse Programmatik und diakonisches Handeln Erwägungen zur Spezifik kirchlicher Wohlfahrtsverbände
Von Volkhard Krech I. Der Diskussionskontext
Im Zuge der Diskussion um die Reform des Sozialstaates sind auch die kirchlichen Wohlfahrtsverbände genötigt, ihren Standort und ihre Funktion im Sozial- und Gesundheitssystem neu zu bedenken. Fasst man die Diskussion um die Frage zusammen, welche Aufgaben ihnen in Zukunft zukommen sollen, lassen sich drei Typen von Antworten unterscheiden: 1. Beibehaltung der Grundversorgung in sämtlichen Bereichen des Sozial-
und Gesundheitssystems;
2. Konzentration auf ausgewählte Schwerpunkte; dies entweder im Sinne der Kompensation von Defiziten im Sozial- und Gesundheitssystem oder im Sinne der Beschränkung auf ein spezifisches, programmorientiertes Angebot; 3. Innovation in besonderen Arbeitsfeldern auf der Grundlage einer spezifischen, von Kriterien der christlichen Religion geleiteten Programmatik. Während der erste Antworttypus den historischen Bedingungen verpflichtet ist, denen sich die besondere Stellung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände beim Aufbau des bundesdeutschen Sozialsystems verdankt 1, stellen die beiden anderen Antworttypen eher auf die Frage ab, worin die Spezifikation kirchlicher Angebote im Bereich sozialer Dienstleistungen bestehen können - und zwar angesichts der zunehmenden Marktförmigkeit des Sozial- und Gesundheitswesens im Unterschied zu Angeboten von Einrichtungen in anderer Trägerschaft. Die folgenden Überlegungen setzen bei der zuletzt genannten Thematik an. 1 Zu den historischen Bedingungen siehe zum Beispiel Karl Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung ( 1945-1949). Verwaltung - Politik - Verfassung, in: Wilhelm Kohl (Hrsg.), Das 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Kultur, Düsseldorf 1983, 269 ff., und Johannes Michael Wischnath, Das Evangelische Hilfswerk in der Nachkriegszeit, in: Udo Krolzik (Hrsg.), Zukunft der Diakonie. Zwischen Kontinuität und Neubeginn, Sielefeld 1998, 115-134.
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Die Frage nach den Besonderheiten, nach dem "Proprium" kirchlicher Wohlfahrtsverbände beschäftigt seit geraumer Zeit auch zahlreiche Leiter und Programmreferenten von Einrichtungen des Diakonischen Werkes und des Caritasverbandes. Manche sehen ein großes Defizit darin, die Ziele ihrer Einrichtungen angesichts der politischen und ökonomischen Entwicklung im Sozial- und Gesundheitssystem zu überdenken. Als Beispiel gebe ich zwei Einschätzungen wieder - die eine aus dem Bereich des Diakonischen Werks, die andere aus einer Einrichtung des Caritasverbandes. Der ehemalige Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld, Johannes Busch, schreibt: "Der politische Trend, mehr Marktmechanismen in das Sozial- und Gesundheitswesen einzuführen, ist unverkennbar, und wir treten mehr oder weniger reflektiert mit ein in den Konkurrenzkampf um das preisgünstigste Heim oder Krankenhaus [... ]. Die fachlich-wissenschaftlichen Entwicklungen, zum Beispiel auf medizinischem, pädagogischem oder therapeutischem Gebiet[,] machen wir nahezu unbesehen mit; wir kommen gar nicht nach, sie von unseren diakonischen Zielen her zu reflektieren und zu profilieren."2
In einem ähnlichen Tenor ist die Formulierung der Generaloberin der Waldbreitbacher Franziskanerinnen, Basina M. Kloos, gehalten: "Wir hatten Erfolge, und dennoch mußten wir feststellen, daß wir wesentliche Erkenntnisse für eine zeitgemäße Unternehmensführung nicht ausreichend berücksichtigt haben. Eine Analyse, die auf unseren Wunsch hin durchgeführt wurde, zeigte uns genau die Schwachstellen auf, die für verwaltete Krankenhäuser typisch sind[,] und brachte uns die Rückmeldung, daß wir auch unzufriedene Mitarbeiter haben. Zum ersten Mal wurde uns bewußt, daß wir außer Zielvorgaben keine konkrete Unternehmensphilosophie haben. Als Ordensgemeinschaft mit vielen eigenen Krankenhäusern haben wir angesichts der Erkenntnis, daß der Säkularisierungsprozeß auch vor den Toren unserer Krankenhäuser nicht haltmacht, uns außerdem die Frage gestellt: Was müssen wir tun, um unseren Auftrag im kirchlichen Krankenhaus glaubwürdig erfüllen zu können? Wir haben erkannt, daß ein Krankenhaus nicht verwaltet, sondern geführt werden muß. Wir haben ,ja' gesagt zum modernen Krankenhaus mit einer Hochleistungsmedizin, das medizinisch, pflegerisch, technisch und administrativ gut ausgestattet ist. Das allein reicht nicht. Auch eine klare Organisationsstruktur mit Stellenbeschreibungen für alle Mitarbeiter spricht noch nicht für eine gute Führung. Wir kamen in der Leitung zu der Fragestellung, daß diese Kriterien zwar für gutfunktionierende Betriebe sprechen, aber für den kranken Menschen und den Mitarbeiter das ,Proprium' des christlichen Krankenhauses unklar, verschwommen und auch gar nicht erkennbar ist. " 3
2 Johannes Busch, Leitung verantworten, in: Gerhard Röckle (Hrsg.), Diakonische Kirche. Sendung - Dienst - Leitung. Versuche einer theologischen Orientierung, Neukirchen-Vluyn 1996, 86-105. 3 Basina M. Kloos, Führen·statt verwalten - Erwartungen aus der Sicht des Krankenhausträgers, in: Krankenhaus Umschau 58 (1989) 802-804, hier: 802; zitiert
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Auch sozialwissenschaftliche Forschungen stellen fest, dass die Formulierung und vor allem die Umsetzung trägerspezifischer Zielsetzungen im Bereich kirchlich getragener Einrichtungen problematisch ist; so lautet etwa das Resultat einer von der Robert Bosch-Stiftung geförderten Studie über freigemeinnützige Krankenhäuser. 4 Trotz der eindeutig benannten Probleme, wie sie in den wiedergegebenen Einschätzungen der Praktiker zum Ausdruck kommen, und vielleicht auch wegen ihres Schwierigkeitsgrades konzentrieren sich sozialwissenschaftliehe Forschungen auf die untemehmerischen, insbesondere auf die administrativen und betriebswirtschaftliehen Rahmenbedingungen von Einrichtungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände. Die Stichworte lauten hier: Unternehmenspolitik, Management und Controlling. 5 Eingehendere Analysen, auf welche Weise sich eine religiöse Programmatik mit Methoden der Prävention, Therapie und Pflege vermitteln lassen und welchen Schwierigkeiten eine Vermittlung ausgesetzt ist, stehen bis dato noch aus. Bei dieser Thematik setzen meine Überlegungen an.
nach: Heribert W. Gärtner, Zwischen Management und Nächstenliebe. Zur Identität des kirchlichen Krankenhauses, Mainz 1994. 4 Vgl. Roland Rausch, Die freigemeinnützigen Krankenhäuser in der Bundesrepublik Deutschland - Entwicklung, Lage, Leistungen und Zukunftsaussichten (Beiträge zur Gesundheitsökonomie, Bd. 14, hrsg. von der Robert Bosch-Stiftung GmbH), Gerlingen 1984 und resümmierend ders., Das Selbstverständnis freigemeinnütziger Krankenhäuser und gesellschaftliche Erwartungen. Ergebnisse einer Studie, in: Siegfried Eichhom/Heinz Lampert (Hrsg.), Ziele und Aufgaben der freigemeinnützigen Krankenhäuser (Beiträge zur Gesundheitsökonomie, Bd. 18, hrsg. von der Robert Bosch-Stiftung GmbH), Gerlingen 1988, 87-133. 5 Vgl. etwa Markus Rückert, Diakonie und Ökonomie. Verantwortung- Finanzierung - Wirtschaftlichkeit, Güters1oh 1990; Hartwig Drude/Egbert Kahle/Rolf-Jürgen Korte, Management in diakonischen Unternehmen (Arbeitsbericht 99 des Fachbereichs Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Lüneburg), Lüneburg 1991; Alfred Jäger, Diakonie als christliches Unternehmen. Theologische Wirtschaftsethik im Kontext diakonischer Unternehmenspolitik, Gütersloh 3. Aufl. 1990; ders., Diakonische Unternehmenspolitik. Analysen und Konzepte kirchlicher Wirtschaftsethik, Gütersloh 1992; Rolf-Jürgen Korte, Controlling in diakonischen Unternehmen (Arbeitsbericht 107 des Fachbereichs Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Lüneburg), Lüneburg 1992; Egbert Kahle (Hrsg.), Wertedefizite im Management: Effizienzdefizite in der Diakonie? Bericht vom Symposium der Diakonischen Heime in Kästorf e. V. am 16. und 17. 2. 1996 (Arbeitsbericht 167 des Fachbereichs Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Lüneburg), Lüneburg 1996; David Lohmann, Das Sielefelder Diakonie-Managementmodell (Leiten, Lenken, Gestalten - Theologie und Ökonomie, Bd. 1), Gütersloh 1997.
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II. Der organisationssoziologische Theorierahmen Der von mir zu Grunde gelegte organisationssoziologische Theorierahmen macht Anleihen bei der neueren soziologischen Systemtheorie. Diese geht davon aus, dass sich die gesellschaftlichen Teilsysteme nicht mit ihren Organisationen decken. Darauf hat etwa Niklas Luhmann wiederholt hingewiesen. 6 Zum einen unterliegen Organisationen einem Funktionsprimat, der sich mit der Funktion desjenigen Systems deckt, dem sie vorrangig zugehören. Zum anderen fungieren sie als "Brückenprinzip", indem sie zwischen den ansonsten heterogenen gesellschaftlichen Teilbereichen vermitteln. Organisationen nehmen also auch sekundäre Funktionen eines Gesellschaftssystems für andere Teilsysteme wahr, die Luhmann von der primären Funktion unterscheidet und Leistungen nennt. 7 Das "Brückenprinzip" zwischen Religion und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen stellen die Kirchen als die formalen Organisationen des Christentums dar. Ihr Funktionsprimat besteht darin, "geistliche Kommunikation" zu üben sowie eine vitale christlich-religiöse Praxis zu ermöglichen und zu fördern. Darüber hinaus haben sie die Aufgabe zu erfüllen, andere gesellschaftliche Handlungsfelder mit der christlichen Religion zu vermitteln. Dies tun die Kirchen, indem sie sich neben dem religiösen Bereich auch in anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern engagieren und (sozial)politische, rechtliche, ökonomische, therapeutische, pädagogische und zuweilen auch künstlerische Handlungen unter ihrem Dach vereinen. Was bedeutet diese organisationssoziologische Ortsbestimmung der Kirchen für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände? Diakonisches Handeln nach heutigem Verständnis hat sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts formiert. Vor allem unter dem Einfluss der Erweckungsbewegung entstanden neben den verfassten Kirchen freie Initiativen und Einrichtungen. Der Rechtsform nach sind das Diakonische Werk und der Caritasverband auch heute freie Wohlfahrtsverbände, deren rechtlich und finanziell selbstständige Mitglieder mit den verfassten Kirchen zumeist nur in einer losen Verbindung stehen. Allerdings hat sich - zumindest in den Kirchen - die Auffassung etabliert, dass die Wohlfahrtsverbände eine ihrer "Wesens- und Lebensäußerungen" darstellen, wie es beispielsweise im Artikel 15 der 1948 formulierten Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland heißt. 8 Die Frage ist allerdings, ob sich auch umgekehrt die 6 Vgl. z.B. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, 672 ff. 7 Vgl. für das Religionssystem Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt/M. 1977, 54 ff. 8 Zum Verhältnis von verhandlicher Diakonie beziehungsweise Caritas und verfasster Kirche siehe Kar/ Gabriel, Verbandliehe Caritas im Postkatholizismus, in:
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Einrichtungen des Diakonischen Werks und des Caritasverbands als kirchliche verstehen. Unabhängig von rechtlichen und finanziellen Fragen ist jedenfalls ein christlicher Bezug in den Statuten der kirchlichen Wohlfahrtsverbände enthalten. Setzt man die Beziehung zwischen den verfassten Kirchen und den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden auf programmatischer Ebene einmal als geklärt oder jedenfalls als unproblematisch voraus, so lässt sich angesichts der gesellschaftlichen Differenzierung und des zu Grunde gelegten organisationssoziologischen Theorierahmens die Besonderheit von diakonischen Dienstleistungseinrichtungen in folgendem sehen: Sie haben die Aufgabe, die Funktionskontexte von Gesundheit und (Sozial-)Politik mit dem Bereich der christlichen Religion zu vermitteln (und vice versa). Kirchliche Wohlfahrtsverbände gehören einerseits, was den Funktionsprimat angeht, dem Sozial- und Gesundheitssystem an. Andererseits verstehen sie sich ihrem Auftrag gemäß als ein Teil der christlichen Kirchen und weisen insofern auch Bezüge zum gesellschaftlichen Bereich der Religion auf. Die theologische Sozialethik sieht in den diakonischen Einrichtungen denjenigen Teil der Kirche als der organisierten Sozialform des Christentums, in dem das implizite ekklesiologische Kriterium des solidarischen Hilfehandeins vor: zugsweise zur Geltung kommt. Vor dem Hintergrund dieser organisationssoziologischen Überlegungen haben wir es mit den Problemen der Polykontextualität9 und der Vermittlung unterschiedlicher Handlungsrationalitäten zu tun. Die Klärung der Frage, wie die Integration der - häufig konfligierenden - Rationalitäten von Organisations- und Professionshandeln einerseits und religiöser Programmatik andererseits ermöglicht werden kann, ist gegenwärtig noch weitgehend unbewältigt und stellt in Bezug auf die Frage nach der Zukunft der kirchlichen Wohlfahrtsverbände meines Erachtens eine der größten Herausforderungen dar. Jedenfalls liegt in der Stellung kirchlicher Wohlfahrtsverbände zwischen dem Sozial- und Gesundheitswesen einerseits und dem Religionssystem andererseits zugleich ihr Problem und ihre Chance. Ihr Problem besteht darin, dass sie nicht nur - wie andere soziale Dieostleistungsorganisationen - zwischen dem Funktionsprimat des Sozial- und Caritas 91 (1990) 575-584, Josef Voß, Caritas als Wesensäußerung der Kirche im Zusammenhang gesellschaftlicher und sozialpolitischer Herausforderungen, in: Caritas 91 (1990) 405-419, sowie die Beiträge in Evangelisch-Lutherisches Diakoniewerk Neuendettelsau (Hrsg.), Diakonie als Dimension der Kirche, Diakonisch-theologisches Symposion - 6. bis 8. Mai 1994, Freimund 1995. Zur theologischen Interpretation der Diakonie auf systemtheoretischer Grundlage vgl. Dierk Stamitzke, Diakonie als soziales System. Eine theologische Grundlegung diakonischer Praxis in Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, Stuttgart u. a. 1996. 9 Vgl. dazu Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996, 185 ff.
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Gesundheitssystems (in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht) und anderen Funktionskontexten - unter sozialstaatliehen Rahmenbedingungen dem der Politik, derzeit und zunehmend vor allem dem der Wirtschaft - zu vermitteln hat; dies allein ist schon eine sehr komplexe Aufgabe. Darüber hinaus haben sie - als Einrichtungen mit kirchlicher Bindung - die verschiedenen Funktionskontexte mit dem Bereich der Religion in Beziehung zu setzen. Auf Grund der Zwischenstellung müssen sich diakonische Einrichtungen nach zwei Seiten hin legitimieren: nach der Seite des Sozialund Gesundheitssystems sowie nach der Seite der Kirchenorganisation mit eigenen theologischen Programmen. Die Aufgabe der Vermittlung zwischen Sozial- und Gesundheitssystem einerseits und dem Religionssystem andererseits wird noch dadurch erschwert, dass in den Einrichtungen der kirchlichen Wohlfahrtsverbänden eine theologische Programmatik in der Regel nur in Form von Statuten existiert und bislang keine Konzepte darüber entwickelt worden sind, wie sie auf die konkreten Handlungsabläufe, Entscheidungsstrukturen und therapeutischen sowie pflegerischen Methoden der einzelnen Einrichtungen zu beziehen ist. Die Chance der Position diakonischer Organisationen an der Nahtstelle zwischen Sozial- und Gesundheitssystem einerseits und Religion andererseits besteht darin, angesichts des zunehmend marktförmigen Wettbewerbs ein eigenes Angebotsprofil zu entwickeln, das sich von anderen Anbietern unterscheidet. Um diese Chance zu nutzen, muss zunächst das tatsächliche Verhältnis von organisatorischer Programmatik auf christlicher Grundlage und professionellen Methoden in den unterschiedlichen Feldern diakonischen Handeins erfasst und analysiert werden. In diesem Zusammenhang seien die Ergebnisse von zwei exemplarischen Untersuchungen skizziert. 111. Zwei Untersuchungsbeispiele Zwischen 1986 und 1994 wurde ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit dem Titel "Naturwissenschaftliche Medizin und christliches Krankenhaus" durchgeführt. Die zentrale Aufgabe der Untersuchung bestand darin zu prüfen, "wie im hoch technisierten Krankenhaus heute christliche Orientierungen zum Zuge kommen" 10 . Dabei standen nicht die Grenzsituationen medizinischer Praxis im Vordergrund, wie sie innerhalb der medizinischen Ethik thematisiert werden, sondern ausdrücklich der klinische Alltag. Im Ergebnis wurde zunächst eine Spannung festgestellt, die zwischen dem Programm eines christlichen Krankenhauses und dessen Realisierung 10 Gerta Scharffenorth/A. M. Klaus Müller (Hrsg.), Patienten-Orientierung als Aufgabe. Kritische Analyse der Krankenhaussituation und notwendige Neuorientierung, Heidelberg 1990, 19.
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besteht. Sie macht sich an den zu unterscheidenden Begriffen "diakonischer Grundsatz" und professionsspezifische "Selbstverpflichtung" fest. 11 Ein weiteres Ergebnis der Studie besteht in der Einsicht, dass sich die Spannung zwischen den medizinisch-technischen und den ökonomischen Ansprüchen einerseits und dem theologischen Programm andererseits nicht auflösen lässt, dass aber zwischen ihnen vermittelt werden muss. Die Vermittlungsaufgabe wird allerdings gerade dadurch erschwert, dass das "Proprium" eines christlichen Krankenhauses zwar ins Gespräch gebracht, aber nicht präzisiert wird und auf der symbolisch-semantischen Ebene verbleibt. "In der Debatte um die Strukturreformen des Gesundheitswesens haben sich die Trägerverbände kirchlicher Krankenhäuser nachdrücklich auf das ,Proprium' berufen, ohne dies aber für den Dialog mit anderen Trägem oder gesetzgebenden Instanzen inhaltlich zu erläutern. Darin äußerte sich Unsicherheit gegenüber den zur Diskussion stehenden Problemen." 12 Auf Grund dieses Befundes wird eine dringende Aufgabe darin gesehen, nach Möglichkeiten einer Vermittlung zwischen theologischer Programmatik und therapeutischen sowie pflegerischen Methoden zu suchen. "Die Frage nach dem Proprium kirchlicher Krankenhäuser mündet also in die Frage an die Träger und Leitungsorgane, welche Arbeitsformen, Instrumente und Leitungsmodelle heute nötig sind, um in den Spannungen und Konflikten der Krankenhausarbeit zusammen mit den am Krankenbett tätigen Ärzten und Pflegenden Richtlinien des gemeinsamen Handeins zu erarbeiten und durchzuhalten." 13 In Bezug auf die Frage, welche Spielräume Träger und Leitungen kirchlicher Krankenhäuser haben, um die trägerspezifischen diakonischen Ziele zu erfüllen, zeigt die Analyse, dass "die Qualität der Arbeit weithin von der menschlichen Zuwendung und dem Gespräch mit den Patienten abhängt, das heißt von Arbeitsinhalten, die der diakonische Auftrag umfaßt". 14 Als Fazit hält die Studie fest: Statt nur auf medizinisch-technische und gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren, "sollten die eigenen Beiträge zu diesem gesellschaftlichen Aufgabenbereich [... ] profiliert werden" 15 . Als zweites Beispiel führe ich eine empirische Untersuchun~ über psychologische Beratungsstellen in diakonischer Trägerschaft an. 1 In diesem Projekt wurden nicht nur die Schwierigkeiten bei der Umsetzung trägerspeVgl. Scharffenorth/Müller, 402 (Anm. 10). Scharffenorth/Müller, 404 (Anm. 10). 13 Scharffenorth/Müller, 407 f. (Anm. 10). 14 Scharffenorth/Müller, 408 (Anm. 10). 15 Scharffenorth/Müller, 415 (Anm. 10). 16 Vgl. Hartwig von Schubert et al., Von der Seele reden. Eine empirisch-qualitative Studie über psychotherapeutische Beratung in kirchlichem Auftrag, NeukirchenVluyn 1998. 11
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zifischer Zielsetzungen deutlich, sondern sogar grundsätzliche Konflikte zwischen einer diakonisch-theologischen Programmatik und der Eigenlogik des Professionshandeins der Berater und Therapeuten aufgezeigt. Die Berater ringen mit der Spannung zwischen der theologischen Programmatik des Trägers, dem Verständnis der eigenen Berufsrolle sowie den Erwartungen der Klienten und nehmen die organisatorische Programmatik auf Grund ihrer Diffusität häufig nur als Irritation wahr.
IV. Mögliche Vermittlungsbereiche zwischen religiöser Programmatik und organisatorischer sowie professioneller Handlungslogiken Wie diese beiden und ähnliche Untersuchungen zeigen, wird die Frage nach der Vermittlung zwischen einer religiös-theologischen Programmatik und Methoden auf der operationalen Ebene in Leitungsgremien und einzelnen Professionsbereichen (Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen und Sozialarbeiter) durchaus gestellt und dialogisch zu beantworten versucht. Künftige Forschungen müssen hier ansetzen, um Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten der Vermittlungsleistung zwischen einer christlich-religiösen Programmatik und medizinischer sowie pflegerischer Praxis zu eruieren. An Vermittlungsmöglichkeiten zwischen einer religiös-theologischen Programmatik und den Handlungsabläufen in Einrichtungen der kirchlichen Wohlfahrtsverbände lassen sich prinzipiell folgende Bereiche unterscheiden: - die Finanzierungsstrukturen diakonischer Einrichtungen als Non-profitOrganisationen. Hier ist insbesondere die Förderung kirchlicher Wohlfahrtsverbände und deren Einrichtungen durch Kirchensteuern und Spenden aus dem kirchlichen Raum zu nennen; - die Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden und funktionalen Diensten der Kirchen. Im Einzelnen kommen folgende Vermittlungsebenen in Betracht: - Mobilisierung von ehrenamtlichen Ressourcen 17 ; - Zusammenarbeit zwischen dialeonischen Einrichtungen und professioneller Arbeit in den Kirchengemeinden (stationär und ambulant; psychosoziale Nachbehandlung); 17 Vgl. Günther Bauer-Tomack, Ehrenamtliche Mitarbeit in der Diakonie am Beispiel des Diakonischen Werkes Bayern (Beiträge zur Diakoniewissenschaft N.F. 1), Heidelberg 1992, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche von Wesifalen (Hrsg.), Diakonie und Ehrenamt. Eine Arbeitshilfe für Ehren- und Hauptamtliche in Kirche und Diakonie mit Beiträgen und Informationen zum Thema Ehrenamt, Münster 2. Aufl. 1994 und Marianne Bühler, Frauen - Kirche - Ehrenamt. Entwicklungen und Perspektiven, Düsseldorf 1995. Für einzelne Bereiche ehrenamtlichen
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- Zusammenarbeit zwischen diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden bei der Wiedereingliederung von Patienten bzw. Klienten in ihren lebensweltlichen Kontext 18 ; - die Motivation des Personals: Stärkung des commitments gegenüber der Organisation und ihren Zielen sowie der Einsatzbereitschaft durch eine christliche Überzeugung; - die von christlichen Maßstäben geleitete Koordination der unterschiedlichen Funktionskontexte von Gesundheit (unterteilt in Prävention, Therapie und Pflege), Wirtschaft, Administration und Religion im Bereich einer Organisation (in den Termini der Qualitätssicherung: Verbesserung der "Strukturqualität"); - die Therapieformen der Wiederherstellung und Methoden zur Erhaltung bzw. Förderung der physischen, psychischen und sozialen Integrität von Personen. Während die ersten drei Punkte bei Fragen der Organisationsstruktur ansetzen, beziehen sich die zuletzt genannten beiden Optionen auf die Professionen, die innerhalb diakonischer Einrichtungen tätig sind. Bei allen Engagements siehe Albert Wohlfarth, Ehrenamtliches Engagement heute. Das theologisch-psychologische Qualifizierungskonzept für Ehrenamtliche im Altenbesuchsdienst, Würzburg 1995; Silke Funk, Die ambulante Hospizhilfe als ein neues Aufgabenfeld von Diakonie und Kirche. Erläutert an Ausbildung, Intention und Struktur im ehrenamtlichen Kontext (Beiträge zur Diakoniewissenschaft 86), Heidelberg 1998; Anette Stork, Zwischen Professionalität und dem guten Herzen. Ehrenamtliche Mitarbeit in der Telefonseelsorge unter besonderer Berücksichtigung von Aspekten der nichtprofessionellen Mitarbeit (Beiträge zur Diakoniewissenschaft 75), Heidelberg 1997. 18 Zu den beiden zuletzt genannten Vermittlungsebenen vgl. Gert Schneider, Gemeindewerdung von Diakonie oder Diakonisierung von Gemeinde?, in: lnes Cremer/Dieter Funke (Hrsg.), Diakonisches Handeln. Herausforderungen - Konfliktfelder- Optionen, Freiburg i.Br. 1988, 144-153; Hannes Kramer, Versuch eines Brückenschlags zwischen Verbands-Caritas und Gemeinde-Diakonie, in: Pastoraltheologische Informationen 10 (1990) 39--{)3; Christo! Grote, Ortsgemeinden und Diakoniestationen. Überlegungen zur diakonischen Gemeinde anhand der Arbeit der westfälischen Diakoniestationen, Diss. Heidelberg 1993; zum Kontakt zwischen Krankenhaus und Kirchengemeinden siehe Bernd Seguin, Ehrenamtliche Mitarbeit der Gemeinde im Krankenhaus, in: Diakonie 9 (1983) 110-114; Rainer Hintzen, Gemeinde und Krankenhaus. Zwei "Welten" begegnen sich?!, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 42 (1990) 107-114; Barbara Städtler-Mach, Das Evangelische Krankenhaus. Entwicklungen - Erwartungen Entwürfe (Wissenschaftliche Beiträge aus Europäischen Hochschulen, Reihe I Theologie, Bd. 6), Ammersbek bei Harnburg 1993, 126 ff. und 154 f.; zum Fall der Telefonseelsorge vgl. Hans-Ulrich von Brachet, Diakonales Handeln und Gemeindeentwicklung. Gemeindewerdung von Diakonie am Beispiel der Telefonseelsorge, in: Cremer/Funke (Hrsg.), Diakonisches Handeln. Herausforderungen - Konfliktfelder- Optionen, Freiburg i.Br. 1988, 154-171. 7•
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genannten Bereichen ließe sich ansetzen. Allerdings scheinen mir die Bereiche mit der gegenwärtig größten Herausforderung und dem größten Innovationspotenzial für kirchliche Wohlfahrtsverbände die beiden zuletzt genannten zu sein. Damit ist die Frage verbunden, wie sich theologische Programme und deren anthropologische und weltanschauliche Implikationen mit den professionellen Methoden (in den Bereichen der Prävention, der Therapie und der Pflege) vermitteln lassen. Hier anzusetzen, bedeutet, den Professionen die Funktion von Steuerungszentren religiöser Programmatik zukommen zu lassen. Das ist allerdings alles andere als unproblematisch. 19 Um die Problemdimension anzudeuten, sei in aller Kürze auf Probleme zwischen Organisations- und Professionshandeln eingegangen, wie sie auch aus anderen Bereichen bekannt sind. I. Strukturkonnikte zwischen Organisations- und Professionshandeln
Um unserer Fragestellung nachzugehen, müssen die organisatorischen Strukturmerkmale der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in den Blick genommen werden. Doch während in der allgemeinen Organisationssoziologie alle drei Strukturmerkmale einer Organisation, nämlich "Programm", .,Personal" und "Kommunikationsstruktur", auf einer Ebene behandelt werden, legt es sich für den Bereich derjenigen Organisationen, die mit Professionen arbeiten, nahe, das Merkmal "Personal" von der organisationssoziologischen Ebene im engeren Sinne zu trennen und unter professionssoziologischen Gesichtspunkten zu betrachten. Die Professionalisierungsproblematik von organisationssoziologischen Fragen im engeren Sinne abzukoppeln, ermöglicht Einsichten in die teilweise bestehende Gegenläufigkeit von Organisations- und Professionshandeln. Allerdings ist ebenso zu beachten, dass alle Strukturmerkmale wechselseitig voneinander abhängen. Wenn beispielsweise auf der Strukturebene "Programm" Änderungen erfolgen, so hat dies Auswirkungen auf die beiden anderen Strukturebenen und umgekehrt. Folglich kann kein Merkmal einen Primat beanspruchen. Aus diesem Grund haben die professionssoziologischen Analysen immer auch Auswirkungen auf im engeren Sinne organisationssoziologische und programmatische Fragen. Mit der Kennzeichnung bestimmter Berufe als einer Profession ist im Unterschied zum alltagssprachlichen Gebrauch nicht die fachliche Kompetenz und Qualität einer berufsförmig erbrachten Arbeit gemeint. Von einer 19 Zu den Schwierigkeiten von Professionshandeln in diakonischen Einrichtungen siehe Hans-Georg Ziebertz, Sozialarbeit und Diakonie. Eine empirisch-theologische Studie zu Identitäts- und Legitimationsproblemen kirchlicher Sozialberufe, Weinheim 1993.
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Profession bzw. Professionalisierung eines Berufs ist im soziologischen Sinn vielmehr dann die Rede, wenn bestimmte Struktunnerkmale beruflichen Handeins erfüllt werden.20 Abgesehen davon, dass Professionen die Merkmale eines Berufs erfüllen müssen (Bezahlung, klar definierter Arbeitsauftrag, Weisungsbefugnis und -abhängigkeit im Rahmen einer organisatorischen Hierarchie, geregelte Arbeitszeit etc.), zählen zu Professionen diejenigen Berufe, die über ein systematisches Wissen verfügen und die Standards der Ausbildung und Berufsausübung selbst kontrollieren. Dieses Wissen beinhaltet mehr oder minder abstrakte Kategorien, die in je unterschiedlichen Situationen konkretisiert werden. Professionen sind dann zuständig, wenn es sich um ein Problem von einzelnen Menschen in einem konkreten Lebenszusammenhang handelt, das ohne spezialisiertes Wissen nicht mehr zu bewältigen ist. Sie setzen kulturelle Traditionen (Wissensund Deutungsmuster sowie Problemperspekliven) handlungsmäßig und interpretativ für die Bewältigung von individuellen Krisen und die Wiederherstellung bzw. Erhaltung der physischen, psychischen und sozialen Integrität sowie der Identität von Personen ein. Zu den klassischen Professionen gehören daher Ärzte, Pfarrer, Rechtsanwälte und Lehrer; mittlerweile werden auch Therapeuten und Sozialarbeiter bzw. -pädagogen zu den Professionen gezählt. Professionen zeichnen sich ferner durch eine am Gemeinwohl ausgerichtete Handlungsorientierung aus und handhaben die jeweilige Berufsidee reflexiv. Um die Schwierigkeiten einer Vennittlung von Organisations- und Professionshandeln genauer erfassen und erklären zu können, erscheint es mir wichtig, auf die Verschiedenheiten der beiden Handlungstypen und die daraus resultierenden Probleme in der Kommunikationsstruktur einzugehen. Wie oben ausgeführt, besteht ein wesentliches Merkmal professioneller Arbeit darin, sich auf Individuen in konkreten Situationen zu beziehen. Dagegen betrifft Organisationshandeln formale Tätigkeiten; es muss zwangsläufig unpersönlich sein, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Ein großes Konfliktpotenzial zwischen Professions- und Organisationshandeln besteht darin, dass die Organisation von einem professionellen Akteur erwartet, dass er sich nach ihren Normen - und das heißt eben: nach den Normen der Unpersönlichkeil - verhält, während er selbst in seinem professionellen Handeln, in den Interaktionen, ebenso als Person gefordert ist und auf die Unterschiede der je individuellen Situationen und Beziehungen Rücksicht nehmen muss. In der Folge entsteht nicht selten eine gewisse Feindseligkeit gegen die Verfahrensweisen der Organisation, 20 Vgl. zum folgenden Amo Combe!Werner Helsper, Einleitung: Pädagogische Professionalität. Historische Hypotheken und aktuelle Entwicklungstendenzen, in: dies. (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt/M. 1996, 9~8.
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die als zu unpersönlich empfunden werden. 21 Dieser Konflikt ist also nicht per se der bürokratischen Organisation inhärent, sondern entsteht erst durch die Konfrontation gegenläufiger Anforderungen von Organisations- und Professionshandeln. Der Konflikt zwischen unpersönlichen Vorgaben und Zwang zum persönlichen Verhalten wird erst in der professionellen interaktionellen Praxis manifest. Die ältere Organisationssoziologie beschreibt die Lösung solcher Konflikte durch die Unterscheidung eines formalen und eines informellen Sektors der Organisation. Auf Grund neuerer professionssoziologischer Untersuchungen liegt es jedoch näher, den Konflikt in unterschiedlichen Handlungsanforderungen zu verorten. Formales Handeln vollzieht sich auf der Ebene der Organisation, professionelles Handeln dagegen auf der Ebene der Interaktion. Interaktions- und Organisationshandeln müssen zwar auf diese Weise voneinander unterschieden werden, sind aber aufeinander angewiesen. Für die Organisation sind Verstöße gegen die Normen auf interaktioneUer Ebene "unter Umständen geradezu Bedingung des von der Organisation ebenfalls gesuchten Interaktionserfolgs'm . Umgekehrt stellt die Organisation bestimmte formale Rahmenbedingungen zur Verfügung, ohne die in sich labile Interaktionen nicht wiederholt und auf Dauer gestellt werden könnten. 2. Vermittlungsmöglichkeiten zwischen religiösem Programm und professionellen Methoden
Hinsichtlich der Vermittlungsmöglichkeiten von organisatorischer Programmatik auf christlicher Grundlage und Professionshandeln lässt sich idealtypisch ein Spektrum entfalten, dessen Pole die unmittelbare Kongruenz einerseits und die völlige Indifferenz von Programmatik und professionellen Methoden andererseits darstellen. Dazwischen liegt der Bereich, innerhalb dessen sich mehrdimensionale und integrale Therapieformen und gesundheitserhaltende bzw. -fördernde Methoden entwickeln lassen, welche die Dimensionen von therapeutischem Heilen und religiösem Heil unterscheiden, aber zugleich aufeinander beziehen. Bei den möglichen Relationen zwischen therapeutischer, pflegerischer sowie beratender Praxis einerseits und religiöser Programmatik andererseits lassen sich folgende Stufen unterscheiden: 21 Vgl. Alvin W. Gouldner, Organizational Analysis, in: Robert K. Merton et al. (Hrsg.), Sociology Today - Problems and Prospects, New York-Evanston 1965, 400-428, hier: 418 und Merton, Social Theory and Social Structure, Glencoe 4. Autl 1964, 204 f. 22 Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: Jakobus Wössner (Hrsg.), Religion im Umbruch. Soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft, Stuttgart 1972, 245-285, hier: 270.
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Völlige Kongruenz: "Religion ist Heilung." Z. B. biblisch-therapeutische Seelsorge Religiös angeleitete Praxis: "Religiöse Prämissen prägen die angewandten Methoden." Z. B. anthroposophische Einrichtungen Motivationale Vermittlung: "Diakonie ist praktizierte Nächstenliebe." Z. B. das klassische Diakonissenmilieu Koordination der unterschiedlichen Funktionskontexte: "Eine religiöse Programmatik kann die ,Strukturqualität' einer Organisation verbessern." Z.B.? Kontrolle der praktizierten Methoden durch Kriterien einer religiösen Programmatik: "Nicht alles, was medizin-technisch machbar ist, ist auch wünschenswert und vertretbar." Z.B.?
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Völlige Indifferenz: "Soziale Dienstleistungen unterliegen ausschließlich den Kriterien der Professionalität und Rentabilität." Z. B. die meisten Krankenhäuser in diakonischer Trägerschaft
Ansätze, die eine völlige Kongruenz von religiöser Programmatik und professionellen Methoden für möglich halten, begehen den Kategorienfehler, (religiöses) Heil mit (therapeutischer) Heilung zu verwechseln. Folglich können sie auch nicht den Anforderungen der therapeutischen Professionen genügen; dies zeigen etwa die "Methoden" einer "biblischen Therapie"23 oder einer "therapeutischen Seelsorge"24 • Sehr interessant scheint mir dagegen eine von religiösen Vorstellungen angeleitete therapeutische und pflegerische Praxis zu sein, wie sie beispielsweise in anthroposophischen Einrieb-
23 Vgl. dazu Georg Betz, Wenn der Menschlichkeit die Luft ausgeht. Eine biblische Therapie gegen den Notstand in Krankendienst und Altenpflege, Freiburg i. Br. u. a. 2. Auf!. 1991. 24 Vgl. etwa Peter Nagel, Lebensberatung. Therapeutische Seelsorge aus der Sicht einer christlichen Psychosophie, Frankfurt/M. 1979. Zur Kritik der therapeutischen Seelsorge siehe Dietrich Stollberg, Therapeutische Seelsorge. Die amerikanische Seelsorgebewegung. Darstellung und Kritik, München 1969. Einen Grenzfall stellen die Therapieformen der Anonymen Alkoholiker dar, siehe hierzu Gabriele Mack, Religion als Therapie? Zur Frage einer religiösen Komponente bei den Anonymen Alkoholikern, Oldenburg 1991.
