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German Pages 447 [448] Year 2020
Herausforderung der Literatur: Péter Esterházy
Herausforderung der Literatur: Péter Esterházy Herausgegeben von Csongor Lőrincz und Péter L. Varga
Die Übersetzungen einiger Beiträge wurden vom Petőfi Literaturmuseum Budapest gefördert. Die Herausgeber danken Christina Kunze für das Lektorat des Bandes und für die Erstellung der Register.
ISBN 978-3-11-061722-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061808-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061742-9 Library of Congress Control Number: 2020942058 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: deomis/iStock/Getty Images Plus Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Csongor Lőrincz Über das Werk von Péter Esterházy
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I Das Phänomen Esterházy (zwischen Lesen, Schreiben und Übersetzen) László Márton Péter Esterházy – Werk und Wirkung Zsuzsanna Gahse Der Sprachspieler
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Heike Flemming Abschweifen und Verirren
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II Das Werk Esterházys: Perspektiven der Literaturwissenschaft An den Rändern der Literatur – zum frühen Werk Csongor Lőrincz Figurationen des Schweigens in Péter Esterházys früher Prosa Péter Szirák Ausgesprochen unausgesprochen
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Gábor Palkó Literarische Produktion (Ökonomie, Medialität und Textualität im Produktionsroman) 87 Tibor Bónus Die Kunst, Fliegen zu fangen: Textualität, Aleatorik und Redehaftigkeit (zu einer Neulektüre des Produktionsromans) 115
VI
Inhaltsverzeichnis
Literarisches Schreiben und (inter-)textuelles Universum Ernő Kulcsár Szabó „Graziöse“ Ungebundenheit
147
Péter Szirák Ein Netz der kleinen Formen: Muster und Originalität im Schreiben Péter Esterházys 169 Ágnes Hansági Selektive Tradition und Kanon bei Péter Esterházy
179
Werkkomposition und Lesefiguren der Intertextualität Danijela Lugarić The Making of World Literature: Slavno je za otadžbinu mreti by Danilo Kiš and Mily dicső a hazáért halni by Péter Esterházy 197 László Bengi Indirekt in der Schwebe
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Gábor Tamás Molnár Eine fragmentarische Enzyklopädie
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Péter Fodor Profil, Bricolage, implizite Leser in Deutschlandreise im Strafraum
245
Hajnalka Halász Sprachbedingtheit, Sprachreflexion und Sprachvergessenheit in den Esti-Novellen von Péter Esterházy und Dezső Kosztolányi 257
Regionale Konstellationen der literarischen Kommunikation Ágnes Balajthy Die neu definierten Traditionen der Reiseliteratur in dem Roman Donau abwärts von Péter Esterházy 285
Inhaltsverzeichnis
Péter L. Varga Mitteleuropa und die „Stille“ von Diktaturen in Péter Esterházys Sprachkunst 311 Csongor Lőrincz Archiv und Zeugenschaft in Esterházys Verbesserter Ausgabe
337
Dialog und Testamentarität in den letzten Werken Gábor Tolcsvai Nagy Im-Körper-Sein, Transsubstantiation und Offenbarung: Sprechmodus in Markus-Version 371 Robert Smid On the Concept of Writing “Versions” of a “Simple Story” in the Late Prose of Péter Esterházy 389 Mária Bartal Die Darstellung von Krankheit in Péter Esterházys Werken Bauchspeicheldrüsentagebuch und Schuldig 403 Über die Autor*innen
423
Personenverzeichnis
427
Sachverzeichnis
433
Titelverzeichnis
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VII
Csongor Lőrincz
Über das Werk von Péter Esterházy Einleitung
1 Kontexte und Zielsetzungen dieses Bandes Es ist schon eine Weile her, dass Lutz Seiler folgende Warnung aussprach: Der weitfahrende Gedanke von der Globalisierung unseres Daseins sucht sein behausendes Korrelat und findet es in einem neuen Regionalismus der vielen, kleinen Heimaten. Auch der Literatur droht – vor allem wenn sie aus Osteuropa kommt –, regional rezipiert zu werden. An Olga Tokarczuk interessierte besonders, daß sie im Sudetenland, in einem kleinen polnischen Dorf nahe der tschechischen Grenze lebt und schreibt. Viktor Pelewin ist die Stimme aus Moskau, französische Literaturexperten suchen in der deutschen Literatur nach Berlin usw.1
Eine jede Interpretation von Literatur aus der genannten Region kann sich auch heute noch nicht immer dem Risiko entziehen, sprachkünstlerische Werke besagter Provenienz übermäßig durch die (oder eher eine) regionale Brille zu betrachten. Zumal auch systematische, sich als einen umfassenden Überblick darbietende, mehr oder weniger professionelle Nachschlagewerke eine solche Sicht verbreiten.2 Diese Regionalisierung der Literatur erweckt zuweilen den Anschein (und öfters womöglich wider Willen), als sei die ostmitteleuropäische Literatur ausschließlich mit sich selbst bzw. mit referentiellen, historischen, sozialen und kulturellen Aspekten nur dieser Region befasst. Nicht, als ob dieses Interesse nicht an sich schon keine gewaltige Aufgabe darstellte, dennoch: Eine sprachanthropologische, literarische, poetologische, ästhetische sowie literaturhermeneutische Beispielhaftigkeit dieser Literatur wird nicht immer wirklich ernsthaft erwogen. Diese Verkürzungen rühren zum Teil auch von der – epochal und nach den herrschenden politischen Konstellationen jeweils unterschiedlichen – politischen Einfärbung des Mitteleuropabegriffes und der Mitteleuropawahrnehmung her. Literatur dieser Region wird auch heute öfters aus nicht-literarischen Interessen gelesen und überwiegend auch übersetzt bzw. ediert. Verschweigen sollte man freilich auch nicht, dass sich ein Gutteil dieser Literaturen immer mehr besagte (und andere) Interessen zu bedienen verschrieben hat. Im Zeitalter der Globalisierung auch des Literaturbetriebes
1 Seiler: Heimaten, 42–43. 2 Bei allen sonstigen Verdiensten scheint dies etwa zuzutreffen auf: Konstatinović/Rinner: Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas. https://doi.org/10.1515/9783110618082-001
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Csongor Lőrincz
und der Verlagsindustrie haben sich diese Tendenzen noch stärker nicht nur auf die Rezeption, sondern auch auf die Übersetzung, gar Produktion der Literatur ausgebreitet.3 Im Falle eines Autors nun, der seine Schreibweise und literarischen Stil mit seltenem Nachdruck auf ihre sprachliche Verfasstheit hin elaboriert und in einem ständigen Dialog mit zahlreichen Werken der Weltliteratur artikuliert hat, sind regionalisierende Verstehensansätze dieser thematisch-referentiellen Art von vornherein erst recht mangelhaft. Geradezu auf spektakuläre Weise kommt ihr ungenügender hermeneutischer Charakter zum Vorschein, wenn sie mit gewissen Texten eines Péter Esterházy konfrontiert werden, die ihre fiktionspoetischen Aspekte nie, nicht einmal hypothetisch von ihrer sprachlich-textuellen sowie inter- wie hypertextuellen Bedingtheit trennen. Ihr unverwechselbares und in ihren herausragenden Leistungen wohl auch unvergleichliches Sprachatmosphärisches bezeugt etwas von der unvordenklichen und unwiederholbaren ereignishaften Seinsweise des Schönen, der genetische und referentialisierende Rezeptionsweisen erst recht nicht nahezukommen imstande sind. Freilich wirft dieser Sachverhalt gewichtige Fragen der ästhetischen Wahrnehmung oder Erfahrung bezüglich dieser Texte auf, und zwar bereits an ihrem rezeptionshistorischen Beginn.4 Zugleich wird hier die Problematik des Übersetzens in einer kaum zu überbietenden prinzipiellen Weise virulent, etwa in dem Sinne, dass man im und durch den Text von Esterházy hindurch immer schon auch andere Texte (mit) zu übersetzen hat.5 Wie und vor allem in welcher Reihenfolge bzw. welche Texte Esterházys ins Deutsche übersetzt worden sind, wäre einer eigenen Analyse wert. Man hat nämlich etwa Folgendes zu bedenken: Die übergreifende Grundlegung und zugleich womöglich exzellenteste Verwirklichung der literarischen Mitteilungskunst von Esterházy, Termelési-regény (kissregény) (1979) ist erst 2010 auf Deutsch erschienen (Produktionsroman. Zwei Produktionsromane),6 nachdem Esterházy auf dem deutschen Sprachgebiet bereits längst bekannt und berühmt war. Nun lässt sich aber das spätere Werk von Esterházy, seine Poetik
3 Hierzu aus allgemeiner Sicht s. Parks: Worüber wir sprechen. Es wäre ein interessantes Desiderat, die teilweise spezifischere Situation ostmitteleuropäischer Literaturen in dieser Hinsicht eigens zu reflektieren. 4 Vgl. hierzu den Beitrag von László Márton in diesem Band, in dem die Irritation wie Faszination des zeitgenössischen ungarischen Lesers (und angehenden Übersetzers wie Schriftstellers) in Bezug auf die Werke Esterházys eindrücklich geschildert werden. 5 Vgl. die Essays und Zeugnisse von Zsuzsanna Gahse und Heike Flemming in diesem Band, die über konkrete und dringende Fragen der Übersetzung hinaus wertvolle Einblicke auch in die Schreibweise von Esterházy und ihre Lesewahrnehmung bieten. 6 Dieses beinahe singuläre Verdienst ist Terézia Mora zu verdanken, die diesen Roman ins Deutsche übertragen hat (Berlin Verlag, Berlin, 2010).
Über das Werk von Péter Esterházy
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und sein literarischer Sprachgebrauch sowie sein systematisches Sprachkonzept ohne eine gründliche Lektüre dieses Romanerstlings des 29-Jährigen nicht wirklich in tragfähiger Weise verstehen. Daher setzt sich dieser Band das Ziel, den literarischen Autor Esterházy in den Vordergrund zu stellen, wenn man so will: den Sprachkünstler. Dabei nicht zuletzt die Ambition Esterházys im Auge behaltend, dass etwa seine Einführung in die schöne Literatur (1986) zwar diskret, aber letztlich doch den Anspruch erhoben hat, kein geringeres Werk als James Joyces Ulysses weiterzudichten. Wie Esterházy aus der Sprache oder gar: aus den Sprachen, ihrem Rauschen wie ihren intra- und interlingualen Geflechten Text(e) formt, wie diese zu Texten geformte Sprache sich textuell und prosapoetisch vollzieht und wie sie funktioniert, was die Texte wiederum von der Sprachlichkeit der Literatur, des Menschen, des Göttlichen, der Kultur, der Geschichte, des Politischen aussagen oder wie sie diese bezeugen – dieser Komplex steht im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes über Péter Esterházys Schreibkunst. Ausgehend von der übergreifenden Erfahrung, dass Esterházys literarische Mitteilungs- und Ausdrucksweise ein breites Spektrum von Rezeptions- und Lektüreweisen angesprochen hat, einer jeden von diesen eine Stimme zu verleihen imstande war. Im vorliegenden Band stehen folgerichtig vor allem die sprachlich-textuellen und poetologischen Eigenschaften seiner Prosa im Fokus, mitsamt Aspekten der Sprach-, der Zeitauffassung, des Traditionskonzeptes, literaturhistorischer Kontexte und weltliterarischer Vergleichszusammenhänge sowie Fragen der regionalen politischen und Kulturgeschichte. Zwar finden sich etwa die von der genannten Literaturgeschichte der Region der entsprechenden Literatur attestierten Merkmale („die Tradition des Skurrilen und Grotesken“, „das Spiel mit der Sprache“ und „die Tradition der Mimikry“)7 auch in Esterházys Werk, jedoch eher als Begleiteffekte in der viel prinzipielleren, breiteren und tieferen Entfaltung einer außerordentlich komplexen Schreibweise und einer Vielstimmigkeit der literarisch intensivierten Sprache (wo man beispielsweise eher vom „Spiel der Sprache[n]
7 Konstatinović/Rinner: Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas, 355–369. Vgl. Esterházys Beschreibung der Lektüreerfahrung von Witold Gombrowicz’s Pornographie: „Umsonst bin ich langsamer fortgeschritten, das Buch war mir immer zuvor, hat früher den Rückzieher gemacht, ist früher vernünftig geworden. Das hat mich überrascht. Dieses Buch tut nicht so als ob . . . Es gibt keine Wahrheit. Aber es sagt doch nicht, dass es nicht wahr wäre, da es behauptet, es gebe die Sünde. Also zählt dieses Buch nicht auf mich, bittet nicht um meine Hilfe, bittet nicht um meine Komplizenschaft, um mein Wohlwollen (wie manche mitteleuropäische Bücher), es bittet nicht um meine Bildung, um mein Verständnis, dieses Buch zählt nur auf sich selbst. Auf niemand sonst, nur auf sich selbst. (Davon ist hier die Rede.)“ Esterházy: „Egy kellemetlen alak“, 396.
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Csongor Lőrincz
selber“, als vom „Spiel mit der Sprache“ zu sprechen hat). Poetologischer wie literaturhistorischer Einsatz, sprachtheoretischer Schwerpunkt und komparative Kontexte sollen sich also wechselseitig beleuchten. In letzterer Hinsicht warten da Fragen auf Analyse und Diskussion, wie denn das Werk Esterházys in Kontexten, die von Namen wie etwa von Witold Gombrowicz, Julio Cortázar, William Gass, Italo Calvino, Heiner Müller, Thomas Bernhard, Peter Handke oder Christoph Ransmayr markiert sind, zu verorten und interpretieren sei.
2 Fiktion, Literatur und die Vielstimmigkeit der Sprache(n) bei Esterházy „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“ So der letzte, auch typographisch isolierte Satz des Romans Hilfsverben des Herzens, zugleich des großen Werkes Einführung in die schöne Literatur (1986) von Péter Esterházy. Welche Bedeutung erlangt nun dieser emblematische Satz nach dem krankheitsbedingten Tod des Autors und dem Abschluss des Oeuvres? Könnte man darauf mit einem witzig-ironischen Abschnitt des späteren Esti (2010) antworten, in dem es heißt, „als toter Autor könnte ich in Ruhe arbeiten“?8 Die Bedingtheit jeglicher Autorschaft durch die Texte potenziert sich hier zu einer Fiktionalisierung, die sich auf die ungeschriebene Welt richtet. Diese Welt befindet sich aber bei Esterházy nicht hinter dem Geschriebenen, sondern vielmehr zwischen dessen Zeilen, Worten, Sätzen und (virtuellen) Texten. Beginnend bereits mit dem Sachverhalt, dass auch dieses Performativ (ein Versprechen oder eine beglaubigende Signatur?) am Ende von Einführung in die schöne Literatur – ein Zitat ist, aus Peter Handkes Erzählung Wunschloses Unglück (1972), wo es ebenfalls als letzter Satz des Werkes figuriert.9 Das ursprüngliche Versprechen der „Einführung in die schöne Literatur“ wird also gewissermaßen zurückgenommen, zumindest wird seine Realisierung (wohlgemerkt nach 700 Seiten) in eine textualisierte metafiktionale Signatur verschoben.
8 „Zuweilen ist es – – – im Hinblick auf die Arbeit – – – ausgesprochen störend, dass ich lebe – – – als toter Autor könnte ich in Ruhe arbeiten – – – Liebe, Freundschaften, Vaterland, Engel, Kutteln – – – und ich würde meine Zeit nicht vertrödeln – – – mit genau diesen Dingen. Blödsinn – – – auch wenn es stimmt.“ (Esterházy: Esti, 271) Vgl. damit das letzte Kapitel des Buchs Palomar (1983) von Italo Calvino, „Versuch, tot sein zu lernen“. Calvino: Herr Palomar, 116–123. 9 Handke: Wunschloses Unglück, 89.
Über das Werk von Péter Esterházy
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Nun aber vielleicht nicht einfach im Sinne einer vermeintlich unverbindlichen (Selbst-)Ironie, sondern möglicherweise in der Bedeutung, dass die Texte immer erst noch unterwegs sind „in die schöne Literatur“ (in ihre kanonisch-kodifizierte Gestalt als Garantin der Lesbarkeit), in einem provisorischen Zustand der Entstehung zwischen Geschriebensein und Ungeschriebensein verharrend. Die Untrennbarkeit dieser beiden Qualitäten rührt von dieser Entstehung als Prozessualität her, die Aspekte von geschriebener und ungeschriebener Welt sind also nicht räumlich, vielmehr in temporaler Weise zu konzeptualisieren. Dass die beiden Welten dennoch nicht restlos zusammenfallen, ist Effekt des Versprechens, die Differenz erzwingt gewissermaßen das Versprechen, zugleich hält der prekäre Status des Versprechens als eines „Sprechakts“ diese Differenz auch offen. Dieses Unterwegssein selbst als Oszillation oder wechselseitige Kontamination zwischen geschriebener und ungeschriebener Welt, Performativ und Zitation – ein Name dafür wäre eben Fiktion(alität). Denn der nähere (genauere?) Sinn oder zumindest ein Synonym von „genauer“ war bereits bei Handke das Fiktive: . . . aber ist nicht ohnehin jedes Formulieren, auch von etwas tatsächlich Passiertem, mehr oder weniger fiktiv? Weniger, wenn man sich begnügt, bloß Bericht zu erstatten; mehr, je genauer man zu formulieren versucht? Und je mehr man fingiert, desto eher wird vielleicht die Geschichte auch für jemand andern interessant werden, weil man sich eher mit Formulierungen identifizieren kann als mit bloß berichteten Tatsachen?10
Auf seine eigene Art und Weise vollzieht auch Esterházys Oeuvre eine Aufwertung des sprachkünstlerischen Aspekts der Literatur im Sinne der literarischen Kommunikation, nicht unweit von dieser Handkeschen Reflexion.11 So wird man besser verstehen, warum Esterházy zeitlebens auf dem Diktum beharrt hat: Er als Schriftsteller denke – dies ist ein Zitat aus den Tagebüchern von Sándor Márai – „in Subjekt und Prädikat“ (und nicht in „Volk und Nation“, was im Kontext der ungarischen Literaturgeschichte die spätestens seit der Romantik traditionell starke kollektiv ausgerichtete Selbstautorisierung gewisser literarischer Stränge meint). Dieses Bekenntnis ist aber nicht einfach als ein subjektives Credo zu lesen, sondern vielmehr ist ihm eine rekanonisierende Volte eigen, durch die Esterházys Werk neue Zugänge zur ungarischen Literaturgeschichte ermöglicht, in ihr andere kanonische Muster, Zusammenhänge und Prozesse der literarischen Traditionsbildung entdeckt (und diese Effekte durchaus auch essayistisch zum
10 Ebd., 24–25. 11 Vgl. die Bemerkung zum Buch Eine Geschichte, das Esterházy zusammen mit Imre Kertész geschrieben hat: „[D]ie zwei Texte zusammen zeigen, daß man bestimmte Tatsachen oder Ereignisse der Welt nur durch die Literatur wahrnehmen kann.“ Esterházy: Literator 2011, 8–9.
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Thema gemacht) hat.12 Die Genauigkeit der sprachlich-literarischen Formulierung als solcher steht hier also nicht im Sinne einer Logik der Adäquation von Beschreibungszügen, sondern eines Offenhaltens der Formulierung, der textuellen Artikulation auf das nicht restlos schreibbare sprachliche Werden (oder das Werden der Sprache), auf mögliche Weltentwürfe und Bedeutungen, auf die Responsivität seitens der rezeptiven Instanz.13 In dieser Weise ist also das Fiktive alles andere als Garant einer selbstgenügsamen ästhetischen Totalität, vielmehr eröffnet es Möglichkeiten des Eingriffs in die Welt, mit einem Wort, des Performativen, also von handlungshervortreibenden Effekten der Sprache. Es geht darum, dass für Esterházy die Literatur bereits hier das Paradigma „des Handelns durch das Sprechen“ darstellte, wiederum nicht unabhängig von dem Einfluss des frühen Handke.14 Die bei Esterházy zahllose Male zu einem textgenerierenden Effekt (und selbstreflexiven Motiv) gewordene Suche nach dem treffenden Wort oder Satz15 steht im Horizont dieser Handlungsdimension der Sprache als Gedächtnis von kommunikativen Situationen (also nicht einfach nur von „Sachverhalten“, mit welchen die Sprache in einem Adäquationsverhältnis „übereinstimmen“ sollte).16
12 Vgl. hierzu den Beitrag von Ágnes Hansági in diesem Band, ferner die Analysen von Danijela Lugarić zu einem Einzeltext der Einführung in die schöne Literatur (über die weltliterarischen Indizes und Effekte des intertextuellen Schreibens) und Gábor Tamás Molnár zu (meta-) narrativen und (meta-)fiktionalen Figuren der historischen, kulturellen und familiengeschichtlichen Überlieferung mitsamt den entsprechenden Gattungsmustern in Harmonia Caelestis. 13 Ein Vergleich zwischen Italo Calvino und Esterházy würde wohl mit interessanten Ergebnissen bezüglich der Poetologie und theoretischen Definierbarkeit postmodernen Erzählens aufwarten. Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) besteht bekanntlich aus zehn unterschiedlichen Romananfängen und manifestiert insofern genau das produktive Unfertigsein, die Unabgeschlossenheit von narrativen Textentwürfen (vgl. Jauß: ltalo Calvino, 267–302). Das Schreiben als „Lesen des Lebens“ (Jauß) erweist die Fiktion abhängig von der Lektüre, in dem Sinne, dass die Fiktion nicht zum Effekt einer abgeschlossenen ästhetischen Totalität führen kann, insofern die Unabgeschlossenheit sich dem potentiell immer möglichen Neubeginnen des Lesens verdankt. Dieses verunmöglicht also die Finalisierung des Rahmens der Fiktion und öffnet diese auf die „ungeschriebene Welt“. 14 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 105–106. 15 Das Ethos des Schreibens als eines Handwerks wurde stark von Kosztolányi – etwa in Kornél Esti – betont, von Sándor Márai, einem anderen für Esterházy wichtigen Autor, am Ende seiner Bekenntnisse eines Bürgers (1934) formuliert. Dieses Ethos steht bei ihnen in einem tiefgreifenden Korrelationsverhältnis mit ihrer Überzeugung, dass „Heimat“ für sie als Schriftsteller nicht an einem konkreten Ort (oder gar in einem Land), sondern ausschließlich in der – ungarischen – Sprache möglich ist. Nicht zu vergessen ist in dieser Hinsicht, dass sowohl Kosztolányi als auch Márai Gegenden und Städten entstammten, die nach dem Ersten Weltkrieg zwei verschiedenen Nachbarländern angeschlossen wurden (Kassa/Kaschau/Košice der Slowakei und Szabadka/Subotica Serbien). 16 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 186.
Über das Werk von Péter Esterházy
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Der Schlusssatz „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben“ steht aber auch in der Tradition von Dezső Kosztolányi (1885–1936), der für Esterházy der wichtigste ungarische Erzählautor war, wovon zahlreiche essayistische Aussagen, resp. Zitate, Allusionen, Motive, Übernahmen in seinen literarischen Werken zeugen. Bekanntlich hat Esterházy Kornél Esti, das novellistisch-romanhafte, in der ungarischen Literatur- und Kulturgeschichte auf vielfältige Weise kanonisch gewordene Werk von Kosztolányi, in einem eigenen Buch auf eine hypertextuelle (nicht einfach nur meta- oder intertextuelle) Weise weiter- oder neu geschrieben.17 Nun vertrat Kosztolányi die am Horizont der Spätmoderne auch in vergleichender Hinsicht markante und stark anschlussfähige Auffassung, dass „die Sprache nie gänzlich fertig ist“. Im Wortlaut: „Man kann die Sprache nicht durch ein Wörterbuch erfassen [szótárazni], verschließen und endgültig machen [véglegezni]. Sie ist ein lebendiges Gewebe [eleven szövet], das nie gänzlich fertig ist, wir müssen es immer wieder neu weben, sooft wir sprechen oder schreiben.“18 Anderswo wiederum: „Die Sprache lebt, pulsiert, entfaltet sich. Sie wächst wie das lebendige Gewand. Sie wird nie fertig.“19 Dieses Nicht-Fertigsein der Sprache, etwa ihr Widerstand gegen das Schreibbare hat Esterházy zeitlebens fasziniert, und zwar von seinen ersten Texten an, die ja kleinepische Formen (Märchen, Gespräch, Legende, Anekdote usw.) instrumentierten und diese dann immer wieder sprachlich-textuell und kompositorisch, gar rhizomatisch weiter potenzierten (im Produktionsroman wie in der Einführung in die schöne Literatur). Die Vorliebe für die kleinen oder „einfachen“ Formen war also nicht einfach ein regional geprägter sprach- und redekultureller bzw. architextueller Impuls, eine postmoderne Geste des Präferierens von „kleinen Erzählungen“ (anstelle der „Meistererzählungen“), gar einer formalpoetischen Serialisierung (obzwar auch dieses Verfahren bei ihm zu beobachten ist),20 sondern sie war Index dafür, dass seine Texte der Virtualität, der Unabschließbarkeit der Sprache als eines Geschehens des
17 Esterházy: Esti. (Zu Kosztolányi insgesamt und speziell zu Kornél Esti vgl. Lőrincz: Ästhetisierung der Sprache, 366–368.) 18 Kosztolányi: Fellegjáró és elképesztő, 63. Kosztolányis Sprachbegriff steht hier in tiefer Verwandtschaft mit dem Wilhelm von Humboldts: „Sprache kann auch nicht, gleichsam wie etwas Körperliches, fertig erfasst werden; der Empfangende muss sie in die Form giessen, die er, für sie bereitet, hält, und das ist es, was man verstehen nennt.“ Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten, 156. 19 Kosztolányi: Ábécé a nyelvről és lélekről, 75. 20 Diese Bedingungen der Möglichkeit bzw. Modi der kleinepischen Ausdrucksformen (regionale, gar literaturhistorische Ausdrucksdispositive, nachmoderne Reflexe und poetologische Aspekte) können und sollen selbstverständlich reflektiert werden. Hier ging es lediglich darum, dass der Ursprung der kleinen Erzählformen bei Esterházy in einem systematischen Sprachkonzept zu suchen ist.
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Csongor Lőrincz
(subjektivierten wie desubjektivierten) Sprechens ausgesetzt wurden. Seine Texte leben aus dieser Faszination, zugleich leben sie sie auch vor, und zwar auf allen ihren Ebenen (auf der thematisch-repräsentierten Ebene spätestens von der Figur des „Meisters“ im Produktionsroman bis mindestens zu der von „Esti“ im gleichnamigen Buch, freilich mit unterschiedlichem Komplexitätsgrad). Wie bei Esterházy so oft, lässt sich auch hier ein zu einem Spruch avanciertes Zitat anbringen, diesmal aus dem letzten fiktionalen Werk, der Markus-Version: „Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss.“21
3 Herausforderungen der Schreibweise von Esterházy an das Konzept „Literatur“ und an die Rezeption Im Lichte dieser Überlegungen könnte man also durchaus meinen, Péter Esterházys Texte seien noch unabgeschlossen, und zwar von ihrer „immanenten Poetik“ (Hans Blumenberg) her, also auf der Ebene ihrer textgenerierenden Prinzipien. Insofern hat Esterházy in der Tat das kaum überbietbare Kunststück vollbracht, die divergierenden Effekte der intertextuellen Textgestaltung, besser: des Prozessierens des Intertextuellen – mit Inventionen von singulären Sprachatmosphären zu verbinden. Diese beiden Dimensionen wären bei ihm nur um den Preis der „ästhetischen Unterscheidung“ (Hans-Georg Gadamer), also einer arbiträren und künstlichen Isolierung zu trennen. Wenn auch kompositorisch ausgezeichneten Performativa (wie dem zitierten letzten Satz der Einführung) Intertexte, also Zitationsakte vorangehen, dann wird das Lesen selbst zu einem (inter-)textuellen Effekt, mit allen textuellen und performativen Konsequenzen.22 Das Lesen selbst schreibt an den Texten weiter, und zwar aus einem Zwang (der Interpretation), nicht unbedingt aus einem autonomen Reichtum – zugleich wird das Lesen selbst auch geschrieben von denselben Texten. (Esterházys auffallendes und häufiges, immer spektakuläres Verfahren, die Verdopplung der Autorschaft zwischen Autor und Leserfigur – realisiert bereits von Kosztolányi in Kornél Esti – oder etwa zwischen dem Lesen der eigenen – etwa gerade entstehenden – und der zitierten Texte war ja durchgehend ein textuell-rhetorischer Zug mit dem jeweiligem Intensitätsgrad in seinem Werk. Diese intra- und intertextuelle
21 Esterházy: Die Markus-Version, 110. Im Original: „Nincs vége. Ez a befejezés.“ 22 Vgl. hierzu den Beitrag von Hajnalka Halász in diesem Band zum Verhältnis zwischen Kornél Esti von Kosztolányi und Esti von Esterházy.
Über das Werk von Péter Esterházy
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Operation an der Funktion der Autorschaft findet in diesem allgemeinen sprachpragmatischen Spielraum statt bzw. stellt sein metafiktionales Strukturmoment dar.) In dieses Zusammenspiel werden die Lesenden der Texte von Esterházy eingelassen, von dessen Faszination angezogen, durch seine sprachlich-semantischen Herausforderungen irritiert. In diesem Spielraum werden durch die Weise eines re-entry als intertextueller Iteration Themen wie Familiengeschichte, Erzählen der allgemeinen (regionalen) Geschichte oder das Verhältnis zum Fußball zu mehrfach lesbaren Konstellationen, gar zu selbstinterpretierenden Motiven seiner Texte.23 Nun kann man aber nicht uneingeschränkt behaupten, dass sich die Rezeption Esterházys von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen diesen Herausforderungen restlos gestellt hätte. Die Stärke dieser Texte zeigte sich ja unter anderem daran, dass zahlreiche Zitate aus ihnen in universitären oder intellektuellen Kreisen zu Sprüchen oder Bonmots geworden sind, ihr exzessives Zitieren täuscht jedoch darüber hinweg, dass sie eher selten in einem stärkeren interpretatorischen Sinne gelesen wurden. Je mehr man einzelne Sätze oder Ausdrücke mit erwartbaren nicht-verbalen Effekten zitierte, umso mehr hat man sich gewissermaßen vor den Texten selber geschützt. Bei allen affirmativen, gar kultischen Lobgesängen, zuletzt einfühlsamen und nicht gerade immer interesselosen Gedenkreden sind sie manchem sogar zutiefst fremd oder zumindest hermeneutisch unzugänglich geblieben. Lange Zeit wütete eine regelrechte Zitatjagd in Bezug auf die Texte von Esterházy, deren interpretatorische Unzulänglichkeit bereits dadurch manifest geworden ist, dass man auch so bei weitem nicht alle relevanten Zitate fand, von ihrer Interpretation ganz zu schweigen. Es kam auch zu symptomatischen, zugleich witzigen Vorfällen, wo man Esterházy bestimmte Sätze aus seinen Texten als eigenständige, mehr noch: als intentionale und assertive Äußerungen zuschrieb, von denen sich dann später herausstellte, dass sie – Zitate sind. Im Allgemeinen kann man nach wie vor sagen, dass starke Lektüren zu diesem nun abgeschlossenen Lebenswerk nicht in der Mehrzahl sind. Das zeigt sich ziemlich eklatant daran, dass Esterházys erster Roman, der Produktionsroman (nun gut 40 Jahre zurückliegend), in der Kritik und Fachliteratur kaum wirklich interpretiert wurde, dabei hat dieses Werk den stärksten Einfluss auf die spätere ungarische Erzählliteratur ausgeübt, im Grunde eine neue literaturhistorische Epoche, gar die „Postmoderne“ in Ungarn eingeläutet. Seine Wirkung hat dieser Roman zumindest in einigen seltenen Fällen auch in der
23 Vgl. hierzu die Beiträge von Danijela Lugarić (zu einem Text in der Einführung in die schöne Literatur), Gábor Tamás Molnár (zu Harmonia Caelestis) und Péter Fodor (zu Deutschlandreise im Strafraum) in diesem Band.
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Literaturkritik bzw. -wissenschaft nicht verfehlt,24 auf eine literaturhistorisch artikulierte Analyse, die ihn auch im Kontext des (damaligen) Lebenswerkes gewichtete, musste man aber bis 1996, bis zu Ernő Kulcsár Szabós Monographie, warten.25 In dieser Untersuchung wird dem Romanerstling Esterházys eine kardinale und singuläre Bedeutung für das ganzen Lebenswerk zugesprochen, insofern dieser „Zwillingsroman“ eine dermaßen unerhörte sprachlich-textuelle Komplexität aufweist, dass seine Schreibweise gewissermaßen die Grundlage bildete für das spätere Werk des Autors. Ja, man kann geradezu vermuten, dass der Produktionsroman als Text, als „sich selbst schreibender Roman“ auch seinen Autor überrascht hat. Die in manchen – historischen wie zeitgenössischen, literarischen wie nicht-literarischen – Sprachregistern spielende, in diesem Sinne polyglotte, virtuos orchestrierte Sprachwirklichkeit dieses Romans lotet ein grundsätzliches „Sprechen“ der Sprache(n) aus, beginnend von der Artikulation als Grundmovens bis zu phrasematischen, gesprächsmäßigen und kolloquialen Dynamiken des Sprachlichen, zu verschiedenen Idio- und Soziolekten, Sprachstilen, Sprachverwendungsweisen, zu einer linguistischen Hybridität in jedem Sinne. Zugleich vollzieht sich diese Dynamik oder dieses Werden des Sprechens auf graphematischen Grundlagen oder deutet virtuell auf diese zurück, auf eine anagrammatische Seinsweise der Sprache, die unter textuellen Bedingungen erst recht intensiviert wird. Eigentlich identische Signifikanten (z. B. die „Fliege“) verschiedener sprachlicher Wendungen lösen sich beispielsweise im Zuge einer sylleptischen Bewegung aus den semantischen und pragmatischen Kontextbeziehungen heraus und wirken wie Anagramme, d. h. sie decken ein aleatorisches und mechanisches Funktionieren der Sprache auf, das wohl nicht mehr einfach „Sprechen“ zu nennen ist.26 Diese Verfasstheit des Textes des Produktionsromans erreicht eine Komplexität, die später nur noch im nächsten längeren Text, Flucht der Prosa (A próza iszkolása, der erste Text in Einführung) und teilweise in Indirekt (Függő) erreicht wird. Die weiteren Texte bereits der Einführung in die schöne Literatur (angefangen gerade mit Függő)27 versuchen, diese subversive Textualität in weitmaschigere erzählerische Formationen zu übersetzen, sie gleichsam zu kanonisieren in der Form einer dadurch als solche kodifizierten literarischen Lesbarkeit. Die Bedeutung der Trope vom „Hinhören auf die Konversation der Welt“ innerhalb des Werkes
24 S. z. B. Szegedy-Maszák: A regény, 120–123. 25 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 45–95. (Das betreffende Kapitel heißt: Die Weltschöpfung der „sprechenden“ Sprache. Der Produktionsroman und die postmoderne Epochenschwelle.) 26 Vgl. hierzu die – auch lesestrategisch innovativen – Aufsätze von Tibor Bónus, Gábor Palkó und Péter Szirák zum Produktionsroman in diesem Band. 27 Darauf macht Kulcsár Szabó aufmerksam, vgl. Esterházy Péter, 121–149.
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von Esterházy wird auch dadurch erhöht, dass letztlich die ganze Einführung in die schöne Literatur als „Weltbuch“ (so die selbstinterpretierende Figur des Werkes) auf einer metafigurativen Ebene das Korrelat dieses Hinhörens darstellen kann. Mit der Rahmung des Werkes wird auch eine zeitliche Deixis angegeben, der 16. Juni, wodurch die ganze Einführung als Buch in einen Joyceschen Horizont eingelassen wird.28 Die „schöne Literatur“ als Trope der Herstellung einer z. B. architextuellen (also gattungsbedingten) Lesbarkeit erweist sich also als Übersetzung aus einer Textualität, deren anagrammatische Funktionsweise gegenüber einer solchen (kanonisch-literalisierenden) Tropologisierung auch erheblichen Widerstand leistete. Es ist kurz gesagt nicht sicher, dass der Produktionsroman in der Weise „Literatur“ zu nennen ist, wie dies aus der Sicht etwa von Függő, aber erst recht von späteren Werken zu verstehen ist. Auch an dieser Stelle wäre die Untersuchung der metafiktionalen Züge und ihrer Veränderungen im ganzen Oeuvre fällig (in dessen späteren Teilen die historiographische Metafiktion überwiegen wird):29 Der Produktionsroman enthält im ersten Teil, im „kissregény“ (Kiss-roman, Kurzroman/Kussroman) eine diegetische Metafiktion (eine mehrfache Gattungsparodie) und verschränkt im zweiten Teil – den Aufzeichnungen von E. – die Potenzierung des Sprechens, des Schreibens und des Lesens in einer Weise, die auf eine latente anagrammatische Funktionsweise hinweist und mit gängigen architextuellen (gattungshaften) und selbstreflexiven Schemata auch weniger zu bestimmen ist. Der Produktionsroman wäre somit die Matrix des Werkes von Esterházy, die jedoch hochgradig unlesbar war nicht nur für die Rezeption, sondern teilweise auch für das spätere kanonisierte Werk selbst, obgleich dieses sein Entstehen der vom Romanerstling eröffneten Sprachdimension verdankt. Diese disymmetrische Relation zwischen dem Produktionsroman und dem späteren Werk zu artikulieren, wäre vermutlich auch in theoretischer Perspektive ungemein spannend, etwa für eine (heute offenbar stark fehlende) Theorie der Literaturgeschichtsschreibung. Der Produktionsroman scheint nun aber immer mehr gewisse Stränge der fachlichen Rezeption zu beschäftigen, etwa aus der Einsicht, dass ohne eine eingehende Interpretation dieses Romans die Gesamtheit von Esterházys Texten, ihre poetologischen wie sprachkonzeptuellen Aspekte, Motivationen und Treibimpulse schwerlich angemessen verstanden werden kann. An diesem Roman lassen sich die (späteren) Markenzeichen von Esterházys Schreibweise
28 Vgl. Wernitzer: Idézetvilág, 98–99. Zu den Zeitverhältnissen im Buch s. den Beitrag von László Bengi in diesem Band. 29 Vgl. hierzu den informativen und literaturanalytisch differenzierten, verschiedene Ebenen der Texte verschaltenden Überblick im Beitrag von Róbert Smid in diesem Band.
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gleichsam in ihrer ursprünglichen Form, in einer „Rohfassung“ beobachten. Vor allem jene „graziöse Ungebundenheit“30 als diskursive Erzählweise, die grundsätzlich eine Selbstbewegung der sprachlichen Dynamik als poietischen Geschehens selber meint (nicht einfach eine noch so „virtuose“, den auktorialen Kompetenzen zugeschriebene Erzählweise, auch wenn im Zuge der [Selbst]kanonisierung von Esterházy solche Effekte in den späteren Texten manchmal vorkommen). Er selbst hat das mit Blick auf eine „allmähliche Verfertigung“ der textuellen bzw. literarischen Artikulation seiner Sätze vor einem deutschsprachigen Publikum folgendermaßen formuliert: So sind meine Sätze oft, vor allem die geschriebenen, weil für mich von Anfang an wichtig war, nicht unbedingt zu zeigen, aber doch spüren zu lassen, dass der Satz gerade in statu nascendi ist, gerade geboren wird. Das hat natürlich schwerwiegende Folgen, nämlich, dass man dem Satz das ansieht.31
Genuine Sprachmerkmale der Prosa von Esterházy, wie das Sprachspiel und die Ironie, sind Korrelate dieses sprachlichen Werdens oder Entstehens schlechthin, weniger eines intentionierten „Aussagens“ (obzwar Fälle dieser Art, also weniger differenzierte Anakoluthe des „Hinaussprechens“ über die Grenzen des Textes, auch in dem einen oder anderen Buch, etwa in Donau abwärts oder Esti, nicht aber in den Werken vor 1986, auftauchen). Dieser genuine Sprechcharakter oder diese Redehaftigkeit hat aber im Produktionsroman seine Wurzeln nicht in einer noch so geschickten Imitation etwa von gesprochenen Sprachen, sondern – auf der Ebene der Rollenfigur des „Meisters“ – im Hinhören auf die „Konversation der Welt“. Von dieser grundlegend responsiven Verfasstheit der literarischen Sprechkunst im Roman her lässt sich wohl der ganze implizite (etwa zwischen dem frühen und späten Wittgenstein zu verortende) Sprachbegriff des Produktionsromans32 umdenken oder zumindest weiter differenzieren. Es ist nämlich auffallend, dass in der neueren Rezeption, so auch in diesem Band, immer häufiger die verschiedenen Störungen, Missverständnisse, „Malheurs“, ferner die paralinguistischen Bereiche – etwa das Schweigen – der inszenierten Sprache in dieser Schreibweise fokussiert werden.33 Die unlokalisierbaren, nicht situierbaren Übergänge und Oszillierungen zwischen Sprache und nicht-sprachlichem Ausdruck, die Verlegung ihrer Differenz in jeweils beide dieser Dimensionen (Schweigen in der Sprache, wortlose Echos der
30 Vgl. hierzu den Aufsatz von Ernő Kulcsár Szabó in diesem Band, welcher Beitrag die sprachkonzeptuellen, kommunikativen, poetologischen und historischen Aspekte dieser Schreib- und Erzählweise in magistraler Weise zusammenfasst. 31 Esterházy: Literator 2011, 56. 32 Hierzu vgl. einmal mehr Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 43–44, 57. 33 Vgl. die Aufsätze etwa von Palkó, Bónus, Bartal, Szirák, Tolcsvai Nagy, Varga und Lőrincz in diesem Band.
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Sprache in der Mimik und Gestik) markieren hier ein Sprachverhältnis, dessen literalisiertes Geschehen als Textualität ständig von dieser Oszillation geprägt wird. In der „graziösen Ungebundenheit“ als allgemeinem (etwa permutativ-sylleptischem) Sprechmedium ist diese Schreibweise also auf mehreren textuellen Ebenen für solche Diskontinuitäten und Brüche des Sprachverhältnisses selber offen, mehr noch: Ihr Entstehungscharakter als Modus des Sprechens wird zu einem großen Teil von Provokationen des von der Sprache durchdrungenen, dieser zugleich Widerstand leistenden Nicht-Sprachlichen am Leben gehalten. Oszillationen und gegenseitige Widerstände oder Spannungen zwischen dem Sagbaren und Schreibbaren implizieren kaum wahrnehmbare Bedingungen des Sprechens, der Betätigung der Sprache (etwa wechselseitige Kontaminationen von Handlungen und Sprechhandlungen), zugleich produzieren sie Entzugseffekte, Momente des Schweigens, des Geheimnisses, dadurch vielfach gebrochene und indirekte Bezüge zum Transzendenten oder zur eigenen Krankheit.34 Diese bewegliche semiotische Textur, die sprachliche Verfasstheit, die ständig die Redehaftigkeit exponiert, und eine entsprechend responsiv gestimmte Rhetorik des Erzählens haben die Prosa von Esterházy auch zu einer bemerkenswerten archäologischen Arbeit über die Geschichte und Kultur von Ostmitteleuropa als entsprechend geprägter Heterotopie und interkulturellem Transitraum befähigt. Die deutschsprachige fachliche Rezeption hat diesen Aspekt seiner Texte, aber auch ihre narrativen Subjektivierungsstrategien, in kulturwissenschaftlichen und komparativen Kontexten interpretiert und reflektiert.35 Im regionalen Kontext ist hier nicht zuletzt die Auseinandersetzung Esterházys mit der politisch-sozialen Funktionsweise und dem Erbe des kommunistischen Systems in Ungarn von Belang (von der Spionnovelle aus seinem zweiten Novellenband über Kleine Pornographie Ungarns bis zur Erinnerung an die Zwangsaussiedlung seiner Familie zu Beginn der 50er Jahre in Harmonia Caelestis und Die MarkusVersion, am explizitesten freilich in der Verbesserten Ausgabe).36 Er hat versucht, auch im letztgenannten Werk dem Unverstehbaren – der Tatsache, dass auch sein Vater als Spitzel rekrutiert werden konnte und sich darüber zeitlebens ausschwieg – eine exemplarische, über den regionalen räumlichen und zeitlichen Kontext hinausgehende Bedeutung abzugewinnen.37 In allen Fällen gelang es ihm, ältere Gattungen (etwa den historischen Roman) neu zu instrumentieren
34 Vgl. hierzu die Beiträge von Gábor Tolcsvai Nagy, Róbert Smid und Mária Bartal im letzten Block dieses Bandes. 35 Vgl. Seiderer: Donaupassagen; Weiland: Zur Narratologie. Zur Zusammenführung beider Perspektiven vgl. den Aufsatz von Ágnes Balajthy in diesem Band. 36 Vgl. den Beitrag von Péter L. Varga in diesem Band. 37 Vgl. den Beitrag von Csongor Lőrincz über die Verbesserte Ausgabe in diesem Band.
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oder gleichsam neue „Hybridgattungen“ zu erfinden (eine „verbesserte Ausgabe“ zu diesem historischen und Familienroman oder die Kombination von „einfacher Geschichte“ mit einem spirituellen Sprechmodus und Textgenre). Die intertextuelle Dynamik auch innerhalb des eigenen Werkes hat auch in der letzten Schaffensperiode von Esterházy nicht nachgelassen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Seinem lebenslangen Tribut und Verhältnis zu Kosztolányi sowie einer weiteren Reihe von Schriftstellern (etwa Borges) und Texten hat er in Esti ein prägnantes Zeugnis in der Gattung der Novelle angedeihen lassen. Aus der Perspektive etwa der Gattung der „einfachen Geschichte“ hat er vielfach auf seine früheren Text- und Erzählmuster zurückgegriffen und sie in einer gewandelten Form nochmals mit Aspekten des Gebets, der religiösen Rede oder des Tagebuchs zu vermitteln versucht.38 Das Lebenswerk von Péter Esterházy ist von vornherein und bis an sein Ende von einer verdoppelten Verfassung geprägt: einerseits von der Freude an der sprachlichen Formulierung, an der mitteilungskonditionierenden Plastizität von Sprache (gleichsam im Sinne von Wilhelm von Humboldts „Gefallen an der Rede“ als sprach-anthropologischem Merkmal, wo das sprechende Subjekt erst von diesem Sprachereignis subjektiviert wird), zugleich vom nie nachlassenden, vom (nicht unbedingt nach menschlichen Interessen funktionierenden) Geschehen der Sprache selbst veranlassten Antrieb, die Grenzen der (gelungenen) Formulierung immer weiter aufzuweichen und zu verschieben, auf der Suche nach dem treffenden Wort (wo das sprechende Subjekt zum Objekt, besser: zum Medium dieses Geschehens desubjektiviert wird). Dieser doppelten Disposition sollte jedes Lesen und Interpretieren seiner Werke entsprechen – zumindest die Beiträge in diesem Band haben dies versucht. „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“
Literatur Barner, Ines und Günter Blamberger (Hg.). Literator 2011. Dozentur für Weltliteratur. Péter Esterházy. München: Fink, 2013. Calvino, Italo. Herr Palomar. Frankfurt a.M.: Fischer, 2012. Esterházy, Péter. „Egy kellemetlen alak“ [Ein unangenehmer Kerl]. Írások. Budapest: Magvető, 1994. 395–397. Esterházy, Péter. Die Markus-Version – Einfache Geschichte Komma hundert Seiten. Deutsch von Heike Flemming. Berlin: Hanser, 2016.
38 Vgl. die Beiträge von Gábor Tolcsvai Nagy, Róbert Smid und Mária Bartal im letzten Block dieses Bandes.
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Esterházy, Péter. Esti. Budapest: Magvető, 2010. Esterházy, Péter. Esti. Deutsch von Heike Flemming. Berlin: Hanser, 2013. Handke, Peter. Wunschloses Unglück. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001. Humboldt, Wilhelm von. „Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“. Schriften zur Sprachphilosophie. Werke III. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979. 144–367. Jauß, Hans Robert. „Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Plädoyer für eine postmoderne Ästhetik“. Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989. 267–302. Konstatinović, Zoran und Fridrun Rinner. Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas. Innsbruck/ Wien/München/Bozen: StudienVerlag, 2003. Kosztolányi, Dezső. „Ábécé a nyelvről és lélekről“ [ABC über die Sprache und die Seele]. Nyelv és lélek. Budapest: Osiris, 2002. 72–76. Kosztolányi, Dezső. „Fellegjáró és elképesztő“ [Verträumt und verblüffend]. Nyelv és lélek. Budapest: Osiris, 2002. 63. Kulcsár Szabó, Ernő. Esterházy Péter. Bratislava: Kalligram, 1996. Lőrincz, Csongor. „Ästhetisierung der Sprache. Klassische Moderne zwischen Metaphysik des Artistischen und Neusituierung des Subjekts“. Geschichte der ungarischen Literatur. Hg. Ernő Kulcsár Szabó. Berlin/Boston: de Gruyter, 2013. 292–380. Parks, Tim. Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen. München: Verlag Antje Kunstmann, 2016. Seiderer, Ute. „Donaupassagen. Interkulturalität und Transiterfahrung bei Péter Esterházy“. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7.2 (2016). 73–86. Seiler, Lutz. „Heimaten“. Sonntags dachte ich an Gott. Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004. 42–43. Szegedy-Maszák, Mihály. „A regény, amint írja önmagát“ [Der Roman, der sich selbst schreibt]. Mozgó Világ 5.6 (1979). 120–123. Weiland, Marc. „Zur Narratologie autobiografischer Selbst(er)findung. Literarische Lebensgeschichten bei Felicitas Hoppe und Péter Esterházy“. KulturPoetik 15.1 (2015). 50–69. Wernitzer, Julianna. Idézetvilág: avagy Esterházy Péter, a Don Quijote szerzője [Zitatwelt oder Péter Esterházy, Autor des Don Quijote]. Pécs: Jelenkor, 1994.
I Das Phänomen Esterházy (zwischen Lesen, Schreiben und Übersetzen)
László Márton
Péter Esterházy – Werk und Wirkung Noch heute erinnere ich mich genau an das befreiende Gefühl beim Lesen des Produktionsromans und später bei Gesprächen und Diskussionen über ihn. Das Buch erschien 1979, ich war damals zwanzig Jahre alt, am Beginn meines Erwachsenenlebens. Esterházy war neunundzwanzig. Dem Lebensalter nach noch jung, aber kein Neuling mehr, schließlich war dies schon sein drittes Buch. Die oft erwähnte Erneuerung der ungarischen Prosa war damals schon seit Jahren im Gange, dennoch hatte man mit Erscheinen des Produktionsromans das Gefühl, im ungarischen literarischen Leben sei plötzlich alles verändert: Nicht nur die Prosa wandelte sich, sondern auch die Lyrik und die Redeweise der Kritik. Schon damals war offensichtlich, dass diese umschwungartige Veränderung vor allem sprachliche und poetische Gründe hatte. Nur dass die sprachlich-poetische Modernisierung in der ungarischen kulturellen Tradition immer auch mit dem öffentlichen Leben verbunden war, mit der Politik im engeren oder weiteren Sinne. So war es, als die Zeitschrift Nyugat zu erscheinen begann, in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg, in denen das frühmodernistische Experiment zur Ersetzung der Versäumnisse der Romantik mit dem albtraumhaften Vorgefühl des Zusammenbruchs des historischen Ungarns verknüpft war. So war es auch in den anderthalb Jahrzehnten von der Revolution von 1848, der sogenannten „Reformzeit“, als der literarischen Geschmacksveränderung und der radikalen Neuinterpretation der Rolle der Schriftsteller und Dichter eine umfassende Sprachneuerung vorausging und neben der Forderung der Lösung vom sprachlichen Provinzialismus der Plan der Befreiung der Leibeigenen und das Programm der nationalen Unabhängigkeit auftauchten. So war es auch dreißig bis vierzig Jahre, bevor diese Zeilen geschrieben wurden; eigentlich ging es der literarischen Erneuerung um die Autonomie der Kunst: Widerstand gegen die Bevormundung durch die offizielle Kulturpolitik, Organisation selbstständiger geistiger Werkstätten – letzten Endes eine freie Öffentlichkeit. Und das – so wussten und glaubten es die Anhänger der kulturellen Progression – war nicht ohne Demokratie vorstellbar. Aber die Utopie der Demokratie verband ein wesentlicher Teil der kulturellen Elite – auf überaus naive, aber bis heute zu respektierende Weise – mit sprachlichem und ästhetischem Perfektionismus. Vorsichtiger formuliert: mit Qualität und Leistung.