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tungen zu beobachten ist. 25 Allerdings verfügt die christliche Religion - so weit ich sehe - über keine vergleichbaren direkten Anschlussmöglichkeiten und analogen Übersetzungsmöglichkeiten zur therapeutischen Praxis, um spezifische Methoden zu entwickeln. Für eine motivationale Vermittlung geben diejenigen diakonischen Einrichtungen ein Beispiel ab, die vom klassischen Diakonissenmilieu getragen sind. 26 Dieses Milieu ist jedoch vor allem von historischer Bedeutung und seine Repristination möglicherweise wünschenswert, aber wegen der zunehmenden Entkonfessionalisierung der Mitarbeiterschaft wenig wahrscheinlich?7 Negatives Beispiel für die Frage nach Vermittlungsmöglichkeiten zwischen einer religiösen Programmatik einerseits und den organisatorischen und professionellen Handlungslogiken andererseits sind derzeit viele diakonische Einrichtungen, vor allem aber die Krankenhäuser in diakonischer Trägerschaft 28 Von besonderem Inte25 Vgl. für den Fall anthroposophischer Krankenhäuser Jürgen Schürholz, Ziele und Leistungen anthroposophischer Krankenhäuser, in: Eichhom/Lampert (Hrsg.), Ziele und Aufgaben der freigemeinnützigen Krankenhäuser (Beiträge zur Gesundheitsökonomie, Bd. 18, hrsg. von der Robert Bosch-Stiftung GmbH), Gerlingen, 157-162, und Dunja Möller, Sanfte Medizin. Anthroposophische Heilkunst und ihre Umsetzung in den klinischen Alltag (Medinzinkulturen im Vergleich, Bd. 6), Münster 1993. 26 Vgl. dazu Klaus Streeck, Produktive Gemeinschaft. Eine empirische Untersuchung der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf e. V. als Paradigma spirituell motivierter Corporate Identity, Diss. Bietefeld 1994. 27 Vgl. als Beispiel das Evangelische Johanneswerk. Laut Auskunft seines Leiters waren dort ., 1960 von rund 1.500 Beschäftigten 332 Diakonissen und 270 Diakone. 1972 war jedoch bei 2.000 Beschäftigten der Anteil der Diakonissen und Diakone auf zehn Prozent zurückgegangen. Heute sind von den rund 6.000 Beschäftigten acht Diakonissen und 23 Diakoninnen und Diakone. Eine evangelische Prägung versteht sich von der Entwicklung in der Mitarbeiterschaft der Diakonie her keineswegs mehr von selbst" (Krolzik, Vorwort: Gottes Liebe und Gerechtigkeit Gestalt geben", in: ders. (Hrsg.), Zukunft der Diakonie. Zwischen Kontinuität und Neubeginn, Bietefeld 1998, 7-10, hier: 8. Hinsichtlich der Motive und Identität von Mitarbeitern in diakonischen Einrichtungen vgl. Kurt Nachbauer, Berufliche Mitarbeit in der Caritas. Bedingungen, Bedarf, Motive, in: Caritas 91 (1990) 389-398, und Heinrich Pompey, Das Profil der Caritas und die Identität ihrer Mitarbeiter, in: Caritas 93. Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, 11-26; zu den Arbeitsbeziehungen siehe Heinrich Beyer/Holger Fischer/Hans Nutzinger, Arbeitsbeziehungen in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen 13 (1990) 1-20, und Beyer/Nutzinger, unter Mitarbeit von Fischer, Erwerbsarbeit und Dienstgemeinschaft Arbeitsbeziehungen in kirchlichen Einrichtungen - eine empirische Untersuchung, Bochum 1991. 28 Diesbezügliche Forschungen zeigen überwiegend die Probleme hinsichtlich des .,christlichen Propriums" von Krankenhäusern in kirchlicher Trägerschaft auf und beschränken sich auf theoretische und/oder theologische Überlegungen zu einer entsprechenden Programmatik. Zum evangelischen Krankenhaus vgl. Städtler-Mach (Anm. 18); zum katholischen Krankenhaus siehe Gärtner (Anm. 3); zu den Leitbildern und zur Identität von Krankenhäusern in christlich-konfessioneller Trägerschaft vgl. Dieter Emeis, Was ist ein christliches Krankenhaus?, in: Stimmen der Zeit 196
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resse für die Zukunft kirchlicher Wohlfahrtsverbände scheinen mir hingegen die beiden Vermittlungsoptionen zu sein, die auf die Koordination der unterschiedlichen Funktionskontexte oder auf die Kontrolle der praktizierten Methoden durch Kriterien einer religiösen Programmatik abstellen. Versuche kirchlicher Einrichtungen und Verbände zur Entwicklung spezifischer Leitbilder und Kriterien der Qualitätssicherung müssen hier ansetzen, um ein eigenes Profil als Vermittlungsinstanz zwischen christlicher Programmatik und den Anforderungen des Gesundheits- und Sozialsystems zu entwickeln.
(1978) 117-126, und Michael N. Ebertz, Leitbilder katholischer Krankenhäuser, in: Caritas 93 ( 1992), 258-270, und Gärtner, Das christliche Krankenhaus auf dem Weg zur Identität, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 39 (1993) 354-360.
Organisationsdilemmata kirchlicher Wohlfahrtsverbände im gesellschaftlichen Umbruch Von Dieter Grunow Obwohl sich der folgende Beitrag v. a. mit organisationsoziologischen Fragestellungen befassen wird, erfordert das Thema einleitend eine breitere Situationsanalyse - auch wenn dadurch die Gefahr besteht, sich mit Themen anderer Beiträge zu überschneiden. Wenn man Organisationsprobleme kirchlicher Wohlfahrtsverbände mit gesellschaftlichen Umbruchen zu verbinden sucht, ist es nicht nur von Vorteil, sondern sogar notwendig, auf eine Theorieperspektive zurückzugreifen, die diesen breiten Bogen zu spannen erlaubt. Andernfalls müssten wir uns mit einigen Ad-hoc-Thesen zu dem Rahmenthema begnügen. Bei der Darstellung dieser breiteren Betrachtungsweise werde ich mich einiger allgemeiner Begriffe und Aussagen der Systemtheorie bedienen - ohne allerdings zu sehr in die Tiefe zu gehen. 1 Aus meiner Sicht ist die Systemtheorie für unsere Fragestellung nicht nur deshalb geeignet, weil sie den breiten thematischen Bogen zu spannen erlaubt, sondern auch, weil sie bestimmte Fragestellungen zuspitzt, die bei anderen Betrachtungsweisen eher "übertüncht" werden. I. Zur Entgrenzung von Gesellschaftssystemen
Ein wichtiger Teil der "gesellschaftlichen Umbruche" - um die alltagssprachliche Kennzeichnung zu verwenden - sind der Tatsache zuzurechnen, dass die Gesellschaft in rapide zunehmender Intensität und Breite als Weltgesellschaft in Erscheinung tritt. Systemtheoretisch formuliert: die kommunikative Erreichbarkeit der Weltbevölkerung wird mehr oder weniger grenzenlos. Vor diesem Hintergrund wird sogar der Gesellschaftsbegriff als sozialwissenschaftliche Kategorie in Frage gestellt? Dass dabei die technischen Transportwege und -mittel eine wichtige Rolle spielen, muss nicht besonders betont werden. Gleichzeitig dominieren auf der nächst konkreten Ebene der systemtheoretischen Betrachtung - also hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionssysteme - vielfach auch weiterhin die bisher am Dazu Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997. Vgl. Horst Firsching, Ist der Begriff ,Gesellschaft' theoretisch haltbar?, in: Soziale Welt 1/98, 161-173. 1
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Nationalstaat orientierten Grenzziehungen. Eine wichtige Ausnahme bildet das Wirtschaftssystem. Insofern meint Globalisierung fast immer wirtschaftliche - oder noch besser: kapitalbezogene Globalisierung. Hierfür gibt es viele historische Vorausentwicklungen. Für die gegenwärtige Situation führt dies v. a. zu der Feststellung, dass sich das Medium Geld als Basis des Wirtschaftssystems für eine weltweite "Kommunikation" - also im Sinne von Zahlen oder Nicht-Zahlen, von Besitz oder Nicht-Besitz finanzieller Ressourcen - wesentlich besser eignet als das Medium Recht, das die Kommunikation im administrativen System strukturiert oder das Medium Macht, das die Kommunikation im politischen System unterfüttert. Als Beispiele seien nur die Schwierigkeit erwähnt, grundlegende Menschenrechte international durchzusetzen oder auch die aktuelle Kosovokrise. Die gegenwärtigen Umbrüche sind großenteils als Ungleichgewicht zwischen dem Funktionssystem Wirtschaft (in globaler Hinsicht) und allen anderen (eher noch national begrenzten) Funktionssystemen zu beschreiben. 3 Die strukturelle Koppelung der gesellschaftlichen Funktionssysteme, mit deren Hilfe die für ihre Geschlossenheit (Autopoiesis) notwendigen Inputleistungen zugeliefert werden, ist mit Blick auf das Wirtschaftssystem zunehmend prekär. Dies gilt zumindest so lange, wie sich dieses Funktionssystem irgendwo im Weltkontext die benötigten Inputs (z. B. Kapital, Eigentumsrechte, Kontrollstrukturen, Humankapital) beschaffen kann. Gleichwohl ist zu beachten, dass die Verfügbarkeil dieser Inputs nicht selbstverständlich ist - wie man gegenwärtig an den Beispielen von Russland, Indonesien oder Südamerika beobachten kann. Dass ein soziales Sicherungssystem wie in Deutschland, das stark mit dem Wirtschaftssystem gekoppelt ist, durch diese globale Entwicklung beeinträchtigt wird, bedarf kaum besonderer Begründungen. Folgt man der Analyse von Fritz W. Scharp/, so sind die diesbezüglichen Probleme Deutschlands - als Mischtyp zwischen umfassenden staatlichen Sozialleistungen (skandinavische Länder) und geringen staatlichen Sozialleistungen (USA) - besonders groß. Die nach wie vor in nationalstaatliehen Grenzen gestaltete und implementierte Sozialpolitik, die nicht zuletzt die Globalisierung von Wirtschaftsprozessen abstützt, in dem sie individuelle Risiken eines entgrenzten Weltkapitalismus abmildert, wird durch eben diesen Entwicklungsverlauf destabilisiert. Hervorzuheben ist dabei auch, dass es bei der systemtheoretischen Betrachtung um systemspezifische Kommunikationsprozesse geht, woraus sich ableiten lässt, dass schon die Kommunikation über potenzielle Kapitalabwanderung zu entspre-
3 V gl. Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988; Otto F. Bode, Systemtheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik, Marburg 1999. 4 Fritz W. Scharpf, Regieren in Europa, Frankfurt/M. 1999.
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ehenden Reaktionen führen kann, dass also die realen diesbezüglichen Entscheidungsschritte gar nicht als Voraussetzung zu gelten haben. Der Anpassungsdruck wird in anderen Funktionssystemen also bereits bei der Kommunikation über Handlungsalternativen des ökonomischen Systems bemerkbar. Dieser Druck beinhaltet v. a. dreierlei: I. Die Absicht, die Verwendung von Kapital außerhalb des produktionsbezogenen Wirtschaftssystems so weit wie möglich einzuschränken (Vermeidung von Renditeverlusten im Vergleich zu weltweit verfügbaren Renditeoptionen) - was u. a. zur Privatisierung öffentlicher Aufgaben oder ihrem generellen Abbau führt; jede DM, die in öffentliche Haushalte eingebracht wird, ist vor diesem Hintergrund ein potenzieller Renditeverlust Die Folgen für die sozialstaatliehen Leistungssysteme sind evident. 2. Die Erstellung von öffentlichen Leistungen für das Wirtschaftssystem ist nach ökonomischen Kriterien zu entwickeln: Rationalisierung der Leistungserbringung auch im Rahmen anderer Funktionssysteme. 3. Im Hinblick auf die häufig dominierenden persönlichen Dienstleistungen (insbesondere im Sozialsektor) beinhaltet dies auch einen Zwang zui: "Verstofflichung", die dann erst die Rationalisierung und Kapitalisierung möglich macht. Die systemtheoretische Konzeption der strukturellen Koppelung von Funktionssystemen bzw. von Resonanz zwischen ihnen geht im Prinzip von relativer Gleichgewichtigkeit der Systeme aus. Allenfalls eine temporäre Dominanz einzelner Funktionssysteme ist denkbar, da sonst die Gesamtkonfiguration und damit die Leistungs- und Überlebensfähigkeit der Gesellschaft gefährdet ist. Diese Annahme bzw. Aussage lässt sich mit den gegenwärtigen Analysen illustrieren: das globale ökonomische System kann wie in Südostasien zu beobachten ist - national ausgeprägte Funktionssysteme anderen Typs zerstören; zugleich wird aber auch die Grundlage für das dort verankerte Wirtschaftssystem zerstört - von Renditeverlusten ganz zu schweigen. Die Reaktionsmöglichkeiten liegen auf der Hand: - Rückbindung der Wirtschaft auf den Level der anderen Funktionssysteme (Verstaatlichung oder generell Protektionismus auf nationaler Ebene) - oder Ausweitung der Funktionssysteme auf den Level der Weltgesellschaft (eine Zwischenform sind global-regionale Zusammenschlüsse wie die EU). Ich möchte zu diesen Entwicklungen keine Prognose abgeben; man kann aber wohl sicher sein, dass beide Reaktionstendenzen mit Konflikten und Friktionen verbunden und v. a. langwierig sein werden - (wie u. a. die
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Umstände des Rücktritts des bisherigen Bundesfinanzministers belegen). Für die sozialstaatliehen Systeme und die Rolle der Wohlfahrtsverbände bedeutet dies m. E., dass sie diese Entwicklung nicht wesentlich beeinflussen können - es sei denn, sie entwickeln frühzeitig ein Kommunikationssystem auf dem Level der Weltgesellschaft. Als Ansätze dafür könnte man ggf. die internationalen Entwicklungen bei der Einbeziehung von "NonGovemmental-Organizations" (NGOs) ansehen, wozu auch die großen Kirchen zu zählen sind. Ein funktionsfähiger Ansatz für "global govemance" ist damit aber noch bei weitem nicht gegeben.
II. Kirchliche Wohlfahrtsverbände als Drittsektororganisationen An dieser Stelle ist zunächst einmal die Platzierung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in dem bisher skizzierten Szenario zu bestimmen. Systemtheoretisch ist es zunächst angezeigt, die Wohlfahrtsverbände insgesamt als gesellschaftliche Makrogebilde zu betrachten.5 Für deren vertikale und horizontale Ausdehnung sprechen z. B. die Tatsache, dass über 50% aller personenbezogenen sozialen Dienstleistungen in Deutschland von den Verbänden erbracht werden, oder die Tatsache, dass die freie Wohlfahrtspflege in NRW den viertwichtigsten Bereich sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter darstellt ( 1995); oder die Tatsache, dass die Caritas in NRW der größte einzelne Arbeitgeber ist (184.500 gegenüber Bayer Werke mit 93.300 oder Henkel AG mit 46.400 Beschäftigten).6 Systemtheoretisch ist deshalb die Frage zu formulieren: ist der Verbandsbereich - angesichts seiner Größe und seines Leistungsumfangs- als ein gesellschaftliches Punktionssystem konzipierbar? Ich komme auf diese Frage in Kürze zurück. Zunächst sei auf die übliche Diskussion zu diesem Punkt eingegangen. Dabei werden die Wohlfahrtsverbände dem sogenannten Dritten Sektor zugeordnet7 - obwohl es nach der Sachlogik eigentlich der vierte Sektor ist: er ist neben dem staatlichen, dem privatwirtschaftliehen und den Privathaushalten angesiedelt. Instruktiv ist die Vielfalt der Typisierungsversuche als intermediärer Sektor, als informeller Sektor, als Nonprofit-Sektor, als NGO usw. Für unser Thema ist dabei die Feststellung wichtig, dass die Ansiedlung des Verbandsbereiches irgendwo zwischen Markt und Staat bzw. öffentlichem Sektor und dem privatwirtschaftliehen Sektor erfolgt. Die dabei diagnostizierte relative Staatsnähe oder relative Marktnähe verVgl. Ralf Kleinfeld/Frank wbler, Verbände in NRW, Hagen 1993. Vgl. Patrick Brandenburg u. a., Verbände zwischen Markt und Staat, Polis Arbeitspapiere, 40, Hagen 1998. 7 Vgl. Gunnar F. Schuppert, Markt, Staat, Dritter Sektor, in: Jahrbuch zur Staatsund Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 1989, 47-87. 5 6
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weist darauf, dass Strukturähnlichkeit und enge Verflechtungen mit anderen Sektoren das Bild des Dritten Sektors prägen. Dabei werden aber weniger die Konflikte und Dilemmata hervorgehoben als die Mischfonneo und die Verklammerungsmuster. Dazu habe ich an anderer Stelle folgende Aspekte hervorgehoben: "(a) Die Anpassung an bürokratische Strukturmuster ergibt sich bereits aus dem Größenwachstum, das aber einerseits durch die Interessenrepräsentation (auf allen Ebenen des föderalen Systems) und andererseits durch die Übernahme öffentlich definierter, finanzierter und kontrollierter Dienstleistungen forciert wird( . ..). (b) Der Trend zum quago (quasi-govemmental organization) wird jedoch ,gebremst' durch die Anpassung an den politischen Opportunismus;8 kennzeichnend für die Aufgaben der Wohlfahrtsverbände ist ein Umgang mit schwer oder gar nicht lösbaren (,schmutzigen') Problemen, die von der Sozialpolitik aus wahltaktischen Gründen nicht einfach ignoriert werden können. (... ) Zum Bezugspunkt politischer Opportunismus läßt sich auch die Pufferfunktion der Verbände (zwischen Staat und Bevölkerung) hinzurechnen: Forderungen der Betroffenengruppen werden durch die Verbände zum Teil aufgefangen. Dies beinhaltet allerdings eine zumindest partielle Anpassung an wechselnde politische Ziele und Interessenlagen, was nicht zuletzt durch vieF faltige Ämterverknüpfungen (z. B. zwischen Parteien und Verbänden) gesichert wird. (c) ,Politik- und Verbandsgemauschel' und bürokratische Formalisierung werden gleichermaßen durch Einflußprozesse des privatwirtschaftliehen Sektors ,gebremst'; gehen ,besondere' Struktur- und Leistungsmerkmale der Wohlfahrtsverbände verloren oder verlagert sich der Schwerpunkt ausschließlich auf die Erbringung professioneller und effizienter Dienstleistungen, so können konkurrenz- und gewinnorientierte Alternativen (Pflege-GmbH u. ä.) ins Spiel kommen. Der Anpassungsdruck in diese Richtung steigt gegenwärtig vor allem deshalb, weil der öffentliche Sektor selbst (und insbesondere auch die Dienstleistungserbringung) an betriebswirtschaftliehen Effizienzkriterien gemessen wird (... ). Es bleibt jedoch zu prüfen, ob die nicht selten beobachtbare ,Rosinenpickerei' privatwirtschaftlicher Organisationen (z. B. private Krankenkassen) nicht auch zu der Anerkennung der Funktionalität scheiternder Aufgabendurchführung (in den Wohlfahrtsverbänden) selbst durch den Marktsektor führen kann. (d) Diese nur grob zusammengefasste ,Gemengelage' führt zur These zurück, dass die Multifunktionalität der Verbände zwar zur Zerreißprobe (Anpassung in verschiedene Richtungen) führen kann, zugleich aber auch eine gewisse Bestandssicherheit (im Feld sich neutralisierender (?) Kräfte) garantiert."9 8 Vgl. Niklas Luhmann, Opportunismus und Programmatik in der öffentlichen Verwaltung, in: ders., Politische Planung, Opladen 1971, 165-180. 9 Dieter Grunow, Organisierte Solidarität, in: Thomas Rauschenbach u. a. (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsuntemehmen, Frankfurt/M. 1995, 253-279, hier 262 f.
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Der Wohlfahrtsmix erscheint im Rahmen dieser Feststellungen als ein genuiner Gestaltungstypus, obwohl es sich unter Umständen um eine "Quadratur des Kreises" handelt: die Verbände müssen staatsähnlich strukturiert sein (z. B. analog zur Föderalstruktur organisiert sein sowie bürokratisch in den Arbeitsabläufen bestimmt sein), sollen aber gleichwohl flexibel arbeiten; die Verbände sollen das Marktversagen bei bestimmten Dienstleistungen kompensieren (z. B. mangelnde Verteilungsgerechtigkeit und unzureichende Fallorientierung), aber gleichzeitig hochgradig wirtschaftlich arbeiten. Auf eine weitere Zerreißprobe macht die Unterscheidung von Einflusslogik und Mitgliederlogik aufmerksam: dabei geht es - in vertikaler Hinsicht - einerseits um die Einflussnahme auf politische Prozesse und Entscheidungen und andererseits um die Einbindung der Mitglieder bzw. ehrenamtlicher Kräfte in die Verbandsarbeit - was heute meist als Verstärkung von demokratischen Strukturen oder als Öffnung gegenüber der "Zivilgesellschaft" (i. S. von Ulrich Beck) umschrieben wird. Etwas allgemeiner kann von zwei Sichtweisen gesprochen werden: - den Verdrängungsanalysen (z. B. mit den Kategorien Staatsversagen, Marktversagen, Drittsektorversagen) und - den Interdependenzanalysen (also den Verklammerungsmodellen). Beide Sichtweisen spitzen die Frage aber nicht hinreichend zu, was die besonderen Leistungsmerkmale des Verbandssektors ausmacht, welche Funktions- und Formenvielfalt im Verbandsbereich besteht, und inwiefern dies zu internen Widersprüchen bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden führt. Dabei ist gerade für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände zu beachten, dass sie eine eigenständige Entwicklungsgeschichte - mit einer spezifischen nicht-staatlichen Handlungslogik? - aufweisen. 10 In diesem Analysezusammenhang lässt m. E. die Systemtheorie eine präzisere Argumentation zu: durch die Zuordnung von Funktion, Medium und Code wird die strikte Unterscheidung verschiedener Funktionssysteme der Gesellschaft möglich. Es stellt sich also die Frage, welchem oder welchen Funktionsystemen die Verbände zuzurechnen sind, bzw. ob sie als ein eigenständiges Funktionssystem angesehen werden können. Damit wird bereits die Zerreißprobe deutlich, der das "DrittsektorModell" der Verbände ausgesetzt ist. Die Interdependenzstruktur beinhaltet u. U. - systemtheoretisch gesprochen - für die Verbände die Notwendigkeit, verschiedene Funktionsprinzipien gesellschaftlicher Makrosysteme zu koordinieren: das politische System, das administrative System, das Wirtschaftssystem, das Religionssystem, das System der Familie und ggf. anderes mehr. Dies erscheint manchen Beobachtern als "(expansive!) Quangokrati10 Vgl. dazu Thomas Rauschenbach u. a. (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsuntemehmen, Frankfurt/M. 1995.
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sierung" der Welt 11 - und das heißt, ein produktives "VerklammerungsModell" zu konstatieren. Dabei wird aber übersehen, dass die vermittelnde Rolle der Verbände bisher nicht nur "im Schatten" sondern im direkten Schutz des politisch-administrativen Systems erfolgte. Sinkende Steuereinnahmen, die finanzielle und Iegitimatorische Erosion der sozialen Sicherungssysteme und die Lockerung der Verbändeprivilegien im Vergleich zu privatwirtschaftliehen Versorgungslösungen zeigen, dass in Zukunft ohne diesen Schutz eine Zerreißprobe entlang der Grenzen von Funktionssystemen in sehr viel stärkerem Maße als bisher bevorsteht. Dabei spielt die Dominanz des ökonomischen Systems (wie oben gezeigt) eine wichtige Rolle. Sie erzwingt Anpassungen des politischen und administrativen Systems und (zumindest) in deren Folge auch Anpassungen der Verbände (als "Staatstrabanten"). Das Argument lässt sich noch dahingehend ergänzen, dass kirchliche Wohlfahrtsverbände gleichzeitig auch dem Anpassungsdruck des politischen Systems (Beiträge zur Konsensbeschaffung), des administrativen Systems (schlanke Verwaltung und Qualitätssicherung), des Religionssystems (Einhaltung ethischer Vorgaben), des Systems von Familie und Selbsthilfe (Hilfe zur Selbsthilfe ohne Indoktrination) ausgesetzt sind. Das alles erst macht die Krise der Verbände aus, lässt ein "immer weiter so" als fragwürdig erscheinen. Ob die Mischstruktur der Verbände einem solchen Anpassungsdruck standhält, ist mehr als fraglich. Deshalb stellt sich die Frage nach den besonderen Funktionsprinzipien um so dringender. Auch hier kommt der Druck zur weiteren Systemdifferenzierung gegenwärtig aus dem ökonomischen System: z. B. mit der Forderung nach der "Beschränkung auf das Kerngeschäft" - nicht zuletzt weil auch die "Mischkonzerne" oft weniger erfolgreich sind als erwartet. Systemtheoretisch lassen sich die Divergenzen als Probleme der Verkoppelung unterschiedlicher Kommunikationsmedien fassen. Im Hinblick auf Politik und Verwaltung geht es um Macht und Recht, im Hinblick auf Wirtschaft geht es um Geld, im Hinblick auf Familie und Ehrenamt geht es um Liebe und Solidarität, im Hinblick auf Religion ist es (ansatzweise) der Glaube (sowie die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz). Verknüpfungsversuche im Hinblick auf diese unterschiedlichen Medien der Kommunikation müssen also über die Grenzen all dieser gesellschaftlichen Funktionssysteme erfolgen; eine nicht realisierbare Anforderung - zumindest unter der Bedingung verstärkter Spezialisierung der Funktionsprinzipien zum Zweck der Leistungssteigerung. Daraus leite ich die These ab, dass sich die kirchlichen Wohlfahrtsverbände über ihr "Kerngeschäft", d. h. ihre grundlegenden Aufgaben und 11 Christopher Hood, The hidden public sector: The ,quangocratization' of the world, in: Franz-Xaver Kaufmann u. a. (Hrsg.), Guidance, Control and Evaluation of the Public Sector, Berlin 1986, 183-207.
8 Gabricl (Hrsg.)
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Arbeitsweisen klar werden müssen. Erst daran schließen sich Fragen nach der Möglichkeit struktureller Koppelung mit anderen Aufgabenstellungen und Funktionsprinzipien an. Geht man von der Notwendigkeit aus, ein eigenes Funktionssystem für die Verbände (sowie ggf. auch für andere Drittsektor-Organisationen) zu profilieren, so kommen m. E. nur die oben angesprochenen Bereiche der sozialen Basisstrukturen (Familie, neue soziale Netze, Ehrenamt usw.) als Ausgangspunkt in Frage. Dieser Bereich ist mit geringer Spezialisierung und geringer intersystemischer Durchsetzungsmöglichkeit ausgestattet. Am Beispiel Familie lässt sich die Besonderheit folgendermaßen formulieren: "Die Familien sind das einzige System der funktional differenzierten Gesellschaft, in dem die Menschen ausschließlich als Personen behandelt werden. Die Funktion der Familien besteht in der Inklusion der ganzen Person der Teilnehmer in die Kommunikation: Alles, was die Teilnehmer betrifft - alle Handlungen und Erfahrungen, auch diejenigen außerhalb der Familie - ist potenziell für die Kommunikation in der Familie relevant". 12 Die Aufgabe der Verbände besteht dabei in der Bündelung und Unterstützung von bedürfnisbezogenen Aktivitäten im Interesse dieser gesellschaftlichen Gruppen.
111. Organisationsformen und Funktionssysteme Der Flüchtigkeit von Kommunikation und der daraus folgenden hochgradigen Unwahrscheinlichkeit ,.erwartungsfester" kommunikativer Verdichtungen im Rahmen der gesellschaftlichen Funktionssysteme wird v. a. auf der Ebene der organisierten Sozialsysteme (Organisation) entgegengewirkt. In der Praxis wird u. a. auf Rechtsformen, Finanzierungsmodi, Personalwirtschaft und Legitimationsmuster hingewiesen. Darin sind aber m. E. weniger allgemeine Krisenphänomene einzelner Funktionssysteme als vielmehr "technische" Anpassungsprobleme bezeichnet. Grundlegend ist zunächst festzustellen: nur durch Strukturbildung und Programmgestaltung wird die Anschlussfähigkeit der Einzelkommunikationen sicher gestellt. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Mitgliedschaftsrolle zu, in der bereits wichtige Voraussetzungen für die Kommunikationsbeteiligung festgelegt sind. Auf dieser Ebene ist auch die Koppelung verschiedener Strukturmuster und Programmatiken möglich. Die wechselseitige Resonanzerzeugung von Organisationen, die unterschiedlichen Funktionssystemen zuzuordnen sind, ist möglich. Nur dadurch lassen sich überlappende Beteiligungen von Organisationen gewährleisten - z.B. die Einflussnahme des politischen Systems auf das ökonomische, in dem Geld entzogen (Steuern) oder verteilt wird (Subventionen). Deshalb lässt sich beobachten, dass die konkreten 12 Claudio Baraldi u. a., GLU-Giossar zu Niklas Luhmann, Theorie sozialer Systeme, Frankurt/M. 1997, 56.
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organisatorischen Gestaltungsformen keineswegs einer (exklusiven) I zu I-Zuordnung von Funktionssystem und Organisationen folgen. Oder anders ausgedrückt: Zwischen den Funktionssystemen sind organisatorische und programmatische Muster, die kommunikative Verdichtungen erlauben, zumindest teilweise austauschbar bzw. übertragbar. Eine solche Übertragung dient nicht nur der systemspezifischen Leistungsfähigkeit, sondern vor allem der Resonanz und Kopplung zwischen den Funktionssystemen. Dies zeigt nicht zuletzt die historische Entwicklung, in der das Vorbild für die Wirtschaftsorganisation nicht selten aus militärischen und staatlichen Beispielen stammte, während heute - eher umgekehrt - Strukturen von Wirtschaftskonzernen auf das administrative System übertragen werden (sollen). Gleichwohl ist zu beachten, dass entgegen vielfaltig versuchter Praxis, ein Institutionentransfer im Verhältnis 1 zu 1 aber ebenfalls nicht möglich ist. Es besteht m. E. kein Zweifel, dass die Entwicklung ebenso wie der "Nachbau" von Organisationslösungen den Besonderheiten ihres jeweiligen Funktionssystems Rechnung tragen muss, um seine spezifischen Leistungen sicher zu stellen. Das oben erwähnte Staatsversagen oder Marktversagen ist u. a. ein Versagen der Prozesse und Strukturbildungen in Organisationen der jeweiligen gesellschaftlichen Makrogebilde. Dies kann man auch an den konkreten Erscheinungsformen im Bereich der kirchlichen Wohlfahrtsverbände feststellen. In dem Maße, wie sie in verschiedene gesellschaftliche Funktionssysteme "hineinragen", kommen auch sehr unterschiedliche, z. T. nicht kompatible Formen organisierter Sozialsysteme ins Spiel: z.B. die nach wie vor in starkem Maße top-down-organisierte hierarchische Struktur kirchlicher Institutionen; die auf professionelle Dienstleistungen ausgerichtete, von den Verbänden getragene soziale und gesundheitsbezogene Infrastruktur; die Vereine mit ihrer Mischung von Funktionärsoligarchie und Mitgliedern; die offenen Formen und nur lose angekoppelten sozialen Initiativen der Selbstorganisation bzw. Selbsthilfe u. a. mehr. Wie die Beobachtungen der Verbändeentwicklung in den letzten Jahren zeigen, ist es nicht möglich, die verschiedenen Organisationsformen der Aufgabendurchführung gleichberechtigt nebeneinander zu stellen. 13 Der schwerpunktmäßigen Zuordnung einzelner Aufgabensegmente zu dem einen oder anderen gesellschaftlichen Funktionssystem muss m. E. auch eine schwerpunktmäßige Zuordnung zu einem Subset von organisierten Sozialsystemen folgen. Alles gleichzeitig als "core technology" 14 der organisierten Sozialsysteme zu etablieren, führt notwendigerweise zu einer Erosion der 13 Vgl. Friedhart Hegner, Organisations-Domänen der Wohlfahrtsverbände: Veränderungen und unscharfe Konturen, in: Zeitschrift für Sozialreform, 38. Jg., 1992, 165-190. 14 Im Sinne von James D. Thompson, Organization in Action, New York 1967.
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Leistungsfahigkeit in allen Hinsichten: die politische Einflussnahme und die interne kirchliche Positionsdurchsetzung schwindet ebenso wie die Akzeptanz der Bevölkerungsgruppen, die Leistungsfahigkeit der Dienstleistungsangebote, die Integration gesellschaftlicher sozialer Bewegungen geht verloren usw. Schwerpunktsetzungen sind also auch im Hinblick auf die Organisationsformen erforderlich. Erst dann lässt sich prüfen, in welchem Maße durch Koppelungen und Resonanzen auch Erweiterungen denkbar sind. Dabei sind Transfers von strukturellen und prozessbezogenen Gestaltungsmitteln zwischen den Organisationsdomänen aber nicht ausgeschlossen. Eine primäre Anknüpfung an die Organisation von solidarischem und selbsthilfezentriertem Handeln schließt also keineswegs aus, dass auch Instrumentarien für wirtschaftliches Handeln zur Anwendung gebracht werden. Insofern stehen Ansätze zum Sozialmanagement, die in den letzten Jahren entwickelt worden sind, nicht a priori im Widerspruch zu den notwendigen Schwerpunktsetzungen verbandliehen Engagements. Zwingend erforderlich ist jedoch die Berücksichtigung bzw. Reflexion des Kontextes, aus dem die Übertragung stattfindet - also die Differenzen zwischen dem Funktionssystem, dem die jeweiligen Programme und Strukturmuster entstammen, und dem Zielsystem. Dies sei an zwei vermeintlich unproblematischen Beispielen erläutert. 1. So zeigt der recht frühe Versuch der Gesundheitsbehörden (formuliert durch die Gesundheitsministerkonferenz! - also von Repräsentanten des politisch-administrativen Systems), von nun an Selbsthilfegruppen administrativ "vorzuhalten", dass die Funktionsprinzipien dieses Musters gesellschaftlicher Selbstorganisation nicht verstanden worden sind. Eine Umsetzung eines solchen Beschlusses von Bürokraten kann nur zu Konflikten bzw. zu einer Auflösung der besonderen Leistungsform von Selbsthilfegruppen - i. S. von wechselseitiger Hilfe zwischen Gleichbetroffenen - führen. 2. Das andere Beispiel stammt aus der gegenwärtigen Debatte um die "Kundenorientierung" in Dienstleistungsorganisationen. Dieses vermeintlich universell anwendbare Konzept muss gleichwohl auf die spezifische Funktionalität im Wirtschaftssystem und damit auf Schwierigkeiten der Übertragung (in den Verbandsbereich) befragt werden. Dazu heißt es im Managermagazin von 1998 (Heft 5, 141): "Kundenorientierung heißt nicht, die Wünsche der Kunden zu erfüllen, sondern deren Zahlungsbereitschaft abzugreifen". Auch hier ist also festzustellen, dass ein Transfer dieses Konzeptes "Kundenorientierung" in andere gesellschaftliche Funktionssysteme und ihre organisierten Sozialsysteme u. U. einen Bedeutungswandel erfordert, um tatsächlich in den veränderten Kontext zu passen. Für den Bereich der Organisationsgestaltung gibt es hinreichend Orientierungsvorschläge bzw. Leitbilder. So lässt sich u. a. auf die Typologie von Henry Mintzberg 15 verweisen, der zwischen Unternehmensorganisation. Maschinenorganisation,
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Organisation der Professionals, missionarischer Organisation und politischer Organisation unterscheidet. Zur differenzierenden Kennzeichnung benutzt er die Dimensionen .,primärer Koordinationsmechanismen", .,Schlüsselteil der Organisation" und .,Typ der Dezentralisierung". Es fallt zwar nicht schwer, die Organisationstypen primär einzelnen Funktionssystemen zuzurechnen (z. B. Maschinenorganisationen = öff. Verwaltung; Organisation der Professionals = Dienstleistungsunternehmen etc.) - aber eine strikte I zu I Zuordnung ist bei Beachtung zusätzlicher empirischer Variationen nicht begründet. Zusammenfassend lässt sich deshalb feststellen, dass auf der Ebene organisierter Sozialsysteme (Organisationen) die Unvereinbarkeilen der Zugehörigkeit der Verbände zu verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen nur teilweise überbrückt werden können. Insofern werden Systemdifferenzen als Organisationsdilemmata abgebildet. Zusätzlich können weitere Unvereinbarkeilen - nun auf der Organisationsebene - hinzukommen. Für die notwendige Definition des Kern-Leitbildes und der .,core technology" kirchlicher Wohlfahrtsverbände bedarf es also einer doppelten Selektion (um die Dilemmata abzumildern): Funktionssystem-Bestimmung auf der Makro-Ebene (einseht. Kommunikationsmedien und Code) und Organisationsbestimmung auf der Meso-Ebene (einseht. Mitgliedschaftsregeln, Aufgabenprogrammatik und Organisationsmodell). Auch wenn die Grenzziehungen im Einzelnen nicht sehr strikt ausfallen müssen, so bleibt die Notwendigkeit der Bestimmung der .,Kernelemente" der Positionsbestimmung kirchlicher Wohlfahrtsverbände, die nur insoweit ergänzt werden können, als dies widerspruchsfrei möglich ist.
IV. Funktionsbestimmungen und Organisationsleitbilder kirchlicher Wohlfahrtsverbände
Die Entwicklung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände wurde in Deutschland bisher durch eine besondere Gesellschaftskonfiguration ermöglicht: Die enge Verzahnung mit dem politischen und dem administrativen System bei einer gleichzeitig sozialpolitisch beeinflussten (kompensierten) Wirtschaftsentwicklung (so genannter .,rheinischer Kapitalismus"). Dazu beigetragen hat auch der breite gesellschaftliche Konsens für die weitgehende Inklusion aller gesellschaftlichen Gruppen in die wohlfahrtsstaatliehen Leistungssysteme. Viele dieser Prämissen gelten heute nicht mehr uneingeschränkt; sie sind m. E. auch nicht wieder in frühere Zustände zurückzuführen. Insofern ist in Zukunft und auf Dauer die vorhandene programmatische und organisationsbezogene Vielfalt der verbandsinternen Strukturen nicht zu erhalten. 15
Henry Mintzberg , Mintzberg über Management, Wiesbaden 1991.
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Dies vor allem deshalb, weil sich hinter "dem ganzen Elefanten" 16 Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssystemen verbergen und weil diese Funktionssysteme sich wechselseitig höheren Anpassungszwängen aussetzen - allen voran das Wirtschaftssystem. Zukünftig ist eine begrenzte Vielfalt auf der Ebene der Organisationsgestaltung nur dann realisierbar, wenn es einen Kernbereich gibt, der durch besondere Ziele und Gestaltungsmittel - aber vor allem auch durch qualitative Leistungsformen - ausgezeichnet ist und damit den Maßstab für interorganisatorische Verträglichkeit definiert. Die Frage nach dem "Kernbereich" soll nun mit Blick auf kirchliche Wohlfahrtsverbände näher untersucht werden. Dabei geht es nicht darum zu behaupten, dass die gesellschaftliche Entwicklung so verlaufen muss; ebenso wenig wird etwas darüber gesagt, welche Entwicklung kirchlicher Wohlfahrtsverbände wünschenswert ist. Es geht ausschließlich um die Untersuchung der Frage, wie mit den Organisationsdilemmata und den zunehmenden Widersprüchen zwischen den die Verbände mitbestimmenden gesellschaftlichen Funktionssystemen umzugehen ist, wenn die kirchlichen Verbände - trotz Ökonomisierung und Globalisierung - eine gewichtige Rolle im Ensemble gesellschaftlicher Funktionssysteme spielen sollen oder wollen. Die Herausforderung besteht bei dieser Fragestellung darin, dass mit dem zu definierenden "Kernbereich" auch weiterhin ein bestimmtes - wenn auch reduziertes - Ausmaß der "Verklammerung" von Systemfunktionen und Organisationsformen zu Grunde gelegt wird - wie dies für die DrittsektorBetrachtung typisch ist. Gesucht wird also nach einem Ensemble von Merkmalen eines (besonderen?) Funktionssystems (Makroebene) und spezifischen Strukturen und Programmen auf der Ebene organisierter Sozialsysteme (Mesoebene). Einen zentralen Ausgangspunkt bildet die Frage nach den gesellschaftlich relevanten Funktionen der kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Meine These lautet hierzu, dass der funktionsbezogene "Kern" in der Bestimmung und Bearbeitung schlecht strukturierter und/oder unlösbarer (so genannter "schmutziger") ~esellschaftlicher (primär sozialer) Probleme besteht. Andreas Strunk 1 kennzeichnet solche Probleme folgendermaßen: - man weiß nie, wo das Problem anfangt und aufhört; - man weiß nie genau, was eine gute oder schlechte Problemlösung ist; - die nicht gewünschten Nebenerscheinungen der "Problemlösung" müssen von den Betroffenen in Kauf genommen werden; Kleinfeld/Löbler, 287 (Anm. 5). Andreas Strunk, Das Sozialamt als lernende Verwaltung im Neuen Steuerungsmodell, Vortragsmanuskript, Konstanz 1998, hier 4. 16
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- die Betroffenen sind eigentlich die Lösungsexperten, sie kommen aber nicht an die notwendigen Ressourcen heran u. a. m. Infolgedessen sind viele Probleme unlösbar, können nur gemildert bzw. latent gehalten werden. Diese Beobachtungen sind nicht neu und lassen sich vor allem auch mit vielen Aufgaben des politisch-administrativen Systems (PAS) verbinden. So wird u.a. von "Sicherheit als Wertidee" (Kaufmann) oder von "Fürsorglichkeit" öffentlicher Institutionen als Substitut für effektive Problemlösung gesprochen; 18 Wolfgang Seibel beschreibt diesbezügliche Einrichtungen als "erfolgreich scheitemde Organisationen"19. Dahinter stand die Vorstellung, dass der Staat auch als "Solidarstaat" in Erscheinung treten kann/soll. Diese Rolle ist aber - wie einleitend beschrieben - zunehmend in Frage gestellt worden. Das bereits von Claus Offe20 beschriebene Erfordernis "sozialstaatlicher Effektivität" wird unter dem Druck der Ökonomisierung heute weiter zugespitzt. Der öffentliche Sektor wird gegenwärtig von einer Modemisierungskampagne überrollt, die zutreffend als "Verbetriebswirtschaftlichung"21 beschrieben werden kann. In einem solchen Kontext ist die Einbindung "erfolgreich scheiternder Organisationen" nicht mehr ohne weiteres akzeptabel. Durch Kontrakte werden immer mehr Aufgaben auf Verbände etc. verlagert. Entscheidend ist dabei die Frage, ob damit nur der Ökonomisierungsdruck vom öffentlichen Sektor auf die Drittsektor-Organisationen weitergegeben wird. Dies würde zu einer Entpolitisierung unstrukturierter/unlösbarer Probleme führen; die Bevölkerung würde ggf. mit den meisten Problemen alleingelassen; nur ökonomisch effizient bearbeitbare Restbestände würden im privatwirtschaftliehen Sektor abgearbeitet. "Erfolgreich scheitemde Organisationen" würden eliminiert. Alternativ bleibt jedoch auch weiterhin die Möglichkeit der Verlagerung prekärer Aufgaben bzw. gesellschaftlicher sozialer Probleme auf die Verbände, falls dadurch eine besondere Leistungsfahigkeit mobilisiert werden kann. Diese Situationsanalyse macht deutlich, dass die "Kemfunktion" der kirchlichen Wohlfahrtsverbände nicht allein aus der zunehmenden Problemproduktion des entgrenzten Kapitalismus abgeleitet werden kann, denn dies18 Jürgen Krüger/Eckart Pankoke (Hrsg.), Kommunale Sozialpolitik, München 1985. 19 Wolfgang Seibel, Erfolgreich scheitemde Organisationen. Zur politischen Ökonomie des Organisationsversagens, in: Politische Vierteljahresschrift, 32. Jg. (1991), 479-496 sowie ders., Besondere Managementrisiken bei Wohlfahrtsverbänden, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, Heft 3 (1992), 10-19. 20 Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt/M. 1972. 21 Grunow, Neue Steuerungsmodelle in der Kommunalverwaltung - droht eine "Verbetriebswirtschaftlichung" lokaler Politik?, in: Forum Wissenschaft 411995, 15-18.
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bezügliche "Müllhalden" gab es schon immer. Entscheidend ist die Frage, ob sich ein "verbandliches" Funktionssystem gegenüber den Ökonomisierungszwängen besser abgrenzen kann als das politisch-administrative System. Hier könnte nun die Kirche als Institution und die Religion als gesellschaftliches Funktionssystem eine wichtige Rolle spielen. Durch sie könnte die "Kernfunktion" mit anderen Leitbildern und Maßstäben ausgestattet werden: Menschenwürde, Liebe, Altruismus, Solidarität, Nachhaltigkeil u. a. m. Im Hinblick auf gesellschaftliche Funktionssysteme ist eine Mixtur von Medien und Codes von Belang: Immanenz und Transzendenz (Religion), Liebe, Berücksichtigung der ganzen Person (Familie). M. a. W. es gilt eine Kommunikationslogik abzusichern, die der Logik von "ZahlenNichtzahlen" standhält. Damit könnte auch die Besonderheit kirchlicher Wohlfahrtsverbände herausgearbeitet werden: als besondere Resistenz gegenüber den Ökonomisierungszwängen - während nicht konfessionell gebundene Verbände sich zu Dienstleistungs-GmbHs entwickeln werden. Dass mit diesem Funktions-Kern auch weiterhin strukturelle Koppelungen an das politische System (Interessenvertretung für die betroffenen Bevölkerungsgruppen; Legitimationsbeiträge für das PAS) möglich sind, ist leicht aufzuzeigen. Allerdings hängt dies v. a. von der zukünftigen Funktionserfüllung durch die neu konturierten Verbände ab.
V. Fazit Gesellschaftliche Funktionssysteme sind selbstreferenziell orgamstert, aber nicht autark. Die erforderlichen Inputs in das kirchliche Verbändesystem (vor allem die finanziellen Ressourcen) stammen zwar aus verschiedenen Quellen (Spenden, Finanztransfers, Leistungsvergütungen usw. aus Privat-Haushalten, PAS, Wirtschaft), sie erfordern jedoch stets eine spezifische Funktionserfüllung: eben ein erfolgreiches Scheitern, ein Latenthalten von Problemlagen (Vermeidung fundamentaler Krisen) usw. Dafür ist die Ebene organisierter Sozialsysteme entscheidend. Inwiefern gelingt es, besondere Programmatiken (Arbeitsabläufe, Projekte) und Organisationsformen zu entwickeln und zu erhalten, die die o. a. besonderen Probleme zum Gegenstand haben und spezifische Arten der Problembewältigung (nicht unbedingt Problemlösung) verwirklichen? Wichtig ist dafür die Einbeziehung besonderer organisatorischer Leitbilder Genseits des "Konzerns Barmherzigkeit")22, Mitgliedschaftskriterien Genseits elitärer Professionalität) und besonderer Aufgabendurchführung Genseits funktional spezifischer Optimierung). Auch an besondere Formen der Entscheidungstindung lässt sich anknüpfen; sie sind u. a. im "Mülleimermodell" organisatorischer Entschei22 Vgl. Rainer Öhlschläger/Hans-Martin Brüll (Hrsg.), Unternehmen Barmherzigkeit, Baden-Baden 1996.
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dung ausgearbeitet worden 23 und sie widersprechen fast allen Anforderungen an ökonomisch effiziente Entscheidungsprozeduren. 24 Schließlich sind auch spezifische Fonnen moralischer Kommunikation in diesen Organisationen einzubeziehen.25 Die Bausteine der letztlich erforderlichen "core technology" lassen sich am besten in konkreten Problem- und Aufgabenfeldern bestimmen. Einerseits geht es um die Aufgabenbestimmung (z. B. im Sinne unlösbarer Probleme); zum anderen geht es um die Überprüfung der Beiträge, die bisher übliche Organisationsformen und Personalstrukturen zu leisten in der Lage sind. Nimmt man als Beispiel den Bereich Altenpflege in Augenschein, so lassen sich die allgemeinen Überlegungen konkret illustrieren. Gerade die Pflegeskandale der jüngsten Zeit zeigen die Schwierigkeit der Problemlösung im Sinne von sozialstaatlicher Effektivität oder von kommerzieller Profitabilität. Kirchliche Wohlfahrtsverbände können hier mit einem Ansatz, der die Menschenwürde achtet und die Bedürfnisse nicht auf "satt und sauber" reduziert und die Gewalt gegen alte Menschen nicht "unter den Teppich kehrt", eine spezifische "core technology" etablieren. Dazu wäre unter gegenwärtigen Bedingungen auch eine Neubewertung und Neu-Positionierung ehrenamtlicher Hilfe möglich und erforderlich. Eine solche Vorgehensweise muss eine besondere, das heißt im Vergleich mit anderen Funktionssystemen quasi konkurrenzlose gesellschaftlich relevante Leistung erbringen. Wenn dies Inputs (z. B. Ressourcen) vom politisch-administrativen System und von der Privatwirtschaft erfordert, dann muss für diese Funktionssysteme eine nicht selbst leistbare Problembearbeitung erreicht werden: z. B. die legitimatorische Abstützung staatlicher Sozialpolitik oder die Abmilderung (Latenthalten) von ausgesteuerten Personen und ignorierten Problemen des globalisierten Kapitalismus. Diese Positionierung bedeutet auf der Ebene organisierter Sozialsysteme (Organisation, Programm, Personal) nicht automatisch, dass Elemente der gegenwärtigen Modernisierungsimpulse grundsätzlich ignoriert werden müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Impulse die "core technology" nicht außer Kraft setzen dürfen - wie dies gegenwärtig häufig geschieht (und damit die Auflösung der Wohlfahrtsverbände vorbereitet). Eine wirtschaftliche Ressourcenverwendung ist ein unproblematisches Element der Aufgabendurchführung, sofern damit die spezifische Funktionserfüllung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände nicht konterkariert wird.
23 Michael D. Cohen u. a., A Garhage Can Model of Organizational Choice, in: ASQ 17 (1972), l-25. 24 Herbert A. Simon, Entscheidungsverhalten in Organisationen, München 1981. 25 Vgl. Tobias Gößling/Birger P. Priddat, Moralische Kommunikationen in Organisationen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/97, 22-30.
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Schwinden die Bereiche mit ihren spezifischen Merkmalen, z. B. durch Mitgliederschwund, mangelnde Spendenbereitschaft, fehlendes Engagement mit weltanschaulichem Hintergrund, und werden u. U. auch die Rahmenbedingungen hinterfragt (Aberkennung des Gemeinnützigkeitsprinzips; Forcierung der Professionalisierung und Verberuflichung; Aufhebung besonderer Privilegien der verbandliehen Wohlfahrtspflege usw.), so lässt sich eine kontinuierliche Auflösung des Makrogebildes der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in einen Teil "Verwaltungstrabanten", in einen Teil "politiknahe Lobbyorganisation", in einen Teil "medizinisch-industrieller Komplex" und in einen seelsorgerischen Bereich erwarten. Die bedeutsamste Herausforderung liegt also nach wie vor darin, die o. a. besonderen programmatischen und organisatorischen bzw. personellen Gestaltungsmittel in einer möglichst großen Zahl von einzelnen Einheiten der Wohlfahrtsverbände einzubringen, ohne andere Anforderungen völlig zu ignorieren (wie z. B. effektives Sozialmanagement, Rechenschaftsfahigkeit, Regelkonformität usw.). Gelingt dies nicht überzeugend, indem besondere (eben unlösbare oder "schmutzige") Aufgaben bearbeitet oder besondere Ergebnisse erzielt werden, so werden diese Organisationen dem Anpassungsdruck von öffentlichen Institutionen ebenso wenig gewachsen sein wie der Konkurrenz der privatwirtschaftliehen Dienstleistungs-GmbH. Modemisierung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände heißt vor diesem Hintergrund - die in den letzten 25 Jahren "eingesammelten" Aufgaben zu überprüfen; - diejenigen Aufgaben, die öffentliche Bürokraten besser erledigen können, zurückzugeben; - Aufgaben, deren Erledigung harten Effizienzbedingungen ausgesetzt werden (können oder müssen), in die gewinnorientierte Privatwirtschaft abwandern zu lassen; - sich auf die schlecht strukturierten bzw. unlösbaren Aufgaben zu konzentrieren, die spezifischen Beiträge solidarischer und altruistischer Hilfe einbringen - wobei auch kirchlich-religiöse Bezugspunkte eingebunden werden können - und damit ein eigenes Funktionssystem zu begründen erlauben; - Ausgangspunkt hierfür sind die oben schon beschriebenen Codes Liebe, Altruismus, ganze Person sowie die Gruppen und Einrichtungen der sozialen Gesellschaftsbasis, so dass ein Umbau der Verbände eher von unten (bottom-up) als von oben (top-down) erfolgen muss (als Beispiel sei hier die Entwicklung von Netzwerken in Düsseldorf und ihr Eigensinn erwähnt);
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- zu flankieren ist dies durch eine begründete Auswahl von organisatorischen, programmatischen und personellen Gestaltungsmitteln; - dies entlässt nicht aus der Verpflichtung, so weit möglich auch Organisationsprogramme und -Strukturen einzubinden, die durch effektive Führung, Kompetenz und finanzielle Verantwortlichkeit die Qualität und Leistungsfähigkeit dieser Schwerpunktaufgaben zu steigern erlauben; dabei muss aber deutlich sein und bleiben, dass diese Instrumente nur Mittel zum Zweck sind und ggf. im Rahmen des spezifischen Funktionssystems für bestimmte (unstrukturierte) Probleme unter Einschluss solidarischer Hilfe auf der Basis sozialen Engagements und Selbstorganisation eine besondere Ausprägung bzw. Ausrichtung - und notfalls auch deutliche Abschwächungen - erfahren müssen. Dies wird nicht ohne einen deutlichen Schrumpfungsprozess der bisher bestehenden funktionssystemübergreifenden Verbandskonfiguration gelingen. Aber eine modernisierte Verbändestruktur wäre nicht das erste Beispiel dafür, dass im Rahmen moderner hochdifferenzierter Gesellschaften ein derart konturiertes Funktionssystem mehr gesellschaftliche Bedeutung erhält als ein nur lose verkoppelbares Agglomerat von "Wohlfahrtsmixturen".
Ökonomische Herausforderungen für kirchliche Wohlfahrtsverbände Von Joachim Wiemeyer
I. Einleitung Sowohl das in einem längeren internen Willensbildungsprozess entstandene Leitbild des Deutschen Caritasverbandes 1 im Umfeld des 100-jährigen Jubiläums wie auch das 150-jährige Jubiläum der Diakonie und die dazu herausgegebene EKD-Denkschrift2 machen deutlich, dass sich die beiden großen kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert vor vielfältige Herausforderungen gestellt sehen. 3 So wird etwa über das christliche Selbstverständnis, das Verhältnis von institutionalisierter Diakonie einerseits und Gemeinde andererseits, das Verhältnis von Ehrenamt und Hauptamt, über die gesellschaftspolitische Funktion kirchlicher Wohlfahrtsverbände usw. ausgiebig diskutiert. Hingegen bleiben demgegenüber die konzeptionellen Reaktionen auf die ökonomischen Herausforderungen merkwürdig blass, obwohl vor allem in kirchlichen Krankenhäusern und Altenheimen sich Budgetbeschränkungen auch im Arbeitsalltag deutlich bemerkbar machen. Dieses Ökonomiedefizit muss umso mehr erstaunen, da es sich bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden um die beiden mitarbeiterstärksten "Konzerne"4 in der Europäischen Union überhaupt handelt. Selbst nach diversen Megafusionen in der Privatwirtschaft übertreffen die Caritas mit rd. 460000 Mitarbeitern und die Diakonie mit rd. 400000 Mitarbeitern5 immer noch die größten privatwirtschaftliehen 1 Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Leitbild des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 1997. 2 Vgl. Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine evangelische Denkschrift, Gütersloh 1998. 3 In den nachfolgenden Überlegungen ergibt sich ein gewisses Ungleichgewicht durch eine stärkere Gewichtung der Caritas, da hier der Vfs. über die besseren Kenntnisse verfügt. 4 Karl-Heinz Boeßenecker, Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in der BRD. Eine Einführung in Organisationsstruktur und Handlungsfelder, Münster 1995, 39, spricht ausdrücklich von einem "katholischen Wohlfahrtskonzem". 5 Vgl. Dirk Meyer, Wettbewerbliehe Neuordnung der Freien Wohlfahrtspflege, Berlin 1999, 56.
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Konzerne. Da im ökonomischen Sinne (Zahlerfunktion) die Öffentliche Hand sowie Sozialversicherungen die Hauptauftraggeber sind, schlägt sich zudem die Finanzkrise des Sozialstaates im Zeitalter der Globalisierung vor allem auch im Wohlfahrtssektor nieder. Trotzdem haben weder Diakonie noch Caritas in volkswirtschaftlicher Hinsicht hinreichende Konzepte für die Fortentwicklung des Sozialstaates mit dem Schwerpunkt sozialer Dienstleistungen entwickelt, noch auf betriebswirtschaftlicher Ebene hinreichende Konsequenzen gezogen. Die ökonomischen Herausforderungen für kirchliche Wohlfahrtsverbände lassen sich wie folgt kennzeichnen 6 : 1. Angesichts des internationalen Wettbewerbs, der Verlagerung von Einfacharbeitsplätzen ins Ausland und der Rationalisierung durch technischen Fortschritt in der industriellen Produktion sowie umweltbezogener Grenzen für materielles Wachsturn ist in Zukunft eine Beschäftigungsexpansion zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit nur noch im Dienstleistungshereich möglich. Dabei ist vor allem an soziale Dienstleistungen zu denken. 2. Dieselbe Globalisierung, die das Beschäftigungsproblem mitbedingt, scheint aber auch die finanzielle Grundlage des Sozialstaates zu unterminieren. Der Sozialstaat ist immer weniger in der Lage, eine Expansion sozialer Dienstleistungen zu finanzieren. Vielmehr wird der vorhandene Bestand bereits in Frage gestellt. 3. Auf Grund des Globalisierungsdrucks kommt es zu einer Verlagerung von direkten zu indirekten Steuern. Da die Kirchensteuer aber an die direkten Steuern angebunden ist und zudem durch zahlreiche Kirchenaustritte auch die Kirchensteuereinnahmen weniger stark wachsen als die gesamte Einkommens- und Lohnsteuer, schrumpfen auch die Eigenbeiträge kirchlicher Träger. 7 4. Auf Grund der Finanzkrise der Öffentlichen Hand und der Sozialversicherungen werden die Finanzierungsverfahren (z. B. Pflegesätze) von der Kostendeckung auf Leistungsentgelte umgestellt. Weiterhin wird in einer Privatisierung Sozialer Dienste eine Möglichkeit zur Kostenminderung gesehen. Es kommt also zu einem zunehmenden finanziellen Druck und einer wachsenden Konkurrenz.
6 Vgl. dazu auch Wolfgang Klug, Wohlfahrtsverbände zwischen Markt, Staat und Selbsthilfe, Freiburg 1997 sowie Meyer, Neuordnung (Anm. 5). 7 Vgl. Joachim Wiemeyer, Kirchen und religiöse Gemeinschaften, in: Wilhelm Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. III, Gütersloh 1999, 555573, hier 561 .
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5. Die Europäische Union ermöglicht auch Anbietern sozialer Dienstleistungen aus anderen EU-Ländern, sich um öffentliche Aufträge im sozialen Bereich in Deutschland zu bewerben. 8 Diese ökonomischen Herausforderungen werden innerhalb kirchlicher Wohlfahrtsverbände nicht umfassend thematisiert. Man fürchtet, dass ökonomisches Denken, indem ökonomische Stäbe in den Verbänden institutionalisiert und Ökonomen in die Leitung von sozialen Einrichtungen berufen werden, das christliche Profil und die humane Zuwendung zum Menschen gefahrden könnte. Dem liegt die Grundthese eines Gegensatzes zwischen christlichem Liebesdienst und ökonomischer Rationalität zu Grunde. Die ökonomischen Herausforderungen für Wohlfahrtsverbände liegen zuerst in der Ausgabenexpansion für soziale Dienstleistungen begründet, so dass diese zunächst näher analysiert werden muss. Im zweiten Schritt werden dann sozialethische Überlegungen angeschlossen und eine ordnungsethische Einordnung kirchlicher Wohlfahrtsverbände vorgenommen. Im dritten Schritt werden anschließend einige Handlungsperspektiven skizziert.
II. Ursachen der Ausgabenexpansion Die Ausgabenexpansion bei sozialen Dienstleistungen hat den Anstieg des Bruttosozialprodukts in den letzten Jahrzehnten deutlich übertroffen, was sich etwa an den Ausgaben der Krankenversicherung für den Krankenhausbereich, der Expansion kommunaler Sozialhaushalte, der Beschäftigungsentwicklung bei sozialen Dienstleistungen usw. ablesen lässt.9 Die Ursachen der Ausgabenentwicklung lassen sich in drei Typen einteilen, zum einen gesellschaftlich erwünschte Ausgaben, vom Wohlfahrtssektor selbst unabwendbare Ausgaben und beeinflussbare kostentreibende Faktoren. 1. Erwünschte Ausgabenexpansion
a) Qualitätssteigerungen Innerhalb des Spektrums sozialer Dienstleistungen kommt es zu permanenten Qualitätsverbesserungen. Dies gilt etwa für den medizinischen Bereich, in dem z. B. durch sehr kostspielige Intensivmedizin das Alter, in dem Frühgeborene eine Überlebenschance haben, immer weiter nach vorne verlagert wird. Ähnliches gilt für viele andere medizinische und soziale Vgl. zur europäischen Herausforderung Meyer, Neuordnung, 67 ff. (Anm. 5). Vgl. die näheren Angaben bei Rainer Öhlsch/äger, Freie Wohlfahrtspflege im Aufbruch, Baden-Baden 1995, 67 ff. und Meyer, Neuordnung, 57 f. (Anm. 5). 8
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Arbeitsfelder: Bei der Betreuung von psychisch Kranken und Behinderten kommt es mit dem Ziel der Förderung zu einer Abkehr von einer reinen Verwahrung. In geschlossenen Einrichtungen steigt der Standard (Verringerung von Mehr-Bett-Zimmern, Nasszellen in jedem Zimmer) immer weiter an. Medizinische Entwicklungen (z. B. die Bekämpfung von Infektionskrankheiten) machen möglich, dass Personen (neugeborene Behinderte, Alte und Pflegebedürftige) höhere Überlebenschancen als in früheren Jahrzehnten haben. Dies erfordert dann häufig langjährige aufwändige Betreuung. Diese Entwicklung wird nicht dadurch kompensiert, dass der medizinische Fortschritt anderen Menschen - im Gegensatz zu früheren Zeiten - wieder eine eigenständige Lebensführung ermöglicht.
b) Professionalisierung des Personals Die Bemühungen zur Qualitätssteigerung sowie neue soziale Aufgaben führen dazu, dass an das Personal in Gesundheits- und Sozialberufen erhöhte Anforderungen gestellt werden. Daher kam es in den letzten Jahrzehnten zur Anhebung der formalen Qualifikation, sichtbar etwa an der Ablösung der Fürsorgerinnenschulen durch Fachhochschulen für Sozialwesen oder an der Etablierung einer Vielzahl von pflegewissenschaftlichen Studiengängen an Fachhochschulen und teilweise bereits an Universitäten. Dies führte zu steigenden Ausbildungskosten ebenso wie zu Anhebungen des Gehaltsniveaus entsprechend der formalen Qualifikation.
c) Strukturelle Gehaltsanhebungen Partielle Knappheiten in bestimmten sozialen Berufen (z. B. Krankenpflege, Altenpflege), die als ein so genannter "Pflegenotstand" 10 angesehen wurden, und die in den 70er Jahren auch zur Anwerbung asiatischer Krankenschwestern führten, hatten strukturelle Gehaltsanhebungen für einige soziale Berufe zur Folge.
d) Leistungsausweitung In Gesellschaften gibt es manche soziale Problemlagen, die jahrzehntelang tabuisiert werden, wenn die betroffenen Personen zu den "vergessenen Gruppen der Gesellschaft gehören, die schweigend leiden." 11 Zu diesen Phänomenen gehört etwa die Gewalt in Familien/Partnerschaften gegen 10 Vgl. bereits Elisabeth Liefmann-Keil, Der Pflegenotstand, in: Maria Blohmke u. a. (Hrsg.), Handbuch der Sozialmedizin, Bd. III, Köln 1976, 342-350.
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Frauen und Kinder. Frauenhäuser sind erst in den letzten 25 Jahren entstandene Einrichtungen, um in diesem Problembereich Hilfen zu gewähren. Manche sozialen Probleme, wie etwa die Abtreibungsproblematik, die ebenfalls lange tabuisiert bzw. dem staatlichen Repressionsapparat (Polizei, Justiz) übertragen wurden, sind heute Gegenstand sozialer Dienste (Schwangerschaftskonfliktberatung). 2. Unabweisbare Ausgabenexpansion
a) Wachsende gesellschaftliche Problemlagen Für den Sozialsektor selbst nicht beeinflussbar sind wachsende gesellschaftliche Probleme, die den Bedarf an sozialen Dienstleistungen steigen lassen. Zu diesen Phänomenen gehört die Individualisierung der Gesellschaft, so sind etwa in Großstädten mehr als 50% der Haushalte Ein-Personen-Haushalte, die wachsende Mobilität aus ökonomischen Gründen, so dass Kinder nicht mehr am Wohnort der Eltern leben, was gegenseitige Hilfe (Kinderbetreuung, Pflege) erschwert. Instabilitäten der Familie, Erwerbstätigkeit beider Ehepartner, neue soziale Problembereiche (Überschuldung, Aids, Migration), fremdenfeindlicher Rechtsextremismus etc. kommen hinzu. Alle diese Phänomene führen zu einem erhöhten Bedarf und einem erweiterten Leistungsspektrum im Bereich sozialer Dienstleistungen.
b) Nichtrationalisierbarkeit von Dienstleistungen Soziale Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Regel nur persönlich an einem Ort mit dem Zusammentreffen von Leistungserbringer und Klient vollzogen werden können. Örtliche Bindung und die fehlende Lagerfähigkeit von Dienstleistungen erfordert die Vorhaltung von Kapazitäten, die nicht kontinuierlich genutzt werden. Weiterhin gibt es nur in wenigen Bereichen arbeitssparenden technischen Fortschritt (Automatisierung von Laboren im Krankenhaus, schonendere Operationsverfahren). In der Regel ist kein Produktivitätsanstieg festzustellen. Bei Arbeitszeitverkürzung wird eine höhere Relation von Personal zu Betten in Krankenhäusern und Heimen erforderlich.
11 So die Charakterisierung durch Mancur Olson jr., Die Logik kollektiven Handelns, Tübingen 1968, 160.
9 Gabriel (Hrsg.)
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3. Beeinflussbare kostentreibende Faktoren
a) Kostenerstattungs- und Verlustabdeckungsverfahren Bei der Finanzierung sozialer Einrichtungen galt jahrzehntelang ein Prinzip Kosten deckender Pflegesätze. 12 Ein solches Kostendeckungsprinzip veranlasst Verwaltungen sozialer Einrichtungen dazu, gegenüber den Kostenträgern möglichst alle Kosten zu plausibilisieren, statt systematisch nach Kostensenkungsmöglichkeiten zu suchen. In manchen Bereichen (z. B. Kindergärten) erklärten sich Gemeinden bereit, am Jahresende zusätzlich noch alle einigermaßen plausibel gemachten Verluste abzudecken. Bei solchen Finanzierungsverfahren kommt es vor allem darauf an, dass eine soziale Einrichtung als Verwaltungsleiter einen guten Buchhalter hat, der lückenlos alle Kosten nachweist, nicht aber einen Manager, der systematisch nach Kostensenkungsmöglichkeiten sucht. Dafür besteht bei solchen Finanzierungsverfahren kein Anreiz.
b) Trennung von Investitions- und Betriebskosten In vielen sozialen Einrichtungen unterscheiden sich diejenigen, die die Investitionskosten finanzieren, von denjenigen, die die laufenden Kosten tragen. 13 Da es aber zwischen Investitionskosten und laufenden Kosten Substitutionsbeziehungen gibt, kommt es insgesamt zu unwirtschaftlichem Verhalten. Warum soll der Geber für Investitionskosten z. B. eine neue Heizungsanlage finanzieren, wenn die Energiekostenersparnisse den Krankenoder Pflegekassen zugute kommen? Weiterhin können laufende Ausgaben steigen, wenn an Investitionskosten gespart wird und umgekehrt.
c) Karteliierung der Wohlfahrtsverbände 14 Die Wohlfahrtsverbände haben sich lange Jahre untereinander abgestimmt, indem sie bestimmte Arbeitsfelder (z. B. Ausländerberatung) unter sich aufgeteilt haben und gemeinsam in Pflegesatzverhandlungen aufgetreten sind bzw. Vereinbarungen getroffen haben, um einen Unterbietungswettbewerb gegenüber der öffentlichen Hand und den Sozialversicherungen zu vermeiden. Dieses Kartell der Wohlfahrtsverbände war gegen externe 12 Vgl. zum Krankenhausbereich Wiemeyer, Krankenhausfinanzierung und Krankenhausbedarfsplanung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1984, 84 ff. u. 113 ff. Allgemein: Dirk Meyer, Falsche Moral, falsche Ökonomie? Wohlfahrtsverbände als Intermediär und Dienstleister, in: Neue Ordnung 50 (1996), 258-271, hier 261. 13 Vgl. Wiemeyer, Krankenhausfinanzierung, 131 ff. (Anm. 12). 14 Vgl. Klug, 64 ff. (Anm. 6) und Meyer, Neuordnung, 111 ff. (Anm. 5).
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Anbieter geschützt, weil bestimmte öffentliche Aufträge gemäß dem Bundessozialhilfe- und dem Kinder- und Jugendhilfegesetz nur an Wohlfahrtsverbände vergeben wurden. d) Unzureichende externe Prüfung Zwar werden soziale Einrichtungen in der Regel einer externen Prüfung unterzogen. Diese Prüfung erstreckt sich aber vorwiegend auf die Einhaltung von Rechtsvorschriften und die fonnal korrekte Buchführung. 15 Hingegen findet eine qualifizierte Prüfung der betriebswirtschaftliehen Effizienz nicht statt. Dies ist häufig wegen des unzureichenden internen Rechnungswesens und fehlender Controlling-Systeme auch gar nicht möglich. 16 e) Unzureichende Betriebsgrößen Die geschilderten Finanzierungsverfahren bieten keinen Anreiz, z. B. durch Kettenbildung, die in Handel, Industrie und vielen Dienstleistungsbereichen (z. B. Hotelketten) üblich sind, nach optimalen Betriebsgrößen zu suchen. Es wird kein gemeinsamer Einkauf praktiziert, kein einheitliches Rechnungswesen aufgebaut, keine Planungsabteilung für Unternehmensentwicklungen eingerichtet etc. Damit werden vielfältige Kostensenkungsmöglichkeiten (z. B. Kostenersparnis durch Cash-Management, Großeinkauf) nicht realisiert. Die dezentrale Trägerschaft kirchlicher Einrichtungen (Pfarrgemeinden, Stiftungen, Orden etc.) führt dazu, dass innerhalb eines Wohlfahrtsverbandes nicht kooperiert wird. Von den Verbänden, z. B. Diözesan-Caritas-Verbänden, wird eine solche Kettenbildung gefürchtet, wenn dadurch auch selbstbewusste und konzeptionell fähige Unternehmen entstehen, die Verbandsansprüche zurückdrängen könnten. f) Fehlendes ökonomisches Management
Obwohl viele soziale Einrichtungen (Krankenhäuser, Heime) von dem Kapitaleinsatz (lnvestitionskosten für einen Altenheimplatz 150000 DM und mehr, Krankenhausbett 500000--l Million DM), von der Mitarbeiterzahl und vom Jahresumsatz mittelständischen Unternehmen gleichen, haben sie keine adäquaten Organisationsstrukturen herausgebildet. Dies betrifft die Kompetenzen derjenigen, die die Eigentümerfunktion ausüben, also letztlich über Schließung oder Verkauf einer Einrichtung entscheiden können, die Vgl. Meyer, Falsche Moral, 261 (Anm. 12). In den letzten Jahren gab es hier einige Verbesserungen. Vgl. Meyer, Neuordnung, 96 ff. (Anm. 5). 15
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die fortlaufende Aufsicht vornehmen, in der Zusammensetzung und Kompetenzzuweisung für das Management sowie in der externen Prüfung. In den Aufsichtsgremien (z. B. Kuratorien) sitzen häufig nicht hinreichend fachlich qualifizierte Personen, die der ökonomischen Verantwortung nicht gewachsen sind. Die Kuratorien sind oftmals überaltert und von Personen besetzt, die nostalgisch alten Zeiten anhängen. 17 Zwischen Aufsichtsgremien und Vorständen gibt es häufig keine klare Kompetenzabgrenzung. 18 Soziale Einrichtungen mit Millionen-Umsätzen werden immer noch wie "stadtteilbezogene Freiwilligengruppen" 19 geführt. Man hält am Vereinsrecht fest, obwohl das Vereinsrecht nicht auf Wirtschaftsführung mit Millionen-Umsätzen angelegt ist. Die Umwandlung in GmbHs oder andere geeignetere Rechtsformen erfolgt trotzdem nur sehr zögerlich. In der Diakonie sind noch viel stärker Leitungsfunktionen mit Theologen besetzt, während der Mangel an Priestern und Ordensleuten im katholischen Bereich fast ausschließlich Laien in Führungspositionen einrücken lässt. Daneben findet man auch Juristen, was die Nähe kirchlicher Wohlfahrtsverbände zur staatlichen Bürokratie demonstriert. 20 Bei kleineren sozialen Einrichtungen (z. B. Altenheimen) findet man häufig Einzelleitungen, die in der Regel aus dem Aufgabenbereich (Ärzte, Sozialarbeiter, Erzieher, Pflegepersonal) der jeweiligen Einrichtung rekrutiert werden. Diese sind nicht durch eine systematische Ausbildung und eine gezielte berufliche Karriere in diese vor allem auch wirtschaftliche Leitungsposition gelangt, sondern durch fachliche Leistungen in dem jeweiligen Sachbereich. In den Leitungspositionen sind sie häufig mit den Anforderungen im betriebswirtschaftliehen Bereich wie in der Personalführung überfordert. Häufig eignen sich diese Leitungspersonen in Fortbildungsveranstaltungen elementare Kenntnisse für ihre Aufgaben erst noch an. Moderne Managementmethoden werden unzureichend genutzt. Management galt in der Diakonie (aber auch bei der Caritas) allzu lange als wahres Tabuwort. 21 Obwohl ihnen die Managementqualifikation fehlt, versuchen sich einzelne Geschäftsführer kirchlicher Wohlfahrtsverbände als Manager, indem sie risikobehaftete Investitionen, z. B. teuere Seniorenstifte, in Form von Abschreibungsobjekten für Spitzenverdiener errichten. Diese stehen dann Vgl. Alfred Jäger, Diakonische Untemehmenspolitik, Gütersloh 1992, 230 f. Vgl. ebd., 231, sowie Eberhard Goll, Die freie Wohlfahrtspflege als eigener Wohlfahrtssektor, Baden-Baden 1991, 99 ff. 19 Vgl. C. von Rothkirch, Der Europäische Binnenmarkt und die Freie Wohlfahrtspflege, in: Herbert Effinger/Detlef Luthe (Hrsg.), Sozialmärkte und Management, Bremen 1993, 93-111, hier 108. 20 Vgl. zur Nähe zur staatlichen Bürokratie Meyer, Neuordnung, 73 ff. (Anm. 5). 21 Vgl. Jäger, Diakonische Untemehmenspolitik, 44 (Anm. 17). 17
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teilweise wegen der fehlenden vorherigen genauen Marktanalyse jahrelang leer, wobei der kirchliche Wohlfahrtsverband wegen der von ihm gegebenen Mietgarantie die Verluste tragen muss. Problematisch ist bei personalintensiven Dienstleistungsbereichen vor allem auch, dass moderne Formen des Personalmanagements nicht genutzt werden. In Caritas und Diakonie bestand lange eine autoritär-patriarchalische Unternehmenskultur?2 Erst 1996 wurde innerhalb der Caritas über eine systematische Personalentwicklung diskutiert. 23 Eine professionelle Rekrutierung des Personals, ein gezielter Personaleinsatz, eine Weiterbildung etc. findet nicht statt. Probleme in der Interaktion des Personals untereinander, des Personals mit den Klienten, in der Außendarstellung (mit Angehörigen) werden nicht rechtzeitig identifiziert. Ergebnis ist dann eine hohe Fluktuation des Personals.24 Hohe Personalfluktuation verursacht wegen der Anwerbung und Einarbeitung hohe Kosten, schädigt das Image nach außen, erschwert den sozialen Dienstleistungsauftrag in der Zusammenarbeit mit den Kunden/Klienten. Vor allem macht er aber die Entwicklung einer tatsächlich von den Mitarbeitern getragenen und praktizierten Unternehmensphilosophie ("corporate identity") unmöglich. Letztere wäre aber gerade bei kirchlichen Wohlfahrtsverbänden zentral, weil sich kirchliche Wohlfahrtsverbände vornehmlich durch ihre Unternehmensphilosophie auszeichnen und sich damit besonders am Wohlfahrtsmarkt profilieren wollen. g) Unzureichende Interaktion innerhalb der Wohlfahrtsverbände
und mit der öffentlichen Hand
Unter den Bedingungen von Kostenerstattungs- und Verlustabdeckungsverfahren führt die Konkurrenz der Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände zur Qualitätssteigerung und Leistungsexpansion. Dabei kommt es auch zu Überversorgung und zu Überkapazitäten, z. B. durch den Kauf medizinischer Großgeräte für Krankenhäuser, die anschließend dann auch genutzt werden, selbst wenn ihr Einsatz in dieser Größenordnung medizinisch wie ökonomisch nicht vertretbar ist. Unzureichende Koordination zwischen Wohlfahrtsverbänden führt neben Überkapazitäten und Überversorgung aber auch zu partiellen Angebotslücken. Neben der Koordination zwischen Vgl. ebd., 77. Vgl. Thomas Broch, Mitarbeit im kirchlichen Dienst, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 38 ( 1997) 64-80. 24 Vgl. Joachim Merchel, Sozialmanagement: Problembewältigung mit PlaceboEffekt oder Strategie zur Reorganisation der Wohlfahrtsverbände?, in: Thomas Rauschenbach u. a. (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsuntemehmen, Frankfurt/M. 1995, 297-320, hier 303 f. 22 23
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Wohlfahrtsverbänden stellt sich das Abstimmungsproblem gegenüber der öffentlichen Hand (z. B. kirchliche Krankenhäuser versus kommunale). Auf diese kostentreibende Entwicklung hat die öffentliche Hand mittels der kommunalen Sozial-, Gesundheits- und Jugendhilfeplanung sowie die Landesplanung für Krankenhauskapazitäten reagiert, um ihrer Gewährleistungspflicht für soziale Dienstleistungen im Rahmen des Sozialstaates nachzukommen. Sie kann aber Planungsmängel nicht vermeiden, weil sie einerseits Wohlfahrtsverbände nicht voll in Planungsvorgaben einbinden kann, andererseits aber auch zentrale Planungsprozesse fast immer mit Mängeln behaftet sind. 4. Fazit
Die Analyse hat gezeigt, dass es sowohl gesellschaftlich erwünschte kostentreibende Faktoren gibt, dass gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zur Expansion von Wohlfahrtsverbänden führen und dass erhebliche ökonomische Defizite bei Wohlfahrtsverbänden existieren. Die staatliche Reaktion auf die Kostenentwicklung, nämlich durch prospektive Pflegesätze und die Erlaubnis zur Gewinnerzielung die Kosten in "Schach und Proportion" zu halten, weist aber das Problem auf, dass reine Kostenbegrenzung kein Ziel an sich ist, da sie zur unerwünschten Leistungseinschränkung bzw. zu Qualitätsminderungen führen kann. Staatliche Angebotsplanung führte zum Aufbau staatlicher wie paralleler Bürokratien bei Wohlfahrtsverbänden.