Übersetzung: Deutsch von Christina Kunze. https://doi.org/10.1515/9783110618082-002
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1 Fünf kleine weiße Bücher und ein großes Péter Esterházy war eine emblematische Persönlichkeit dieses Prozesses. Keine Führungsfigur, denn trotz seines charismatischen Wesens hatte er nichts von einem Anführer an sich. Er stand nicht an der Spitze irgendeiner Richtung oder Gruppierung, denn er betrachtete und schätzte das menschliche Wesen nicht als Teil einer Masse, sondern als Individuum. Etwas vereinfacht: Er war Schriftsteller, und als Schriftsteller lebte er für sein Handwerk. 1986 veröffentlichte er ein schriftstellerisches Projekt von noch größerem Zuschnitt als den Produktionsroman: das monumentale Textkonglomerat Einführung in die schöne Literatur, das seinen Lesern bis heute viel Freude zuteilwerden lässt. Doch die an sich nicht unwahre Behauptung, dass der Autor die Einführung 1986 herausgab, muss ich sogleich präzisieren. In diesem großen weißen Buch (so sah die erste ungarische Ausgabe aus) finden sich fünf längere Texte, die sich auch als selbstständige Bände bewährt hatten: In den Jahren vor dem großen weißen Buch hatte Esterházy fünf kleine weiße Bücher aus der Hand gegeben, von denen sich vier wie sehr einheitliche literarische Werke empfinden lassen, während der fünfte Band zwei unterschiedliche, aber trotzdem einheitlich wirkende Werke enthält. Ich erinnere mich, wie zu Beginn der 1980er Jahre das Warten organischer Bestandteil der Frühjahrsmonate war: Welches neue kleine weiße Buch von Esterházy wird die Buchwoche, die ungarische Buchmesse, mit sich bringen? Was wird die Fortsetzung von Indirekt (1981) sein, was wird in die Fußstapfen der Kleinen ungarischen Pornographie (1984) treten? Diese kleinen Bücher waren nicht Fortsetzungen im engen Sinn des Wortes, dennoch gehörten sie – vielleicht wegen der vorausgehenden Erwartung der Leser – zusammen, und auch das große weiße Buch stieß sie nicht vom Regal, denn die fünfzehn neuen Texte, die sich ihnen hier beigesellten, und die grandiose Typografie statteten sie mit ganz und gar neuen Bedeutungsschichten aus. Die Einführung war das Hauptwerk und zugleich der Abschluss von Esterházys früher Schaffensperiode. Schon in den 1980er Jahren wurden die versierten Literatursachverständigen auf die sprachliche Verfasstheit des prosapoetischen Radikalismus dieses Autors und dessen Konsequenzen für die Gattung aufmerksam. Esterházy schien die Erkenntnisse von Karl Kraus (und ihm sprachtheoretisch nahestehenden ungarischen Autoren wie Dezső Kosztolányi) über die Sprache in die literarische Prosa zu verpflanzen: Wenn der Niedergang des Sprachgebrauchs mit dem Untergang der Menschlichkeit zusammenhängt, mit der Liquidierung der geistigen und bürgerlichen Freiheit, können Freiheit und Würde des Erzählers durch die Sprache wiederhergestellt werden. Dieses Experiment war erfolgreich: Auch deshalb konnte ich am Anfang meines Textes von dem befreienden Gefühl sprechen, das den damals zwanzigjährigen
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Esterházy-Leser vor vierzig Jahren ergriff und ihm bis heute Kraft verleiht. Zugleich hatte es auch seinen Preis. Esterházy musste auf die groß angelegte, einheitliche Romankomposition verzichten, auf die Textmuster-Handlung mit ihren vielen Fäden, auf das Ringen zwischen Verfasser und Protagonisten über mehrere hundert Seiten hinweg. Stattdessen arbeitete er mit Texten von kurzer Spannweite – Anekdoten, Zitaten, Schnellskizzen –, die sich nebeneinander anordneten, in denen er jedoch enorme sprachliche Energien konzentrierte. Die Dominanz der kleinen Formen ist in der ungarischen Belletristik nicht ohne Vorläufer. Auch István Örkény und Miklós Mészöly hätten gern große Romane geschrieben – beide Autoren hatten großen Einfluss auf den jungen Esterházy –, aber Örkény ging in den Kanon der ungarischen Prosa mit seinen auch im Titel vielsagenden Minutennovellen ein und Mészöly mit Kurzprosa aus Textsplittern und mit Kurzromanen, die mit verdichteter Sprache Ellipsen anhäufen. Auch das Lebenswerk anderer Autoren, die für Esterházy wichtig waren – im engeren Sinne Géza Ottlik, Iván Mándy, Imre Kertész und Ádám Bodor, im weiteren Sándor Márai, Dezső Kosztolányi und Kálmán Mikszáth – lohnt es unter diesem Aspekt zu betrachten. Der Esterházy der frühen Werke unterscheidet sich meiner Einschätzung nach in zweierlei von seinen auslassenden und verschweigenden Vorgängern in den Kleinformen. Erstens: In jeder Sinneinheit, selbst in der kürzesten schriftstellerischen Mitteilung häuft er eine ungewohnt große sprachliche Energie auf. Dies ergibt sich teils aus der Inkongruenz verschiedener Stilebenen, teils aus der Spannung zwischen Spielerischem und Tragischem, anderenorts wiederum aus der Intertextualität, aus der Integration von Texttrümmern, die sich als fremd identifizieren lassen. (Ich kann nicht sagen, dass man über Esterházys Zitiertechnik einen extra Aufsatz schreiben müsste, denn solche Arbeiten gibt es schon in großer Zahl.) Zweitens: Obwohl er aus Kleinformen baut, wirkt die sprachliche Energie in den Texteinheiten als Kohäsionskraft, deshalb zerfällt der Text auch dann nicht, wenn sich viele parataktische Textteile miteinander verbinden. Schon der Produktionsroman imitiert überaus erfolgreich ein episches Großwerk, obwohl er keines ist; die Einführung ist noch monolithischer und steht den epischen Großformen doch noch ferner.
2 Autonomie der Kultur durch Engagement des Autors An dieser Stelle möchte ich mich von der Einführung verabschieden und den innovativen Charakter von Esterházys Schreibkunst erwägen. Für die ausländischen Leser merke ich an, dass in der ungarischen Literatur seit der Aufklärung
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sehr starke Erneuerungsmotivationen – man könnte sagen: Zwänge – präsent sind. Dafür gibt es mehrere Gründe: den Wechsel von Moden, den Zwang zu entsprechen (aus einer anderen Perspektive betrachtet: die Sehnsucht, zu den westlichen Kulturen aufzuschließen, wieder aus einer anderen Perspektive: ein neurotisches Minderwertigkeitsgefühl), den Kampf gegen die wirkliche oder vermeintliche Rückständigkeit (oder: die Sehnsucht, aus dem Provinzialismus auszubrechen, bzw. wiederum anders: die „Verwässerung“ der traditionellen nationalen Werte) und so weiter. Zu alledem trugen noch die bereits erwähnten Faktoren des öffentlichen Lebens bei: die Versuchung der Autonomie, die Forderung nach Freiheit (was immer das sei), Fortschritt und Verbürgerlichung. Die Autonomie der Kultur bzw. der Literatur war deshalb schon als Utopie von schweren Widersprüchen belastet. Bereits in den 1980er Jahren erkannten zahlreiche ungarische Autoren, dass zum einen bei Engagement im öffentlichen Leben eine Erosion der kreativen Energien droht, andererseits die Autonomie des literarischen Lebens – und der einzelnen Schriftsteller – auch die Unabhängigkeit von politischen Kräften bedeuten muss, was jedoch zur Isolierung bzw. Privatisierung der Literatur und einer Verringerung ihres Ansehens führt. Nach 1989, mit Entstehung der freien Öffentlichkeit, trat dies auch tatsächlich ein (und bildete für viele anders sozialisierte, ältere Schriftsteller ein unüberwindbares Trauma). Esterházy fand eine wirkungsvolle Lösung für dieses Dilemma. Während er weiter an seinem schriftstellerischen Lebenswerk baute und dem monumentalen Hauptwerk seiner nächsten Schaffensperiode, der Harmonia Caelestis, entgegenging, brachte er seine Publizistik zur Entfaltung, in der er die Stimme als Schriftsteller erheben konnte, der an der Glaubhaftigkeit des Textschaffens festhält, und zugleich als verantwortungsbewusster Staatsbürger. Noch wichtiger scheint mir allerdings, dass er sowohl mit seinen schriftstellerischen Leistungen als auch mit seiner Publizistik kontinuierlich aufzeigte, dass eine radikale Schreibweise keinen Bruch mit der Tradition bedeutet – weder in historischem noch in kulturellem noch auch in sprachlichem Sinn. Ganz im Gegenteil, Esterházys schriftstellerischer Radikalismus bedeutete schon in seiner frühen Schaffensperiode, sich ungarische und nichtungarische Traditionen anzueignen, sie neu zu interpretieren und öffentlich über sie nachzudenken. Dieser Aspekt verstärkte sich in den 1990er Jahren, genauer gesagt, nach den Zwölf Schwänen (1987). Ich erinnere mich noch, dass bei Erscheinen des Produktionsromans die Kritiker, die die offizielle Kulturpolitik vertraten und bei diesem Buch weder ein noch aus wussten, Esterházy in einen scharfen Gegensatz zu Zsigmond Móricz bzw. Móricz’ angeblichem „kritischem Realismus“ stellten. Beinahe ein Jahrzehnt lang sah es so aus, als vollzöge sich ein Zweikampf zwischen dem Schatten des von den marxistischen Literaturwissenschaftlern vereinnahmten, 1942
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verstorbenen Móricz und Esterházys lebendigen schriftstellerischen Aktivitäten, aber hier war Móricz’ Niederlage absehbar: Er musste in dem mit Hochachtung verbrämten Vergessen versinken, das langweiligen Klassikern zusteht. Dass es doch nicht so kam, ist zu einem nicht geringen Teil Esterházy zu verdanken: 1987 schrieb er einen sehr wichtigen Essay über Zsigmond Móricz, in dem er auf den intensiven Reichtum von Móricz’ schriftstellerischer Welt und auf den vielfach konstruierten Charakter der angeblich „einfachen“ und „realitätsspiegelnden“ Sprache dieses Schriftstellers aufmerksam macht. Diese Überlegungen haben gestischen Wert, sie trugen dazu bei, dass Móricz’ Werke wiedergelesen wurden; drei Jahrzehnte später, da diese Zeilen geschrieben werden, lebt im allgemeinen Bewusstsein der Interpreten ein erheblich komplexeres Móricz-Bild als früher, von dem Fäden nicht nur zu dem als Esterházy-Vorgänger betrachteten Géza Csáth und zu Kosztolányi, sondern auch zu Esterházys eigenem Werk führen. Zugleich lässt sich Esterházy auch als Fortsetzer der ungarischen Barockprosa betrachten, und nicht nur, wenn er spielerisch archaisierend schreibt. Er wendet die Sprechsituation und rhetorische Strategie der alten Prediger-Schriftsteller ironisch um, verleiht ihr aber dadurch auch Präsenz. In der Harmonia Caelestis sind die politischen Erfahrungen und Krisen der Siebenbürger Memoirenschreiber des 17. Jahrhunderts (um nur die beiden bekanntesten zu nennen: János Kemény und Miklós Bethlen) kraftvoll vertreten. Diese erhalten im Wesentlichen eine neue, beunruhigende Lichtbrechung, wenn ein Schriftsteller, der sie gut kennt – in unserem Fall Esterházy –, sie mit den historischen Wendepunkten der jüngeren Vergangenheit und den gottentleerten, neuheidnischen weltanschaulichen Hintergründen konfrontiert.
3 Familiengeschichte(n) Da wir einmal hier, bei der Tradition, angekommen sind, ist es unausweichlich, auch auf die Herkunft von Péter Esterházy einzugehen, darauf, dass er Abkömmling einer alten und vornehmen Familie war. Ich will nicht persönlich werden, wenn ich darauf hinweise, dass Mitglieder der gräfischen Familie Esterházy vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert in der ungarischen Geschichte eine wichtige (und fast immer positive) Rolle gespielt haben und dass es bei den Esterházys zahlreiche hochgelehrte geistliche Würdenträger, Mäzene und Kunstorganisatoren gab. Und wenn wir schon bei der Tradition sind: In der Familiengeschichte haben sich in großer Menge diesbezügliche Erfahrungen von wechselndem Gewicht und Gehalt angesammelt. Indem er die Tradition in Besitz nahm, wurde Esterházy auch zu ihrem Erben, und diesen unschätzbaren
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Wert kann auch ein demokratisch und progressiv denkender Schriftsteller hervorragend nutzen – wenn er bis zu Ende durchdenkt, womit es einhergeht, in so etwas hineingeboren zu werden. Dies wird in Bezug auf die Verbesserte Ausgabe, das Buch, das auf die Harmonia Caelestis folgte und sie ergänzte, besonders wichtig, es kennzeichnet aber auch schon den Produktionsroman, der Esterházy den Durchbruch brachte. Péter Esterházy wurde nämlich im Frühjahr 1950 nicht in erster Linie in die Tradition einer jahrhundertealten glanzvollen Familie geboren, sondern in die Zerstörung dieser Tradition. In die Beraubung, Erniedrigung, Brandmarkung und Vertreibung der Aristokraten und Großbürger, die nach dem zweiten Weltkrieg nicht aus Ungarn geflohen waren. Die „Aussiedlungsaktion“ von 1951 – so die offizielle Bezeichnung für diese Massenstraftat, also die Deportation – verschonte auch die in Ungarn gebliebenen Mitglieder der Familie Esterházy nicht. Esterházys Kinderjahre vergingen unter kümmerlichen äußeren Bedingungen, wovon er in seinen Werken auch vielerorts erzählt, weniger klagend als eher in selbstironischem Tonfall. Aber die Deklassierung brachte auch einen wertvollen schriftstellerischen Ertrag mit sich: Bereits ganz am Anfang seines Schaffens gruppierte Esterházy neben die aristokratische Tradition leicht, gern und spielerisch die plebejische Weltanschauung (hier ließe sich anmerken: siehe Harmonia, Teil II, Kapitel 89, proletarisch). Dies schuf das Fundament sowohl für die kavalkadenartigen Stilmischungen als auch für die scheinbare Relativierung des Tragischen und Komischen. Ich füge hinzu: Wenn Esterházy witzelt, vertieft er in Wirklichkeit die tragischen Momente. So ist es in den späten Büchern Einfache Geschichte Komma und sogar in seinem letzten, wirklich tragischen Bauchspeicheldrüsentagebuch. Und, dies sei eingeworfen, im Lichte dessen ist auch Esterházys Teilnahme am öffentlichen Leben zu interpretieren: Mit seiner aristokratischen Geburt (nicht trotz ihrer) war er engagierter Anhänger der parlamentarischen Demokratie; mit seinem innerlich durchlebten Glauben und seiner regelmäßigen Religionsausübung (nicht trotz ihrer) vollführte er jede seiner Handlungen für die geistige Freiheit – teils für ihre Bewahrung, teils für ihre Ausweitung.
4 Eine nicht ganz himmlische Harmonie Die Harmonia Caelestis mit ihrem Zwillingsbuchcharakter scheint geschlossener und einheitlicher komponiert zu sein als die Einführung, die Zusammenfassung der früheren Periode. Dennoch glaube ich, dass man die Räume zwischen den numerierten Sätzen des ersten Teils als ein vielfaches kleines Schweigen interpretieren kann, und zwar als Schweigen von unbestimmter Bedeutung,
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das aber einen schweren Gehalt trägt. Die Grundidee des ersten Teils, die Verunsicherung des konkreten Denotats – bzw. im Wesentlichen der Bedeutung – des Wortes „Vater“, verleiht den ausgesprochenen, niedergeschriebenen Textteilen ähnliches Gewicht. Die Vorläufer der Identitätsstreuung von „Vater“ liegen wohl in der drei oder vier Seiten langen Kurzgeschichte Hausarbeit [Házi dolgozat] von Kosztolányi, in der ein junger Schüler eine kurze Charakterisierung seines Vaters schreiben soll, aber mit der Aufgabe nicht zurande kommt, bis ihm ein Erwachsener (ein enger Freund des Vaters) zeigt, dass die Skizze sich problemlos schreiben lässt, wenn er das Problem – den Vater selbst – weglässt und mit dem Wort „Vater“ statt eines authentischen Porträts nichtssagende Floskeln verbindet: Die Phrasenhaftigkeit bemäntelt nämlich gerade das Nichtssagen. Dadurch, dass Esterházy dies umkehrt und das Etikett „Vater“ beliebigen Protagonisten beliebiger Anekdoten (sowie Gastgebern beliebiger Gasttexte) anheftet, deckt er schwindelnde Tiefen und Höhen zwischen den an sich selbst manchmal nur sonderbaren oder unterhaltsamen Texten, in den erwähnten Zwischenräumen, auf. Schon die Kosztolányi-Erzählung können wir als Parabel für den Kampf zwischen Verfasser und Helden lesen. Pali, der kleine Junge, ist der Verfasser, der zu beschreibende Vater der Held, und letzterer ist stärker: Er gestattet nicht, dass ihn der Verfasser in schriftstellerischem Sinn erfasst. Er widersetzt sich, weicht ihm aus. Im ersten Teil von Harmonia Caelestis dreht sich der Kampf um Ähnliches, aber Esterházy wählt eine andere schriftstellerische Strategie als der kleine Pali in Kosztolányis Erzählung (oder als der Erzähler, der Pali das Nichtssagen beibringt). Er vertreibt seinen Vater nicht mit Phrasen aus dem Text, sondern durch Stückelung: in 333 Absätzen zerbricht er das nicht angefertigte Porträt in 333 Splitter. Dabei fällt dem Leser unwillkürlich der Teil aus Die Hilfsverben des Herzens ein, in dem die tote Mutter die Rolle des Autors übernimmt und dem am Leben gebliebenen Sohn, indem sie dessen (auch innerhalb der Fiktion fiktive) Beerdigung beschreibt, die Position des Romanhelden verleiht, während sie ihn aus den Rahmen der nicht zustande kommenden Geschichte entfernt. Die Hilfsverben des Herzens kommen einem unter anderem deshalb in den Sinn, weil auch hier das Biografische bzw. die seine Rücknahme ein wichtiger Gestaltungsfaktor ist. Der Leser darf nicht an den biografischen Péter Esterházy und dessen biografische Mutter denken und muss es doch. Aus dem Text geht eindeutig hervor, dass er Ergebnis einer biografischen Trauerarbeit ist, zugleich machen seine prosapoetischen und nicht zuletzt seine typografischen Charakteristika es unmöglich, ihn in Bezug auf die Person zu lesen. Dasselbe schriftstellerische Problem wirkte sich produktiv auf die Gestaltung des zweiten Teils der Harmonia Caelestis aus. Schon der Untertitel – Bekenntnisse einer Familie Esterházy – signalisiert die Verunsicherung oder geradezu Unüber-
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schreitbarkeit der Grenzlinie zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Während er auf einen in Bekenntnisschriften verbreiteten Titeltypus verweist, suggeriert der unbestimmte Artikel, dass es mehrere Familien Esterházy gibt, und das Substantiv, dass nicht eine Gemeinschaft, sondern ein Individuum im Singular sprechen wird. Wenn wir annehmen, dass der Verfasser konkret an die Bekenntnisse eines Bürgers von Sándor Márai gedacht hat, so folgt daraus, dass die „eine“ Familie Esterházy, aristokratisch wie deklassiert, grundlegend bürgerlich ist. Im Sinne dieser Überlegung halte ich den zweiten Teil für den Kampf des Verfassers um die Wiedergewinnung des Helden, die Wiederherstellung seiner geistigen Einheit. Ich bin kein Esterházy-Philologe, außerdem bin ich nicht neugierig auf den Ursprung der offenbar anderswoher übernommenen Anekdoten. Ich halte es für wichtiger, dass in den Textteilen, die teils von ungewissem Status, teils als biografisch glaubhaft zu betrachten sind, immer wieder die Gesichter von Móric (dem Großvater) und Mátyás Esterházy (dem zwischenzeitlich verstorbenen Vater) aufscheinen. Und natürlich immer wieder verblassen. Das zugleich bestehende Gebot und Verbot der biografischen Lektüre hat letztlich die Rückeroberung der Familientradition zum Ergebnis, und durch diese Tradition zeichnet sich – zusammen mit der gesamten Fehlbarkeit und Schwäche der Figuren – ein vom alltäglichen wesentlich abweichendes Ungarnbild ab: farbiger, an Solidarität und menschlichem Bestehen reicher als das, das man jeden Tag erleben kann. Nicht zuletzt dies macht Harmonia Caelestis zu einem der herausragenden Werke der ungarischen Literatur des Jahrtausendendes.
5 Der Autor als Staatsbürger Damals, im Jahr der Jahrtausendwende, stand Esterházys Stern – oder vielmehr er selbst – im Zenit. Zu diesem Zeitpunkt war klargeworden: Die Energie des jungen Schriftstellers hatte nicht nachgelassen, sondern beträchtlich zugenommen. Seine schriftstellerischen Mittel waren nicht verblasst, sondern immer bunter geworden. Zugleich war er als Künstler gereift: Es hatte sich erwiesen, dass die mit dem Lebensalter einhergehende Erfahrung und mehrere Jahrzehnte schriftstellerischer Praxis seine Fantasie nicht verarmen ließen, sondern weiter bereicherten. In diesem glücklichen Augenblick traf Péter Esterházy das schwerste Trauma seines Lebens: Nach Abschluss der Harmonia Caelestis wurde er mit der Tatsache konfrontiert, dass sein Vater Mátyás Esterházy – den er in seinem großen Werk in all seiner Fehlbarkeit zum emporragenden Romanhelden geformt hatte – in der alltäglichen Wirklichkeit Spitzel war und beinahe ein Vierteljahrhundert lang
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regelmäßig Berichte über seine Bekannten und Freunde für den Staatssicherheitsdienst geschrieben hat. Während die Vorbereitungen für die Herausgabe des gereiften Hauptwerkes liefen, las der Verfasser im Archiv des Staatssicherheitsdienstes die vier dicken Ordner mit den Spitzelberichten seines Vaters. Diese Konfrontation regte Esterházy dazu an, die Verbesserte Ausgabe zu schreiben, ein Buch, in dem die verfeinerte Pendelbewegung zwischen Fiktion und Personenbezogenheit keinen Raum bekam, sondern den vielmehr die Schreckensherrschaft des Biografismus charakterisiert. In erzählerischer Sprache: Der zum Romanhelden geformte Vater rächte sich von jenseits des Romans (und des Grabes), er rächte sich fürchterlich. Er trat als Verfasser in Erscheinung, als Verfasser seiner Spitzelberichte. In seiner Eigenschaft als Verfasser vernichtete er den wichtigsten Wert, den Esterházy sowohl als Schriftsteller als auch als erstgeborener Sohn noch nach allen Heimsuchungen für unverletzt hielt: seine eigene Ehre als Mensch und als Staatsbürger. Und Esterházy war als Schriftsteller wie als Erbe der Auffassung, es sei seine Pflicht, über diese Konfrontation zu schreiben und sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Er musste wissen, dass er sich damit keinen Gefallen tat. Dass man ihm Nestbeschmutzung oder Sensationslust vorwerfen würde. Dass er sich den Zorn seiner Verwandten und der Verehrer von Mátyás Esterházy zuziehen würde. (Ich merke nur an: Es gab Verehrenswertes an ihm. Wer Mátyás Esterházys Züge sehen will, möge sich die letzten viereinhalb Minuten von Gyula Gazdags Film Der quietschende Pflasterstein [A sípoló macskakő] von 1971 ansehen.) Er musste wissen, dass er der Schadenfreude Nahrung gab. Oder, was noch schlimmer ist, dem Bedauern. Dass von der Schande, die er vor der Öffentlichkeit ausbreitete, auch an ihm etwas hängenbleiben würde. Dass jeder noch so armselige Mensch Zeuge sein konnte: Er, der große Schriftsteller (und da auch schon das moralische Vorbild) hatte den wichtigsten Bezugspunkt seines Lebens verloren. Dennoch schrieb er die Verbesserte Ausgabe und ließ sie erscheinen. Dabei hätte er auch schweigen können, dann wäre ihm der ganze Zirkus erspart geblieben. Ich erinnere mich noch an den Skandal nach dem Erscheinen des Buches und an die ersten Rezensionen. Ein scharfsinniger Kritiker schrieb zynisch und hämisch vom „Triumph des Realismus“. Ein anderer von „Familienmelodram“ und „schrecklichem Humanismus“. Ein dritter behauptete: Die Verbesserte Ausgabe „zerstöre“ die Harmonia Caelestis und letztlich Esterházys gesamtes Lebenswerk. Die Erregung um das Buch legte sich auch später niemals völlig. Meiner Ansicht nach ist die Verbesserte Ausgabe das echte Bekenntnis in Esterházys Lebenswerk. Sie hat einen geringeren künstlerischen Wirkungsgrad als andere seiner Arbeiten, und von der Harmonie, die im Titel seines großen Werks erwähnt wird, findet sich in diesem Buch wirklich nichts. Woher auch?
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Aber es ist eine beispielhafte staatsbürgerliche Handlung, ein in Ungarn seltener Präzedensfall von Mut und Anstand. Ein Beispiel dafür, dass jemand das Gebot „der eigenen Vergangenheit offen sich zu stellen“, wie es im Gedicht „An der Donau“ von Attila József heißt, ernst nimmt und befolgt, sei es auch zu seinem eigenen Schaden. Außerdem finde ich, dass es Esterházy gerade mit der Verbesserten Ausgabe, diesem traurigen und schrecklichen Buch, gelungen ist, die schriftstellerische Glaubwürdigkeit der Harmonia Caelestis und die Integrität seines gesamten Lebenswerkes zu verteidigen. Gewiss um den Preis riesiger Qualen löste er ein früheres Versprechen ein, das ungefähr lautete, er werde alles genau aufschreiben, sonst „kriegt es noch so eine butterfarbene Schattierung“. Zu den späteren Werken, vor allem zu den fertiggestellten zwei Bänden der Reihe mit dem Untertitel Einfache Geschichte Komma hundert Seiten, die den Schwerpunkt von Esterházys letztem Schaffensabschnitt bildet, der Mantel-undDegen-Version und der Markus-Version, kann ich nichts sagen. Ich schweige nicht in erster Linie deshalb über sie, weil es mich aufwühlt, sie wieder zu lesen – das wäre mein persönliches Problem –, sondern weil Esterházys unerwarteter Tod ihre Bedeutung so plötzlich und in solchem Umfang verändert hat, dass es, um das zu bedenken, Zeit braucht, räumlichen und emotionalen Abstand. Was die Kritiker vor vier oder fünf Jahren als leeren Manierismus, als Erschöpfung der Schaffensenergie beurteilten, das ist mit heutigen Augen gelesen erschütternd und herzzerreißend.
6 Ein liebenswerter Mensch In einem Interview vor vier Jahren, also nach Erscheinen der Markus-Version, sagte Esterházy: Es gibt unbestimmte Pläne. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten hat sicher noch einen Band, vielleicht auch noch zwei. Danach habe ich Vorstellungen über ein längeres Werk, das drei, vier oder fünf Jahre dauert. Weiter auszublicken lohnt nicht, wir werden sehen, ob wir noch etwas sehen müssen.
Es ist unmöglich, in diesen Worten nicht – wenigstens nachträglich – die Todesahnung zu hören. Noch wichtiger ist aber, dass aus den zitierten Sätzen eindeutig hervorgeht: Esterházy wollte seine Schaffensperiode nach dem Jahrtausendende in einem weiteren großen, zusammenfassenden Werk abschließen, und dieses Werk hätte den zwei fertiggestellten Bänden von Einfache Geschichte auch neue Bedeutungsschichten verliehen – sicherlich andere, als sie durch den Tod des Autors in körperlichem Sinn bekommen haben.
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Zum Abschluss verweise ich darauf, dass man Esterházys Porträt auch aus kleineren oder größeren menschlichen Dingen zusammensetzen könnte. Im zweiten, als Anmerkungsapparat getarnten Teil des Produktionsromans figurieren echte Personen (auch wenn die Anmerkungen von allen außer von den Betroffenen als Fiktion gelesen werden), ein Teil von ihnen lebt noch, ein anderer Teil ist verstorben. Auch auf Esterházys Züge blicken wir anders, wenn wir diese Figuren nur für einen Augenblick für unsere existierenden Mitmenschen halten. Ich halte es für wichtig zu sagen, dass er seine jüngeren Kollegen niemals, keine Sekunde lang, um ihre Erfolge beneidet hat. Ein seltenes und nachahmenswertes Vorbild. Seine Gesten sind erinnerungswürdig. Man könnte mehrere Dutzend, vielleicht mehrere Hundert von ihnen notieren. Ich will von zweien erzählen. Die eine: Nach dem Tod von György Kardos, seinem ersten Verleger, wurde er, ebenso wie viele andere ungarische Schriftsteller, aufgefordert, bei Kardos’ Beerdigung Ehrenwache zu stehen. György Kardos war zur Zeit der kommunistischen Machtübernahme Offizier der militärischen Abwehr, später des Staatssicherheitsdienstes, an seinen Händen klebte im wahrsten Sinne des Wortes Blut, sein Lebensweg war von Todsünden und Tragödien gesäumt. Zuletzt erwarb er sich als Herausgeber unvergängliche Verdienste, beispielsweise gab er Esterházys erste acht Bücher heraus. Es darf als sicher gelten, dass er den jungen Schriftsteller, der etwa so alt war wie sein Sohn, schätzte, wahrscheinlich sogar mochte. Nach seinem Tod hätte Esterházy zu Kardos’ Ehren Wache stehen sollen. Aber er antwortete auf die Aufforderung, er werde lieber für Kardos beten. Das war eine sehr mutige und makellos glaubwürdige Geste. Niemand konnte Zweifel daran haben, dass Esterházy als gläubiger Katholik wirklich beten würde, noch weniger daran, dass es Kardos wirklich brauchen konnte, dass für ihn gebetet wurde. Die andere Geste: 1982, zum siebzigsten Geburtstag von Géza Ottlik, den er als seinen Meister ansah, kopierte er Ottliks Hauptwerk, den Roman Schule an der Grenze, auf ein einziges – ich wiederhole: ein einziges – Blatt Papier. Das verkleinerte Faksimile des Werkes erschien in der Zeitschrift Mozgó Világ als Beilage zur Ottlik-Nummer und kam dann – noch weiter verkleinert – in die Einführung in die schöne Literatur, wodurch das Werk bekannt wurde. Esterházy verbrachte Wochen und Monate damit, das große Werk zu kopieren, und dadurch bezeugte er ein Beispiel von Schüler-Demut, das der Feder Flauberts würdig gewesen wäre. Zugleich schuf er mit lang andauernder, angespannter Arbeit eine mit Schule an der Grenze, das zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre nach seinem Erscheinen zum Kultbuch geworden war, Buchstaben für Buchstaben identische und dennoch unlesbare schwarze Oberfläche, durch die zu Tausenden die weißen Pünktchen des ursprünglichen Papierblattes hindurchschimmern. Das heißt,
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er zeigte den Lesern, dass die tiefste Demut des Schülers zugleich die stolzeste kreative Souveränität ist. Ich möchte noch erzählen, dass er mir beibrachte, den Fußball zu mögen, genauer jene Redeweise über den Fußball, die er praktizierte. Ich gehöre nicht zu den fußballbegeisterten Schriftstellern, während meines bisherigen Lebens habe ich kein einziges Mal das Leder getreten, aber seine Texte über den Fußball habe ich immer gern gelesen. Eine besondere Freude war es mir, wenn ich seine eine oder andere relatio lusorum follis in ihrem originalen Kontext, zwischen den anderen Reportagen in der Sportzeitung, entdecken konnte. Und ich möchte auch noch erzählen, dass er ein Feinschmecker war, der auch gut zubereitete häusliche Gerichte schätzte, beispielsweise Kuttelgulasch oder gebratene Kalbshaxe. Außerdem verstand er etwas von Weinen. Es kam vor, dass ihm die Sortenmerkmale wichtiger waren als der Jahrgang, aber umgekehrt war es häufiger der Fall, und das Terroir drängte auch dann alle anderen Aspekte in den Hintergrund. Ich habe mit ihm mehr als ein- oder zweimal am selben Tisch gegessen. Ich habe gesehen, wie es ist, wenn er in der Gesellschaft protokollarisch wichtiger Menschen schön aß. Dann war er elegant. Ich habe auch gesehen, wie es ist, wenn er in Gesellschaft emotional wichtiger Menschen hässlich aß. Dann war er auch elegant. Er konnte seine Umgebung dazu bringen zu akzeptieren, dass er die Vanillecreme von den Fingern leckte. Mit einem Wort: Er war ein liebenswerter Mensch. Mit unfehlbarem Moralgefühl, makellos anständig. Klarsehend, weitblickend. Ein wirklich großer Schriftsteller seiner Generation. Ich bin froh, dass ich sein Zeitgenosse sein durfte. Budapest, Juni 2018
Zsuzsanna Gahse
Der Sprachspieler Péter Esterházys Kleine Ungarische Pornographie beginnt im ersten Kapitel mit einer desaströsen Sprache, in einem Ungarisch, das von schauderhaften Germanismen durchsetzt ist, was durchaus eine gute Portion Witz hat. In den weiteren drei Kapiteln des Buches tischt Esterházy andere erzählerische Besonderheiten auf, zunächst geht es um brisante Anekdoten über das politische Führungspersonal, dann folgen zwei weitere brüchige Erzählweisen. Meinerseits musste ich aber bei meiner ersten Buchübersetzung des virtuosen Autors ausgerechnet mit der kaputten Sprache beginnen, und damals, 1987, war Esterházy in Insiderkreisen zwar schon beliebt, aber halt nur in Insiderkreisen, und ich war als Übersetzerin ein unbeschriebenes Blatt (wobei Übersetzer in den achtziger Jahren ohnehin kaum beachtet wurden). Damals musste ich mir zunächst einmal überlegen, was ich mit einem deutsch-zersetzten Ungarisch in der deutschen Version anfangen könnte. Die deutschen Sätze mit Hilfe der deutschen Sprache zu verzerren, hätte keinen Sinn gehabt. Eine Deformation durch das amerikanische Englisch wäre inhaltlich fehl am Platz, und mit einer französischen Brechung wären dem Leser womöglich Can-Can-Tänzerinnen eingefallen, so dass ich mich schließlich für eine Verzerrung des Deutschen durch das Ungarische entschied. Ein Beispiel: Es lebte einmal ein Polizist. Dieser Polizist hatte, und Gründe waren da, seinen Gummiknüppel geküsst. Nun gehören etwa Ihre ersten Gedanken dem Zweifel an: – Wie?! Und so etwas?! Unser Polizist in seinem ordentlichen Fall? Jedoch warum auch nicht? – wäre unsere sedative Gegenfrage. Denn man nehme zur Kenntnis, unsere Polizei ist keine Anhäufung und nicht einmal ein Ansammelbecken unvollkommener Menschen.
Die Reaktionen in den Medien waren zurückhaltend. Nicht nur, weil Péter Esterházy noch nicht seine spätere Berühmtheit erlangt hatte und nicht, weil man mir als Übersetzerin nicht über den Weg traute, vielmehr fehlte das Verständnis – und das ist bis heute der Fall – dass eine erlahmte Sprache, eine durch den Wortschatz der Diktatur verletzte und abgestumpfte Sprache durchgeschüttelt werden muss, um sie in allen Gliedern wieder zu beleben. Die im Titel antretenden Initialen der Kleinen ungarischen Pornographie sprechen für sich, sie weisen auf die kommunistische Partei Ungarns hin und damit zugleich auf die wahre Pornographie.
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Zsuzsanna Gahse
Dieses Buch mit seinen vier unterschiedlichen Erzählhaltungen ist ein Bestandteil von Péter Esterházys Einführung in die Schöne Literatur, die ihrerseits endlos viele weitere erzählerische Varianten auslotet, vom Prosa zum Opernlibretto wechselt, sich zum Märchen vorwagt und sich auch wunderbare kurze Texte erlaubt wie zum Beispiel „Der Ort, an dem wir uns befinden“. Einzelne Teile des riesenhaften Konvolutes waren vorab schon als selbständige Editionen erschienen, so auch Die Hilfsverben des Herzens. Im Gesamtzusammenhang ist die umfangreiche Einführung ein Schlüssel zu Esterházys lebenslangen Literaturabenteuern, ein Schlüssel zu seinem eigenen Werk und auch zu seinem Zugang zur Weltliteratur. Als ich in den achtziger Jahren mit den Übersetzungen begann, kommunizierte ich mit Esterházy per Fax. Ich hatte Fragen, er hatte Fragen, und die Mitteilungen kamen handschriftlich vermerkt im Manuskript. Damit hatten wir gegenseitig Schriftproben über ernsthafte und weniger ernsthafte Überlegungen. Später folgten die Anmerkungen per E-Mail, was von den Mitteilungen her ebenfalls interessant war, aber wirkliche Unterhaltungen über die Sprache kamen erst zustande, sobald wir gemeinsam an einem Tisch saßen. Wir fragten uns, wie weit ein deutscher Satz von der Grammatik her dem ungarischen Original folgen könne, und ob die schlanke Struktur im Ungarischen zur Schönheit oder zum Unvermögen dieser Sprache gehöre. Und was heißt Unvermögen einer Sprache! Gibt es das? Oder gibt es ein partielles Desinteresse für manche Belange? Endlosfragen, die sich auch während des Übersetzens zeigten. Beispielsweise gibt es im Ungarischen quasi nur eine Form der Vergangenheit, die auf Deutsch nach eigenem Ermessen in Perfekt, Imperfekt oder Plusquamperfekt gegliedert werden muss. Solche Veränderungen quittierte Esterházy mit einem Achselzucken. Aber willkommen waren ihm die Konjunktive der indirekten Rede, die dem Ungarischen fremd sind. Er sagte, dass er Hunger habe hieße auf Ungarisch er sagte, dass er hungrig ist. Habe! Das war für ihn eine konjunktivische Schönheit. Zu den sprachlichen Unterschieden wäre noch viel zu sagen. „Dazu wäre noch viel zu sagen“ ist ein Satz, der bei Esterházy durchaus zu finden wäre, der für deutschsprachige Leser allerdings gut erkennbar von Helmut Heißenbüttel stammt;1 eine Wendung, die Heißenbüttel mehrfach eingesetzt hat, als Schlusssatz, als Pointe und sozusagen als Selbstzitat. Hinzufügen sollte ich an dieser Stelle, dass Heißenbüttel zu den frühen Bewunderern Esterházys gehörte, der seinerseits den deutschen spielerischen, ernsten Autor zu seinen Lieblingen zählte. Die Frage aber ist, wem ein Satz gehört. Wahrschein-
1 Heißenbüttel: Das Ende der Alternative, 26.
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lich demjenigen (derjenigen), der ihn findet und hervorhebt. Bekanntlich hat Péter Esterházy etliche Sätze und Passagen aus fremden Texten in die eigenen einverleibt, ohne viel Aufhebens aus den Entlehnungen zu machen. Immerhin waren die Bibliotheken seine Heimat, das hat er mehrfach betont. Und dort, im ständigen Umgang mit Kollegen und Kolleginnen aus unterschiedlichen Epochen, wird jeder Bibliotheksbürger Bemerkungen der anderen hervorklauben und mitnehmen, einpacken wollen. Immerhin hat Esterházy in seiner Einführung in die schöne Literatur im Kapitel „Indirekt“ alle Textübernahmen verdeutlicht, indem er gut sichtbar am Seitenrand die jeweils einverleibten Autoren nennt. Da steht etwa Musil, Handke, Kafka und vielfach Kosztolányi. Der Übersetzer muss bei solchen Text-Übernahmen das Original aufstöbern. Falls das Zitat aus einer fremden Sprache stammt, werden bei angesehenen Autoren, bei Shakespeare, Tolstoi oder Flaubert, gleich mehrere deutsche Versionen vorliegen. Für welche sollte sich der Übersetzer entscheiden? Die ihm am ehesten einleuchtet? Und wie soll er sich verhalten, wenn es sich bei einer Übersetzung aus dem Ungarischen um ein ursprünglich ungarisches Zitat handelt, das bereits auf Deutsch vorliegt, wie zum Beispiel Texte des wunderbaren Kosztolányi? Unbedingt die vorliegende Übersetzung übernehmen, meinte Esterházy. Nur so sei der Zitat-Charakter bewahrt. Theoretisch leuchtet das ein. Wenn aber der Übersetzer, beziehungsweise ich, die Übersetzerin, den Satz oder Absatz Kosztolányis anders umsetzen würde, könnte ich ihn unmöglich blind übernehmen, denn für die Übertragung aus dem Ungarischen bin ich verantwortlich, und wie es von Shakespeare, Tolstoi und Flaubert mehrere deutsche Versionen gibt, gibt es auch von Kosztolányis Sätzen eine zweite Variante. Dieses Thema haben wir nie zu Ende besprechen können. „Eine niveaulose Versuchung ist keine Versuchung. Die wirkliche Versuchung ist erstklassig [. . .]. Sie ist eine Herausforderung, eine Kraftprobe . . .“, schreibt Esterházy in Das Buch Hrabals. Entsprechend ist die Übersetzung von Esterházys Werk eine wirkliche, erhellende Herausforderung. 01.11.2019
Literatur Heißenbüttel, Helmut. Das Ende der Alternative. Einfache Geschichten. Projekt 3/3. Stuttgart: Klett, 1980.
Heike Flemming
Abschweifen und Verirren Vom Glück, Péter Esterházy zu übersetzen Nun also, Ungarn ist eine literarische Großmacht, nur seine Sprache, die ist ein Kerker . . . Wie ungerecht, wie ungerecht, sagt die zersägte Dame. Meine zersägten Damen und Herren – Ost, West, Mann, Frau, Leib, Seele, wie ungerecht, wie ungerecht – es hätte sich auch so ergeben können, daß wir hier tagelang Ungarischkurse abhalten. Sie müßten bis zum kommenden Freitag alle Könige aus dem Hause Árpád auswendig lernen, geboren, gestorben dann und dann, herrschte von bis, daneben die wichtigeren verlorenen Schlachten, wie ungerecht, wie ungerecht, natürlich müßten sie die Klassiker unserer Literatur aus dem Stegreif kennen, und nicht immer nur dieses DalosKonrád-Magda Szabó – a sápadtarcúakra vonatkozó ősi magyar tréfát most nem mondom el, de közel vagyok hozzá – pardon, sondern Péter Pázmány, Mihály Csokonai Vitéz, hier gäbe es auch für die richtige Aussprache Pluspunkte. Dann aber müßten Sie die Namen Weöres-Pilinszky-Ottlik-Mészöly-Mándy-Nemes Nagy-Szentkuthy so auswendig können, wie Rahn-Morlock-O.Walter-F.Walter-Schäfer (Einzelheiten lassen wir jetzt beiseite). Am Samstag hätten Sie dann Prüfungen, es gäbe kleine volkstümlich-urbane Zwischenfragen, damit Sie auf keinen Fall überheblich werden (und wir auch nicht!), und dann käme das dicke Ende: das Lesen. Vorher natürlich noch der Einkauf der Bücher, wegen einer eventuellen späteren Kontrolle bitte Rechnungen mit Mehrwertsteuer aufbewahren. Endlich gäbe es Ordnung in der Welt, das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie würde dialektisch pulsieren, vor dem Einschlafen würden die kleinen deutschen Bengel Sándor-Weöres-Gedichte vor sich hin murmeln – őszi éjjel izzik a galagonya, izzik a galagonya ruhája –, und dadurch würde sich natürlich Ihr ganzes Leben verändern. Um ehrlich zu sein, liegt mir diese Vorstellung überhaupt nicht fern. Morgens würde ich das deutsche Volk zu mir bitten, ich würde das zu Memorierende, die Aufgaben vom Vortag abfragen, hernach würden wir über Endre Ady schwatzen. Das wäre aufschlußreich, für mich und für das Volk. Ach! Es geschehen keine Wunder mehr! (Péter Esterházy, Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1999)
Péter Esterházy hatte ein feines Gespür für die Schwierigkeiten im Verhältnis zweier Sprachen beziehungsweise Kulturen und damit auch für die Probleme des Übersetzens. Er drängte einem dieses Gespür nicht auf, vielmehr las er aufmerksam, machte Anmerkungen, stellte Fragen. Gern erinnere ich mich an die Nachmittage, die wir über die Übersetzung gebeugt saßen, Seite für Seite seine Notizen durchgingen, Fehler klärten, über stilistische Feinheiten oder Bedeutungsnuancen diskutierten, den Möglichkeiten der Übersetzung ungarischer Flüche oder dem Ursprung von Redewendungen nachgingen, zusammen Lösungen suchten, fanden oder wieder verwarfen. Manchmal fand dieser Austausch schriftlich statt und dann gingen zahlreiche Mails zwischen uns hin und her, das Dokument mit https://doi.org/10.1515/9783110618082-004
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Heike Flemming
den Anmerkungen wurde länger und länger, auf eine Frage folgten Antwort und Gegenantwort, oft ergab sich daraus eine neue Frage und so weiter. In der Mantel-und-Degen-Version etwa hatte ich das ungarische Sprichwort „fénylik, mint a Salamon töke [wörtlich: leuchtet/glänzt wie Salomons Kürbis, auf Deutsch auch: glänzt wie Salomons Eier]“ mit „glänzt wie Gold“ übersetzt, woraufhin Péter schrieb: Nun, die Eier gebe ich für Gold nicht her!!! Was wäre, wenn Salomons Eier blieben, und dazu eine Übersetzeranmerkung, ungefähr so: „Ich schrieb ‚Gold‘, der Autor bestand auf dem ursprünglichen Ausdruck. Doch selbst dann können Salomons Eier nur glänzen wie Gold. – H.F.“ Hm?
Ich antwortete: „Schwierig, denn wer weiß schon, dass es sich nicht um den biblischen, sondern um den ungarischen Salomon handelt.“ Darauf Péter: „Ich habe nachgeschaut und erfahren, dass das Kürbislaternen waren. Nix Sex. Schade.“ Die Mantel-und-Degen-Version ist auch insofern ein bemerkenswertes Buch, als dass Péter darin ironisch mit dem Mittel der wissenschaftlichen Anmerkung spielt und wir uns im Laufe der Arbeit an der Übersetzung dafür entschieden, auch Übersetzeranmerkungen in den Text einzufügen, also den eigentlich stillen oder unveröffentlichten Dialog zwischen Autor und Übersetzerin in einem gewissen Sinn explizit und öffentlich zu machen. Dadurch ließen sich einige ungarische Spezifika in den deutschen Text hinüberschmuggeln, das heißt wörtlich übersetzen und in einer Fußnote erklären, die sonst vermutlich verlorengegangen wären. Zum Beispiel konnten wir den ungarischen Spruch „két pogány közt egy hazáért [zwischen zwei Heiden für ein Vaterland; gemeint ist, dass die Ungarn eingeklemmt zwischen Habsburgern und Türken für ein Vaterland kämpften]“ wörtlich übersetzen und mit einer Übersetzer-Anmerkung versehen: „Der Türke als Heide, das leuchtet auch dem deutschen Leser noch ein (vor allem, wenn er das Grimm’sche Wörterbuch zu Rate zieht). Aber dass auch die Habsburger Heiden sein sollen, das verstehen nun wirklich nur die zwischen allen Stühlen sitzenden Ungarn. – H.F.“ Oder zu dem „berühmten“ „fotőj-frász“, dem „Fauteuil-Schrecken“, der Rákosi-Ära, der auf den „csengő-frász [Klingel-Schrecken]“ der nämlichen Epoche abzielt, erläuternd hinzufügen: „unübersetzbare Anspielung; es reicht, wenn man Rákosi versteht und Schrecken – H.F.“. (Ein etwas anders gearteter Dialog – die Antworten der Übersetzerin Terézia Mora auf die Fragen des Lektors Delf Schmidt – über die Probleme beim Übersetzen von Péter Esterházys Harmonia Caelestis wurden unter dem Titel „PEH (= Péter Esterházys Humor). Laubsägearbeiten einer Übersetzerin“ in den „Marginalien“ zu dem Buch veröffentlicht: S. 109 . . . aber ab und zu eine kleine Blasmusik PE bemängelt, im Ungarischen würde mehr als das stehen. Nämlich wortwörtlich: ‚gibt ihm/ihr einen Bukowarer Blas‘, wobei
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1. ‚Blas‘ gleichbedeutend mit blasen (Fellatio) ist – siehe die Szene davor, 2. ‚jdn blasen lassen‘ im Ungarischen soviel heißt: über jemanden triumphieren; steht dem groben englischen ‚I fucked him‘ nahe, sowie 3. im Wort Bukowar (vermtl. die Verballhornung von ‚Vukovar‘) klingt das ungarische Verb ‚bukik‘ an, das soviel wie ‚scheitern‘, aber auch ‚gestürzt werden‘ bedeutet. Die alles möchte der Autor in der Übersetzung berücksichtigt wissen, also: über jemanden triumphieren, im allgemeinen wie im sexuellen Sinne, plus konkrete ‚Blasmusik‘. Hm.
Oder S. 342 . . . als ihr den Heidegger noch unter dem Sattel weichgeritten habt . . . Anspielung: In den ersten schriftlichen Berichten, die es über die Ungarn gibt (damals waren sie noch ein Nomadenvolk und im Begriff, in das Karpatenbecken vorzudringen), heißt es, sie hätten das Fleisch, das sie nicht gleich verzehrten, unter ihren Sattel gesteckt und so transportiert, wodurch es gleichzeitig weicher geworden und leichter zu essen gewesen sei. Die nomadische Methode des Fleischklopfens.)
Diese paar Beispiele zeigen schon, dass auch beim Übersetzen zwischen zwei Sprachen, die sich zwar grammatisch nicht, aber aufgrund historischer und geografischer Gegebenheiten kulturell näher stehen, viele auf unterschiedlichen Erfahrungen beruhende Bedeutungsschattierungen, Anspielungen, Konnotationen, Schwingungen auf der Strecke bleiben. (Dass Ungarisch eine schwere und isolierte Sprache sei, wie es Ungarn gern kolportieren und viele nichtungarischsprachige Leser auch gern glauben, halte ich aber für einen Mythos. Will man eine Sprache gut sprechen, muss man sie lernen, das gilt für indoeuropäische Sprachen genauso wie für die anderer Sprachfamilien. Und warum „das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie“ nicht „dialektisch pulsiert“, wäre eine Frage der Historio- oder Soziolinguistik, dass es aber pulsiert, steht außer Frage. Wie dankbar bin ich zum Beispiel, vom Ungarischen ins Deutsche zu übersetzen, wenn ich die norwegische Übersetzerin klagen höre, wie sehr sie leide bei allen Wörtern, die mit der Produktion und Verarbeitung von Mais zusammenhängen, weil es den Mais als Kulturpflanze in Norwegen nicht gebe.) Péter war, was die unvermeidlichen Übersetzungsverluste angeht, immer großzügig. Und obwohl er selbst ein besonderes Verhältnis zur deutschen Sprache hatte, insofern es die Sprache war, die er sehr gut beherrschte („Esti“: „Durch das Deutsche kam er mit dem nicht-ungarischen Teil der Welt in Kontakt, mit dem Rest, und dafür war er der deutschen Sprache dankbar.“), hielt er sich im Prozess der Arbeit an der Übersetzung zurück, hatte Vertrauen, respektierte den Kompetenzbereich der Übersetzerin. In dem Interviewband Flucht der Jahre sagte er dazu: Ich sage immer, ich könne irreführend Deutsch, denn wegen meiner Kenntnisse und Fähigkeiten mag man manchmal glauben, dass ich sehr gut Deutsch kann, aber ich beherrsche Deutsch nicht besonders gut, mein Ohr ist ungarisch und so weiter. In Esti gibt es einen Satz, der auf eine solche – meine – Situation zutrifft: Und wie ich Deutsch könnte, könnte ich Deutsch. Das heißt, ich kann [den Übersetzern] nur mäßig helfen. Textmissver-
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ständnisse kann ich klären. Und kann meistens die gegebenenfalls vorkommenden Zitate und ihre Quellen angeben. Dann und wann bringe ich auch stilistische Anmerkungen ein, die aber im Sinne des erwähnten ungarischen Ohres begrenzt verwendbar sind. Auf Fragen kann ich antworten. Wenn ich kann. Es ist viel Arbeit. Zum Glück verstehe ich keine anderen Sprachen, also kann dort nur der Übersetzer die Initiative ergreifen. Eines der strukturellen Probleme freilich ist, dass man nicht merkt, wo ein Problem liegt. Deshalb ermutige ich die Übersetzer immer, lieber redundant zu sprechen, nichts für selbstverständlich zu halten, sich zu trauen, auch über Dinge zu sprechen, die trivial anmuten, und sich nicht zu schämen. Das heißt, einander zu vertrauen. Denn schlimmstenfalls können sich die Standpunkte verhärten, irgendein Kampf entsteht – bei dem alle verlieren, ganz gewiss der Text. Übersetzen ist eine komplexe Arbeit. Andererseits aber, wenn man sieht, dass sie funktioniert, wenn man einen fremdsprachigen Leser sieht, der sprachlich, nicht wahr, weit weg ist, jetzt jedoch sehr nah – ein großes Erlebnis.
Autoren und Autorinnen haben nicht nur in der Arbeitsbeziehung zu ihren Übersetzern ihre Eigenarten, auch im Umgang mit Sprache und Stoff entwickelt jeder Autor seine Besonderheiten, was den Übersetzer oder die Übersetzerin bei jedem Projekt vor neue Herausforderungen stellt. Péter Esterházy zu lesen und zu übersetzen gilt gemeinhin als schwer, nicht selten werden der Mangel an Handlung sowie der Reichtum an Anspielungen moniert. „Hol’s der Geier, dachte Esti statt Scheiße, daraus wird schon wieder kein Heller (kein Quäntchen) Handlung.“ Ich kann nicht verhehlen, dass es mir ähnlich ging, bevor ich anfing, Péter Esterházys Bücher zu übersetzen. Doch bei der Arbeit merkte ich bald, dass es vielleicht einen größeren Genuss bedeutet, Péter Esterházy zu übersetzen, als Péter Esterházy zu lesen. Oder anders ausgedrückt, zeigt sich in seinem Schreiben, was Übersetzen und was Lesen sein kann und wie eng beide zusammenhängen: dass Übersetzen eine äußerst genaue Lektüre ist, eine Lektüre, die sich richtig austoben, die den Verästelungen des Textes nachgehen kann, ohne in erster Linie dem Inhalt oder der Handlung folgen zu können oder zu müssen; und dass das Lesen von Esterházys Büchern eine übersetzende Lektüre verlangt, um ein Lesegenuss zu sein, eine Lektüre, die bereit ist, sich in den Nebensträngen und doppelten Böden des Textes zu verlieren. Zu dieser Bereitschaft ist der Übersetzer, und er kann sich darum glücklich schätzen, von Berufs wegen gezwungen. (Übersetzer werden manchmal gefragt, ob sie die Bücher, die sie übersetzen, vorher lesen. Mal abgesehen davon, dass man beim Übersetzen auch ohne vorherige Lektüre mehrere Textdurchläufe absolviert, empfand ich diese Frage immer und besonders im Fall von Esterházy als schief. Denn auch wenn es unbestritten ist, dass der Sinn des Ganzen, der rote Faden einzelne übersetzerische Entscheidungen beeinflusst, so besteht doch die übersetzerische Arbeit eigentlich im minutiösen und pedantischen Verfolgen der Wege und Abwege, im Abschweifen und Verirren, im zeitverschwenderischen Recherchieren von Wortfeldern, Nuancen und Differenzen.)
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Es gibt Autoren, die die Übersetzer in enge Satzkorsetts klemmen oder mit einer elaborierten und manierierten Sprache triezen. Das war bei Esterházy nie der Fall. Die Struktur seiner Sätze und der Fluss seiner Rede waren geschmeidig, imitierten die gesprochene Sprache, waren höchstens mal ironisch aufgeblasen. Dafür zog er beim Stil alle Register: altertümlicher Duktus, umgangssprachliche Rede, Slang, Vulgärsprache, dialektale Abweichungen, Redewendungen und Sprichwörter, Zitate aus Hoch- und Popkultur, und all das verballhornt und ironisch gebrochen. Hier konnte der Übersetzer seine Kräfte messen und an seine Grenzen stoßen. Beziehungsweise an die Grenze zwischen den beiden Sprachen, die zu beiden Seiten der Grenze eben doch ihre ganz eigenen Wege gehen.