111. Kirchliche Wohlfahrtsverbände in wirtschaftsethischer Sicht Die ökonomischen Defizite bei kirchlichen Wohlfahrtsverbänden sind auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: 1. Auf Grund ihrer langen Tradition sind bei kirchlichen Wohlfahrtsverbänden noch vormoderne Denkmuster wirksam, die die Umstellung der Moderne von der motivationalen Steuerung auf institutionelle Regelungen (Markt), die in ihren Folgen abgewogen werden, nicht realisiert hatten. 25 2. Im sozialen Bereich hat man es häufig mit sozialen Folgeproblemen und Nebenwirkungen ökonomischer Modernisierungsprozesse zu tun. Solche sozialen Folgewirkungen werden von wirtschaftsliberalen Ökonomen häufig ignoriert oder verdrängt, was wiederum eine Ökonomiedistanz innerhalb von Wohlfahrtsverbänden fördert. 25 Vgl. ausführlicher für den Krankenhausbereich: Wiemeyer, Krankenhausfinanzierung, 35 ff. (Anm. 12).
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3. Entscheidungsträger und Mitarbeiter in sozialen Bereichen zeichnen sich häufig durch eine wirtschaftsferne Sozialisation aus. Durch die in den vergangenen Jahrzehnten reichlich sprudelnde Kirchensteuer und den expansiven Sozialstaat kamen Probleme der Privatwirtschaft, wie ausländische Konkurrenz, Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen durch technischen Fortschritt, Betriebsschließungen durch Konkurse etc. nicht in das Blickfeld. Häufig waren Arbeitskräfte im sozialen Bereich gesucht und die Arbeitsplätze sicher. Auf Grund dieser Komponenten reagiert man auf privatwirtschaftliche Konkurrenz eher defensiv und mit Vorwürfen wie "Rosinenpickerei", statt sich umfassend dieser Herausforderungen anzunehmen und von ihnen zu lernen. Angesichts dieser in kirchlichen Wohlfahrtsverbänden vorherrschenden Wertvorstellungen liegt es nahe, einige grundsätzliche wirtschaftsethische Überlegungen anzustellen. Die gesellschaftliche Entscheidung für Märkte mit Privateigentum als dominierendem Steuerungsinstrument für die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen ist sozialethisch gerechtfertigt26, weil Märkte, unter der Voraussetzung, dass hinreichender Wettbewerb herrscht, zu einem effizienten Einsatz knapper gesellschaftlicher Produktionsfaktoren führen, die Güterproduktion auf die mit Kaufkraft ausgestatteten Konsumentenwünsche ausgerichtet wird, die Einkommen nach Marktleistungen verteilt werden, sich der Marktprozess flexibel an veränderte Marktdaten anpasst und permanent Neuerungen bei Produkten und Produktionsverfahren hervorgebracht werden. Es gibt kein alternatives, praktisch erprobtes gesellschaftliches Steuerungsverfahren, das vergleichbare Ergebnisse hervorgebracht hat. Die Beurteilung von Märkten von ihren Folgen her (gute Ergebnisse) und nicht von den Motiven der Marktteilnehmer (Eigeninteresse) ist der systematische Ansatzpunkt für eine wirtschaftsethische Bewertung.27 Dies bedeutet, etwa bei der Konkurrenz von privatwirtschaftliehen Anbietern mit kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, dass letzteren nicht per se ein Vorrang zukommt, weil sie im Gegensatz zu privaten Anbietern keine Gewinnerzielungsinteressen haben, sondern dass die wirtschaftsethische Legitimation kirchlicher Wohlfahrtsverbände in einer überlegenen Leistungserbringung gegenüber Marktanbietern liegen muss. Indem kirchliche Wohlfahrtsverbände seit Jahren nicht modernste Managementtechniken angewendet haben, liegt hier ein sozialethisch bedenkliVgl. Klug, 269 ff. (Anm. 6). Vgl. Wiemeyer, Ethische Aspekte wirtschaftlichen Handeins im Rahmen von gemeinnützigen Einrichtungen, in: Wilhelm Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. III, Gütersloh 199, 535-555, hier 542. 26
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ches Verhalten vor. Dies ist genauso zu sehen, als ob man in kirchlichen Krankenhäusern den Patienten moderne Operationsmethoden vorenthält, in kirchlichen Kindergärten überholte Erziehungsmethoden praktiziert, in Therapieeinrichtungen veraltete therapeutische Konzepte einsetzt usw. Den Preis mussten die Steuerzahler bzw. die Sozialversicherten, denen zu hohe Preise (Pflegesätze) in Rechnung gestellt wurden, die Mitarbeiter, die wegen Fehlmanagement unnötig beansprucht wurden oder die Armen (Bedürftigen) bezahlen, denen nicht so viel wie möglich geholfen wurde. "Eine unwirtschaftliche Ausnützung der beschränkten wirtschaftlichen Ressourcen, eine Verschleuderung wirtschaftlicher Mittel und Möglichkeiten verstößt gegen das Prinzip der mitmenschlichen Solidarität, verstößt - theologisch gesprochen- gegen das Gebot der Nächstenliebe." 28 Befürchtungen, das christliche Profil kirchlicher Wohlfahrtsverbände würde durch ein Mehr an ökonomischer Rationalität gefahrdet, sind verfehlt. Die "Kundenorientierung" im modernen Marketing oder moderne Konzepte der Personalführung entsprechen christlichen Wertvorstellungen und könnten eher zur Zielerreichung beitragen, z. B. in einer Abkehr von einer eher paternalistischen Betreuung von Klienten oder von zu hierarchischen Unternehmensstrukturen. Dies bedeutet natürlich nicht eine vollständige Angleichung kirchlicher Wohlfahrtsverbände an die Privatwirtschaft. Kirchliche Wohlfahrtsverbände haben sich vielmehr am Motto des Apostels Paulus zu orientieren: "Prüft alles, und das Gute behaltet" (2 Thess. 5,21), also betriebswirtschaftliche Methoden nicht a priori auszuschließen. Der ordnungsethische Ort kirchlicher Wohlfahrtsverbände liegt vor allem dort, wo verschiedene Formen des Marktversagens vorliegen, der Staat dieses auch nicht hinreichend kompensieren kann bzw. das institutionelle Arrangement der Wohlfahrtsverbände einen komparativen Vorteil gegenüber Markt- und Staatsangeboten aufweist. 29
28 Franz Josef Stegmann, Soziale Marktwirtschaft - Neoliberalismus - Christliche Gesellschaftslehre, Historische und grundsätzliche Anmerkungen zu einer aktuellen Problematik, in: Herbert Schambeck/Rudolf Weiler (Hrsg.), Der Mensch ist der Weg der Kirche, FS für Johannes Schasching, Berlin 1992, 241-266, hier 259 (im Original mit Hervorhebung). 29 Vgl. Goll, 46 ff. (Anm. 18) sowie M. Schaad, Non-Profit-Organisationen in der ökonomischen Theorie, Eine Analyse der Entwicklung und der Handlungsmotivation der Freien Wohlfahrtspflege, Wiesbaden 1995, 7-45.
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1. Vorteile von Wohlfahrtsverbänden gegenüber dem "Markt"
Hierbei bieten sich folgende potenzielle Ansatzpunkte:
a) Produktion öffentlicher Güter Indem kirchliche Wohlfahrtsverbände auf politische Entscheidungsprozesse einwirken, auf die öffentliche Meinung Einfluss nehmen, das gesellschaftliche Bewusstsein und Wertvorstellungen prägen, erbringen sie öffentliche Güter. Dies gilt für das Engagement für sozial schwächere Bevölkerungsgruppen im politischen Prozess. Ebenso gilt dies für den Abbau von Vorurteilen gegenüber Minderheiten (z. B. Ausländer, Aussiedler, psychisch Kranke).
b) Positive externe Effekte Zwar erbringen Einrichtungen von Wohlfahrtsverbänden üblicherweise Leistungen, die unmittelbar nur einer Person zurechenbar sind. Daher wäre es möglich, sie auch individuell abzurechnen. In der präventiven Arbeit werden aber auch Effekte erzielt, die über die direkt erfassten Personen hinausgehen und daher nicht zurechenbare, positive externe Effekte darstellen (z. B. Jugendbildung, Gesundheitsförderung).
c) Integrale religiöse Dimension Bei kirchlichen Wohlfahrtsangeboten tritt neben die konkrete Leistung (Pflege, Beratung etc.) noch ein Kuppelprodukt hinzu, das mit der spezifischen Wertorientierung der Einrichtung zu tun hat. Die Einrichtungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände werden von Menschen in existenziellen Problemsituationen (Sterben, Leid und Krankheit, Schwangerschaftskonflikte etc.) in Anspruch genommen, die mit Sinn- und Wertfragen zu tun haben und wo Antworten aus dem christlichen Glauben heraus erwartet werden. Andere Einrichtungen (z. B. Kindergärten) werden auch wegen der vorschulischen religiösen Erziehung nachgefragt.
d) Fehlende Kaufkraft An Märkten kann nur jemand teilhaben, der über hinreichende Kaufkraft verfügt. Soziale Einrichtungen bieten häufig Leistungen für Personen (z. B. Nichtsesshafte) an, denen Kaufkraft für die Inanspruchnahme der Leistung fehlt. Hier gibt es eine Umverteilungskomponente.
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e) Fehlende oder eingeschränkte Konsumentensouveränität
Funktionsfähige Märkte setzen voraus, das die Konsumenten kompetente Entscheider sind, die das Preis-/Leistungsverhältnis einschätzen und aus ihren Konsumentscheidungen lernen, indem sie bei Unzufriedenheit leicht den Anbieter wechseln können. Im sozialen Bereich hat man es aber häufig mit Personen zu tun, die noch nicht (Kinder), vorübergehend nicht (Kranke), nicht mehr (Pflegebedürftige) oder noch nie (Behinderte) beurteilungs- und entscheidungsfähig waren. Weiterhin sind die in den sozialen Einrichtungen bereitgestellten Güter wichtiger als viele Dinge des alltäglichen Einkaufs. Hingegen ist der Aufwand des Wechsels (Transaktionskosten) - z. B. von einem Altenheim in ein anderes - erheblich größer. Kirchliche Wohlfahrtsverbände können in ihren Einrichtungen hier Qualität auch dann garantieren, wenn die Konsumenten nicht entscheidungsfähig sind. Ihnen kann man Personen guten Gewissens anvertrauen, ohne dass für Angehörige sowie ehren- oder hauptamtliche Betreuer der Kontrollaufwand zu groß wird. Kirchliche Wohlfahrtsverbände können daher transaktionskostengünstige Arrangements sein30, indem sie eine glaubwürdige Selbstbindung darstellen. f) Vertrauensgüter31
Manche sozialen Dienstleistungen (z. B. Beratung, Therapie) zeichnen sich dadurch aus, dass hier die Interaktion zwischen dem Anbieter und Nachfrager selbst für den Leistungserfolg wesentlich ist. 32 Der Aufbau von Vertrauensbeziehungen ist hier höchst bedeutsam. Der Klient muss sich mit seinen persönlichen Problemen offenbaren, weil sonst die Leistung nicht erbracht werden kann. Aus solchen Prozessen können sich Abhängigkeiten und Ausbeutungsgefahren ergeben. Kirchliche Wohlfahrtsverbände stellen hier eine Garantie dafür dar, dass Vertrauen bewahrt und Abhängigkeiten nicht ausgenutzt werden. Dort, wo solche Vertrauensgüter privatwirtschaftlich angeboten werden, sollen staatliche Preisvorgaben (amtliche Gebührenordnung, z. B. für Ärzte), 30 Die Bedeutung dieser Dimension wird von Meyer, Neuordnung, 154 f. (Anm. 5) in seinem Plädoyer für Märkte im sozialen Bereich unterschätzt. Meyer übersieht z. B., dass das privatwirtschaftlich organisierte Gesundheitswesen der USA die weltweit absolut höchsten Gesundheitsausgaben Pro-Kopf der Bevölkerung und in Relation zum BSP verursacht, ohne dass dadurch z. B. die Lebenserwartung signifikant höher als in anderen Ländern wäre. 31 Vgl. Schaad, 45 f. (Anm. 27) und Meyer, Neuordnung, 33 ff. (Anm. 5). 32 Vgl. Christoph Badelt, Soziale Dienste und Wirtschaftlichkeit. Ansprüche und Widersprüche, in: Herbert Effinger/Detlef Luthe (Hrsg.), Sozialmärkte und Management, Bremen, 139-169, hier 144 und Meyer, Neuordnung, 28 (Anm. 5).
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strafrechtlich sanktionierte berufsspezifische Normen sowie berufsethische Normen von Kammern (einschließlich beruflicher Ehrengerichte) solchen Gefahren entgegenwirken. g) Kein Monopolmissbrauch
In dünn besiedelten Regionen, wo ein hinreichender Wettbewerb, z. B. bei Krankenhäusern, angesichts von Mindestbetriebsgrößen wegen der Entfernungen zwischen verschiedenen Standorten nicht gegeben ist, gibt es fast monopolartige Versorgungsstrukturen. In diesem Fall kann ein Missbrauch monopolistischer Marktmacht ebenfalls auf Grund einer glaubwürdigen Selbstbindung durch einen gemeinnützigen Anbieter vermieden werden. 2. Vorteile von Wohlfahrtsverbänden gegenüber dem "Staat"
Nun können aber nicht nur gemeinnützige Initiativen wie Wohlfahrtsverbände auf solche Marktmängel reagieren, sondern auch der Staat bzw. öffentliche Träger. Gegenüber dem Staat (Staatsversagen) 33 können die Wohlfahrtsverbände folgende mögliche Vorteile aufweisen: a) Wertkomponente
Der Staat ist zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, so dass die Wertkomponente in seine Einrichtungen nicht einfließen kann. Eine solche Wertkomponente wird aber bei sozialen Dienstleistungen häufig nachgefragt. b) Vertrauen
Da der Staat auch Repressionsinstanz (Strafverfolgung, Entzug des Sorgerechts für Kinder, Zwangseinweisung in geschlossene Einrichtungen) ist, ist es ihm nicht oder weniger gut als Wohlfahrtsverbänden möglich, z. B. bei Drogenabhängigen oder bei der Sozialpädagogischen Familienhilfe die Zielgruppen zu erreichen. c) Sozial Benachteiligte
Durch ihre Eigenmittel sind Wohlfahrtsverbände in der Lage, soziale Dienste anzubieten, die noch nicht oder überhaupt nicht politisch als förde33
Vgl. Schaad, 25 ff. (Anm. 27) und Goll, 46-53 (Anm. 18).
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rungswürdig angesehen werden. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände haben seit dem 19. Jh. bis heute auf verschiedene Weise eine Vorbild- und Vorreiterfunktion34 wahrgenommen. Sie haben schneller und effektiver geholfen als staatliche Einrichtungen, weil bürokratische und politische Entscheidungen sehr lange dauern. Dauerhaft können Wohlfahrtsverbände für Personengruppen eintreten, deren Anliegen nicht - oder in der von Wohlfahrtsverbänden vorgenommenen Form nicht - mehrheitsfähig sind (z. B. Anliegen von Ausländern). Die christliche Grundhaltung kann dabei die Sensibilität für neue Probleme erhöhen, ihre Identifizierung erleichtern und neue Hilfsmöglichkeiten fördern. Die häufig in ökumenischer Zusammenarbeit entstandenen HospizVereine35 mit ambulanten und stationären Angeboten sind ein jüngeres Beispiel für die Initialfunktion.
d) Politische Einflussnahme Als Bestandteil der Zivilgesellschaft können Wohlfahrtsverbände auf politische Entscheidungsprozesse einwirken. Durch ihre praktische Tätigkeit verfügen Wohlfahrtsverbände hier über hohe Sachkompetenz und gesellschaftliches Ansehen. Insofern kann die Qualität des gesellschaftlichen Systems gesteigert werden, wenn gesellschaftliche Fehlentwicklungen in die Öffentlichkeit getragen werden. Diese "Anwaltsfunktion" setzt voraus, dass Wohlfahrtsverbände sich einerseits nicht zu eng an den Staat anlehnen, andererseits aber nicht selbst voreilig für die betroffenen Menschen sprechen, sondern diesen selbst so weit wie möglich unmittelbar Gehör verschaffen. 36
e) Kostenvorteile Auf Grund ihrer Möglichkeiten, eigene Mittel aufzubringen und ehrenamtliches Engagement anzuregen, der größeren Nähe zu den Betroffenen37 , können die Leistungen kostengünstiger erbracht werden. Diese Vorteile durch ehrenamtliches Engagement und Spenden werden für alle Wohlfahrtsverbände zusammen auf ca. 15 Mrd. jährlich geschätzt. 38
34 3S 36
37
38
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Goll, 72 (Anm. 18). Herz und Mut und Tat und Leben, 45 (Anm. 2). Klug, 251 f. (Anm. 6). Goll, 62 f. (Anm. 1-8). Meyer, Neuordnung, 61 (Anm. 5).
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3. Fazit
Aus ökonomischer Sicht ist also festzuhalten, dass kirchliche Wohlfahrtsverbände ein sinnvolles institutionelles Arrangement darstellen, durch das die Erstellung bestimmter Leistungen besser erfolgen kann, als durch die alternativen Arrangements "Staat" und "Markt". Allerdings zeigen andere Beispiele (z. B. Rundfunk/Fernsehen, Telekommunikation, Post, leitungsgebundene Energiewirtschaft, Eisenbahnen etc.), dass eine einmal getroffene Zuordnung einer Leistung zu einem Steuerungsmechanismus nicht invariant ist, sondern sich z. B. auf Grund neuer technischer Möglichkeiten und politischer Entscheidungen ändern kann. Dies ist im Bereich sozialer Dienstleistungen vor allem bei der Pflege gegeben, bei der alle potenziellen Leistungsempfänger mit Kaufkraft ausgestattet werden, so dass ein Marktdefizit (fehlende Kaufkraft) wegfällt. Allerdings verbleibt im Pflegebereich das Problem der Konsumentensouveränität Eine Qualitätssicherung wäre hier durch einen Art "Sozial-TÜV"39, der Gütesiegel vergibt, denkbar. Da es in Zukunft immer weniger für kirchliche wie andere gemeinnützige Wohlfahrtsverbände abgeschottete Märkte geben wird, werden sie sich gegenüber anderen Anbietern nur dann behaupten können, wenn die im ersten Abschnitt genannten ökonomischen Defizite abgebaut werden, weil sie sonst ihre potenziellen Vorteile nicht voll ausspielen können.
IV. Ökonomische Perspektiven kirchlicher Wohlfahrtsverbände Die folgenden Überlegungen zur ökonomischen Perspektive kirchlicher Wohlfahrtsverbände zielen nicht auf eine Beschreibung möglicher Entwicklungen ab, die sich aus dem Status quo und grundlegenden gesellschaftlichen Trends ergibt. Sie ist vielmehr ein normatives Konzept, das aus der Sicht der Christlichen Sozialethik vor dem Hintergrund moderner ökonomischer Theorie notwendige und erwünschte Perspektiven formuliert. Diese Perspektiven werden in Thesen vorgelegt, die dann näher ausgeführt werden. Dabei wird zunächst generell der Markt für soziale Dienstleistungen analysiert, dann wird die spezifische Aufgabe der Verbände beschrieben, um abschließend die Unternehmensphilosophie der Einzeleinrichtungen zu behandeln. Die Grundsatzfrage für kirchliche Wohlfahrtsverbände liegt in der Festlegung ihrer Zukunftsaufgaben, ökonomisch gewendet: wo liegt ihr Markt, 39 Herbert Effinger, Soziale Dienste zwischen Gemeinschaft, Markt und Staat, in: ders./Detlef Luthe (Hrsg.), Sozialmärkte und Management, Bremen 1993, 13-39, hier 33.
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d. h. welche Produkte (soziale Dienstleistungen) wollen sie für welche Zielgruppe anbieten? 1. Zur Marktsituation kirchlicher Wohlfahrtsverbände
These 1: Die zentrale Aufgabe kirchlicher Wohlfahrtsverbände liegt in der breiten Grundversorgung der Angehörigen der eigenen Konfession mit sozialen Dienstleistungsangeboten (eigennützige konfessionelle Selbsthilfe) in den Bereichen Krankenversorgung, Altenpflege, Kinderbetreuung (kirchliche Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Sozialstationen, Kindergärten). Diese Aufgabe ergibt sich aus der kirchlichen Tradition, nämlich karitative Aktivitäten zunächst in den eigenen Gemeinden einzurichten, weil sich das Liebesgebot des Evangeliums zuerst und vor allem im eigenen Bereich zu bewähren hat (vgl. Apg 6,1-7). Sie ergibt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip, nach dem gesellschaftliche Gruppen, die zur Selbsthilfe fähig sind, diese Aufgaben darum auch selbst zu übernehmen haben. Insofern sind kirchliche Wohlfahrtsverbände zunächst Selbsthilfeorganisationen für die eigene Konfession, also eigennützige und nicht fremdnützige Organisationen. Sie ergibt sich aber auch aus der spezifischen Leistungsfähigkeit kirchlicher Angebote, die in Kindergärten, Altenheimen und Krankenhäusern ihre religiösen Vorstellungen einbringen und natürlich deshalb zuerst von Angehörigen der eigenen Konfession nachgefragt werden. Sie entspricht den Erwartungen der Kirchensteuerzahler, die einen Teil dieser Aktivitäten mitfinanzieren. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht liegt in diesem Bereich ein Kundenstamm vor, der auf Grund seiner religiösen Präferenzen eine hohe Affinität und damit auch Kundentreue gegenüber kirchlichen Wohlfahrtsverbänden aufweisen wird. Die Pflege solcher ,,Stammkundschaft" ist ein wichtiges Gebot ökonomischer Vernunft. Da die Zahl der Kirchenmitglieder ebenso wie die der aktiv am Gemeindeleben teilnehmenden Personen zurückgeht, kann es sinnvoll sein, dass kirchliche Wohlfahrtsverbände etwa in Regionen, in denen sie fast monopolartige Bedeutung haben, ihr Angebot nicht weiter ausbauen oder es reduzieren, damit Personengruppen anderer Konfession, Religionsgemeinschaft oder Weltanschauung eigene Einrichtungen errichten können. Soweit kirchliche Einrichtungen zu sinnvollen Betriebsgrößen kommen, wird man diese Einrichtungen auch für andere Personengruppen öffnen müssen. In den Angeboten der Grundversorgung40, bei denen etwa im Krankenhaushereich eine Vollfinanzierung aus Sozialversicherungen und staatlichen 40 Die Kritik von Norbert Schmeiser, Die Option für die Armen als Option der Caritas. Eine sozialethische Reflexion, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissen-
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Haushalten möglich ist und bei denen eine (partielle) Gewinnerzielungsmöglichkeit (z. B. Privatpatienten/Selbstzahler) besteht, können Überschüsse erwirtschaftet werden, die gezielt für Qualitätsverbesserungen verwendet bzw. im Sinne einer Quer-Subventionierung für Arbeitsbereiche eingesetzt werden können, in denen keine Kostenahdeckung gegeben ist (besonders Bedürftige). These 2: In wichtigen Arbeitsfeldern kirchlicher Wohlfahrtsverbände, auf denen auch private Anbieter tätig sind, muss mit verschärftem Wettbewerb gerechnet werden, indem der staatliche Wettbewerbsschutz von gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden abgebaut wird. Aus der Sicht privater Wettbewerber haben Wohlfahrtsverbände den ungerechtfertigten Vorteil, dass der Staat diese durch verschiedene Regelungen begünstigt, etwa der gesetzlichen Einbeziehung in kommunale Gremien (Jugendhilfeausschuss), Steuervorteile41 , Einsatzmöglichkeiten von günstigem Personal (Zivildienstleistende, Absolventen des freiwilligen sozialen Jahres (FSJ), ABM-Kräfte, BSHG-Kräfte). Private Wettbewerber werden hier zu Recht darauf drängen, dass sie gleiche Wettbewerbschancen wie kirchli~ ehe Wohlfahrtsverbände erhalten. Die institutionelle Gestaltung der Pflegeversicherung ist ein Beispiel dafür, wie sich schnell im sozialen Bereich ein Markt für private Angebote etablieren kann. Die hohen Marktanteilsverluste der Wohlfahrtsverbände nach Einführung der Pflegeversicherung sind auch ein Indiz für die vorhandene Ineffizienz und Leistungsschwäche. Kirchliche Wohlfahrtsverbände dürfen ihr Überleben nicht dem staatlichen Schutz vor privatem Wettbewerb, sondern nur einer gegenüber privaten Anbietern überlegenen Marktleistung verdanken. In weiteren Feldern sozialer Dienstleistungen ist mit ähnlichen Entwicklungen zu rechnen. Ebenso ist auf Grund EU-rechtlicher Bestimmungen denkbar, dass auch Anbieter aus anderen EU-Ländern bestimmte Aufgabenfelder übernehmen. So haben etwa niederländische Anbieter ihr Know-how in der Vermittlung von arbeitslosen Sozialhilfeempfängern auch im Auftrag deutscher Kommunen eingebracht. Die Beobachtung ausländischer wie privater Konkurrenz sowie die zunehmende Konkurrenz der Wohlfahrtsverbände untereinander ist eine wichtige Aufgabe für die Verbände (Marktforschung).
schaften 38 ( 1997) 43-63, an der Betonung der Grundversorgung im Gegensatz zur "Option für die Armen" ist verfehlt, weil er weder die empirischen Gegebenheiten heutiger Aktivitäten der Caritas noch die konkreten empirischen Konsequenzen seiner nur normativ vorgetragen Forderung im Blick hat. 41 Vgl. Meyer, Neuordnung, 117 ff. (Anm. 5).
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These 3: Das Arbeitsmarktproblem kann nur bewältigt werden, wenn ein breiter Dienstleistungssektor gerade auch in Privathaushalten etabliert wird. Kirchliche Wohlfahrtsverbände könnten einen Beitrag leisten, den erforderlichen Durchbruch herbeizuführen. Wenig qualifizierte Arbeitslose sowie Jugendliche ohne qualifizierten Schulabschluss können Beschäftigungsmöglichkeiten nur in einem binnenmarktbezogenen Dienstleistungsbereich erhalten. Zu solchen Dienstleistungen müssten auch haushaltsbezogene Leistungen in den Bereichen Einkaufshilfen, Hausarbeit, Ernährung (Kochen), Gartenarbeit etc. gehören. Interesse dafür dürfte bei älteren und kranken Personen, beruflich stark engagierten Ein-Personen-Haushalten, erwerbstätigen Eheleuten mit Kindern usw. bestehen. Eine kirchliche Organisation, die über die Kirchengemeinden flächendeckend vertreten ist, könnte hier den notwendigen quantitativen Durchbruch leisten, der erforderlich ist, damit dieser Weg zu einer signifikanten Verminderung der Arbeitslosigkeit beschritten wird. Im Rahmen von Beschäftigungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose42 bzw. Maßnahmen der erstmaligen beruflichen Integration benachteiligter Jugendlicher verfügen kirchliche Einrichtungen bereits über Erfahrungen mit solchen Projekten. Sie wären in der Lage, hinreichend qualifizierte Mitarbeiter heranzubilden, die die notwendige Zuverlässigkeit aufweisen. Auf der anderen Seite könnte eine kirchliche Organisation aber auch helfen, Barrieren abzubauen, die der Inanspruchnahme solcher Hilfsdienste in privaten Haushalten noch entgegenstehen. Solche Barrieren bestehen nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern in Deutschland auch mentalitätsmäßig gegenüber personenbezogenen Dienstleistungen. Ökonomische Zugangsbarrieren können abgebaut werden, wenn solche personenbezogenen Dienstleistungen zu wettbewerbsfahigen Preisen angeboten werden, d. h. obwohl es sich um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handelt, sollten die Kosten nicht höher als in der Schattenwirtschaft sein. Der Staat müsste etwa im Rahmen von KombiLohnmodellen oder der Subventionierung der Sozialversicherungsbeiträge solche Beschäftigungsverhältnisse ökonomisch tragbar machen, indem die Beschäftigten weder unangemessen niedrige Löhne erhalten noch die Nutzer ökonomisch nicht tragbare Preise bezahlen müssen. Wenn man alternativ die dauerhafte Zahlung von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe bedenkt, könnten solchen Maßnahmen kostengünstiger für die Sozialhaushalte sein.
42 Vgl. zur Langzeitarbeitslosigkeit: Zentralkomitee Deutscher Katholiken, Beschäftigung schaffen ist sozial. Neue Beschäftigungsinitiativen für Langzeitarbeitslose, Berichte und Dokumente 109 (Bonn 1999), 16 ff.
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These 4: Kirchliche Wohlfahrtsverbände müssen ihre Marktfähigkeit durch
mehr Innovation und Flexibilität stärken und ihre Strukturen entsprechend gestalten.
Im 19. Jh. gab es ein großes Innovationspotenzial kirchlicher Sozialeinrichtungen, die damals noch nicht in zentralistische Verbände eingebunden waren. Im Gefolge des Nationalsozialismus kam es zu einer Zentralisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung43, was eine gewisse Innovationsschwäche bedingt. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass von "unten" ausgehende Initiativen eine Gefährdung kirchlicher Wertvorstellungen erwarten ließen. Die Innovationsschwäche kirchlicher Wohlfahrtsverbände lässt sich an der aufkommenden privaten Konkurrenz (Ökonomische Defizite), aber auch an Selbsthilfeinitiativen, die sich vor allem im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband organisiert haben, der in den letzten beiden Jahrzehnten stärker als die kirchlichen Wohlfahrtsverbände expandiert hat, ablesen. Innerhalb des kirchlichen und kirchennahen Bereichs wurden Selbsthilfeinitiativen und neue Formen sozialer Arbeit nicht hinreichend gefördert bzw. der dazu notwendige Freiraum nicht eingeräumt und eigene Einrichtungen nicht rechtzeitig an gewandelte Bedürfnisse der Nachfrager angepasst. So gehen kirchliche Kinderbetreuungseinrichtungen etwa vom Leitbild der nichterwerbstätigen Ehefrau aus, so dass das Betreuungsalter und die Öffnungszeiten nicht an das geänderte Erwerbsverhalten angepasst wurden. Das eigentliche Unternehmerische liegt aber in der Innovationsbereitschaft und der tatsächlichen Durchsetzung von Innovationen. Dieser Aspekt ist bei kirchlichen Wohlfahrtsverbänden wenig entwickelt. These 5: Christliche Wohlfahrtsverbände haben für soziale Randgruppen
und besondere soziale Notlagen Hilfsangebote bereitzustellen.
In der Zuwendung zu besonders hilfsbedürftigen Personen ohne Ansehen ihrer religiösen oder nationalen Herkunft, unabhängig von persönlicher Schuld für ihre Situation etc. liegt ein zentraler Ansatzpunkt des christlichen Auftrages zur Weltgestaltung. Daher hat sich christliche Diakonie Armen, Not Leidenden, Benachteiligten oder sonst wie Hilfsbedürftigen zuzuwenden. Mit dieser Tätigkeit sind kirchliche Wohlfahrtsverbände ein wirksames Zeichen der Nachfolge Christi, der gekommen ist, "den Armen eine gute Nachricht" (Lk, 4, 18) zu bringen. Diese "Option für die Armen" hat sich daran festzumachen, dass kirchliche Wohlfahrtsverbände Spenden, ggf. Überschüsse und Kirchensteuermittel für besonders Benachteiligte ver43 Vgl. Ewald Frie, Zwischen Katholizismus und Wohlfahrtsstaat. Skizze einer Verbandsgeschichte der Deutschen Caritas, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 37 (1997) 21-42, hier 35. 10 Gabriel (Hrsg.)
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wenden. Die "Option für die Armen" schlägt sich auch in der politischen Einflussnahme nieder, die häufig Aufgabe der Verbände ist. Aus gesellschaftlicher Sicht sind diese Aktivitäten zu begrüßen, weil hier häufig mit hohem Engagement und der Mobilisierung von Ressourcen (ehrenamtlichem Engagement, Eigenbeiträgen und Spenden) wichtige gesellschaftliche Problembereiche angegangen werden. Hier wird ein wichtiger Beitrag für die gesamtgesellschaftliche soziale Gerechtigkeit und damit für die Stabilität und den Zusammenhalt der Gesellschaft erbracht. In diesen Aktivitäten liegt auch eine wichtige Außenwirksamkeit der Kirchen und ihrer gesellschaftlichen Legitimation, auf die sie nicht verzichten sollten. 2. Aufgaben der Verbände
These 6: Als mit weitem Abstand dominierende Marktführer im Bereich sozialer Dienstleistungen haben sich die Verbände, vor allem die Spitzenverbände der kirchlichen Wohlfahrtspflege, mit gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Fragen des Sozialstaates und sozialer Dienstleistungen auseinander zu setzen und konsistente Konzeptionen zu entwickeln. Aus kirchlichen Wohlfahrtsverbänden werden häufig Forderungen aus der Sicht der Einzelbereiche der sozialen Aktivitäten für gesetzliche Leistungsverbesserungen zu Gunsten einzelner Personengruppen und zur Verbesserung sozialer Einrichtungen erhoben. Diese Forderungen, die häufig aus der "Option für die Armen" motiviert sind, sind teilweise nicht untereinander abgestimmt, so dass sie sich widersprechen oder jedes Sozialbudget sprengen müssten. Diese fehlende Gemeinwohlorientierung wird beim Thema "Armut" und "Zuwanderung" deutlich. Ein Land, welches intern die "Option für die Armen" vorbildlich realisiert, muss zwangsläufig extern die meisten Armen als Migranten anziehen, so dass eine strikte Begrenzung der Zuwanderung zur Armutsbekämpfung (Senkung der Sozialhilfezahlen) notwendig ist. 44 Hier liegt ein Grundwiderspruch, der von kirchlichen Wohlfahrtsverbänden nicht thematisiert, sondern bewusst verdrängt wird, wenn etwa in kirchlichen Armutsstudien der hohe Ausländer- und Zuwandereranteil (Aussiedler) unter den Sozialhilfeempfangern nicht eigens detailliert ausgewiesen und problematisiert wird. Als Großorganisation mit Umsätzen im mehrsteiligen Milliardenbereich haben aber kirchliche Wohlfahrtsverbände prinzipiell die ökonomischen und personellen Kapazitäten, sich mit den komplexen gesellschaftlichen Fragen der Fortentwicklung des Sozialstaates auseinander zu setzen. Aus der Sicht 44 Vgl. Wiemeyer, Spaltung der Gesellschaft? Strukturprobleme im Sozialhilfebereich, in: Anton Rauscher (Hrsg.) Grundlagen des Sozialstaats, Köln 1998, 65-100.