II Das Werk Esterházys: Perspektiven der Literaturwissenschaft
An den Rändern der Literatur – zum frühen Werk
Csongor Lőrincz
Figurationen des Schweigens in Péter Esterházys früher Prosa „ich beabsichtige damit nicht das Fehlen von etwas anzuzeigen“ (Péter Esterházy)
Das Verhältnis zwischen dem Schweigen als sprachanthropologischem und redehermeneutischem Phänomen und der literarischen Kommunikation ist sehr wahrscheinlich so alt wie die Geschichte der letzteren. Das Schweigen machte immer schon das Thema der Literatur aus, außerdem ihren Effekt, ja sogar ihre Dimension – und freilich auch ihre Grenze. Über das Schweigen als konstitutives Moment der Literarität wissen wir heute vielleicht immer noch zu wenig. Wenn es einerseits die Leidenschaft, die Passion der Literatur sein kann, „to say everything“1, wie verhält sich dazu die Dimension des Schweigens und die Grenze oder der Widerstand, die in ihr impliziert sind? Wenn die Literatur andererseits auch berufen ist, das Geheimnis zu bewahren, was bedeutet das für den performativen Wert des Schweigens? Hier ist nicht nur das in der Literatur thematisierte und inszenierte Schweigen von Interesse, sondern auch das Schweigen der Literatur selbst – als dessen fragiles Performativ im Bereich der Kultur. Auf der Ebene der Sprachtheorie markiert der Problemkomplex des Schweigens die Grenzen der Sprache, der Versprachlichung, der Sprachwerdung, hängt mit ihnen zusammen – weniger jedoch von dem Widerstand der Bildlichkeit her, der in kulturwissenschaftlichen Diskursen vielleicht etwas überbewertet wird, sondern eher in der Konfrontation der Sprache mit sich selbst innerhalb ihrer eigenen Grenzen.2 Die Forschung hat das Ereignis des Schweigens in letzter Zeit am ehesten entlang des Phänomens und der Zusammenhänge des Traumas thematisiert, auch als körperliche Erfahrung, als eine Art Symptom der Hilflosigkeit. In diesem Fall werden allerdings häufig referenzielle Erfahrungen angesprochen, die die Sprache oder Versprachlichung von außen erreichen oder hemmen und mit kausaler oder indexikalischer Bedeutung interpretiert werden. Das Phänomen
1 Derrida: „This Strange Institution“, 37. 2 Interessanterweise haben in den vergangenen Jahren – zwar nicht sintflutartig, das wäre ja auch einigermaßen paradox, aber immerhin überhaupt – die Konferenzen und Aufsatzbände zum Thema Schweigen zugenommen. So wurden beispielsweise Vorschläge zur „Linguistik des Schweigens“ gemacht, s. zuletzt Stadler: Pragmatik des Schweigens. Übersetzung: Deutsch von Christina Kunze. https://doi.org/10.1515/9783110618082-005
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des „beredten Schweigens“, dem man auch im Alltag auf Schritt und Tritt begegnet, dürfte wohl zu verbreitet sein, als dass es sich auf die Spurenhaftigkeit des Traumas reduzieren ließe, obgleich man die Verbindung von Schweigen und Trauma (in weiterer Bedeutung Gewalt) natürlich nicht aus dem Blick verlieren darf. Allerdings scheint es geraten, sich vor der naheliegenden Unterscheidung zwischen Sprache und Schweigen (oder gar ihrer Verstärkung im Zeichen des Traumas) zu hüten, denn die Ambivalenz des Schweigens liegt gerade in seinem Einsickern in die Sprache oder umgekehrt darin, dass es von der Sprache durchdrungen, mit ihr kontaminiert ist. Wie es keine reine Sprache gibt, so gibt es auch kein reines Schweigen als eine äußere Dimension (so sehr auch einzelne Paradigmen der dichtungsgeschichtlichen Moderne gegebenenfalls bemüht waren, dieses herzustellen oder heraufzubeschwören). Der indeterminierte, ambivalente Charakter der kommunikativen Züge des Schweigens erfordert ein gründlicheres Denken des Verhältnisses zwischen Schweigen und ertönender Sprache, das eine Veränderung der Auffassung von den beiden „Gliedern“ implizieren kann. Das Schweigen kann nicht die mit ihm sozusagen in einem agonalen Verhältnis anzunehmende Sprache in Zweifel ziehen, sondern gewisse Kennzeichen, z. B. einzelne formal-objektivierbare Seiten oder pragmatische Schemata der Sprache bis hin zur Erosion der historisch maßgeblichen Aspekte des Sprachbegriffs. So hat Heideggers hermeneutisch-existenzialanalytische Kritik des Begriffs „Aussage“ in Sein und Zeit das Phänomen des Schweigens bereits von der Ebene des intentionalen Verhaltens in die Dimension des In-der-Welt-Seins versetzt, indem sie es als Modalität von deren Verstehen situierte (im Zusammenhang mit dem Vernehmen, wo der „Ruf“ des Gewissens auch im Modus des Schweigens ertönt).3 Dabei blieb die Möglichkeit der Interpretation der Beziehung von Schweigen und Gestimmtheit gewahrt, ebenso wie das Denken der Gestimmtheit, die sich im Schweigen manifestiert, des Schweigens als Stimmung oder in Abhängigkeit von ihr (also über die formale Struktur der Subjektivität hinaus). Das Schweigen kann hier sogar als Zeugnis der es bedingenden Gestimmtheit aufgefasst werden. Bei Heidegger bezeichnet der Begriff „Erschweigen“ den Zusammenhang zwischen Sagen, Schweigen und Gestimmtheit und mithin gleichsam das Reden durchs Schweigen oder das schweigende Reden, den Modus des Redens.4 Das Schweigen
3 „Das Dasein hört, weil es versteht.“ Sein und Zeit, 217. 4 S. Heidegger: Nietzsche I., 471; ders.: Unterwegs zur Sprache, 62. In der Interpretation eines Gedichts von Trakl werden hier das Sagen, die Gestimmtheit und das Schweigen im „Schmerz“ verbunden: „Die letzte Strophe einer Dichtung beginnt: ‚So schmerzlich gut und wahrhaft ist, was lebt;‘ Man könnte meinen, der Vers streife das Schmerzliche nur flüchtig. In Wahrheit leitet er das Sagen der ganzen Strophe ein, die auf das Erschweigen des Schmerzes gestimmt bleibt.“
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im Sinne des „Erschweigens“ lässt sich zugleich von der Gestimmtheit her als „Erleiden“, als Erleiden des Schweigens oder der Schweigsamkeit (als Gewalt) interpretieren. Etwas plakativ könnte man auch sagen, dass das Schweigen von hier aus nicht mehr vom Sprachbegriff zu trennen ist, gleichsam im Sinn eines: „Sage mir, was du vom Schweigen hältst, so sage ich dir, was dein Sprachbegriff ist“. Als Grundlage für all das ist die – hermeneutische – Sprachauffassung anzusetzen, für die nicht das Sagen eine Funktion des Lautlichen ist, sondern umgekehrt, die tönende Sprache die Funktion des als Sagen verstandenen Redens.5 Nur auf der Grundlage dieser systematischen Vorannahme kann man das Phänomen des Schweigens in seinem Verhältnis zur Sprache neu denken. Zugleich kann die Betonung der Kommunikativität des Schweigens dieses der Sprache unterordnen, trotz aller Ambivalenzen des Schweigens – so wird das Schweigen zum nicht-verbalen, nicht-erklingenden Aspekt der Sprache und weniger zu einer Art von Grenze oder nicht-sprachliche Dimension von ihr.6 Der fließende Charakter der Grenze zwischen Sprache und Schweigen muss nicht unbedingt dazu führen, dass das Schweigen auch in der Sprache oder als Sprache aufgelöst, von der Sprache beziehungsweise der sprachlichen Konvention her autorisiert wird. So gesehen ist die hermeneutische Dimension des Logos weniger von einem morphologischen oder phänomenologischen Sprachbegriff bzw. vom Ausdrucksprinzip her zugänglich, sondern eher von den Rändern oder Grenzgebieten der Sprache aus, ja gewissermaßen sogar von da, wo sie sich entzieht. Heideggers Sprachbegriff steht spätestens seit der „Kehre“ Erfahrungen offen, die er nach Sein und Zeit in seinen Hölderlin-Interpretationen weiter behandelt und beispielsweise im Nachdenken über das „Zerbrechen des dichterischen Wortes“ in seinen George-Interpretationen vertieft hat.7
5 S. dazu Lipps: „Die Verbindlichkeit der Sprache“. S. auch Gehring: „Das Echo als Schweigen“, 139–140. 6 Vgl. den Aufsatz „How to Do – and Not to Do – Things with Nothing“ von Alice Lagaay. Dieser beachtenswerte Text problematisiert die der Tradition der Sprechakttheorie entsprechende „fast ausschließlich aktivistische Perspektive“ (ebd. 24) auf Sprache (hier Stimme) und fordert dazu auf, eine Dimension des Schweigens zu denken, der kein performativer Wert zugeordnet werden kann, das heißt, „nicht nur das Tun im Nicht-Tun, sondern das Nicht-Tun im Tun zu berücksichtigen“ (ebd. 31). Dessen Motivation, eine Art Möglichkeitsbedingung, wird jedoch von diesem Text nicht herausgearbeitet, weshalb er ziemlich polemisch bleibt und sozusagen den Aktivismus durch Solipsismus ablöst (jedenfalls wäre eine derartige kritische Entgegnung möglich). Es ist kein Zufall, dass er dieses Nicht-Handeln des Schweigens nur aus postulativer Perspektive formulieren kann, einer Perspektive, die sich nur überwinden ließe, wenn das Schweigen als Ereignishaftigkeit konzipiert würde. 7 S. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, 159–238.
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Der damit zusammenhängende (rede-)hermeneutische Aspekt des Schweigens kann dessen Alterität sein: Das Schweigen als Sprache des Anderen. Diese epistemische Richtung der Betrachtung von Sprache und Individuum ist eine kardinale Bedingung für die Lockerung des Verhältnisses von Schweigen und Intentionalität und damit für die Emergenz des Komplexes vom Ungesagten. Das ist die Kategorie, die in den meisten Untersuchungen zum Schweigen nicht eigens thematisiert wird, dabei ist ohne die Annäherung an die Dimension des Ungesagten auch das Schweigen – gleichsam als Manifestation dieses Ungesagten – nicht in seiner ganzen Tragweite zu erfassen, so bleibt seine Deutung in der Regel im formalen Gegensatzpaar Aktivität vs. Passivität gefangen. Das Schweigen wird nicht als solches zur Sprache des Anderen oder des Andersseins, sondern über das – im Schweigen implizierte, beispielsweise versprochene oder als Überbleibsel, Überrest noch präsente – Ungesagte. Das heißt, irgendeine Aktivität des Ungesagten geht zugleich dem sprachlichen Handeln voraus, auf die Weise einer Art schweigenden Versprechens, zugleich folgt sie auf das sprachliche Handeln als Relikt, genauer: als geschehendes Bleiben, als Latenz der Sprache (als „restance“ im Sinne Derridas, weniger in der Bedeutung des Gebliebenen, als vielmehr in der des Bleibens).8 All dies hat Implikationen, die die performative Seinsweise der Sprache betreffen: Das Schweigen in diesem besonderen Sinn, dass es der Sprechhandlung vorausgeht und zugleich auf sie folgt, lässt sich nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen – es fordert vielmehr (gerade als Versprechen oder Implikat des Ungesagten) das Zeugnis oder irgendeine Responsivität. Dass das Schweigen in den Vordergrund gerät, vollzieht sich im Horizont der Moderne gelegentlich parallel zu den Paradigmen des Nicht-Handelns, des Überlassens, des Sein-Lassens (der „Gelassenheit“ bei Heidegger), sowohl mit der Relativierung des weltbildenden Primats des menschlichen Handelns (und des damit zusammenhängenden Geschichtsbilds) als auch mit der Verlagerung des operationalen Wertes der sprachlichen Handlungen selbst in die unpersönlichere Operativität, ja sogar Entziehung der Sprache. Von hier gesehen kann das Schweigen als besonderer Chiasmus von Aktivität und Passivität, sogar als Transgression dieses Gegensatzpaares, Sinn oder zumindest Bedeutung gewinnen. Bei der Untersuchung der Geschichtlichkeit ihres Verhältnisses in der Moderne kann vielleicht die Annahme riskiert werden, dass die Kreuzungen zwischen Sprache und Schweigen – ebenso wie zwischen dem inneren und dem äußeren Wort9– konstitutiver, zugleich aber verwickelter, ambivalenter werden.
8 Vgl. Derrida: Limited Inc., 86–91. 9 Über das testimoniale Verhältnis von innerem (verbus interius) und äußerem Wort vgl. Lőrincz: „Das ‚innere Wort‘ zwischen Gabe und Zeugnis“.
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Sprache und Schweigen lassen sich nicht scharf gegeneinander abgrenzen, es handelt sich nicht um zwei voneinander trennbare Gebiete (deshalb lohnt es nicht, sie gegenständlich aufzufassen), ihr Verhältnis lässt sich nicht als Dichotomie beschreiben. Man kann es auch so ausdrücken, dass die Grenze zwischen zwei (nicht-)sprachlichen Sphären sich in jede von ihnen einschreibt, als äußere oder jenseitige Seite der jeweiligen Sphäre (und zwar entlang der oben erwähnten Koordinaten, impliziert durch die Lockerung des Verhältnisses von Ertönen und Sagen, Schweigen und seiner Intentionalität, als Sprache des anderen oder in ihrer Bedingtheit). Zugleich wird das Wie ihrer Definierbarkeit relativiert, indem das Schweigen nicht einfach in seiner versprachlichten Form interessant wird, sondern beispielsweise als nicht-anthropomorphes Rauschen der Sprache. Die sprachtheoretischen und a fortiori literaturgeschichtlichen Bezüge der modernen Geschichte des Schweigens lassen sich auf der Grundlage dieses gegenseitigen Chiasmus oder dieser Kontamination bzw. sogar dieses Parasitismus denken.10 Die für die Moderne charakteristische Temporalisierung erstreckt sich auch auf das Schweigen: Seine Zeitlichkeit wird konstitutiv, die „Zeit des Schweigens“ spielt in der literarischen Episteme der Periode in beiden möglichen Bedeutungen (Zeitpunkt bzw. Dauer) eine Rolle.11 Immer schweigender (1929), das in dieser Hinsicht besonders beredte Gedicht von Gottfried Benn, lässt ein Verständnis des Schweigens als Intensität (auch im temporalen Sinn) zu, als gesteigerte Anwesenheit des Schweigens in der Sprache oder als seine Stärke, zumindest jedoch als sein Stärkegrad. Das Verhältnis der (apostrophischen) Stimme des lyrischen Ich zu diesem Schweigen ist am ehesten eines des Erleidens (wie in anderen Werken von Benn ihr Verhältnis zur rhetorischen Frage, „nämlich Erleiden der Antwortlosigkeit“),12 als eines der aktiven Durchführung (das heißt: auch hier ist die Dimension des Nicht-Handelns maßgeblich). Das Schweigen wird gleichsam zum Korrelat des lyrischen sprachlichen Ereignisses, und die beiden Bedeutungen „seiner Zeit“ lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Diese Ununterscheidbarkeit kann die mediale, auf literarische Weise intensivierte oder hervorgerufene Leistung der Sprache sein. In der Erzählprosa widmet sich beispielsweise der Roman Between the Acts (1941) von Virginia Woolf der literarisch-narrativen Analyse des Phänomens
10 Im deutschen Sprachraum steht bislang eine einzige historisch-werkinterpretierende Monografie über die Formationen des Schweigens in der Literatur des 18.–20. Jahrhunderts zur Verfügung, Hart-Nibbrig: Die Rhetorik des Schweigens. 11 Zur Zeit des Schweigens (und Redens) als biblischer Form s. Ebach: Beredtes Schweigen. Siehe zuletzt auch den Aufsatzband Stille Tropen, insbesondere die Einleitung von Hartmut Sass, 28–29. 12 Vgl. Schmiele: Die lyrische Frage bei Gottfried Benn, 50, 72, 108.
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des Schweigens, gleichsam als Narrativisierung der berühmten Zeilen „Words, after speech, reach / Into the silence“ (Four Quartets) von Eliot, wo die Virtualität des Schweigens, das Schweigen als Virtualität interpretiert wird (als eine Art potentiellen Echos), unter anderem als Index eines speziellen Versprechenscharakters. Der Roman führt die reich detaillierte Szenografie des Schweigens auf, als Spannung, Hiat, Mehrdeutigkeit in der (erzählerischen) Umsetzung in die inszenierte mimetisch-gestische und die verbale Sprache, während er auch mit einer Art Unlesbarkeit des Schweigens konfrontiert (dem ungarischen Leser kann hier Dezső Kosztolányis Kornél Esti einfallen, die Erzählung vom bulgarischen Schaffner). Die Interpenetration oder Kreuzung von Schweigen und Rede oder Sprache kann das Neudenken zahlreicher sprachtheoretischer Kategorien und Begriffe implizieren; was hier insbesondere einen Anspruch auf umfassende Rekonzeptualisierung erheben kann, ist die performative Bedeutung von Sprache und Schweigen füreinander. Die genannten Beispiele stellen diesen Zusammenhang, d. h. die performative Funktion und den Wert des Schweigens heraus, die performative Dimension des Schweigens oder als performative Dimension. Paul de Man brachte an einer Stelle den Begriff der „Schweigeakte“ (acts of silence) auf oder führte ihn ein, bezeichnenderweise bei der Analyse der Problematik des Bekenntnisses und der Entschuldigung.13 Das gegenseitige Verhältnis von Sprechakten und Schweigeakten zu denken und damit die Grenzen bzw. die Reichweite des Austinschen Begriffs auszuloten, kann vielerlei Beziehungen des Problemkreises der sprachlichen Performativität berühren. Die Schweigeakte können die Grenzen der Sprechakttheorie signalisieren, denn die illokutive Unerfüllbarkeit der Intention (dies ist ein grundlegender Begriff der Sprechakttheorie) kann das Nichtgelingen des Sprechaktes aufzeigen. Der Schweigeakt kann die sprachliche Performativität paradoxerweise auch ohne illokutive Kraft intensivieren, indem er zugleich deren phänomenalen, als solchen fixierbaren Akt-Charakter, ihre Beschaffenheit als „Tat“, problematisiert (wie es z. B. im Zusammenhang mit Heideggers Begriff des „Erschweigens“ sichtbar war). Auf diese Weise kann das Schweigen den Als-ob-Modus der Sprache oder der Rede als Quasi-Handelnder exponieren. Das Schweigen kann sich also als inhärente Grenze der performativen Funktion der Sprache einschreiben, auf die Weise eines Erleidens, das im „Erschweigen“ mitschwingt und die Unwillkürlichkeit des Schweigens, seine Konfrontation mit dem Schweigen, dem (Ver-)Schweigen der eigenen Sprache, signali13 Vgl. de Man: „Entschuldigungen (Bekenntnisse)“, 248. Zoltán Kulcsár-Szabó hat in seiner Monografie mit Nachdruck auf diesen Zusammenhang hingewiesen, vgl. Kulcsár-Szabó: Tetten érhetetlen szavak, 277. Vgl. außerdem Lagaays Aufsatz: „How to Do – and Not to Do – Things with Nothing“.
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siert, z. B. als aufzeichnungsabhängiges Auslöschen der Stimme im medientechnischen Sinn (vgl. das Stummfilm-Motiv am Anfang der Erzählung vom bulgarischen Schaffner). Der Chiasmus von verschweigendem Sagen (unwillkürliches Reden durch Verschweigen) und sagendem Verschweigen (indirekte Mitteilung) und die daraus resultierende Ambivalenz verlangt immer ein Gegenzeugnis bzw. eine Gegenzeichnung, auch als interpretative Notwendigkeit und Bedrängnis. Hier erzeugt die Unterbrechung der Bezeugung, der Rückbestätigung des inneren Wortes durch das äußere Wort, die so entstehende Ellipse den Effekt des Schweigens, dessen Intentionalität sich derart als problematisch erweist. Das vielleicht anschaulichste Beispiel für die Performativität des Schweigens bildet in politiktheoretischem, vielleicht sogar in politisch-theologischem Sinn das Schweigen des Souveräns oder die Souveränität des Schweigens, das souveräne Schweigen, das das Geräusch der normativierenden Diskurse verstummen lässt und in der Entscheidung des Souveräns gleichsam Schweigen (über den Ausnahmezustand) diktiert,14 wobei es gerade durch diese Entscheidung das Diktat gleichsam auch selbst auf sich nimmt.
1 Erzählen und Schweigen (beim frühen Esterházy) Wie kann nun das Schweigen in Erzähltexten erscheinen bzw. wie ist es über den thematisch-motivischen bzw. figuralen Rahmen hinaus zu lesen? Wie wirkt die Rhetorik des Schweigens in der Textualität? Wie bezeugen Erzähltexte das Schweigen, wie lassen diese Texte das Schweigen selber bezeugen? Wie werden Schweigeakte zu Bezeugungsakten und umgekehrt? Das Bezeugen durch das Schweigen ist in zahlreichen Fällen schon auf motivisch-semantischer Ebene an Geheimnisse gebunden, auf systematischer Ebene aber kann es mit dem spezifisch testimonialen Potential der Literatur in Zusammenhang stehen, mit dem Recht der Literatur darauf, dass sich ihr Postulat, alles auszusprechen, mit der Bewahrung des Geheimnisses, mit einem gewissen Verschweigen verbindet.15 Das Erzählen des Schweigens als Ereignis kann als paradoxe narrative Operation bezeichnet werden, denn der Ereignischarakter des Schweigens kann zwischen erzähltem Geschehen und Narration, im weitesten Spektrum zwischen dem „Wirklichkeitseffekt“ (Barthes) und seiner Interpretiertheit bzw. Semantisierung durch das Erzählen (dem Bedeutungsgehalt des Schweigens) oszillieren. Jeder Schweigeeffekt im Erzähltext kann potentiell eine erzählerische Auslassung
14 Vgl. Han: Im Schwarm, 13–14. 15 Vgl. wiederum Derrida: Die unbedingte Universität, 15.
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sein, was jedes noch so referenzielle, kausale oder thematische Moment des Schweigens zum Element der Rhetorik der Erzählung, zu ihrem Wirkungseffekt verändern kann.16 Die Manifestation des Schweigens kann inhärenter Teil oder Index der „rhetorischen Kraft der Narrative“17 sein.18 Zugleich kann die Berührung der Ebenen von Geschehen und Erzählung durch die Metonymien des Schweigens, ja ihre Ununterscheidbarkeit19, den narrativen Ursprung, die Vervielfachung der „authorizing source of a story“20 (Die Figur oder der Erzähler schweigt – verschweigt etwas? Geht es um die Stille der erzählten Geschichte oder des Erzähldiskurses?) die Souveränität des Erzählens angreifen, da seine eigenen Performativa unbeherrschbar auf Gegenzeichnung angewiesen sind. Das Schweigen kann sich in der Rhetorik der Narration als Anakoluth äußern, als eine Diskontinuität des Erzähldiskurses, die – nach Derridas Interpretation der
16 Die Reflexion dieser strukturellen Charakteristika der Narrativa wurde in narratologischen Diskursen selten zum Gegenstand expliziter Reflexionen oder der Interpretation konkreter Erzähltexte in diesem Sinn. Eine wichtige Ausnahme bildet Gérard Genettes Aufsatz Silences du Flaubert (1965, englische Übersetzung: Genette: Figures of Literary Discourse), der ebenso vom Schweigen handelt wie von der Stille der Gegenstände (das französische „silence“ unterscheidet nicht eindeutig zwischen „Stille“ und „Schweigen“). Auch eine Beobachtung von Vološinov lässt sich hier anschließen: „[W]o die uneigentlich direkte Rede zu einer Massenerscheinung wird, in der neuen künstlerischen Prosa nämlich, ist die lautliche Wiedergabe der wertmäßigen Interferenz unmöglich. Darüber hinaus ist selbst die Entwicklung der uneigentlich direkten Rede mit der Verwandlung der großen Prosagenres in ein stummes Register verknüpft. Nur dieses Verstummen der Prosa konnte jene Vielschichtigkeit ermöglichen, jene Komplexität der Intonationsstrukturen, die die Stimme überfordern und die für die neue Literatur so charakteristisch sind.“ Vološinov: Marxismus und Sprachphilosophie, 232. 17 Culler: „Story and Discourse“, 178. 18 In der ungarischen Fachliteratur hat Edit Zsadányi die Anwesenheit des Schweigens in Erzähltexten zum Thema erhoben (A csend retorikája). In dieser Monografie ist das Schweigen ein Unterfall oder eine Funktion der Auslassung und letztere der Unbestimmtheit (ebd., 21–22); sie werden aus sprachkritischer Perspektive behandelt. Der Begriff des Verschweigens wird im Buch in doppeltem Sinne gebraucht, als das Verschweigen von etwas und als Grenzfiguration, wo „das Mitteilbare des Erzählers an sein Ende kommt“ (ebd.) Damit bleibt das Schweigen (als so verstandenes „Verschweigen“ und „Stille“) Gegenstand negativer Kategorisierungen, die für die Beschreibung der modernen Literatur so charakteristisch sind, außerdem erscheint es nur in thematischer und narratologischer bzw. letztendlich in morphologischer Perspektive (das Buch untersucht eher die Grammatik der Auslassungen als ihre Rhetorik in tropologisch-performativem Sinn, z. B. im Zusammenhang mit dem Zeugma). Demgegenüber soll hier versucht werden, das Schweigen als Ereignis (mit mehreren seiner Implikationen), als Sprache hinter der Sprache zu verstehen, und nicht nur als Fehlen oder Auslassung. 19 Cullers Aufsatz bezeichnet die grundlegende Voraussetzung narratologischer Theorien als Axiom der Ununterscheidbarkeit zwischen Geschichte und Erzählung, story und discourse, histoire und récit. 20 Vgl. Miller: „The anacoluthonic lie“, 149.
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Figur vom „acolyte“21 – auf das Fehlen des sich in die einzelne Äußerung einschreibenden Schweigens oder Stummseins, der performativen Rückbestätigung verweisen oder diese inszenieren kann (die Literarizität kann gerade diesen mit narratologischen oder rhetorischen Mitteln unerreichbaren Effekt reflektieren). Diese Ausführungen haben vielleicht gewisse Fragekomplexe, Kontexte und Aspekte der Sprach-, Literatur- oder Zeitbetrachtung spürbar werden lassen, die bei einer diesbezüglichen Befragung des Esterházy-Korpus eine Rolle spielen und die Interpretationsperspektive motivieren und beeinflussen können. Esterházys Werk entstand bekanntlich von Anfang an auch im Zeichen des Schweigens, wobei es sich dessen oben skizzierte performative Dimension vor Augen hielt, diese jedoch weniger in Bezug auf das spätmoderne Schweigen artikulierte. Ihm ging es nicht darum, eine Grenze zwischen dem Sprachlärm der diesseitigen Welt und dem auf die Transzendenz oder deren Fehlen verweisenden Schweigen (eher der Stille) zu ziehen oder diese Art von Schweigen axiologisch auszuzeichnen, es beschäftigte sich eher mit dem Verschweigen als Geste, mit den unobjektivierbaren, unlesbaren Übergängen zwischen dem Sprachlichen und dem Nichtsprachlichen. Esterházys Schreiben eröffnete der ungarischen Erzählprosa auch in der Schreibbarkeit des Schweigens, in seiner literarischen Artikulierbarkeit neue Perspektiven, vermutlich auch über den Horizont von Kosztolányi hinaus, der auf diesem Gebiet vielleicht für seinen wichtigsten Vorgänger gehalten werden kann. Das Esterházy-Korpus bietet daher auch eine literarische Anthropologie des Schweigens, von den intersubjektiven Schweigeszenen in Fancsikó und Pinta über das bereits in ihrem Untertitel „Schweigen“ thematisierte Motiv der Spionnovella [Spionnovelle], später über das beredte Schweigen des „Meisters“ im Produktionsroman, über seinen Experimentalismus, weiter z. B. über die diesbezüglichen Momente der Trauerarbeit der Hilfsverben des Herzens, die Schweigeeffekte, die in Harmonia Caelestis die Erinnerungsarbeit zerstückeln und das zentrale Problem der Verbesserten Ausgabe (dieses besteht bekanntlich nicht nur in der Agentenvergangenheit des Vaters, sondern auch darin, dass dieser bis zu seinem Lebensende über sie geschwiegen hat), bis schließlich zur Szenografie der Markus-Version zwischen dem Gebet als Schweigen, den Stummheiten der Figuren und dem transzendenten Schweigen. Dieses Spektrum lässt sich unmöglich im Rahmen eines Aufsatzes analysierend überblicken, deshalb beschränkt sich die Untersuchung im Folgenden auf einige Textstellen aus Fancsikó und Pinta und dem Produktionsroman. Esterházys erster Band skizziert mit seiner vielschichtigen Szenografie des Schweigens dessen literarisch-narrative Phänomenologie, die betont sprachliche
21 Derrida: „Le Parjure“, 214–215.
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Gestaltung der einfachen Formen wird mit der Gegenwart des Schweigens, mit seinen diskontinuierlichen Signalen verknüpft, die nicht nur thematisch-motivische Momente im Text sind, sondern sich als sprachlich-textueller Effekt, als Wirkungsfunktion manifestieren. Die Szenen des Schweigens entfalten sich in diesem Band beinahe immer um irgendwelche Verschweigenseffekte und deren verschiedenartige Iterationen bzw. responsive Zusammenhänge. Zudem werden im gesamten Werk im doppelten Signieren der Erzählstimme durch die beiden Protagonisten (oder umgekehrt) die Ebenen von Geschichte und Erzählen, Erzählstimme und erzählter Stimme telepoetisch ineinander verschränkt.22 In dem Stück (Fancsikós Gedicht) kreist die Szenografie des Schweigens um die Frage des „Ja“. Das Verhältnis zwischen den Eltern, die verletzte Kommunikation wird im Text zuerst pantomimenartig inszeniert. Auf die Beschreibung und Lektüre der Hand und der Finger der Mutter folgt die Darstellung des vermutlich zerkratzten Gesichts des Vaters,23 das nach einem in eine Handgreiflichkeit ausgearteten Streit in die Inszenierung eines zögerlichen Aussöhnungsversuchs mündet, mit der selbstreflexiven Beschreibung der Gesten der Hände, in der eine Art pantomimenartiges sprachliches Verhalten widerklingt, das zugleich auf die Typografie (also auf die nicht-phonemisierbare Ebene des Textes) abhebt: „Ihre Finger aber streckten sich ihm [. . .] mit einem Versprechen von Erlösung entgegen. Er, der die erschreckenden Halbmonde der hoffnungsvollen Nägel vielleicht erahnte, schnaubte [. . .] Die Hand meiner Mutter krümmte sich verdutzt (wie ein dickes, ewiges Klammerzeichen).“ Die Szene, in der das Gedicht vorgelesen oder aufgesagt wird, versucht mittelbar, die erstarrte, gelegentlich sogar abgeschlossene Pantomime durch die Repräsentation in einer Theaterszene aufzulösen, zumindest
22 Ein Beispiel dafür: Die Erzählstimme sagt über den denkwürdigen „Direktor“ in (Fußballplatz mit Kuhlen): „Er hätte vorher besser nicht geschmeichelt, dann wäre er jetzt nicht aus der Rolle gefallen und hätte nicht vergessen, daß nur er wirklich Macht hatte. ‚Ich aber hab ein Gefühl für den Ball‘, raunte Fancsikó.“ (123–124) Fancsikós Bemerkung folgt auf den Satz des Erzählers über eine dritte Person, als ertönte sie auf der Ebene der repräsentierten Geschichte. 23 Nicht frei von metanarrativer Bedeutung, denn über den Vater heißt es, seine „Züge verhedderten sich wie ein falsch gewickeltes Knäuel“ [wörtlich: „wie eine falsch aufgewickelte Schnur“], was auf den Untertitel von Fancsikó und Pinta: „(Geschichten auf ein Stück Schnur gefädelt)“ verweist. Zur „Rhetorik des Anblicks“ im Zusammenhang mit dem gesamten Buch bzw. dem hier besprochenen Ausschnitt s. Palkó: Esterházy-kontextusok, 126–127. Zu der Schweigeszene in (Schoko Schoko Schokolade) (wo „der Text die Intentionen des Akts des Verschweigens – in engem Zusammenhang mit der Erzählerposition mit ihrem unidentifizierbaren Status“ nicht gewährt), s. ebd. 103. Die Beschreibung der Finger, der Hände, des Gesichts der Mutter und des Gesichts des Vaters wird in den Hilfsverben des Herzens zitiert, was im dortigen Kontext eine gespenstische Bedeutungsänderung zur Folge hat (im Zusammenhang mit der Krankheit), vgl. Esterházy: Einführung, 820.
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aber sie versprachlichend-textualisierend umzuinterpretieren oder zu simulieren und mithin die Aussöhnung hervorzurufen, indem die Möglichkeit, „ja“ zu sagen, zurückgewonnen wird. Fancsikó stellt der Mutter „spitzfindig“ [körmönfontan] eine Frage („Sie hier?“) und interpretiert so die phatische Geste im rückwirkenden Verweis auf die „hoffnungsvollen Nägel“ [reménykörmök, eigentlich „Hoffnungsnägel“] auf semantischer Ebene wohl als Versuch zur Rückgewinnung der Hoffnung, als Fortsetzung der Annäherung. Auf der metakommunikativen Ebene löst das sprachliche Handeln, die „spitzfindige“ [körmönfont] Frage, die Gewalt der physischen Handlung, des Zerkratzens, ab oder sublimiert sie. Auf der metapoetischen Ebene schließlich besteht die Motivation für dieses Experiment in der Auflösung der Fixiertheit der Schrift(lichkeit), des „dicken, ewigen Klammerzeichens“, im Rückgewinn einer Art sprachlicher Plastizität (deren gegenseitige Vergebung das Interpretant des Intersubjektiven ist). Dergestalt kann das Schweigen eine Art „vielleicht“-Strukturmoment dieser Plastizität oder Potentialität sein (auch als Nichtschreibbarkeit oder Widerstand gegen die Schreibbarkeit, als Sprache hinter oder vor der Schreibbarkeit). Fancsikós Gedicht hat „nämlich keinen Titel“, und so „legte er mit seinen Entschuldigungen los“ bzw. das Fehlen des Titels des repräsentierten Gedichts schreibt eine selbst schon im Zeichen des Schweigens interpretierbare Ellipse in den Text ein (zugleich repräsentiert der Titel der Texteinheit gleichsam auf selbstreferentielle Weise den Titel des Gedichts). Als die Mutter nicht antwortet (also nach einem zweiten Schweigen), heißt es: „Auf die Frage, ob er das Gedicht aufsagen dürfe, antwortete meiner Mutter nicht, angewidert starrte sie in die Dunkelheit, was letzten Endes auch ein Ja bedeuten mochte.“ Das „Ja“ (obgleich eher ein „vielleicht“) kann syntaktisch nicht nur das Schweigen der Mutter, sondern auch der „Dunkelheit“ semantisieren (bzw. kann es sich hier schon um ein dreifaches Schweigen handeln). Dieses Ja – oder ein Ja – inszeniert und ersetzt bzw. vertritt dann gleichsam Fancsikós Gedicht: „‚Wenn Sie mir / diesen / Ausdruck / erlauben: / Ja.‘“ Die Erzählstimme beendet die Erzählung schließlich mit einem Schweigen der „Dunkelheit“, die zum „dankbaren Publikum“ geweiht wird: „Bescheiden und leer verneigte er sich; die Dunkelheit, das dankbare Publikum, schwieg feierlich.“ In das aufgeführte Ja schreibt sich also das Schweigen ein, sowohl das der Mutter als auch das der nicht-anthropomorphen „Dunkelheit“, das nicht einfach Stummheit ist oder Verstummen, sondern auch Zuhören sein kann (diese Bedeutung hatten Pinta und die Erzählstimme bereits betont: „‚Laßt uns hören, laßt uns hören‘, rief Pinta und nahm damit das Vertrauen der Zuhörer frech (weil unbegründet) vorweg.“). Das potentielle Heraufbeschwören des „Ja“ geht auf der Seite der Mutter also mittelbar vor sich, auf szenisch-theatralische Weise: In der Weihe der „Dunkelheit“ zur Hörerschaft, zum Publikum, in ihrer Ausstattung mit der Fähigkeit des
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Hörens kann bestehen, was auf freilich ambivalente Weise abgeschlossen, kompositorisch hervorgehoben wird und den Endpunkt sowohl der Geschichte als auch der Erzählung bildet („schwieg“ kann auch die „Antwort“ auf diese Prosopopöe sein, bzw. deren Erfolg bleibt sowohl auf der Ebene der Geschichte als auch auf der des metapoetischen Effekts in der Schwebe).24 Ebenso besteht keine Gewissheit darüber, dass die Mutter diese Vorstellung gehört (sich angehört) hat: Das Hinübertreten über das Schweigen in Richtung „eines Ja“ kann, wenn überhaupt, nicht auf die Weise eines eindeutigen Sprechaktes (oder eines Titels, einer Adressierung) geschehen, sondern auf die Art der indirekt inszenierten Rede und dadurch wiederum des zum Aktanten gemachten Schweigens, also nicht entgegen dem Schweigen, sondern mit ihm verschränkt, unter Verstärkung der potentiellen kommunikativen Intensität des Schweigens. Die Sprache ist hier nicht die Gegenrede des Schweigens, so wie auch das Schweigen nicht die reine Privation der Sprache ist. Viel eher erfolgt die Bezeugung des Schweigens als des Unausgesprochenen (sowohl, indem das Schweigen bezeugt wird, als auch – was dasselbe bedeutet –, indem das Schweigen bezeugen gelassen wird, also nicht unbedingt versucht wird, es in Worte zu fassen). Das Unausgesprochene ist hier nicht Botschaft oder Inhalt, sondern der in der phatischen Geste implizierte Ruf, eine Art „Zusage“. Dies alles bestätigen die euphonischen Zeichen des Schlusssatzes, die in dieser Hinsicht eher gewisse Kriterien der Poetizität präsentieren als das in Gedichtzeilen umbrochene, aber eingefahrene Phraseme wiederholende, depoetisierte „Gedicht“.25 „Bescheiden“ [szerényen] und „leer“ [üresen] sowie „feierlich“ [ünnepélyesen] reimen sich bzw. alliterieren (auch auf der Ebene der Vokale) ebenso miteinander ebenso wie „Dunkelheit“ [sötétség] und „Publikum“ [közönség]. Die Erzählstimme bzw. der Text bezeugen dadurch gleichsam Fancsikós „Gedicht“ und das darin enthaltene „Ja“ – zugleich mit dem Schweigen, denn es ist ja nicht entscheidbar, für wen das Gedicht letzten Endes aufgeführt wird: für die Mutter oder für die Dunkelheit. So ästhetisiert das Zitieren der Poetizität weniger als es
24 Ein solches materiales Verschweigen, einen solchen Ausschluss des Textes nimmt auch der Schluss des Stücks (Die Oberfläche der Gesichter) in den Inszenierungscode auf: „Albi wurde rot, und wieder stand meine Mutter allein, um sie herum gab es nur Sandwiches und die Lücke zwischen zwei Klaviertasten: die Stille.“ (57) Eine Szene von (Fußballplatz mit Kuhlen) bringt ebenfalls das Motiv des „Ja“ ins Spiel, diesmal erwartet die Mutter dieses Ja (hier ergeben sich auch andere szenische Ähnlichkeiten mit dem oben behandelten Stück): „‚Geht dein Vater auch zum Match?‘ Ihre rechte Hand, mit der sie mich gewaschen hatte, hing ganz überflüssig ins Wasser hinab und berührte meinen Rücken; mit der anderen Hand drückte sie mich mit unverringerter Kraft weiter nach vorn. Als hätte sie meinen Kopf zu meinem ewigen Ja fixieren wollen.“ (130). 25 Vgl. dazu eher abweichend Palkó: Esterházy-kontextusok, 110–111.
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die quasi-öffentliche Repräsentation einer Art Gerechtigkeit des Gedichts als eines ersetzend-vertretenden „Ja“ unterstreicht („feierlich“ könnte mit mehr Recht Bestimmung zu „verneigte sich“ sein) bzw. die Betonung auf das Aufzeichnen, das Einprägen in die Erinnerung legt (vgl.: „Fancsikó wußte, daß ihm nicht viel Zeit bleiben würde.“). Das Aufzeichnen des Schweigens oder das Schweigen als Aufzeichnen: Lyrische und prosa-narrative poetische Effekte verbinden sich in dieser paradoxen Formel, in der Simulation eines verschwiegenen oder virtuellen „Ja“, dadurch in seiner Herstellung, genauer gesagt: seiner Gabe. Damit hält der Text gegen alle sprachliche Gewalt die Potentialität des „Ja“ als „Vielleicht“ aufrecht – auch deshalb ist das „Ja“ mit Schweigen durchtränkt.26 Die andere zu besprechende Textstelle ist die denkwürdige Szene aus (Fußballplatz mit Kuhlen): Nach einem Tor, und nachdem ich mich aus den Umarmungen der Jungens befreien konnte, stand ich plötzlich vor meinem Vater, und da ich hoffte, er würde mir anerkennend über die Haare streichen, streckte ich den Kopf vor. Der Blick meines Vaters war ohne Inhalt, als er mich fragte: „Und deine Mutter?“ Ich antwortete nicht, preßte die Zähne zusammen, die Wörter wollten weder raus noch rein. Nur Fancsikó sagte etwas, freundlich und schwerfällig, er nämlich wußte, wie man lieben kann, aber gleichzeitig auch sehen.27
Die Formulierung „die Wörter wollten weder raus noch rein“ projiziert ein zweifaches Schweigen herauf, nach außen, in illokutivem Sinn (auf der Ebene der „illokutiven Werte des vollzogenen Akts“), und nach innen (auf der Ebene des „im Gespräch implizierten intentionalen Versprechens“),28 mehr noch, darüber hinaus schweigt der Erzähler auch gegenüber sich selbst (gleichsam im Sinne des „Wo beginnt meine Stummheit, und wo beginne ich?“).29 Worauf reagiert Fancsikós „sagte etwas“, auf die „Frage“ des Vaters oder auf die verbale Paralyse 26 Nach einer Textstelle in Esterházys zweitem Erzählungsband: „Ich antwortete nicht, was eine sicherere Äußerung war als ein ‚Ja‘ (das ist schließlich nur ein geleugnetes ‚Nein‘).“ (Nincsen címe; ez sem az [Ohne Titel; das ist es auch nicht]. Esterházy: Fancsikó és Pinta, 201.) In Pápai vizeken . . . erkennt der „Kellner“-Erzähler Kosztolányi „als seinen Meister an“, und so kann Esterházys Szene die metareflexive Auslagerung der Kornél-Esti-Erzählung über den bulgarischen Schaffner, eine Explikation der dortigen Rolle des Schweigens sein. Das „Vielleicht“ zwischen „Nein“ und „Ja“, zwischen Verneinung und Affirmation, davon handelt die mehrmals erwähnte Geschichte vom bulgarischen Schaffner in Kornél Esti. 27 Esterházy: Fancsikó und Pinta, 135. 28 Vgl. Kulcsár-Szabó: Tetten érhetetlen szavak, 338. 29 Auch in der Markus-Version taucht ein ähnlicher Satz auf: „Ich verheimliche, dass ich sprechen kann, und zeige nicht, dass ich verstehe, was sie zu mir sagen. Doch sie sagen gar nichts. [. . .] Meine Mutter macht sich Sorgen. Ich bedaure sie nicht. Kein Mucks, nicht raus,
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des Ich-Erzählers, die er bezeugt? Hier ist wieder eine erzähltechnische Besonderheit zu beobachten, die für das Buch im Ganzen charakteristisch ist: Gewisse repräsentierte oder zitierte Äußerungen können sich zugleich auf andere ähnliche Äußerungen (Fragen) und auf die Erzählstimme beziehen, können von dem einen wie von dem anderen zeugen. Die reflexive Äußerung („er nämlich wußte . . .“) dieser Stimme erklingt hier aus der Nachträglichkeit, sie ist aus der erwachsenen Redesituation bzw. als ihre Bezeugung lesbar. So kann sich die Auslassungsfiguration „sagte etwas“ auch aus dem Vergessen des erwachsenen Erzählers ergeben oder im positiven Sinn: aus der Erinnerung des Sagens (nicht aus der Fixierung der tatsächlichen Äußerung, die immer die Gefahr birgt, dass der andere auf sein Wort festgenagelt wird). So kann das (Ver-)Schweigen eine Art Bewahren im Zeichen der Gerechtigkeit sein.30 Auch hier kann die spezielle Temporalität des Schweigens in der Dimensionalität der Erinnerung entstehen, in der Interpenetration zwischen Erzähltem und Erzähler, genauer: bezeugter Vergangenheit und bezeugender Gegenwart (der Tausch ihrer Attribute ist auch hier potentiell bereits gegeben – d. h. auch die Vergangenheit bezeugt die Gegenwart –, was in Indirekt zum Verfahren der Textorganisation wird). Das Verschweigen auf der Ebene der Geschichte („ich antwortete nicht“) und das Verschweigen durch das Erzählen („sagte etwas“) verknüpfen sich, letzteres antwortet auf die Frage des Vaters und bezeugt zugleich das referentielle Verschweigen des Erzählers (das „lieben, aber gleichzeitig auch sehen“ wurzelt in dieser narratotestimonialen Duplizität, insbesondere, da „sehen“ auch auf die Formulierung „der Blick meines Vaters war ohne Inhalt“ Bezug nimmt). Durch die Antwortgabe an den Vater wird mittelbar zugleich dem Erzähler eine Stimme verliehen (die dessen inneres Wort bezeugt), und zwar im doppelten Sinn des gegebenen Wortes: nämlich durch das Verschweigen, wobei der Erfolg der Bezeugung in der Schwebe gelassen wird.31 So erweist sich das Schweigen als eine Gabe, über die auch der Erzähldiskurs nicht verfügt, da es den Ort und Augenblick des unmöglichen Zusammenfallens von Intention und Sprechhandlung, außerdem von gegebenem und erhaltenem, innerem und äußerem Wort (nicht) markiert. So lässt sich auch nicht entscheiden, ob dieses Schweigen außen oder innen anzusetzen ist, ob es überhaupt intentionalen Ursprungs ist oder ob nicht vielleicht die Rede
nicht rein, nichts, und dem Nichts gegenüber ist die Sorge so lächerlich.“ (Esterházy: Die Markus-Version, 5, Zitat im Haupttext: ebd. 18.) 30 Vgl. Ernő Kulcsár Szabós prinzipielle Feststellung über die performativ imprägnierte narrative Redesituation in Fancsikó und Pinta: „. . . das Wesentliche des Novellenzyklus liegt in Wirklichkeit nicht in den Geschichten, sondern in ihrer Sagbarkeit, und zwar in ihrer gerechten Sagbarkeit.“ Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 24. 31 Vgl. dazu Kulcsár-Szabó: Tetten érhetetlen szavak, 338.
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(der Text) selbst das Unsagbare verschweigt (gegen die Intentionalität des redenden Subjekts oder unabhängig von ihr), das der Sprecher bzw. Erzähler gleichsam nur sein lassen kann (bezeugen kann), gerade im Modus des Schweigens.32 Den letzten Teilsatz des Zitats könnte man durchaus so umschreiben: Er nämlich wusste, wie man reden kann, aber gleichzeitig auch schweigen. Hier wird die Rede zur (z. B. interpretativen) Funktion des Schweigens und nicht umgekehrt, das Schweigen ist nicht einfach Funktion, Ergänzung, Supplement der Rede. Der Redeakt ist in seinem Wesen Schweigeakt. Dieses im wahrsten Sinne des Wortes beredte Schweigen bedeutet hier keine Indifferenz oder Negation, wie so häufig beim Schweigen (und auch hier: „der Blick meines Vaters war ohne Inhalt“; „Ich
32 Bei Esterházy reflektieren später zahlreiche Textstellen eine solche Seinsweise des Schweigens, in der Tendenz über das spätmoderne (Ver)Schweigeideal hinaus (vermutlich in diesem Sinne interpretiert Julianna Wernitzer Esterházys Verhältnis zur Stille und zum Schweigen, vgl. Idézetvilág, 48–50; zum nicht homogenen Verhältnis „zur Poetik der Stille und des Verschweigens“ vgl. Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 140–141). Im Klappentext der Einführung in die schöne Literatur: „. . . was dieser Raum sei, der zwischen zwei umgekehrten Klammern eingeschlossen ist, dieser gefüllte Raum, in dem jeder Text, auch die Pausen, die von den ganzen Texten gegliedert und interpretiert werden (und nicht umgekehrt), bzw. dass gerade dies außen wäre und das in Klammern, was nicht dies ist, dass also hier und jetzt nur dies das ist, was ist . . .“ In Flucht der Prosa erscheint eine Textpassage zweimal auf derselben Seite, einmal am Rand mit fetten Buchstaben, in kurze Zeilen umbrochen, mit Worttrennungen an beinahe jedem Zeilenende, und im Haupttext, mit dem bestimmten Artikel „a“ vor fast jedem Wort: „Können wir eine Pause als Verlauf annehmen, die von den Tönen gegliedert und interpretiert wird und nicht umgekehrt? Die Töne sind nur Schatten an der Oberfläche der Stille“ (Einführung in die schöne Literatur, 42; wiederholt teilweise auf S. 61). Aus Indirekt: „. . . wobei er zugibt, dass sie nach den vielen ‚sie soll nicht glauben‘ zu Recht mißtrauisch sei, es ist suspekt, wenn jemand auf alle verdächtigen Schritte so vorbereitet ist, dann ist es wohl besser zu schweigen, nicht etwa von etwas nicht zu reden, also im Grunde zu verstummen, sondern still zu sein, schon weil, und jetzt wiederhole er das nur, weil es nicht schadet, weil das Vertrauen keine Sache von Entscheidungen ist, es hängt nicht mit guten Absichten zusammen, und obwohl man vertrauen muß, daß diejenigen, die das Vertrauen verdienen, einander finden, verlangen die Unwegsamkeiten, die mit dem Zeitplan einhergehen, viel Blutopfer, aber, und das müsse er, K., ernsthaft hervorheben, gewisse Dinge müssen wir selbst dann für unwesentlich etc. halten, wenn wir täglich daran zugrunde gehen, in der großen Stille, die wie ein Atmen war, wie ein Seufzer, nur der staubige Asphalt kreischte unter ihren Schuhen . . .“ (Einführung in die schöne Literatur, 286.) Am Anfang der Hilfsverben des Herzens: „Ich spreche nicht; ich schweige auch nicht: Das ist auch nicht dasselbe.“ (Ebd. 813.) In einem Essay „. . . auch das Nicht-Wort ist ein Wort, auch das Weglassen des Wortes ist ein Wort, das weiß ich von Mészöly . . .“ (Esterházy: „Ünnepi beszéd és rekonstrukció“, 31). Harmonia Caelestis spielt unter anderem auf die performativen Effekte des Schweigens an: „Ihr Gesicht umwölkte sich, sie wartete ein wenig, als würde sie sich überzeugen wollen, ob sie richtig gehört hatte, und dann – dann machte sie gar nichts. Dieses Nichts – Schweigen, Traurigkeit, Gereiztheit, Einsamkeit – war, als hätte sie mich geohrfeigt. So eine Riesenohrfeige hatte ich in meinem Leben noch nicht bekommen.“ (Esterházy: Harmonia Caelestis, 607).
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antwortete nicht“; „die Wörter wollten weder raus noch rein“), sondern eine nichtbejahende, nicht-thetische Affirmation, genauer: die Rücknahme dieser Affirmation, so, dass sie doch eine Bejahung bleibt (beispielsweise auf der Ebene der Modalität, des „freundlich und schwerfällig“). Das doppelte Verschweigen in Fancsikós „sagte etwas“ oszilliert daher auf unentscheidbare Weise zwischen innerem und äußerem Wort, zwischen den Ebenen der Geschichte und ihres Erzählens, dem Erzähler und seinem „acolyte“ Fancsikó, und verwirklicht damit den Fall, in dem das Reden oder Sagen eigentlich als affirmatives Schweigen responsiven Ursprungs, als eine Art Ungesagtes erscheint und dabei mit den erwartbaren sprachlichen Rollenmustern, beispielsweise deren Zitierbarkeit, bricht. Esterházy erweist sich damit als würdiger Erbe Kosztolányis, bei dem es über Kornél Esti heißt, seine Höflichkeit war aber nicht höfliches Getue, Salbaderei und leeres Geschwätz. Oft bestand sie nur darin, daß er im richtigen Augenblick diskret ein scheinbar belangloses Wort fallen ließ, das jemand verzweifelt von ihm erwartete, weil sein Selbstwertgefühl davon abhing. [. . .] Das gute Wort, das noch nicht realisiert ist, schließt sämtliche jungfräulichen Möglichkeiten ein und ist mehr als die gute Tat, deren Ausgang zweifelhaft, deren Wirkung fragwürdig ist. Überhaupt ist das Wort mehr als die Tat.33
Während Kosztolányis Held dies vielleicht eher nur auf programmatische Weise formulieren kann,34 vollzieht sich all das bei Esterházy in der sprachlich-textuellen Dimension des Textes. Das „gute Wort, das noch nicht realisiert ist“, ist vielleicht deshalb ein gutes Wort, weil es vom Schweigen durchtränkt ist, das die Natur der nicht thetischen oder nicht propositionalen Bejahung, das Wie des „lieben, aber gleichzeitig auch sehen“, als Unerkennbares oder als Unlesbares, als eine Art Geheimnis behandelt. Auch der Produktionsroman führt mehrere Schweigeszenen und -effekte auf. In diesem Werk bildet sich ein expressis verbis synonymartiges Verhältnis zwischen „Taten, Reden, Schweigen“, aber nicht aus der Perspektive einer Art bestandsartiger Gleichmacherei, sondern in der unwillkürlichen Ablösung des (Selbst-)Verstehens von dessen Subjekt.35 Hier bedeutet die Anwesenheit des
33 Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 53–54. 34 Ähnlich Hugo von Hofmannsthal in einem Brief über sein Stück Der Schwierige: Hier versteckt nach Ansicht Hart-Nibbrigs Hofmannsthals Begriff der „diskreten Darstellung“ die Tiefe an der Oberfläche (Hofmannsthals Brief an Leopold von Andrian vom 4.10.1917, Hofmannsthal: Briefwechsel, 253). S. Hart-Nibbrig: Rhetorik des Schweigens, 160. 35 „‚Na, Mutti, da kannst du mit einem echten Prinzen trinken.‘ – ‚Nur ein Graf‘. Er wies das ungebetene Lob oder den Tadel von sich, mit jener Verständnis zeigenden Freundlichkeit die er so sehr nicht an sich mag. (So ein erbarmungsloser Kritiker seiner eigenen Taten, Reden und seines Schweigens ist er.)“ Esterházy: Produktionsroman, 278. Eine andere emblematische Textstelle misst dem Meister das „Gemüt [kedélye] einer Marquise“ zu, das klanglich mit der „Laune [szeszélye] der Auslosung“ in Kontakt kommt.