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der Christlichen Sozialethik unterliegen kirchliche Wohlfahrtsverbände daher auch einer Gemeinwohlverpflichtung in der Hinsicht, dass sie in gesamtwirtschaftlicher Verantwortung konsistente Konzepte für die Finanzierung sozialer Dienstleistungen vorzulegen haben, die nicht zu neuen sozialen Problemen führen, etwa zu steigender Arbeitslosigkeit wegen der verstärkten Verlagerung von Unternehmen ins Ausland auf Grund einer durch einen aufwändigen Sozialstaat bedingten überhöhten Steuer- und Abgabenbelastung. Die Forderungen aus kirchlichen Wohlfahrtsverbänden müssen untereinander abgestimmt sein und dürfen weder auf Bundes-, Landes- noch kommunaler Ebene die jeweiligen Sozialbudgets sprengen. These 7: Innerhalb kirchlicher Wohlfahrtsverbände sollte es eine klare Aufgabenabgrenzung zwischen verbandliehen Aufgaben und TätigkeitsfeZdem der unmittelbaren Leistungserstellung geben. In der Gegenwart gibt es zwischen dem Angebot sozialer Dienstleistungen durch konkrete Einrichtungen und ihrer verbandliehen Vertretung durch Diözesan-Caritas-Verbände keine klare Abgrenzung, weil Caritas-Verbände nicht nur legitimen Verbandsaufgaben nachgehen, sondern auch unmittelbarer Träger von Einrichtungen sind. Häufig gibt es konfuse Zuständigkeitsstrukturen, wenn Kreisgeschäftsführer der Caritas Angestellte des DiözesanCaritas-Verbandes sind, also der ehrenamtliche Vorstand des Kreiscaritasverbandes seiner Kernkompetenz entmündigt ist, nämlich den Geschäftsführer in eigener Verantwortung anzustellen und zu entlassen. 45 Es ist verfehlt, wenn gleichartige Einrichtungen einerseits vom Caritasverband selbst getragen werden, andererseits dem Verband nur angeschlossen sind und sich in der Trägerschaft von Pfarrgemeinden, Kreiscaritasverbänden, Orden und kirchlichen Stiftungen befinden, weil dann Konflikte auftreten können, z. B. bei Schließungen von Einrichtungen oder der Prioritätensetzung bei der Gewährung von staatlichen oder kirchlichen Zuschüssen. Dieser Machtzuwachs der Verbände und die zentralistische Struktur hat sich vielfach dadurch ergeben, dass aus Diözesanhaushalten der CaritasVerband Mittel für eigene Projekte erhalten hat und diese nicht an dezentrale Strukturen weitergegeben wurden. Verbände sollten entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip die Trägerschaft dezentralen kirchlichen Einrichtungen überlassen. Bei allen Einrichtungen, bei denen dies möglich und sinnvoll ist, ist die Trägerschaft von Pfarrgemeinden anzustreben. Wo es sich um überpfarrliche Einrichtungen (z. B. Krankenhaus) handelt, ist eine Trägerschaft von Dekanaten bzw. Kreisoder Stadt-Caritasverhänden anzustreben. Wo die lokale Kirche sehr 4S 10•
Vgl. Klug, 101 ff. (Anm. 6).
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schwach ist, aber z. B. bei Kureinrichtungen größere Einrichtungen mit überregionalem Bezug bewusst an einem bestimmten Ort für einen überregionalen Bedarf angesiedelt werden, ist z. B. die Trägerschaft von Orden oder eigener, vom Caritasverband rechtlich abgetrennter Betreibergesellschaften in der Trägerschaft mehrerer Stadt- bzw. Kreis-Caritasverbände sinnvoll. Die Aufgaben der Verbände sollten liegen in der: (1) Formulierung der Konzeption der Gesamtorganisation vor dem Hinter-
grund gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer, rechtlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen;
(2) Einflussnahme auf die öffentliche Meinung und das gesellschaftliche Bewusstsein (z. B. Abbau von Vorurteilen gegenüber Problemgruppen); (3) Formulierung gemeinsamer Qualitätsstandards, die alle angeschlossenen Einrichtungen einhalten müssten, so dass das Caritas- oder das Diakonie-Zeichen, die an jeder angeschlossenen Einrichtung prangen, tatsächlich ein Gütesiegel darstellen46 ; (4) Interessensvertretung der angeschlossenen Einrichtungen gegenüber Politik und Kostenträger einschl. Pflegesatzverhandlungen; (5) Regelung der arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen der Mitarbeiter; (6) Organisation des innerverbandliehen Erfahrungsaustausches, Initiierung und Begleitung von Modellversuchen sowie Transfer neuen Wissens; (7) Organisation der Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitern; (8) Beratung der angeschlossenen Einrichtungen in fachlicher, rechtlicher und ökonomischer Hinsicht; (9) externe Prüfung und Entwicklung einheitlicher Controllingverfahren. These 8: Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände sollten gegenüber staatlicher Bevormundung (bürokratischer Kontrolle), rechtlicher Reglementierung und Finanzierungsverfahren des "goldenen Zügels" mehr Eigenständigkeif durchsetzen. Kirchliche Wohlfahrtsverbände haben sich sehr eng an den staatlichen Bereich angelehnt, der sie lange Jahre durch Schutz vor privaten Anbietern privilegierte und mit der finanziellen Zuwendung winkte. Neue Finanzierungsverfahren {,.neue Steuerungsmodelle") im öffentlichen Bereich, indem in einer Budgetierung Leistungsvereinbarungen abgeschlossen werden, können als Anlass dienen, gegenüber der öffentlichen Hand ein bestimmtes 46 Hier liegen gewissen Analogien zu Franchise-Konzepten vor, vgl. Meyer, Neuordnung, 36 f. (Anm. 5).
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Leistungsvolumen zu bestimmten Qualitätsstandards zu garantieren47 und im Gegenzug ein längerfristig garantiertes Entgelt zu erhalten, ansonsten aber eigenständiger disponieren zu können. 48 These 9: Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände sollten von ihrem an den Bundesangestelltentarif angelehnten vor allem an Dienstalter und Familienstand anknüpfenden Entgeltsystem ab- und zu einem leistungsorientierten System übergehen. Sozialversicherungen wie die öffentliche Hand gehen bei den Finanzierungsverfahren zunehmend so vor, dass nicht mehr die nachgewiesenen und anerkannten Kosten erstattet werden, sondern es wird für bestimmte Leistungen ein Entgelt - etwa ein fester Geldbetrag für einen Komplex medizinischer Leistungen oder zu Beginn eines Jahres ein (prospektiver) Pflegesatz - vereinbart. Ob bei diesen Entgelten Einrichtungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände Gewinne oder Verluste machen, hängt dann maßgeblich davon ab, ob ihr Personal vorwiegend aus jüngeren ledigen Kräften oder aus älteren verheirateten Kräften mit Kindem besteht. Es können ökonomische Zwänge auftreten, sich von älteren Mitarbeitern sowie von Mitarbeitern mit Kindem zu trennen bzw. solche nicht einzustellen, um nicht in die Verlustzone zu geraten. Ein ökonomischer Druck in diese Richtung ist familienpolitisch nicht erwünscht. Eine ebenso unbefriedigende Alternative besteht darin, die Anzahl von 630 DM-Jobs zu erhöhen. Kirchliche Wohlfahrtsverbände müssen daher ein Entgeltsystem entwickeln, bei dem den Mitarbeitern bei identischen Leistungen ein identisches Gehalt gezahlt wird. Bei diesem Entgeltsystem ist von den Knappheilen auf dem Arbeitsmarkt auszugehen. D. h., dass es etwa bei dem großen Überhang an Ärzten auf dem Arbeitsmarkt zu einer Gehaltsahsenkung kommen sollte. Ebenso wird es bei wenig qualifizierten (Hilfs-)Kräften zu Gehaltseinbußen kommen. Dass das Gehaltsniveau (einschl. der betrieblichen Sozialleistungen) in vielen Bereichen überhöht ist, kann man an den Lohnkosteneinsparungen bei Outsourcing ablesen. Wenn ein kirchliches Krankenhaus etwa die Reinigung oder die Krankenhausküche an eine Fremdfirma übergibt und statt AVR die Tarife der Gewerkschaft NGG (Nahrung, Genuss, Gaststätten) zahlt, ergeben sich häufig Einsparungen in Höhe von 25% und mehr ohne Produktivitätseinbußen bei den Mitarbeitem.49 Der Zwang zu einer Anpassung in ihrem Entgeltsystem ergibt sich für kirchVgl. Klug, 293 f. (Anm.6). Vgl. Meyer, Neuordnung, 136 f. (Anm. 5). 49 Vgl. zum Lohnniveau in der Freien Wohlfahrtspflege: Meyer, Neuordnung, 61, der ausführt, dass die durchschnittlichen Bruttostundenlöhne beim Deutschen Caritasverbandes vor der Diakonie liegen und sehr deutlich vor Einrichtungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. 47
48
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liehe Wohlfahrtsverbände in Teilbereichen dadurch, dass die öffentliche Hand bzw. Sozialversicherungen in Zukunft Leistungen ausschreiben werden, so dass bei vergleichbarem Leistungsniveau der kostengünstigere Anbieter den Zuschlag erhält. Aus diesem Grund haben bereits verschiedene Träger aus dem Bereich der Diakonie einen eigenen Arbeitgeberverband gegründet. 50 Weiterhin ist ein solches marktnäheres Besoldungssystem aber auch aus sozialethischen Gründen gefordert, da bei überhöhtem Lohnniveau den Steuerzahlern und Versicherten der Sozialversicherung überhöhte Kosten in Rechnung gestellt werden. Solche bei überzogenem Lohnniveau bestehende "Renten" für einzelne Beschäftigungsgruppen sind eine wesentliche Ursache von Arbeitslosigkeit, weil eine volkswirtschaftliche Lohnsumme auf zu wenig Köpfe verteilt wird und im sozialen Bereich zu wenig Leistungen für zu viel Geld erbracht werden. 3. Zur Unternehmensphilosophie von sozialen Einrichtungen
These 10: Für die einzelnen Einrichtungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände müssen operationale und überprüfbare Ziele erarbeitet werden. Jede einzelne Wohlfahrtseinrichtung bedarf operationaler Ziele, die für die Leitung und die Mitarbeiter der Einrichtung hinreichend konkret sind, so dass sie auch überprüft werden können. Ein Kuratorium eines Altenheims darf sich nicht darauf beschränken, etwa Ziele vorzugeben, den "alten Menschen einen würdigen Lebensabend" zu sichern. Vielmehr hat das Entscheidungsgremium im Dialog mit den Heimbewohnern, ihren Angehörigen, den Mitarbeitern und den Leitern der Einrichtung Operationale Ziele zu definieren, die Überwachung der Ziele vorzunehmen und in einem gewissen Turnus die Ziele fortzuschreiben. Dabei sind so viel wie möglich die Auffassungen der Nutzer sozialer Einrichtungen zu erfassen, da kirchliche Wohlfahrtsverbände diese häufig eher "paternalistisch" statt als "König Kunde" betrachten. Bei der Entwicklung der Unternehmensphilosophie ist eine Beteiligung der Mitarbeiter unverzichtbar, weil die Mitarbeiter im Alltag diese umsetzen müssen. 5 1 Ein solcher Zielkatalog kann sich z. B. auf wirtschaftliche Ziele (Umsatz, Gewinn) beziehen, Ziele für die Mitarbeiter (Anteil Qualifizierter am Personal, Senkung überhöhter Fluktuationsraten, Senkung des Krankenstandes etc.). Weiterhin sind einrichtungsspezifische Verbesserungen bestimmter Merkmale der Leistungsqualität (z. B. Senkung der Todes50 51
Vgl. Meyer, Neuordnung, 76 (FN 171) (Anm. 5). Vgl. Jäger, 51 (Anm. 17).
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rate bei bestimmten Operationen) festzulegen. Die Definition und Überprüfung solcher konkreten Vorgaben sind bei gemeinnützigen Einrichtungen deshalb besonders wichtig, weil dort ja als zentraler Erfolgsindikator - im Gegensatz zur Privatwirtschaft - nicht die Gewinnhöhe, die Kapital- oder Umsatzrendite gelten kann. Die Kontrolle der Zielerreichung über solche Verfahren ist deshalb wichtig, weil ja hier die Finanzmärkte (Börse) als Kontrollinstrument entfallen. These 11: In jeder sozialen Einrichtung ist ein kompetent zusammengesetztes Gremium zu schaffen, das die Verantwortung und Letztentscheidungskompetenz wahrnimmt. In vielen Einrichtungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände gibt es keine klare Trennung zwischen der hauptamtlichen Leitungsperson einer Einrichtung und einem Aufsichts- oder Kontrollorgan. 52 Es besteht die verfehlte Auffassung, dass die gemeinsamen Wertvorstellungen von Aufsichtsgremien und Leitung eine solche Trennung nicht notwendig machen. Dabei wird aber übersehen, dass die institutionell verankerte Trennung von Leitung und Kontrolle sowie eine externe Prüfung mit dem Bericht an das Kontrollorgan auch für die Leitungspersonen eine Entlastung darstellen kann. Es ist für das Aufsichtsgremium (Aufsichtsrat, Kuratorium) erforderlich, dass für solche Aufgaben hinreichend kompetente Personen gewonnen werden. Die Gewinnung entsprechender Personen müsste aus dem Kreis der Gläubigen im jeweiligen Einzugsbereich einer kirchlichen Einrichtung möglich sein, indem sich ein sich ergänzendes Gremium zusammenfindet (z. B. theologische, juristische, ökonomische, fachliche Kompetenz auf dem Gebiet der Einrichtung). Auch die hauptamtlichen Leitungspersonen müssten an solchen kompetenten Personen in Aufsichtsgremien interessiert sein, da sie von diesen fachkundigen Rat erhalten können. Durch Altersgrenzen und Rotationsverfahren (Begrenzung der Wiederwahl) ist einer Überalterung und Inflexibilität der Aufsichtsorgane entgegenzuwirken. These 12: In den Einrichtungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände ist immer in der Leitung eine ökonomische Managementkompetenz zu verankern. Ein Wettbewerbsvorteil privater Anbieter gegenüber Einrichtungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände lag bisher darin, dass diese privatwirtschaftliehen Anbieter in Leitungspositionen qualifizierte Manager einsetzen und sich des gesamten Spektrums moderner Managementmethoden bedienen, so weit sie für soziale Dienstleistungsunternehmen relevant sind. Dies fangt bei der Außendarstellung (Marketing/Öffentlichkeitsarbeit) an, geht über professio52
Vgl. Jäger, 231 (Anm. 17) und Goll, 99 ff. (Anm. 18).
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nelle Kostenrechnungssysteme, effiziente Controllingverfahren, permanente Rationalisierungsanstrengungen, hin zu professioneller Personalrekrutierung, Personalführung und Personalentwicklung. Kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen müssen sich solcher Verfahren bedienen, die zunächst einmal unternehmenstypunspezifische Instrumente effizienten Wirtschaftens sind. Sie können nicht mit dem Argument der Herkunft aus der am Gewinn orientierten Privatwirtschaft zurückgewiesen werden. Der Unterschied zur Privatwirtschaft besteht vielmehr darin, dass sie nicht in allen Fällen aus den gewonnenen Erkenntnissen zu identischen Entscheidungen kommen werden. So kann man z. B. in kirchlichen Einrichtungen auch bestimmte Personen versorgen, wenn diese keinen positiven Kostendeckungsbeitrag erbringen, während private Anbieter sich bemühen könnten, solche Fälle von ihrer Einrichtung fern zu halten bzw. diese auf andere Einrichtungen abzuschieben. These 13: Kirchliche Einrichtungen müssen die Vorteile dezentraler Strukturen mit der Anhindung an die lokale Gemeinde oder lokale Kirche bewahren, zugleich aber die ökonomischen Vorteile von Kooperationen und Kettenbildung nutzen. Mit ihrer häufig dezentralen Struktur ist die Anhindung kirchlicher Einrichtungen (z. B. Altenheime, Kindergärten) an die Kirchengemeinden gegeben. Hier liegt ein entscheidender Vorteil, weil bei einer hinreichenden Identifikation mit ihrer Einrichtung Gemeindemitglieder finanzielle Mittel aufbringen, sich ehrenamtlich engagieren etc. Auf der anderen Seite ergeben sich neue Notwendigkeiten der Kooperation. Es ist bei Verbünden kirchlicher Einrichtungen eher an Modelle der Kooperation als an zentralistisch geführte Konzerne zu denken. Hier könnten z. B. Zentralgenossenschaften, die im Eigentum und Trägerschaft der Einzelgenossenschaften stehen, und bei denen die Einzelgenossenschaften die Geschäftspolitik bestimmen, ein Vorbild sein. Die moderne Institutionenökonomik diskutiert detailliert solche Kooperationsmodelle mit optimalen Zentralisierungs- und Dezentralisierungsgraden, etwa im Vergleich zu Genossenschafts- und FranchiseModellen unter dem Stichwort "Hybride Unternehmensorganisationen". These 14: Die christliche Wertorientierung zeigt sich bei Einrichtungen, bei denen es auf Grund der Zahlung der Sozialversicherung oder der öffentlichen Hand bzw. einer hinreichenden Leistungsfähigkeit der Nutzer keine ökonomischen Zugangsbarrieren gibt, nicht im Gewinnverzicht, sondern in der Gewinnverwendung. 53 Ge53 Vgl. Heinz Dieter Horch, Selbstzerstörungsprozesse freiwilliger Vereinigungen: Ambivalenzen von Wachstum, Professionalisierung und Bürokratisierung, in: Rau-
Ökonomische Herausforderungen für kirchliche Wohlfahrtsverbände
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winne sollten für Investitionen zur Qualitätsverbesserung und zur Unterstützung von Personen ohne hinreichende Kaufkraft verwandt werden. Ökonomisch gesehen ist Gewinn eine Restgröße, die sich nach Abzug aller Kosten vom Umsatz ergibt. Eine solche Gewinnerzielung bei kirchlichen Einrichtungen ist dann legitim, wenn die Einrichtung die vertraglich gegenüber Nutzern und Kostenträger vereinbarten Qualitätsstandards tatsächlich einhält und nicht versucht, Gewinne durch verdeckte Qualitätsverschlechterungen zu erzielen. Weiterhin ist nicht zulässig, Gewinne zu Lasten der Mitarbeiter (z. B. unbezahlte Überstunden) zu erwirtschaften. Vielmehr sind optimale Betriebsabläufe, sparsame Wirtschaftsführung, kostengünstiger Einkauf, Zinsersparnisse etc. legitime Gewinnquellen. These 15: Kirchliche Einrichtungen müssen sich moderner Methoden der Personalführung und Personalentwicklung bedienen. Zu den kirchlichen Wertvorstellungen gehört die Achtung der Personenwürde der arbeitenden Menschen im Wirtschaftsleben. Gegenüber der Privatwirtschaft sind entsprechende Forderungen (z. B. nach Mitbestimmung) von der Katholischen Soziallehre und der Evangelischen Sozialethik erhoben worden. Entsprechend sind auch die Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen kirchlicher Einrichtungen umfassend zu informieren - auch über die wirtschaftliche Situation ihrer Einrichtung54 - und vorab an allen wesentlichen Entscheidungen zu beteiligen. Kommunikative und partizipative Organisationsstrukturen - ohne Aufgabe klarer Verantwortlichkeilen - sind für die Motivation der Mitarbeiter wichtig. Was der christliche Glaube hier und jetzt konkret fordert, muss gerade in einer dynamisch sich ändernden Gesellschaft immer wieder neu bedacht werden. Hinzu kommt noch, dass kirchliche Einrichtungen zunehmend Mitarbeiter haben, die eher "randständige" Christen sind, anderen Religionsgemeinschaften oder keiner Konfession angehören, so dass verstärkt eine regelmäßige Kommunikation über die Wertgrundlagen der eigenen Arbeit innerhalb der Einrichtungen notwendig wird. Auch das Leitbild der eigenen Einrichtungen muss von den Mitarbeitern getragen sein, was deren effektive Einbeziehung in die Erarbeitung voraussetzt. Nur mit einer qualifizierten, motivierten Mitarbeiterschaft werden kirchliche Einrichtungen den Wettbewerb zwischen Wohlfahrtsverbänden und mit privaten Anbietern bestehen. Nur wenn ein gutes "Betriebsklima" herrscht, wird die Fluktuation55 gering sein, was zu den Qualitätsmerkmalen einer sozialen Einrichtung gehört. schenbach u. a. (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen, Frankfurt/M. 1995, 280-296, hier 285. S4 Vgl. Jäger, 178 (Anm. 17).
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These 16: Kirchliche Wohlfahrtsverbände sollten sich auch in Zukunft überwiegend aus Leistungen der Sozialversicherung, staatlichen Zuschüssen und Nutzerentgelten finanzieren. In einem Sozialstaat haben die Bürger - so weit sie nicht unmittelbar zahlungsfahig sind und Nutzerentgelte errichten können - einen Anspruch auf soziale Dienstleistungen, so dass die Finanzierung dieser Angebote Aufgabe der Sozialversicherung sowie verschiedener staatlicher Ebenen ist. Spendengelder und Eigenmittel kirchlicher Wohlfahrtsverbände sind auf soziale Dienste zu konzentrieren, die noch nicht politisch anerkannt sind. Dort muss aber - wie das bei Hospizen erfolgreich geschehen ist - von kirchlichen Wohlfahrtsverbänden versucht werden, sie auch in den Leistungskatalog der Sozialversicherung aufzunehmen. Verfehlt ist es, dauerhaft soziale Aufgaben über Spendenmittel, Stiftungen etc. zu finanzieren, da diese Art der Finanzierung gesamtwirtschaftlich außerordentlich aufwändig ist, weil für die Einwerbung und Verwaltung von Spenden häufig ein hoher Aufwand anfallt. Ein qualifizierter Spendeneinwerber muss ja zunächst seine eigenen 100000 oder 200000 DM Gehalts- und Verwaltungskosten im Jahr einbringen, bis ein Nettoertrag erfolgt. V. Schlussbemerkung Kirchliche Wohlfahrtsverbände weisen bis heute vor allem im ökonomischen Bereich erhebliche Defizite auf, indem sie ihre Tätigkeit nicht hinreichend in gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen verankern und sich auf der einzelwirtschaftlichen Ebene nicht genügend geeigneter Unternehmensrechtsformen, Organisationsstrukturen, Managementmethoden etc. bedienen. Nicht nur die stärker werdende private Konkurrenz, sondern ihre eigenen Wertgrundlagen verlangen von ihnen, sich stärker modernen ökonomischen Erkenntnissen und Methoden zu öffnen.
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Vgl. Merchel, 302 ff. (Anm. 24).
Die karitativen Dienste im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit und Wertevergewisserung Von Manfred Hermanns I. Veränderte Rahmenbedingungen als Herausforderungen
Seit der gesetzlichen Grundlegung der Jugend- und Sozialhilfe zu Beginn der Weimarer Republik ist das Miteinander von freien und öffentlichen Trägern geregelt. Die Aufgabenverteilung ist über Jahrzehnte zur beiderseitigen Zufriedenheit erfolgt. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip haben die freien Träger zahlreiche Aufgaben der Beratung, Betreuung und des diakonischen Handeins in eigener Regie durchgeführt. Finanziell sind sie dabei in immer größere Abhängigkeit von staatlichen und kommunalen Organisationen geraten. Über die Finanzierung bestimmt der Staat immer mehr die Bedingungen der Arbeit freier Träger. Der Umbau des Sozialstaates stellt alle öffentlichen Leistungen auf den Prüfstand. Gesetzliche Veränderungen und die Finanzknappheit der öffentlichen Haushalte wirken sich unmittelbar auf die Wohlfahrtsverbände wie den Deutschen Caritasverband und das Diakonische Werk, die Arbeiterwohlfahrt und die anderen freien Träger aus. Sie sind vielfältigen Veränderungen ausgesetzt. Die Einführung der Neuen Steuerungsmodelle in der Kommunalverwaltung und die Finanzknappheit zwingen zu einem effizienten, wirtschaftlichen Umgang mit den knapper werdenden Ressourcen. Sie sind zu klugen Sparmaßnahmen herausgefordert, die nicht zu Lasten · der Klienten gehen. Sie müssen sich bewusst werden, dass sie nicht im eigenen Auftrag handeln, sondern eine Treuhandfunktion gegenüber der Öffentlichkeit wahrnehmen. Als soziale Dienstleistungsunternehmen sind sie wirtschaftlich zu führen. Darin wird oft eine Gefahr für die Realisierung karitativer und humaner Zielsetzungen gesehen. Humanität, Sozialität und Wirtschaftlichkeit brauchen aber keine Gegensätze zu werden, wenn eine kluge Organisationspolitik betrieben wird. Jedoch auch karitative Unternehmen sind gehalten sich Gedanken über eine optimale Zeitnutzung zu machen. Erstmals nach mehreren Jahrzehnten ist "Zeitmanagement" angesagt 1• Auch stellt sich für die karitativen Unternehmen die Frage nach der optimalen Betriebsgröße sowohl unter Berücksichtigung sozialer wie auch betriebswirtschaftlicher
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Daten. Bei welcher Betriebsgröße lassen sich die negativen Auswirkungen von- in Grenzen unvermeidlicher- Bürokratisierung minimieren? Die Wohlfahrtsverbände stehen unter sich verändernden Marktbedingungen, da sie durch das Auftreten gewinnorientierter Anbieter und den beginnenden Wettbewerb mit ihnen in neuer Weise herausgefordert werden. Konkurrenten für die etablierten Wohlfahrtsverbände entstehen vor allem im Bereich der Jugend-, Alten-, Altenpflege- und Bildungsarbeit Das Pflegegesetz hat den privaten Anbietern eine gesetzliche Möglichkeit der Betätigung eingeräumt. Die Wohlfahrtsverbände müssen ferner dem Wandel im Selbstverständnis der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, das zu mehr teamorientierten Arbeitsformen drängt, Rechnung tragen2 • Teamarbeit will aber auch gelernt sein, sie setzt Teamwilligkeit und die Kenntnis und die Einübung von modernen Leitungsstrukturen voraus. Sie verlangt geschickte Koordination professioneller Fähigkeiten und nicht einfach nur ihre Addition. Unter den Rahmenbedingungen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen stehen die Wohlfahrtsverbände vor der Aufgabe, jeweils Profil zu gewinnen. Sie sind oft zu sehr der verlängerte Arm staatlicher und kommunaler Organisationen geworden und in Zielsetzung und Aufgabenstellung von diesen nicht mehr zu unterscheiden. Ohne eigenes karitatives oder humanes Profil sind sie aber auf die Dauer nicht überlebensfahig. Zur Organisationsentwicklung gehört die Neuorientierung und Präzisierung der Unternehmensphilosophie. Insofern war die vor einigen Jahren im Deutschen Caritasverband und beim Diakonischen Werk geführte Leitbilddiskussion längst überfallig. Kirchlich-karitative Verbände und Vereine sind in ihrem Proprium nur dann erkennbar, wenn sie sich nicht allein von den öffentlichen Diensten abheben, sondern auch von den innerweltlich humanen Zielsetzungen nichtkirchlicher Wohlfahrtsverbände. Nur dann ist eine Legitimation zum Tätigwerden perspektivisch gegeben. II. Wirtschaftlicher Wettbewerb und Organisationsmanagement 1. Wirtschaftsfernes Denken in karitativen Organisationen
Die veränderten Rahmenbedingungen erfordern von den karitativen Dienstleistungsunternehmen als offenen umweltempfindlichen und umwelt1 Ulrich Borchert, Zeitmanagement als Leitungskriterium in der professionellen sozialen Arbeit, in: Peter Boskamp/Rudolf Knapp (Hrsg.), Führung und Leitung in sozialen Organisationen, Neuwied/Kriftel/Berlin 1996, 141-159. 2 Boskamp/Knapp, Vorwort 5 (Anm. 1).
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verarbeitenden Systemen 3 eine neue Politikstrategie nach außen und eine Organisationsentwicklung nach innen. Eine auf der Organisationssoziologie und der betriebswirtschaftliehen Organisationslehre aufbauende und ihre analytischen Instrumentarien berücksichtigende Organisationsentwicklung ist bei den sogenannten NonProfit-Organisationen mehrere Jahrzehnte vernachlässigt worden. Zum einen war man unüberprüft der Annahme, dass sich die einmal aufgebauten, aber ständig expandierenden Strukturen bewährt hätten, zum anderen standen allgemein gesellschaftspolitische Ambitionen und Strategien im Vordergrund sozialarbeitensehen und sozialpädagogischen Denkens und Handelns. Wirtschaftliche Effizienzgesichtspunkte waren verpönt und wurden tabuisiert. Die humanen und karitativen Zielsetzungen der Sozialarbeit ständen im Gegensatz, wenn nicht im Widerspruch zu den gewinnorientierten Perspektiven des "kapitalistischen" Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. Mag das antikapitalistische Denken auch nicht bei den Spitzenkräften kirchlicher Wohlfahrtsverbände Akzeptanz gefunden haben, so hat die breite Grundströmung des Denkens an der Basis, die von vielen Ausbildungsstätten des Sozialwesens gepflegt und gefördert wurde, doch ein nach rationellen Gesichtspunkten betriebenes Sozialmanagement in deri sozialkaritativen Organisationen erschwert. 2. Karitative Organisations- und Betriebswirtschaftslehre in der Weimarer Republik
So wurden auch die vorwärtsweisenden, bereits während der Weimarer Republik erarbeiteten Ansätze karitativer Organisations- und Betriebswirtschaftslehre vergessen. Der Sozial- und Caritaswissenschaftler Heinrich Weber (1888-1946), der 1922 Franz Hitze auf dem Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre nachfolgte und in sein Wissenschaftsgebiet Fürsorgewesen und Wirtschaftswissenschaften einbezog, hat wohl als Erster eine Organisationslehre der Caritas entwickelt, in der er Ziel- und Strukturfragen behandelte. Er wusste um die Notwendigkeit klarer Zielbestimmung, die um der Motivation willen im Bewusstsein aller Mitarbeiter verankert sein muss, und die Überprüfung der Zielerreichung. Die einmal getroffene Zielsetzung könnte auf die Dauer nur noch gewohnheitsmäßig verfolgt werden und in Wirklichkeit bereits überholt sein. "Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß jede caritative Organisation (... ) immer wieder die Frage ihrer Existenzberechtigung überprüfen sollte."4 3 Niklas Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., Soziologische Aufklärung. Opladen 1970, 115; ferner ders., Zweck - Herrschaft - System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Renate Mayntz (Hrsg.), Bürokratische Organisation. Köln/Berlin 1968, 47.
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Hinsichtlich der Strukturen geht Weber der heute wieder diskutierten Frage des Verhältnisses von Caritasarbeit in den Gemeinden und im Caritasverband sowie in den verschiedenen karitativen Vereinen nach. Obwohl selbst Mitglied im Zentralrat und Zentralvorstand des Deutschen Caritasverbandes5, sieht er Grenzen der Zentralisation des Verbandes. Die konkrete karitative Arbeit weist er den Gemeinden zu, während dem Caritasverband die Förderung und Koordination aller in der Caritas tätigen Personen und Institutionen obliegt6 . Im Organisationsplan Webers ist das karitative Handeln entsprechend der kirchlichen Grundfunktion von Diakonie im Leben der christlichen Gemeinden verankert. Am 23. Oktober 1929 hält Weber im Zentralrat des Caritasverbandes ein Referat zum Thema "Caritas und Wirtschaft". Seine Fragestellung ist für die Verknüpfung von Caritas- und Wirtschaftswissenschaft charakteristisch. Auch damals musste Weber gegen Vorurteile ankämpfen, wonach zwischen Caritas und Wirtschaft unüberwindbare Gegensätze bestünden. Er weist aber darauf hin, dass zwischen ihnen weder kontradiktorische, d. h. logische, noch konträre Gegensätze wie zwischen schwarz und weiß bestehen. "Ein solcher konträrer Gegensatz besteht nur zwischen der nach christlichen Prinzipien geordneten Caritasgesinnung einerseits und der ungezügelten, hemmungs- und skrupellosen, von blindem privatwirtschaftliehen Gewinnstreben diktierten Wirtschaftsgesinnung andererseits." 7 Hinsichtlich der Bedarfsdeckung der Menschen und dem Ablauf des wirtschaftlichen Prozesses gäbe es auch viele Gemeinsamkeiten. Auch die Caritas bedarf der Sachgüter (Gebäude, Grundstücke, Hilfsmittel), des Personals und unter den heutigen Verhältnissen des Geldes. "Die Caritas steht eben in der heutigen Verkehrswirtschaft und kann sich ihr nicht entziehen. " 8 In seinem späteren aus einem Kurs für Praktiker des karitativen Anstaltswesens9 hervorgegangenen Buch "Betriebsführung in caritativen Anstalten" differenziert Weber zwischen l. dem reinen Rentabilitätsprinzip, das ausschließlich auf Ertrag setzt, 2. dem reinen karitativen Prinzip, das er unter 4 Heinrich Weber, Die Organisation der katholischen Unterstützungsfürsorge, in: Caritas 33 (1928), 29. 5 Manfred Hermanns, Heinrich Weber, Sozial- und Caritaswissenschaftler in einer Zeit des Umbruchs. Leben und Werk, Würzburg 1998, 42-45. 6 Heinrich Weber, Organisation, 213-217 (Anm. 4); s. auch Hermanns, 166/167 (Anm. 5). 7 Heinrich Weber, Stoffaufteilung zum Referat "Wirtschaft und Gesellschaft". Archiv DCV, Sign. 111.055-1929/3. 8 Heinrich Weber, Caritas und Wirtschaft, Freiburg i. Br. 1930, 23. 9 Der Begriff "Anstalt" war in der Soziologie und Ökonomie dieser Zeit durchaus geläufig. Auch Max Weber gebrauchte diesen Begriff. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, I. Halbband, Tübingen 5. Aufl. 1976, 28.
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wirtschaftswissenschaftlichem Gesichtspunkt als Verbrauchsprinzip einstuft, und 3. dem Wirtschaftlichkeits- oder Kapitalerhaltungsprinzip, das auch für karitative Organisationen maßgebend ist. "Man bemüht sich [in den karitativen Institutionen], Verfahrensweisen und Maxime, die sich in der Privatwirtschaft bewährt haben, auch in den Dienst der Anstaltswirtschaft zu stellen, man sucht erfreulicherweise den Leistungsgrad zu steigern und innerbetriebliche Rationalisierungen durchzuführen." 10 Dabei wären karitativwirtschaftliche Anstalten wie Krankenhäuser, Genesungsheime, Heilstätten, Erziehungsheime von wirtschaftlichen-karitativen Anstalten wie Hilfskassen gemeinnütziger Anstalten oder Kredit- oder Versicherungsanstalten, die karitative Unternehmungen direkt oder indirekt fördern, zu unterscheiden. Eine wie hier vorgelegte karitative Betriebswirtschaftslehre wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr fortgesetzt, erst recht nicht an den Fachhochschulen für Sozialwesen gelehrt. So trifft das heute in karitativen Organisationen tätige Personal die Forderung nach Rentabilitäts- und Effizienzgesichtspunkten in karitativen Organisationen völlig unvorbereitet. Bei den verbreiteten Pauschalzuweisungen von öffentlichen Geldem war eine detaillierte kontrollierte Rechnungsführung oft nicht erforderlich. 3. Perspektivenwechsel in der Gegenwart
a) Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit Der Perspektivenwechsel von der Wohlfahrtseinrichtung zum Dienstleistungssystem kommt für die Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wohlfahrtsorganisationen neu und überraschend. Die neue Begrifflichkeil mit Begriffen wie Kunde anstau Klient, Auftraggeber, Sozialmanagement, Produktbeschreibung, Marketing, Patient als Konsument oder Koproduzent usw. erschrickt viele. Die Mitarbeiter beim Deutschen Caritasverband sehen zu 93% die Caritas als "Helfer in der Not", zu 91% als "Förderer des sozialen Bewußtseins", zu 83% als "Anwalt der Armen", aber nur zu 56% als "Dienstleistungsuntemehmen" 11 • Die eigenständige Aufgabe des Helfens wird als Erstes wahrgenommen, des Weiteren ist ihnen die Nähe der Caritas zur Politik geläufiger als die zur Wirtschaft. Selbst der pädagogische Bezug rangiert noch davor: 60% sehen in der Caritas "eine Institution mit pädagogischem Auftrag".
Heinrich Weber, Betriebsführung in caritativen Anstalten, Berlin 1933, 6. Deutscher Caritasverband, Meinungsbild Caritas. Die Allensbacher Studien zum Leitbildprozeß. Bd. I: Renate Köcher, Ergebnisse, Freiburg i. Br. 1997, I 00, Schaubild 21. 10 11
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Der Perspektivenwechsel bricht sich in Anbetracht der defizitären öffentlichen Kassen um so schneller Bahn, je weniger der Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit zuvor Beachtung fand. So verwundert es auch nicht, dass die Wohlfahrtsverbände unter zunehmenden öffentlichen Druck geraten, vor allem im Zuge der Auseinandersetzung um die Pflegekosten im Rahmen der vor wenigen Jahren eingeführten Pflegeversicherung. Es wird ihnen der Vorwurf gemacht, sie arbeiteten unwirtschaftlich und kostentreibend. Der Wirtschaftswissenschaftler Meyer bezeichnet eine Leistungserstellung dann als "unwirtschaftlich, wenn ein vorgegebener Output mit geringerem Mitteleinsatz erstellt werden kann bzw. bei gegebenem Mitteleinsatz ein höherer Output erzielbar ist'' 12 . Soziale Dienstleistungen (Beratung, Pflege etc.) ließen sich jedoch in ihrer Qualität nur schwer erfassen. Auch erschwere die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Leistungen einen Vergleich. Meyer fährt mit einer kritischen Frage fort: "Wie kann zudem Ineffizienz konkret nachgewiesen werden, wenn alle Anbieter innerhalb eines weitgehend geschlossenen Systems unwirtschaftlich arbeiten?'" 3 Er plädiert deshalb für Alternativen und den Abbau der wettbewerbswidrigen Marktzutrittschancen. Zur Überprüfung der Effizienz (Kostengünstigkeit) und der Effektivität (Bedarfsgerechtigkeit) fordert er ein Kontrollsystem. "Als wesentliches internes Kontrollsystem ist das Rechnungswesen/Controlling in vielen Einrichtungen verbesserungsbedürftig und erfüllt nicht die in der Privatwirtschaft üblichen Standards." 14 b) Neokorporalismus und Bürokratie Meyer erblickt in den dauerhaften Austauschbeziehungen zwischen Staat, Sozialversicherungen und der Freien Wohlfahrtspflege "neokorporatistische" Verbindungen, "deren Kündigung für alle Beteiligten nur zu sehr hohen Austrittskosten möglich wäre" 15• Der Staat zieht aus diesem Tauschverhältnis durchaus Vorteile, weil er von Versorgungsaufträgen entlastet wird. Die Freie Wohlfahrtspflege erhält Einfluss bei der Steuerung sozialer Aufgabenerfüllung, muss aber ihrerseits für Subventionen, Kostenerstattungen und der vom Staat geforderten Planungs- und Bewilligungsverfahren sich immer mehr zentralisieren und einen umfangreichen bürokratischen Apparat auf-
12 Dirk Meyer, Steuerungsmängel im System der Freien Wohlfahrtspflege, in: Sozialer Fortschritt (1997), 161. 13 Ebd. 14 Ebd., 162. 15 Meyer, Die Dienstleistungen der Freien Wohlfahrtspflege unter dem Anspruch der Marktwirtschaft, in: Heinrich Pompey (Hrsg.), Caritas im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, Würzburg 1997, 41.