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Schweigens nicht mehr nur den Hiat zwischen dem Wort und der Entsprechung der Welt, seine redehermeneutische Perspektive textualisiert sich radikal.36 Das Schweigen kommt innerhalb und außerhalb der Grammatik des Erzählens vor, beziehungsweise verbindet sich seine Referentialisierung zugleich mit seiner Fiktionalisierung, jedoch so, dass sich die Fiktion oder Simulation des Schweigens letzten Endes als Bedingung und Effekt der Interaktion der Sprachen offenbaren kann. Folgende Textstelle entfaltet im Raum zwischen Geschichte und Erzählung, zwischen Erzähler und Lesen, in dem auf die selbstreflexive Weise inszenierten Prozess37 des Sich-Schreibens einen ironischen Effekt im Zusammenhang mit der literarischen Repräsentation des Schweigens: Im Bad war der Meister gerade am Einschäumen – jemand hatte von zu Hause Duftseife mitgebracht, und er hatte sofort zugeschlagen, obwohl . . . –, als der klapprige Linke Mittelfeldspieler, daher der Name Grasmücke, sagte, da verlierst du ja den . . . Verstand. (Was die drei Punkte anbelangt: ich beabsichtige damit nicht das Fehlen von etwas anzuzeigen, so halbseiden bin ich nicht, obwohl die Hiatusliteratur nicht gerade gering ist, und sie nimmt täglich zu. Aber ich schreibe über ihn, und mein Ziel kann nicht ein literarisches sein. – Kursiv heißt: Selbstironie.38
Die Materialität der Auslassungspunkte sollte keinen Mangel auf der semantischen Ebene der Äußerung bezeichnen, zugleich überschreibt die Syntax des Verneinens diese Berichtsintention, was eine Quelle der „Selbstironie“ sein kann. Im Weiteren behandelt E.s Diskurs die Spannung zwischen der durch die technische Aufzeichnung garantierten referentiellen Glaubhaftigkeit und der literarischen Repräsentation: Nichtsdestotrotz, wenn [ich] meiner gewählten Methode der Treue treu bleiben will – um mich eines Wortspiels zu bedienen –, nun [!] in diesem Fall blitzt ein Konflikt auf. Worum es geht? Nun: dort, damals, im Bad hätte ein Magnetophon Folgendes festgehalten: DA VERLIERST DU JA DEN VERFICKTEN VERSTAND. Jesus . . . Doch nicht umsonst gibt es Routine, Erfahrung, ein vorteilhaftes Umfeld – den Meister –, in deren Lauf sich die Probleme immer wieder ins Geschick zurückbringen. Ich will kein Grundprinzip festlegen, so was ist meine Sache nicht, es soll also hier unten ‚lediglich‘ die Verwirklichung, das Ergebnis stehen, in dessen Fall künstlerische Wahrheit angewandt werden wird.)
36 Zu diesen Besonderheiten des Sprachgebrauchs im Produktionsroman s. Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 69–95. 37 Vgl. Péter Sziráks treffende Bemerkung (auf den Spuren von Ernő Kulcsár Szabó): „Die Sprechsituation ist zugleich eine Schreibsituation, mit einer Stimmung, die die Illusion des gerade eben Entstehens erzeugt.“ (Szirák: „Das Netz der kleinen Formen“, 176.) 38 Esterházy: Produktionsroman, 189–190.
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Das Verschweigen profanisiert hier effektvoll die spätmoderne sprachliche Exklusivität der „Literatur des Hiats“ oder die Dignität, die durch sie gewonnen werden soll, indem es einen nicht gerade (literarisch) salonfähigen Ausdruck löscht, um ihn danach dennoch zu erwähnen. Bezeichnenderweise in Form eines technomedialen Verweises, den es zugleich auf die Weise des „als ob“ in der Schwebe lässt (betont als Moment des literarischen Mitteilungsanspruchs). Die Auflösung des Schweigens macht den Weg für die Sprache des Slangs und ein passendes Phrasem frei, setzt dieses jedoch zugleich in Anführungszeichen, denn hier vollzieht sich nicht einfach eine Angleichung der Sprachen und Register, sondern auch eine katachretische Poetisierung oder Textualisierung der Hiate zwischen ihnen (indem das „VERFICKT“ im zweiten Teil des Werkes durch „Fichte“ ersetzt wird). Die Auslassungspunkte verlieren ihre semantische Unschuld, generieren jedoch zugleich die Plastizität der Textualität, da sie die gelöschte sprachliche Wendung, die Sprache hinter der Sprache, gleichsam auf anagrammatische Weise an jeder beliebigen Textstelle implizieren können (so z. B. folgen auch auf „Jesus“ Auslassungspunkte . . .). Die Wirkung der sprachlichen Kontingenz wird dadurch intensiviert, dass bestimmte Ausdrücke und sogar typografische Zeichen potentiell als Katachresen des Schweigens oder Verschweigens lesbar werden. Eine derartige Textualisierung des Schweigens, sein buchstäbliches (Sich-)Schreiben, erhebt dieses in die Dimension des entstehenden (nicht nur dorthin verstandenen, nicht zeichen-, zustands- oder eigenschaftsartigen) Schweigens zwischen Text und Leser. Dieses Schweigen ist auf eine Art Responsivität, auf die Potentialität der Antwort des Lesers gestimmt, es kann sogar nur in dieser Gestimmtheit entstehen,39 und zwar gerade, weil es an der Oberfläche des Textes entsteht, verstreut wird oder sich ausbreitet (sich intensiviert), nicht hinter ihm, z. B. im Bereich des angenommenen Erzählerwissens.40
39 Schon Bachtin hat die „Pause“ zwischen der eigenen und der fremden Äußerung in ähnlichem Sinn definiert: Auf den Satz „folgt bereits keine vom Sprecher selbst abhängige und mit Sinn erfüllte Pause mehr, sondern es wird nun eine Antwort oder das antwortende Verstehen eines anderen Sprechers erwartet. [. . .] (Pausen zwischen Äußerungen haben natürlich keinen grammatischen, sondern realen Charakter [. . .])“ Auf theoretischer Ebene: „Wie eine Dialogreplik, so ist auch das [literarische] Werk auf die Antwort eines anderen (der anderen) hin angelegt und zielt auf ein aktives Antwortverstehen, das verschiedene Formen annehmen kann [. . .] es determiniert die Antwortreaktionen der anderen in den komplexen Bedingungen der sprachlichen Kommunikation.“ Bachtin: Sprechgattungen, 27–28. 40 Über die Suche, den Tausch der (angemessenen) Wörter reflektiert auch das Werk selbst: „Dort – bis jetzt, einschließlich dieses Buchs – wird die ‚Einstellung‘ so gelöst, dass man auf die ‚Selbstformulierung‘, das Entstehen einer Stille (usw. usw.) hoffen kann, welche – über den Text huschend – im Nachhinein den Platz des einen oder anderen Wortes mehr oder weniger irrelevant macht.“ Esterházy: Produktionsroman, 487.
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Das Schweigen wird von der Rede oder den Lauten gegliedert (ohne sie könnte es sich nicht als solches artikulieren) und ist nicht als Pause ein reines Strukturmoment der verbalen Artikulation. Zugleich entzieht sich das Schweigen auch der Diskretisierung (genau deshalb kann es als eine Art nicht-verbaler Rede erscheinen), die Seinsweise seines Entstehens impliziert auch diese Ungreifbarkeit, Augenblicklichkeit (vgl. „über den Text huschend“). Dies bildet Flucht der Prosa auch typografisch und (a)grammatisch zerstreut auf der grafischen Ebene des Textes ab: „A können a wir a eine a Pause a als a Verlauf a annehmen, a die a von a den a Tönen a gegliedert a und a interpretiert a wird a und a nicht a umgekehrt? A die Töne a sind a nur a Schatten a an a der a Oberfläche a der a Stille.“41 Eine wichtige Reflexion von Indirekt lässt sich ebenfalls in diesem Kontext interpretieren: dass nämlich jede Annäherung von vornherein Schiffbruch erleiden muß, und dann schwirren die Wörter, von denen noch die Rede sein wird, leer umher, und dennoch, manchmal, weil wir ja schon ein bißchen gelebt haben und daher die Welt in uns einige Spuren hinterlassen und sie uns eingedrückt hat, da sie uns gedrückt hat, kann sich uns ein Ding, eine Bewegung kristallklar zeigen, nämlich die unentwirrbar heikle Situation, daß es das gibt, und so werden die Wörter unerwartet zu Vermittlern von etwas, das nicht im geringsten eine Verbindung mit uns und unseren Wörtern zu haben schien . . .
Hier werden die Wörter gleichsam zu Trägern (nicht zu Gegengestalten) des Schweigens, im Modus der plötzlichen Erkenntnis, der hier auch als lesephänomenologische Beschreibung lesbar ist; die sprachliche Reflexion kann zur Selbstbeschreibung der ästhetischen Erfahrung des Lesens, zu ihrer Selbstinterpretation werden. Die Inszenierung der Rolle, eher noch des Ereignisses des Schweigens innerhalb des Dialogs führt in Esterházys erstem Roman auch die Dualität vom Typ „weder raus noch rein“ aus Fancsikó és Pinta weiter: „Sag, Onkel Kálmán, übernahmst du gewisse Aufgaben freiwillig, oder hat dich Árpád Bercsik, der Chef der Pressestelle des Ministerpräsidenten, dazu aufgefordert?“ Genauso, direktemang in die Mitte hinein! Phantastisch. Herr Mikszáth war noch nicht fertig mit seinem Bier. Er trank es akkurat, wischte sich mit dem Handrücken den Bart. Bis dahin war dieser, wie von Raureif, von weißem Schaum bedeckt. „Freiwillig. So empfand ich es als richtig. Ich glaubte daran.“ – „Mach mich nicht schwach, Onkel Kálmán. Hätte das ein jeder geglaubt?“ – „Viele.“ Der Alte nahm versonnen einen Schluck. Nun gab es mehr, das sie voneinander trennte; als hätte es gar keinen Dialog gegeben. „Sehr viele.“ – „Aber Onkel Kálmán!“ Der Meister schlug ärgerlich, ungeduldig in die Luft. (Jetzt erst sieht man, was für ein Glück es war, dass der Humpen bereits hingestellt war.) Der Alte mümmelte nur vor sich hin, als wollte er etwas sagen und dann wieder nicht. „Uns geht’s so damit, dass wir darüber ge-
41 Wobei „a“ auf Ungarisch der bestimmte Artikel ist.
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nauso wenig reden können, wie man nicht von seiner ersten Liebesnacht reden kann.“ – „Aber Onkel Kálmán, darum geht es ja! Die Braut hatte ’nen Schwanz!“ Herr Mikszáth sah dem Meister nur selten in die Augen; das war jetzt so ein Moment. Und was spiegelte sich da nicht alles in diesem verhangenen braunen Augenpaar: das große Wissen darum, wie der Hund hinterm Ofen hervorzulocken ist42. „Du bist vielleicht ein Mameluk, Alter“, sagte der Meister jugendlich. Kálmán Mikszáth wandte sich um: „Worte brechen keine Knochen.“43
Ob diese Unterhaltung als Monolog oder als Dialog zu interpretieren sei, ist nicht eindeutig, ebenso wie die Bachtin’schen Grenzen zwischen eigener und fremder Äußerung nicht gegeben sind. Auf die Frage antwortet Mikszáth zwar noch, aber dann „gab es mehr, das sie voneinander trennte“, der Dialog scheint abzureißen, und die Rede wird zu „Mümmeln“ (mit einer Reihe von „m“-Lauten), auch der Vergleich selbst („als wollte er“) setzt im Original diese Serie von M-s fort (und stärkt damit den intermediären Charakter der Rede).44 Selbst die zitierte Mitteilung operiert mit einem Vergleich, sie lässt zwei Arten von Registern (das politische und das Liebesbekenntnis) aufeinanderprallen,45 und erst durch sein figuratives Phrasem bringt sie der Meister ins Wanken. Mikszáth antwortet nicht, er schaut nur „dem Meister [. . .] in die Augen“. In seinen Augen spiegelt sich freilich allerhand, aus der Erzählperspektive unter anderem ein Phrasem („woran die Fliege krepiert“),46 das danach fragt, wie sehr der Meister das wahrnimmt und inwiefern der eingeschobene interpretierende Satz eine Invention des Erzählers ist (um wessen „Wissen“ es also geht). Auf der Ebene der Geschichte kann die einigermaßen defensive Bemerkung des Meisters Ergebnis der Lektüre des „Augenpaars“ sein. Anschließend wendet sich Mikszáth um, also vermutlich vom Meister weg, und antwortet mit einem anderen Phrasem: „Worte brechen keine Knochen.“ (Das passt dazu, dass der Meister den Humpen
42 Im Ungarischen wörtlich: „Was die Fliege krepieren lässt“. 43 Esterházy: Produktionsroman, 343–344. 44 „az öreg csak mommogott magában, mint aki . . .“ 45 Auch im ersten Teil des Produktionsromans kommt dieses Phrasem vor, in einem anderen Kontext, was die Generationen betrifft, auch dort werden allerdings die Voraussetzungen des „Gesprächs“ beleuchtet: Im Speiseraum wirft Tomcsányi „einen fragenden Blick auf einen neben ihm stehenden älteren Kollegen. Sie machen dasselbe. Schau mal, du bist noch nicht lange in unserem Betrieb. Nun wäre es aber gut, wenn du und deine Sorte mehr und mehr über die Kolumbácser Fliegen undsoweiter wüsstet. Aber weißt du, und paradoxerweise wäre eine Unterhaltung darüber um so besser, unsere Generation kann darüber ebenso wenig reden wie über eine Liebesnacht.“ Ebd. 41. (Hervorh. – L.Cs.) 46 Diese Textstelle kommt auf implizite Weise mit der Stelle über die Kunst, Fliegen zu fangen, in Berührung (vgl. hierzu Bónus: „Die Kunst, Fliegen zu fangen“), und eröffnet eine semantisch-phrasematische Bewegung, die hier nicht verfolgt werden kann.
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nicht zerbricht, kann sich also auch auf seine aufgebracht-polemischen Worte beziehen. Figurative Beziehungen können auch andernorts, auf der Ebene der Referentialisierung des Phrasems, entstehen: „Was die Fliege krepieren lässt“ kann die Geste „der Meister schlug ärgerlich, ungeduldig in die Luft“ zitieren, mit anderen Worten: Möglicherweise spiegelt sich in Mikszáths Augen durchaus auch diese zum Muster gewordene Geste und verwandelt das „Gepolter“ des Meisters in eine Art Pantomime.) Das Schweigen ist das Korrelat des Sehens, während das Reden das Sehen (Zusehen) auslöscht, wobei es gleichsam suggeriert, dass die Möglichkeit des intersubjektiven Verhältnisses – im weiteren Sinn des „Dialogs“ oder des „Gesprächs“ – von einer Art Schweigen abhängt, dass seine sprachliche Struktur nicht aussprechbar ist. Diese Szene wird am Ende der Mikszáth-Episode wieder aufgenommen, in der Abschiedsszene in der Budapester Stadtbahn HÉV, in der Mikszáth den Meister mehrfach ansieht („als Herr Mikszáth den Meister wie ein Stanitzel Erdnüsse packte; er sah den Meister auf eine Weise an, dass dieser spüren sollte, nun würde etwas Lehrreiches folgen“). Noch interessanter ist das zweite Ansehen, der eigentliche Abschied (der Schluss der Erzählung vom bulgarischen Schaffner liegt auch hier nicht fern): „Filatorigát“. Er schob sich umständlich hinaus. Drehte sich um. Sah den Meister an. „Servus, Söhnchen.“ Jetzt waren sie beide wach. „Quark“, sagte der Ältere von unten mit säuerlichem Lachen, „das ist keine kluge Welt, heute, aber, die gestrige war es auch nicht. Und bestimmt wird es auch die morgige nicht sein. Das hat doch etwas Tröstliches.“ Die modernen, automatisch schließenden – jedoch per Handkraft zu öffnenden! – Türen fielen, wie eine Guillotine an ihrem freien Tag, mit einem großen Knall zu. „Tröstlpaff!“ Sie bissen Herrn Mikszáths Wort praktisch ab. Den Schwanz des Wortes; so eine Enthauptung war das. Die Türen schlossen sich, doch die HÉV fuhr noch nicht los. Im mehr oder weniger zum Spiegel gewordenen Fensterglas konnte der Meister zugleich sich selbst und Herrn Mikszáth sehen. Der Meister beobachtete die Konstruktion seines Auges, wie es von kurz auf lang umstellte: von seinen eigenen ungeordneten, krausen Locken zum stacheligen Schopf des Alten. Vor dem schwarzen Hintergrund die Helle seines eigenen Haars, und in dessen Rahmen sein durchscheinendes Gesicht. Und in diesem Rahmen dann das Gesicht von Herrn Mikszáth! Mal seine vollen Bäckchen, die vom Rüssel des Meisters geteilt werden, und mal – was für eine Parade! – sein Schnurrbart (Feldweih? Wels?), der die rosigen Lippen des Meisters rahmt. Und die Augen! Funkeln einander an wie zwei Edelsteine in der Auslage (‚Daneben, mon ami, das gepfefferte Preisschild.‘).
Die Aussprechbarkeit des elegischen Weltbildes von „Herrn Mikszáth“, des Trostes, die Abschließbarkeit der komparativen Reflexion der historischen Erfahrungen, wird von der „automatisch schließenden“ Tür des „modernen“ Verkehrsmittels unterbrochen, durch eine Art Gewalt historischen Ursprungs – mit einer feinen Anspielung auf die Grenzen von Mikszáths Satz (gerade die historische Erfindung und die von ihr geprägte Periode unterstreichen oder relativieren
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die metahistorische Gültigkeit von Mikszáths Äußerung).47 Mit anderen Worten: Das Schweigen ist abhängig von dieser technisch-industriellen Gewalt (durch die Guillotine-Assoziation bekommt die Szene, in der das Wort abgeschnitten, zum Verstummen gebracht wird, einen finsteren Tonus), und damit ist aus der Szenografie der Begebenheit eine gewisse Relativierung der Möglichkeiten des Dialogs zwischen zwei literarischen Perioden und Textuniversen herauslesbar. Natürlich ist auch hier die sprachliche Gewalt bzw. die Gewalt der Sprache das Relevante im literarischen Text, z. B. dass all das „in der HÉV“ geschieht, die als Bezeichnung auch selbst das Ergebnis eines sprachlichen „Fallbeils“ ist. Der Abdruck der erkennbar gewordenen, typisierten Welt ist ein „abkürzender Buchstabenkomplex“, sind „keine sprachlichen Wörter“, „Aufschriften“, doch in ihm „erweist sich die Kraft der Sprache“, denn er ist als idiomatischer Name im Gebrauch fixiert, der seinen Ursprung vergessen lässt.48 Ähnliches kann hier infolge der zerstückelnden sprachlichen Gewalt mit dem verstümmelten Wort „tröstl-“ geschehen, es wird potentiell zum Namen (zu einer Art unlesbarer Inskription der Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit). Nicht nur die Bedeutung eines Wortes, sondern auch sein materielles Zustandekommen oder seine Archivierung kann gebrauchsabhängig sein. Auf der ikonischen Ebene schafft die visuelle Konstellation der Spiegelung an der Fensterscheibe eine Gegenseitigkeit, eine Art dialektisches Bild zwischen den beiden Figuren (ihren Porträts), freilich zum einen um den Preis der „Fallbeil“-Gewalt (der Enthauptung), andererseits um den der Stummheit. Die „Enthauptung“ kann hier auf der Ebene der beiden Figuren darauf verweisen, dass kein historischer Protagonist und Text in seinem angenommenen identischen Sein in Kontakt mit anderen Intertexten (oder der Geschichte) kommt bzw. kommen kann, und dass das Fallbeil gerade das Wort „tröstlich“ erwischt, kann ein Hinweis darauf sein, dass sich diese Unterbrechung, diese „Erosion“ nicht unbedingt kompensieren lässt, sondern dass sie eher charakteristisch ist für die sprachmaterielle Seinsweise zwischen den Texten und Registern, sogar für die des kulturellen Gedächtnisses.49 Das Schweigen bildet sich hier also am 47 Oder lassen sie sogar mehrdeutig werden, denn das „vigaszta-“ des ungarischen Originals kann auch anders enden (wenn schon das Geräusch des Schließens der Türen das Ende abschneidet und es deshalb nicht hörbar ist), z. B. mit seinem Gegenteil „vigasztalan“ [untröstlich] (was von dem Bedeutungsmoment von „Enthauptung“ nicht weit entfernt ist). (Zu dem Passus vgl. Palkó: Esterházy-kontextusok, 225.) 48 Vgl. zu solchen Abkürzungen Lipps: Untersuchungen, 83–84. 49 In Palkós erhellender und implikationsreicher Darlegung: „. . . die Inszenierung all dessen wird von einer textuellen Funktion ermöglicht, die sich zugleich auf das spezielle Gedächtnis des sprachlichen Repertoires und der Kultur stützt, genauer: auf den paradoxen Prozess der Verstetigung, in dem auf der Ebene des Morphems, des Syntagmas, des Satzes oder sogar des Textes die Verfestigung die Erosion, den Zerfall voraussetzt und umgekehrt. Im Hintergrund dieses
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Schnittpunkt der Interpenetration zweier historischer Perioden, zweier sprachlicher Gedächtnisse bzw. literarischer Korpora, in einer Art historischem Dazwischen, heraufbeschworen durch die materielle Gewalt der Geschichte und der Sprache. Dieses Dazwischen lässt eine visuelle Lesbarkeit entstehen und schichtet zugleich das Bedingungssystem des Kontakts zwischen den Epochen und Texten. Und übersetzt auch diese Beziehung vom HÉV-Verkehr auf die Warenzirkulation oder weiter gefasst ins Register der Wirtschaft (vgl. „Preisschild“ und „Guillotine an ihrem freien Tag“), ein Code, der sich durch den gesamten Produktionsroman zieht.50 Die im Zeichen des Schweigens sich ereignende Gestimmtheit bei Esterházy wirkt im Ganzen am Schnittpunkt von (auch diachron verstandener) Einheit und Zergliederung der Sprache,51 sie ist im dialogischen Sinn offen für beide Tendenzen und manifestiert deren Gegenseitigkeit (dies und nicht das Verschweigen irgendeiner Intention führt zu ihrem „Vielleicht“-Charakter), wobei sie all die narrativen, soziolektalen, stilistischen, modalen und grammatischen Unterschiede und die Effekte ihrer Verknüpfungen mit sich bringt, die die Textur des Zwillingsromans bilden, seinen Text schreiben. Das Schweigen schreibt sich auch selbst in dieser Textualität, wofür ein schönes Beispiel die denkwürdige Szene ist: Das Bekenntnis des Rechten Verteidigers über die Erfahrung, die er beim Lesen des Werkes des Meisters gewonnen hat. In dieser Szene vollzieht sich eine Vervielfachung, eine Transformation des (auch mehrfachen) Schweigens (ebenso zwischen den Ebenen von Geschichte und Erzähldiskurs), von dem „wortlos“ am Anfang bis zum abschließenden „Danke“: Sie arbeiteten wortlos, der Meister zischelte, wenn er in Dornen griff [. . .] Der Rechte Verteidiger schüttelte den Kopf, auch die Antwort gefiel nicht, und vielleicht hatte auch der Meister etwas anderes sagen wollen. („So geht das.“) „Warte mal.“ Er kniff seine winzigen Augen noch mehr zusammen, fast schon schielte er. „Warte mal. Es ist nicht so, dass ich es nicht verstanden hätte, Pepe, natürlich habe ich’s auch nicht verstanden, aber ich hab
Funktionierens des Textes steht eine Mechanik, die jedes einzelne Moment des eingeprägten Textes von der teils bewahrten und teils gelöschten Gegenwart der verschiedenen archivierenden Akte der Vergangenheit abhängig macht.“ Palkó: Esterházy-kontextusok, 218. 50 Dies hat Palkós detaillierte Interpretation aufgedeckt, vgl. ebd. 139–254. Vgl. Palkó: „Literarische Produktion“. 51 Vgl. Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 89–91. Das Schweigen ist nicht anderes als das Strukturmoment des Hörens auf die „Konversation der Welt“, auf die Fragmentiertheit der Sprache, deren Sich-Schreiben im Text, genauer als Text, als sich ereignendes Schweigen modalisiert wird: „(Am besten kann er die Ohren spitzen in der Musikakademie, in den Pausen. Er geht und steht, interessiert sich aufrichtig für die streitenden, disziplinierten Ehepaare, versichert sie mit seiner Mimik seiner Unkenntnis, und mit unerhörter Raffinesse spinnt er das gehörte Material gleich weiter [. . .])“ (Esterházy: Produktionsroman. 191, Hervorh.: L.Cs.)
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mich vor allem selbst nicht verstanden.“ [. . .] Das Messer hielt also inne, des Meisters Blick glitt über die verräterische, füllige Figur des rechten Verteidigers, und er sagte leise: „Danke.“ Um seine Rührung zu verbergen, rief er aus: „Guck mal, Kumpel.“52
Hier wird das Schweigen ausdrücklich zum Index eines der „Untätigkeit“ entstammenden Geschehens, das heißt es vollzieht sich nicht so sehr als Akt, sondern geschieht dem Beteiligten eher,53 zugleich (infolgedessen) mit ungewissem Ausgang,54 dessen Index gerade das Schweigen sein kann. Die Teilhabe (das Teilhabenkönnen) am Schweigen, an der Interaktion zwischen Sprache und Schweigen, erweist sich in Esterházys Werk von Anfang bis Ende ebenso als anthropologischer Wert wie „die Fähigkeit, an der Interaktion der Sprachen teilzuhaben“.55
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52 Ebd. 478–479. 53 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 94. „Denn der Sprechakt ist diesmal wirklich keine ‚Handlung‘: Wenn im Sinne des Strebens nach etwas niemand etwas tut, wird der Dialog unwillentlich und unabsichtlich zum Geschehen. Die plötzliche und untätige Ergriffenheit des Meisters wird zum Signal dafür, dass aus diesem Gespräch nicht nur der Rechtsverteidiger anders hervorgeht, als er in es eingetreten ist, sondern – unerwartet – auch dem Protagonisten eine neue Erfahrung des Selbstverstehens zuteil geworden ist.“ 54 Darauf hat Palkó hingewiesen, Esterházy-kontextusok, 246. 55 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 90.
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Ausgesprochen unausgesprochen Schweigemomente und Zitateffekte im Produktionsroman Auf der Esterházy-Tagung in Budapest im Herbst 2017 hielt Csongor Lőrincz einen Vortrag mit dem Untertitel „Figurationen des Schweigens in Péter Esterházys früher Prosa“, den er anschließend zu einem hervorragenden Aufsatz entwickelte. In der Einleitung zu diesem Text gibt er eine systematische zusammenfassende Darstellung über das Schweigen als sprachanthropologisches und redehermeneutisches Phänomen sowie das Beziehungssystem bzw. den außergewöhnlichen Komplex von Literatur und Schweigen. Es wäre wenig sinnvoll, diese präzise, unabdingbare und unter vielerlei Aspekt unübertreffliche Sammelarbeit hier zu rekapitulieren, daher beschränke ich mich darauf, einige Aspekte zu zitieren und zu kommentieren, um die fragile Besonderheit, die „Nachbarschaft“ zu meiner eigenen Fragestellung zu umreißen. Lőrincz beruft sich hauptsächlich auf die Argumentationen Heideggers und Derridas, wenn er das Schweigen nicht in erster Linie als Symptom eines „Äußeren“ (Trauma, Gewalt) interpretiert, sondern eher als die von beiden Seiten durchlässige und derart immer wieder verschwindende Abgegrenztheit, die Kontamination, das Ineinander-Aufgehen von Sprache und Schweigen, letztlich als ereignishafte Selbstentziehung der Sprache oder des Wortes. Das Schweigen lässt sich nur durch die Sprache umreißen, zugleich ist es durch die Sprache unzugänglich, in ihm bzw. durch es werden die Grenzen der Sprache und das Nicht-Sprachliche zum Ertönen, genauer: zum Nichtertönen gebracht. Das Schweigen geht dem sprachlichen Handeln in der Art eines „schweigenden Versprechens“ voraus, zugleich folgt es ihm als „geschehendes Übrigbleiben“ (im Sinne der „resistance“ Derridas). In seiner Untersuchung der „Szenografie des Schweigens“ anhand von Virginia Woolfs Between the Acts und Dezső Kosztolányis Kornél Esti betont Lőrincz die Wirkungen von Spannung, Hiat und Mehrdeutigkeit und stellt eine Art Unlesbarkeit des Schweigens heraus. In der Literatur kann das Schweigen thematisiert oder inszeniert, es kann markiert, also morphologisch sein – beispielsweise durch Auslassung oder durch typografische Kennzeichnung mittels der Auslassungspunkte,1 die auch
1 „[D]ie 3 Punkte sind hier die charakteristischste Redewendung“, Esterházy: Ein Produktionsroman, 429. Übersetzung: Deutsch von Christina Kunze. https://doi.org/10.1515/9783110618082-006
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in Lőrincz’ Esterházy-Analysen auftaucht –, aber es kann sich auch um verschwiegenes Schweigen handeln, um Wortlosigkeit, Stummheit, Nichtsagenkönnen, um das Sichentziehen des Wortes, selbst vom anderen Aspekt des Ver-schweigens her: im Sinne des Nichtsagenwollens. In den letzteren Fällen noch eher zusammen mit der zum Lesen verurteilten Unlesbarkeit, mit dem Geheimnis der Unzugänglichkeit der Absicht und des Nichtsagens: Der Chiasmus von verschweigendem Sagen (unwillkürliches Reden durch Verschweigen) und sagendem Verschweigen (indirekte Mitteilung) und die daraus resultierende Ambivalenz verlangt immer ein Gegenzeugnis bzw. eine Gegenzeichnung, auch als interpretative Notwendigkeit und Bedrängnis. Hier erzeugt die Unterbrechung der Bezeugung, der Rückbestätigung des inneren Wortes durch das äußere Wort, die so entstehende Ellipse den Effekt des Schweigens, dessen Intentionalität sich derart als problematisch erweist.2
Zugleich ist aber das Schweigen ein Versprechen, sogar eine Chance: Das Nichtgesagte bewahrt das Wort vor der Abnutzung, davor, alltäglich zu werden. Doch dies kann auch umgekehrt zutreffen: Die Literatur kann die Worte sozusagen zurücknehmen. So können (ab)genutzte Wörter (Formeln, Redewendungen) bei Esterházy durch Wortreichtum, gesprächsmäßigen Charakter, durch Gleichsetzung und Neukombination von Sprechweisen, durch die Ausnutzung ihrer Unterschiede revitalisiert werden. Das Ungesagte äußert sich auch durch das Gesagte, und wie Heidegger über die Übersetzung im weiteren Sinne schreibt, kann das Ungesagte, das Verborgene als eine Art Nichtverstandenes, nie Gewesenes, als eine Art zukünftige Vergangenheit in Form einer sich ereignishaft zeigenden, sich eröffnenden Möglichkeit des Textes zugegen sein.3 Lőrincz hebt in seinem Aufsatz zahlreiche „Schweigeszenen“ und „Schweigeeffekte“ aus Esterházys Fancsikó und Pinta und aus dem Produktionsroman hervor und analysiert sie eingehend. Aus dem letzteren wählt er beispielsweise die Szene in der Dusche, die ich an anderer Stelle kurz kommentiert habe.4 Hier fordern das (Ver)schweigen und seine Auflösung den Leser im Rahmen des inszenierten Schreibprozesses zur Antwort auf, mehr noch, sie geben ihm das Gefühl, mitzuwirken und Verantwortung zu übernehmen. Dieser Effekt erweist sich auch in den Schweigeszenen bzw. Schweigemomenten als entscheidend, in denen sich an den Schnittpunkten der Codes von Satire und Parodie die Spannung von Privatem und Öffentlichem, von Geheimem (Verbotenem) und Offensichtlichem zeigt. Um den
2 Lőrincz: „Figurationen des Schweigens“. 3 Kulcsár-Szabó: Szinonímiák, 132. 4 Vgl. Szirák: „Ein Netz der kleinen Formen: Muster und Originalität im Schreiben Péter Esterházys“, in diesem Band.
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Fokus meiner Untersuchungen an einen Schlüsselbegriff über das Schweigen anzunähern: Es geht mir konkret um das Zur-Sprache-Bringen der Politik, der politischen Verhältnisse und der Rede über die Politik bzw. ihr Verschweigen und dessen Stummheit, die eine eminent wichtige „Stimme“ bzw. einen Aspekt des Produktionsromans bilden. Der erste Teil bedient sich ausgiebig der Klischees, des Wortschatzes und der grammatisch-syntaktischen Formen der offiziellen Sprechweise der Rákosi- und Kádár-Zeit und gerät heftig in Konfrontation mit dem Tabusystem dieser Periode, mit den meist stillschweigenden „Schweigegelübden“. Der Erzähler bedient sich beispielsweise der Phraseologie der Volkswirtschaft und sozialistischen Betriebsorganisation, indem er die ungeschickten und gewalttätigen Allegoresen der politischen Rhetorik karikiert, die in diesem Fall auf Tierfabeln und Formeln von Volksmärchen basieren: Wir sind unzufrieden, da wir lesen müssen, dass wir – und ausgerechnet wir – denjenigen auszeichnen, der von 100 Mutterschafen 136 Lämmer hat. Dabei könnte man auch zweimal ablammen lassen; bei unseren Verhältnissen. Dasselbe gilt für das zweifache Brunften der Säue, und für die Zusatzbrunft. Wir sinnen nach. Unser ehrliches Empfinden ist: Wehe dem Lamm, das der Wolf erblickt, die elende Bestie. Je schöner das Lamm, umso. Der Wolf, wie wir sehr wohl wissen, lässt nur ein einziges Argument wirklich gelten: den Knüttel, der in der muskulösen Hand des vierschrötigen Hirten schwingt. Und der Wolf da heißt: Angst vor dem Neuen, Rückständigkeit, Unorganisiertheit, Faulheit, Indolenz. Und der Hirte da heißt: Disziplin (sozialistische). Und der Knüttel da heißt: kontinuierliche Materialversorgung, Reduktion der Stehzeiten, positive Ausnutzung der Arbeitszeit, integrierte Produktionsleitung, Verfahrensregelung mit Prozessorgraphen. Und das Lamm da heißt: Volkswirtschaft, sich entwickelndes, wachsendes, gedeihendes, unserem Herzen teures sozialistisches Vaterland.5
All dies ist in dem Sinne Schweigen (über etwas), dass es in der Art eines Echos, einer Parodie, die Rede des anderen, des Offiziellen, übernimmt, sie spöttisch – die ursprüngliche, belehrende Intention ins Gegenteil gewendet – wiederholt, ohne dass die Grenzen zwischen der eigenen Rede und der Rede des anderen sich eindeutig ausmachen ließen. Gerade diese Nichtfixierbarkeit dient im Produktionsroman und anderswo in Esterházys Lebenswerk der (Selbst-)Vervielfachung. Dieser Zitateffekt ist im Grunde genommen die Übernahme des Schweigens, denn auch der zitierte Diskurs schweigt bereits über etwas: über die wahre Situation von Organisation und Zustand der Produktion bzw. von deren pertinentem Diskurs. Dieses Schweigen ist zugleich Beredsamkeit: Die Schlüsselworte der Ökonomie und wirtschaftlichen Effizienz und die offensichtliche Gewalt der Disziplinierung (der
5 Esterházy: Ein Produktionsroman, 10.
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Knüttel des Hirten als einziges „Argument“!) werden vom Diskurs der Tierfabel (des Volksmärchens) gekreuzt und zugleich verschlüsselt und später mit ihrer eigenen Willkürlichkeit konkretisiert.6 Die Funktion und Wirkung von Klischees: zu verallgemeinern, Individualität und Besonderheit auszulöschen, mit der Modalität zu „fraternisieren“, zeigt sich in ähnlicher Weise darin, wie durch Kálmán Tiszas Ansprache die Rede von Mátyás Rákosi hindurchscheint, die Redewendungen und sprachliche Bilder systematisch in Bildstörungen treibt. 7 Im Hinblick 6 Der Versuch, das Allegorische, Metaphorische in die Wörtlichkeit „zurückzuübersetzen“, ist willkürlich und daher ungeschickt: Seine Überzeugungskraft ist sozusagen begrenzt. Der Märchentopos vom Wolf, der sich das Lamm ausguckt, versetzt das natürliche Verhältnis in die Moralität der Verurteilung des Starken, der den Schwachen angreift, die Lösung hier jedoch konkretisiert es als gesellschaftlichen Kampf fortschrittlicher und rückständiger Kräfte durch willkürliche Zuordnungen von Bedeutungen und Bedeutungsebenen: z. B. ordnet sie dem Wolf mentale Dispositionen und organisatorische Störungen zu („Angst vor dem Neuen, Rückständigkeit, Unorganisiertheit, Faulheit, Indolenz“), dem Knüttel, bei dem neben der primären (Knotenstock zum Schlagen und Prügeln) auch die Slang-Bedeutung angedeutet wird – Begriffe der Betriebsorganisation; das Lamm (Allegorie der Schwäche und Unschuld und zugleich Jesussymbol) wird mit der Idee der „Volkswirtschaft“ und „sozialistischen Heimat“ verbunden. Das Attribut „sozialistisch“ ist hier bereits eine Wiederholung: Es hat ebenso einengenden (oder negativierenden) Sinn wie es einen zurückgeworfenen und eingeklammerten Indikator der Disziplin darstellt. 7 „Auch, dass unsere Aufbauarbeit unter friedlichen Verhältnissen vorangeht, hat seinen Preis. Wir sind leicht, wie auf Schienen vorangekommen. [Das Klischee ‚auf Schienen sein‘ bzw. ‚in eine gute Richtung voranschreiten‘ vermischt mit dem ‚leichten Fortschritt‘: als müssten Schienenfahrzeuge nicht gezogen oder geschoben werden. – kursive Anmerkungen: P. Sz.] Aus diesem Nährboden keimte die Theorie auf, bei uns würde alles wie am Schnürchen laufen. [Doppelte, falsche Verbindung des agrokulturellen Phrasems: Vorher war von Schienen die Rede, die mit dem Vergleich der Redewendung ausgedrückte allgemeine Stimmung ist wohl kaum eine Theorie!] Diese Erfolge haben auch wir selbst, und nicht nur einmal, allzusehr unterstrichen, wir brüsteten uns mit ihnen und haben somit dazu beigetragen, dass der Eindruck entstand, nun sei in jedem Haus Hochzeit, nun laufe bei uns alles wie am Schnürchen, und wir könnten ab jetzt leben wie Gott in Frankreich (Beifall). [Am Anfang eine unbeholfene Verbindung, dann Kongruenzfehler in den Redewendungsvergleichen, auch um den Preis der Wiederholung!] Warum sind solche Stimmungen gefährlich? Solche Stimmungen sind deswegen gefährlich, weil sie die Sicht des Volkes verschleiern, es daran hindern, seine Feinde zu erkennen, es wird mit eitlen Reden in Sicherheit ob der Schwäche seiner Feinde gewogen, und der Kampfwille des Volkes wird untergraben [All dies tun die ‚Stimmungen‘!]. Ich geißle aufs härteste jede Erscheinung der Selbstzufriedenheit, der Maulafferei und des Paradierens mit Scheinerfolgen! [. . .] Die Genossen können zur Verwirklichung der Lösung dieser Frage beitragen, indem sie diszipliniert die nicht lange Zeit abwarten, nach der wir auch diese Frage gelöst haben werden [Ein in grammatischem und logischem Sinn ‚glanzvoll‘ ungelöster Satz!] Es handelt sich um vorübergehende Schwierigkeiten. So, wie wenn jemand aus einer schlechten, alten Wohnung in eine neue, gute Wohnung zieht. Zwar ist die Wohnung unbedingt besser, doch so lange, bis sich der Bewohner an sie gewöhnt hat oder die Möbel einrichtet, sich daran gewöhnt hat, dass die neue Schwelle anders ist, als es die alte war – stolpert er ein paarmal (Heiterkeit), und das Geschirr geht leichter zu Bruch. Das versteht ein jeder. [Das Beispiel ist natürlich irre-
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auf den humoristischen Effekt von Vergleich und metaphorischer Identität ähnlich angelegt sind Tomcsányis Worte auf der Jagd: Genossen! Im fernen Norden sagt man über das Rentier, es sei das nützlichste Tier, denn man kann alles von ihm verwenden: Fleisch, Haut, Knochen gleichermaßen. Genossen! Die lineare Programmierung: ist das Rentier der Rechentechnik.8
Ein anderes Detail, eine andere Szene aus dem Produktionsroman lässt sich (wie übrigens die meisten!) deshalb nur schwer zitieren, weil sie sich derart dicht von motivischen Bindungen, von intra- und intertextuellen Verweisen durchzogen ist, dass man sie aus diesen Verflechtungen nur mit einer gewissen Gewalt herausreißen kann. In der mit dem Index 6 bezeichneten Szene ist der Meister „in irgendeiner Druckereiangelegenheit“ zu Herrn Banga unterwegs und von dort zurück, und derweil wird die Idee der „bischofsvioletten“ Farbe des Buchumschlags9 ebenso heraufbeschworen wie der ebenfalls berühmte Kasus des Fliegenklatschens,10 auf den später noch zurückzukommen
führend: Der wesentliche Unterschied zwischen der besseren, aber ungewohnten neuen Wohnung und dem ‚Sozialismus/Kommunismus‘ besteht darin, dass erstere bereits fertig ist, letzterer hingegen gerade erst fertiggestellt werden soll . . . Das hat auch seinen Preis.] Bringt die Zweifler nach vorne, palavert weniger, arbeitet mehr, und eure Sache wird von sicherem Erfolg gekrönt werden (rhythmischer, stürmischer Applaus, es lebe Kannibal, nieder mit Hase!).“ Esterházy: Ein Produktionsroman, 87–90. Der Textklauber ergänzt das Zitat, das er dem Protokoll entnommen hat, um ein Zitat aus dem Film Professor Hannibal (1956) von Zoltán Fábri. Im originalen Kontext hat das Zitat unheilverheißende Stimmung – mit humoristischen Veränderungen: Durch Umwandlung der Eigennamen in Gattungsbezeichnungen und ihre klangliche Deformierung. In der Schlussszene des Films, in der die vom Staatssekretär Muray manipulierte und aufgeputschte Menge den Tod von Professor Hase verursacht, heißt es „Es lebe Hannibal, nieder mit Hase!“. Das kommentierend wirkende Zitat lässt diesen performativen, gewalttätigen Aspekt der politischen Rede aufscheinen, während – gleichsam aufbauend auf den Effekt des Falschhörens des skandierten Satzes – die groteske Sinnmöglichkeit des Wortspiels von „kannibál“ [Kanibale] bzw. Kannibal [der Anklang an den Namen Hannibal] und „kani bál“ [Ball der Männchen] genutzt wird. 8 Ebd., 116. 9 Die ungarische Ausgabe erschien mit einem „bischofsvioletten“ Buchumschlag, auf den der Erzähler hier reflektiert. 10 „Der Meister entschied sich wegen des Heppiends für die äußere Spur. ‚In solchen Momenten ist es bedauerlich, mein Freund, dass keine Fliege in der Nähe ist – auf dem Steiß des Pferdes oder anderswo –, ich könnte eine Fliege mit einer Klappe schlagen.‘ Oftmals hatte er mit seiner Kunst des Fliegenfangens geprahlt, welche er sich mit Kindesbeinen, während eines Aufenthaltes auf dem Dorfe, angeeignet hatte. Bei einer Gelegenheit erzählte er der englischen Königin mit großem Behagen und farbig, wie er bei einer anderen Gelegenheit 54 Stück Fliegen gefangen habe. ‚Wissen Sie, Mädjschestie‘, sagte Esterházy zur Königin; über etliche Ecken waren sie sogar verwandt, ‚wissen Sie, man muss sich zwei Sachen merken. Die eine ist, dass man nicht zuschlagen darf.‘“ Esterházy: Ein Produktionsroman, 166–167.
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ist. Der „Meister“ ist derweil – im Zeichen der anachronistischen Behandlung der Raumzeit und innerhalb ihrer des Paradigmas von den Kurutzen und Labantzen11 – auf seinem „Orlow’schen Wunderrappen“ unterwegs: Auf der Brücke wurde er, ungewohnt rücksichtsvoll, von einem schwarzen Mercedes überholt. Der Meister hielt mit einer Hand die Zügel, mit der anderen Hand versuchte er, seine auf der Sattelnarbe schlecht befestigte Aktentasche zu beruhigen. Ihm war, als säße János Kádár im Auto. Mit seinen klingenden Sporen spornte er seinen Orlow’schen Wunderrappen an und tat, aufgeschlossen, so, als würde er das aus seiner Tasche tatsächlich gefährlich herausklaffende Sexmagazin richten wollen (Die geschickten Hände der Hongkonger leichten Mädchen; Wie kann man den sexuellen Appetit der Gattin anregen? Lust bei Lampenschein; Mädchen mit kleinen Macken; Achtzigprozentiger Orgasmusmangel), also beugte er sich vor, einzelne Haare aus der Mähne kitzelten sein Gesicht; er sah ins Auto hinein, aber dort saß nicht János Kádár. Der Meister verspürte keine Traurigkeit, dafür gab es schließlich auch keinen Grund.12
Ich gebe zu, dass ich 1985, als ich Esterházys damals bereits sehr berühmtes Buch zum ersten Mal las, bei dieser Passage eine gewisse Unzufriedenheit verspürte, die ich im Wesentlichen bis heute empfinde. War das unbefriedigte Neugier oder einfach Verständnislosigkeit? Ein durch die politische Pikanterie hervorgerufenes Stutzen, vielleicht überzogene Erwartungen oder eine Art Ratlosigkeit wegen der auseinanderlaufenden und unvereinbar erscheinenden Sinnrichtungen? Resultierte mein Unbehagen aus dem, was ausgesprochen (aufgeschrieben) ist, oder aus dem, was verschwiegen wird? Dies beides, da verrate ich kein Geheimnis, hängt zusammen. Auch die Zeit der Lektüre spielt natürlich eine große Rolle. Einst war das Referenzfeld des sonderbaren Kádár-Kultes von großem Einfluss auf die Leserdisposition, doch ich weiß nicht, was diese frivole Szene heute selbst einem gebildeten Ungarisch-Studierenden suggerieren kann. Suggeriert sie etwas, oder schweigt sie bis zur Unlesbarkeit? Ist dies ein beredtes Schweigen? Beim „Meister“ weckt der schwarze Mercedes, der ihn „ungewohnt rücksichtsvoll“ überholt, eine Erwartung, aber deren verschwiegene Motivation und Referenz kann nur verstehen, wer in der Welt der schwarzen Pobjedas, aber mindestens der schwarzen Wolgas und schwarzen Mercedesse sozialisiert wurde. (Ob sich wohl noch jemand an die Spannung zwischen der laut verkündeten „sozialistischen
11 Die Kurutzen waren eine Gruppe von bewaffneten antihabsburgischen Aufständischen im Königreich Ungarn an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Die Labantzen waren eine kaiserliche Truppe und ihre Gegenspieler. Später wurden die Kurutzen zum Symbol für den Widerstand gegen die Macht der Habsburger, die Labantzen dagegen für die Treue zum Kaiserhaus und das Arrangieren mit den herrschenden Verhältnissen. „Der Meister“ reflektiert ironisch darauf, dass in der Familie Esterházy beide Seiten vertreten sind. 12 Esterházy: Ein Produktionsroman, 167.
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Gleichheit“ und den vorübergleitenden schwarzen Staatskarossen erinnert, die man heute am ehesten „soziale Demagogie“ nennen möchte, die damals aber nur flüsternd erwähnt wurde?) Der „Meister“ hat den Eindruck, im Auto säße János Kádár, und er möchte sich davon überzeugen, deshalb treibt er seinen „Orlow’schen Wunderrappen“ an und schließt auf. Offenbar ist dieser Anblick eine Überraschung für ihn; dahinter steckt die damalige Erfahrung, dass János Kádár kaum sichtbar war, in gewissem Sinne sogar unsichtbar. Kaum sichtbar, weil das kultisch-propagandistische Bild des „puritanischen Kádár“ auf der Seltenheit der Präsentation basierte und er in der Öffentlichkeit überhaupt nicht in seiner privaten Sphäre gezeigt wurde, weder in seinen Urlauben am Balaton oder auf der Krim noch bei seinen häufigen Jagden. Das Bild bzw. das Nichtbild des unsichtbaren Kádár ist natürlich zugleich ein charakteristisches Merkmal der damaligen politischen Betriebsweise und Öffentlichkeit: das der Unsichtbarkeit und Undurchschaubarkeit, der Uneingeweihtheit, des Geheimnisses. Fuhr Kádár von seiner Villa auf dem Rosenhügel über die Margarethenbrücke ins „Weiße Haus“, so war er höchstens zufällig zu sehen oder vielleicht zu erspähen. Es scheint, als wollte der „Meister“ nicht ihn ansehen, als wollte er nur das aus der Aktentasche „herausklaffende Sexmagazin richten“, das zurückgeschoben werden muss, weil es „tatsächlich gefährlich“ herausklaffte. Und wirklich besteht das Risiko der Entdeckung vom Blick des zu betrachtenden Kádár her. Die beiden Parteien hätten gerade dahin einen flüchtigen Einblick erhascht, wohin es sich nicht gehörte und nicht üblich war: Die Amtsperson sollte in ihrem schwarzen Mercedes nach Möglichkeit ebenso wenig sichtbar sein wie der Staatsbürger mit seinem „Sexmagazin“. Im damaligen Ungarn, im System der strikten Trennung zwischen Privatem und Gesellschaftlichem, existierten solche Phänomene in der Öffentlichkeit nicht. Kádár hatte kein Privatleben, der Staatsbürger hingegen konnte nur ein Privatleben haben – ungefähr so. Die Schlagzeilen des „Sexmagazins“ künden auf ihre ganz eigene groteske Weise gerade von der Durchlässigkeit dieser Grenze: Vom Aussprechen, von der Beleuchtung sexueller Geheimnisse, von der Ambivalenz zwischen den Polen von Lust und Moral, von der Ökonomisierung der Sexualität auf self-help-Basis (z. B. dem prozentualen Orgasmusmangel und dem „gestiegenen“ Interesse; von der Suggestion der taktilen Erfahrung will ich lieber schweigen . . .). Den vermeintlich gesehenen Kádár und die Hongkonger Mädchen im selben Passus zu nennen, ist – auch wenn wir die imaginär-unwirkliche Seinsweise dieser Assoziation nicht außer Acht lassen dürfen – unzweifelhaft respektlos oder zumindest ziemlich kühn – eine Szene, die in die Kleine Pornographie Ungarns passen würde. Letzten Endes hat nur die Illusion, der Geist von János Kádár herumgespukt: Der „Meister“ hat János Kádár schließlich nicht gesehen und dieser nicht ihn. Nur die Möglichkeit des Sehens bzw. des eventuellen Blickwechsels kam auf, aber diese entfaltete in der Wechselseitigkeit von
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Aussprechen und Verschweigen ihre Wirkung. János Kádár vermeintlich zu sehen und doch nicht zu sehen: Das ist kein Grund zur Traurigkeit. Das ist ausgesprochen. Was hingegen nicht ausgesprochen wird: Dass es dennoch eine Option, Disposition, Wertperspektive gibt, von der aus all das ein Grund zur Traurigkeit wäre. Es geht hier also um eine Relation, einen Verdacht, eine Selbstverdächtigung, die verdeckt bleibt, die nur im Raum zwischen den Wörtern erklingt. Die thematische Dimension von Politik und Literatur, von öffentlichem und Privatleben ist im Produktionsroman eminent wichtig, und in dieser Hinsicht ist es besonders interessant, welche Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zwischen den heraufbeschworenen historischen Epochen – der Zeit nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich bzw. der Rákosi- und der Kádár-Zeit – der Text aufzeigt. Einerseits vermeiden Erzähler und Figuren nicht die Verweise auf die ideologischen Formeln des Kádárismus,13 aber andererseits schafft der Text, wie Tibor Bónus in seinem ebenfalls im Oktober 2017 gehaltenen hervorragenden Vortrag anmerkt: ungesagte Übergänge, Konversionen, also Zusammen-Wendungen, Schwenkungen und Transformationen zwischen der Zeit des Ausgleichs und der Rákosi-Zeit und dadurch unwillkürlich auch der Kádár-Zeit, also der Zeit, in der der Roman erschien. Damit wird zugleich der Bezug auf die aktuelle Gegenwart ungreifbar und unfehlbar wirkungsvoll gemacht.14
Csongor Lőrincz und auch Tibor Bónus konzentrieren sich auf die Dialoge und Repliken, auf die oben angedeuteten Konversationen und inszenieren überaus inventiös das komplexe semantische und modale Spiel der sprachlichen Ereignisse. Tibor Bónus behandelt dabei vor allem die Verschränkung von Negation und Affirmation des Bestehenden, die Verhinderung, es thetisch dienstbar zu machen; Csongor Lőrincz nimmt eher die Interaktion der heraufbeschworenen Perioden, genauer genommen die Interaktion von Sprache und Schweigen, in den Blick. Beide analysieren meisterhaft jeweils eine bekannte Szene mit Kálmán Mikszáth:15 Csongor Lőrincz die in der Budapester Stadtbahn HÉV, Tibor Bónus die in der Kneipe von „Herrn György“. Zum unerhört fein gestimmten Komplex der letzteren möchte ich einige kurze Anmerkungen machen, nunmehr aus der Perspektive der unlesbaren Lesbarkeit der Schweigeereignisse.
13 Am unverwechselbarsten im V. Kapitel, in der Fuge „Wenn ich Chef wär’“: „wären wir ein Leib und eine Seele, und wer mit uns wäre, wäre nicht gegen uns, wer nicht mit uns wäre, wäre gegen uns“, eine spöttische Verdrehung der berühmt-berüchtigten, auf die Bibel zurückgehenden Kádárschen Formel „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“. Ebd., 58. 14 Bónus: Textualitás és beszédszerűség. 15 Kálmán Mikszáth (1847–1910), ungarischer Schriftsteller; Esterházy hat die anekdotische Schreibweise von Mikszáth erneuert.
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Im Mittelpunkt des imaginären Dialogs, der mit „Sag, Onkel Kálmán“ beginnt, steht die denkwürdige Formel „Worte brechen keine Knochen“, die sich als Rückzug von der Verantwortlichkeit der Literatur und des Wortes lesen lässt. Tibor Bónus macht bereits zu Beginn seiner Analyse darauf aufmerksam, dass der Dialog den unaufhebbaren Unterschied zwischen dem Inneren (Überzeugung und Glaube, die mit Sprache unaussprechbar und unerreichbar sind) und dem Äußeren (dem auf das Vorige verweisenden Wort) und damit „die Spannung zwischen den Möglichkeiten des Wortes und der Moral, die die Norm der geradlinigen Rede birgt“,16 exemplifiziert. Ich möchte das Muster der Analyse ergänzen, indem ich drei Zitate (oder Zitateffekte) weiter kontextualisiere und die Möglichkeiten der Bewegung des Verweissystems, der komparativen Perspektive bezeichne, um auf diese Weise weitere, verzweigte Komplikationen der von Bónus kommentierten Konversionen und Transformationen der Schweigeereignisse aufzuzeigen. Kálmán Mikszáth wandte sich um: „Worte brechen keine Knochen.“ Der Meister entbrannte in unbändigem Lodern. (Denn gerade, was das Wort angeht, ist er so sensibel, wenn damit Schindluder getrieben wird. Das schlägt ihm mächtig auf die Laune. „Satt herumzusitzen und zu lügen, mein Freund, ist die schlechteste Version.“ Darüber hätte der gute Mann noch Folgendes sagen wollen: „Mein Freund, die Grammatik ist ohne Moral.“ Und wenn seine Laune gar zu schlecht, fügt er noch hinzu: „Kultur ist Parodie.“ Kraftvoll kann er sich da hineinversetzen.17
In dieser äußerst kompakten Passage wird der ironisch übertriebene emotionale und physiologische Zustand des Meisters durch die moralische Beurteilung des Sprachgebrauchs hervorgerufen, durch den Verdacht des Abusus (des Missbrauchs), der im Zusammenhang mit der moralischen Unregulierbarkeit des Vertriebs (sozusagen: der Zitierung) der Worte und der Unzugänglichkeit der Intention mittels Worten steht. Das erste Zitat, genauer gesagt: der durch die Anführungszeichen mit dem Modus (dem Anschein, dem Effekt, dem Akzent) der Zitiertheit versehene Satz ist ein moralisches Urteil, welches die lügnerische (absichtlich falsche) Rede18 mit der Vorstellung der übertriebenen Zufriedenheit verknüpft. Die Relation von Gesättigtsein, Untätigkeit und Lüge fügt sich in das Verweissystem des Textes ein, das den Diskurs des Kádár-Systems heraufbe-
16 Bónus: Textualitás és beszédszerűség. 17 Esterházy: Ein Produktionsroman, 344. 18 Die Lüge in Relation zur Wahrheit und damit die moralische Bewertbarkeit der (künstlerischen) Fiktion, des Wortgebrauchs, ist bei Péter Esterházy eine wiederkehrende Frage. Vgl. den bekannten ersten – und später in verschiedenen Variationen wiederkehrenden – Satz der Harmonia Caelestis „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt.“ Esterházy: Harmonia caelestis, 7.
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schwört19, während das Urteil – durch den unbehebbaren Unterschied von Äußerem und Innerem – notwendig die Ertappung der Lüge schuldig bleibt, was bedeutet, dass das Bezeugen ebenso richtig wie falsch sein kann. Die Beschreibung des Gesprächs setzt sich so fort, dass der Erzähler signalisiert: Die folgenden Sätze sind nicht sicher aktuell erklungen, bzw. es lässt sich nicht entscheiden, ob sie Teil der Replik sind oder nur zu den anderswo aufgezeichneten Weisheiten des Meisters gehören.20 Was die Aussage „mein Freund, die Grammatik ist ohne Moral“21 angeht, macht Tibor Bónus auf eine grammatikalisch bedingte Mehrdeutigkeit aufmerksam, nämlich auf die Ambivalenz der Aussage, namentlich, dass die Grammatik „erkölcstelen“ sei, was die Interpretation ohne Moral oder unmoralisch zulässt. So, wie Esterházy bzw. Esterházys Erzähler oder „Textklauber“ in seinen autointerpretativen Passagen oft einzelne sprachphilosophische Sentenzen von Wittgenstein zitiert, so kann natürlich auch ein schweigephilosophisches Fragment des nach England emigrierten österreichischen Philosophen als möglicher Kontext in Frage kommen, nämlich der charakteristisch kurze 7. Satz des Tractatus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“.22 Und dies umso mehr, weil das „Schweige-Motiv“, das den Tractatus umwebt, literarischen Ursprungs ist: Wittgensteins verständigem Monografen zufolge kaufte sich der Philosoph im August 1914 irgendwo in der Gegend von Krakau Tolstois Kurze Darlegung des Evangelium, dessen Erzählungen „gerade deshalb eine so tiefe Wirkung auf den Leser ausüben, weil das, was sie religiös-ethisch zu sagen haben, unausgesprochen gleichsam durch die Geschichte hindurchscheint.“23 Der Vorschlag bzw. das Gebot zu schweigen im
19 Zusammen damit, dass den Meister in der Fortsetzung der Szene die (geglaubte) Disposition, die Ruhe, die biergetränkte/biertrunkene „aufmerksame Indolenz“ von Mikszáth, sein Schweigen, ärgert, ist es das, was seinen moralisch indizierten Affekt „dämpft“. „Weißt du, mein Sohn, lass deine Kurutzen mutig sein, der Schriftsteller muss es nicht sein.“ (Esterházy: Ein Produktionsroman, 344) „Onkel Kálmán“ betont den Unterschied zwischen der Rolle des Schriftstellers und der gesellschaftlich-politischen Rolle und damit die Perspektivabhängigkeit der moralischen Beurteilbarkeit. 20 „Darüber hätte der gute Mann noch Folgendes sagen wollen: ‚Mein Freund, die Grammatik ist ohne Moral.‘ Und wenn seine Laune gar zu schlecht, fügt er noch hinzu: ‚Kultur ist Parodie.‘ Kraftvoll kann er sich da hineinversetzen.“ „Hätte sagen wollen“, im Original „szerette mondani“ [sagte er gern], das heißt, er sagte es auch oder sogar nur bei anderen Gelegenheiten; bzw. „wenn seine Laune gar zu schlecht, fügt er noch hinzu“, also er fügt es nicht immer hinzu. Die Loslösung vom Konkreten, vom Aktuellen verstärkt die Generalität des Gesagten und mithin seinen Zitatcharakter. 21 „Barátom, a grammatika erkölcstelen!“ 22 Wittgenstein: Tractatus, 7. 23 Nyíri: Ludwig Wittgenstein, 21.
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Tractatus bezieht sich auf die ethische Unaussprechlichkeit,24 das heißt, dieser einbeziehbare Kontext verstärkt den von Tibor Bónus signalisierten Beispielwert. Die deutsche Formel „Kultur ist Parodie“ zitiert zweifellos die „LabantzenIdentität“ und trägt auf diese Weise – auch hierauf weist Tibor Bónus hin – zum Zerschreiben des Gegensatzpaars Kurutzen-Labantzen bei.25 Dies tut sie jedoch, indem sie zugleich als Teil des selbstbeschreibenden Apparates des Textes ein – nicht wörtliches – Zitat eines „Labantzen“26, nämlich Thomas Manns, ist, aus dessen Werk sich mehrere Passagen in einen Zusammenhang mit der hier gezeigten, schlecht gelaunten, zusammenfassenden Feststellung des Meisters bringen lassen. Eine von ihnen stammt aus Doktor Faustus (1947), aus einem Brief, den der junge Adrian Leverkühn an seinen musikalischen Erzieher Wendell Kretzschmar schreibt: „Warum müssen fast alle Dinge mir als ihre eigene Parodie erscheinen? Warum muß es mir vorkommen, als ob fast alle, nein, alle Mittel und Konvenienzen der Kunst heute nur noch zur Parodie taugten?“27 Diese Passage des Briefes folgt auf die Beschreibung einer musikalischen Komposition (den Versuch, sie in Sprache zu übersetzen) und inszeniert Leverkühns Distanzierung von der Wiederholbarkeit eingefahrener Dinge, den Überdruss, ja sogar Abscheu, den er ihnen gegenüber empfindet. All dies ist Teil der sich im Roman abzeichnenden Komplexität von Wiederholung/Zitat bzw. Einzigartigkeit/Originalität, deren weit verzweigte Bezüge hier nicht ausgeführt werden können. Daher beschränke ich mich darauf, auf den betonten Unterschied zwischen der (technischen) Wiederholungsstruktur der Musik und der Sprache und der unvermeidlichen Vergänglichkeit des menschlichen Lebens zu verweisen. Nur die Wiederholung und das ihr innewohnende Parodistische kann die Illusion der 24 Zugleich lassen sich das „Zitat“ und seine Umgebung, so der Verweis auf die Lüge, mit mehreren Stellen bei Nietzsche in Verbindung bringen, beispielsweise mit dem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in dem die Begriffsbildung dekonstruiert und die Wahrheit als anthropomorphe Figuration entlarvt wird; mit der Kritik der Macht moralischer Vorurteile und der Einsicht, dass die grammatischen Funktionen einen Zwang auf das Denken ausüben bzw. der Einsicht, dass das Ich eine „grammatische Projektion“ sei, darüber hinaus auch mit Jenseits von Gut und Böse; mit Genealogie der Moral, wo die fiktive Natur der Kette von Tat und Täter beteuert wird, oder mit Morgenröthe, Also sprach Zarathustra und Ecce homo, wo die Moral an sich geleugnet wird. Ein einziges Zitat, das das Schweigen der Grammatik und die Perspektivabhängigkeit moralischer Erscheinungen signalisiert: „Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen.“ Nietzsche: „Jenseits von Gut und Böse“, 630. Ich danke Attila Simon für seinen diesbezüglichen Hinweis auf der Schweigen-Tagung. 25 Bónus: Textualitás és beszédszerűség. 26 Hier handelt es sich um ein Spiel mit der Bedeutung des Wortes „Labantzen“ als „Österreicher“ bzw. „Deutsche“. 27 Mann: Doktor Faustus, 197.
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Überwindung der Zeit hervorrufen, und es ist kein Zufall, dass Kretzschmar Leverkühn in seiner Antwort darauf aufmerksam macht, dass die Kunst gleichsam die zur Parodie neigende Natur des Menschen nutzt, um Neues hervorzubringen.28 Das Dilemma, ob die Parodie eine menschliche Initiative sei, die von der Kunst ausgebeutet wird, oder ob die Parodie selbst – im Rahmen eines teuflischen Bundes – mit dem Menschen spielt, bleibt im Roman unentschieden,29 aber wir dürfen das Werk selbst als ironische Rahmung dieser Diskussion verstehen: Serenus Zeitbloms Lebenslauf des Adrian Leverkühn beruht darauf, dass das unwiederholbare Leben des letzteren wiederholt/zitiert wird, was mit ungewünschter Willkür einhergeht. Den darin verborgenen ironischen Effekt macht sich auch der Produktionsroman zunutze: Der Meister gewinnt das Zitat aus anderer Quelle, und der Erzähler/Zitator zitiert seine zitierten Worte. (Ein sozusagen beredter Unterschied besteht bei aller Ähnlichkeit darin, dass der Meister nicht vom Teufel in Versuchung geführt wird: Er begibt sich mit Mikszáth in eine Komplizenschaft und schließt keinen Handel mit ihm.) Während die Parodie im Doktor Faustus (wortwörtlich) eher mit der Kunst verbunden wird, kann die These „Kultur ist Parodie“ auch auf eine thematisch noch stärkere Bindung verweisen, und zwar auf das berühmte siebte Kapitel von Thomas Manns Lotte in Weimar (1939), auf den Goethe-Monolog, in dem der alternde Dichterfürst über seine geistlich-künstlerische Einsamkeit klagt und sich an sein Verhältnis zu Schiller erinnert: „Nein, auch darin war er nicht deutsch, daß er lächelte über das Vortreffliche. Das tut kein Deutscher. Die schauen grimmig drein dabei, weil sie nicht wissen, daß Cultur Parodie ist – Liebe und Parodie . . .“30 Diese Szene beschwört die Erinnerung daran herauf, wie Goethe seinem Dichtergenossen und Verbündeten den 3. Akt des Faust II zeigt, worauf Schiller die Passage als „hervorragend“ bezeichnet, dies jedoch mit einem Lächeln tut, was auch den vorlesenden Verfasser lächeln lässt. In dieser Szene, die die Wirkung und weniger den Sinn als vielmehr die Stimmung des Werkes hervorhebt, urteilt Goethe, Schillers Verhalten sei nicht typisch für die Deutschen, da ihn, anders als sie, die Erkenntnis leite, dass die Kultur Parodie sei, mehr noch: Liebe
28 „Das vitale Bedürfnis [. . .] bedient sich des scheinbar Unvitalen, der persönlichen Ermüdbarkeit und intellektuellen Gelangweiltheit, des durchscheinenden Ekels vor dem ‚Wie es gemacht wird‘, der verfluchten Neigung, die Dinge im Licht ihrer eigenen Parodie zu sehen.“ Mann: Doktor Faustus, 199. 29 Zeitblom versteht Leverkühns Hang zur Parodie so: „In Wahrheit war hier das Parodische die stolze Auskunft vor der Sterilität, mit welcher Skepsis und geistige Schamhaftigkeit, der Sinn für die tödliche Ausdehnung des Bereichs des Banalen eine große Begabung bedrohten.“ Mann: Doktor Faustus, 222. 30 Mann: Lotte in Weimar, 268.
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und Parodie. Ich kann hier nicht einmal versuchen, die semantischen und modalen Komplikationen dieses Zusammenhanges zu kartografieren, statt dessen möchte ich darauf verweisen, dass das Variieren in der Charakteristik, die Ungreifbarkeit des Deutschseins („Labantzentum“) – als Gegenpol zum Kurutzentum – hier ebenso thematisiert werden könnte wie die thematische und selbstrepräsentative Bewegung der Parodie, des Zitats (der Wiederholung) und der Liebe im Text des Produktionsromans.31 Ein Unterschied ist allerdings zu beachten: In Thomas Manns Roman löst die Identifizierung von Kultur und Parodie ein gemeinsames Lächeln der Dichterfreunde aus, genauer gesagt: Goethe „liest“ aus dem Lächeln, das Schillers positiv urteilende Worte begleitet, (lächelnd) „heraus“32, dass sich sein Gesprächspartner – anders als die „Deutschen“ – ebenfalls darüber im Klaren ist, dass Kultur Parodie ist. In Esterházys Werk hingegen äußert der Meister diese Ansicht dem Erzähler zufolge aus schlechter Laune heraus und zudem stets mit der beglaubigenden Kraft des tiefen Erlebens. Die Disposition des Meisters, die moralische Empörung und Argwohn birgt, verstärkt also nicht die Identifizierung mit dem (übrigens keineswegs auf der Hand liegenden) Inhalt des zitierten deutschen Satzes, das heißt: Er ändert parodistisch die ursprüngliche Intention des Zitats. Übrigens steht Goethes Schlussfolgerung ohnehin auf wackeligen Füßen: Auf ein mindestens mehrdeutiges mimisches Signal hin (auf das Moment des Lächelns, das absichtlich oder unwillkürlich Anerkennung oder Genuss zeigen oder aber Neid und Verlegenheit verhüllen kann) errichtet er ein ganzes Gebäude der Nationalcharakterisierung und Kulturgeschichte und lässt sogar das Risiko anklingen, dass das freundschaftliche Verstehen überbewertet und eine Selbstbestätigung bemäntelt werde,33 einschließlich dessen humoresker Wirkung, wodurch er gleichsam den Leser zum Lächeln bringt. Gleichwohl bleibt er die Entfaltung des Inhalts der Bezeugung schuldig, indem er darüber schweigt. Nicht zufällig endet der Satz mit drei Punkten . . .
31 Oder der Unterschied zwischen den Beispielwerten der heraufbeschworenen Werke: Der Teufel verbietet Leverkühn im Tausch gegen die Inspiration der Musik und das Versprechen der Vollkommenheit die Liebe, also gerade das, was Goethe hier als einen Pfeiler bzw. Träger der Kultur betrachtet und was im Produktionsroman ebenfalls ein wichtiges thematisches Element darstellt. 32 „Da lächelte er und nickte: ‚Vortrefflich!‘ Das ist sanctioniert, darüber bin ich beruhigt, das soll unangetastet sein, er hat’s vortrefflich gefunden – und hat gelächelt, so daß ich auch lächeln mußt’ und mein Lesen zum Lächeln wurde.“ Mann: Lotte in Weimar, 267–268. 33 Und um das System der Verbindungen und Abgrenzungen zu erweitern: Wie Goethe Schillers Gesten im Zeichen des Ausgleichs und Einverständnisses falsch lesen kann, so kann auch der Meister Mikszáths Schweigen missverstehen – denn keiner von ihnen kann hineinsehen in den anderen, von dessen vermuteter Intention und Zeugnisgabe er seine eigenen Erkenntnisse abhängig macht . . . .
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Schließlich scheint auch die Annahme durchaus möglich, dass der Spruch „Kultur ist Parodie“ in einer (nicht wörtlichen) Beziehung zu Thomas Manns 1954 erschienenem, berühmtem Schelmenroman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull steht, einer Parodie auf den Wilhelm Meister und vor allem auf Dichtung und Wahrheit, eigentlich auch einer Selbstparodie und derart einer Travestie der „Bildungswelt“ des 19. Jahrhunderts.34 Es ist nicht völlig unbegründet, auch eine ironisch-parodistische Verbindung des Produktionsromans mit diesen beiden Werken Goethes anzunehmen, vielleicht nicht einmal, wenn wir vermuten, dass es Thomans Manns parodistisch-selbstironisches Werk war, das Esterházy beim Verfassen seines eigenen „Künstlerromans“ im Blick hatte. Darauf weist zum Beispiel die bereits erwähnte Anekdote mit der Fliegenklatsche hin; hier käme außer dem in beiden Sprachen vorkommenden, klischeeartig-idiomatischen Gebrauch (két legyet üt egy csapásra/zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen) auch das siebte Kapitel aus den Bekenntnissen des Hochstaplers als Quelle in Frage, in dem Krull, um die Verantwortung für den von ihm begangenen Diebstahl von sich zu weisen, auf den Unterschied zwischen Wort und Tat bzw. Tat und Täter und den ungenügenden Charakter der Wörter verweist: Ohne Zweifel wird man mir entgegenhalten, daß, was ich da ausgeführt, gemeiner Diebstahl gewesen sei. Demgegenüber verstumme ich und ziehe mich zurück; denn selbstverständlich kann und werde ich niemanden hindern, dieses armselige Wort zur Anwendung zu bringen, wenn es ihn befriedigt. Aber ein anderes ist das Wort – das wohlfeile, abgenutzte und ungefähr über das Leben hinpfuschende Wort – und ein anderes die lebendige, ursprüngliche, ewig junge, ewig von Neuheit, Erstaunlichkeit und Unvergleichlickeit glänzende Tat. Nur Gewohnheit und Trägheit bereden uns, beide für eins und dasselbe zu halten, während vielmehr das Wort, insofern es Taten bezeichnen soll, einer Fliegenklatsche gleicht, die niemals trifft.35
Doch wir sollten nicht vergessen, dass Krull die Wörter gerade durch Worte (noch dazu durch ihre gefällige Aneinanderreihung, durch eine selbstbestätigende, verführerische „Lüge“) der Ungenauigkeit und Unzulänglichkeit bezichtigt. Die verantwortungslose Verantwortung des literarischen Wortgebrauchs ist auch ein wichtiges Element des Beispielwertes des Produktionsromans. Die Erfahrung der Unerschöpflichkeit des Textes resultiert aus der selbstrepräsentativen Bewegung des Textes, die gesprächsmäßigen Charakter hat, zugleich aber diesen Charakter mit der räumlichen Netzartigkeit des Textes auch ausspielt, aus den verblüffenden Bindungen und Verwicklungen dieser Bewegung, die nicht selten eine erstaunlich komplexe Textproduktion hervorbringt.36
34 Vgl. Sieburg: „Kultur ist Parodie“. 35 Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, 51. 36 Bónus: Textualitás és beszédszerűség.
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Die Organisiertheit und die ereignishaften Spiele der Schweigemomente und der Zitateffekte versehen die Räume zwischen den Worten mit einer ganz eigenen Sättigung – mit Echos und Schattenspielen. Selbst das Schweigen des Romans produziert Rede.
Literatur Bónus, Tibor. Textualitás és beszédszerűség – az olvashatatlan familiarizálásai (Esterházy Péter prózájáról) [Textualität und gesprächsmäßiger Charakter – die Familiarisierungen des Unlesbaren (Über Péter Esterházys Prosa)]. Manuskript. Esterházy, Péter. Ein Produktionsroman (Zwei Produktionsromane). Deutsch von Terézia Mora. Berlin: Berlin Verlag, 2010. Esterházy, Péter. Harmonia Caelestis. Deutsch von Terézia Mora. Berlin: Berlin Verlag, 2005. Kulcsár-Szabó, Zoltán. Szinonímiák. Közelítések Heideggerhez [Synonymien. Annäherungen an Heidegger]. Budapest: Ráció, 2016. Lőrincz, Csongor. „Figurationen des Schweigens in Péter Esterházys früher Prosa“. In diesem Band. 45–70. Mann, Thomas. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Berlin: Aufbau, 1954. Mann, Thomas. Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Frankfurt a.M.: Fischer, 2007. Mann, Thomas. Lotte in Weimar. Berlin/Weimar: Aufbau, 1952. Nietzsche, Friedrich. „Jenseits von Gut und Böse“. Werke in drei Bänden 2. München: Hanser 1954. 565–759. Nyíri, Kristóf. Ludwig Wittgenstein. Budapest: Kossuth, 1983. Sieburg, Friedrich. „Kultur ist Parodie. Thomas Manns Hochstapler-Roman“. Die Zeit, 7.10.1954, https://www.zeit.de/1954/40/kultur-ist-parodie (30. März 2020). Wittgenstein, Ludwig. Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.
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Literarische Produktion (Ökonomie, Medialität und Textualität im Produktionsroman) The general economy is often understood as one simply open to absolute expenditure. Here, to the point of its ultimate collapse, economy would be strictual. (Jacques Derrida) Machen wir uns nichts vor; uns fehlen die Produktionsmittel im ökonomischen Leben genauso wie in der Literatur. (István Vas)
1 Einleitende Bemerkungen Wenn es stimmt, dass die ‚Autonomie‘ der Kunst, ihr Abgeschlossen-Sein in sich selbst, ihre funktionale Differenzierung von anderen Teilsystemen der Gesellschaft auf die besonderen regulativen Effekte des Kunstmarktes1 zurückgeführt werden kann, dann muss die Untersuchung der künstlerischen Selbst-Erschaffung eines Diskurses besonders interessant sein, der die merkantilen Verhältnisse zuerst abschaffen will, um sie sodann eingeschränkt wieder einzuführen.2 Und wenn das „Unabhängig-Werden“ der modernen Kunst parallel zur Ausbildung ihrer Abhängigkeit vom Markt verläuft, darf die Frage gestellt werden, wie eine Kunst der doppelten Bindung3 überhaupt aussieht. Bevor diese einzigartig schwere Frage berührt wird, muss aber die Frage beantwortet werden, wie eine Kunst aussieht, die sich mit der Wandlung ihres Anlehnungskontextes4 bzw. mit dem Zerfall des Patronagesystems auf den Weg der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gemacht hat. Sobald man erkennt, dass die moderne Gesellschaft der Kunst in dem Maße bedarf, wie diese die Kontingenz5 als den Bruch zwischen Vergangenheit und 1 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 262 ff. 2 Im Zusammenhang mit dem neuen ökonomischen Mechanismus, dem Marktsozialismus, siehe Kornai: The Socialist System, 482 ff. 3 Im ökonomisch-soziologischen Sinn der sozialen Marktwirtschaft, wie im Sinn des double bind von Jacques Derrida. 4 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 256–258. 5 Das bürokratische Öffentlichkeitsmodell der sozialistischen Diktatur hat nicht in erster Linie deswegen versucht, das autonome System der Kunst zu „kolonialisieren“, um das eigene PropaÜbersetzung: Deutsch von Merten Both. https://doi.org/10.1515/9783110618082-007
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Zukunft bzw. die nicht-Prophezeibarkeit präsentiert, vergegenwärtigt, verdinglicht, überrascht es nicht mehr, dass die kommunistische Diktatur die Liquidation der künstlerischen Autonomie (im Sinn Luhmanns) um jeden Preis durchführte.6 Umso mehr verwundert es aber, wie Ein Produktionsroman, ein Kunstwerk, das zur Zeit politischer Restriktion künstlerischer Autonomie entstanden ist, der luhmannschen Beschreibung autonomer Kunst auf so eminente Weise entsprechen kann. Denn dieses Werk macht nicht nur den Bruch der Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft sichtbar, macht ihn im perzeptiven Akt der Rezeption erfahrbar, der Roman bringt auch das gesamte Repertoire irritativer Selbstprogrammierung ins Spiel. Und er tut dies viel radikaler und expliziter, als die nach dem Fall der Mauer und dem Umbau des Kunst- bzw. Buchmarktes erschienenen Werke Esterházys. Von den letztgenannten Werken entsprechen einige vielleicht nicht einmal diesen Kriterien: Verbesserte Ausgabe (2002) schränkt die Gestaltung mimetischer Illusion sogar viel weniger stark ein als Ein Produktionsroman (1979) oder Einführung in die schöne Literatur (1986). Nur zum Teil, möglicherweise aber spannend kann dieses Phänomen der Gedanke erklären, wonach die langsam verinnerlichte Deformation7, die sich infolge jahrzehntelanger gemessener Schläge auf das System des Zusammenspiels von Kunst und Kritik ausgebildet hat, von einem neu entstehenden Kunstmarkt viel wirksamer wieder in die künstlerische Produktion eingeschrieben wird als von dessen Vorläufern. Daraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass der Verlust des Anlehnungskontextes bzw. die Entstehung des Kunstmarktes einen Prozess auslösen, in dessen Verlauf die Unsicherheit des Signifikationsprozesses, die Zufälligkeit der Kommunikation bzw. die Reflexion der Erschaffung des Kunstwerkes letztlich zum eigentlichen Medium des Werkes werden, während gleichzeitig die Gewalt des post-sozialistischen Marktes die Werke gerade im Gegenteil nach den Gesichtspunkten Imitation und/oder immanenter Sinn selektiert. Die diktatorische Restriktion stellt die Kunst vor die Wahl. Entweder widersteht diese und weist jene zurück, oder sie akzeptiert sie als „Arbeitsbedingung“8. Nur die letzte Lösung ermöglicht es, an die Stelle der Restriktion zu treten und sie hinter sich zu lassen.9 Aus dieser Perspektive erweist sich Ein Produktionsroman
gandainstrumentarium zu erweitern, sondern um deren Wirken einzuschränken, da es sie als „Gegenpropaganda“ betrachtete. Dabei war egal, ob es sich um eine bewusst oppositionelle Haltung oder „nur“ um echte (oder eine nicht direkt gesellschaftlich-pragmatisch ausgerichtete) künstlerische Tätigkeit handelte. Vgl. Lázár: „A szocialista nyilvánosság“, 20. 6 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 498. 7 Bzw. wenn aus dem Verhältnis Umwelt-System Selbst- und Fremdreferenz wird. Ebd., 271. 8 Eines der charakteristischsten Beispiele für den Verweis auf die (Selbst-)Zensur im Prozess der Textschaffung/-Rezeption bei Esterházy. 9 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 473.
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für den post-diktatorischen Diskurs als „künstlerischer“ (im Sinne der Sichtbarmachung der Möglichkeiten der Irritation und der gesellschaftlichen Selbstbetrachtung) im Vergleich zu anderen Esterházy-Werken, denn er fixiert das Verhältnis der Kunst/Kunstschöpfung zur Umwelt nicht (auch nicht in einer kritischen oder parodistischen Haltung); die Schritte, die der Text zu seiner Selbstprogrammierung macht, sind von einem grundlegenden Zweifel umgeben, die Selbstverleugnung der Kunst wird als positiver Akt integriert.10 Ein Produktionsroman entspricht nicht nur insofern dem luhmannschen Modell, als die irritierende Trinität von Komplexität, Neuigkeit und Selbstreferenz das Fundament der Bedeutungsproduktion des Romans bildet11 oder „das Erwartbare im Roman keinen Wert hat“12, er letztlich beide Glieder des narrativen Syntagmas der Heilsgeschichte dekonstruiert. Mindestens ebenso wichtig ist das Ringen mit dem Medium (eigenartigerweise wird dieses Potential auch in der Zeit nach der Wende abgeschwächt), die kontinuierliche Reflexion der Materialität, ihre kontinuierliche Einbeziehung in das Werk.13 Der Gedanke, dass die Inkarnation der Literatur nur auf dem Unterschied (und der Ähnlichkeit) zu den „materielleren“ und/oder immaterielleren Künsten bzw. Archivierungsverfahren gründet. Andererseits, und das ist der aufregendste Effekt der fortgesetzten inneren Differenzierung der (aus)differenzierten gesellschaftlichen Subsysteme, sind diese Sub-Subsysteme (z. B. die Zweige der Kunst) nicht nur als das jeweils „Andere“ zugänglich, sondern sie beziehen sich auf andere Subsysteme auch jeweils verschieden. So kann die „Text-Poesie“ oder das Hauptbezugsfeld – d. h. das differenzierende Feld – der Literatur z. B. die Wissenschaft sein, oder eben der Sport. Luhmanns Evolutionsmodell verbindet den Ausgangspunkt der Emanzipation der Kunst mit spezifisch künstlerischen Entscheidungen, die sich von äußerer Orientierung unabhängig machen. Die gesellschaftliche Umwelt von Ein Produktionsroman übt auf den Prozess der Schaffung und Rezeption von Werken einen Druck aus,14 der solche Entscheidungen, die Mikroschritte zur Schaffung eines Werkes, so beeinflusst, dass das Ringen mit dem Medium und dem Stoff als kunstspezifisches Geschehen auf eine äußere Wertordnung projiziert
10 Ebd., 480. 11 Ebd., 254, 484. 12 Szegedy-Maszák: „A regény, amint írja önmagát“, 122. 13 Im Zusammenhang mit einer an sich schon bedeutenden Intervention des materiellen Substrats bezieht sich Luhmann auf Materialität der Kommunikation, 279. 14 In der konsolidierten Diktatur wird der Druck v. a. durch die von der Partei delegierten und kontrollierten Redakteure ausgeübt. Manuskripte zurückzuweisen oder sie revidieren zu lassen, sind die wichtigsten Instrumente ihrer Zensurtätigkeit. Esterházy verweist darauf mit der Unterscheidung/dem Wortspiel Zensor/Zensur. Vgl. z. B. Márkus: Átdolgozások kora, 153.
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wird, wo es als „Selbstzweck“ gilt.15 Charakteristisch für Ein Produktionsroman ist das verstörende Wuchern von Verweisen auf das Ringen mit dem Material, was zwar auch Auflehnung gegen das restriktive System bedeutet, eigentlich aber eine Hinwendung zur Eigenbewegung der Kunst, ein Außer-Acht-Lassen äußerer präskriptiver (Entscheidungs-)Orientierung. Wenn das Symbolische, das Zeichenhafte und die mit Formenkombinationen spielende moderne Kunst die Evolutionsphasen der künstlerischen Welt ausmachen,16 dann gehört Esterházys Roman insofern zur letzten Kategorie, als die Erwartungen der Diktatur und das künstlerische/rezeptive Bewusstsein, das ihnen gegenübersteht, von den beiden früheren Auffassungen beherrscht werden. Die Diktatur hat dem verdichteten ornamentalen Bezugssystem der Kunst das Mandat (die symbolische Funktion) einer „übergeordneten Bedeutung“ vorgeschrieben, demgegenüber stützte der Konsens von Künstler, Kritiker und Rezipient die Funktion des Kunstwerks als eines Zeichens des Widerstands (Kritik, Parodie). Die Sichtbarmachung dieser Prinzipien, Gesten (und Praktiken) – als Arbeitsbedingungen – im Medium der bizarren Reflexion der Materialität literarischer Produktion ist die klarste Abgrenzung von o. g. künstlerischen Ideologien. Das Oszillieren der Selbst- und Fremdreferenzen materieller und immaterieller Materialitäten in Ein Produktionsroman bildet den Rahmen für die aneinandergereihten Verweise auf die Begriffe von Produktion, Arbeit und Schreiben. Diesen Akt vollzieht der Roman auf einem Feld der literarischen Kommunikation, wo die im o. g. Sinn verstandene – Zeichen generierende, vorschreibende – Kritik gar nicht als Reflexionsmedium (Walter Benjamin) funktionieren konnte. Die wirkungsgeschichtliche Bedeutung von Ein Produktionsroman ist auch daran messbar, dass der Roman den kritischen Dialog als Reflexionsfeld, der zuvor nicht existierte, mit seiner Selbstprogrammierung gleichsam provoziert hat. Das Selbstverständnis der Kunst und die Akte der Selbstreflexion können nur im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Diskursen (die lose mit der Kunst in Verbindung stehen) verstanden und vollzogen werden. Luhmanns wiederkehrendes Beispiel ist das Fußballspiel: Das Sujet der Kunst ist (denn jede Erscheinung der Kunst ist objektbildend) ein Quasi-Objekt wie der Fußball; die Kunst ist von Vorschriften regulierte Freiheit: wie das Fußballspiel. Unter den selbstreferentiellen Figuren von Ein Produktionsroman sticht eindeutig das „grüne Viereck“ hervor. Das Auftauchen der Figur setzt bei jeder Gelegenheit eine verstörende Vielzahl von Kontexten frei – eine der fundamentalen Eigenheiten des Oeuvres
15 Jede literarische Geste, die auf Konstruiert-Sein, fiktiven Charakter, intertextuell-sprachlichmediales Vermittelt-Sein verweist, ist zu verfolgen (bürgerliches Relikt, künstelnder Selbstzweck). Vgl. z. B. „wir stellen uns [. . .] gegen den Papiercharakter der Figuren der Literatur“. Révai: „A magyar Irodalom feladatai“, 57. 16 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 272.
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kann hier identifiziert werden: der Wechsel motivartiger Konvergenz und divergierend-rekontextualisierend aneinandergereihter wiederkehrender (Selbst-) Zitate, einer Art Dissemination.17 Das Fußballspiel hebt gerade die Rolle, die es in der Multiplikation der Kontexte ausfüllt, hervor und macht den Code von Kunst– Sport, oder genauer von Fußball–Literatur zum bevorzugten Topos der künstlerischen Selbstinterpretation. Die Situationen, die den Sport kontextualisieren, sind so marginal, dass das eigentliche Spiel in der Szenerie kaum je eine Rolle spielt (oder anders: auf die Bank verwiesen wird). Man darf hier nicht nur an das offensichtliche Handlungselement denken, das die kohärenteste narrative Einheit der zweiten Hälfte des Romans, der Aufzeichnungen bildet: die ruhmlose Verwüstung des Umkleideraums und dessen (gar nicht so) ruhmreicher gemeinschaftlicher Wiederaufbau. Mindestens genauso stark werden die Verweise auf den technischen Hintergrund betont, die Ausrüstung, die Qualität des Platzes, die Verletzung, deren Sichtbarmachung beinahe schon (Anti-)Körperkult ist, und schließlich die Darbietung der Figuren der Diskurspolizei der Regeln des Schiedsrichters und des lokalen (Anti-)Helden des Spiels. Der Text widersteht der mythisierenden Inszenierung sportlichen Tuns, er gibt weder die Illusion des „sauberen“ Wettkampfes noch das Pathos der agonalen Möglichkeiten des Spiels, noch auch den Mythos des (austrainierten) Körpers wieder, ebenso wenig wie den Kultus sportlich-kollegialer Gruppenidentität.18 Die Differenzierung der Schriften über den Fußball, auf denen auch Deutschlandreise im Strafraum (2006) aufbaut, bzw. der Kontrast zwischen der Meisterschaft der Regionalliga und der „Welt“ der Stars des Fußballs (goldene Mannschaft, Brasilianer) bekommen hier keine Bühne, er fehlt in der Szenerie von Ein Produktionsroman. In Deutschlandreise reduziert ein wenig reflektiertes, beinahe privates Schwärmen – das auf gespenstische Weise an die Medienwelt psychologisch erleichterter Zugang (J. Habermas) erinnert und stellenweise den modalen Effekten des Starkults verfällt – die Bedeutungsbildung ebenso wie in bedeutenden Teilen der Essays über Fußball und „große“ Schriftsteller (z. B. Géza Ottlik). In Ein Produktionsroman wird die Regionalmeisterschaft („Regionalliga 28“, 191) – unter Umgehung der Opposition des überirdischen Es (des Star-Genies) und des kleinlichen „Wir“ – so zur Allegorie der Kunst, dass die durchaus alltäglichen „Bedingungen“ nicht das Gegen-Spielfeld einer stilisierten, überirdischen ästhetischen Sphäre bilden, sondern jene „Arbeitsbedingungen“, unter denen das Spiel – sei es vorprogrammiert wie der Sport oder selbstprogrammierend wie die Kunst – sich immer vollzieht. Der technisch-physische Hintergrund 17 Von diesem Funktionieren des Textes her erhält das ironische Erscheinen-Lassen des Pantoffel-„Motivs“ seinen Sinn. 18 Und dabei ist noch gar nicht die Rede von den gumbrechtschen Formen sportlichen Rühmens. Vgl. z. B. Gumbrecht: Production of Presence, 97.
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des tatsächlichen Spielfelds ist einerseits eine verborgene Welt, auf die der FanLeser jederzeit neugierig ist, bzw. ist er das eminente Objekt quasi-persönlicher Medienkommunikation,19 andererseits kommt er genau dann zu Wort und verstummt gleichzeitig wieder, sobald die eigentliche Spielzeit beginnt. Dann wieder verweist die immer schwindende und immer herausfordernde Materialität des Quasi-Objektes, des niemals-runden Balles ebenso auf die Materialität der Partitur wie der Schiedsrichter (als Anwender der Regeln), und überhaupt der durch das Reglement programmierte (institutionelle) Sport auf die Aporie der durch Regeln eröffneten/eingeschränkten Freiheit. Obwohl die Esterházy-Rezeption sich im Allgemeinen damit zufrieden gibt, die Parallele (ihren positiven Aspekt) zu betonen – lohnt es sich vielleicht, in Verbindung mit dem Ballspiel und der künstlerischen Produktion auf einen Unterschied hinzuweisen, ohne den die Kodierung bzw. die Geste der Absonderung von der Nicht-Kunst in der Kunstschöpfung (die das Fundament jeder künstlerischen Entscheidung ist) nicht funktioniert. Wenn der „Meister“ beendete Spiele in seiner Phantasie erneut spielt – und nach Gusto korrigiert, dann wird jener niemals verschwindende (aber selten reflektierte) Unterschied inszeniert, der die reglementierten Formen des Sports und des Spiels von der Kunst trennt: Die Kunst erschafft sich (im Prozess/Akt der Selbstprogrammierung) ihre Regeln selbst, während der (institutionelle) Sport nur durch das Festhalten und die (polizeiliche) Einhaltung dieser ist, was er ist. Inwiefern der Spielbegriff Gadamers – oder gerade Isers – in Verbindung mit obigem Begriff gebracht werden kann, müsste eine eigene Untersuchung klären. Bei Gadamer ist von vorschreibenden Regeln und Ordnungen die Rede. Wie deren Fixiertheit sich zur „Ordnung“ der Kunstschöpfung verhält, die sich ausschließlich im Werk ausformt, bleibt aber unklar. So gibt es beispielsweise zwischen den streng reglementierten und den freien Spielformen in den Ausführungen von Wahrheit und Methode keine scharfe Trennlinie.20 Sobald man die Erwägungen Niklas Luhmanns über die innere Differenzierung der Kunst und die verschiedenen Code-Präferenzen der einzelnen Kunstgattungen ernst nimmt, bietet der Kreis autopoetischer Systeme, der durch Beobachtung zweiter Ordnung organisiert wird, im Fall der Text-Poesie bzw. der Literatur ein nicht weniger wichtiges Vergleichsfeld als der Sport. Ebenso der wissenschaftliche Diskurs, dessen „Terrain“ nicht so sehr die Hatz nach irgendeiner – zur Verifizierung vorausgesetzten – Wahrheit, sondern die Veröffentlichung von Studien ist.21 Diese reflexive Tätigkeit, zu der auch das Zitieren
19 Diese Einstellung bringt der Roman häufig zur Anwendung und ironisiert sie währenddessen auch, der Ausdruck des „großen Mannes in Pantoffeln“ ist deren Signifikant (223). 20 Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, 107 ff und „Das Spiel der Kunst“, 86 ff. 21 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 105 ff.
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oder das Kommentieren anderer Studien gehört, bildet die Grundlage wissenschaftlicher Produktion.22 Das gesamte Gefüge von Ein Produktionsroman zitiert mit seiner Anmerkungsstruktur und dem (diskursiven) Ringen rund um die Studie bzw. der thematischen Einbeziehung der Philosophie/Wissenschaft in den Kreis der die Handlungen der Autorfiguren (der „Helt“ und der Meister) reflektierenden Vorstellungen dieses kommunikative Zirkulieren. (Vgl. z. B. 482 f: „Für die Bequemlichkeit des gebeugten Lesers schalte ich hier eine kleine Geschichte ein, nicht als Fußnote, obwohl es, Gott ist mein Zeuge, gerade hier stilvoll wäre, eine kleine Geschichte, welche sowohl den Meister als auch die Welt beschreibt.“ [. . .]) Zwei „Bücher“ spielen in der Szenerie des Romans eine herausragende Rolle beim Zitieren des wissenschaftlichen Diskurses. Das eine ist das im Haupttext und in den Aufzeichnungen gleichermaßen erwähnte Softwarehandbuch, das andere die im Haupttext unermüdlich wiederkehrende, von den Figuren (im Text stark ironisiert) andachtsvoll gehandhabte Bergbaukunde. Dieses Handbuch oder Universitätslehrbuch ist eindeutig eine Art Kopie von Ein Produktionsroman, ein Szenario, das die Figuren über den Handlungsverlauf informiert (vgl. z. B. 117–118).23 Diesen Eindruck verstärkt z. B., dass das Nachwort am Ende von Ein Produktionsroman, das letzte bedruckte Blatt des Romans, den apostrophischen Gestus eines Lehrbuchschriftstellers an den „Lieben Leser“ adressiert. Beide Bücher werden als Blick auf die materielle Welt der Produktion gekennzeichnet, sie sind Beschreibungen von Fabriken, Maschinen, Bergwerken, zumindest versprechen das ihre paratextuellen Verweise. Denn während die nachträgliche direkte Apostrophe oder der Titel (Produktionsroman, Bergbaukunde) zu erkennen geben, dass die materiellen Bezüge der Produktion in die Szenerie des Romans einfließen, stehen beide Verweise unter einem Tilgungszeichen. Ein Produktionsroman ist ein Roman nicht der Maschinen und Fabriken, sondern ein Roman über deren Modelle, über Entscheidungen, die sie betreffen, über die sie archivierenden Aufschreibesysteme bzw. den quasi-persönlichen Arbeitsplatz und das human interest – und natürlich das diesbezügliche Schreiben eines Romans. Das Deckblatt des Buches mit dem Titel Bergbaukunde trägt den Namen (das Pseudonym) eines in Texas geborenen zweitklassigen Skandalhelden und Schlagersängers: P. J. Proby. Die Verknüpfung von P. J. Proby und der Bergbaukunde ist nicht unproblematisch. Daran änderte auch nichts, dass über die Kontamination des englischen hero(-es) und des ungarischen hős durch den Titel des Albums Three Week Hero – mit Bezug auf die spezielle Aufzeichnungstechnik der ungarischen Telegrammsprache – oder in der Kurzlebigkeit der „heltenhaften“ Posten Probys
22 Ebd., 105 ff. Vgl. auch Gumbrecht: The Powers of Philology, 41–53, insbesondere 44. 23 Esterházy: Ein Produktionsroman. Die Seitenangaben im Fließtext folgen dieser Ausgabe.
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(Smith-Powers) und Tomcsányis eine Verbindung zustande käme. Projiziert man diese groteske Beziehung auf das wechselseitige Verhältnis von wissenschaftlicher und künstlerischer Autopoiesis, wird vor allem der Bruch im Verhältnis von Autor und Buch sichtbar. Zur (wissenschaftlichen und künstlerischen) Autorfunktion gesellt sich die Reflexion der Zufälligkeit Stars produzierender Mechanismen, des tragisch-grotesken Schicksals des Starumfelds, der Eckermanns der Meister, während der wissenschaftlich-lehrende Impetus – wie die schmutzige Unterhose auf dem Finger des Meisters (183) – an der Kluft der sprachlich-narrativ-temporalen Brechungen aufgehalten wird. Der Schlager, die Musik, die theatrale Show und die Wissenschaft bilden die Topologie inkompatibler Gefüge, den Romanstoff der Selbst- und Fremdreferenz der Selbstprogrammierung, ohne dass irgendein Element der Kombination der Kontrolle einer dem System übergeordnet-projizierten Autorität (eines Sängers, Wissenschaftlers, Schriftstellers) ausgesetzt wäre. Der wissenschaftliche Duktus, den der Roman auf mehreren Ebenen zitiert, stellt einen starken Kontrast zur Literatur her. Der Autor des literarischen Werkes ist nicht dazu berufen, für die Stabilität der Verweisordnung und der Bezüglichkeit zu bürgen. Das gilt insbesondere für eine Textkunst, die historische Wahrheit und Familiengeschichte in einem betont fiktiven Zusammenhang (Harmonia Caelestis) verortet bzw. die mit einer nicht gekennzeichneten, aber akzentuierten Intertextualität operiert (Einführung in die schöne Literatur). Die Studie erhält als der primäre Kanal wissenschaftlicher Zirkulation – vor allem über die in den Aufzeichnungen verdichteten Angaben und Verweise – den Anspruch der genauen Beziehbarkeit des narrativen Schemas und damit die Herrschaft des Autors – als Zeichen mit einer fixierten Bedeutung (oder Markenname) – über die Bedeutungsbildung aufrecht. Die Studie beansprucht sogar für sich, Vorausschau, Prognose zu sein – so wie das Bergbaukunde betitelte Buch die Umstände des Unfalls im Roman „prophezeit“. Ein Produktionsroman destabilisiert die Wissenschaftlichkeit als das einzig mögliche Andere der Kunst an mehreren Stellen: die Autorfunktion und die Funktion der Aufzeichnungen ebenso wie die Stabilität der Referenz und schließlich die Zugangs- und Verwirklichungsmöglichkeiten der Studie, die Möglichkeiten der Prognose – als Verfahren zur Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft – und der Anwendung.
2 Die Medien literarischer Produktion: Form, Medium, Zeit hielte ich mir Zeithunde und fütterte sie mit blutigem Fleisch
Der Vergleich mit anderen nicht-künstlerischen Gesellschaftssystemen – dieser Vergleich ist kein Zufall, denn als künstlerisch kann eine Erscheinung etwas
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nur dann betrachten, wenn sie selbst Nicht-Kunst ist – mag bei der (Selbst)Interpretation eines Kunstwerkes noch so betont werden, doch darf man nicht vergessen, dass ein gegebenes System die Relation zu seiner Umwelt nur aus der Kombination eigener Elemente aufbauen kann. Das heißt in Bezug auf literarische Werke, dass die Zwänge der „Rede“ über die Sprache nicht kleiner sind als jene des Redens in der Sprache. Nehmen wir das Unwirkliche zum Ausgangspunkt, das jedem kommunikativen Akt zu eigen ist, das Inverkehrbringen des Geldes oder der Sprache. Im Zusammenhang mit Ein Produktionsroman ist diese Irritation unabdingbar; die gemeinsame Erfahrung der Lektüre, dass „das Erwartbare im Roman keinen Wert hat“24 induziert die typische Form rezeptiver Reaktion, die sich auf die Unmöglichkeit der Sinnbildung beruft, nachdem die Unsicherheit, die der extremen Unwirklichkeit der Entstehung der Kommunikation entspringt, sie erschreckt hat. Die – vorzeitige – Unterbrechung des rezeptiven Aktes als mögliche und vermutlich gewöhnliche Reaktion lässt die (sich selbst erfüllende) Prophezeiung der Sprache wahr werden: „[W]ie soll jemand sich ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und welche?) zu wagen, wenn gerade das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt, sie abzulehnen?“25 Hat ein literarisches Werk (die Literatur, die Kommunikation) einen Sinn, wenn gerade das Verständnis das Risiko der Ablehnung birgt? Und kann ein Werk verstanden werden, das die Akte des Nicht-Verstehens sichtbar macht? Die „Malheure“, die „Hopplas“, die „gaffes“ von Ein Produktionsroman, die die verschiedensten Hindernisse, Ausrutscher oder Abstürze des kommunikativen Prozesses vergegenwärtigen, treten nie aus dem „Prozess“ der Bedeutungsbildung heraus, die Romanproduktion (und Lektüre) schreitet fort. Anders formuliert bildet diese trotzige Kontinuität eines der Schlüsselmomente des Romans oder sogar seine Minimalethik, die durch seine – unerwartet und unmotiviert positive – abschließende Geste eine besondere Bedeutsamkeit erlangt. Das Ja zu der – nur in ihren Hindernissen sichtbar zu machenden – Kommunikation geht auf das Konto impliziter Autorwillkür.26 Diese quasi-Zyklizität der Bewegung, der jede Idealität abgeht, kehrt auf zahlreichen, thematischen und narrativen Ebenen des Romans wieder. Dieses Zirkulieren – das sich auch auf der thematischen Ebene als die Studie ausprägt, die sich den Fängen des „Helt“ im Romanraum dauerhaft entzieht – beschreibt die Struktur des kommunikativen Wirkmechanismus. Es geht dabei um das Pulsieren der Kreisform, das dem transzendenten kulturhistorischen
24 Szegedy-Maszák: A regény, amint írja önmagát, 122. 25 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 191. 26 Jede dieser Autorfiguren vom Generaldirektor über Péter Esterházy und den Meister bis zum Held wird durch den schizophrenen „Drilling“ charakterisiert.
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Gedächtnis fernsteht; mehr bedeutet das Zirkulieren – im Einklang mit dem luhmannschen Gebrauch des Begriffes – nicht und liefert als solches, als zwar kontinuierliche, aber ziel- und richtungslose Bewegung des kommunikativen Systems, zugleich die genaueste Definition der Brüche von Ein Produktionsroman. Die paradoxe Identität des Systems wird von einem Fortschreiten geformt, das die Möglichkeit kontinuierlicher Kommunikation aufrechterhält, während diese genau durch das Zusammenspiel von Aufbau und Zerfall jeder Form der Planung und Berechenbarkeit – die Wiederkehr und Zirkularität generieren würden – beraubt wird.27 Die Kommunikation ist fortsetzbar, mehr darf man jedoch nicht erwarten. Die luhmannsche Beschreibung dieser Kreisbewegung führt zwei „kreisförmige“ Prozesse als Beispiele an, die in Ein Produktionsroman zwar eine herausragende Rolle spielen, von der Rezeption jedoch nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit bedacht wurden. In den „Kreisläufen“ des Geldes und des Blutes sichert die konstante Veränderung der Elementkonstellationen das niemals-zurück-an-denselben-Ort der Identität, das nur in dieser dynamischen Stabilität gegeben ist. „Blut muss fließen knüppeldick“ (36. Aufzeichnung). Im Roman fließt irritierend oft menschliches und tierisches Blut. Das Blut der Verletzten aus dem Geplänkel im Konferenzraum findet als Blutbach sein Bett zwischen den schlecht verlegten Fliesen des Flures, ein blutiges Lied erschallt aus dem ausgebrochenen Telex-Wagen, der Fuchs wird vom Rudel zerrissen, die Taube vom Falken, ihre Feder bildet ein blutiges Memento auf dem Tisch des „Helt“, auf der Trauerfeier „sprudelt“ tierisches Blut, aus dem Mund Mitocskas sickert einmal das Blut, dann fließt es dick, man isst das Schweineblut, beim Zahnarzt gibt es Blutgeschmack im Mund. Diesen Blutschwall kann man gewiss als Präsenzeffekt (H. U. Gumbrecht) auffassen, der provozierte Anblick des Blutes, der verletzte Körper, die wiederkehrende Wunde wirken bis in das Hirn. Sie erzwingen zwar nicht den Ausstieg aus dem „flotten“ Prozess der Bedeutungsbildung, aber sie halten ihn auf, sie destabilisieren ihn. Dabei langt die Wunde an den Grenzen des Körpers an (234), sie ist gleichzeitig dessen Teil und dessen Störung, sie stimuliert seinen vagen Mechanismus, ist sein Subjekt und sein Objekt (Wundheilung) und ein temporäres und wiederkehrendes „Tor“, an dem Organismus (der Körper, der Text) und Umwelt einander begegnen. Die Wunde des Körpers ist gerade durch das kontinuierliche nicht-oder-anders-zurück-an-denselben-Ort28 eine Wunde
27 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 199, 390. 28 Das Motiv wird so als Objekt, als Mechanismus ironischer Reflexion des primären Agens der Identitätsbildung des Werkes/der Lektüre sichtbar. „Mein Freund! Ein Motiv!“ (435).
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des Textes und der Lektüre, ja des Lesers,29 eine Verletzung, die nicht zum Tod führt,30 denn sie distanziert sich von jeder tragischen Modalität, doch ist dabei die Chance auf Heilung ebenso gering, weil der in den Text eingeschriebene Fehler unheilbar, die Wunde als Inskription unauslöschbar ist.31 Dem Mechanismus der Konsistenzbildung wird jedoch widerstanden: das Blut kommt zwar öfter ans Licht, es schafft aber keine blutige Geschichte. Die thematische Ebene verortet sich ohne hervorzustechen auf einem phraseologischen Feld. Der Text umfasst von den im engen Sinn verstandenen Idiomen bis hin zur Peripherie der Verfestigung ein breites Spektrum an verschiedenen B-L-U-T-Sequenzen,32 das in seiner Gesamtheit einen Widerstand zu den stabilisierenden Verfahren der Bedeutungsbildung darstellt.33 Was aber steht im Hintergrund dieser gesteigerten und atopischen Verwendung von Phraseologismen?34 Die Freude am – von der ungarischen postmodernen Prosarezeption oft verpönten – Wortspiel „zum Selbstzweck“? Wenn es so wäre, und diese Lesart zu disqualifizieren dürfte schwerfallen, wie funktioniert dann bzw. welche Auswirkungen hat dann die destabilisierende phrasematische Bewegung des Textes? Ein Produktionsroman nutzt hinsichtlich dessen, welcher Gebrauch eines gegebenen Wortes, einer Wortverbindung oder eines Satzes aktiv wird, zahllose Techniken, um die Rollenangebote, die sich dem Leser bieten, zu vervielfältigen. Diese Multiplikation der Möglichkeiten der Bedeutungsbildung auf der
29 Die Wunde der Lektüre, denn die Fehler, die Schnitzer, die Ausrutscher sind Verletzungen des Textes, des Gewebes, an denen der Prozess des Lesens zum Stocken kommt; des Lesers, weil die sichtbar gemachte Verletzung, der Anblick des Blutes als Präsenzeffekt eine körperliche Reaktion auslöst. 30 Die Trauerfeier des „Helten“ ist eine Unternehmensfeier, bei der es um den Tod einer Karriere oder einer Sache geht, nicht um den Tod einer Person, deren Status sylleptisch suspendiert wird (127 ff.) 31 Vgl. dazu die Erwähnung der Wunde in Fodor: Nehéz textuális munka. 32 Zum Modell von Zentrum und Peripherie beim Begriff der Phraseologismen vgl. das Vorwort von Forgács: Magyar szólások, VIII. 33 Blut klebt an den Händen, aus mehreren Wunden bluten, Blut trieft, im Blut haben, vor Blut triefen, Leben und Blut opfern, blutige Augen, bis zum letzten Blutstropfen, Durchblutung, blutbildend, Blut zu Blut, Blut und Schweiss, blutleere Lippen, blutrünstig, blutunterlaufen, blutiger Kampf, blutiges Gefechte, auf das Blut hören, aus mehreren Wunden bluten, (heiße) Blutwelle usw. 34 Es geht um eine falsche Phrasenhaftigkeit, denn Dephraseologisierung, Antiphrasis, seien dies Katachrese, Syllepsis, die Ersetzung fester Elemente durch Synonyme oder grammatische Transformationen (z. B. Imperativ) oder anderer Missbrauch; der häufige, aber überwiegend irreguläre Gebrauch der Topoi, Gemeinplätze. Die entstellten Phraseologismen können weder einem konkreten Ort der Szenerie oder der narrativen Struktur zugeordnet werden noch dem Zentrum einer impliziten Bedeutungsintention des Autors. Vgl. dazu den Vortrag von Géza Balázs in A magyar frazémák szövegtipológiája.