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bauen. Zunehmende Bürokratisierung trägt aber auch bei zum Erhalt ineffizienter Leistungserstellungen. Aus der Organisationstheorie ist bekannt, dass zwischen den Zielen einer Organisation und den Zielen der Führungskräfte unterschieden werden muss. Wenn parallel zur Expansion des Sozialstaates in den vergangeneu Jahrzehnten die freie Wohlfahrt besonders hohe Wachstumsraten erzielen konnte, nämlich die Zahl der Einrichtungen von 1970--93 um 40 %, die Zahl der Betten/Plätze um 30% und die Zahl der Mitarbeiter um 220% gestiegen ist, dann stellt sich die Frage, ob diese Expansion allein unter dem Gesichtspunkt der Linderung materieller und seelischer Not erfolgte, sondern auch der Steigerung von Ansehen, Macht und Einkommen der Yerbaudsfunktionäre diente 16• Eine Budget-Erweiterung ist leichter durchsetzbar, wenn sie nicht aus Eigenmitteln, sondern aus Drittmitteln erfolgt.
c) Wettbewerb und Überlast Gegen die "korporatistische" Verschränkung von Staat und freien Trägem bietet sich die Entdeckung von mehr Markt und Wettbewerb als Lösungsmöglichkeit an. Das Pflegegesetz hat dazu einige Chancen eingeräumt, wonach private Anbieter im Wettbewerb zu gemeinnützigen Anbietern auftreten können. Diese jetzige Gegenorientierung löst Ängste bei zahlreichen Mitarbeitern der freien Wohlfahrtspflege aus. So konnte das Allensbach-Institut bei einer empirischen Erhebung unter den hauptamtlichen Mitarbeitern des Deutschen Caritasverbandes ermitteln: ,,Zu schaffen machen den Mitarbeitern vor allem die steigenden Belastungen sowohl durch die wachsende Zahl der Hilfsbedürftigen wie durch die steigenden Ansprüche der Klienten bei gleichzeitig knapper werdenden finanziellen Ressourcen und einer teils neuen, teils verschärften Konkurrenzsituation." 17 67% der befragten Mitarbeiter erklärten, dass die Belastungen größer würden. Eine verstärkte Konkurrenzsituation wurde vor allem in den Bereichen Gesundheits-, Altenund Familienhilfe erlebt. Ebenfalls zwei Drittel befürchteten eine sich vergrößernde Schere zwischen den vorhandenen Ressourcen und den zu bewältigenden Aufgaben 18 • Es stellt sich die Frage, ob das soziale Management vor allem auf der mittleren Entscheidungsebene vorhanden ist, um den Herausforderungen durch die Umwelt sachgerecht und human zu begegnen. Das Personal in sozialen Dienstleistungsunternehmen hat während seiner beruflichen Sozialisation nicht gelernt, im Wettbewerb mit anderen Organi16
17 18
Ebd., 44. Deutscher Caritasverband, Bd. 1 Köcher, 41 (Anm. 11). Ebd., 44-45.
II Gabriel (Hrsg.)
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sationen zu arbeiten. Betriebliche Rationalisierungsmaßnahmen werden oft a priori als unsozial abgewiesen. Es sind Mentalitäten verbreitet, die sonst eher in monopolartigen Unternehmen zu finden sind. Jedoch ist es erforderlich, sich auch um die besonderen Bedingungen eines Wettbewerbs bei sozialen Dienstleistungen Gedanken zu machen. Anders als auf dem Warenmarkt ist Transparenz sozialer Dienstleistungen weniger gegeben. Für die Klienten ist es schwieriger, die Qualität eines sozialen Dienstleistungsangebotes sicher wahrzunehmen. Sie suchen die sozialen Dienstleistungsunternehmen meist in einer existenziell schwierigen Situation unter Handlungsdruck auf, in der sie nicht die nötige Zeit haben, sich einen Überblick über das vorhandene Angebot an sozialen Diensten zu verschaffen und die Angebote miteinander zu vergleichen 19. Viele Rat Suchende und Hilfsbedürftigen sind auch psychisch und kognitiv zum Qualitätsvergleich nicht in der Lage. Deshalb ist der Kundenbegriff auch nicht ohne Vorbehalte und vor allem nicht generell auf den Klienten übertragbar. Trotz der besonderen Marktlage sozialer Dienstleistungsunternehmen stehen keineswegs alle Experten der freien Wohlfahrtspflege dem Wettbewerb skeptisch oder abwehrend gegenüber. So hat Alfred Dünner, ehemaliger Direktor des Diözesan-Caritasverbandes Köln, einen Artikel mit dem beachtenswerten Titel geschrieben "Auch Caritas braucht Wettbewerb". Den ablehnenden Argumenten hält er entgegen: Es seien "nicht die sich uns anvertrauenden hilfebedürftigen Menschen, die in Wettbewerb zueinander treten sollen, sondern die Einrichtungen der Wohlfahrtspflege; und zwar gerade um der hilfebedürftigen Menschen willen. Im Wettbewerb gilt es, darum zu streiten, wie ihnen am besten geholfen werden kann"20. Er ergänzt jedoch, dass der Wettbewerb eines ordnungspolitischen Rahmens durch den Staat bedürfe, der qualitative Mindeststandards festlegt und kontrolliert. Die Caritas würde auch in Zukunft bestrebt sein, in ihren Hilfsangeboten über den festgeschriebenen qualitativen Mindeststandard im Sinne des eigenen Selbstverständnisses hinauszugehen21 .
19 Hans Braun, Die Wohlfahrtsverbände im Markt sozialer Dienstleistungen, in: Die neue Ordnung 51 (1997), 263-265. 20 Alfred Dünner, Auch Caritas braucht Wettbewerb. Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich zu eng an den Staat angelehnt, in: FAZ Nr. 42 vom 19. 02. 1996, 15. 21 Ebd.
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111. Wertevergewisserung und die Probleme ihrer Realisierung 1. Notwendigkeit der Profliierung
Wettbewerb verlangt von sozialen Dienstleistungsunternehmen qualitative Profilierung. Gerade bei einer Vielzahl von Anbietern ist Unverwechselbarkeit erforderlich. Es muss sich in der Öffentlichkeit herumsprechen, wo welche sozialen Dienstleistungen mit besonderer Qualität angeboten werden, gerade dann, wenn anders als auf dem Warenmarkt, bestimmte Dienstleistungen selten nachgefragt werden. Unternehmensphilosophie und Unternehmensethik sollen die Zielsetzung untermauern, die Öffentlichkeit überzeugen und die Mitarbeiter zu einem hohen Engagement motivieren. Das Ethos des Unternehmens bildet die Summe der Werthaltungen, die den Denkstil, die Entscheidungen und das Handeln der Mitarbeiter prägen. Es wirkt sich auf die gesamte Gestaltung und Struktur aus. Sollen Organisationsziele nicht unverbindlich sein, nur deklamatorischen Wert nach außen haben, müssen sie im Unternehmen auf ihren ethischen Wertgehalt hin reflektiert werden. In der Organisationslehre sozialer Unternehmen wird immer klarer erkannt, wie wichtig es ist, unternehmenseigene Traditionen bewusst neu aufzunehmen, kritisch auf die gegenwärtigen Bedingungen und Situationen hin zu überprüfen und zukunftsgerichtet weiterzuentwickeln. Der Deutsche Caritasverband greift seit seiner Gründung auf einen weit reichenden, in der Geschichte des Christentums immer wieder erneuerten und belebten Fundus sozialer Liebe und sozialer Gerechtigkeit zurück, der die Gründer bei ihren vorwärtsweisenden Initiativen angeregt und vorangetrieben und den Verband durch die schweren Zeiten des Hungers im Ersten Weltkrieg, der politischen und sozialen Erschütterungen zu Beginn der Weimarer Republik, der Weltwirtschaftskrise, der nationalsozialistischen Herrschaft und des wirtschaftlichen und sozialen Elends der Nachkriegsjahre hindurchgetragen hat. Die Caritasbewegung der ersten Jahrzehnte lebte aus den Impulsen des Aufbruchs und eines schöpferischen lebensgestaltenden und strukturbildenden Glaubens. Caritas war zu einem Markenzeichen geworden, mit dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter identifizierten, so dass sie, wie unter dem Terror des Nationalsozialismus, auch soziale und finanzielle Nachteile durch ihre Treue zum Caritasverband auf sich zu nehmen bereit waren. Noch heute zehrt der Caritasverband von dem einmal in der Gesellschaft erworbenen Image. Der Caritasverband hat nicht nur einen hohen Bekanntheitsgrad in der gesamten, auch der nichtkatholischen Bevölkerung, sondern wird auch als wichtig für die Gesellschaft eingestuft und mit ihm werden positive Assoziationen wie "Helfer in der Not", "Nächstenliebe", "engagierte Leute", "Anwalt der Armen" in Verbindung gebracht22 . 72% stufen II'
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die Caritas als eng mit der Kirche verbunden ein und 65 % sehen sie "engagiert in allen Bereichen, wo Elend und Not sind", insgesamt - auch im Vergleich zu anderen sozialen Organisationen - ein sehr positives Urteil in der Bevölkerung23 . 2. Leitbilddiskussion
Spätestens Anfang der neunziger Jahre erkannte man im Verband einen Mangel an ethischer Profilierung. Viele Jahre waren die karitativen Unternehmen bei gering entwickeltem Wettbewerb mit den gängigen professionellen Standards ausgekommen. Inzwischen sind aber die Klienten anspruchsvoller geworden, viele erwarten über den durchschnittlich angebotenen Dienst hinaus eine "Zusatzqualität" spezifischer Träger24 • In dieser Situation müssen sich die Wohlfahrtsverbände Klarheit über ihr eigenes Profil verschaffen und die Unternehmensphilosophie nach innen und außen verdeutlichen. Der Wertevergewisserung diente die Leitbilddiskussion im Deutschen Caritasverband, später auch beim Diakonischen Werk. Die theologischen Aspekte der Verbandsphilosophie erarbeitete Heinrich Pompey, Professor für Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit an der Universität Freiburg. Schöpfend aus der biblischen Tradition, der die Caritasbewegung seit jeher ihre Impulse verdankt, entdeckte er "Diakonie als Glaubens- und Lebenshilfe für andere" als basierend "auf der theo- und christo-logischen Spiritualität" wieder. Den Nächsten-Dienst hob er neben dem Verkündigungs-Dienst und dem Gottes-Dienst als fundamentale Aufgabe der Gemeinde und der Kirche hervor5• Aus den Grundüberlegungen zog er "spirituelle Konsequenzen für eine motivierende Begleitung der Mitarbeiterl-innen als Beitrag zur Corporate Identity kirchlicher Caritas"26 und Konsequenzen für die Rekrutierung der Mitarbeiter in karitativen Organisationen: Die Kirche könne nicht beliebige Helferl-innen gegen Bezahlung für ihre ureigenste Aufgabe einkaufen. "Nur Menschen, die die Unternehmensphilosophie der Kirche akzeptieren, können die Dienste der Kirche glaubhaft vollziehen. " 27 Der Deutsche Caritasverband beteiligte die Basis entsprechend den heutigen Partizipationsbedürfnissen an den folgenden Konsultationen und führte Deutscher Caritasverband, Bd. 1 Köcher, 18-26 (Anm. 11 ). Ebd., 28. 24 Braun, 266 (Anm. 19). 25 Heinrich Pompey, Das Profil der Caritas und die Identität ihrer Mitarbeiter/ innen, in: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), caritas '93, Freiburg 1992, 14. 26 Ebd., 16. 27 Ebd., 21. 22 23
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1993-1996 unter Einbezug verschiedener Ebenen und Bereiche den Leitbi1d-Prozess durch. Dieser kam im Oktober 1996 durch eine Empfehlung der Vertreterversammlung zum Abschluss und im Mai 1997 wurde das Leitbild des Deutschen Caritasverbandes durch den Zentralrat des DCV in Kraft gesetzt. Unabhängig von dieser Leitbilddiskussion des Deutschen Caritasverbandes hat die Kommission 7 "Sozial-caritativer Dienst" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken eine Erklärung zur Barmherzigkeit als einem "vergessenen Aspekt der Diakonie" erarbeitet und damit ebenfalls zur Wertevergewisserung im kirchlich-karitativen Raum beigetragen28 . Diese Erklärung entwarf auch eine "neue Sicht von Barmherzigkeit für die Gegenwart", bei der die Perspektive der Ganzheitlichkeit, Barmherzigkeit als Quellgrund der Gerechtigkeit und als Wesensmerkmal der Kommunikation hervorgehoben wurden. Dadurch verdeutlicht sich, dass Wertevergewisserung nicht allein Wiederaufnahme karitativer Tradition bedeutet, sondern insbesondere Transformierung in die heutige Lebenswelt der Menschen. 3. Empirische Ergebnisse zur Identifikation der Mitarbeiter mit Caritas und Kirche
Die Kontroverse um das Leitbild machte es erforderlich, manche in der Diskussion aufgeworfenen Thesen über die innerbetriebliche Identität oder Nichtidentität erst einmal empirisch zu klären. Die vom Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführte repräsentative Erhebung bei 1909 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Einrichtungen und Diensten der Caritasverbände sowie die ergänzende Untersuchung bei einem repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt zum Außenbild der Caritas brachte eine Fülle von Daten, auf die organisationssoziologische Überlegungen und Schlussfolgerungen aufbauen können. Eine Reihe von Ergebnissen zum öffentlichen Ansehen des Deutschen Caritasverbandes, zum Aufgabenverständnis der Mitarbeiter und zu ihrer Überlast wurden bereits in diesem Artikel referiert. Im Folgenden konzentriert sich die knappe Zusammenfassung auf die Daten der Corporate Identity mit Caritas und Kirche. Die meisten Mitarbeiter identifizieren sich mit der Caritas und ihren Zielen. Diese Identifikation geht einher mit einer hohen Arbeitszufriedenheit29. Auch die Detailergebnisse, die zwischen Aufgaben-, Arbeitsplatz-, Betriebs- und Gehaltszufriedenheit und Zufriedenheit mit dem Führungsstil der Vorgesetzten und der Zufriedenheit mit den organisatorisch bedingten 28 Barmherzigkeit. Eine neue Sichtweise zu einem vergessenen Aspekt der Diakonie. Eine Erklärung der Kommission 7 "Sozial-caritativer Dienst" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 7. November 1995. 29 Deutscher Caritasverband, Bd. l Köcher, 63-86 (Anm. II).
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Arbeitsbedingungen differenzieren, sind überwiegend positiv: 78% finden ihre Arbeit interessant, 74% sehen in ihrer Tätigkeit eine Arbeit, die Sinn macht, 66% heben hervor, dass man eigene Ideen einbringen kann, wobei der Freiheitsspielraum, der heute einen großen Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit hat, als hoch empfunden wird, 80% sind mit ihren Arbeitsbedingungen "zufrieden" oder "sehr zufrieden", 56% beurteilen die Arbeitsmotivation als "groß", 11% sogar als "sehr groß", auch das Betriebsklima der eigenen Arbeitsstelle wird von der großen Mehrheit als gut oder sehr gut empfunden. Kritischer wird dagegen die Caritas als Gesamtorganisation gesehen. Nur befriedigende Ergebnisse erhalten die Statements "Verdienstmöglichkeit", "religiös-spirituelle Begleitung" und "Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten"30, wobei die begrenzten Gehalts- und Karrierechancen typisch für soziale Berufe sind. Die gering entwickelte "religiösspirituelle Begleitung" stellt das Sozialmanagement karitativer Dienste vor bisher zu wenig beachtete Herausforderungen. Für die Organisationsanalyse karitativer Unternehmungen ist es wichtig, ob die hohe Identifikation mit der Caritas mit einer hohen kirchlichen Bindung der Mitarbeiter einhergeht. Zunächst ist beachtenswert, dass "für 77 Prozent der Mitarbeiter zum Selbstverständnis der Caritas [gehört], sich als Teil der Kirche zu sehen, für 76 Prozent, die Tätigkeit als Ausdruck gelebten Christseins zu verstehen" 31 . Für eine Mehrheit von etwa 60% gehören Caritas und Kirche zusammen, für sie ist weder Caritas ohne Kirche vorstellbar noch Kirche ohne Caritas, eine Minderheit von 33 % können sich einen Caritasverband auch ohne Bindung an die Kirche vorstellen und 10% halten das auch für besser. Die große Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, genau 64% beschreibt sich als kritisch kirchenverbunden. Ein kritisches Kirchenbild ist bei dem karitativen Personal sehr verbreitet, wobei im Vordergrund der Kritik Starrheit überholter Normen (79 %), geringe Anpassung an die Erwartungen der Menschen (70% ), Männerdominanz (66% ), geringe Glaubwürdigkeit (56%), veraltete Begrifflichkeit (50%) stehen. Der Kritik stehen kaum anerkennende Urteile gegenüber. Die Statements "Caritas ist für mich Kirche" wird von 24% und das Statement "Die Kirche bedeutet mir sehr viel" von 22% bejahe2 • Obwohl das Caritasbild deutlich positiver als das Kirchenbild bei den Mitarbeitern ausfallt, lassen sich dennoch Zusammenhänge empirisch ermitteln: "Je größer die Distanz zur Kirche, je schwächer die religiösen Bindungen beschrieben werden, desto weniger wird die Caritas anderen, nicht mit der Kirche verbundenen Arbeitgebern 30 Deutscher Caritasverband, Bd. 1 Köcher, 75-83, insbesondere Schaubilder 18 und 19 sowie Tabellen 14, 15, 16 (Anm. 11). 31 Ebd., 115. 32 Ebd., 117-124, insbesondere Tabelle 28, 29 und 30.
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vorgezogen." 33 Kirchenfremdheit und mangelnde religiöse Bindung haben also Konsequenzen für die Caritas als Arbeitgeber. Auffallend bei den Ergebnissen sind generationsspezifische Unterschiede. Bei den jüngeren Mitarbeitern lockern sich sowohl die Bindungen an die Caritas wie an die Kirche. Nur 39% der jüngeren Mitarbeiter ziehen die Caritas einer nicht-kirchlichen Organisation als Arbeitgeber vor, "38 Prozent der unter-3Djährigen Mitarbeiter könnten sich eine von der Kirche getrennte Caritas genau so vorstellen wie eine Kirche ohne Caritas."34 Caritas wird von ihnen also nicht als Grundfunktion der Kirche begriffen. Von den Jüngeren akzeptieren auch nur 14% die neue Grundordnung des kirchlichen Dienstes. Diese Ergebnisse müssen sowohl den Deutschen Caritasverband wie die Kirche alarmieren. Renare Köcher verweist in der Interpretation der Daten auf die Wertwandelsprozesse, die seit einigen Jahrzehnten die Kultur der Bundesrepublik verändern. Die Religionssoziologie hat unabhängig von der AllensbachStudie zum Leitbildprozess seit Mitte der sechziger Jahre eine zunehmende Kirchenferne und Glaubensschwund festgestellt, der besonders gravierend in der jungen Generation ausfallt. Der Glaube unter vielen Jugendlichen ist eklektizistisch. Der Zusammenhang des gesamten christlichen Glaubenssystems wird nicht mehr wahrgenommen, Bruchstücke, die genehm erscheinen, werden aufgegriffen, andere, die nicht unmittelbar einleuchten, verworfen. Entsprechend dem gesamtgesellschaftlichen Individualisierungstrend entsteht auch im Religiösen und Ethischen ein diffuser Synkretismus, eine Patchwork-Mentalitäe5 . Die gesellschaftlichen Veränderungen gehen, wie die Allensbach-Studie hervorhebt, nicht spurlos an der Mitarbeiterschaft der Caritas vorüber36 .
Wertwandelsprozesse werden, organisationssoziologisch betrachtet, zu anonym gesehen. Für den Organisationssoziologen stellen sie sich als System-Umwelt-Prozesse dar. Wie verarbeiten die aufeinander bezogenen Systeme Caritas und Kirche die Herausforderungen durch die Umwelt? Wie gehen sie mit Entfremdung, Glaubensschwund, vagabundierenden Formen von Religiosität um? Unter Wettbewerbsgesichtspunkten hieße dies, ihr Glaubens- und Sinnangebot würde nicht mehr gefragt. Viele raten unter Ebd., 86. Ebd., 132. 35 Vgl. u. a. Renare Köcher, Religiös in einer säkularisierten Welt, in: Elisabeth Noelle-Neumann!Renate Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987; Heiner Barz, Religion ohne Institution? Eine Bilanz der sozialwissenschaftliehen Jugendforschung. (Jugend und Religion, Bd. 1). Opladen 1992, 42; zusammenfassend Manfred Hermanns, Jugend und Religion, in: Die neue Ordnung 48 (1994) 404-417, hier 405/406. 36 Deutscher Caritasverband, Bd. 1 Köcher, 128 (Anm. 11 ). 33
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diesen Bedingungen, das Angebot an die Welt anzupassen. Dann würde sich das System aber auch nicht mehr von der Umwelt unterscheiden. Das System würde überflüssig, würde sich selbst aufheben. 4. Konsequenzen für die Organisationsentwicklung
a) Vom Zielmodell zum Systemzielmodell Köcher zieht aus der Allensbach-Erhebung zum Leitbildprozess die richtige Schlussfolgerung: "Die Caritasverbände werden künftig mehr tun müssen, um die Identifikation ihrer Mitarbeiter zu sichern - mehr informieren, mehr überzeugen, die Ziele verdeutlichen und das, was die Identität der Caritas ausmacht." 37
Trotzdem wird man organisationssoziologisch grundlegender ansetzen müssen. Weder sind reine Systemerhaltungsmodelle noch reine Zielmodelle empfehlenswert. Systemerhaltungsmodelle tendieren zum Status quo, zur Verfestigung tradierter Strukturen und der zugehörigen Norminterpretationen, wie es ja auch von einem erheblichen Teil der karitativen Mitarbeiter befürchtet wird. "Als Reaktion auf diese Überbetonung der Systemerhaltung erfolgen spekulativ-theoretische Entwürfe christlicher und kirchlicher Zielkonzeptionen, die mitunter den Bezug zum bestehenden Organisationssystem und zu dem von ihm vorgestellten Wertsystem ganz vermissen lassen." 38 Realitätsferne, die häufig bei konservativen wie bei progressiven theologischen Theoretikern anzutreffen ist, führt bei Umsetzung ihrer Zielvorstellung in karitativkirchlichen Organisationen zu Frustrations-Erfahrungen und Resignation bei den Mitarbeitern, weil die Ziele als Ideale nie voll erreichbar sind. Der amerikanische Organisationssoziologe Amitai Etzioni schreibt zum Zielmodell: "Die meisten Organisationen erreichen fast nie vollständig ihr Ziel (... ). Der Mangel an Erfolg in diesem Sinne ist ein allgemeines Charakteristikum der Organisationen (... ). Da die Ziele (. . .) Ideale sind, kann das Wirken der Organisation fast immer als ein Fehlschlag bezeichnet werden, zumal Ideale meist attraktiver sind als die Realität." 39 Kritiker der Kirche messen deren Glaubwürdigkeit häufig ausschließlich an den Zielen und berücksichtigen zu wenig die Schwächen der Menschen, die diese Ziele im Rahmen von Organisationen realisieren sollen.
Ebd., 132. Manfred Hennanns, Kirche als soziale Organisation. Zwischen Partizipation und Herrschaft, Düsseldorf 1979, 123. 39 Amitai Etzioni, Soziologie der Organisationen, München 1967, 33. 37
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Etzioni schlägt für die Analyse des Organisationserfolges vor, "die Arbeit der Organisationen miteinander (zu) vergleichen, statt sie an den Idealen zu messen, die sie anstreben."40 Diese vergleichende Analyse, die den Wettbewerb fördert, nennt er im Unterschied zum Zielmodell SystemmodelL "Das Systemmodell aber vermittelt Erkenntnis, daß es sowohl einen zu geringen als auch einen zu starken Mitteleinsatz für die Erreichung eines bestimmten Zieles geben kann. ' 441 Es würde also die Kontrolle über einen optimalen Ressourceneinsatz ermöglichen. Da Organisationsstrukturen im weitesten Sinne Mittel sind, könnte auch diese auf ihre Effektivität hin überprüft werden. Auch bewahrt das Systemmodell davor, engagierte, selbstlose Menschen bei der karitativen Arbeit zu überfordem42 .
Aber auch die polare Gegenüberstellung von Zielmodell und Systemmodell wird der Realität von Organisationen nicht voll gerecht. Um der Ziele willen werden Organisationen gegründet. Ziele bestimmen die Organisationsleistungen, haben motivierende Kraft für die Mitarbeiter und werbende sowie legitimatorische Funktion gegenüber der Öffentlichkeit. Wir haben gesehen, dass die Mitarbeiter der Caritas sich weithin mit ihren Zielen identifizieren. Selbstdarstellung und Rechtfertigung des Organisationshandeins dienen der Ressourcenbeschaffung43 . Die Legitimationsstrategie nach außen gelingt offenbar dem Deutschen Caritasverband, denn die Öffentlichkeit ist bereit, die Caritas wegen ihrer Ziele zu unterstützen und für sie zu spenden44. Dem Zusammenhang von Zielsetzung und Bestand sichernden Handlungen trägt das von Nasehold entworfene Systemzielmodell Rechnung. Es bewahrt im Unterschied zum reinen Zielmodell vor jeglichem Utopismus, da es außer der aktiven Partizipation der Organisationsmitglieder "die für jede Organisation erforderlichen Überlebens- und auch Wirkungsfunktionen in der Untersuchung mit berücksichtigt"45 • Es versteht sich als organisationssoziologische Hilfe, um bei möglichst breiter Beteiligung der Mitglieder die Handlungsfähigkeit der Organisation nach innen und außen zu erhalten, wenn nicht gar zu steigern.
Ebd., 34. Ebd. 42 Vgl. Bernd Kettern, Die vergessene Dimension christlichen Lebens: Nächstenliebe und Leben von Christen und Pfarrgemeinden, in: Christen vor der Zukunft. Unsere Verantwortung für die Gesellschaft, hrsg. vom Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für das Heilige Jahr 2000, Bonn 1998, 86-96, hier 93. 43 Vgl. u. a. Günter Büschges/Martin Abraham, Einführung in die Organisationssoziologie, 2. neubearbeitete Aufl. Stuttgart 1997. 44 Deutscher Caritasverband, Bd. 1 Köcher, 32-34 (Anm. 11). 45 Frieder Naschold, Organisation und Demokratie, Stuttgart 1969, 53. 40 41
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b) Entscheidung, Macht und Liebe In den Organisationen als Handlungssystemen muss entschieden und gehandelt werden. Eine Entscheidungs- und Handlungstheorie ist in das Systemzielmodell einzuarbeiten. Entscheiden und Handeln bedeuten unaufhörliche Selektion, also Auswahl aus einer immer größeren Anzahl von Möglichkeiten. Durch Entscheiden und Handeln werden die nichtgewählten Alternativen ausgeklammert. Entscheidungen beruhen selbst bei intensiver Partizipation der Organisationsmitglieder nicht immer auf Konsens. Diesen unbedingt erreichen zu wollen, kann Mitglieder unter Druck setzen, ferner ist Konsenssuche sehr zeitaufwendig. Entscheidungen in einer Organisation, denen bestimmte Mitglieder nicht zugestimmt haben, bedeuten für diese immer eine Entscheidungszumutung. Übertragung von Entscheidungen auf Mitglieder, die am Entscheidungsprozess nicht teilgenommen oder in ihm unterlegen sind, bedeutet Macht. "Macht ist immer dann gegeben, wenn aus einem Bereich von Möglichkeiten eine bestimmte durch Entscheidung gewählt wird und diese von anderen als Entscheidungsprämisse übernommen wird, obwohl sie selbst nur auf Entscheidung beruht, also in ihrer Selektivität sichtbar bleibt."46 Macht, obwohl unvermeidlich, wird in den Kirchen tabuisiert, ihre Wahrnehmung und Anerkennung ist dort besonders erschwert, weil sie nicht Macht, sondern Liebe als Kommunikationsmedium lehrt. Es wäre aber unrealistisch, dieses Handlungspostulat als Prämisse von Entscheidungsvorgängen in komplexen Organisationen wie den Kirchen oder auch dem Deutschen Caritasverband wie auch dem Diakonischen Werk vorauszusetzen. Liebe ist frei, ein Geschenk, eine geistig-personale Urkraft, aber keiner kann dazu verpflichtet werden, auch die hauptamtlichen Mitarbeiter nicht bei ihrem diakonischen Handeln. Nur gerechtes, an Rechtsmaßstäben orientiertes solidarisches und beruflich qualifiziertes Handeln ist auf der Leitungsebene wie an der Basis einforderbar. Liebe und Barmherzigkeit bleiben dabei Motivationsgrund und Leitbild der Caritas, aber es "kommt ein qualitativer Unterschied zur Sozialarbeit ins Spiel. Sozialarbeit setzt am Bedürfnis an, das sich genau umreißen lässt. Ihre Arbeit ist organisierbar, kontrollierbar und wissenschaftlich begleitbar. Sie zielt auf problemorientierte Lösungen. Barmherzigkeit aber hat die NOT im Blick, den nicht mehr verfügbaren Rest ( ... ). Sie kann quer liegen zur Sozialarbeit, die ihre Zugänge auch verstellen kann"47 .
46 Luhmann, Soziologie des politischen Systems, in: ders., Soziologische Aufklärung, Opladen 1970, 162. 47 Victor Mohr, Barmherzigkeit. Misericordia perficit societatem, in: LebZeug 53 (1998), 72173.
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c) Entscheidungstypen
Erst recht wären Liebe und Bannherzigkeit bei Strukturfragen des Caritasverbandes überfordert. Entscheidungen sind möglichst rational zu treffen, um Effizienz und Effektivität der Organisation zu steigern. Nasehold unterscheidet u. a. folgende Entscheidungstypen: Routine-, Zweck-, Innovationsentscheidungen sowie Entscheidungen zur Entscheidungsentlastung48 . Routine- und Zweckentscheidungen kennzeichnet er als "systeminterne Informationsverarbeitungsprozesse bei gleich bleibender System-UmweltBeziehung"49. Während eine Routineentscheidung auf Standardisierung beruht, ist bei der Zweckentscheidung nach den jeweils geeigneten Mitteln zu suchen, die zur Erfüllung der gesetzten Ziele möglichst geeignet sind. Der Handlungsspielraum der Organisationsmitglieder ist hier größer. Innovationsentscheidungen sind dagegen systemintern erforderlich bei dynamischer System-Umwelt-Beziehung, um die Ziele und Handlungsstrukturen des Systems auf die veränderten Umweltbedingungen abzustimmen. Der Leitbildprozess bei dem Caritasverband und dem Diakonischen Werk lag auf dieser Ebene. Während alle diese Entscheidungsprozesse systemintern erfolgen, sind die Entscheidungen zur Entscheidungsentlastung systemextern ausgerichtet bei statischer wie bei dynamischer System-Umwelt-Beziehung. Diese Entscheidung dient auch dem Abbau von Entscheidungsüberlastungen. Das Partizipationspotenzial der Organisationsmitglieder ist bei diesen Entscheidungstypen unterschiedlich. Routine- und Zweckentscheidungen eignen sich in besonderer Weise zur Delegation und Partizipation der Organisationsmitglieder. Ihre Mitsprache und Mitentscheidung ist auf dieser Entscheidungsebene in karitativen Diensten unumstritten, ja wird weithin erwartet. Umstrittener ist die Partizipation der Mitglieder bei Innovationsentscheidungen. Organisationsziele des Caritasverbandes sind nicht einmalig und endgültig durch den Gründer Lorenz Werthmann oder die Gründergeneration festgelegt, sondern unterliegen einem ständigen Wandel, besonders dann wenn die Umwelt in schneller Veränderung begriffen ist. Bei dem Zielwandel oder der Zielmodifikation, der Gewichtung und Interpretation der Ziele können nicht alle 450 000 Beschäftigten der Caritas in der gleichen Weise und Dichte beteiligt werden, aber dennoch ist es möglich, durch Urwahlen Mitglieder in eine Vertreterversammlung zu entsenden, wie dies auch beim Leitbildprozess der Caritas geschehen ist. Dennoch ist damit zu rechnen, dass solche Zielsetzungsprozesse Machtprozesse sind, weil nicht alle Vertreter über die gleichen Informationen über die Umwelt verfügen und mit gleicher Überzeugungskraft und Eloquenz ihre Ideen ein48
Naschold, 59 (Anm. 45).
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zubringen vermögen50. Aber die Mitarbeiter fühlen sich durch die Beteiligung am Zielsetzungsprozess einbezogen, was ihre Motivation erhöht, die Zielsetzung auch später mitzutragen. Die besser informierten Leitungsinstanzen haben die Chance, überzeugend von den langfristigen Impulsen der Gründergeneration für die karitative Arbeit zu sprechen. Führung und Leitung sowie Demokratisierungsprozesse schließen sich ebenso wenig wie im Staat in kirchlichen und karitativen Organisationen einander aus, wobei man unter Führung ganz allgemein die Chance versteht, dass eine Person auf andere Personen Einfluss nimmt. Leiten als formales Führen bedeutet heute in komplexen Großorganisationen vor allem Vermittlungs- und Koordinationsfunktionen. Motivationsaufgaben werden meist auf die mittlere Leitungsebene delegiert. Beteiligung der Mitarbeiter am Leitbildprozess und dessen jetziger Durchsetzung ist auch deshalb angebracht, weil die Leitung karitativer Organisationen "kaum alle Gesichtspunkte sinnvoller christlicher Wertorientierung berücksichtigen kann"51 • Es wäre empirisch zu prüfen, ob nicht an der Basis der Mitarbeiter, vor allem der ehrenamtlichen, mehr christliche Glaubens- und Wertsubstanz vorhanden ist als auf der mittleren Leitungsebene. d) Entscheidung zur Entscheidungsentlastung
Entscheidungsentlastung ist in Organisationen ein ganz normaler Vorgang. In wirtschaftlichen Unternehmen ist es üblich, dass ganze Betriebszweige verkauft, d. h. an die Umwelt zurückgegeben werden, um etwa andere Betriebsbereiche zu intensivieren. Auch der Staat gibt Aufgaben wie Bahn und Post, also Großunternehmen an die Umwelt zurück, weil es bei einer dynamischen Umwelt nicht mehr sinnvoll erscheint, sie in eigener Regie zu betreiben. Im Zusammenhang der kirchlichen Demokratisierungsdiskussion ist bereits vor zwei Jahrzehnten auf entscheidungstheoretischer Grundlage in Bezug auf kirchliche und karitative Organisationen angeregt worden: "Finden sich nicht genügend sachverständige und für eine legitime Zielsetzung zu motivierende Mitarbeiter, so stellt sich bei Personalknappheit für die Entscheidungsträger der Kirche die Frage, ob das eigene System sich nicht mitunter entlastet, wenn es Entscheidungen an die Umwelt zurückgibt. Eine Entscheidung zu einer derartigen Entscheidungsentlastung wird erleichtert, wenn die Umwelt die Aufgabe sinnadäquat weiterführen kann. " 52 Diese Anregung ist in der kirchlichen Öffentlichkeit und in der praktischen Theologie unbeachtet geblieben, insofern eigentlich kaum erwähnenswert. 50
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Büschges/Abraham 105 ff. (Anm. 43). Hermanns, Kirche als soziale Organisation, 145 (Anm. 38). Ebd., 149.
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Plötzlich ist alles anders, seit Pompey zu Beginn der Leitbilddiskussion folgende Sätze zur Trennung von karitativen Handlungsfeldern gesagt hat, ohne jedoch auf die kirchen- und organisationssoziologischen Überlegungen von 1979 zurückzugreifen: "Ebenso ist es denkbar - beim Fehlen von christlich motivierten und kirchlich engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern -, die bislang als spezifisch kirchlich-karitativ geführten Einrichtungen in eine allgemeine soziale Dienstleistungseinrichtung umzuwandeln, die die örtlichen Caritasverbände gemeinsam mit anderen Trägem der Freien und Öffentlichen Wohlfahrt, z. B. der städtischen Kommune oder einer Patienten- wie Angehörigenvereinigung, finanziell und organisatorisch tragen. Jeder, der will, kann in einer solchen Einrichtung arbeiten."53 . Pompey sprach nicht einmal vom Verkauf dieser karitativen Organisationen, was wirtschaftlich erwägenswert wäre, trotzdem war die Aufregung groß. Kritiker hielten dies jedoch für einen undurchführbaren Vorschlag und plädierten für die Beibehaltung auch solcher kirchlich-karitativen Organisationen, die zur Realisierung ihres Auftrags auf nicht kirchenzugehörige und kirchenbewusste Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angewiesen wären. Organisationssoziologisch kann aber ein solches Plädoyer für den Status quo und die Systemerhaltung ohne Reflexion und Überprüfung der Unternehmensziele und ihrer Realisierungschancen als konservativ bezeichnet werden. Mittel- und langfristig muss aber gerade das Sichversteifen auf das Ziel der Systemerhaltung den Ruin für jedes System nach sich ziehen. Es ist hier nicht der Raum zu diskutieren, wer rechtlich die Entscheidungen zum notwendigen Umbau des Caritasverbandes zu treffen hat; auch kann hier nicht erörtert werden, welche Organisationen im Einzelnen in den Fond einzubringen sind, der zur Entscheidungsentlastung herangezogen werden kann, aber hartnäckig an all dem festzuhalten, was einmal kirchenund caritaseigen war, widerspräche jeder wirtschaftlichen und pastoralen Vernunft. Zur "strategischen Kompetenz" der Leitungsinstanzen in sozialen Unternehmen gehört die Kompetenz in unternehmenspolitischen Wertfragen und "in der Festlegung von verläßlichen, normativen Zielvorgaben"54• Es ist selbstkritisch zu fragen, welche spezifischen Aufgaben der Deutsche Caritasverband heute gemäß seinem diakonischen und pastoralen Sendungsauftrag gegenüber der Bevölkerung, insbesondere der Not Leidenden, zu erfüllen hat, Aufgaben, die sonst in der Gesellschaft unterbleiben oder nicht in der hinreichenden Weise erfüllt würden. Nicht hinreichend würde auch bedeuten, wenn zwar materielle Not in der Gesellschaft wahrgenommen würde, aber nicht die geistig-seelische Not, die häufig mit materieller Not verbunden ist. Ein dynamischer Caritasverband entdeckt in einer sich Pompey, Das Profil der Caritas, 23 (Anm. 25). Alfred Jäger, Hard- und Soft-Management im sozialen Unternehmen. In: 8oskamp/Knapp, 35-73, insbesondere 55 (Anm. 1). 53
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schnell wandelnden Gesellschaft ständig neue Nöte, die zu bekämpfen sind. In seinem Entscheidungsprozess, an dem die Basis der Mitarbeiter ständig zu beteiligen ist, ist zu berücksichtigen, dass ein Teil seiner Mitarbeiter sich mit der Caritas nicht identifiziert, 6% lieber bei einer anderen Organisation tätig wären und 35% in dieser Frage unentschieden sind55 . Auch die 10% der Mitarbeiter, die sich einen Caritasverband ohne Bindung an die Kirche vorstellen und dies besser finden, können keine Corporate Identity aufbringen. Sie wie auch alle diejenigen, für die weder Caritas noch Kirche viel bedeuten, müssen die derzeitige Situation persönlich als belastend empfinden. Glaube und Liebe können nicht verordnet werden. Wer aber in einer Organisation arbeitet, in der das Handeln in Glaube und Liebe zur Zielthematik gehört, fühlt sich zu etwas verpflichtet, was er innerlich nicht bejahen und mittragen kann. Dieser Mensch gerät in eine innere Spannung, die er vielleicht dadurch zu lösen versucht, in der er seine Profession zum Job herabstuft Die Institution, in der er seine Tätigkeit mehr schlecht als recht ausübt, wird als Ärgernis empfunden. Diese Situation trägt nicht zur eigenen Lebensentfaltung bei. Sicher muss jede Organisation einige Mitglieder verkraften, die sich ihr nicht optimal verpflichtet wissen. Zu viele solcher Mitarbeiter bringen aber die Zielsetzung der gesamten Organisation in Gefahr und rauben ihr jede Dynamik. Das Dilemma hat noch eine weitere Seite, die in Harnburg gut zu beobachten ist. Die evangelische Stiftung Alsterdorf, früher Alsterdorfer Anstalten, hat in dieser Großstadt fast ein Monopol in der Wohnbetreuung geistig behinderter Menschen. Es finden sich aber in Harnburg nicht mehr so viele überzeugt evangelische Sozialarbeiter, dass die Betreuung dieser Behinderten tatsächlich aus christlich diakonischer Gesinnung heraus erfolgen kann. Dass der Arbeitgeber sich mit dem Taufschein begnügt, ist keine Lösung. Sie wird weder den Klienten noch dem Personal noch der Stiftung noch der evangelischen Kirche gerecht. Was einmal unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips auf Initiative der konfessionellen Wohlfahrtseinrichtungen zu Gunsten einer zuvor völlig unversorgten Klientel aufgebaut worden ist, wirkt sich in einer säkularisierten Umwelt als monopolistischer Hemmschuh für alle Seiten aus. Die Behinderten bleiben geistig-seelisch unterversorgt, die Sozialarbeiter klagen über die scheinbar unberechtigte Forderung der Zugehörigkeit zur Kirche, der Arbeitgeber, der inzwischen auch finanziell in Schwierigkeiten geraten ist, über zu wenig Engagement seiner Mitarbeiter und die evangelische Kirche Harnburg gewinnt durch das Riesenunternehmen nichts an Glaubwürdigkeit. Das Systemerhaltungsmodell blockiert sich selbst. Kirchen nebst ihren Wohlfahrtsverbänden degenerieren zu 55
Deutscher Caritasverband, Bd. 1 Köcher, Tabelle 18, 87 (Anm. 11).
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Joberhaltungsorganisationen für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen. Selbst in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit kann dies nicht ihre primäre Aufgabe sein. Die Kirche kann nicht selbst das Sozialstaatsprinzip realisieren, sondern den Politikern höchstens geeignete Wege zu ihrer Realisierung aufzeigen und modellhaft einige Beispiele der Solidarität verwirklichen und exemplarisch neue Not aufspüren. 5. Schlusserwägungen Die Kirchen beginnen die Gefahr zu erkennen, in die sie durch eine zu enge Bindung an den Staat geraten sind. Bischof Kar/ Lehmann beklagt: "Die freien Träger werden gegen ihre ursprüngliche Intention und gegen ihren Willen zum verlängerten Arm des Staates gemacht" und dabei "die Hilfsbeziehung übertrieben verrechtlicht und bürokratisiert". Bei dieser staatlichen Inanspruchnahme drohe die Diakonie "ihren ureigenen Wesenszug der Caritas" zu verlieren. "Die Kirche muß in einer solchen Situation die Chance behalten oder noch besser entwickeln, durch ,exemplarisches Wirken' vorbildlich zu sein." Lehmann lobt ausdrücklich die Selbstbeschränkung der Caritas in den neuen Bundesländern: Sie hat "sich im Blick auf die Einbeziehung in das staatliche Sozialsystem weitgehend klug und selbstkritisch begrenzt und sich zugleich vor den Gefahren gehütet, denen die Kirche im Westen durch Finanzierungsangebote des Staates und der Kommunen ausgesetzt ist". Er unterstreicht die "bleibende Bedeutung der Pfarrcaritas", die gerade in den Gemeinden der neuen Bundesländer noch lebendig ist56 . Der Sozialstaat ist eine Selbstverständlichkeit geworden. Die Wohlfahrtsverbände einschließlich dem Deutschen Caritasverband sind in das sozialstaatliche Hilfesystem fest eingefügt. Verbandliehe Caritas ist eine notwendige zeitbedingte Form karitatives Handeins geworden. Dieses wohlfahrtsstaatliche System hat auch seinen Preis, und nicht nur einen wirtschaftlichen. Der Bürger selbst fühlt sich nicht mehr verpflichtet zum Helfen und zum sozialen Engagement. Es gibt dafür ja die kompetenten Stellen im verbändestaatlichen Wohlfahrtsgefüge. Die sozialpolitische Hauptkompetenz des Staates wird im Materiell-Finanziellen auch bleiben. Wie aber steht es um die geistig-seelischen Nöte in unserer Gesellschaft? In vielen Fällen wird auch hier die professionelle Hilfe gefordert sein. Dennoch eröffnet sich hier in der Pflege der mitmenschlichen Beziehungen ein weites Feld diakonischer Arbeit in den christlichen Gemeinden, die in den letzten Jahrzehnten weithin das Bewusstsein für den diakonischen Auftrag 56 Karl Lehmann, Die soziale Verantwortung der Kirche. Vortrag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz am 3. Juli 1997 im Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz, in: Sozial Aktiv, 10/97, 8-12.
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verloren haben. Es geht um eine geschärfte soziale Mentalität in den Gemeinden, "um eine ,neue Bekehrung zur Diakonie', in der die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Menschen, die Hilfe nötig haben, zur Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Christen werden" 57 • Die Glaubwürdigkeit der Christen und damit auch ihrer Gemeinschaft als Kirche hängt von diesem praktischen Lebensvollzug ab. Ein Bewusstseinsdefizit ist aufzuholen. Die Zukunft der Kirche lebt davon, ob in den Gemeinden ein Klima der Liebe und der Solidarität besteht58 •
57 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Hannover/Bonn 1997, 99, Nr. 250; vgl. auch Kettem, 94 (Anm. 42). 58 Manfred Hermanns/Angela Stempin, Barmherzigkeit- unmodern? Eine Anfrage an die Gesellschaft zur schwindenden Dimension im Sozialstaat, in: Karl Hugo Breuer (Hrsg.), Jahrbuch für Jugendsozialarbeit Bd. XVII, Köln 1996, 161-179, hier 176.
Europäische Integration und die Zukunft der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland Von Josef Schmid I. Vorbemerkung
"Innerhalb Europas" - so stellen Stephan Leibfried und Paul Pierson 1 in ihrem jüngsten Überblick zur Sozialpolitik fest - "können weite Bereiche klassischer Innenpolitik nicht länger verstanden werden, wenn nicht die Rolle der EU (. .. ) anerkannt wird". Dies gilt im Grundsatz ebenfalls für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände, denn die EU ist für sie in mehrerlei Hinsicht handlungsrelevant - die EU bildet einen konstitutionellen Rahmen, der Akteure und Adressaten verhandlicher Politik prägt; - sie definiert - teils direkt, teils indirekt - für einzelne Politikfelder materielle Regelungen, Positionen und Ressourcen; - sie interveniert durch rechtliche Vorgaben in die Organisations- und Transaktionsformen der Verbände (betreibt also institutionelles Design). Diese Zusammenhänge kurz zu beschreiben ist die erste Aufgabe, die im Folgenden geleistet werden soll. Darüber hinaus soll die Bedeutung der zunehmenden europäischen Integration für die Wohlfahrtsverbände analytisch und politisch - genauer: mit Bezug auf die Eigenwahrnehmung der Wohlfahrtsverbände - bewertet werden. Abschließend wird versucht, die Dynamik der Europäisierung in den Kontext weiterer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zu stellen und in Form dreier Szenarien zu verdichten. Dabei gehe ich von der These aus, dass die Bedeutung der europäischen Integration für die mittelfristige Zukunft der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland eher begrenzt - freilich nicht unwichtig - bleibt, weil es sich a) hier zu Lande um eine deutsche Sonderentwicklung im Sozialund Fürsorgewesen handelt; weil b) der Nationalstaat immer noch den Kern der Wohlfahrtsproduktion ausmacht, und weil c) die betroffenen Verbände 1 Stephan Leibfried/Paul Pierson, Standort Europa. Sozialpolitik zwischen Nationalstaat und Europäischer Integration, Frankfurt a. M. 1998, 11 .
12 Gabriel (Hrsg.)
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politisch-strategisch eine erhebliche Zurückhaltung in Bezug auf eine stärkere Trans- und Supranationalisierung der Sozialpolitik an den Tag legen. II. Wohlfahrtsstaat Europa: Am Beginn einer neuen Ära in der Sozialpolitik und der verbandliehen Interessenvermittlung? Nachdem über lange Zeit hinweg die "soziale Dimension" und die Wohlfahrtsstaatlichkeit der EU (bzw. früher der EG) als unterentwickelt und unvollständig bewertet wurden, sind in den letzten Jahren allerdings einige wichtige Veränderungen eingetreten. So ist etwa im Gefolge der Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997), aber auch durch das Weißbuch Sozialpolitik der Kommission (1994) der Weg in Richtung auf eine politische Union verstärkt beschritten worden? Dabei sind nicht nur die sozialpolitischen Kompetenzen der EU ausgeweitet worden, sondern es ist zugleich ein komplexes Mehrebenensystem mit einem Trend zur Souveränitäts- und Politikverflechtung entstanden. Diese allgemeine verfassungspolitische Integrationsdynamik hat wiederum Rückwirkungen auf die Akteurstrukturen und die materiellen Inhalte in diesem speziellen Politikfeld. "Wenn nicht alle Zeichen trügen, so entwächst die Sozialpolitik auf europäischer Ebene langsam aber stetig im Zuge der kontinuierlichen Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration dem Schattendasein, in dem sie durch die engen Bestimmungen der Römischen Verträge und infolge vorherrschender Interessen und Meinungen über lange Zeit verharrte. ( ... ) Auch haben sich alle politischen Akteure: Regierungen, Regionen, Sozialpartner, Wohlfahrtsverbände, Institutionen und Verbände aller Art längst in der Europäischen Union so etabliert, daß sie stets in der Lage sind, kräftig und interessenwahrend auf allen Feldern der europäischen Sozialpolitik mitzuwirken"? 2 Die Sozialpolitik der EU konzentriert sich traditionell auf folgende Regelungsbereiche: die Absicherung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im gemeinsamen (Arbeits-) Markt und der Arbeitsschutz; die Gleichstellung von Mann und Frau im Erwerbsleben; die Bekämpfung von Armut sowie neuerdings auf Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigung. Als eigenständige Instrumente der EG fungieren darüber hinaus der Europäische Sozialfonds und der Europäische Fonds für regionale Entwicklung. 3 Otto Dibelius, Europäische Sozialpolitik im Wandel, in: Wemer Fricke (Hrsg.), Jahrbuch Arbeit und Technik 1995, Bonn 1995, 245-255, hier 245; s. a. Bemd Schulte, Europäisches Gemeinschaftsrecht und freie Wohlfahrtsverbände, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 6 (1992), 191232; Schulte, Europäische Sozialpolitik und die Zukunft des Sozialstaats in Europa, Arbeitspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung, Gespächskreis Arbeit und Soziales, Bonn 1992 sowie Christian Roth, Stellenwert und Funktion von Sozialpolitik im Integrationsprozeß der Europäischen Union. Bestimmungsfaktoren eines Politikfeldes auf supranationaler Ebene (unveröffentlichte Magisterarbeit), Tübingen 1995. Gleichwohl gilt die Sozialpolitik weiterhin als eine Domäne der Mitgliedsstaaten, denn die
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Wie im gesamten Bereich der verbandliehen Interessenvermittlung auf europäischer Ebene kommt es auch bei den Wohlfahrtsverbänden zu entsprechenden Koevolutionsprozessen und Strukturbildungen; d. h. es kommt zu der Errichtung von Dependancen und der Bildung von transnationalen Organisationen und Dachverbänden in Brüssel. Vor allem seit Beginn der 90er Jahre haben alle deutschen Wohlfahrtsverbände ein EU-Verbindungsbüro aufgebaut, ebenso die BAGFW als Kuppelorganisation der freien Wohlfahrtspflege. 4 Allerdings sind die Ressourcen, die dafür aufgewendet werden - nämlich Personal, Finanzen und Aufmerksamkeit - vergleichsweise bescheiden. Darüber hinaus sind die deutschen Wohlfahrtsverbände meist Mitglied in einem Verbund von Schwesterorganisationen oder Partner in einem der verschiedenen europäischen Politiknetzwerke, die teilweise von der Kommission initiiert wurden und deren Mitglieder von ihr definierten Kriterien genügen müssen. 5 Das Spektrum an Organisationen ist äußerst vielfaltig und umfasst vor allem - Vertretungen von nationalen Verbänden derselben "Familie" (wie Eurodiaconia, Caritas Europa, Europäisches Rotes Kreuz, Solidar)6 , - gemeinsame Repräsentanzen der Verbände eines Mitgliedsstaates (etwa das Brüsseler Büro der BAGFW), - Zusammenschlüsse aller Wohlfahrtsverbände der Mitgliedstaaten wie die ETWelfare (European Round Table of charitable social welfare Associations), in den Artikeln 117-128 des EWG-Vertrages festgelegten sozialpolitischen Kompetenzen weisen der EU- Administration im wesentlichen die Aufgabe zu, ,.durch Untersuchungen, Stellungnahmen und die Vorbereitung von Beratungen" (Art. 118, Abs. 2) tätig zu werden. Auch in den Maastrichter Verträgen sind hierzu wenig substantielle Ausführungen enthalten; die Vorschläge zur Stärkung der Gemeinschaftskompetenz im sozialpolitischen Bereich sind bekanntlich wegen des Widerstandes von Großbritannien nur als Protokollerklärung der restlichen elf Mitgliedsstaaten verankert, vgl. Bulletin (= Bulletin der Bundesregierung H. 16) 1992, Vertrag über die Europäische Union, Bonn 1992, 128, 175 ff. "Dies bedeutet bis auf weiteres, daß jede auf diese Vereinbarung gestützte ,neue' Europäische Sozialpolitik nur beschränkte Geltung haben kann", in: Schulte, Gemeinschaftsrecht, 207 (Anm. 3). Damit reduzieren sich auch die Folgen für die Wohlfahrtsverbände. Allerdings handelt es sich hierbei um ein dynamisches Feld (s. u.). 4 Die Einrichtung des BAGFW besteht seit I 990, bei den Spitzenverbänden ergibt sich folgendes Bild: DRK 1983, DPWV I 990, DCV I 990, DW 1992 und AWO 1993, vgl. Josef Schmid, Der Wohlfahrtsstaat Europa und die deutschen Wohlfahrtsverbände, in: Volker Eichener/Helmut Voelzkow (Hrsg.), Europäische Integration und verbandliehe lnteressenvermittlung, Marburg 1994, 453-483. 5 Vgl. Frank Loges, Entwicklungstendenzen Freier Wohlfahrtspflege im Hinblick auf die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, Freiburg 1994, 497. 6 Solidar ist die europäische Organisation der Arbeiterwohlfahrt, dem neben der deutschen AWO auch z. B. der ASB angehört, der in Deutschland dem DPWV angeschlossen ist. 12'
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- transnationale Politiknetzwerke mit genereller sozialpolitischer Interessenvertretung wie ESAN (European Social Action Network) bzw. auf ein EU-Handlungsfeld spezialisiert wie EAPN (European Anti Poverty Network) in der Armutspolitik, - allgemeine Zusammenschlüsse von gemeinnützigen Vereinen und Verbänden wie vor allem CEDAG (Comite Europeen des Associations d'Interet Generale), - Organisationen wie ECAS (Euro Citizen Action Service), die Vereinen und Verbänden Dienstleistungen (Beratung, Lobby etc.) anbieten. 7 Eine systematische Sonderrolle der kirchlichen Wohlfahrtsverbände etwa im Hinblick auf das Timing, die Ressourcenausstattung und die transnationale Kooperationsintensität - ist dabei nicht auszumachen; möglicherweise heben sich die Organisationsvorteile, die aus der europaweit agierenden kirchlichen Parallelstruktur erwachsen könnten, durch die Vielgestaltigkeit der religiösen Topographie Westeuropas wieder auf. 8 Im Übrigen sind die etablierten Steuerungsrelationen zwischen den verfassten Kirchen und den Wohlfahrtsverbänden nicht hierarchischer Natur und zumindest im Falle der beiden deutschen Großkirchen von erheblichen Unterschieden geprägt. 9 Die Rolle der Verbände im Sozial- und Wohlfahrtswesen wird dabei seitens der europäischen Institutionen (Rat, Kommission und Parlament) durchaus als positiv bewertet. Von besonderer Bedeutung - namentlich für die deutschen Organisationen - ist in diesem Zusammenhang die Erklärung 23 über die Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden in der Schluss7 Vgl. hierzu Dirk Jarre Vereine und Verbände im "Neuen Europa", in: Nachrichten des Vereins für öffentliche und private Fürsorge 70 (1990), 31 0-316; Rudolph Bauer (Hrsg.), Sozialpolitik in deutscher und europäischer Sicht. Rolle und Zukunft der Freien Wohlfahrtspflege zwischen EG-Binnenmarkt und Beitrittsländern, Weinheim 1992; Bauer (Hrsg.), Intermediäre Nonprofit-Organisationen in einem Neuen Europa. Studien zur Vergleichenden Sozialpädagogik und Internationalen Sozialarbeit, Bd. 7, Rheinfelden/Berlin 1993; Luc Trouillard, Neues Europäisches Caritassekretariat, in: Caritas 93, 67-68; Schmid (Anm. 4); Silke Baumann, Die Freie Wohlfahrtspflege unter dem Einfluß der Europäischen Integration (unveröffentlichte Diplomarbeit), Konstanz 1998. 8 Vgl. dazu Michael Ebertz, Neu-Evangelisierung Europas? Religionspolitische und religionssoziologische Thesen, in: Pastoraltheologische Informationen 13 (1993), 67-74. Am Beispiel der europäischen Asylpolitik hat Frederike Tölle versucht, die unterschiedlichen Einflüsse der nationalen Mitgliedschaft, des politischen Einflusses des EU-Systems und der transnationalen "Cian"-Zugehörigkeit genauer auszuloten, in: Tölle, NGOs im Politikfeld Europäische Asylpolitik - Strategien europäischer Interessenvermittlung (unveröffentlichte Diplomarbeit), Konstanz 1996. 9 Vgl. dazu Benhold Broll, Steuerung kirchlicher Wohlfahrtspflege durch die verfaßten Kirchen, Dissertation an der Fakultät für Verwaltungswissenschaften (unveröffentlichtes Manuskript), Konstanz 1997.
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akte des EU-Vertrages von Maastricht, wobei hier nicht zuletzt der Druck der Bundesregierung zum Tragen kam. Dort heißt es: "Die Konferenz betont, daß zur Erreichung der in Artikel 117 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft genannten Ziele eine Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft mit den Verbänden der Wohlfahrtspflege und den Stiftungen als Träger sozialer Einrichtungen und Dienste von großer Bedeutung ist."
Diese Formel schafft eine wichtige Legitimationsgrundlage für die Wohlfahrtsverbände, 10 auf deren Basis die politischen Interaktionen zwischen
der EU-Administration und den Verbänden von einem eher punktuellen auf einen stärker kontinuierlichen und umfassenden Modus umgestellt worden sind. Die Kommission stellt dementsprechend fest, dass es "auf europäischer Ebene ein hohes Maß an politischem Engagement für den Aufbau einer systematischen Konsultation mit dem gemeinnützigen Sektor sowohl bei der Konzeption als auch bei der Umsetzung politischer Maßnahmen (gibt); dies steht im Einklang mit seiner immer bedeutenderen Rolle in den Mitgliedstaaten, vor allem in der Sozialpolitik." 11 Im Anschluss an die Maastrichter Erklärung 23 fanden eine Reihe von Entwicklungen statt, so
- die Veranstaltung des ersten europäischen Forums für Sozialpolitik im März 1996, die am Vorabend des Beginns der Regierungskonferenz über 1000 Teilnehmer, vor allem von Nichtregierungsorganisationen, zusammen brachte. "Hier wurde eine neue politische Zielsetzung formuliert: der allmähliche Aufbau eines wirklichen Dialogs mit dem Bürger auf europäischer Ebene parallel zum politischen Dialog mit den nationalen Behörden und zum sozialen Dialog mit den Sozialpartnern." 12 Das Forum soll alle zwei Jahre stattfinden.
10 Diese Erklärung verdient für Baumann insofern besondere Beachtung, "als daß es keine entsprechenden Erklärungen zur Zusammenarbeit mit anderen Verbänden gibt und der Vertrag von Maastricht auch ansonsten keine Bestimmungen zu einer wie auch immer gearteten institutionellen Einbindung von Interessenverbänden enthält, in: Baumann, 57 (Anm. 7). Die Bedeutung dieser Erklärung wird von den Vertretern der Wohlfahrtsverbände vor allem darin gesehen, daß sie dadurch als Phänomen, das in den meisten europäischen Ländern gar nicht in der Form existiert, in der EU Anerkennung gefunden haben und daß der Begriff Wohlfahrtsverbände in die Rechtssprache der EU Eingang gefunden hat." 11 KOM (97) 242: Ziff. 9.7. Ähnliche Dialoge führt die Kommission im übrigen in anderen Bereichen, wie zum Beispiel mit den in der Entwicklung tätigen NROs; hier belaufen sich die jährlichen Fördermittel auf 800 Mio ECU (Korn (97) 242: Ziff. 9.9). Zum Vergleich: der jährliche Umsatz der deutschen Wohlfahrtsverbände wird auf 70-80 Mrd. DM geschätzt. 12 KOM (97) 242: Ziff. 9.7.
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- Ferner ist im Jahr 1995 eine Plattform für europäische, in der Sozialpolitik tätige Nichtregierungsorganisationen (NROs) geschaffen worden, bei der eine große Zahl von Einrichtungen vertreten sind, die bei der Vorbereitung des europäischen Forums für Sozialpolitik helfen und den Aufbau eines Dialogs mit dem Bürger erleichtern soll; ebenso ist ein "Comite des Sages" zur Erstellung eines Berichts über grundlegende soziale Rechte eingerichtet worden. 13 - Schließlich ist 1997 die neue Haushaltslinie B3-4101 zur Förderung der Zusammenarbeit mit den NROs und Wohlfahrtsverbänden und zur Verbesserung der Fähigkeit dieser Organisationen, den Dialog mit dem Bürger auf europäischer Ebene zu führen, etabliert worden. 14 Unter politiktheoretischer Perspektive sind an der hier skizzierten Integrationsentwicklung der EU vor allem drei grundlegende Aspekte hervorzuheben: 1. Die EU ist ein "dynamisches Mehrebenensystem" par excellence, das
neue institutionelle Arrangements hervorbringt und die nationalstaatliche Bindung der Sozialpolitik transzendiert. Ohne Bezug auf die EU lassen sich viele Maßnahmen nicht mehr ausreichend verstehen; allerdings handelt es sich bei der Europäischen Sozialpolitik um einen pluralen Prozess mit eigentümlichen Unübersichtlichkeiten. 15 Diese veränderten politischen Umweltbedingungen schaffen eine Reihe von neuen Möglichkeiten, Problemen und Zwängen für die Wohlfahrtsverbände.
13 Dieser Bericht, der für ein Europa der bürgerlichen und sozialen Rechte eintrat, löste auch eine europaweite Debatte im Rahmen einer Reihe von Seminaren auf nationaler Ebene aus, an denen insbesondere der gemeinnützige Sektor und die Sozialpartner beteiligt waren (vgl. ebd.). 14 Der entstehende Dialog mit dem Bürger hat aus der Sicht der EU-Administration zwei Hauptziele: Er soll zum einen sicherstellen, dass die Meinungen und ersten Erfahrungen des gemeinnützigen Sektors von den politischen Entscheidungsträgem auf europäischer Ebene berücksichtigt werden, so dass politische Maßnahmen besser auf wirkliche Bedürfnisse zugeschnitten werden können. Er soll zum anderen Informationen von der europäischen Ebene bis hinunter zur lokalen Ebene verbreiten, so dass sich die Bürger der Entwicklungen bewusst werden, sich am Aufbau Europas beteiligt fühlen können und die Relevanz für ihre eigene Situation sehen; dadurch wird mehr Transparenz geschaffen und die Unionsbürgerschaft gefördert. Die Kommission berichtet, dass sie den Organisationen eine breite Palette von Förderprogrammen zugänglich gemacht hat. Dazu gehören der Strukturfonds, die Programme PHARE und TACIS für Ost- und Mitteleuropa, das Programm Leonardo da Vinci, die Erklärung 23 und die neuen Haushaltslinien ,"Drittes System' und Beschäftigung" und "KMU und Sozialwirtschaft", das Programm für den Europäischen Freiwil!igendienst, das den grenzüberschreitenden Freiwilligendienst fördert, der Europäische Entwicklungsfonds für Zusammenarbeit und Entwicklung von LOMELändem sowie besondere Haushaltslinien für externe Politikbereiche, insbesondere die Zusammenarbeit mit den ALAMED-Ländem, um nur einige Beispiele zu nennen (KOM (97) 242: Ziff. 9.9).
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2. Das ausdifferenzierte Universum an Wohlfahrtsverbänden und ähnlichen Organisationen in der EU deutet darauf hin, dass die Muster der politischen Interessenvermittlung auf europäischer Ebene sich eher durch Pluralismus als durch Korparatismus auszeichnen, und dass sie sich damit zumindest im deutschen Fall erheblich von der nationalen Ebene unterscheiden. 16 Ähnliches gilt auch in horizontaler, d. h. vergleichender Perspektive, wo eine bemerkenswerte Sonderentwicklung des deutschen Wohlfahrtsstaates und der Wohlfahrtsverbände sichtbar wird. 17 3. Die Ausrichtung der Verbandsstrukturen auf die "political target structure'"8 verläuft dabei nicht nur naturwüchsig von unten nach oben (wie es die ältere Pluralismustheorie nahe legen würde), sondern ist gleichzeitig stark durch Interventionen und Prozessmanagement der Kommission und der zuständigen Generaldirektionen geprägt. So wurde beispielsweise im Rahmen des EU-Programms zur Armutsbekämpfung ein entsprechendes Netzwerk vorwiegend durch der Administration nahe stehende Sachverständige, die als politische Unternehmer agierten, und durch entsprechende Finanzhilfe organisiert. 19 Betrachtet man die politisch-praktischen Zusammenhänge dieser Entwicklung, so stößt sie besonders auf Seiten der deutschen Wohlfahrtsverbände auf wenig Gegenliebe. So urteilt etwa der Leiter des Brüsseler Büros der BAGFW: "Die augenblickliche Verbände-Politik der Kommission liegt klar zu Tage. Sie schafft sich ihre eigene Lobby; sie gliedert in Form europäischer Verbindungsausschüsse, in der alle Mitgliedstaaten vertreten sein sollen, Teile ihrer Verwaltung aus, um auf solche Weise - ganz ihrem eigenen Organisationsschema verhaftet verbandliehe Bezogenheit vorzutäuschen". Und: "Verbändegruppen, die an einzel15 Vgl. ausführlich Leibfried/Pierson (Anm. I); Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996; Thomas König/Elmar Rieger/Hermann Schmidt, Das europäische Mehrebenensystem, Frankfurt 1996. 16 So die generelle These von Wolfgang Streeck/Philippe Schmitter, From National Corporatism to Transnational Pluralism, in: Eichener, Volker/Voelzkow, Helmut (Hrsg.), Europäische Integration und verbandliehe lnteressenvermittlung, Marburg 1994, 181-215. 17 Schmid, Wohlfahrtsverbände in modernen Wohlfahrtsstaaten. Soziale Dienste in historisch-vergleichender Perspektive, Opladen 1996. 18 Gabriet Almond, A comparative study of interest groups and the political process, in: Harry Eckstein/David E. Apter (Hrsg.), Comparative politics, New York 1963, 397-408. 19 /ngrid Breckner, Europäische Modellvorhaben zur Armutsbekämpfung, in: Schmals, Klaus M./Heinelt, Hubert (Hrsg.), Zivile Gesellschaft, Opladen 1997, 271290; s. a. Schmid (Anm. 17); zur theoretischen Bedeutung des Problems an einem anderen Fall vgl. Eichener/Schmid, Die Gründung eines Interessenverbandes als Instrument staatlicher Industriepolitik, in: Eichener u. a. (Hrsg.), Organisierte Interessen in Ostdeutschland, Marburg 1992, 225-247.
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staatliche Traditionen anknüpfen und immerhin eine Art einzelstaatlicher Repräsentanz beanspruchen können, passen weniger in das Schema der Kommission"20.
Dabei ist allerdings zu bedenken, dass dieses Urteil nicht zuletzt dem deutschen Kontext geschuldet ist, denn in anderen Ländern ist es den Wohlfahrtsverbänden und ähnlichen Einrichtungen nicht gelungen, ,jene organisatorische und institutionelle , Verdichtung' .. .. (zu) erreichen, welche das Spezifikum der ,großen' Verbände in der Bundesrepublik Deutschland ist" 21 • Etwas vereinfacht und zugespitzt betrachtet tendieren die starken Wohlfahrtsverbände (wie sie sich vor allem in Deutschland entwickelt haben) dazu, primär ihre nationale Vorrangstellung zu sichern, die sie durch Maßnahmen der EU gefährdet sehen. Für die schwachen Verbände in den meisten anderen Ländern hingegen handelt es sich dabei vielfach um einen beachtlichen Ausbau ihrer bisherigen Positionen und Potenziale; hier zeigt sich zumindest nicht nur "Skepsis", sondern auch "Enthusiasmus"- wie die Dokumentation einer europäischen Konsultation festhält 22 Dieser Sachverhalt legt es den "befestigten", wie man es in Anlehnung an den Gewerkschaftsforscher Götz Briefs formulieren könnte, deutschen Wohlfahrtsverbänden nahe, weniger über "gemeinsame" europäische Verbände als über die nationale Regierung, die ja ebenfalls via Ministerrat ein zentraler europapolitischer Akteur darstellt, ihren Einfluss wahrzunehmen, um den Status quo möglichst weit aufrecht zu erhalten.23 20 Bernd-Otto Kuper, Wohlfahrtsverbände und Europäische Gemeinschaft. Konfliktlinien und Perspektiven, in: Bauer (Hrsg.), Sozialpolitik in deutscher und europäischer Sicht, Weinheim 1992, 50-64, hier 57. 21 Schulte, Das Verhältnis zwischen öffentlichen und freien Trägem in internationaler Perspektive, in: Johannes Münder/Dieter Kreft (Hrsg.), Subsidiarität heute, Münster 1990, 44-60, hier 50 sowie Schmid (Anm. 17). 22 Vgl. Diakonie Korrespondenz, Das Konzept einer Sozialwirtschaft im europäischen Raum Nr. 2, Stuttgart 1993, hier 11. 23 Aus der begrenzten Bedeutung der EU für die Wohlfahrtsverbände resultiert zugleich nur ein relativ geringer Druck zu europäischen Aktivitäten und Strukturbildungen. Zwar wächst in jüngster Zeit das Problembewusstsein, doch ist Schulte zuzustimmen, wenn er konstatiert: "In keinem Mitgliedstaat scheint es eine konsistente Wahrnehmung der künftig auftretenden Probleme oder gar eine Strategie im Hinblick darauf zu geben, wie sich soziale Einrichtungen und Organisationen im Hinblick auf die Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes verhalten sollen", in: Schulte, Gemeinschaftsrecht, 231 (Anm. 3). Die "Zurückhaltung" (Kuper) der deutschen Wohlfahrtsverbände gegenüber der EU ist allerdings durch eine von der Bank für Sozialwirtschaft - ihrer "Hausbank" - in Auftrag gegebene Studie beende! worden. Dieser 1991 publizierten Untersuchung kommt eine Verstärkung und Beschleunigung der Meinungs- und Konsensbildungsprozesse innerhalb und zwischen den Verbänden zu: "Der motivationale ,Steuerungseffekt' dieser (Berater-)Gutachten ist zumindest nicht geringer einzuschätzen als ihr wissenschaftlicher Wert", in: Bauer, 168 (Anm. 20).
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,.Gerade weil mit der EU eine Entscheidungsebene hinzukommt, auf der die Wohlfahrtsverbände nicht über Einflußmöglichkeiten verfügen, die denen auf nationaler Ebene vergleichbar wären, wird die Bundesregierung in ihrer Bedeutung als target structure für die Wohlfahrtsverbände in Deutschland sogar gestärkt. Diese Beobachtung entspricht auch der Aussage Moravcsiks, der seine These von der Stärkung der nationalen Exekutive gegenüber anderen innerstaatlichen Akteuren durch die Europäische Integration mit Hilfe von Putnams twolevel-game erklärt. Die Exekutive auf nationaler Ebene versucht demnach, Koalitionen mit gesellschaftlichen Akteuren einzugehen, um ihre Machtbasis auszubauen"?4
Dieses "Spiel mit Banden" in einem komplexen Mehrebenensystem führt freilich nicht selten zu Interpretationsproblemen wie etwa im folgenden Beispiel: Im Zuge der Debatten um die Armutspolitik der EU hat die Bundesregierung sich für eine nur ergänzende Funktion dieser Programme und eine entsprechend geringe finanzielle Ausstattung stark gemacht. Dies ist von manchen Beobachtern als restriktiver Kurs in der Armuts- und Sozialpolitik gesehen worden; derselbe Sachverhalt kann aber andererseits ebenfalls als Strategie gewertet werden, den deutschen Wohlfahrtsverbänden so wenig wie möglich europäische Konkurrenz zuzumuten, um den Status quo zu erhalten. Qui sais?25
111. Exkurs zum Vergleich der verbandliehen Wohlfahrtspflege: Differenzen und Konvergenzen in Europa Die Reaktionsmuster der deutschen Wohlfahrtsverbände auf die Integrationsdynamik der EU im Allgemeinen und die der Europäischen Sozialpolitik im Besonderen basieren - so die oben formulierte These - auf den besonderen Strukturen der deutschen Verbändelandschaft und ihrer engen Beziehungen zum Staat, die nicht zuletzt im Bereich der kirchlichen Wohlfahrtspflege durch kirchen- und sozialrechtliche Vorgaben reguliert sind, wobei dem Subsidiaritätsprinzip eine besonders wichtige Rolle zukommt. 24 Baumann, 56 (Anm. 7), vgl. auch Andrew Moravcsik, Preferences and Power in the European Community. A Liberal Intergovernmentalist Approach, in: Journal of Common Market Sturlies 31 (1993), 473-524. 25 Parallele unerwartete Rochaden treten ebenfalls in der EU-Umweltpolitik auf; vgl. dazu Adrienne Heritier, Innovationsmechanismen europäischer Politik, in: Dorothea Jansen/Klaus Schuber! (Hrsg.), Netzwerke und Politikproduktion, Marburg 1995, 205-221. Die stärkere Berücksichtigung der Armutsthematik tangiert nicht nur die politikfeldspezifischen Beziehungen zwischen den Wohlfahrtsverbänden einerseits und dem Sozialstaat Europa und dessen Entwicklungspotenzialen andererseits, sondern wirft zugleich die Frage nach der Kompatibilität nationaler wohlfahrtsstaatlicher Regime auf. In einer solchen Perspektive treten die unterschiedlichen nationalen Entwicklungspfade wiederum deutlich zutage - und erweisen sich als eine der elementaren europäischen Integrationsbarrieren.