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Ebene der Wörter und Syntagmen ist eine elementare Erscheinung des Romantextes,35 die auf der Ebene der Wortformen mitnichten halt macht, wie Neologismen wie z. B. katagán36 (jatagán?, katana?, kacagány?) beweisen. Eine der radikalen Konsequenzen des Effektes der Mechanik, dessen Penetranz dem Roman innerhalb von Esterházys Lebenswerk eine herausragende Rolle verschafft, ist die sylleptische Schwebe,37 die gleichzeitig unmögliche und unumgängliche Trennung des Metaphorischen/Übertragenen und des Eigentlichen und die permanente Verschiebung der Grenze. Jenes Wanken, das jedes Detail des Textes erfasst, und das als das Falschgeld der Literatur auch benannt werden kann: Im Gewebe des Textes bildet sich eine Falte, die ganz unmittelbar zwar den Prozess der Entstehung der szenischen „Welt“ aushebelt, die sich letztlich aber auf die Gesamtheit der Bedeutungsbildung auswirkt. Ein Produktionsroman radikalisiert diese Unsicherheit, indem er sie vom Buchstaben bis auf das Wort, vom Wort bis auf das Kapitel auf die verschiedensten Sequenzen ausdehnt. Ein blutiges Beispiel: (auf der Ebene der Wortverbindungen) „Blut klebt an seinen Händen“ kann in Verbindung mit dem Generaldirektor im Kontext der Jagd oder der Gewalt des kommunistischen Regimes sowohl eigentlich als auch phrasematisch verstanden werden;38 auf der Kapitelebene: Jede blutige Szene des Kampfes im Konferenzraum kann als „harter, brutaler Arbeitsplatzkonflikt“ verstanden werden, während das Kapitel als Textteil wie die Leinwand bei einem Actionfilm von Blut trieft.39 Das Kapitel schwankt gleichsam nicht nur aufgrund
35 Vgl. dazu Thomka: „Az irónia prózai minőségei“, 73–74. 36 A.d.Ü: Die deutsche Übersetzung greift auf das etablierte „Handschar“ (18) zurück. 37 Im Zusammenhang mit sylleptischen Konstruktionen Lausberg: Handbuch der Literarischen Rhetorik, 350 ff, 822, 877. Hier geht es natürlich nicht um das grammatische Phänomen der sinngemäßen Übereinstimmung oder um den Mangel an grammatischer Übereinstimmung (diese verweisen im Roman auf den fehlerhaften Sprachgebrauch der Politik). Und auch wenn die radikalen Effekte der Überraschung, der Spannung, der Interessantmachung sich zu ihnen gesellen, so muss man doch eher den phrasematischen und nicht verfestigten Gebrauch der Phrasologismen, das Sublimieren dieser beiden in einer Struktur hervorheben bzw. im Allgemeinen die Bewegung zwischen dem Übertragenen und dem Eigentlichen als Unentschiedenheit. Vgl. in diesem Zusammenhang die herausragende Bedeutung des Zeugmas bzw. des Pleonasmus in den Esterházy-Texten. (Über das Verhältnis von Syllepse und Zeugma kam es im Zusammenhang mit dem Wikipedia-Artikel zum Zeugma zu einem lehrreichen Streit. Unter anderem wurde argumentiert, dass zwischen den Artikeln des Oxford English Dictionary (zeugma, syllepsis) kaum ein Unterschied besteht. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Talk: Zeugma) und The Oxford English Dictionary. 38 Der Satzkontext („Unsere Hände haben an so manchen Frauensteiß gegriffen, aber Blut klebt nicht an ihnen.“ kann auch ein Verweis auf Defloration sein (10)). 39 Ein lehrreiches Beispiel der Grenzüberschreitung: „Blut läuft ihm über den Bart, tropft auf den Tisch und die Decke durchweichend weiter auf den Boden, auf den mit der Decke (farblich)
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der Unentscheidbarkeit von Eigentlichem (der blutigen Schlacht) und Übertragenem (dem Arbeitsplatzkonflikt), auch die temporale Überlagerung (die Vergangenheit der Schlacht in der Grenzfestung und die Gegenwart des Büros) trägt zu dieser Verunsicherung bei. Dabei ist das Kapitel zugleich stark intertextuell geprägt, denn es zitiert Géza Gárdonyis Sterne von Eger und die politische Publizistik Kálmán Mikszáths sowie den anfangs dualen, von marktwirtschaftlicher und sozialistischer Rhetorik geprägten Diskurs der Wirtschaftsreform, des neuen Wirtschaftsmechanismus. Die Konsequenz dieses auf mehrere Quellen zurückzuführenden Wankens ist die einzigartige „Doppelzüngigkeit“ des Kapitels. Die Naturalität der einzelnen Schlachtszenen kann nicht auf die metaphorische Bedeutung reduziert werden, die sich aus dem Ganzen des Kapitels ergibt. Diese gespaltene mikrostrukturelle Bedeutungsgebung bringt die originär falsche Währung der Literatur in Verkehr und verkehrt sie. Diese elementare Mechanik bietet jedoch auch einen vollkommen anders gearteten und verborgenen Kontext, den man – mit besonderer Betonung der temporalen Kontexte des Wortes – als Metaphorologie bezeichnen könnte.40 Die Bemerkung, „dass die Zeit nur so in den Roman hinein rinnsalt“ (22. Aufzeichnung) verweist nämlich nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie darauf, dass verschiedene politik- oder sozialgeschichtliche sowie historische Figuren Bestandteile des Werkes sind, sondern vielmehr darauf, dass die Sichtbarmachung jeder Sache durch eine Textfunktion ermöglicht wird, die sich gleichzeitig auf den Bestand der Sprache und auf das der Kultur eigene Gedächtnis stützt, auf den paradoxen Prozess der Verfestigung, um genau zu sein, bei dem die Verfestigung auf Morphem-, Syntagmen-, Satz- oder sogar Textebene Erosion und Zerfall voraussetzt und umgekehrt. Im Hintergrund dieses Textwirkens steht
harmonisierenden Teppich.“ Die Verletzung und der spätere Tod des Abteilungsleiters werden in den Kulissen der Schlacht (in der Grenzfestung) inszeniert, doch das Blut fließt in der BüroKulisse. Genau dies ist die fließende, die Überschreitungen konditionierende Grenze. (21) Gleichzeitig verweisen auf die Einschreibung der beiden sich gegenseitig bezeichnenden Sphären genau die sprachlichen Momente, bei denen definitiv nicht mehr entschieden werden kann, welcher Sphäre sie zuzurechnen sind bzw. ob sie nicht gleichzeitig zu beiden Sphären gehören, während sie die unmögliche Integration der einen in die andere sichtbar machen und dadurch die Aporie kennzeichnen. Z.B. die Wortform des „Federhalters“ als die Überlagerung des Kampfes (als Teil des Helmes), der Büro-Sphäre (als Bürogegenstand) und des Schreibaktes (die Feder des Schriftstellers) (21). 40 Hier kann neben der Terminologie Kosellecks auch auf Luhmann verwiesen werden, darauf, wie bei ihm die Verknüpfung der Elemente medialer Substrate, die der Sprache eigene quasi-Realität oder gerade die Bifurkation des ja–nein der Sprache die Zeit schafft/impliziert. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 215 und 221 ff, insbesondere 224.
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eine Mechanik, die jeden einzelnen Moment des eingravierten Textes abhängig von der teils bewahrten, teils getilgten Gegenwart verschiedenster vergangenheitsarchivierender Akte macht. Die in Verbindung mit Esterházy bis zum Überdruss erwähnte Intertextualität bzw. der bevorzugte Gebrauch von Phraseologismen erlangen ihre eigentliche Funktion erst in diesem Zusammenhang. Der fragmentarische Zauberspruch Fleisch zu Fleisch, / Blut zu Blut41 bringt – während er wie jede intertextuelle Beziehung einen weiten Spielraum zur Interpretation des Zusammenspiels von zitiertem Kontext und romaninterner Textumgebung eröffnet – die sprachgeschichtliche Komponente des gebrochenen Prozesses der Bedeutungsbildung ans Licht. Das „zeige auf deine blutende Wunde“ aus Sterne von Eger, dem meistgelesenen ungarischen Roman,42 oder das auf die deutsche revolutionäre – und literarische Tradition – weisende „Blut muss fließen knüppeldick“43 eröffnen nicht nur einen historischen Kontext, sie fügen sich auch ein in die phrasematische Kavalkade der Blut-Wortform. Blut soll fließen: aus dem Körper oder im Körper? Sobald es herausfließt, muss man von einer großen Menge an Problemen/Blut ausgehen.44 Das Phänomen wird in Verbindung mit Wortformen wie der „Feder“ noch deutlicher.45 Im Kraftfeld der Verweise auf Büro, Schriftsteller, Grenzfestung (an der Grenze zwischen dem Königreich Ungarn und dem Osmanischen Reich) und Falknerei erhält das Silber des „Federhalters“ seinen Glanz von dieser Mechanik des Textes her. Die Autor-Figuren sind die Meister der Feder: Tomcsányi und die Taubenfeder, der Meister und sein Parker. Die Feder bildet dabei eine Überlagerung der Bedeutungsbildung, die schriftgeschichtliche, sprachgeschichtliche, historische, intertextuelle und selbstreflexive Kontexte zusammenführt. Wie kommuniziert der literarische Text, wenn die einzelnen sprachlichen Elemente Schnittstellen von Zusammenhängen bilden, die einander ausschließen oder überschreiben bzw. ihre Bedeutung von einer nicht zu stabilisierenden Kreisbewegung distribuiert wird, und wenn obendrein die Arbeit des Autors deren Reflexion ist? Werden Übermittlung, Übertragung als kommunikative Akte realisiert, und wenn ja, wie, wenn die Wortbedeutung immer von
41 Der selbst ein anachronistisches Fortleben heidnischer Glaubenswelt in der christlichen Tradition ist. 42 Historischer Roman von Géza Gárdonyi (1863–1922) aus dem Jahre 1901, bis heute eine der wichtigsten Lektüren der ungarischen Jugend. 43 Handele es sich um ein Hecker-Lied, um die Weimarer Republik oder um den Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Vgl. Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 76. 44 Vgl. knüppeldick/ knüppeldickevoll im Duden. 45 Vgl. z. B. Derrida: „Die zweifache Séance“.
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(unzähligen, einander ausschließenden) Konstellationen abhängig ist, die der aktuellen Kombination vorausgehen? Und was mag im Hintergrund einer Texttechnik stehen, die – entgegen den verhüllenden Techniken alltäglicher Kommunikation – die kommunikativen Elemente so kombiniert, dass die Aporien eines jeden zum Vorschein kommen? Wenn die instabile Kreisbewegung, deren Sichtbarmachung zu bezeugen, ja zu bewerkstelligen Ein Produktionsroman auf zahlreichen Ebenen möglich macht, nicht nur die Grundstruktur von Blutkreislauf und literarischer Produktion bildet, sondern aller Kommunikation, dann wäre das hier Skizzierte dazu angetan, dem Leser die Erfahrung tiefen Sprach(-Nicht)-Wissens näherzubringen. Die unumgängliche Voraussetzung dafür wäre es, diese Aporien der Herstellung des Werkes und der Rezeption des fertigen Werkes wahrzunehmen und zu akzeptieren. Zu Hause angekommen, wieder im Blutkreislauf des Alltags, versuchte sich der Meister mit der Windel. Die Windel kann man, wenn sie einmal flach ausgelegt worden ist, auf verschiedene Weise falsch anlegen. Ich muss schon sagen, der Meister kannte diesbezüglich kein Hindernis. Die kleine Mitovics spürte die Unsicherheit der Hände und hub routiniert zu greinen an. Dann sagte sie: „Nangaa.“ Was so viel heißt wie, dass die Welt seit einer Weile nicht mehr nach der ihr genehmen Ordnung voranschreitet. Doch wenn auch das Machwerk bis zu den rundlichen Knien hinunterreichte, der Rand der Windel unten heraushing – der Materie, wenn es dann so weit wäre, einen sicheren Weg weisend –, die winzige Taille nackt war und sich einige Patentknöpfe am Ende an ein und derselben Stelle anschließen mussten, weil nur noch dort Platz war, wodurch die Symmetrie aufgelöst ward – wurde das Werk fertig, und zwar badete der Meister in seinem Schweiße, doch konnte er vermelden: „Fertig.“ (392)
3 Außerhalb und innerhalb der Sprache 3.1 Die Rhetorik des Bildes Will man eine Beziehung zwischen den kommunikativen Akten, die Ein Produktionsroman sichtbar macht, sowie den verweishaft zitierten Kommunikationsformen und den für die Rezeption des Romans prägenden Rollenangeboten herstellen, begegnet man außerordentlichen Schwierigkeiten. Nicht-verbale Kommunikationsformen bzw. die durch ihre medialen Eigenheiten gekennzeichneten Verweise werden unumgänglich, glaubt man denn im Zusammenhang mit der Textkunst an den Vorrang der Aufmerksamkeit, die der verbalen Kommunikation, d. h. den Formen mündlicher und schriftlicher Kommunikation und deren Verhältnissen, zukommt. Im Romanraum sind die Verweise auf das Theater, die Operette, den Zirkus, das Kabarett, klassische und moderne Musik,
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den Tanz, die Malerei, Fotografie und Film „an der Tagesordnung“ (279).46 Jedes dieser Verweisfelder würde einer gesonderten Untersuchung zum Thema gereichen, selbst wenn sie in dem hier behandelten Roman mit unterschiedlichem Gewicht auftreten. Wenn hier die optischen Medien besonders hervorgehoben werden, dann hauptsächlich, weil sie – jenseits der formalen „Häufigkeit“ und der herausragenden Rolle, die sie in Esterházys ersten Bänden spielen – in den Kreislauf der Bedeutungsbildung auf sehr verschiedenen Ebenen eingreifen. Tatsächlich soll das Ziel hier auch gar nicht die Identifizierung der einzelnen Verweisrollen sein (wobei ohnehin zweifelhaft ist, ob ein solches Unterfangen seinen Ansprüchen überhaupt gerecht werden könnte), sondern vielmehr die Problematisierung der in der Selbstinterpretation eingenommenen Rollen. Das Darstellungsverfahren, dem in Fancsikó und Pinta noch eine Schlüsselrolle zukam, und das die Visuelle Rhetorik genannt werden kann (und das im Lebenswerk häufig durch das Wort Geometrie gekennzeichnet wird), spielt in Ein Produktionsroman kaum mehr eine Rolle.47 Die abnehmende Bedeutung dieses Verfahrens lässt sich besonders gut an Zitaten aus dem ersten Band des Lebenswerkes (z. B. Maßliebchen und die Darstellung der Hand der Mutter) nachvollziehen, die eine betontere (Re-)Kontextualisierung durchlaufen, wobei die Frage nach der Identität der Gegenstände mit sich selbst, die ein Problem der frühen Werke ist, durch den „Blick“, der auf das Funktionieren von Sprache und Text geworfen wird, eine Antwort erhält. Die Entfernung, die zwischen der Kamerametaphorik Miklós Mészölys und Fancsikó und Pinta deutlich wird, vergrößert sich in Ein Produktionsroman noch. Es gibt zwar kurze Passagen, in denen sich Parallelen ergeben (z. B. zwischen Szenvtelen följegyzések [Gelassene Aufzeichnungen], einem echten Meisterwerk in Mészölys Oeuvre, und der Szene mit „Frau Gitti“, die in der Badewanne liegt [393–394]). Die texttechnischen Verfahren von Ein Produktionsroman überführen die Dilemmata Mészölys (die Reduzierung der narrativen Welt auf den Anblick, die Entpersönlichung des Erzählers und der Figuren – Auge, Körper – und die poetischen Konsequenzen, die daraus folgen) aber in die mediale Aporie des Textes (die Materialität des Textes/Körpers und die Metaphorisierung). Diese Effekte gehören jedoch gar nicht zu den eindrücklichsten optischen Effekten von Ein Produktionsroman. Sie gehören noch nicht einmal dem Ideenkreis von Linse und Brille an, obwohl sie auch die Kodierung der Lesbarkeit des
46 Die musikalischen Verweise reichen von Mozart bis Janis Joplin und berühren die Gattungen kommunistischer Agitation (Tschastuschka, „Polbeat“), ähnlich schließen sich Verweise auf den Tanz (Volkstanz, Farandole, Tango) in Raum und Zeit aus, ebenso Verweise auf das Kino (von Luis Buñuel über Western bis zu Gina Lollobrigida). 47 Ausführlich dazu Palkó: „A látvány retorikája“.
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Textes berühren, unabhängig davon, ob die ‚Linse‘ selbst (durch eine starke Brille sehen) im fiktiven Raum des Romans erscheint oder ob das Zitat metaphorisch ist (die trübe Linse der Liebe). Die Komplexität des Textaufbaus – die eine so zweifellos gewebeartige Textur hervorbringt, dass die extreme Dichtheit der Knotenpunkte nicht einen Faden zu lockern, herauszulösen, zu isolieren gestattet und letztlich jede sprachliche Geste wieder in die Praxis des Webprozesses zurückführt wird – erlaubt natürlich auch hier nicht, dass die Metapher oder das Thema der Optik im Text aufgehen. Die modernen, automatisch schließenden – jedoch per Handkraft zu öffnenden! – Türen fielen, wie eine Guillotine an ihrem freien Tag, mit einem großen Knall zu. ‚Tröstl- paff!‘ Sie bissen Herrn Mikszáths Wort praktisch ab. Den Schwanz des Wortes; so eine Enthauptung war das. Die Türen schlossen sich, doch die HÉV fuhr noch nicht los. Im mehr oder weniger zum Spiegel gewordenen Fensterglas konnte der Meister zugleich sich selbst und Herrn Mikszáth sehen. Der Meister beobachtete die Konstruktion seines Auges, wie es von kurz auf lang umstellte [. . .] (370)
In dieser Szene wählt der Erzähler das Blicken selbst anstelle des Anblicks zum Objekt der Beobachtung, d. h. er identifiziert die eigene Tätigkeit als Beobachtung zweiter Ordnung (N. Luhmann). Der primäre Anblick, der – wobei das Zitat des wittgensteinschen Hase-Ente-Aspektes vielleicht kein Zufall ist48 – diese reflexive und optisch unmögliche Tätigkeit in Gang setzt oder durch den man vom Optischen oder dem Wahrnehmenden zurückgeht auf das Mentale und Reflexive, bildet jedoch selbst auch keine szenische Einheit, da er zwei Erzählstränge49 im Bild einer optischen Erscheinung (Halbspiegel) so montiert, dass sie sich überlagern: die in den Text gehobene fiktive Figur des Schriftstellers Kálmán Mikszáth und ihr schriftstellerisches Gegenstück, den Meister. Der nonverbale „Palimpsest“ selbst wird von einem Kulissenereignis ausgelöst (die Glastüren schließen sich). Was es aber auslöst, kann es nur zusammen mit der Gewalt der Sprache vergegenwärtigen, die Guillotine schlägt als Vergleich die Illusion der sichtbaren Kulisse entzwei (wobei sie einen neuen historischen Zeitstrang eröffnet, der in die Zeit vor Mikszáth, die Zeit der französischen Revolution zurückreicht). Der Leser wird hier zwangsläufig nicht der bequemen, voyeuristischen Position des Beobachters des Sehens gewahr, sondern der „tröstl-paff“-Haftigkeit der durch das Fallbeil in Stücke geschlagenen Wörter. Und dabei führt alles zurück zum Anblick, denn der
48 Vgl z. B. Laki: „A kacsanyúl“ oder Nyíri: „A gondolkodás képelmélete“. 49 Der Roman reflektiert ironisch, wie häufig die Wechsel der Erzählstränge vorkommen („Sehen Sie, mein Freund, wir wechseln hier die Erzählebenen wie andere Leute die Unterhosen“ [324]). Gleichzeitig bedeutet die Multiplikation der Stränge nicht, dass die einzelnen Textsegmente identischen erzählerischen oder szenischen Sphären zuzuordnen wären.
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Anblick der Köpfe ist zugleich der Anblick der abgeschlagenen Köpfe, wobei diese Köpfe nicht von der Guillotine, sondern von der tropischen Bewegung des Textes abgetrennt wurden. Weniger tropologisch radikal ist die Szene der Messe. Die starke Brille des in der Kirche mit seinem Vater vor dem Meister sitzenden Jungen, durch die der Meister von Zeit zu Zeit hindurchsieht, markiert den auf den Vater geworfenen Blick des Jungen, wobei der Text beide Positionen des Verhältnisses zwischen Pubertierendem und Vater zitiert (213). Das Gesicht, der Körper und die Brille des Pubertierenden, die sich dem Vater zuwenden, regen den Meister zu einer summarischen Schlussfolgerung an. Der – (wiederum) voyeuristische und wortlose – Meister wartet aber sogleich mit einer neuen Lesart der Szene auf, die sich vor ihm abspielt und von ihm beschrieben wird, von der die frühere „Spiegelung“ („und alles spiegelte jene Verstocktheit“) als (optische) Täuschung, als einfacher Irrtum hingestellt wird. Das „Sehen durch die Brille eines anderen“ wird als gebräuchliche Metapher der Empathie, als die Unlesbarkeit des Gesichts und der Interpersonalität thematisiert, während der Meister die bereits außer Kontrolle geratene deiktisch-aneignende Geste beim erneuten Lesen der Szene wiederholt (zuerst identifiziert die Geste die gesehene und beschriebene Szene als Beispiel einer Vater-Sohn-Liebe, später dann den Jungen als geistig behindert, indem sie Vorangegangenes überschreibt). Die optische Metapher der phrasematischen Einheit des ‚Sehens durch die Linse von etwas‘ wird wieder in die Mikrowelt der Sprache und den Kreislauf der Lektüreangebote des Textes eingebaut, und zwar über eine Lösung, die im Vergleich zu der oben beschriebenen mit mehr Bravour vorgeht. Ich wage zu hoffen, dass ich die Arbeit, das Leben, den Fluss des Lebens und den Tod des abgöttisch geliebten Esterházy, wenn auch durch die etwas trübe Linse der Liebe, jedoch auch mit einer Distanz betrachte – denn wie groß ist doch diese! –, die als Gewähr gelten kann. (387)
Der Kommentator PE (Péter Esterházy, Peter Eckermann) blickt zwar – seinem Selbstkommentar zufolge – durch „die trübe Linse der Liebe“ auf den Meister, jedoch aus einer sicheren Entfernung. Während diese Dualität, in der distanzierter Blick und emotionale Befangenheit gemeinsam die Modalität bestimmen, offensichtlich auf das Verhältnis des Autors der Gespräche mit Goethe verweist, kollabiert gleichzeitig nicht nur die Vorstellung der Entfernung von Subjekt–Objekt (oder ist höchstens als Beobachtung zweiter Ordnung aufrechtzuerhalten), sondern auch die optische Metapher selbst, da PE und der Meister ebenfalls AutorDoubles sind. Ein weiteres akzentuiertes Erscheinen des Wortes „Linse“ baut dieses thematische System wieder in die Bewegungsordnung der Metaphorologie ein, während es deren selbstreflexiven Kontext verstärkt.
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„Die Form, teurer Freund, will so gut verdauet sein als der Stoff; ja sie verdaut sich viel schwerer“50, stieße er weise auf und sagte dankerfüllt: „Gittilein, was für Linsen! Unnachahmlich“, denn all dies ginge beim Mittagessen vor sich, wie ich sehr gut weiß. „Und noch etwas“, er beugt sich aus dem Bild zurück, in dem vor nicht all zu langer Zeit ein gehäufter Teller Linsen mit einem Stück Schulter stand, „mein Freund, vergessen Sie nicht: für die angebotenen Verwicklungen, die Schwierigkeiten bei der Auflösung, entschädige ich, vor allem ich, den Leser ein manches Mal mit meiner unverschämten Jugend, ein anderes Mal mit meinen oberflächlichen Räsonierereien und meinem leichtfüßigen Weltbild. Ist noch was von den Linsen da? Ein kleines bisschen?!“ (152–153)
Die ‚Linse‘ ist eine Allegorie des schwer verdaulichen Textes (weil er fragmentarisch ist und in die Teleologie von Anfang und Ende nicht integrierbar), wodurch analog die Rezeption (wie so oft bei Esterházy) gastronomisch wird,51 das Verhältnis aber modal dualistisch: das Essen ist gut, aber – schwer (die Parallele von schwerer Rezeption und schwerem Essen aktiviert die beiden möglichen Bedeutungen von ‚aufstoßen‘). Währenddessen wird der Ort, den das „Bild“ (so qualifiziert der Text selbst die eingefügte Szene) in der Romanwelt einnimmt, durch den Konjunktiv markiert, was die Geste, die das Bild sichtbar macht sowie ihre Bedeutsamkeit betont. Nun hält aber gerade der Ausspruch von PE, der das Bild präsentiert, die Organisation des Werkes für unverdaulich, d. h. der Ausspruch selbst zieht die Autorität des Sprechers in Zweifel. Der Konjunktiv bewirkt, dass die Vorstellung eines PE im Hintergrund der Geste der Textschöpfung, der den Meister (wie „durch eine Linse“) beobachtet, aufrechtzuerhalten unverständlich wird. Währenddessen rücken (oder ironisieren) die Verweise des Meisters auf schlechtes Sehen (z. B. 389–390) die optischen Analogien des Schreibens weiter in die Ferne. Die zeitlichen Verhältnisse, in denen ‚beugt sich zurück‘ und ‚nicht allzu langer Zeit‘ stehen, verweisen nicht bloß auf die von der Sprache geschaffene fiktive Temporalität, sondern auf eine metaphorologische, entweichende oder schwebende Zeitlichkeit, die sich dem Leser – wenn nicht darstellt, was ihr nicht objektivierbares Wesen verbietet, so doch – durch das Mittel der metaphorischen Bewegung von ‚(Lebensmittel) Linse‘ und ‚(optische) Linse‘ oder ‚(physisches) Aufstoßen‘ und ‚(geistig-psychisches) Aufstoßen‘ als die Bedingung des Prozesses der Bedeutungsbildung offenbart und jeder Analogie zuvorkommt. Die optische Rhetorik einer der Schlüsselszenen des Romans berührt eine andere Ebene der Text-Organisation. Die Bilder der Posttaube-Szenen bringen Perspektivwechsel zum Einsatz, die der Erklärung bedürfen. In den ersten 50 Ironische Verlagerung des bekannten Goethe-Aphorismus. 51 Die selbstinterpretative Kellnerrolle steht beispielsweise genauso dem Koch gegenüber, wie der Textklauber (die bevorzugte Bezeichnung Esterházys) dem allmächtigen Autor. Der Genuss, die Freude am Essen – und am Lesen – mögen die herausragenden semantischen Bezüge des gastronomischen Verweises sein.
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Abschnitten des dritten Kapitels findet die an „Helt“ gebundene Perspektive (interne Fokalisierung) Anwendung, wobei diese sichtbare Elemente einschließt, die in dem Zimmer, das die Kulisse bildet, nicht zu sehen sind (bei Genette: Paralepse). Der graue Block des Gebäudes, die sich in den Fensterreihen wiederholende Sonne bzw. der Schatten eines Jagdfalken sind aus dem Blickwinkel des „Helt“ nicht einzusehen, lediglich aus der Perspektive einer entfernten „Kameraposition“. Der Text behauptet aber die Illusion, dass die blutige Szene „sich vor den Augen der Abteilung“ abspielt. Gerade die Vielzahl von Verweisen auf das Sehen (genau erkennen, wahrnehmbar, Panorama usw.) schafft die Illusion des Filmhaften, für die der Wechsel ferner und naher Einstellung so charakteristisch ist. Spannungen nicht diskursiv-sprachlichen Ursprungs, wie sie die verwobene Darstellung des blutigen Kampfes der beiden Tiere und des Publikums, das diesen hilflos verfolgt, generiert, sind selten in der Prosa Esterházys. Doch werden die filmhaft vorüberziehenden Ereignisse und die wechselnden Perspektiven, die jene dem Leser präsentieren, kontinuierlich von nicht-perspektivischen Elementen gebrochen. Die Visualität der blassen frühen Sonne, die sich wiederholt in den Fensterreihen abbildet, wird von einer nicht-visuellen Wiederholung im darauffolgenden Satz wiederholt/inskribiert. Die so verfestigte sprachliche Einheit des ‚Tag auf Tag‘ bewahrt zwar in ihrem metaphorologischen Gedächtnis (und der Etymologie, die dazu berufen ist, dieses zu verfestigen) noch die Sonne,52 ihr Licht ist aber bereits erloschen. Das bedeutet einen gänzlich anderen Bruch, denn der fachsprachliche Exkurs (Taubenhaltung) durchbricht sowohl die Perpektivbewegung (innen–außen, nah–fern) als auch die Spannung erzeugende Inszenierung. Die Taube nähert sich. – Eine genaue Erklärung für ihre Rückkehr haben wir bis heute nicht. Vielleicht die Liebe zum Zuhause. (Das ist wichtig.) Jedenfalls hat Thauseis bewiesen, dass die Erinnerung an das Landschaftsbild nicht die Triebfeder bei der Heimkehr der Brieftauben sein kann. (27)
Wer Thauseis auch sei, der Verweis auf diese „Autorität“ wirkt als – zweifellose humoristische – strukturelle Brechung der durch die Ankunft der Taube erzeugten Spannung, der optischen Illusion und der filmhaften Inszenierung. Der fachwissenschaftliche Tatbestand selbst („dass die Erinnerung an das Landschaftsbild nicht die Triebfeder [. . .] sein kann“) leugnet den Vorrang der optischen Relationen. Währenddessen erscheint im Hintergrund der ganzen Szene ein Schatten, der Schatten des Jagdfalken. Dieser (geschriebene) Schatten wird nicht von einem Tier auf den Text geworfen, sondern von einem anderen Text. Aus einem anderen Werk, das auf die gleiche Weise fachsprachliche Terminologie und spannungsvolles 52 A.d.Ü.: ‚nap‘ bedeutet im Ungarischen sowohl ‚Tag‘ als auch ‚Sonne‘.
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Inszenieren miteinander vermengt. Die Kurzgeschichte Bettlertanz von Miklós Mészöly zitiert die Falknersprache (die Autorität heißt hier „Thaymur“), während sie ähnlich dem soeben Beschriebenen den Kampf zwischen Beute und Greifvogel darstellt und so die Spannung steigert. Die herausragende Figur der Intertexte von Ein Produktionsroman ist die Inversion, was bei Mészöly ein Beutetier, ist hier das – versagende – Werkzeug des „Helt“, das ihn eigentlich seinen Zielen näher bringen soll.53 Zwei weitere Szenen des Buches, bei denen die Frage der Filmhaftigkeit eine größere Texteinheit berührt, haben Aufmerksamkeit verdient. (Neben den Zitaten von Western-, Krimi- oder Spionagestory-Codes – Film oder Trivialliteratur –, die sich immer auf kürzere Einheiten beziehen und die Bedeutungsbildung nicht auf der Ebene des gesamten Buches beeinflussen.) Die Affäre mit Lollobrigida auf der europäischen Lesereise – die gewiss keine Spitzenleistung des Prosa-Lebenswerkes darstellt – begleiten Verweise, durch die die mediale Indizierung der dargestellten Szenen unentscheidbar wird. Die aufmerksame Lektüre macht klar, dass die Einführung in Klammern am Anfang des Textteils – „Bei einer Gelegenheit, vor dem Fernsehapparat sitzend . . .“ – als Marker der Darstellung der ganzen Affäre aufgefasst werden kann, bzw. dass die Szenen des Meisters und Ginas zu einem im Fernsehen gesehenen Film gehören. Darauf verweisen die beiden späteren Zwischenrufe. „‚Einfache Seide‘, sagte Frau Gitti später scharf“: Diese Szene ist kein Verweis darauf, dass Gitti anwesend ist oder das Kleid sehen kann, sie scheint eher die Streitszene vor dem Fernsehgerät fortzusetzen. Der zweite Zwischenruf – „was dem Meister erst im Zuge der späteren Analyse auffiel, er erschrak förmlich wie eine Großtante, als er sie erkannte: eine Schauspielerin!“ – verweist darauf, dass die Szenen späterer Analyse zur Verfügung stehen, was aber nicht dem Charakter der Kulisse entspricht, die interpersonelle Kommunikation zitiert. Wäre also die – unerfüllte – Affäre die Version eines im Fernsehen gesehenen Filmes, dann wäre keine der Figuren die, welche durch die Szene benannt werden. Eine der beiden wäre die von einer Schauspielerin gespielte Rolle, die andere wäre vermutlich der männliche Held des Films – gesetzt den Fall, dass man dasselbe sieht wie die Filmzuschauer. Die rezeptive Leistung der Ehefrau konzentriert sich auf das Körperliche der Schauspielerin (Krähenfuß, Kleid) bzw. auf
53 Die Intertexte, die Ein Produktionsroman mit „Bettlertanz“ teilt, wiegen eindeutig schwerer als jene aus „Bericht über fünf Mäuse“, denn die interpretatorischen Perspektiven des Falknereigeländes und der Falken in Bettlertanz sind wesentlich offener als die Vernichtung der Mausfamilie in Bericht über fünf Mäuse. Was auch dann noch richtig wäre, wenn man bei den Lesarten von Ein Produktionsroman und Bettlertanz die Stimme der Machtkritik nur schwer ausschließen könnte, selbst wenn deren Allegorien in den beiden Texten einander widersprechen. Vgl. Mészöly: „Bettlertanz“; „Bericht über fünf Mäuse“.
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Elemente, die als das Charakteristische des Filmhaften oder das Charakteristische der den Film spielenden Schauspielerin (die bei der Rezeption von Filmen natürlich nie voneinander getrennt werden können) gleichzeitig in die Bedeutungsbildung des Filmes einbezogen und ausgenommen werden können. Der Erzähler– Zuschauer blickt auf die Filmszenen aus dem Blickwinkel der geschlechtlich identischen Rolle, er/sie „identifiziert sich“ im traditionellen Sinn54 und schafft dadurch das Unmögliche: Er/sie baut eine persönliche Beziehung zu dem Filmstar auf. Der primäre Motor des Starkults liegt im gesellschaftlich-kommunikativen Effekt des Star-Wesens, dem Umstand, dass sich dem Star in Größenordnungen immer ein Mehr an Beziehungsmöglichkeiten bietet, als er überhaupt im Stande ist wahrzunehmen55 bzw. dass das Verhältnis von Fan und Star auf dieser Asymmetrie aufbaut. Ein Gegenstand von einem Star (Reliquie)56 oder vertrauliche Informationen über einen Star wecken die Illusion der unmittelbaren Beziehung. Dieselbe Rolle kann aber ebenso der dargestellte rezeptive Modus des Sich-Einfühlens ausfüllen, wo der Zuschauer – ähnlich der Träumerei, die dem Meister ermöglicht, das verlorene Spiel erneut zu spielen und zu gewinnen – das Herz des Filmstars erobert und ihr/ihm dann – per moralischer Entscheidung – den Korb gibt. Genau diese irritierende Asymmetrie bildet den primären Effekt des Mediums des Schreibens, d. h. wer schreibt und wer liest, dem wird jedes andere (insbesondere interpersonelle) Verhältnis genommen. Dieser Umstand weckt wiederum eine nicht zu befriedigende Neugier auf die „Geheimnisse“ des Schreib- (Schlaf- und Arbeits-) Zimmers. Der ironische Ausspruch von PE, „große Männer in Pantoffeln“ (223), schreibt auch das Verhältnis von PE und Meister in diesen zwar vielleicht „plumpen“ und „verlogenen“, jedoch unumgänglichen Zusammenhang ein. Die Star/Meister-Bewunderung57 oder die Helden-Identifizierung gelangen – jedem ironischen Kontext zum Trotz – als ausspielbare, aber nicht auszulöschende Grundverhältnisse in den – häufig aus dem Repertoire des human interest wählenden – nicht hierarchisierten Pool rezeptiver Codes. Das „zutiefst wahre Strahlen“ (224) bezeichnet das Zusammenspiel, das zwischen der Sehnsucht nach der Aufhebung der Asymmetrie,
54 Vgl. die luhmannsche Körper-zu-Körper Analogie, Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 110. 55 Vgl. Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, 199 f. 56 Die ironische Umwendung dessen findet statt, als der Meister Lollobrigida eine 20-FillerMünze schenkt (282). 57 Die auch in den Essays und Interviews immer wieder in Verbindung mit Vorfahren oder Vorbildern auftaucht.
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der sich immer erneuernden Illusion der unmittelbaren, der „wahren“, der gegenseitigen Beziehung und der Unmöglichkeit all dessen existiert. Die dargebotenen Namen der Filmstars aktivieren – und diesen Effekt verstärken noch die Zitate der Eckermann-Gespräche oder die Darbietung lebender und toter Schriftsteller – neben der Illusion, dass die Asymmetrie aufgehoben wäre, den quasi-literarischen Gattungscode biografischer Lektüre, die im Zeichen dieser Illusion zustande gekommen ist. Die Vorstellungen, die sich durch Filmrollen und Medien (Biografien, Presse) über die Schauspieler ausgeprägt haben, werden dabei untilgbar auf die Figuren projiziert, welche die bekannten Namen tragen. Dieser Verweis ist jedoch nur einer der Effekte, der die Figuren auseinandertreibt, denn die mehr oder weniger motivierten Relationen der Figuren untereinander funktionieren innerhalb des ersten und innerhalb des zweiten Teils von Ein Produktionsroman auf die gleiche Weise wie zwischen den Teilen.58 Wie die nicht-menschliche Inszenierung der Figuren (Meerkätzchen, Hamster), die unter anderem auch auf einen geläufigen Filmtrick (die Synchronisierung von Tierfiguren), letztlich das Schlüsselmoment der Filmrezeption, die Manipulation anspielt. Diese Effekte weisen weit darüber hinaus, eine bloße Verunsicherung der Leserhaltung zu sein, die auf die Schaffung der Charaktere eingestellt ist. Die besondere Offenheit der Textwelt von Ein Produktionsroman innerhalb des Esterházy-Korpus, insbesondere, was die Multiplikation der Leser-Rollenangebote angeht, die über die Literatur hinausreichen, lässt erahnen, dass die Filmstar-Namen auch in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Das Moment der Theater- und Filmrezeption, in dem ein neues Werk nur im Zusammenspiel mit der (auch außerhalb des Filmes oder der Theatervorstellung existierenden) Quasi-Identität des Schauspielers vorstellbar ist – d. h. ohne die fruchtbare Aporie des gegenseitig Parasitären von Schauspieler (Körper, image/brand usw.) und Rolle ist weder ein Theater-, noch ein Filmerlebnis möglich –, überträgt sich auf die Lesbarkeit der Figuren von Ein Produktionsroman. Genau in diese Richtung deuten auch die häufigen Verweise auf Zirkus und Operette, wobei diese Kunstgattungen, die mit der Drastik ihrer Körperlichkeit und Materialität und – paradoxerweise – mit der Schematisierung operieren, nicht weiter von der in Ein Produktionsroman so oft ausgespielten immateriellen Materialität der Literatur entfernt sein könnten. Die Interpretierbarkeit der Erscheinungen wird so von ihnen in den Prozess des Textuellen zurückgeführt, wobei die in die Textualität eingeprägten Spuren des Nicht-Textuellen oder Präsenzeffekte zwar verdeckt,
58 Die Tomcsányi-Figur des Haupttextes kommt als Autor-Double mit der Figur des Generaldirektors in Kontakt, beide können in den Aufzeichnungen mit den Figuren des Meisters und PEs in Verbindung gebracht werden. Die Analogie von Tante Sári und Onkel Banga – Jolánka bzw. Gregory Peck – zwischen Haupt- und Aufzeichnungstext ist weniger offensichtlich.
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aber nicht ausgelöscht werden. So befindet sich z. B. die Figur mit dem Namen Gregory Peck in – wenn auch nicht gleicher, so aber doch durch mediale Transformation – unüberbrückbarer Entfernung zu dem Filmschauspieler (wie zum lebenden Menschen), zu den von diesem Schauspieler gespielten Film-Figuren, zu einem Zirkusaffen im Flitterkleid (so wird er im Roman eingeführt), zu einem Abteilungsleiter eines Instituts für Produktionsleitung (Rollen im Roman: Fachmann, Verräter, Barmixer), zu einem Kämpfer der Grenzfestung, zu einer Rolle in einem populären Roman (Géza Gárdonyi: Sterne von Eger), zu einer Figur in den Aufzeichnungen, die den Namen Banga trägt und – zu einem Grafiker namens Ferenc Banga (der Planer des Buches und Mitarbeiter Péter Esterházys). Dieses überaus komplexe Zusammenspiel wird durch die möglichen Kurzschlüsse, die z. B. die Marker der Novellenfigur (gutaussehender Filmstar, kleine gekrümmte Gestalt usw.), die mit Herrn Banga (Ferenc Banga) über die Verortung der Aufzeichnungen in Beziehung stehen, jene auf seine körperlichen Zeichen zurückführen, nicht eingeschränkt und damit auch die analoge Vervielfachung der Leserrollen nicht, denn der Text bietet hierfür keine eindeutige Bestätigung.
4 Die Rhetorik des Papiers Der Konjunktiv, der über die Metaphorologie der ‚Linse‘ die Aporie des (bild-) schöpferischen Mechanismus des Textes und des Subjektes kennzeichnet, das hinter jenem vorausgesetzt wird, erscheint ein weiteres Mal prominent. Und er mag hier der Gegenstand des werkinternen ertappt-Werdens der optischen Medien sein. Der „Helt“ hält auf dem Gelage im Anschluss an die Jagd eine Rede, deren Gattungszeichen (öffentliche professionelle/politische Rede) das kommunikative Ziel der Überzeugung betonen. Der Satz, mit dem die Szene schließt („Der junge Mann hat das Gefühl, hier oben hat er seine Pflicht getan, seine anfachende Rolle ist zu Ende.“), und der die Rede kommentierende Einwurf („Tomcsányi umreißt plastisch die Notwendigkeit und die moralischen Höhen der Rettung.“) weisen auch darauf hin. Der Redekontext innerhalb des Romans ist zwar vielschichtig, aber eindeutig markiert; welche Bedeutung der Rolle der Gattung im Roman zukommt, wird nicht nur durch ihr häufiges Vorkommen signalisiert, sondern auch durch so emphatische Beispiele wie die montierten Reden István Tiszas und Mátyás Rákosis oder die Rede des Generaldirektors (der Generaldirektoren) auf der (Toten-?)Feier.59 Die Rede wird von Textseg-
59 Beide Textteile geben ausgezeichnete Beispiele für die Handhabung der Zeitverhältnisse ab, wobei der erste Varianten politischer Rhetorik des Kommunismus und der Zeit nach dem
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menten unterbrochen, die Brechungspunkte ausbilden, u. a. die Beschreibung des Kranzkuchens, bei der die Relationen des Jagdgelages zur „Friedenszeit“ betont werden, auf die auch die Metaphorologie von „anfachend“ oder die Einlassungen des Redepublikums verweisen. Der Konjunktiv der Rede mag auf den ersten Blick ein Hinweis auf die paradoxe Sprachlichkeit der politischen Rede als Propaganda sein, auf den Zweifel, der die Verlässlichkeit der Politik (der politischen Sprache), die pragmatische Rolle der Propaganda (die Organisation der Rettung nach dem Unfall) betrifft. Doch die Rede ersetzt, initiiert, verschiebt die Rettung nicht, sie kommt ihr nur zuvor, der die Rede haltende „Helt“ wirft sich selbst in die mörderische (und natürlich metaphorisch schwebende) Papierflut der Akten, sie stellt sogar eine Art Drehbuch der Rettung dar, das durch den Konjunktiv distanziert wird. Die Komplikationen enden hier jedoch noch nicht, denn das Drehbuch ist nicht einfach ein Handlungsplan, es wird filmhaft inszeniert. Kamerabewegung, Ortswechsel, untermalende Musik, Soundeffekte, Figuren-Darbietungen, premier plan und Handlungsablauf, und was am wichtigsten ist: inszenierte Dialoge. Dabei bleibt die Kohärenz des Gattungsverweises erhalten, die Darbietung der Sprecherstimme ist „anschaulich und hörbar“, sie gibt das Wort aber nicht ab, die Wortmeldungen werden durch indirekte freie Rede dargestellt. Die Stimmen der Rede und der Film, den sie evoziert, werden vom Lärm und den Gesprächen des Redepublikums unterbrochen, bzw. begreift eine andere filmhafte Inszenierung die durch die Rede vorgestellte Rettung in sich ein, die den Sprecher und die Zuhörer (auf dem Gelage) sichtbar macht. Diese ineinander weisende heteronome Szenerie der Präsentation wird von einem einzigen Satz in die extrapolierende Bewegung von Materialität und Textualität zurückverwiesen. Die Daten über die Rettung – die Lage der Papiere, die Atmosphäre in der Abteilung, die Bohrungen, pro Person aufgeschlüsselt, etc. – würden beim Genossen Generaldirektor zusammenlaufen, auf einem Display. Nicht auf dem Display, flüstert jemand. (116)
Die metaphorologische Bewegung von ‚Bohrung‘ und ‚Atmosphäre‘ ermöglicht, dass sie gleichzeitig die Kulissen-Elemente der zu Rettenden und die diskursiven Relationen der Rettung bezeichnen, und, was noch wichtiger ist, den Unterschied zwischen den beiden. Die schwindende Luft verweist auf die im Bergwerk Erstickenden, die Bohrung ist gleichzeitig Auslöser des Unglücks (die Bohrung war nicht genehmigt) und Methode der Rettung. Währenddessen wird
ungarisch-österreichischen Ausgleich 1867 in die Thema-Horizont-Bewegung (Wolfgang Iser) einbezieht, während der zweite die Zeitverhältnisse des heilsgeschichtlichen Narrativs kommunistischer Semantik in einigen Zeilen verdichtet.
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der Charakter des organisatorischen, anleitenden Diskurses vom (unmoralischen, ausgewiesen nicht-dialogischen) Konflikt zwischen den Personen gekennzeichnet, ihren eigenen ‚Bohrungen‘: der (guten oder schlechten) Arbeitsplatzatmosphäre (die dazu berufen ist, das Interpersonelle und das Diskursive zu kennzeichnen, das, was immer immateriell ist). Die Situation der Papiere verweist auf die ausgewiesen fiktive Papierflut des Unfalls, auf die materielle Überschwemmung der ungelesenen, unlesbaren Papiermasse, die eine Auswahl und ein Lesen unmöglich macht. Bei alldem läuft der Mechanismus der Datensammlung, dessen Überproduktion das Unglück hervorgerufen (und seine Umgestaltung, Dematerialisierung, Informatisierung verhindert) hat, aber weiter, die Rettung aus der Papierflut produziert Daten, die dem Generaldirektor nicht auf einem Display (sondern auf Papier) zufließen („Auf seinem Tisch viele Bücher, Papiere [. . .] Zuoberst P. J. Probys Bergbaukunde.“: das Szenario und die ironische Kopie des Haupttextes). Die durch das Drehbuch evozierte Rettung und das Papier, das jenes provoziert und gleichzeitig aufbewahrt, werden in den Räumen, die die Textbewegungen hervorgebracht haben, untrennbar miteinander verwoben. Die filmhafte Inszenierung in Ein Produktionsroman hat nur in diesem textuellen Raum einen Sinn, der von Mechanismen zerschnitten wird, welche die Bildschöpfung untergraben. Das ‚Display‘ wird zur Allegorie und zum Vollstrecker dieser textuellen Sichtbarmachung. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes war ‚Waren oder Gegenstände so auszubreiten, dass sie gut sichtbar sind‘, daher stammen auch ‚ausdrücken, demonstrieren (Empfindungen, Eigenschaften)‘; das ‚Anzeige eines elektrischen Gerätes‘, das im allgemeinsprachlich-fachsprachlichen Kontext das einzige Signifikat des ungarischen Sprachgebrauchs sein kann und auch hier primär diese Bedeutung hat, ist die letzte Falte in diesem Bedeutungsgewebe.60 Der Akt der Präsentation, der zugleich auch die Geste der Literatur ist, ordnet Elemente (auf einer flachen Oberfläche) mit dem (ökonomischen) Ziel an, dass sie attraktiv für jemanden seien. Dabei verfälscht die präsentierende Geste des Mediums aber die Ware, jeder ausgestellte Gegenstand ist eine stofflich abweichende Kopie, die ihre Stofflichkeit anderen überlässt und von anderen borgt. Das ist die gemeinsame Erfahrung des Bildschirms als eines verschwindenden Aufscheinens, der bedruckten Seite61 und des Zelluloidstreifens.62 Und gleichzeitig handelt es sich doch um eine isolierte Erfahrung, denn in der Literatur – und Ein Produktionsroman ist dafür ein eminentes Beispiel – schreibt sich, anders als in
60 Display wird üblicherweise dem Wortstamm des französischen ply zugeordnet, dessen Bedeutungen sind u. a. ‚Falte, Knick, Gewebe‘. Vgl. The Oxford English Dictionary. 61 Vgl. das Spiel mit dem Wortglied Seite im Roman. Derrida: Specters of Marx, 125. 62 In Verbindung mit dem Verhältnis von Papier und Bildschirm vgl. Derrida: Das Papier oder ich, 226.
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den optischen Medien, die gesamte Bewegungsordnung wieder in eine instabile zyklische Textualität ein: die sichtbar gemachte Mechanik des Gewebes.