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Es gewährt den sogenannten freien Trägern eine Vorrangstellung und entzieht damit weite Teile der sozialen Dienste der unmittelbaren staatlichen Organisation. 26 Hieraus resultiert wiederum der starke Zwang zur Kooperation und die enge Einbindung in die staatliche Politik, was ebenfalls als Neokorporatismus interpretiert worden ist. 27 Es sind insbesondere diese politischen Merkmale, die den deutschen Sonderweg ausmachen. Wenn man jedoch einen Wechsel der Perspektive vornimmt und nur die Leistungen der Verbände zu Grunde legt, dann verändert sich diese Einschätzung erheblich. 28 Daher ist es sinnvoll nach beiden Dimensionen zu vergleichen. Allerdings ist hier die Datenlage prekär und die Ergebnisse sind mit einiger Skepsis zu bewerten und zu vergleichen; vielfach handelt es sich dabei um bloße Schätzwerte aus der vorhandenen Literatur. Das nebenstehende Schaubild gibt eine erste Antwort auf die Frage: Wo gibt es große Wohlfahrtsverbände (analog zum deutschem Modell) bzw. wo sind sie die dominante Trägerform und politisch eng inkorporiert? Betrachtet man die sich abzeichnenden Verteilungen (in den Randbereichen der Grafik) so lassen sich vier unterschiedliche Konfigurationen identifizieren: 1. In Deutschland verfügt die in sechs Spitzenverbänden zusammengefasste freie Wohlfahrtspflege über rund zwei Drittel der Dienstleistungskapazitäten, sie sehen sich auf Grund dieser starken, auch sozialrechtlich abgesicherten Stellung neben Kapital und Arbeit als "dritten Sozialpartner" an. Claus Offe hat solchen korporatistisch integrierten Verbänden einen öffentlichen Status zugesprochen. 29 In den Niederlanden nehmen die Organisationen der sogenannten "Particulier Initiatief' 26 Vgl. etwa die Beiträge in Münder/Kreft (Hrsg.), Subsidiarität heute, Münster 1990. Interessanterweise spielt auch im Rahmen der EU-Debatten das Subsidiaritätsprinzip eine zunehmend wichtige Rolle, freilich wird es sehr unterschiedlich interpretiert (vgl. dazu etwa Roth, Bedeutung und Wirkung des Subsidiaritätsprinzips in der politischen Praxis, in: Integration Nr. 1 (1995), 54-59). 27 Klassisch Rolf Heinze/Thomas Olk, Die Wohlfahrtsverbände im System sozialer Dienstleistungsproduktion. Zur Entstehung und Struktur der bundesrepublikanischen Verbändewohlfahrt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33 (1981), 94-114; kritisch dazu Schmid, Wohlfahrtsverbände und Neokorporalismus - kritische Anmerkungen zur Übertragung einer Theorie, in: Medizin, Mensch, Gesellschaft 12 (1987), 119-123. 28 Vgl. ausführlicher zu den theoretischen und methodischen Implikationen Schmid (Anm. 17). 29 Claus Offe, The Attribution of Public Status to Interest Groups, in: Suzanne Berger (Hrsg.), Organizing Interests in Western Europe, Cambridge 1981, 123-158. Organisationsstrukturell gesehen kumulieren bei den Wohlfahrtsverbänden die zentralisierenden Effekte, weil einerseits mächtige Dachverbände das breite Feld der ihnen nahestehenden Organisationen erfolgreich inkorporiert haben und weil andererseits die rechtlichen und politischen Kontaktregelungen zwischen Staat und Ver-
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Stellung der Wohlfahrtsverbände im internationalen Vergleich (ca. 1980)30 Verbandlieb dominiert Niederlande (Belgien) Deutschland
Staatlich dominiert Schweden Dänemark
Frankreich (Irland)
(Österreich) Norwegen
. ....................... ..
Großbritannien Italien Israel/Kanada Schweiz USA
(Spanien) (Griechenland) (Portugal)
eine ähnlich starke Position im System der sozialen Dienste wie ihre deutschen Pendants ein. Auf Grund der etwas anders gelagerten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sind sie jedoch weitaus dezentralisierter, spezialisierter und zahlreicher als die sechs Spitzenverbände in Deutschland?' Ähnliches gilt für den Fall Belgien?2 2. Frankreich und Irland bilden das europäische Mittelfeld; in Irland spielen die Kirche und andere freiwillige Organisationen eine traditionell und besonders lokal wichtige Rolle - allerdings im Rahmen insgesamt unterentwickelter sozialer Dienste. In Frankreich existieren ebenfalls im Bereich der sozialen Dienstleistungsproduktion zahlreiche privat-rechtlich organisierte Assoziationen, die durchaus einen erheblichen Anteil im Sozial- und Gesundheitswesen ausmachen. Sie sind jedoch stärker unter staatlicher Kontrolle, hochgradig und primär in fachlicher Hinsicht ausdifferenziert sowie mit gewissen syndikalistischen Traditionselementen versehen. bänden solche Repräsentationsmonopole fördern. Daher existieren z. B. außerhalb der Caritas keine nennenswerten katholischen Sozialleistungsverbände. 30 Die Fälle sind vertikal nach der Sozialleistungsquote geordnet; Angaben in Klammer weisen auf erhebliche Informationslücken hin. 31 Hans Nokielski, Organisationswandel sozialer Arbeit in den Niederlanden (unveröffentlichte Habilitationsschrift), Essen 1998. 32 Diese besondere Entwicklung läßt sich im Anschluß an Stein Rokkan auf eine starke Ausprägung des Staat-Kirche-Konfliktes und der daraus resultierenden Organisationsbildung der Wohlfahrtsverbände und christlichen Parteien zurückführen, vgl. dazu Schmid (Anm. 17).
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3. Großbritannien, Norwegen, Schweden und Dänemark bilden eine dritte Ländergruppe. Hier spielen umfassende verbandliehe soziale Dienstleistungssysteme nur eine unbedeutende Rolle - wenn man einmal von eng begrenzten fachlichen Bereichen und lokalen Aktivitäten absieht, die im Übrigen in Norwegen am stärksten ausfallen. Verbände im Sozialbereich konzentrieren sich dort vor allem auf ihre Rolle als Lobby-, Spenden-, Akquisitions- und Beratungsagenturen. Die sozialpolitische Interessenvermittlung und die Steuerung der staatlichen sozialen Dienste verläuft im Wesentlichen über die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften (v. a. denen des öffentlichen Dienstes). Allerdings spielen in den skandinavischen Ländern die NROs im Bereich der internationalen Entwicklungs- und Katastrophenhilfe eine sehr viel wichtigere Rolle. 4. In den südeuropäischen Ländern (Spanien, Portugal, Italien und Griechenland) als vierter Fallgruppe existieren ebenfalls nur marginale verbandliehe Wohlfahrtseinrichtungen sowie in begrenztem Umfang traditionelle kirchliche Caritasarbeit Hier dominieren noch familiale und nachbarschaftliche, informelle Netzwerke. Dies hängt nicht zuletzt mit dem geringeren Niveau an sozialer und ökonomischer Entwicklung zusammen, die diese Länder in historischer Perspektive geprägt hat. Ferner sind in mehreren dieser Länder z. T. bis in die siebziger Jahre hinein die demokratischen Rechte wie die Assoziationsfreiheit eingeschränkt gewesen?3 Neben diesem Blick auf die politischen Unterschiede in der europäischen Wohlfahrtsverbändelandschaft lassen sich ebenfalls wichtige Gemeinsamkeiten und Konvergenzen identifizieren. Im Rahmen des von Lester Salamon/ Helmut Anheier geleiteten Johns Hopkins Projekts34 wird beispielsweise von strukturellen Leistungsgrenzen der Sozialleistungssysteme Markt und Staat sowie von komparativen Vorteilen des Dritten Sektors und seiner Nonprofit-Organisationen ausgegangen? 5 Nimmt man etwa den Anteil der Betriebsaufwendungen von Organisationen ohne Erwerbszweck am jeweiligen Bruttosozialprodukt, so ergeben sich beachtliche Werte von durchschnittlich über 3 Prozent in mehreren westeuropäischen Ländern. 36
Vgl. insgesamt dazu Schmid (Anm. 17); s. a. Schulte (Anm. 21 ). Lester M. Salamon/Helmut K Anheier, The Ernerging Sector. The Nonprofit Sector in Comparative Perspective, Baitimare 1994. 35 Vgl. als Überblick Annette Zimmer (Hrsg.), Vereine heute - zwischen Tradition und Innovation. Ein Beitrag zur Dritten-Sektor-Forschung, Basel/Boston/Berlin 1992 und Walter Powell (Hrsg.), The Nonprofit Sector. A Research Handbook, New Haven/London 1987. 36 Daten nach Salamon/Anheier (Anm. 34) und KOM (97) 241. 33 34
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Anteil der Betriebsaufwendungen von Organisationen ohne Erwerbszweck am jeweiligen Bruttosozialprodukt 2 % in Italien
3,3% in Frankreich
3,6 % in Deutschland
4,8 % in Großbritannien
Die Studie ergab ferner folgende Einzelergebnisse: - In Deutschland sind 3,7 % aller Arbeitnehmer und 10 % aller Arbeitnehmer des Dienstleistungsgewerbes in diesem Sektor beschäftigt, d. h. nicht weniger als eine Million Menschen. Eine besonders große Rolle spielt der nichterwerbswirtschaftliche Sektor im Gesundheitswesen. Hier entfallen 40 % der Pflegetage im Krankenhaus und 60 % der stationären Einrichtungen auf ihn. - In Frankreich sind 4,2 % der Beschäftigten bzw. über 10 % der Arbeitnehmer des Dienstleistungsgewerbes im Sektor tätig, alles in allem 800.000 Personen. Organisationen ohne Erwerbszweck kümmern sich um mehr als die Hälfte der stationär betreuten Personen und um etwa 20 % der Grund- und Sekundarschüler. Besonders aktiv sind sie im Bereich der Sozialdienste sowie im Sport, wo 80% der Sporttreibenden gemeinnützigen Clubs angehören. - In Italien umfasst der Sektor fast 2 % aller Beschäftigten bzw. über 5 % der Arbeitnehmer im Dienstleistungsgewerbe. Insgesamt beschäftigt der Sektor, besonders im Bereich Sozialdienste, ca. 400000 Personen. Von Organisationen ohne Erwerbscharakter werden 20% der Kindergärten und über 40 % der stationären Einrichtungen geführt. - In Großbritannien entfallen 4 % aller Beschäftigten bzw. über 9 % der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe auf den Sektor, insgesamt etwa 900 000 Personen. Eine vorrangige Stellung nimmt er in der Forschung und im Bildungswesen ein. So werden sämtliche Colleges sowie 22 % der Grundschulen von Organisationen ohne Erwerbszweck geleitet. 37 Die Kommission hat in ihrem Memorandum zur Förderung der gemeinnützigen Vereine und Stiftungen in Europa diese Ergebnisse übernommen und wohlwollend bewertet. Aus der Erhebung würde hervorgehen, so die 37 Vgl. Salamon/Anheier (Anm. 34) sowie KOM (97) 241. Zur methodischen und theoretischen Kritik dieses Vorgehens vgl. Schmid (Anm. 17) sowie generell zu Stand und Standards der vergleichenden NPO-Forschung Josef Schmid/Martin Bräutigam, Internationale Vergleiche des Dritten Sektors: Viel brauchbare Empirie, einige interessante Theorien und wenig reflektierte Methoden?, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 8 ( 1995), 8fr.92.
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Kommission, dass "gemeinnützige Vereine und Stiftungen - obgleich sie einzeln zumeist recht klein sind - zusammen genommen über beträchtliche Vennögenswerte verfügen und umfangreiche Humanressourcen sowohl an bezahlten als auch an ehrenamtlichen Mitarbeitern mobilisieren. Wie andere Unternehmensfonnen, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, mit denen sie sich zumeist am genauesten vergleichen lassen, üben auch viele gemeinnützige Vereine und Stiftungen eine wirtschaftliche Tätigkeit im reinsten Sinne aus: sie verkaufen Produkte, erbringen Dienstleistungen, für die sie bezahlt werden, und sie erzeugen Überschüsse, die sie dann reinvestieren"38. Aus dem präsentierten Zahlenmaterial folgert die Kommission ferner, dass sich der Sektor "als fahig erwiesen hat, sich neue Möglichkeiten zu erschließen und dabei nicht nur einfach einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität, sondern auch in hohem Maße zur Entwicklung des Arbeitsmarkts und des Wirtschaftswachstums zu leisten. Aus diesem Grunde sollte er angeregt werden, beim Bemühen um die Schaffung von Arbeitsplätzen eine größere Rolle zu spielen, wie im ,Beschäftigungspakt' dargelegt, beispielsweise im Rahmen lokaler Beschäftigungsinitiativen"39. Diese positive Bewertung der Rolle von Vereinen und Wohlfahrtsverbänden durch die europäischen Institutionen fügen sich zum einen in das generelle Muster einer partnerschaftliehen Zusammenarbeit der EU-Administration mit gemeinnützigen Organisationen ein - nicht selten am nationalen Wohlfahrtsstaat vorbei. 40 Dies hängt nicht zuletzt mit dem Fehlen eigener Implementationsstrukturen der EU zusammen, so dass häufig auf andere Träger zurückgegriffen werden muss. In verbändetheoretischer Perspektive ließe sich dieser Sachverhalt als Korparatismus interpretieren. Zum anderen deutet sich allerdings auch an, dass die strategische Perspektive der Europäischen Kommission sehr viel mehr umfasst, als es dem traditionellen Selbstverständnis der deutschen Wohlfahrtsverbände entspricht. Der starke Hinweis der Kommission auf die Beschäftigungseffekte oder die ökonomische Tätigkeit des dritten Sektors sind gute Beispiele dafür.
KOM (97) 241 : Ziff. 6. KOM (97) 241 : Ziff. 6.7. 40 Vgl. etwa die Beiträge in Eichener/Voelzkow (Hrsg.), Europäische Integration und verbandliehe lnteressenvermittlung, Marburg 1994. 38
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IV. Vom Gemeinsamen Markt zur offenen Economie Sodale? Initiativen der EU und politische Reaktionen in Deutschland Die EU-Kommission hat es jedoch nicht bei der Darstellung der Strukturen und Leistungen des dritten Sektors belassen, sondern eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die auf eine direkte Regulation hinauslaufen und für die deutschen Wohlfahrtsverbände einige Veränderungen mit sich bringen könnten. Dabei sind der Europäische Verein und die Economie Sociale die beiden Schlüsselbegriffe, die in den folgenden Initiativen der Kommission auftreten: - die Mitteilung an den Rat über die Unternehmen der Economie Sociale und die Schaffung eines europäischen Marktes ohne Grenzen41 ; - der Vorschlag für einen Beschluss des Rates für ein mehrjähriges Arbeitsprogramm ( 1994-96) der Gemeinschaft zu Gunsten von Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Vereinen und Stiftungen in der Gemeinschaft42 ; - der Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Statut des Europäischen Vereins43 ; - die Mitteilung der Kommission über Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa44 sowie - wie oben schon erwähnt - die Mitteilung der Kommission über die Förderung der Rolle gemeinnütziger Vereine und Stiftungen in Europa45 . Trotz gewisser Unterschiede im Detail46 ist es das übergreifende Ziel der Kommission, den Vereinen, Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften sowohl den Zugang zum gemeinsamen Markt ohne Grenzen als auch die Wahrung ihrer Besonderheit als Personengesellschaften zu ermöglichen.47 In der oben zitierten Mitteilung heißt es: SEK (89) 2187. KOM (95) 253. 43 KOM (93) 252-SYN 386. 44 KOM (96) 443. 45 KOM (97) 241. 46 So wird etwa in der Mitteilung über Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa (KOM (96) 443) an den Besonderheiten von sozialen Diensten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht werden, festgehalten, was den deutschen Wohlfahrtsverbänden eine Rolle jenseits ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten zubilligt. 47 Heinrich von Moltke, Die Entwürfe der Kommission zur Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft, zur Europäischen Genossenschaft und zum Europäischen Verein, in: Die Betriebskrankenkasse 80 (1992), 34~345 , hier 340. Dass die Kommission damit auch Verbände der Freien Wohlfahrtspflege im Blick hat, wird ihrerseits im Übrigen nicht bestritten, vgl. Kuper, Economie Sociale - eine Herausforde41
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"In bestimmten Bereichen der nichtmarktgängigen Dienstleistungen (z. B. Gesundheit, Erziehungswesen, Forschung) hat sich die Organisationsform des Vereins (.. .) verbreitet. Auch wenn sie keinen Erwerbszweck verfolgen und etwaige Überschüsse aus ihrer Tätigkeit nicht an die Mitglieder ausschütten, so üben diese Organisationen doch eine Wirtschaftstätigkeit aus, und zwar in Bereichen, in denen Güter und Dienstleistungen in zunehmendem Maße auch über andere Organisationsformen als die des Vereins hergestellt bzw. erbracht werden; das bedeutet, daß die Grenzlinie zwischen marktgängigen und nicht marktgängigen Dienstleistungen hier unschärfer wird".48
Aus diesem Grunde richtet sie ihre Politik an einem sehr weit gefassten Unternehmensbegriff aus. Sie orientiert sich nicht, wie die deutsche Rechtsordnung, an inhaltlichen Zielen oder der Rechtsform von Organisationen bzw. den daraus folgenden steuerrechtliehen Kriterien. "Alleine die Frage, ob eine Organisation eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, stellt das entscheidende Merkmal für die Zuordnung zum Bereich der Unternehmenspolitik dar." Und: "Indem die genannten Rechtsformen - Vereine, Genossenschaften und Gesellschaften auf Gegenseitigkeit - unter den Begriff der Economie Sociale gefaßt werden, wird deutlich, daß auf europäischer Ebene allein der Aspekt interessiert, welche wirtschaftliche Leistung sie erbringen". 49 Auf diese Weise greift Artikel 58 des EG-Vertrages, wonach solche juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts, die keinen Erwerbszweck verfolgen, - also auch die Wohlfahrtsverbände, Vereine und Stiftunrung an die freie Wohlfahrtspflege?, in: Nachrichten des Vereins für öffentliche und private Fürsorge 70 (1990), 307-309, hier 308. 48 SEK (89) 2187 endg., 20. 49 Baumann, 84 (Anm. 7). Der Begriff Economie Sociale entstammt dem französischen Recht und umfasst Vereine, Genossenschaften und Gesellschaften auf Gegenseitigkeit. In den meisten anderen europäischen Ländern ist der Begriff nicht gebräuchlich, wodurch eine eindeutige Übertragung nur schwer möglich ist. Ins Deutsche wird er in aller Regel mit Sozialwirtschaft (auch Solidarwirtschaft oder Gemeinwirtschaft) übersetzt. Dieser Begriff ist insofern irreführend, als sich das Soziale an der Economie Sociale nicht auf die erbrachten Dienstleistungen oder Güter bezieht (dieser Aspekt gehört zur wirtschaftlichen Dimension), sondern vielmehr auf die Form der Organisation, die auf den Grundsätzen der Solidarität und Beteiligung aller Mitglieder beruht. Sie ist, zum besseren Verständnis, in Abgrenzung zur Kapitalwirtschaft zu sehen, also denjenigen Gesellschaften, die sich über das eingebrachte Kapital definieren (wie die Aktiengesellschaft oder die Gesellschaft mit beschränkter Haftung). Im Hinblick auf ihre Tätigkeit und ihre Beziehungen zu anderen Wirtschaftsteilnehmern unterscheiden sich die Organisationen der Economie Sociale also nicht von anderen Unternehmen. Es wird deshalb auch häufig von den Unternehmen der Economie Sociale gesprochen. Vgl. zum Begriff der Economie Sociale Loges (Anm. 5) und Baumann (Anm. 7); zum Europäischen Verein vgl. Andrea Biehler, Das europäische Vereinsrecht Eine rechtliche Analyse aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland, in: Blätter der Wohlfahrtspflege - Deutsche Zeitschrift für Sozialarbeit 144 ( 1997), 161-165.
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gen - von der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen werden, nicht. Der Bedarf nach einer solchen gemeinschaftlichen Maßnahme wurde von Vertretern der Organisationen gegenüber der Kommission zum Ausdruck gebracht. 50 Sie möchten, wie andere Gesellschaftsformen auch, die Vorteile des gemeinsamen Marktes nutzen können, ohne dabei ihre spezifischen Eigenschaften aufgeben zu müssen 51 . "Das spezifische Merkmal eines Unternehmens, welches zur ,Econornie Sociale' gerechnet wird" - so die Definition der Kornmission - "besteht darin, daß zur Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit bestimmte Organisationstechniken angewandt werden. Sie beruhen auf den Grundsätzen der Solidarität und Beteiligung aller Mitglieder - Erzeuger, Benutzer oder Verbraucher (... ) - sowie den Werten der Selbstbestimmung und staatsbürgerlichen Verantwortung. Die Rechtsform dieser Unternehmen ist in der Regel die der Genossenschaft, des Vereins oder einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Organisation. (... ) Diese Organisationen bieten marktgängige Güter und Dienstleistungen (... ), aber auch nichtmarktgängige Güter und Dienstleistungen an (... ). Es handelt sich hier um Unternehmen, die mit anderen, ,normalen' Unternehmen im Wettbewerb stehen"52
Als Gründe für die Pläne und Maßnahmen benennt die Kommission folgende drei Punkte: 1. "Im Lauf der letzten zehn Jahre stieg der Umfang der grenzübergreifenden Arbeit gemeinnütziger Vereine und Stiftungen enorm an". Dies wird zum einen auf die wachsende Zahl der EU-Förderprogramme zurückgeführt, die dem Sektor zugänglich gemacht wurden und die die grenzübergreifende Zusammenarbeit fördern (sollen), und zum anderen auf die Tatsache, dass "immer mehr Einrichtungen daran interessiert sind, ihre Dienstleistungen auch in anderen Ländern anzubieten". 2. Dementsprechend steigt "die große Zahl der europaweit operierenden Stiftungen oder Netzwerke gemeinnütziger Vereine und Stiftungen ( ... ) ständig weiter an". Einige, wie etwa die Liga der Rot-Kreuz-Gesellschaften oder wie Eurodiaconia und Caritas Europa, handeln als Koordinierungsorganisation für die einzelnen nationalen Einrichtungen mit gleicher Zielsetzung und gleichem Namen. Andere, wie z. B. das Europäische Stiftungszentrum oder der Europäische Rat für Vereine (CEDAG) operieren als "Knotenpunkt für die Lobbyarbeit des Sektors bei staatlichen Stellen und für die Entwicklung von nachahmenswerten Beispielen innerhalb ihrer - oftmals heterogenen - Mitgliedschaft".
50 Gefordert und gefördert wird dies in erster Linie von den Genossenschaften, vgl. Baumann (Anrn. 7). SI Vgl. Moltke, 342 (Anrn. 47). s2 SEK (89) 2187 endg., 3. 13 Gabricl (Hrsg.)
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3. Obwohl sich innerhalb der EU staatliche Institutionen bei der Erfüllung der verschiedensten Aufgaben immer mehr und in vielfältiger Weise auf Vereine und Stiftungen stützen, so .,haben sie sich bisher noch nicht generell zu ihrer Verantwortung bekannt, die bestmöglichen Ausgangsbedingungen für den Sektor zu schaffen, damit er seinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten kann". Aus diesem Grunde .,operiert der Sektor als solcher in vielen Mitgliedstaaten - zumindest strategisch gesehen - in einem politischen Vakuum". Unterstützt durch eine .,kohärente staatliche Rahmenpolitik" könnte er viel stärker als bisher einen Anteil an der Lösung der vor uns liegenden Probleme übernehmen . .,Hier besteht also Handlungsbedarf'- so die Schlussfolgerung der Kommission. 53 Im Grunde will die Kommission - so weit es in ihren Kräften steht - die Transaktionskosten für internationale Aktivitäten senken und die bisher vorwiegend national agierenden Organisationen in eine offene Economie Sociale führen. Damit folgt sie auch auf diesem Gebiet der Logik der Sinnenmarktintegration inklusive der erhofften Spillover-Effekte. Ergänzend kommt die generell positive Haltung der Kommission gegenüber den Verbänden und ihrer Funktion für die politische Steuerung in der Europäischen Sozialpolitik hinzu (s.o.). Auf der Seite der deutschen Wohlfahrtsverbände stoßen diese Angebote freilich auf einige Kritik, was dementsprechende Aktivitäten eingeleitet hat. Geradezu typisch für die Position und die Strategie der Wohlfahrtsverbände ist eine kleine Anfrage der SPD-Fraktion vom Mai dieses Jahres 54, die wesentlich von den Interessen und Ansichten der AWO, die hier pars pro toto steht, geprägt wurde. Unter dem Motto: .,Die Freien Wohlfahrtsverbände in Europa erhalten" werden die Gefahren einer .,Ökonomisierung der sozialen Dienstleistungen" beschworen. Ferner wird kritisiert, dass die Kommission auf diesem Wege versuchen würde, heimlich ihre Kompetenzen in der Sozialpolitik auszuweiten und ihrem primärrechtlichen Bereich einzugliedern. Zugleich werden aber die für die deutschen Verbände förderlichen Elemente der EU-Politik positiv aufgenommen und an die Erklärung Nr. 23 in der Schlussakte des Maastrichter Vertrages erinnert (s.o.). Erfahrungsgemäß dürfte die Bundesregierung in ihrer (noch ausstehenden) Antwort diesem Anliegen der Wohlfahrtsverbände überaus aufgeschlossen sein. Neben dem organisatorischen Eigeninteresse der Wohlfahrtsverbände und den politischen Profilierungsbestrebungen - in diesem Fall artikuliert durch die AWO und die SPD - wird hinter diesen Auseinandersetzungen eine strukturelle Konfliktlage zwischen der EU und dem Nationalstaat als 53 54
KOM (97) 241: Ziff. 10. Bundestagsdrucksache 13/1606.
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Agenda der Sozialpolitik deutlich. Zwar gilt grundsätzlich, "daß das Gemeinschaftsrecht die Befugnis der Mitgliedstaaten nicht berührt, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten" - so die Formulierung des EuGH55 , doch gilt andererseits, dass die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ebenso wie die Freiheit des Dienstleistungs- und Warenverkehrs zu beachten sind. Diese Bestätigung nationaler Sozialpolitikkompetenz findet sich auch in einem erst jüngst gesprochenen Urteil des EuGH wieder, dem sogenannten Sodemare-Urteil vom Juni 1997. Dort heißt es in Ziffer 32 der Urteilsbegründung: "Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts kann ein Mitgliedstaat im Rahmen der ihm verbliebenen Zuständigkeiten für die Ausgestaltung seines Systems der sozialen Sicherheit davon ausgehen, dass ein System der Sozialhilfe der fraglichen Art seine Ziele nur erreichen kann, wenn zu diesem System als Erbringer von Dienstleistungen der Sozialhilfe nur solche privaten Wirtschaftsteilnehmer zugelassen werden, die keinen Erwerbszweck verfolgen." 56
Damit wird aufs Erste die Position der Wohlfahrtsverbände als primäre Erbringer sozialer Dienstleistungen in der Bundesrepublik gegenüber gewerblichen Anbietern von europarechtlicher Seite gestützt. Längerfristig bleibt abzuwarten, wieweit diese nationalen Reservate Bestand haben werden; Schulte etwa vermutet "für die Zukunft eine Lockerung (... ), da auch die Herstellung eines einheitlichen Europäischen ,Sozialmarktes' in der Logik der EG-Integration liegt''57 . Zudem machen sich die Interpenetrationseffekte eines sozialpolitischen Mehrebenensystems bemerkbar. Hierzu gehören auch Nachahmungs- und Lernprozesse, die durch die intensivierte Kommunikation in einem offenen europäischen Sozialraum entstehen. Im Anschluss an das genannte Urteil sieht schließlich Jgl kein "Konvergenzbestreben" seitens des EuGH, aber das Urteil richte sich schon "gegen Reste eines mittelalterlichen Zunftwesens"58 • 55 In einem Urteil vom 7. Februar 1984, 540 f.; s. a. Karl-Jürgen Bieback, Marktfreiheit in der EG und nationale Sozialpolitik vor und nach Maastricht, in: Europarechi (EuR) 28 (1993), 15~172; Schulte, Gemeinschaftsrecht (Anm. 3); Schulte, Das Sozialrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs I 994 und 1995, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart 18 (1996), 471-505; Schulte, Sozialpolitik (Anm. 3). 56 Urteil des EuGH vom 17. Juni 1997 in Sachen Sodemare SA u.a./Region Lombardei: Rs. C-70/95, Slg. 1997, 1-3395. Dabei ging es um eine Iuxemburgische Gesellschaft und deren italienische Tochter, die in der Region Lombardei Seniorenheime betreibt, und der von der Region ein Eignungsnachweis verweigert wurde, weil dieser nur solchen Betreibern von Seniorenheimen gewährt wird, die ohne Gewinnerzielungsabsicht arbeiten. Dieser Eignungsnachweis ist Voraussetzung für die Erstattung von Kosten für Leistungen im Bereich der Gesundheitsfürsorge durch den öffentlichen Träger, nach Gerhard /gl, Der europäische Patient, in: Die Zeit vom 7.5.1998, 27. 57 Schulte, Gemeinschaftsrecht, 227 (Anm. 3).
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V. Zukunft der deutschen Wohlfahrtsverbände: Triebkräfte und Perspektiven
Die wachsende Europäisierung der Sozialpolitik und in ihrem Gefolge der auf diesem politischen Terrain agierenden Verbände kommt somit nicht nur auf transnationaler, sondern auch auf nationaler Ebene zur Geltung. Hier wirken die direkten Interventionen der EU sowie die strukturellen Anpassungszwänge infolge eines gemeinsamen Marktes, was in zunehmendem Maße die Ecomie Sociale einschließt. Aus bloßen Nachbarn werden so Freunde oder Konkurrenten. Für den Bereich der Wohlfahrtspflege sind allerdings zwei Einschränkungen zu machen: - Erstens, wegen der Besonderheiten des Terrains im Sozial- und Europarecht, den Strukturmerkmalen des Wohlfahrtsstaatsmodells sowie der eher distanzierten europapolitischen Haltung und den dabei günstigen Koalitionsmöglichkeiten der Verbände wirken sich die Tendenzen einer Europäisierung in Deutschland erheblich abgemildert aus. Darin liegt die eigentümliche Rationalität der Zurückhaltung, ja Euro-Skepsis der deutschen Wohlfahrtsverbände. Für andere Länder gilt diese Einschränkung deutlich weniger. - Zweitens wirken neben den hier behandelten Faktoren eine Reihe weiterer Momente auf die Wohlfahrtsverbände: Der soziale Wandel unterminiert zum Beispiel Motivlagen des Helfens und erodiert die besondere normative Basis der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, die dadurch "normaler" werden. Auch die weitere Entwicklung der nationalen Sozialpolitik - vom Sparen bis zum Umbau - beeinflusst den Wandel im Verhalten und der Struktur der Verbände. 59
Hinzu kommt, dass die Wohlfahrtsverbände bei der Behandlung dieser Herausforderungen strategische Wahloptionen haben; Ansätze, das interne Management zu verbessern und erhebliche Modernisierungsanstrengungen zu unternehmen, sind allenthalben erkennbar, freilich in Tiefe und Erfolg derzeit nicht abschätzbar. Zumindest bezogen auf die Politik der EU scheint eher ein distanziertes Abwarten bei gleichzeitiger Präsenz in Brüssel gängige Praxis zu sein, eine offensive Strategie der Europäisierung ist zumindest bislang nicht zu bemerken. /gl, 27 (Anm. 56). Vgl. Rolf G. Heinze/Josef Schmid!Christoph Strünck, Zur politischen Ökonomie der sozialen Dienstleistungsproduktion. Der Wandel der Wohlfahrtsverbände und die Konjunkturen der Theoriebildung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2 (1997), 242-271 und AK NPO (Hrsg.), Ende der Besonderheiten oder Besonderheiten ohne Ende? (Arbeitskreis Nonprofit-Organisationen), Frankfurt 1998. 58
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Wenn man nun abschließend versucht, die möglichen mittelfristigen Entwicklungen der deutschen Wohlfahrtsverbände zu erfassen, so lässt sich zuerst einmal die Imperialismus-These von Bauer aussortieren, wonach "dem ,deutschen Modell' der Freien Träger personenbezogener Sozialer Dienstleistungen - zusätzlich zur Eroberung der ostdeutschen Bundesländer - auch der , Weg der Expansion' nach Westen"60 gelingen könnte. Hierfür gibt es nicht den leisesten Anhaltspunkt. Wahrscheinlicher sind eher folgende drei Szenarien einer Zukunft der deutschen Wohlfahrtsverbände in Europa: Autarkie
Am derzeitigen Status und der Struktur der verbandliehen Wohlfahrtspflege in Deutschland ändert sich im Grunde nichts, die sozialen Dienste bleiben ein nationales Reservat, der Korparatismus der Wohlfahrtsverbände als politische Regulierungsform bleibt bestehen und Modemisierungsprozesse beschränken sich auf ausgewählte ökonomische Funktionen und spezielle Organisationssegmente. Das historisch gewachsene und institutionell fest verankerte Beziehungsgeflecht zwischen Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsverbänden in Deutschland bzw. der eingeschlagene Entwicklungspfad würde sich damit als weitgehend stabil und irreversibel erweisen. Autonomieschonende Integration
Vorstellbar und m. E. die realistischere Variante ist ein kontrollierter Wandel in Form von Modemisierung und Europäisierung der Wohlfahrtsverbände (oder eine schleichende Erosion der traditionellen Verbändestrukturen, je nach dem, wie man diesen Vorgang politisch-normativ bewertet). Das würde bedeuten, dass es im Zuge eines Umbaus des Wohlfahrtsstaats und einigen Effekten der skizzierten Strategien der EU-Kommission zu einem allmählichen Verschwinden der Sonderregelungen für Spitzenverbände und den neokorporatistischen Regulierungsmechanismen kommt. "Vorausgesetzt, daß sich eine ausschließliche, zumindest aber überwiegende Bewertung nach qualitäts-, kosten- und leistungsbezogenen Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Sozialaufgaben durchsetzt, wären die bisherigen Anbieterstrukturen nicht mehr zu halten, so daß die damit verbundenen Monopolstellungen in kurzer Zeit geschleift würden"61 . Diese EntwickBauer, 174 (Anm. 20). Karl-Heinz Boeßenecker, Die Freie Wohlfahrtspflege der BRD im europäischen Einigungsprozeß, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen 19 (1996), 269-285, hier 285. 60 61
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lungslinie ließe sich durchaus im Sinne der Theoreme über Nonprofit-Organisationen und Drittem Sektor (s. o.) interpretieren und eine zwar reduzierte, aber immerhin noch beachtliche Rolle der freien Wohlfahrtspflege im Rahmen eines neuen pluraleren Wohlfahrtsstaats implizieren. Schöpferische Zerstörung
Ein drittes - allerdings eher unwahrscheinliches - Szenario geht noch weiter: Hier wird die Vorstellung eines umfassenden modernen Wohlfahrtsstaats und einer Sonderrolle gemeinnütziger Organisationen ad acta gelegt und eine rein nach ökonomischen Kriterien bestimmte Produktion und Distribution von sozialen Diensten angesteuert. Das bisherige System der Freien Wohlfahrtspflege wäre als Kartell und unerlaubte Subvention ein Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht und die Garantie der Freizügigkeit des Binnenmarktes. Als reinem Markt stünden sich Anbieter und Kunden als gleichwertige Vertragspartner gegenüber, die Preise und Qualitäten wären frei verhandelbar und Angebot und Nachfrage über den Markt bestimmt; Sozialpolitik fände allenfalls noch minimal statt. Wohlfahrtsverbände als Organisationen, die politische Interessenvertretung, korporatistische Steuerung und Produktion von sozialen Dienstleistungen zu leisten vermögen, also Effizienz, Macht und Moral unter einem Dach vereinigen, haben hier keine Zukunft mehr. Sie wären hier nur Fremdkörper und eher Störung im Getriebe eines gemeinsamen europäischen Marktes.62 Die deutschen Wohlfahrtsverbände versuchen derzeit, den vielfaltigen Erfordernissen durch entsprechende Modernisierungs-, Rationalisierungsund Reorganisierungsstrategien gerecht zu werden, die freilich aus guten Gründen äußerst ambivalenter und offener Natur sind. Ob sie auf diese Weise den Spagat zwischen ökonomischer Effizienz, norrnati ver Profilierung und politischer Machtsicherung auf die Dauer zu leisten vermögen oder ob künftig die multifunktionalen Aufgaben der Spitzenverbände in formal separaten Strukturen (Dienstleistungseinrichtung als GmbHs mit locker angebundenen sozialintegrativ und affektiv orientierten Vereinen sowie professionellen Lobbyisten und politischen Advokaten) wahrgenommen werden, muss an dieser Stelle offen bleiben. Einer der wesentlichen Faktoren, die darüber entscheiden, welcher dieser Wege eingeschlagen wird, 62 Im engen Sinne des Wortes; vgl. zum Gesamten Thomas Olk/Thomas Rauschenbach/Christoph Sachße (Hrsg.), Von der Wertegemeinschaft zum Dienstleistungsuntemehmen, Frankfurt 1995; Holger Backhaus-Maul/Thomas Olk, Von der Subsidiarität zum "contracting out". Zum Wandel der Beziehungen zwischen Staat und Verbänden in der Sozialpolitik, in: W. Streeck (Hrsg.), Verbände und Staat, Opladen 1994, 101-134; Rolf Heinze/Schmid/Strünck (Anm. 59) und AK NPO (Anm. 59). ·
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liegt in der Fähigkeit, politische Koalitionen auf nationaler Ebene zu bilden und auf diese Weise den Brüsseler sozial- und ordnungspolitischen Interventionen zu trotzen. Die Praxis der bisherigen Bundesregierung - und wahrscheinlich auch der neuen - die traditionellen Strukturen in der freien Wohlfahrtspflege zu erhalten63 , hat gezeigt, dass ihnen dies immer noch relativ gut gelingt - freilich auch um den Preis eines fragmentierten europäischen Wohlfahrtsstaats.
63 Neben den Widerständen gegenüber den Marktöffnungsstrategien der EU ist diese institutionelle Stabilität vor allem beim Institutionentransfer im Rahmen der deutschen Einheit sichtbar geworden.
Verzeichnis der Mitarbeiter Ebertz, Michael N., Professor für Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit, Katholische Fachhochschule Freiburg i. Br. Fürstenberg, Friedrich, Professor für Soziologie em., Universität Bonn Gabriel, Kar!, Professor für Christliche Sozialwissenschaften, Universität Münster Grunow, Dieter, Professor für Politikwissenschaft, Universität Duisburg Hennanns, Manfred, Professor für Soziologie, Fachhochschule für Sozialwesen Harnburg Hilpert, Konrad, Professor für Praktische Theologie und Sozialethik, Universität Saarbrücken Kaiser, Jochen-Christoph, Professor für Kirchengeschichte der neuesten Zeit (Kirchliche Zeitgeschichte), Universität Marburg Krech, Volker, Referent für Soziologie an der "Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft" in Heidelberg Schmid, Josef, Professor für Politikwissenschaft, Universität Tübingen Wiemeyer, Joachim, Professor für Christliche Gesellschaftslehre, Universität Bochum