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Die Kunst, Fliegen zu fangen: Textualität, Aleatorik und Redehaftigkeit (Zu einer Neulektüre des Produktionsromans) Während textnahe Analysen in der ausgedehnten Rezeption des Produktionsromans1 (immer noch) nur einen kleinen Anteil einnehmen, hat Gábor Palkó im Zusammenhang mit dem ersten Teil des Romans darauf hingewiesen, dass zwar „das – parodistische – Verhältnis zum Produktions- oder Werkroman üblicherweise für bare Münze genommen wird“, in Wirklichkeit jedoch „das einzige eindeutig identifizierbare Zeichen dafür der Werktitel selbst [sei]; im Text finden sich nur sehr wenige Hinweise“.2 Der erste Teil des Produktionsromans ist über die Vielzahl der im Text aktivierten literarischen Gattungen (Operette, Hollywood-Heldenstory usw.) und die Bedeutung der phrasematischen Organisation hinaus – bzw. mit ihnen zusammen(wirkend) – so gestaltet, als ginge es in ihm um die Rhetorik an sich, in thematischem Sinne und zugleich als Prinzip der Textorganisation. Das Besprechen, Diskutieren der Dinge, das Aufeinanderprallen der Argumente als verbaler Streit bzw. Kampf in Versammlungen an der Arbeitsstelle oder im Parlament werden hier erzählt, als spielten sie sich nicht in den Dimensionen der Rede bzw. als diskursive Akte ab, sondern auf der konkreten Ebene körperlicher Handlungen bzw. physischer Aktionen ab. Die für die rhetorischen Akte verwendeten rhetorischen, also figurativen Formeln gewinnen im Text sozusagen wörtliche Bedeutung, und die metaphorische Gültigkeit des Kampfes und der Schlacht wird als eine Art katachretische Kraft, in ihrer mimetisch-literalen, weltschaffenden Funktion wirksam. Diese spezielle rhetorische Strategie des ins Wortwörtliche gewendeten Figuralen bewegt den Leser, die dargestellte Welt des Textes wiederum in Ereignisse der Rede, in verbales Geschehen zu transformieren, was zugleich die erzählten Ereignisse und ihre Erzählung, also die Region des Außertextlichen und dessen, was „diesseits“ des Textes ist, „textualisiert“. Diese Rücktransformation kann jedoch, gerade weil der rhetorische Code unausgesprochen und also relativ
1 Esterházy: Termelési regény; ders.: Ein Produktionsroman. Dieser Ausgabe folgen die Angaben in Klammern im Fließtext. 2 Palkó: „A malheur kisssértete“, 183. Übersetzung: Deutsch von Christina Kunze. https://doi.org/10.1515/9783110618082-008
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bleibt, kaum restlos vor sich gehen; zwischen Wörtlichem und Figurativem, Körperlichem und Geistigem, Sprachlichem und Außersprachlichem kommt ein Gleiten, ein Oszillieren ins Spiel, zu dem die ironische Modalität genauso beiträgt wie die phrasematische Textorganisation, wobei letztere den Leser in den meisten Fällen mittels kontaminativer „Sprachzerstörungen“ der Phraseme und sonstiger geplanter Bildstörungen an die Rhetorisiertheit des Textes und das Gesetz der doppelten Kodierung erinnert. „Tomcsányi läuft aufgeregt auf dem Flur des Instituts auf und ab, wo sich erst vor kurzem der Nebel und der Kaffeegeruch verzogen haben.“ (12) – Mit diesem Satz beginnt das II. Kapitel des ersten Teils; hier erscheint die natürliche Wendung („hat sich der Nebel verzogen“) durch den inadäquaten Schauplatz (Flur des Instituts) künstlich und von der Mimesis der Referenz an die Textualität der Rede zurückverwiesen. Diese Bewegung, die durch die semantische Inkongruenz des an dieser Stelle sowohl für den Nebel auch für den Kaffeegeruch verwendeten Verbs „felszáll“ verstärkt wird: Wird dies über den Nebel ausgesagt, verschwindet er aus der Luft, der mit demselben Verb verbundene Kaffeegeruch hingegen „erscheint“ ebendort, wenn auch unsichtbar. Ebenfalls im II. Kapitel, gegen Ende, heißt es: „Der Genosse Generaldirektor erhebt sich und ergreift das Wort. Er blutet aus mehreren, einander diametral widersprechenden Wunden.“ (25) Der Leser muss sich hier an die Unterüberschrift des I. Kapitels erinnern, dass der Generaldirektor „Drillinge ist“. Dieser Ausdruck lässt sich als „einer von dreien“ verstehen, kann aber auch für eine Person verwendet werden, die sich auf drei (äußere) Doppelgänger oder – was nicht dasselbe ist – drei (innere) Persönlichkeiten verteilt (konkret: drei Körper mit einer Seele bzw. ein Körper mit drei Seelen, was auch in der Struktur von „derweil sich seine Persönlichkeit gerade spaltet“ widerhallt). Dies wiederum spiegelt sich in der unentscheidbaren Referentialität der grammatischen Spaltung von Esterházy und Eckermann, vom Meister und vom Chroniker, doch man kann natürlich auch an die Struktur des Zwillingsromans denken. (Auf die Bedeutung des Zwillingsmotivs wird später, im Zusammenhang mit einer anderen Passage, zurückzukommen sein.) Das vielschichtige Vibrieren zwischen Physikalischem und Geistigem wird durch die zitierte Tatsachenfeststellung weiter kompliziert, die nach der „Schlachtszene“ des ersten Kapitels im Zeichen der erwähnten Dualität von verbaler und körperlicher Schlacht erklingt. Die wörtliche Bedeutung des Ausdrucks „er blutet aus mehreren Wunden“ wird durch die unentscheidbare (anders gesagt: geteilte) Geteiltheit komplex gemacht, während sich der phrasematische Sinn der Wendung mit Bezug auf die schwachen, (weil) „einander diametral widersprechenden“ rhetorischen Argumente des Generaldirektos verstehen lässt, wo im kontextuellen Zwang der Schlachtszene und der mehrfachen Doppelgänger
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auch die wundenschlagende Literalität des Adjektivs „szöges“3 aufgerufen wird und die wortgetreuen Bedeutungsbezüge des Ausdrucks „er blutet aus mehreren Wunden“ wieder verstärkt werden, die sich so auflösen und zugleich ihren Wendungen ins Figurative widersetzen. Das folgende Beispiel stammt aus dem Teil des III. Kapitels, in dem Tomcsányi die Sportzeitschrift, also die Népsport (Volkssport) liest. Hier birgt die Beschreibung der durcheinander geratenen Seiten der Zeitung ebenfalls selbstrepräsentative Möglichkeiten; eine Schlagzeile lautet: „Der verleidigte Ausputzer“ (30)4. Das Bedeutungsfeld des Verletzten und Beleidigten, also des körperlich und seelisch Verwundeten oszilliert auch in dieser Formel. Der Satz „Genosse Szervácpongrácbonifác steht turbulent auf und gibt einige energische, richtige wie falsche Anweisungen.“ (116) (Hervorh. T.B.) steht im VIII. Kapitel, und die Inkongruenz zwischen der Bewegtheit des „turbulent“ und der Statik des „steht auf“ verweist wiederum auf die (konsequente) sylleptische Repräsentation der physischen und verbalen Handlung innerhalb des Romans. All diese rhetorischen Orientierungen lenken die Lektüre des Textes, der sich aus verschiedenen Welten, Raumzeiten, der Projektion des Imaginären und des Realen aufeinander organisiert, in Zusammenwirken mit seinen sonstigen Techniken und apostrophischen Elementen, die mit dem Schwingen der Semiose in jedem literalen Element der erzählten Welt – auf die Weise des erwartbaren Unerwarteten – eine figurative, selbstrepräsentativ-rhetorische Perspektive eröffnen können. Diese wenigen, etwas behelfsmäßigen, (weil) aus dem Zusammenhang gerissenen Beispiele konnten vielleicht etwas von der Funktionsweise der mit der derhetorisierenden Kraft der Literalisierung rhetorisierten Rhetorik im ersten Teil des Produktionsromans demonstrieren, dessen Rhetorizität also in der Unentschiedenheit von Rhetorischem und Nichtrhetorischem und in deren reichhaltiger Ausnutzung liegt. Wichtig ist dabei, dass der erste Teil des Produktionsromans auch den genauen intertextuellen Kode dieses Verfahrens anzugeben scheint, noch dazu in einer Reihe von Hyperbeln aus den parlamentarischen Berichten oder Skizzen des Schriftstellers Kálmán Mikszáth, die im VI. Kapitel ausführlich, ungekennzeichnet und doch gut erkennbar zitiert werden und die von den Ereignissen des Parlaments vor der Jahrhundertwende berichten, indem sie die Redner ebenfalls als kämpferische Streiter und ihre Redebeiträge als Kämpfe und Schlachten inszenieren.5 Durch die Gestalt des redegewandten Politikers Albert Apponyi, der
3 Übersetzt mit „diametral“; im Ungarischen klingen hier spitze Winkel und die Dornen des Stacheldrahts mit. 4 „A lesértődött beállós“ (28). 5 „Die Blätter sind voll mit Kombinationen. Die ‚starke Hand‘ bereitet sich auf die Wahlen vor, sagt man, und vervielfältigt sich. So viele Namen werden lanciert. Ich habe heute Wlassics gesehen, und ich kann sagen, seine Stirn war düster. Hm. Sapristi, das ist interessant. Wir teilen
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auf dem Flur des Instituts für Rechentechnik auftaucht und in einen Wettstreit mit Dezső Szilágyi eintritt, wird die Raumzeit der parlamentarischen Diskussion anschaulich mit derjenigen der Versammlung am Arbeitsplatz verbunden. Die Schlachtszenen in der Beschreibung letzterer werden meist mit Textstellen in dem Roman Egri csillagok in Verbindung gebracht, keineswegs unbegründet, aber entlang den Gattungsmerkmalen des komischen bzw. satirischen Epos wurde auch auf die alludierte Gegenwart von A nagyidai cigányok hingewiesen.6
deine Ansicht nicht. Es ist mir nicht möglich, den General in dieser Frage zu unterstützen. Szilágyi . . .! Szilágyi wird reden. Szilágyi hat sich von der Tafel wischen lassen. Wo ist Szilágyi? Der General ist wütend. Eine große Sache ist im Werden, der General stopft seine Kanonen . . . stopft sie kräftig. Wir teilen deine Ansicht nicht. Ich werde nicht dafür stimmen. Es klappt, das klappt!“ (74) „Ich habe Szilágyi heute gesehen, und ich kann sagen, seine Stirn war düster. Er wird reden. – Szilágyi hat das Trikot angezogen, sagt man hier dazu. – Er wird wenig Schwung haben, wenig Kolorit; doch einer, der über große Macht verfügt, ist gefährlich, denn aus den Sophismen kann er Folgerungen ziehen, wie es ihm gefällt. Bringt seine Partei auf, zerbricht seinen Gegner; wie der Schwarze Milan. Zwickt oder pickt mit dem Schnabel in einem fort. Schnappt sich ein Mamelucken-Küken, hebt es in die Luft und lässt es in der Höhe los. Hei, seine gewaltige Figur, seine gewölbte Brust, sein Löwenkopf! Groß, unabhängig, kühn und frei ist er, wie es sich für das Gewissen der Nation gehört. Und wenn er sich abends, erschöpft, in der Gesellschaft von Freunden, da das Thema ausgegangen ist und die bekannte, drückende Stille sich eingestellt hat, wie sie häufig ist am weißen Tisch, wie ein Adler, der auf Beute lauert, an Darányi wendet: Náczi, mein Lieber, komm, behaupte etwas. (Was so viel heißt, Náczi, mein Lieber, du kannst alles auf der Welt behaupten, was du willst, mir ist das ganz egal, ich werde deine Behauptung in einem eine Stunde dauernden, interessanten, genüsslichen Diskurs zerschmettern.)“ (76) Obgleich hier kaum darauf eingegangen werden kann, sei doch angemerkt, dass die hier zitierte Textsequenz von Mikszáth selbst dem erzählten Ereignis von dem Falken, der auf die Brieftaube mit dem ominösen Aufsatz niederschlägt, eine figurative Perspektive geben kann, mehr noch, selbst die machtpolitische Metapher von der Selbstvervielfachtung („Die ‚starke Hand‘ bereitet sich auf die Wahlen vor, sagt man, und vervielfältigt sich.“) kann in dem Roman, der mit der Doppelgängertechnik operiert, eine komplexe Funktion finden. Noch ein denkwürdiges Beispiel: „Irányi wird reden (er organisiert ein Tugendkomitee und rezitiert seine edlen Chriae), Ugron wird reden (er tätigt einen vehementen Ausfall, aus medizinischen Gründen, damit er ein wenig ins Schwitzen kommt), Szilágyi wird reden (er analysiert, schält heraus, argumentiert, verbindet, schlägt kurz und klein), Apponyi wird reden (ernst, würdevoll, mit mächtigen Schritten, glatt dringt er auf seiner ‚englischen Promenade‘ vorwärts, es gibt auch Blumen auf dem Weg, aber in Maßen, auch Dornen, aber nur zur Dekoration), Tisza redet, zerbricht die Eier des Gegners, aber er brät keine Eierspeise oder Omelett aus ihnen, um seinen Braten damit zu garnieren. Er zerbricht sie nur. (Ivor Kaas hat gesagt: eine Lüge. Wir sagen dasselbe wie Ivor Kaas. So wie Groß und Klein im Hause weiß, alle wissen sehr wohl, dass es eine Lüge ist . . . aber sie haben dafür gestimmt. Und keiner wurde rot dabei . . . keiner. Was können wir tun? Legen wir die Feder aus der Hand.)“ (85). 6 Egri csillagok [Sterne von Eger], 1899, Roman von Géza Gárdonyi über die Belagerung der Burg Eger durch die Osmanen, A nagyidai cigányok [Die Zigeuner von Nagyida], 1851, Heldenepos von János Arany über die Einnahme der Burg Ida durch die (österreichisch-)kaiserlichen
Die Kunst, Fliegen zu fangen: Textualität, Aleatorik und Redehaftigkeit
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Auch der Roman Új Zrínyiász könnte als Prätext relevant sein, insbesondere, wenn man die komplexe Rolle von Mikszáth im Roman berücksichtigt (auf die später noch zurückzukommen sein wird).7 In der Új Zrínyiász erwachen Miklós Zrínyi und seine Gefährten zum Leben, als das Heldenepos Szigeti veszedelem [Der Fall von Sziget] des gleichnamigen barocken Schriftstellers und Kriegsherrn, des Enkels des Helden, dreihundert Jahre nach dem in ihm erzählten heldenhaften Ausfall in Szigetvár auftaucht. Im Ungarn des Ausgleichs, in der liberal-demokratischen Welt der parlamentarischen (Redner-)Kämpfe und Pressefeldzüge, erwerben sich die gewaltsamen Helden der Kriegervirtus skandalösen Ruhm, weil sie ihre Konflikte mit dem Schwert und nicht mit der Waffe des Wortes austragen. Sie vernichten ihre Feinde nicht mit Tiraden, sondern spießen sie im wahrsten Sinn des Wortes mit dem Schwert auf; wonach auf die zeitgenössischen Redner im Parlament die Aufgabe wartet, diese kriegerischen Taten in einem Wortgefecht zu bewerten und zu bestrafen oder einzuebnen. Während Mikszáth die transzendente Schicht des barocken Epos ironisch zitiert und so eine „Erklärung“ für die Auferstehung der toten Helden liefert, lässt Esterházys Roman die untersetzte Figur von Kálmán Mikszáth im Budapest der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ohne weiteren Kommentar auftreten und schafft damit (allerdings auf andere Weise) eine ähnliche Durchlässigkeit von biografisch-historischer Raumzeit und fiktionalem Werk, wie es die Új Zrínyiász oder Két választás Magyarországon [Zwei Wahlen in Ungarn] mit einer Reihe von historischen Darstellern und Ereignissen der Parlamentarischen Mitteilungen und Parlamentarischen Skizzen tat. Der Romantext, der mit den erwähnten Verweisen seine eigene Rhetorizität thematisiert, lässt sich weder dem konstativen noch dem performativen Aspekt der Rede eindeutig zuordnen, er inszeniert seine fiktiven und wirklichen, inner- und außertextlichen, dies- und jenseitigen Relationen auf außerordentlich komplexe Weise. Die Redehaftigkeit des Textes äußert sich auch darin, dass er sich weder als Sprache noch als eine durch diese Sprache zitierte Welt stabilisieren lässt, beziehungsweise darin, dass – und das ist mindestens genauso wichtig – die angelegte Natürlichkeit der Rede dazu beiträgt, dass die Bindungen des Textes mit seinem eigenen Äußerlichen sich nicht auf die Leistung der Intertextualität beschränken, die den Index der Literarizität verstärkt, und ebensowenig auf die nicht hinterfragte (Selbst-)Affirmation der Literarizität. So wird es möglich, dass das selbstinterpretierende Potential des Textes, der in erster Linie einer literarischen Lektüre
Truppen durch Ausnutzung des schildbürgerlichen Verhaltens der Verteidiger; beide Werke sind Pflichtlektüre in der Schule, so dass ihre Kenntnis vorausgesetzt werden kann. (Anmerkung der Übersetzerin). 7 Új Zrínyiász [Neue Zriniade], 1898, satirischer Roman von Kálmán Mikszáth.
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adäquat zugänglich wird, auch die Infragestellung der Literarizität, des Literaturcharakters, enthält, einschließlich der freigesetzten Koinzidenzen von Literatur und Leben, Literatur und Außerliterarischem.8 Die Verflechtungen des Produktionsromans mit dem Mikszáth’schen Korpus als seinem bestimmendem Intertext können im Lichte des Gesagten für das Denken der handelnden und zum Handeln anregenden Kraft der Sprache, der Relationen von Sprache und Literatur, Literatur und Politik ebenso vielsagend sein wie – nicht unabhängig davon – für die Interpretation des Verhältnisses von sprachlicher und körperlicher Gewalt, von sprach8 Es reicht, hier an die doppelte Wertung des Papiers in der derhetorisiert rhetorisierten Welt des ersten Teils des Produktionsromans zu denken: Das Papier als Medium der überaus wertvollen Studie, die Tomcsányi für die Reformierung der Produktion braucht, und das Papier, das wie bei einem Grubeneinsturz das Büro überflutet, es versperrt und dabei Leben bedroht. Hier soll die Serie von Ereignissen um Tomcsányis Entkommen und Tod zitiert werden, die wegen der sylleptischen Leistung der Ausdrücke mutatás und kimutatás [letzteres im Deutschen als „Aufstellung“ wiedergegeben] unentscheidbar zweideutig (sowohl wortwörtlich als auch verbal-rhetorisch, referenziell und selbstreferentiell) bleibt: „Aber auch das Leben der anderen währt nur noch wenige Minuten. Tomcsányi nähert sich mit großer Geschwindigkeit. Wird es gelingen? Es muss gelingen!!! Wortlos weiter. Da erblickt er etwas, eine seltsame, dunkle Masse. Aber das sind doch die Aufstellungen! Alle auf die Dämme! Er zieht und zerrt an den Aufstellungen, die äußeren gehen leicht, weiter innen wird es schwerer. Mit einem langen Stock sprengt er die Büroklammern ab. Drei, vier bleiben zurück, übereinandergefallen. Dorthin kommt man mit dem Stock nicht. Was nun? Man muss sich hindurchzwängen. Tomcsányi zwängt sich hindurch. Schon steckt er mitten in den vielen Aufstellungen, Zahlen, Worten, Diagrammen, Formeln, über Menschen, über Maschinen – über uns. Er streckt die Hand aus. Aber die Armlänge, die menschliche Armlänge ist zu kurz. Die Klammer – zu weit. Tomcsányi verlängert seinen kurzen Arm mit einem schicksalsvollen, erhabenen Schritt. Erreicht das oberste Dossier, stößt es hinunter.“ (123) Zwei Seiten später lesen wir, ohne jeglichen Übergang, über Tomcsányi: „Tomcsányi beugt sich über seinen Schreibtisch“ (125), ein wenig später jedoch, im IX. Kapitel, ebenfalls übergangslos: „Wir treten an die Bahre. Dort liegt also Imre Tomcsányi. Sein Blut malt im Sonnenlicht hellpurpurne Flecke.“ (132) Das im Roman ironisch und immer wiederkehrend auftauchende Fachbuch, die (fiktive) Arbeit Bergbaukunde [ungarisch: Bányaműveléstan] von P.J. Proby – über deren Verfasser Gábor Palkó herausgestellt hat, dass er als zweit- oder drittrangiger Beteiligter der amerikanischen Unterhaltungsmusikszene (begrenzt) bekannt geworden ist, dass es sich also um den Namen bzw. das Pseudonym eines „in Texas geborenen Sängers und Skandalhelden der B-Kategorie“ handelt – kann nicht nur, wie Palkó feststellt, im Bezug der Handlungsverhältnisse des Romans und der materiellen Verhältnisse der Produktion aufeinander die Funktion der mise-en-abyme erhalten (vgl. Palkó: „A malheur kisssértete“, 180–181), sondern mindestens ebensosehr im Zeichen der Rhetorik der Rhetorik, insofern die Wörter bánya [Bergbau] und művelés [Kultur/Pflege], aus denen der ungarische Titel des Fachbuches zusammengesetzt ist, in einer von demjenigen – oben als zweideutig bewerteten, als ambigue herausgestellten – Vorstellungsbereich provozierten Weise auf Esterházys Praxis der Förderung von Sprach-, Bildungs- und Kulturschätzen, seine sich im Wesentlichen auf die literarisch-kulturelle Tradition verlassende Schreibweise verweisen können, in der zugleich keine (vorab fixierte) Werthierarchie zwischen den literarischen und den umgangssprachlichen oder nicht-literarischen Registern zustande kommt.
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lichen und außersprachlichen Ereignissen. Der Kommentar zu den Passagen über das Treffen und die Dialoge von Meister Esterházy und Herrn Mikszáth bietet die Gelegenheit, diese Fragen kurz zu berühren. Aber eine wichtige Rolle kann auch die im Produktionsroman inszenierte, hinterfragte, aktivierte, thematisierte, affirmierte und abgelehnte, ausgenutzte und ausgeschlossene Zeit der Mikszáth-Passagen haben, auch in der Interpretation der komplizierten Arbeit der Zeitlichkeit, auf die die Rezeption des Romans verständlicherweise nur mit gesteigerter Vorsicht und Gründlichkeit eingegangen ist und die sich unter anderem auch nicht von den deiktischen und evokativen Momenten der Sprache, von den Erscheinungen der Wiederholung, der Spukhaftigkeit und Aufschiebung oder Differierung trennen lässt. Kommen wir zu den unterschiedlichsten Signalen für die Tendenz des Produktionsromans zur Selbstrepräsentation zurück. Hier folgt eine Passage aus dem ersten Teil, die zugleich bereits weiterführt zu einer Reihe von Beispielen aus dem zweiten, der den Titel E.s* Aufzeichnungen trägt. Über das zugleich figurative und Wortgefecht heißt es im II. Kapitel: Tomcsanyi wischt sich die verschwitzte Stirn. Darf ich was fragen, ruft er. Nein, aber nein. Das geht nicht so aus dem Stegreif. Das muss man vorbereiten. Denn, wenn wir es nicht vorbereiten, sage ich, eventuell, hahaha, etwas anderes, als was meine Meinung ist. Ich kann auch nicht immer alles wissen. Und wissen Sie, junger Kollege, Brandhuber schaut Tomcsanyi scharf an, wissen Sie, Ihrer Frau können Sie was anderes sagen. (20)
In dem Dialog geht es vor allem um die Unplanbarkeit des Redeereignisses, die die Absicht des Sprechers durchkreuzt, aber dies wird durch die Aktivierung widersprüchlicher semantischer Prozesse umgesetzt. Die Konstruktion „sage ich [. . .] etwas anderes, als was meine Meinung ist“ bedeutet im durchpolitisierten Forum der Sitzung am Arbeitsplatz soviel wie: Ich sage etwas anders als die Meinung, die ich laut dem kontrollierten – nota bene bis zu Kontakten am Arbeitsplatz und mit Freunden beobachteten – ideologischen Unterdrückungsmechanismus der Öffentlichkeit vertreten muss, was in „meine Meinung“ einschreibt, dass diese etwas anderes ist als meine Meinung. (Die Wendung „Ihrer Frau können Sie was anderes sagen“ verweist auf den Unterschied zwischen der privaten, geheimen, und der öffentlichen Situation, dies erreicht sie durch die Verschiebung der pragmatischen [Bedeutungs-] Möglichkeiten der sprachlichen Wendung: Dass der Frau was anderes gesagt werden soll, kann sich nicht einfach auf die vorherige, in Inversion stehende Meinung beziehen, da sie nicht das Verschweigen einer Meinung, sondern eines geheimen Geschehens benennt.) So wendet sich die Bedeutung der Konstruktion in eine ironische Inversion und sagt in Wirklichkeit: Wenn ich mich nicht informiere, was meine Meinung ist (bzw. sein soll), sage ich vielleicht meine Meinung. Die ironische Konstruktion inszeniert zugleich das, worüber sie ironisch
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spricht, denn sie beruft sich auf die Dissimilation vom Eigenen (auch von der eigenen Meinung), auf deren Möglichkeit („sage ich [. . .] etwas anderes, als was meine Meinung ist“). Über den politischen Beispielwert der Janusgesichtigkeit des sozialistischen Sprachgebrauchs hinaus bekommt die Replik des Genossen, insbesondere unterstützt von den aufeinander projizierten Formeln von Fußball und Rhetorik (Stegreif 9, vorbereiten), allgemeine selbstrepräsentierende Gültigkeit, die sich dem selbstinterpretativen Imperativ des Zusammenwirkens mit der unbeherrschbaren Sprache, dem bewussten Angewiesensein auf den unplanbaren (Eigen-) Prozess der Rede und schließlich der durch Verzicht zurückgewonnen Kontrolle zuordnen lässt. Dem Imperativ, der zahllose Textstellen von E.s* Aufzeichnungen für die Bewegung der Selbstrepräsentation öffnet, von denen hier zwei besonders denkwürdige herausgehoben werden sollen: die Passagen über die im Sakko angesammelten Kürbiskerne10 und über den Fliegenfang, die im Roman 9 Im ungarischen Text steht an dieser Stelle „kapásból“ das auch im Sport als Terminus verwendet wird, wo es etwa einen Schuss aus dem Stegreif bezeichnet. 10 „Er versenkte, wie es seine Gewohnheit war, zwei Papiertüten in den Taschen seines fischgrätgemusterten Sakkos. (Eine Frau hatte einmal gesagt: ‚Sakko, zur Jeans?‘ Damals lachte er darüber, aber später ging er Frau Gitti lange nach: ‚Was hat sie gemeint, was meinst du?!‘) Diese seine Angewohnheit – die Tüte nämlich – machte ihn im Kreise der Kernverkäufer nicht anziehend. Der Grund für diese Extravaganz ist nicht etwa in irgendeiner Zimperlichkeit zu suchen, so was ist nicht typisch für ihn (schon bei den Eltern kann man den Mangel dieser Eigenschaft ertappen, in ihrer Emsigkeit), es war auch keine Feinschmecker-Macke, denn was für eine edle Überraschung ist es, wenn später die selbstvergessen kramende Hand aus der Symbiose zwischen Schlüssel und klebrigem Taschentuch unerwartet einen knusprigen, braungebrannten Kürbiskern hervornestelt, damit aus der Schale, geschickt mit den Zähnen geknackt, der Körper, der Kürbiskernkörper, quasi von selbst herauspurzle und lange auf der sinnlichen Zunge ruhe. (‚Pfui.‘) So etwas Unerwartetes gibt es im Falle der Papiertüte nicht; entweder gibt es einen Kern oder nicht. (Die Tüte könnte eventuell reißen: aber dann steht Ärger Auge in Auge mit der soeben beschriebenen Freude.) Was ist es also, das ihn zur Inkaufnahme dieses Negativums veranlasst, ohne jedes Positivum? Das Loch. Frau Gitti ist eine gute Frau, tüchtig. Doch diese Sakkos und Überröcke haben mittlerweile ein Jahrzehnt auf dem Buckel! Der Meister hatte sie noch vor seiner Sperre aus der anderen Hälfte der Monarchie mitgebracht, aber dann, nicht wahr, die Musterung, die Entscheidung Herrn Mihálys: was blieb, war der sozialistische Block! Sakkos wären natürlich auch dort, unser Vaterland inklusive, zu haben gewesen! Aber er wollte nicht. Also zerfaserten, zerfielen die Taschen, die arme Frau kam mit dem Flicken und Nähen kaum hinterher. Ein Loch, in seiner Ganzheit, Beweisbarkeit, kam nicht oft vor, eher selten. Aber die Gefahr ließ ständig ihren Drachenkopf dort weiden. (‚Kleingeld, aus dem Futter geklaubt! Das ist eine saubere Sache . . . Und warum wohl am häufigsten ein Zweiforintstück?!‘) Deswegen musste er das Manko auf sich nehmen, wegen der ständigen Chance. Er machte der Frau deswegen keine Vorwürfe, nein, nein, niemals. ‚Wo ein Loch ist, ist auch ein Weg.‘, sagte er lieber ohne Groll und drehte seinen Zeigefinger ‚erotisch‘ im Loch, wovon dieses sich weitete: nun war es also ganz bestimmt ein Loch. Denn das ist permanent fraglich: Vielleicht ist nur die Naht ein wenig eingefallen? Vielleicht. Wenn von diesen
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zehn Seiten voneinander entfernt stehen. Der Genuss an dem Kürbiskern, der später unerwartet aus dem Sakko zum Vorschein kommt, und das Moment seiner Berührung mit der Zunge11 lassen eine Andeutung auf die so gefundenen Worte ahnen, auf deren Vorteil der Meister wegen des kernverschlingenden Lochs verzichten muss, ein Nachteil, den er mit den Tüten auszugleichen versucht, was auf eine Formel über den durch Verzicht errungenen Gewinn hinausläuft: „Deswegen musste er das Manko auf sich nehmen, wegen der ständigen Chance.“ Eine noch anschaulichere und mehrschichtige Selbstrepräsentation produziert die Geschichte vom Fliegenfangen; die phrasematische Dimension und romanhafte – beinahe unbeherrschbare – motivische Ausbreitung lässt die Passage zu einem bedeutenderen, inventiösen Textereignis werden. Der Meister entschied sich wegen des Heppiends für die äußere Spur. „In solchen Momenten ist es bedauerlich, mein Freund, dass keine Fliege in der Nähe ist – auf dem Steiß des Pferdes oder anderswo –, ich könnte eine Fliege mit einer Klappe schlagen.“ Oftmals hatte er mit seiner Kunst des Fliegenfangens geprahlt, welche er sich mit Kindesbeinen, während eines Aufenthaltes auf dem Dorfe, angeeignet hatte. Bei einer Gelegenheit erzählte er der englischen Königin mit großem Behagen und farbig, wie er bei einer anderen Gelegenheit 54 Stück Fliegen gefangen habe. „Wissen Sie, Mädschestie“, sagte Esterhazy zur Königin; über etliche Ecken waren sie sogar miteinander verwandt, „wissen Sie, man muss sich zwei Sachen merken. Die eine ist, dass man nicht zuschlagen darf.“ Die Königin starrte ihn ungläubig an. „Draufhaun. Auf keinen Fall. Das Ganze wäre keinen Pfifferling wert, Majestät, da allein schon die von der Handfläche erzeugte Luftbewegung die Fliege davonträgt; sie fliegt davon. So wird“, und hier verhärteten sich die Züge des Meisters, „der Eroberer zum Befreier seines eigenen Opfers.“ Die Königin nickte gnädig, den Spruch auf diese Weise goutierend. „Und das Ganze steht im Verhältnis zur Fläche, also ist es hoffnungslos. Die Fliege muss man mit einer sanften Bewegung aus dem Handgelenk fangen, als würde man nur so nebenbei in ihre Richtung abwinken. Komm, Freund Fliege, komm.“ Die Königin schaute den Meister an. „Khamm, Fraind Flieg, khamm?“ – „Genau, genau“, er schlug sich mit großer Freude in die Hände. „Du solltest auch lieber üben“, sagte Elizabeth rotwangig zum Thronfolger, „anstatt hier herumzuschmocken!“ – er schmockte nämlich herum. (165–166)
Im unmittelbaren Vorgeschehen der Passage versucht der Meister, der auf dem „Orlowschen Rappen“ (diese Struktur des willkürlich als Pferd bezeichneten Trabant appelliert ebenfalls an das Vibrieren zwischen Sprache [bzw. sprachlich-kulturellen Konnotationen] und Referenz) von Herrn Bangha, der auf der Pester Seite
gerösteten Kernen die Rede war, schmerzte ihn viel eher jene schmuddelnde Ungeschicklichkeit, die die Frau mit Zunge und Lippen unter dem Motto des Kerneknabberns manches Mal veranstaltete. ‚Mansch doch nicht so, um Gottes willen‘, sagte der Meister verzweifelt. Aber eine Ehe ist nun einmal voller Überraschungen, Überwindungen, Buckeln, Hohlkreuzen und natürlich Beugen, Beugen (‚im Kreis unseren eigenen Magen‘) . . .“ (176–177) . 11 „Zunge“ und „Sprache“ ist auf Ungarisch dasselbe Wort: nyelv (Anm. d. Übers.).
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(zufällig in der Straße König Lajos’ des Großen, benannt nach einem ungarischen König) wohnt, nach Hause zurückeilt, durch eine Spurwahl, deren Effizienz sich nicht vorausberechnen lässt, über die Brücke und von ihr herunterzukommen: dies aktiviert die auch phrasematisch lebendigen Vorstellungen rund um die Fliegen. Die oszillierenden Bedeutungsvorstellungen der Wörter vervielfachen zugleich die Möglichkeit der assoziativen Verbindungen: Die sich vor uns entfaltende Bewegung der zwischen den sprachlichen Registern lancierenden Rede, die ihr eigenes „Heppiend“ einem unkalkulierbaren Zusammenspiel, sprachlich nicht vorhersehbaren Ereignissen, anvertraut bzw. anvertrauen muss, kann sich schon an sich auf die Erörterung der Eventualität der Spurwechsel legen, die in geometrischer Sprache erfolgt.12 Der Verkehr zwischen den beiden Bedeutungsebenen des Stadtverkehrs und des Verkehrs in der entstehenden Sprache wird auch durch das mit den anschaulichen Details des Reitens dargestellte Autofahren gelenkt. Dass eine Fliege auf dem Schwanz des Pferdes vermisst wird, aktiviert auch das Bild des Reiters, der dem Pferd zur Beschleunigung auf den Hintern schlägt, aber das Fliegenfangen kann sich auch ironisch auf den verlangsamten Verkehr beziehen, es bietet sich als Zeitvertreib beim Warten im Stau an. Auch die Anekdote über das Fliegenfangen selbst kann – als eine doppelte mise-en-abyme – in diesem Reisebericht als eine solche gefangene Fliege in Betracht gezogen werden. (Sie schreitet gattungsspezifisch in Richtung der Pointe voran, dennoch wird sich diese nicht als das Wesentliche erweisen, denn wir werden sehen: Nicht so, also nicht direkt, zielgerichtet und mit einem lauten Schlag, sollte man Fliegen fangen) „Ich könnte eine Fliege mit einer Klappe schlagen“ kann sich auch hierauf beziehen, wobei die Klappe und der Schlag im Kontext des Weges durchaus eine horizontale Bewegung bezeichnen können (jemanden, etwas wegschlagen bzw. der (Schicksals-)Schlag als der Weg selbst, insofern „csapás“ beides bedeuten kann), also nicht unbedingt etwas Vertikales; dies könnte sich im Hinblick auf das Fliegenfangen und seinen Beispielwert noch als bedeutungsvoll
12 „Als er zur Brücke kam, hatte er ein Problem. Denn auf eine Brücke kommend bedeutet es immer ein Problem, in welche Spur man, das heißt der Meister, sich einreihen sollte. Denn es stimmt zwar, dass die äußere am Ende schneller ist, ebenso wie die innere am Anfang schneller ist, aber wo beginnt – Tag für Tag – der Anfang vom Ende und wo endet das Ende vom Anfang; und wenn das Ende vom Anfang der inneren zu Ende ist, bedeutet das, dass der Anfang des Endes der äußeren dort beginnt, ist es nicht eher so, dass dort, im Scherz gesprochen, der Anfang der Mitte ist, wo schon seit Ewigkeiten ein verlängerter Bus auf der Stelle tritt, oder nicht. Keine einfache Sache, so etwas.“ (166) In dieser Passage lässt sich die wörtliche Formel des Verkehrs zugleich auf den Verkehr zwischen Sprachen, Texten und Bedeutungen, Referenzen verstehen.
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erweisen. Die Wendung ist eine Umschreibung der Redewendung „zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, und dies lässt sich im selbstinterpretierenden Raum des Textes für die Permanenz der doppelten Bedeutungsebene ähnlich geltend machen wie – davon nicht unabhängig – für die Syllepsen, die den Text durchziehen und von denen (obgleich sie hier nicht kursiv hervorgehoben sind) es auch in dieser Sequenz „wimmelt“. Mit dem vibrierenden Spiel der Bedeutungsebenen projiziert der Text entfernte Lebenssituationen, Welten, Raumzeiten aufeinander und bringt sie miteinander in Berührung. Dies sind nicht zuletzt die Welt der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und die Zeit Mikszáths, also das Ende des 19. Jahrhunderts und die Jahrhundertwende, die vom VI. Kapitel im ersten Teil des Produktionsromans denkwürdig ineinander transformiert werden: Die Rede Kálmán Tiszas aus Mikszáths Parlamentsberichten geht in diejenige von Mátyás Rákosi über,13 wobei die Atmosphäre des Liberalismus mit der der kommunistischen Diktatur in Berührung gebracht wird. Dass sich Mikszáth vom Meister (und der Meister ähnlich von Mikszáth) angezogen fühlt, ist nicht unabhängig von dem genannten biografischen Ereignis aus seiner Kindheit: „Oftmals hatte er mit seiner Kunst des Fliegenfangens geprahlt, welche er sich mit Kindesbeinen, während eines Aufenthaltes auf dem Dorfe, angeeignet hatte.“ Hinter der mit neutralen Ausdrücken (einer Art von Verschweigen) heraufbeschworenen Erinnerung verbirgt sich bekanntlich die Geschichte der Deportation der aristokratischen historischen Familie in den 50er Jahren, noch dazu nach Hort in der Region Palóc, das in der Nähe von Mikszáths Herkunftsort liegt. Später lesen wir über die Begegnung zwischen dem Meister und dem palotzischen Märchenerzähler: „Der Meister war Herrn Mikszath schnell ans Herz gewachsen, was eine vehemente Beschleunigung erfuhr, als Herr Mikszath erfuhr, dass (auch) der Meister zuerst Palotzisch und dann erst Ungarisch gelernt hatte, dank des reinigenden Sturms der Geschichte.“ (357) Das Lernen von Fliegenfang und Sprechen fand parallel statt, was neue Gründe dafür liefert, diese beiden Tätigkeiten übereinander zu projizieren (die Konstruktion mit der „vehementen Beschleunigung“ kann dann eine Verbindung zum Kontext der Verkehrsszene signalisieren). Der frühere Satz, in dem die Prahlerei auf einen zum Vorteil umgemünzten Nachteil (das Lernen des Fliegenfangs) verweist, bringt auch die gewaltsame Erinnerung an den politischen Umsturz der gesellschaftlichen Hierarchie (Herr und Knecht, Eroberer und Eroberte) mit sich, die in der Anekdote vom Gespräch mit der englischen Königin – auf die schon die Formel „Heppiend“ am
13 Kálmán Tisza (1830–1902) war von 1875 bis 1890 Ministerpräsident Ungarns; Mátyás Rákosi (1892–1971), der sich als „Stalins bester ungarischer Schüler“ bezeichnete, war von 1949 bis 1956 Staatsoberhaupt der Volksrepublik Ungarn.
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Anfang der Sequenz vorausverweist – vom Horizont zum Thema wird. „Bei einer Gelegenheit erzählte er der englischen Königin mit großem Behagen und farbig, wie er bei einer anderen Gelegenheit 54 Stück Fliegen gefangen habe.“ Die Unterscheidung zwischen der Operationsreihe des Fliegenfanges und dem Sprechen über sie in einem in zweigeteilten Satz wird sylleptisch gerade durch die Wiederholung des Wortes „Gelegenheit“ überschrieben, während wir in umittelbarer Nähe des Ereignisses, das mit adverbialen Bestimmungen erzählt wird, die sich auf das Sprechen beziehen (mit großem Behagen und farbig), die Anzahl der Fliegen finden: 54, die vermutlich nicht nur die Aufgabe hat, die Monotonie des Fliegenfangens in einen Gegensatz zur späteren farbigen Narration zu stellen. Den farbig erzählten Fliegen entspricht die Zahl 54 vor allem so, dadurch, dass William Goldings bekannte, von Kindern (der Meister hat sich die Kunst des Fliegenfangens in der Kindheit angeeignet!) erzählende Robinsonade The Lord of the Flies 1954 erschienen ist, woran die 54 die englische Königin erinnern kann. In dem englischen Roman, der reichlich Verweise auf das Alte wie auf das Neue Testament enthält, ist der Herr der Fliegen der abgeschlagene und aufgespießte Kopf einer Muttersau, den Fliegen bedecken und umschwirren und der den onomatopoetisch gelesenen biblischen Namen Belzebub (Ba’al Zevuv) bekommt. Den durch die Fliegen und die Jahreszahl zitierten englischen Prätext macht Esterházys Roman auch kombinierbar mit der mitteleuropäischen (aus dem unteren Donauraum stammenden) Legende von den Golubacer „Fliegen“. Das anthropologische Gleichnis des Lord of the Flies wird außer durch den Fliegenfang in denjenigen Momenten des Produktionsromans heraufbeschworen, in denen der Meister oder seine Familienmitglieder die Verfolgung von etwas aufnehmen, um es zu töten: Das Erschlagen der für die Fischsuppe gefangenen Fische durch den Meister, die von Herrn György totgeschlagene Maus und damit die Mäuseverfolgung im Haus (die in einen komplexen Dialog auch mit der Erzählung Bericht über fünf Mäuse von Miklós Mészöly tritt), aber hierher lässt sich auch die Szene von Brieftaube und Falke im ersten Teil des Produktionsromans zählen, die – nicht nebensächlich – die Welt von Miklós Mészölys Hoher Schule zitiert (wo auf komplexe Weise die Verhältnisse zwischen dem Naturgesetz der Gewalt und der menschlichen Welt inszeniert werden), bzw. und nicht zuletzt die mörderischen Geschichten von Onkel Ödön und Jozef Veverka von der Front inmitten des familiären Vaudeville. Doch damit ist die Assoziationskraft der Zahlen noch nicht ausgeschöpft. Im Kontext der 50er Jahre und der an die englische Königin gerichteten Worte evoziert die Zahl 54 unwillkürlich auch das ungarisch-englische Fußballspiel (im Mai) 1954, bei dem die ungarische Elf – nach dem legendären 6:3-Sieg im November 1953 in England – die englische Auswahl mit 7:1 erledigte. Der fußballbegeisterte Meister stellt durch die Jahreszahl das Fallen der Fliegen und
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das Fallen der Tore unausgesprochen in eine Parallele14 und zitiert gegenüber der englischen Königin einen Schlag, eine Niederlage durch einen k.o. (-Schlag), aber es geht hier um noch mehr: Fußball und literarische Fiktion (die Anekdote, die auch Märchenklischees aktiviert, darin die staunende Ungläubigkeit der Königin bzw. die störungsfreie Restitution bzw. Kontinuität der in der Diktatur ausgelöschten bzw. unterbrochenen historisch-kulturellen, sprachlich-literarischen Erinnerung) lassen im Zeichen der Freiheit des Spiels den Freiheitsmangel sowie den gewaltsamen Entzug der gesellschaftlichen und politischen Freiheit während der kommunistischen Diktatur vergessen bzw. wenden ihn in einen Vorteil. (Ein Beispielwert und eine Perspektive, die derjenigen, die sich durch The Lord of the Flies entfalten kann, vollkommen entgegengesetzt ist.) Die frühe, nicht zielorientierte Aneignung des Fliegenfangens und der (palotzischen) Sprache sind ebenfalls als aus dem Nachteil gewonnene Vorteile in die Analogie gekommen. Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen, dass der sich selbst spiegelnde Text sich über die unbeherrschbaren Äquivalenzen der Kontingenzen zu organisieren scheint, und obwohl als – von Péter Szirák in seiner herausragenden Lektüre wohlwollend registrierter – Intertext der hier behandelten Stelle die – bezüglich der Handlung – negative Analogie des Fliegenfängers und der Benennung bei Thomas Mann zu berücksichtigen ist,15 lässt sich – und das sollte aus dem Bisherigen bereits deutlich geworden sein – Esterházys Text, der eine Vielzahl von Zitaten und Selbstzitaten einschmilzt, eigentlich nicht auf die dekodierende Funktion konkreter Prätexte reduzieren. Was natürlich nicht heißt, dass die Interpretanten der identifizierbaren Intertexte keine sehr entscheidende semiotisch orientierende Rolle hätten. Was der englischen Königin „mit großem Behagen und farbig“ erzählt wird, das wandelt sich der Anekdote zufolge – und dem Nationalcharakter entsprechend – in eine pragmatische Dimension, in eine Erklärung der Praxis des
14 Zur Parallele zwischen Toren und Morden: „Da gingen sie auf den Sportplatz und spielten das Spiel um den Einzug ins Finale. Auf dem Platz ging eine ekelerregende ‚Schlachterei‘ vor sich, alles triefte nur so vor Toren; sie mussten mit 8 Toren gewinnen und das Ergebnis war: 8:1. ‚Was für eine Perversion! Man hatte nicht einmal Zeit, sich zu freuen!‘“ (222) Und das mögliche Vorbild dafür: Obwohl die Mannschaft das Spiel (Vorausscheid) mit einem so großen Torverhältnis gewonnen hatte, reichte es nicht, um weiterzukommen, um Erfolg zu haben. Der große Sieg blieb letztlich doch eine Niederlage – im Kontext der 50er Jahre und der goldenen Elf lässt sich diese Formel auch auf die Relation von Politik und Fußball anwenden. 15 „. . . während vielmehr das Wort, insofern es Taten bezeichnen soll, einer Fliegenklatsche gleicht, die niemals trifft.“ – zitiert der Literaturwissenschaftler aus den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull und weist in seiner Interpretation auf die zahlreichen Prätexte des Produktionsromans bei Thomas Mann und Goethe hin. Vgl. Péter Szirák: „Ausgesprochen unausgesprochen“.
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Fliegenfangens. Esterházy, der als Mitglied einer aristokratischen Familie spricht, mischt umgangssprachliche Elemente in seine Rede (über etliche Ecken, keinen Pfifferling wert), die, während sie auch für die Glaubwürdigkeit der (gezwungenermaßen) auf dem Dorf verbrachten Jahre sorgen, auch als Indizes der historischen Zusammengehörigkeit von Bauern und Aristokratie fungieren bzw. den volksmärchenhaften Tonfall der Anekdote verstärken. Die (erworbene) Kenntnis des Fliegenfangens führt der Meister auf eine Weise ein, die an das Genre der Fürstenspiegel erinnert, denn er bemüht sich, das physikalisch-mathematische Gesetz der Natur, dieses wissenschaftliche Wissen, auch in der Sprache der Politik zu beleuchten, die der Königin bekannter ist. Dabei wird die politische Sprache durch den engeren und weiteren Kontext und die Redesituation sofort wieder aus ihrer subalternen Vergleichsfunktion befreit. Die Mahnungen an den Prinzen – eine Art Machiavellismus, wo die Formulierung „Befreier seines eigenen Opfers“ die politische Parabelhaftigkeit der Fabeln (konkret derjenigen von Wolf und Lamm) zitiert – können auch in der schlaglichtartig beleuchteten Relation zwischen Königin und Thronerben eine (ironische) Verstärkung gewinnen. Ihre natürliche und politisch-moralische Analogie basiert auf der Kritik der offenen, genauer gesagt der unmittelbaren und direkten Gewalt: Der Erfolg des Fliegenfangens und der Herrschaft bestünde gleichermaßen darin, dass man ihre Unterdrückungsabsichten nicht direkt, sondern mittelbar, in einer für das Opfer nicht wahrnehmbaren Form (und sei es als Freundschaft maskiert) geltend machen sollte. Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Bewegungen, dem Schlag und der seitlichen Bewegung aus dem Handgelenk, besteht zugleich darin, dass der erste – so er erfolgreich sein sollte – die Fliege sofort tötet, während der zweite sie nur gefangen nimmt. Diese politische Weisheit – ausgesprochen von dem Sproß einer ungarischen historischen Familie, der jede politische Macht genommen wurde und die sogar von Deportation betroffen war, an die Herrscherin über ein Weltreich und Regentin in einer historischen Staatsform, die selbst Revolutionen überdauert hat – ist nur im formalen und ironischen Rahmen der Anekdote an die Königin gerichtet, sie spricht viel eher (das signalisiert auch die Mimik des Meisters: „und hier verhärteten sich die Züge des Meisters“) über das infolge des Scheiterns der offenen Unterdrückung durch die Rákosi-Diktatur entstandene und zur Entstehungszeit des Romans noch weitgehend bestehende Kádár-System und dessen politisches Know-how (die lustigste Baracke, die durch relativen Wohlstand gesicherte politische Unterdrückung, das Motto „wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ usw.). Unausgesprochen, verschweigend spricht sie davon, mit dieser unerwähnten Erinnerung an die Epochenwende spricht sie sogar von den Ereignissen im Oktober 1956, die diese Epochenschwelle letztlich hervorgerufen haben, und ebenso von den darauffolgenden, der Entspannung vorausgehenden gnadenlosen Repressionen. In der
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Passage, die unmittelbar auf die hier behandelte folgt und zugleich die größere Sequenz abschließt, unausgesprochen und trotzdem offen und wörtlich.16 Der Meister hat den Eindruck, dass in dem schwarzen Mercedes, der seinen Trabant, also seinen „Orlowschen Wunderrappen“ überholt, János Kádár sitzt. Um den Wahrheitswert seiner Vision zu prüfen, fährt er dem Auto hinterher (das schwarze Auto zitiert die Zeit der 50er Jahre, aber es grenzt sich auch von ihr ab, denn das Verhalten des Meisters lässt darauf schließen, dass die Fenster nicht verhängt sind, außerdem ist es ein Mercedes und kein Wolga oder Pobjeda); in ihm sitzt, wie er schließlich feststellt, nicht János Kádár. In seinem bereits erwähnten Aufsatz widmet Péter Szirák dieser Passage große interpretative Aufmerksamkeit, wobei er von seiner Leseerfahrung des Unverständnisses und der Überraschung ausgeht, die sich mit keiner Erklärung beheben lässt. Er kommentiert diese Sequenz als einen verwirrenden Akt des Verschweigens, und schließt: Letzten Endes hat nur die Illusion, der Geist von János Kádár herumgespukt: Der ‚Meister‘ hat János Kádár schließlich nicht gesehen und dieser nicht ihn. Nur die Möglichkeit des Sehens bzw. des eventuellen Blickwechsels kam auf, aber diese entfaltete in der Wechselseitigkeit von Aussprechen und Verschweigen ihre Wirkung. János Kádár vermeintlich zu sehen und doch nicht zu sehen: Das ist kein Grund zur Traurigkeit. Das ist ausgesprochen. Was hingegen nicht ausgesprochen wird: Dass es dennoch eine Option, Disposition, Wertperspektive gibt, von der aus all das ein Grund zur Traurigkeit wäre. Es geht hier also um eine Relation, einen Verdacht, eine Selbstverdächtigung, die verdeckt bleibt, die nur im Raum zwischen den Wörtern erklingt.17
Im Lichte dessen erweist sich das beschriebene Schweigen zusammen mit der gesamten Sequenz als redeartiger, weil es das Ergebnis einer sehr komplexen Semiose ist: Die Figur János Kádárs erscheint nämlich vor dem innere Auge des Meisters nicht in dem Augenblick, als das schwarze Auto auftaucht,18 sondern
16 „Auf der Brücke wurde er, ungewohnt rücksichtsvoll, von einem schwarzen Mercedes überholt. Der Meister hielt mit einer Hand die Zügel, mit der anderen versuchte er, seine auf der Sattelnarbe schlecht befestigte Aktentasche zu beruhigen. Ihm war, als säße János Kádár im Auto. Mit seinen klingenden Sporen spornte er seinen Orlow’schen Wunderrappen an und tat, aufgeschlossen, so, als würde er das aus seiner Tasche tatsächlich gefährlich herausklaffende Sexmagazin richten wollen (Die geschickten Hände der Hongkonger leichten Mädchen; Wie kann man den sexuellen Appetit der Gattin anregen? Lust bei Lampenschein; Mädchen mit kleinen Macken; Achtzigprozentiger Orgasmusmangel), also beugte er sich vor, einzelne Haare aus der Mähne kitzelten sein Gesicht; er sah ins Auto hinein, aber dort saß nicht János Kadár. Der Meister verspürte keine Traurigkeit, dafür gab es schließlich auch keinen Grund.“ (167). 17 Szirák: „Ausgesprochen unausgesprochen“. 18 Szirák schreibt: „Der ‚Meister‘ hat den Eindruck, im Auto säße János Kádár, und er möchte sich davon überzeugen, deshalb treibt er seinen ‚Orlow’schen Wunderrappen‘ an und schließt auf. Offenbar ist dieser Anblick eine Überraschung für ihn; dahinter steckt die damalige Erfahrung, dass
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sie ist schon in der Fliegenfang-Anekdote in der Mahnung an den Prinzen präsent, sie als also vor dem Augenblick da, in dem er den Generalsekretär halluziniert, und bietet eine Erklärung für seine Halluzinationen. „Auf der Brücke wurde er, ungewohnt rücksichtsvoll, von einem schwarzen Mercedes überholt.“ (Hervorh. T.B.) In diesem Satz kann das lebhafte Bild des für das politische Gedächtnis emblematischen Fahrzeugs die Aufmerksamkeit von dem Moment des Rücksichtsvollen ablenken, gerade von dem, was der Meister als ungewohnt bezeichnet, womit er unversehens den Fokus darauf lenkt: Die Halluzination von Kádárs Gestalt wird von der Formel der rücksichtsvollen, also nicht direkten und insofern viel effektiveren und dauerhafteren Unterdrückungsmacht begleitet.19 Obwohl nicht in Frage steht, dass es der klaren Erzählung vom vermuteten und als unrichtig erwiesenen Erblicken des Generalsekretärs verwirrend an einer politischen Wertperspektive und an moralischen Obertönen mangelt, aber dies liegt vermutlich daran, dass die Gültigkeit der durch das Fliegenfangen auf Kádár verweisenden politischen Parabel sich auch auf das eigene sprachliche Verhalten, auf die eigene Gesprächsführung erweitern lässt. Das besonders Rücksichtsvolle der Sequenz bietet eine rücksichtslose Kritik des Kádár-Systems, die auch poetologisch viel effektiver und sprachlich komplexer ist als die direkte Rede, die allerdings ohnehin nicht durch die Zensur gekommen wäre und die zudem eine perspektivischere Interpretation der Funktionsweise von Gewalt und Macht – zu der in diesem Roman Esterházys, der sich, wie wir noch sehen werden, mit einer Vielzahl von neutestamentlichen Verweisen organisiert, auch die Allusionen auf die anthropologische Parabel des Lord of the Flies beitragen können – und keine (in)direkt politische Gegenrede oder Kritik bedeutet.20 Der Ausdruck Opfer in der FormulieJános Kádár kaum sichtbar war, in gewissem Sinne sogar unsichtbar.“ Szirák: „Ausgesprochen unausgesprochen“, 77. 19 Als Auswirkung/Ergebnis der sich auf lebhafte Bilder berufenden Semiose lässt sich sogar riskieren, dass, wenn der Trabant Pferd genannt werden kann, lässt sich der schwarze Mercedes auch als eine mächtige Fliege vorstellen, in dessen Richtung diesmal der Meister – da darin nicht das bekannte „Opfer“ unterwegs ist – nicht „abwinken“ kann. 20 Eine andere Stelle, an der der Name eines kommunistischen Führers unausgesprochen bleibt: „Hier lockte ein Kommunist aus dem kommunistischen Ungarn mit einem als ‚rechts‘ zu bezeichnenden wagemutigen und wohlüberlegten Scherz ein Lächeln auf die Lippen der vielen westlichen Intellektuellen. Doch der Meister war so einer nicht. Hinter der Bastion des Aperitifs hervor sagte er mit einfacher Strenge: ‚Ich kenne diesen Witz mit Carter.‘ (Man muss nicht extra erwähnen, dass das nicht stimmte, da auch er diesen Witz mit Carter nicht kannte.) Die Behauptung des Meisters war kompliziert, da man nicht wissen konnte: greift er an oder greift er unter die Arme. (Der Meister hat viel von dieser Sorte zu bieten; denn er tut damit weder-noch!, das ist die Lösung! Weder-noch.)“ (316) Von der Fliegenfang-Mahnung lässt sich Ähnliches sagen: Man kann nicht wissen, ob er angreift oder unter die Arme greift, und damit, mit seiner eigenen Fraglichkeit, hinterfragt er wirkungsvoller als alles andere.
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rung, dass „der Eroberer zum Befreier seines eigenen Opfers wird“, gilt sinngemäß auch für die Kádár-Diktatur, er impliziert so gar deren unterbrochene Kontinuität mit der Diktatur Rákosis, die auf offener Gewalt gegründet war. Der Ausdruck Befreier verstärkt diese Kontinuität weiter und zitiert das kommunistische Narrativ, in dem die russische Besetzung des Landes 1945 als Befreiung bezeichnet wurde, zitiert also auch das gewaltsame Gedächtnis desselben weltpolitischen Hintergrundes beider Diktaturen. Die Komplexität der Semantik und des Verhältnisses des Erzählers zum historischen Wahrheitsgehalt wird vom Abschluss der Anekdote über den Fliegenfang wirklich deutlich: Hier ruft die englische Königin den Thronfolger gerade mittels eines jüdischen Lehnwortes „ne züfecolj!“, in der deutschen Übersetzung „herumschmocken“, zur Ordnung. (Dieses Lehnwort kann zudem auf den Spuren des Lord of the Flies die onomatopoetische Semantik des hebräischen biblischen Namens Belzebub zitieren.) Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Die Passage, in der Kádár halluziniert wird, dieser erzählte Lapsus, lässt sich trotz aller wörtlichen, realistischen Dimensionen auch als ein als Lapsus „maskierter“ Hinweis des Erzählers oder des Verfassers ansehen: Sollte der in der Anekdote vom Fliegenfang mitgedachte Signifikant der Aufmerksamkeit des Lesers entgangen sein oder sollte sich dieser unsicher sein, ob dieser Signifikant dort anzunehmen sei, so eilt ihm der Text zu Hilfe, indem er Kádárs Gestalt durch das virtuelle Ereignis und eigentlich auch selbst als ein derartiges Ereignis innerhalb seiner selbst (im „Bewusstsein“ des Meisters, des Textes) festhält und damit dort suchbar macht. Der Schluss der Sequenz („er sah ins Auto hinein, aber dort saß nicht János Kádár. Der Meister verspürte keine Traurigkeit, dafür gab es schließlich auch keinen Grund“) hat die Funktion eines ähnlichen Erinnerungshinweises: Auch die Traurigkeit kommt nicht nach der ausgebliebenen Begegnung ins Spiel, sondern vorher, als sie die Mahnung an die Königin begleitet: „‚So wird‘, und hier verhärteten sich die Züge des Meisters, ‚der Eroberer zum Befreier seines eigenen Opfers.‘“ (Hervorh. T.B.) Mit anderen Worten: Péter Szirák hat recht, es besteht sehr wohl ein Grund zur Traurigkeit, doch deren Perspektive bleibt in der Negation bzw. den Negationen, die die Sequenz abschließen, letzten Endes auf eine Weise unausgesprochen (formalisiert: János Kádár? Kein János Kádár. Traurigkeit? Keine Traurigkeit.), dass sie derweil so offen wie möglich erklingt, nicht nur als Ereignis des Schweigens, sondern mindestens ebensosehr als Ereignis der Rede. Kommen wir auf die Anekdote vom Fliegenfang zurück, deren Unwahrscheinlichkeit viel eher in der Unwahrscheinlichkeit der Sprachen und des Sprachgebrauchs liegt als in der Schwierigkeit des Aufeinandertreffens der historischen Protagonisten (von hier gesehen hebt die ausgebliebene „Begegnung“ mit Kádár die doppelte „Lage“ Esterházys, der vor die Königin treten kann, hervor: die des grauen Untertanen, ja sogar Opfers des Kommunismus und die des historischen
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Aristokraten; eine handschriftliche „Zeichnung“ des Stammbaums, der die Verwandtschaft „über etliche Ecken“ belegt, findet sich auf Seite 351 des Romans). Während uns der Narrator nicht wissen lässt, in welcher Sprache er eigentlich (wenn überhaupt!) mit der englischen Königin gesprochen hat, bringt er seine erzählerische Bezeugung in einer Sprache an, die sich der Übersetzung widersetzt, sich stark auf die Wirkung sprachlicher Idiome verlässt und die Effekte von fremdsprachlichen Formeln auch in der ungarischen sprachlichen Materie und im Appell an sie inszeniert. Die Erzählung verliert sich hier nicht, wie an anderen Stellen häufig, in einem selbstreflexiven Tonfall, der das Lesen lenken soll und dessen direkte „Anweisungen“ eher die Verunsicherung des direkten, identifizierenden, mimetischen, mit einem Wort arglosen Lesers durch den Lehrer (Meister) und damit die Befreiung der Leseoperationen zur Folge haben als eine bestimmte Orientierung. Zehn Seiten vor der hier behandelten Passage, in der Geschichte des Mittelstürmers vom Rechten Außenverteidiger und seiner Frau, folgt dem Erzählen der Geschichte in Klammern der Kommentar: Man beachte: wie viele Übersetzungen! Ein Ereignis, ein Beobachter, ein Erzähler, ein Weitersager, ein Aufschreiber, ein Durchdenker, ein Leser. Darauf kann man alles sagen: 1. Viele Köche verderben den Brei. 2. Was für eine fortschreitende Klarheit. Wie nach der Reihe die vielen Schnörkel beiseitebleiben, damit nur noch der innerste Inhalt glänzt! Wie ein Diamant. Oder gar nicht glänzt. Wie ein Kirschkern. ‚Ach, wie weit sind wir davon entfernt!‘ (155)
Die ironische Narration legt hier phrasematisch eine Einstellung des Lesers dar, die zu der Erzählung, die sich über die erzählte Geschichte erhebt, zu ihren mehrfachen Rahmen und Übersetzungen im Widerspruch steht, was für die Interpretation der Fliegenfang-Anekdote insofern relevant sein kann, als der Leser in ihrem Fall seinen diesbezüglichen Verdacht und die sich daraus ergebenden Bedeutungsmöglichkeiten ohne die offenen Zeichen der Übersetzungen aktivieren muss. Wir haben früher gesehen, auf welche Weise das Fliegenfangen und das Sprechenlernen beim Meister in eine Parallele gesetzt wurden, als Vorteile, die aus demselben Nachteil geschmiedet sind. In der Anekdote wird die Erklärung Esterházys über die Bewegung zum Fangen der Fliege von einer Apostrophe der Fliege begleitet: „Die Fliege muss man mit einer sanften Bewegung aus dem Handgelenk fangen, als würde man nur so nebenbei in ihre Richtung abwinken. Komm, Freund Fliege, komm.“, sagt er zur Königin. Auch durch die Worte und Taten der gelehrigen Elisabeth wird nicht eindeutig, ob die Rede von einer körperlichen Handlung begleitet wird: Ob die Protagonisten die beschriebene Handbewegung begleitend zu den Worten ausführen. Es ist (zumindest im ungarischen Text, wo es „tapicskolva“ heißt) nicht ganz klar, ob die freudige Zustimmung des Meisters eine Hand- oder eine Fußbewegung, ein Klatschen oder Springen ist, und ebensowenig, ob sich die Worte der Königin,
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die den Thronfolger zum Üben anhält (ebenso wie das Erröten der Königin), auf die reinen Worte, also Redeereignisse, das Fliegenfangen und die damit einhergehende Apostrophe, beziehen oder auf zusammen mit den Worten ausgeführte Handlungen. Während die Sprache, die Worte schon ursprünglich zu zeigen und eine Kontinuität zwischen Rede und Handbewegung anzunehmen scheinen, setzen sie den gezeigten Anblick zugleich aus, ja sie löschen ihn. Gerade dadurch fordern sie, da die mit Worten beschriebene Handbewegung niemals die unmittelbar gesehene erreicht, dazu auf, die Worte mit einer Bewegung zu begleiten, die sich nur auf letztere Weise aneignen lässt. Das Winken und die Anrede („als würde man nur so nebenbei in ihre Richtung abwinken. Komm, Freund Fliege, komm.“) signalisieren die Kommunikationskontinuität zwischen Handbewegung und Wort, während sowohl die verbale als auch die gestensprachliche Vorstellung des Winks zugleich die Momente des Grüßens und der Drohung enthält, und wirklich: Der Handbewegung, mit der die Fliegen bedroht werden, soll hier der Anschein des Grüßens gegeben werden. Diese Einheit von Sprache und Geste zerfällt, wenn wir uns bewusst machen, dass der Erfolg der Fliegenfangbewegung nichts mit der ungarischsprachigen Formel der Anrede an die Fliege zu tun hat, mit dem, was die Königin dem Meister eifrig entschlossen nachspricht, wobei sie auf dessen Bestätigung wartet: „Die Königin schaute den Meister an. ‚Khamm, Fraind Flieg, khamm?‘“ (und das wäre in anderen Sprachen, beispielsweise in der englischen, genauso). Die gebrochene Aussprache des Ungarischen verrät, dass die Königin, die bei vorherigen und folgenden Redebeiträgen in der Anekdote fließend ungarisch formuliert, nicht auf den Sinn der Worte achtet, denn sie hat ja (noch) keinen Zugang zu dem, worauf diese Worte in ihrer Bedeutung zeigen, sie verwendet diese wohlklingende (vorzeigbare und daher auf sich selbst zeigende) Apostrophe ausschließlich als Zeigen, als gestisches Winken, als etwas, von dem wir wissen, dass es seinen Adressaten, die Fliege, niemals erreichen kann. (Höchstens, indem sie durch die Klangwirkung verschreckt wird. Im Ungarischen spielt hier möglicherweise noch die klangliche Ähnlichkeit von Fliege (légy) und Luft (lég) hinein, dergestalt, dass die Hand bzw. die Stimme eine Bewegung der Luft auslöst und dadurch eine Bewegung der Fliege hervorruft.) Was das Lernen und den Erfolg des Fliegenfangs angeht, so scheint dieser Gebrauch der ungarischen Sprache sinnlos und auf sich selbst gerichtet, was den Verdacht aufkommen lässt, dass die anekdotische Parabel vom Fliegenfang – über ihre politischen Bedeutungen hinaus – nicht einfach um ihrer selbst willen gelesen werden sollte, sondern auch als (Selbst-)Interpretation der Sprache bzw. der Rede. Diese Bewegung der Sprache konzentriert sich auf die tönende Oberfläche der Rede statt auf ihre Tiefe (oder sogar auf ihr Referenzielles als ihr Außen) gerichtet zu sein, und diese Oberfläche breitet sich horizontal aus, ist also weniger vertikal, ferner eher syntaktisch als semantisch und verweist den Sprachgebrauch
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auf den Prozess der Anwendung, des Sprechenlernens (durch die entsprechende Szene verstärkt). Das erinnert nun auffällig an die oben zitierte Beobachtung aus Kulcsár Szabós Esterházy-Monografie,21 in der der Verfasser in Esterházys Sprachauffassung die sprachphilosophische Wirkung des späten Wittgenstein erkennt, das sprachliche Verhalten des Produktionsromans mit dem Humboldt’schen Sinn des diskursiven Sprachgebrauchs verbindet und so diese ganze Sprache als eine Art Inventarcharakter der Sprache abgrenzt von einer Sprachbetrachtung und Redelenkung, die den Text oder das Lesen als eine Art semantischer Entsprechung denkbar machte. So schließt Kulcsár Szabó aus Esterházys Praxis der ereignishaften Performativität der Rede nicht zuletzt auf die gewachsene Rolle der Kontingenz. In der sich auf die Sprache zurückneigenden Semiose der Fliegenfang-Anekdote ist natürlich nicht die externe Position der englischen Königin zur ungarischen Sprache primär, diese ist überhaupt vollkommen widersprüchlich, denn Elizabeth scheint zwischendurch muttersprachlich Ungarisch zu sprechen, weshalb ihr Sprachgebrauch nicht unbedingt eindeutig im Gegensatz zur Muttersprache des Meisters steht. Der Beispielwert liegt eher im Bezeugen der Redeweise des Meisters und seines sprachlichen Verhaltens. Wenn die Königin eine beginnende Sprachlernerin ist, müssen ihr die sprachlichen Ereignisse der Redehaftigkeit, die vom Fliegenfang repräsentiert werden, natürlich verschlossen bleiben: das Wortspiel légmozgás/légymozgás, die Konnotationen des Spiels mit der Gelegenheit (íz) („bei einer Gelegenheit“, „bei einer anderen Gelegenheit“) oder für die sylleptische Rolle des Wortes légy, das sowohl Substantiv als auch Verb sein kann (soviel zu: zwei Fliegen mit einer Klappe!) in der wiederholten Anrede: „Komm, Freund Fliege, komm“.22 (Auch wenn der Text nicht darauf hinweist, kann hier die euphonische Ähnlichkeit von „come on“ und „komám“ [Freund] zu einem Wirkungselement werden.) Zudem ist es – wie erwähnt – ganz und gar nicht sicher, dass die Königin eine Anfängerin im Lernen der ungarischen Sprache ist, denn sie ermahnt den Thronerben in einem Ungarisch, in das sich der jiddische Ausdruck störungslos einfügt. Indem der Narrator dieses Wort zustimmend wiederholt, suggeriert er, dass dies der einzig treffende Ausdruck für das ist, was Elizabeth benennt. Hier sei noch einmal zitiert: „‚Du solltest auch lieber üben‘, sagte Elizabeth rotwangig zum Thronfolger, ‚anstatt hier herumzuschmocken!‘ – er schmockte nämlich herum.“23 Anscheinend haben wir es hier mit dem inversen
21 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter. 22 „Légy“ heißt auf Ungarisch „Fliege“, ist aber auch eine finite Verbform und bedeutet dann „sei“, so dass der Ausdruck „légy komám“ einerseits als „Freund Fliege“, andererseits als „sei mein Freund“ gelesen werden kann. 23 „‚Inkább te is gyakorolnál – szólt kipirultan a trónörökösre Erzsébet –, ne pedig itt züfecolj!‘ – mert az züfecolt.“
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Fall der von der Königin wiederholten ungarischen Anrede zu tun, da die tönende Oberfläche des fremd klingenden, unbekannten Wortes „züfecol“, die der Tiefe des Sinnes beraubt ist und eventuell das Fliegensummen heraufbeschwört, nun auf die sonorische Zeitgebundenheit des Redereignisses zu verweisen scheint – in der ungarischen Sprache. „Das Substantiv züfec ist ein nach den Lautwandelregeln der hebräischen Sprache aus dem Stamm des deutschen Verbs seufzen gebildetes jiddisches Wort, das jiddische Verb lautet zifcen“,24 aus diesem stammt auch die ins Ungarische übernommene Form züfecol.25 Man kann nicht genau wissen, welcher Bedeutung die jiddische Wortform in Esterházys Text eigentlich entspricht, doch das gehört wohl zur Wirkung des Textes, denn der Leser – der sich ähnlich verhält wie die englische Königin („Khamm, Fraind Flieg, khamm?“) – bringt mit der Mimesis des Gebrauchs auch eine undefinierbare Bedeutungsfunktion ins Spiel, die er aus dem Klang und der Redesituation als etwas in der Muttersprache Natürliches oder unbekannt Bekanntes „umreißt“. Das Wort zeigt nicht ausschließlich (auf) sich selbst, doch in diesem Zeigen auf sich selbst, das von der Unbekanntheit seiner Bedeutung provoziert wird, weist es immer zugleich auch schon von sich weg, auf etwas außerhalb seiner selbst. Damit zusammen (und damit, dass man nicht weiß, ob schmocken [züfecol] eine Rederweise oder eine Handlung bezeichnet, während sich auch im wortursprünglichen Seufzer Rede und Handlung berühren) scheint die Textstelle (auch) dafür ein Beispiel zu bieten, dass die fremde Rede niemals ganz fremd bleiben kann, dass in ihrer Sprach- und vor allem Redeartigkeit immer schon einer Art Familiarisierung arbeitet, was auf inverse Weise beleuchtet, dass auch das Bekannte, das Eigene, das Muttersprachliche niemals in der Lage sein wird, restlos zum Eigenen zu werden, in seiner Bekanntheit die Fremdheit zu verlassen, und dass dieses unablässige Schwingen zwischen dem Eigenen und dem Fremden zur ursprünglichen, unvorgänglichen Seinsweise der Sprache gehört. „Khamm, Fraind Flieg, khamm?“ – das Redeereignis bildet sich auch thematisch ab, wenn die Familiarisierung nicht nur durch dieses Ereignis erfolgt, sondern auch in ihm, unter Mitspiel der verbalen Bedeutung der Syllepse von „légy komám“ im Ungarischen. (Ähnliches vollbringt auch das jiddische Lehnwort „züfecol“, ein Ankömmling in der ungarischen Sprache, der seine Familiarität der Vielzahl und Integrationskraft der in der ungarischen Sprache verbreiteten jiddischen Wörter bzw. der im Roman oft auftauchenden
24 Schriftliche freundliche Mitteilung von Karl Vajda, für die ich auch auf diesem Weg danke. 25 Aus der Bedeutung „Seufzen“ sind wohl die Bedeutungsvarianten des Wortes züfec (1. Angst, Furcht 2. Prügel) und möglicherweise des von ihm abgeleiten Verbs im „ungarischen“ Jiddisch entstanden, die folgendes Wörterbuch der Gaunersprache anführt: Jasszok, zsarók, cafkavágók, 165. Für die Angaben schulde ich Péter Szirák Dank.
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deutschen Wörter verdankt, die nicht nur durch die kulturell-literarische Orientiertheit, sondern auch durch das mit der Familiengeschichte verbundene historische Gedächtnis eine Begründung erlangen.) Wenn sich aber die Fremdheit nicht vorab ergibt (wie auch die Bekanntheit es nicht tut), d. h. nicht als gegenwartsartige Erfahrung zustandekommen kann, dann bedeutet die Korrelation von Familiärem und Defamilisiertem, von Bekanntem und Fremdem immer schon eine Korrelation von Ereignis und Wiederholbarkeit, Gegenwartsartigem und Gespenstischem, die nicht unproblematisch auf die Linearität der Zeit projiziert werden kann. Die Selbstinterpretationsmöglichkeiten der analysierten Textstelle aus der Anekdote vom Fliegenfang werden wohl kaum ausgeschöpft von einem Kommentar, der die Verbreitung des Fliegen-Motivs im Produktionsroman nicht (oder bisher nur sehr begrenzt) berücksichtigt(e). Die Heterogenität und Untrennbarkeit von Handbewegung und Gesprächsereignis des Fliegenfangens können sogar die Relation des Aktes des Schreibens (dessen „seitwärts gerichtete“ Linearität auf dem Papier gleichsam sich abbilden kann in dem Fliegenfangen, das statt der vertikalen eine horizontale Bewegung erfordert) und des Redens hervorrufen, mit den weitreichenden Fragen nach den komplizierten Relationen von Räumlichem und Zeitlichem, von Textualität und Kolloquialität. Natürlich geht es hier um mehr als um die allgemeine (Selbst)Repräsentation von Esterházys Schreibweise bzw. um mehr als die Beobachtung, dass sich der Text/die Rede gleichsam „seitwärts“ organisiert, in lateraler Berührung mit den eigenen semantischen und/oder äußeren Referenzen und Bezugsmöglichkeiten, und so auf Ereignisse trifft (inklusive auf sich selbst als Ereignis), nicht unabhängig von der orientierenden Funktion der Aufeinanderprojizierung von Perioden und (Kon)Texten bzw. der Untrennbarkeit von eigener und fremder Rede. Es geht also um mehr als darum, dass die Montage von Kálmán Mikszáths Zeit und der Rákosizeit und überhaupt der von Anachronismen durchzogene, derart schichtweise aufgebaute Romantext beispielsweise die einstige Gegenwart der Kádár-Zeit, ihre historisch-politische Dimension berührt, der Stabilisierung der sich bildenden Analogien, Koinzidenzen, wenn man so will, einer vertikalen, (schlag- oder stoßartigen) direkten Entsprechung aber zugleich ein Hindernis in den Weg stellt. Dieses kurze und sehr detaillierte Schlaglicht auf die Streuung des Fliegenmotivs im Text kann vielleicht die beinahe unbeherrschbaren selbstrepräsentativen Verwicklungen der Äquivalenzen spürbar machen, die von der sich entfaltenden Textualität generiert werden. Wir haben gesehen, dass sich der Meister im Roman nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Leser inszeniert (genau genommen, dass er als Schriftsteller und
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zugleich als Leser auftritt, und ein Teil davon ist die durch intertextuelle und intratextuelle Relationen zustandekommende [Selbst]Leserrolle und die Ausbreitung und feine Verstrickung des „der grammatische Raum bin ich“), noch dazu auf mindestens drei unterschiedlichen Ebenen des Textes.26 Die Gestaltung der Rede und die Reflexion über sie gehören, wie wir gesehen haben, nicht nur in der (geteilten) Stimme des Narrators/Autors zusammen, die erzählende und selbstkommentierende Partien ineinander flicht, sondern ebenso eng in ihren Unterschieden, beispielsweise schon in der Praxis des Kursivierens, das die temporale Kontingenz und Irreversibilität des Redeereignisses im Raum des Schreibens fixiert und die Möglichkeit des auf seine eigenen Rede blickenden, wiederlesenden, sich also (auch) temporal von ihr absetzenden (gleichsam von ihr abschälenden) (Selbst)Bewusstseins hervorruft und verstärkt. (Das sich zugleich innerhalb des Textes befindet – auch als dessen Produkt –, und außerhalb desselben Textes als dessen reflektierender Leser.) Die als sylleptisch gekennzeichneten, kursivierten Wörter und Syntagmen machen den Leser darauf aufmerksam, dass ihre Bedeutung sich nicht in der geradlinigen Zeit des Verstehens erschöpft, sondern eine mehrgerichtete, gesteigert auf Verbreitung und Wiederholbarkeit angewiesene (selbstreflektive) Operationsreihe der Bedeutungsbildungen auslöst. Mit dieser inskriptiven Technik der Redelenkung lehrt der Meister – ebenso wie mit noch tausend anderen, von denen wir einige oben bereits kennen gelernt haben – den Leser des Buches lesen, ernsthaft und ironisch zugleich. Wir sahen schon, dass diese Orientierung oder diese „Lehre“ vielfältige, widersprüchliche Züge annehmen kann, wobei etwas so
26 Zunächst einmal als in der erzählten Welt dargestellte (erzählte) Gestalt, die das mit ihr Geschehene, anderes und die Worte anderer liest, dann als jemand, der all diese Geschehnisse und in ihrer Mitte die erzählte Gestalt (den Meister) erzählt, und dadurch, dass er sie erzählt, gleichsam auch liest, und drittens als jemand, der die letztere Erzählung, seine eigene Erzählung, bereits als geschriebenen Text, als Werk, liest. Die drei Ebenen scheinen einerseits mimetisch voneinander getrennt zu sein, nach der bekannten Ordnung der zeitlichen Sukzession, aber diese kann jederzeit von der textuellen Entwicklung und Selbstrepräsentationstendenz des Redeprozesses überschrieben werden. Die mimetisch-temporale Ordnung von Rahmen und Gerahmtem, Enthaltendem und Enthaltenem kann sich jederzeit umkehren, was mimetischreflektiv darin begründet sein kann, dass der Meister sein Leben und dessen Ereignisse bereits so erlebt, dass er die ihm geschehenen Ereignisse als Schriftsteller von der Literatur, von der Entwicklung des Werkes her interpretiert oder denkt (und sogar selegiert). (Er bewegt sich sehr vertraut zwischen den sprachlichen Welten und kann – wie Kulcsár Szabó schreibt – genau deshalb und nicht einfach durch die biografische Geschichte zum Protagonisten des Produktionsromans werden.) Das zeitliche Verhältnis von erzählter Geschichte und ihrer Erzählung bzw. von Leben und Literatur kann also nicht nur durch die Möglichkeit der Fiktion umgekehrt werden, die sich sinngemäß in den Text einschreibt, sondern auch durch das Schriftstellersein oder die Literatur, die ins Leben hineinspielen und Lebens- und/oder Redeereignisse auslösen bzw. beeinflussen.
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als etwas erscheinen kann, dass es nicht sicher dies ist, oder es gerade etwas nicht zu sein scheint, das es aber doch ist. Dass der Text unter Verdacht gestellt wird, dass die thetische, mimetische, in ihrer Natürlichkeit ungestörte Lektüre oder Lesart verunsichert und unmöglich gemacht wird, bedeutet zugleich, dass wir auch die darauf hinweisenden Zeichen nicht als eindeutig ansehen dürfen. Die kursivierten Wörter lenken die Aufmerksamkeit davon ab, dass sich die Rhetorik der Syllepsis nicht auf sie beschränkt. Der Meister – der Verfasser, Erzähler, Protagonist – konstituiert sich jedoch nicht allein auf dieser Ebene als sein „eigener“ Leser bzw. der Leser seines eigenen Textes, er hinterlässt auch als Wiederleser des Manuskriptes und des Druckabzugs Spuren am Text. Dabei reflektiert er (in den Fußnoten) in dieser Situation der „Nachträglichkeit“ nicht nur auf die Ereignisse der in der Zwischenzeit vergangenen und nicht im Roman enthaltenen (Lebens-)Zeit (die die Bedeutung des bereits Festgehaltenen unvoraussehbar verändern können), sondern auch auf die Ereignisse der inneren semantischen Verhältnisse des hergestellten Textes (des bereits geschriebenen, im Raum des Buches fixierten Lebens) (ebenfalls in Fußnoten): Autsch!! Diesen Text im Nachhinein überprüfend, korrigierend und beschämend merke ich, dass der „Pantoffel“ hier schon zum wiederholten Male Erwähnung findet! Aber dann ist das ja ein Motiv! Aber dann ist das ja Kunst. So was aber auch! Dabei wollte ich das nicht. Vielleicht bin ich einfach ein Glückspilz: Ich schreibe nur hin, so und so . . . und, bitte: schon wieder ein Pantoffel! Wenn ich sage: Kunst, lobe ich nicht etwa mich selbst, sondern die Welt: dass die Pantoffeln darin so angeordnet sind, dass sie früher oder später zum Motiv werden. So ist das vielleicht nichts Zweifelhaftes. Bemerkung: (382) „38er Smith and Wesson“ schrieb ich scherzeshalber.27
Die Zeitsituation der als nachträglich vorgeführten Bezeugung lässt sich wegen der Räumlichkeit des Textes, die die eigene Entstehung auslöscht, nicht für bare Münze nehmen, das heißt, es ist nicht entscheidbar, ob sie fiktiv oder wirklich ist, literarisch oder nichtliterarisch, innen oder außen. Die ironische
27 Die zitierte Fußnote kommentiert folgende Passage im Haupttext: „Bei einer Gelegenheit etwa fiel Herrn György auf, dass im Bein seiner Hose, die er an der Tür gegenüber seinem Bett aufgehängt hatte, ‚ein wildes Tier sein Unwesen trieb‘. Herr György griff nach seiner guten alten 38er Smith and Wesson, seinem Pantoffel*, pirschte sich an die Tür heran, schlug mit einer furchtbaren Bewegung auf das Knie der ausgeblichenen Cordhose und drückte, presste die Puste herauswärts. Eine kurze Zeit später trug er den toten Körper auf dem Pantoffel hinaus wie auf einem Schild. ‚Mit oder auf diesem‘, sagte Herr György, der auch seine klassische Bildung hat, und von seinen Hünenschritten erbebte das Haus. ‚Oh, wie süüß‘, seufzte Herr Marci bereits das zweite Mal innerhalb eines Menschenalters und zeigte auf die Maus. ‚Krepiert‘, klärte ihn Herr György auf. ‚Schade.‘“ (381–382).
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Verwunderung des Sprechers über den Pantoffel in der Fußnote gestattet nicht, sein Verhältnis zum Wahrheitswert des Gesagten zu fixieren, er erweist sich als treuer Chronist der Ereignisse außerhalb des Textes und als willkürlicher Erfinder gleichermaßen. Ebenso, wie sich die berühmte Formel vom „Roman, der sich selbst schreibt“ mit Bezug auf die widersprüchlichen, einander ausschließenden Formeln sowohl der Textbildung, die äußere Ereignisse gleichsam von selbst und mechanisch fixiert, verstehen lässt als auch auf die (Selbst-)Organisation des Textes nach seinen eigenen Gesetzen. In diesem Zusammenhang gewinnen die kursivierten sylleptischen Formeln widersprüchliche Bedeutungen: Das Motiv bezeichnet nicht nur ein sich wiederholendes, wiederkehrendes thematisches Element (hier den Pantoffel), sondern auch eine Absicht, eine Motivation, die dem (ironisch) hervorgehobenen Ereignis der zufälligen Repetition widerspricht; die Negierung des Zweifelhaften bedeutet zugleich, dass der Text, der sich durch die Motive zu Kunst organisiert, sein Dasein nicht der Invention seines Schöpfers, sondern der Willkür des Lebens zu verdanken hat. Mit dieser Negierung weist der Erzähler die verwunderten Worte, die aus seinem Mund als zweifelhaft, weil prahlerisch, verstanden werden können, ironisch zurück, während nicht zu entscheiden ist, ob ihm dies alles von seiner Bescheidenheit oder von der Wahrheit diktiert wird (wie beispielsweise im oben erwähnten Verweis auf Joyce); außerdem bedeutet diese Negierung des Zweifelhaften – auf Ungarisch „visszás“ (gebildet aus dem Wortstamm „vissza“ [zurück]) –, dass der Text das Ereignis, das ihm zeitlich anscheinend vorausging, nicht rückwirkend, nachträglich positioniert hat. Der Sprecher drückt also ironisch aus, dass hier nicht die Fiktion als Leben oder Wirklichkeit angeführt ist. Es ist wichtig, dass zu der Sequenz, zu der die Fußnote gehört, im Haupttext der erklärende Diskurs von der Maus und dem Mäusefänger hinführt, der mit einem schlurfenden Geräusch eines Turnschuhs des Meisters beginnt, den dieser mangels Pantoffeln als Pantoffel benutzt, bzw. von der Frage der Ehefrau danach.28 Nach dem Verweis auf
28 „Gerade hätte sich der Meister in das Unabänderliche gefügt, als er unter einer fallen gelassenen Manuskriptseite und einer zerknüllten NAGYVILÁG die mitgenommene Hacke eines Turnschuhs hervorlugen sah. Er schlüpfte pantoffelartig hinein, schlurfte so hinaus. An der Spitze des linken Schuhs war der Stoff wie eine Wunde ausgefasert, so den Anschein erweckend, der Meister wäre ein Linksfüßer, dabei ist er ein Rechtsfüßer, und gerade das Hintreten mit diesem Fuß zieht den anderen nach sich, welcher auf diese Art erodiert. ‚Eine Maus?‘, fragte leise Frau Esterházy. ‚Was?!‘, sagte er, der Form entsprechend, gereizt. ‚Ob dieses Geschähe von einer Maus kommt?‘ – ‚Nein. Keine Maus. Pantoffeln. Das heißt: Turnschuhe.‘ – ‚Pantoffeln?‘ Der Meister ließ es auf sich beruhen. ‚Ja, Pantoffeln.‘ – Ein solcher Tschardas der Fragen, Leidenschaften, Missverständnisse und Zärtlichkeiten verlangt nach einer Erklärung. Zu dieser Zeit hatten sich die Mäuse im Elternhaus des Meisters sehr vermehrt. Sie waren jedes Jahr da, diesmal aber vermehrt.“ (379).
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die familiären Mäusefänger schließt er mit dem versachlichten Zusammenhang von Maus und Pantoffel und kehrt wieder zu den Ereignissen des ominösen Spätsommermorgens zurück. Der Pantoffel wird hier – in den zweierlei Berührungen mit der Maus – als eröffnendes und abschließendes Element des Exkurses zum Motiv, während er auch das dichte und unbeherrschbare Netz seiner weiteren Vorkommen als solches aktiviert, von der selbstironischen Wendung vom „großen Mann in Pantoffeln“ bis zur Möglichkeiten der miseen-abyme, die aus dem okkasionellen Tausch von Pantoffel und Turnschuh folgen: bis zur selbstkommentieren, selbstthematisierenden Figuralität von Schuh und Fuß und mit ihnen von Fußball.29 „Wenn ich sage: Kunst, lobe ich nicht etwa mich selbst, sondern die Welt: dass die Pantoffeln darin so angeordnet sind, dass sie früher oder später zum Motiv werden.“ Die als Pantoffeln benutzten Turnschuhe kommen, so lesen wir, „unter einer fallen gelassenen [lies: verworfenen bzw. nicht in den Roman kommenden, außerhalb seiner bleibenden – T.B.] Manuskriptseite und einer zerknüllten NAGYVILÁG“ zum Vorschein, was das semantische Schwingen zwischen den sich in der Welt und in der Romanwelt situierenden Pantoffeln, die Ausrichtung der von Leben und Literatur hergestellten zufälligen (oder um so absichtlicheren, berechneten) Anordnungen aufeinander, weiter verstärkt. Hierher gehört, dass ein früheres Auftauchen der Pantoffeln in einer narrativen Sequenz über Ereignisse in der Umkleide beim Leser Erwartungen weckt, die er als unterbrochenes, zufälliges, offen gelassenes Handlungselement unerfüllt lässt und das, was als Literatur aufgezeichnet wurde, auch insofern auf das Außen des Textes, auf das nicht in den Text aufge-
29 Siehe die mit dem Fuß in die Schlacke gezeichnete Konstruktionsskizze des ersten Romanteils (S. 352) sowie die Gegenüberstellung und zugleich Austauschbarkeit von Schreiben und Fußball in der Erzählung des Dialoges mit Mikszáth (338), außerdem der Fall mit dem fremden Bein, das dem Meister sein eigenes Bein raubt, zugleich auch das eigene Bein, das sich als ein fremder Bekannter erweist. Vgl. dazu Fodor: Futball, metafikció és nyelvjáték. „Diese Kartografierung des textinternen chronotopisch-metaphorischen Netzes kann nur dann zu einer Interpretation der metafiktiven Techniken des Romans beitragen, wenn wir daran erinnern: Fußball ist das einzige Ballspiel, das das Berühren, das Besitzen des Spielmittels mit der Hand verbietet, und dadurch bekommt der Ball eine solche selbstständige Rolle, die für den Handund Basketball, fürs Rugby oder für den American Football weniger charakteristisch ist. Das Fußballspielen kann also bei Esterházy die figurative Entsprechung des Zustandekommens des Textes selbst, der postmodernen schreibtechnischen Attitüde sein, denn – um Gadamer zu zitieren – ‚die Unsterblichkeit des Ballspieles beruht auf der freien Allbeweglichkeit des Balles, der gleichsam von sich aus das Überraschende tut‘, und für dieses Spiel gilt in besonderem Maße: ‚der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit ‘.“ Ebd., 147– 148; das Gadamer-Zitat in GW I, 111; 115.
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nommene Nichts des Lebens verweist.30 All dies ähnelt einer Situation, in der eine in der Erzählung auftauchende Pistole – die, wenn sie schon auftaucht, nach den Gesetzen der Dramaturgie auch abgeschossen werden muss – schließlich doch nicht abgeschossen wird, was auch der in der Fußnote als scherzhaft bezeichneten Gleichsetzung von Pantoffel und Pistole einen tieferen Sinn geben kann, wobei das aus dem Motiv hinausweisende Motiv in das Motivnetz einbezogen wird. (Die Pistole verbindet das, was Herr György über den Mäusefang geschrieben hat, selbst über das Fliegenmotiv,31 mit den im Vaudeville nicht nur auftauchenden, sondern auch einen Schuss abgebenden Pistolen.) Die zitierte Verwunderung des Meisters, der seinen eigenen Text mit Fußnoten versieht, gilt einerseits der Überdeterminierung des sich organisierenden Textes und seinen unbeherrschbar werdenden Bedeutungsverhältnissen, deren Ambiguität auch die Unlesbarkeit des Staunens abbildet (mit welcher Ironie er die Selbstsicherheit ebenso entlarven wie er einen Anspruch auf Wahrheitsgültigkeit erheben kann). Ähnliches lässt sich in der kurzen Sequenz der 57. Fußnote beobachten, deren Schluss – inzwischen zum geflügelten Wort geworden – lautet: „‚Sehen Sie, mein Freund, wie zufällig alles ist! Der Roman, der sich selbst schreibt.‘ Er sann nach. ‚Wo trennen sich wohl Philosophie und Klatsch?‘“ (486) (Hervorh. T.B.) Im Roman bekommt jegliches auch als Klatsch lesbare Lebensereignis – sagen wir über das Privatleben des Meisters, im Zeichen der Boulevard-Ironie – philosophische Tiefe, dies konnten wohl die bisherigen selbstbespiegelnden Kommentare zeigen. Von hier gesehen beschränkt die räumliche Organisation des Textes nicht einfach nur die Kontingenzen der Redeereignisse, sondern sie erzeugt auch – be30 „Der Meister mopste einen von Herrn Icsis Pantoffeln, hoffend, dass die Rache glimpflich ausfallen würde. Da saß er nun auf der Bank, seinen Fuß legte er auf das zusammengeknüllte Trikot. Was für ein Anblick! Ich muss vielleicht nicht ausladend ausmalen, was für einen Vorteil beim Fußballspielen ein (oder: das) dritte Bein bedeutete! Nun, Esterházy verfügte über ein solches! Dies brachte mich dem Meister sehr nahe: wie oft saßen wir in schmutzigen, zwielichtigen Gefilden verlassener Umkleideräume, während er hingerissen einen rechten und einen linken Schuh betrachtete. ‚Ob wohl . . . ?‘, und dabei hob er ratlos die Schultern. Große Ehre. (Gott bewahre mich vor Klatschundtratsch, wenn ich jetzt bemerke, dass dieses sein Herumtutteln den Meister recht populär im Kreise der Damen machte.)“ (189) Über die Reaktion des Herrn Icsi, seine eventuelle Rache, wird in der Fortsetzung des Textes nichts gesagt; dieser Text scheint dieses vielversprechende Moment der Narration zu vergessen. 31 „Und dann, wie er sie trägt! Als würde er einen Umzug machen! Dabei, worum geht es schon groß: eine Hose, ein Trikot, zwei Socken und ein Paar Schuhe! Sozusagen: gar nichts. Und dennoch, die Schuhe in seiner Hand springen herum wie eine feurige Chinchilla, die Socken ringeln sich wie ‚verweste Schals‘ um sein Handgelenk – und er kommt ans Ziel: das ist schon was! Und auf die Zweckmäßigkeit, wie die Hose in das Trikot eingerollt ist – ‚zwei Fliegen, mein Freund, nicht weniger!‘ –, ist er ausgesprochen stolz.“ (520).
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Tibor Bónus
reits gar nicht mehr so sehr auf der Ebene der Korrelationen der Personen (auch auf dieser), sondern vielmehr als erheblich weniger kontrollierbare Streuung von Wörtern oder Syntagmen, aber auch Handlungselementen oder Motiven – Unentschiedenheiten zwischen textuellem Zufall und bewusster Gestaltung, wenn man so will, weitere Möglichkeiten des Kontingenten oder Aleatorischen. Sprachliche Ereignisse, über die sich – auf die Weise von Anagrammen – letzten Endes unmöglich sagen lässt, ob sie differenzierte Zufälle der Sprache sind, die die Kognition und die sprachlich-ästhetische Determination ausspielen, oder nicht. Es geht hier also darum, dass der Unterschied zwischen der ästhetischen oder formalen Überdetermination und den differential-mechanischen Zufällen unkonstatierbar, unfixierbar oder ausgesetzt wird. Das Nachverfolgen der Fliegenanekdote und des Motivs im Text führte die Lektüre zu einem ähnlichen Beispielwert bzw. zu der Erkenntnis, dass die Artikuliertheit des Textes darin besteht, dass jeder seiner Teile oder jedes seiner Elemente auf jedes andere referiert bzw. referieren kann. Es ist zu sehen, dass die nicht-synthetische Einheit des Produktionsromans, die sich auf das Wuchern der Zeichen verlässt, zwar erlaubt, in jedem ihrer Elemente eine Bewegung nach der Art einer mise-en-abyme zu erblicken, aber nicht zulässt, dass ein einziges Detail oder Element zum ausschließlichen Operator der spekulativen Reflexionen des Textes wird: Der Text weist auf sein Außerhalb und – dadurch – auf sich selbst zurück als auf eine heterogene, diverse Konstellation. Die Handlungselemente, sprachlichen Wendungen und Motive beginnen zu arbeiten wie Anagramme: an sich ohne Bedeutung, verhalten sie sich, als besäßen sie eine Bedeutung und nicht einen Bedeutungsprozess, aber letzten Endes zeichnet sich aus ihnen ein Netzwerk ab, in dem sie – nach der Art einer mise-en-abyme – über sich selbst hinausweisende Bedeutungen erlangen. Das ist nichts anderes als die Kraft des textuellen Netzes, des Textgewebes, die an die interpretierend-zusammenfassende Arbeit der Lektüre appelliert und keine Entscheidung zwischen Strukturellem und Notwendigem, Mechanischem und Bewusstem, Unwillkürlichem und Intentioniertem zulässt. Die unerschöpfliche Komplexität des Textes des Produktionsromans lässt sich daher nicht sauber von der mechanischen Arbeit der sprachlichen Aleatorik und Tropologie trennen,32 was jedoch auch den Text
32 „Ich erinnere mich an die Maschinen! Wissen Sie, es gab so große Übersetzungen. (Könnte es möglich sein, dass seine Affinität zu ‚Transmissionen‘ hier seine Quelle hat, in dieser nämlichen Dreschmaschine?!) Und an irgendeine Betonfläche und an die Zentnerwaage. Und auf dem Beton an ein paar schlammige oder, hm, dreckige – das kann man aus dieser Distanz nur noch schwer sagen – Strohbüschel.“ (233) Die Produktion – die des Lebens und die der Literatur kann, wie jedes lebensartige Moment, als Übersetzung des Konkreten im Text ins Spiel kommen, zugleich dann kann alles mögliche als Träger, als Zeichen dieser Übersetzung bzw. ihrer Möglichkeit dienen.
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als „Schauplatz“ der ästhetischen Rückschaltungen seiner Lektüren, seine Identität nicht unberührt lässt. Der jüngst veröffentlichte Esterházy-Aufsatz von Ernő Kulcsár Szabó zeugt davon, dass der Produktionsroman auch heute wohl Esterházys vielsagendstes, wirkungsmächtigstes Werk ist, in dem der Schriftsteller zu einer redehaften Stimme bzw. Textführung „findet“. Hierfür verwendet Kulcsár Szabó den Ausdruck „graziöse Ungebundenheit“, wobei er sich auf die unbekannt bekannten Merkmale dieses singulären sprachlich-literaturgeschichtlichen Ereignisses konzentriert, deren Performanz als Redeereignisse – als offenes Geheimnis – weder von den semantischen noch von den formalen Komponenten des Textes her erreichbar ist, wenigstens insofern die Form üblicherweise nur semiotisiert zuhanden kommt.33 Außer, dass der Produktionsroman auf die zeitgenössische ungarische Literatur nach Esterházy nachweislich die stärkste Wirkung ausübte, weisen die jüngst in immer größerer Zahl erscheinenden starken Interpretationen des Romans schließlich auf das hin,34 was auch durch die hier präsentierte skizzenhafte Lektüre zu erkennen war: Wir können keineswegs sicher sein, dass schon begonnen wurde, diesen Roman, dieses unerschöpfliche Ereignis, im engeren Sinne des Wortes zu lesen.
Literatur Esterházy, Péter. Ein Produktionsroman (Zwei Produktionsromane). Deutsch von Terézia Mora. Berlin: Berlin Verlag, 2010. Fodor, Péter. „Futball, metafikció és nyelvjáték Esterházy Péter írásművészetében“ [Fußball, Metafiktion und Sprachspiel in den Werken Péter Esterházys]. Térfélcsere. A sport irodalmi medialitása a magyar későmodern és posztmodern elbeszélő prózában. Budapest: Kijárat, 2009. 145–162. Jasszok, zsarók, cafkavágók. Életképek a vagányvilágból, ó- és új argószótár [Kochems, Glister, Gnofen. Lebensbilder aus der Gaunerwelt, Wörterbuch der alten und neuen Gaunersprache]. Hg. István Fazakas. Budapest: Fekete Sas, 1991. Kulcsár Szabó, Ernő. „‚Graziöse‘ Ungebundenheit“. In diesem Band. 147–167. Kulcsár Szabó, Ernő. Esterházy Péter. Bratislava: Kalligram, 1996. Lőrincz, Csongor. „Figurationen des Schweigens in Péter Esterházys früher Prosa“. In diesem Band. 45–70. Palkó, Gábor. „A malheur kisssértete. Esterházy Péter Termelési-regény“ [Das Gespenst des Malheurs. Péter Esterházys Produktionsroman]. Esterházy-kontextusok. Közelítések Esterházy Péter prózájához. Budapest: Ráció, 2007. Szirák, Péter. „Ausgesprochen unausgesprochen.“ In diesem Band. 71–85.
33 Kulcsár Szabó: „‚Graziöse‘ Ungebundenheit“. 34 Lőrincz: „Figurationen des Schweigens“.
Literarisches Schreiben und (inter-)textuelles Universum
Ernő Kulcsár Szabó
„Graziöse“ Ungebundenheit Stimme und Schreibbarkeit in Esterházys Prosa Der Roman in floribus, eigentlich die unsympathischste Art des Romans im 19. Jahrhundert, wenn er sich selbst vertraut. Das ändert sich mit Flaubert . . . (Péter Esterházy: Egy kékharisnya följegyzéseiből)
Systematisch aufzudecken, mittels welcher Spezifika in Betrachtung und Poetik Esterházys Schreibweise die tiefgreifenden Veränderungen hervorgerufen hat, die vor allem durch die auffällige wirkungsgeschichtliche Umordnung der sprachkünstlerischen Kraftlinien nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer neuen Richtung der Kanonbildung eröffneten, könnte sich für die neuere ungarische Literaturwissenschaft als äußerst vielversprechend erweisen. Denn heute lässt sich kaum noch in Frage stellen, dass diese stark selbstreflexive und vielstimmige Redeweise auf der Basis von rhizomatischen Intertexten, die durch die Wandelbarkeit der kleinen Prosaformen die Zerrissenheit der Erzählung zur Grundform der Mitteilung gemacht hat, in den 80er Jahren die darstellungs- und repräsentationsästhetischen Schranken ihrer Zeit mit einer tonal derartig originellen narrativen Rhetorik durchbrach, wie sie zuletzt in der Lyrikwende der 1930er Jahre zu beobachten war. Diese außergewöhnlich registerreiche sprachliche Gestaltung hat die moderne ungarische Erzählung nicht dadurch mehrfarbiger gemacht, dass sie sich vom Zauber der „postmodernen“ Vieldeutigkeit in den Bann schlagen ließ oder – neben anderem – die Relativität der Werte zum einzigen Wert erklärte. Sie hat die ungarische Prosa vielmehr durch die Erfahrung über die Schwelle der Moderne getragen, dass die Epik im primären Sinn eine ebenso figurative sprachkünstlerische Äußerungsform ist wie die Dichtung – nicht aber eine Darstellung oder eine so oder anders geartete, gesellschafts- oder zeitkritische Repräsentation nicht anwesender Dinge. In Esterházys Prosa wurde zum ersten Mal seit Jahrzehnten (wieder) spürbar, dass die Gesellschaft – ebenso wie die Geschichte – immer nur als Sprache in der Schönen Literatur ankommt. Anders gesagt: Nur die rhetorische Leistung und das figurative Potential der Sprache können den Textinhalten einen phänomenalen Status verleihen. Diesem Gestaltannehmen gehen – von den Anagrammen bis zum Verhalten der Lautgestalt der Wörter – sich ereignende Materialitäten voraus, die unausspielbar sind und daher nicht unter die Übersetzung: Deutsch von Christina Kunze. https://doi.org/10.1515/9783110618082-009
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Willkürherrschaft der Bedeutungsbildung getrieben werden können. Natürlich sind Schriftwerke möglich und existent, die die primäre, nicht instrumentalisierbare Sprachlichkeit des literarischen Schreibens nicht zur Kenntnis nehmen, doch schon seit dem Produktionsroman (1979) lässt sich nicht ganz unbegründet die Frage stellen, ob diese Werke streng genommen wirklich zur Literatur gehören. Die Einführung in die Schöne Literatur (1986) definierte dann – wie jedes große Kunstwerk – mittelbar sozusagen die selbstgestellten Richtmaße der Literarizität neu. Die Größenordnung von Esterházys Werk wird zudem noch dadurch bestätigt, dass – und dies ist vollkommen außergewöhnlich – ein Großteil dieser Veränderungen nicht nachträglich, sondern mit einer Art wirkungsgeschichtlicher Gleichzeitigkeit Teil der Erfahrung wurde. Tatsächlich integrierten die Intertexte der Einführung mit ihrer kunstreichen formalen und semantischen Verflechtung zunehmend selbstreflektiert die Strukturen der für Esterházys frühe Periode charakteristischen kleinen Prosaformen. Zudem war die aphoristische Schreibweise, die von Kierkegaard bis Nietzsche immer wieder aufflammte und der in der ungarischen Tradition formal die vielgeschmähte Anekdotenhaftigkeit von Mikszáth am nächsten stand, nur eine von ihnen. Dass die Strukturen der kleinen Prosaformen, die die poetische Physiognomie von Esterházys Texten durchgehend bestimmen, die Diskontinuität der Erzählung derart auffällig zur Grundform der Mitteilung machten, ist kaum mit der Subversion der Gattungen à la Greenblatt erklärbar, die die Herrschaft der „synthetischen“ großepischen Bedeutungsbildung untergräbt. Das subversive Potential der kleinen Prosaformen, die die „Splitter der Welt“ (Greenblatt) aufzeigen, lässt sich bei Esterházy zweifellos auch darin ausmachen, dass die anekdotischen (Fancsikó és Pinta, 1976) bzw. netzartigen (Produktionsroman) Formen der unterbrochenen Erzählung die Unbeherrschbarkeit des humanen Verhältnisses zur Welt überzeugender zur Aufführung bringen. Das eigene, unverwechselbare Verhältnis von Esterházys Prosa zur Tradition zeigt sich darin, dass er gerade nicht Krúdys Kanon, die Erzähltradition der Jahrhundertwende und des Jahrhundertbeginns, fortsetzt, obwohl dieser ebenfalls die kleinen Prosaformen verwendete. Die Verwandtschaft zwischen ihnen zeigt sich hier am ehesten in dem Unterschied, der seit Joyce fester Bestandteil des Sprachbewusstseins der modernen Epik ist. Denn wie die narrative Fantasie der wunderlich-verspielten Erzählungen des 18. Jahrhunderts nicht die Erfahrung des 20. Jahrhunderts von der Vorgängigkeit der Sprache darstellen konnte, so hebt auch die nachmoderne Prosa die „Spiegelscherben“ des Realismus, der zwischen ihnen beiden liegt, nicht in die sprachrhetorische Wirklichkeit der unterbrochenen Erzählung herüber. Die „Splitter der Welt“ sind so bei Esterházy nicht – wie es ein Teil auch seiner besseren Interpreten vermutet – die mimetischen Abdrücke der Dinge (nicht Stücke eines „Weltspiegels“), sondern – wie bei Sterne – nur die Erzeuger ästhetisch existierender Welten. Und zwar in dem
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beispielhaften Nietzscheschen Sinn, dass seit der Epochenschwelle der Moderne durch das Vermögen der Sprache „nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist.“1 Aus der Perspektive der Traditionsbildung und Kanonentwicklung kann es auch schon ein Hinweis sein, dass die Esterházy-Erzählung, die den Text immer mit großer sprachlicher Sicherheit stimmt, von der Perfektion der Stimmungen, wie sie sich aus den Empfindungen der gedanklich sehr kraftlosen Werke Krúdys entfalten, ebenso Abstand hält wie vom philosophisch schwerfälligen, sprachlich leider bis heute nicht ausgeloteten analytischen Intellektualismus von Zsigmond Kemény. Vielleicht konnte das Mikszáthsche Modell der kleinen Prosaformen in Esterházys Händen fruchtbarer werden als dasjenige Krúdys, weil seine spielerische Selbstreflexion dem doppelten Potential der (immer rationalen) Ironie mehr Raum lässt2 als die verschwenderische Stimmungsleistung von Krúdys Fantasien, die im Raum von melancholischer Träumerei, Einbildung und Erinnerung angesiedelt sind. Wollte man dennoch danach suchen, was dieser zu umfassenden und konstistenten Prozesszeichnungen unfähigen Schreibweise historisch-episch nahesteht, ließe sich aus den oben genannten Gründen vielleicht am ehesten die spielerische Ironie der „rationalen“ Erzähler des 18. Jahrhunderts erwähnen, die – hauptsächlich und vorrangig in Laurence Sternes Tristam Shandy – die Teilnahme des Rezipienten am Spiel der Bedeutungsbildung viel mehr zulassen als ihre Zeitgenossen. Mit diesem speziellen Verhältnis zur Tradition eröffnete Esterházys Prosa die Möglichkeit einer Umordnung des Kanons, wie sie bis dahin in der Geschichte der ungarischsprachigen Erzählliteratur nur sehr selten vorgekommen war. In den epischen Bereichen des ungarischen Erzählkanons konnten nämlich
1 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, 17. 2 In Esterházys Interpretation macht das doppelte Potential keine Verhältnismäßigkeiten sichtbar, sondern eher die „aemulativen“ Ähnlichkeiten der Gegensätze: „Ironie ist, mit Musil gesprochen: einen Klerikalen so darstellen, daß neben ihm auch ein Bolschewist getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: Das bin ich ja zum Teil selbst.“ (Esterházy: Kleine ungarische Pornographie, 36.) Dieser „Wettstreit“ wirkt auf verborgenere Weise in einer Perspektive der Ironie, in der es die distanzierende Rahmung mit diskreten Versetzungen ermöglicht, dass sich die Gegenseitigkeit der Wertrelativität in unerwarteter Ähnlichkeit (hier: in der Ähnlichkeit der Beurteilung Hortys) stabilisiert: „Stell dir vor, Alter, mein Vater hat Horthy aufgesucht. Da müssen die Probleme schon groß gewesen sein. Ich denke, sie schlugen sich mit dem Absprung herum. [. . .] Übrigens hat meinen Vater Horthys Habitus angenehm überrascht, nicht dass er im Vorhinein Erwartungen bezüglich Horthys Habitus gehabt hätte. Mich würde es überraschen, wenn mein Vater vorher an Horthys Habitus gedacht hätte . . . Die Aristokraten fühlten im Zusammenhang mit dem Reichsverweser fast genauso wie der Plebs.“ (Esterházy: Esti, 22–23.)
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traditionell Werke, denen das wirklichkeitsdarstellende gesellschaftskritische Interesse, die Sensibilität für die Schicksalsgemeinschaft fehlte oder denen es in irgendeinem anderen Sinn an Nachdruck in der (zumeist tragischen) Konfrontation mit den sog. existenziellen Fragen mangelte, keinen entscheidenden Platz erobern. Esterházys Prosa weist im Zeichen einer eigentümlichen Zwischenstellung auf eine mögliche historische Konstellation ihrer Vorgänger zurück, in der Mikszáth näher bei Kosztolányi zu stehen kommt als bei Jókai und Ottlik näher bei dem Márai, durch dessen künstlerische Eliminierung die Frage des Kanons der Prosaschriftstellerei zwischen den beiden Weltkriegen für mehrere Jahrzehnte auf eine Art alternativlosen Wettstreit zwischen völkischer und urbaner Literatur reduziert wurde. Doch wenn wir hier jetzt nicht von unseren kulturell-ideologischen Einteilungen ausgehen, sondern von denen der Literaturbetrachtung im engeren Sinn, dann kann dank Esterházy vielleicht die potentielle Entstehungsgeschichte gleich dreier Bereiche des Kanons Wirklichkeit werden. Denn wenn sich über den parteistaatlichen Kanon der Linie Sándor Petőfi–Endre Ady–Attila József hinaus unleugbar auch die humanideologische Linie János Arany–Mihály Babits–Sándor Márai abzeichnete, dann zeigt das literarische und weltanschauliche Potential von Esterházys Prosa noch eine dritte Richtung der Kanonbildung als möglich auf, in der – primär aus sprachkünstlerischen (also vorrangig literarischen) Gründen – aus ferner Zeit János Arany, dann Dezső Kosztolányi und später Sándor Weöres entscheidende Punkte zu sein scheinen. Verfasser also, bei denen die besondere sprachkünstlerische Leistung im Zusammenhang mit der tief artikulierten Kenntnis und Aneignung der muttersprachlichen literarischen Tradition steht. Nicht zufällig schrieb gerade Kosztolányi als Antwort auf das öffentliche Räsonnieren von Zsigmond Móricz und seine Vorwürfe an Arany, letzterer habe „die Sprache des Volkes so hoch gehoben wie niemand in der Weltliteratur“ (Író és bátorság [Schriftsteller und Mut]). Die jetzige Umordnung des literarischen Kanons auf sprachkünstlerischer Grundlage ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil heutzutage – da wir uns der gesellschaftlichen Dogmatik des Marxismus und des parteistaatlichen Kanons eben erst entwunden haben – in gewissen Fachkreisen eine gesellschaftshistorische Obsession wieder zu erstarken scheint, die das Werk aus einem der Kontexte ableiten möchte, die die Literatur bislang immer glücklich überlebt hat. Hier scheint man eine der unerschütterlichen Prämissen der ästhetischen Erfahrung vergessen zu wollen, dass nämlich „[t]he bases for historical knowledge are not empirical facts but written texts, even if these texts masquerade in the guise of wars or revolutions.“3
3 de Man: Literary History, 165.
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Dass die Dichtung beispielsweise seit der Wende von den 70er zu den 80er Jahren offensichtlich weniger um die bildlich-metaphorische Anregung der Leserfantasie bemüht ist, die Erzählprosa hingegen – statt „Zeugnisgaben“ der Reflexion des Allgemeinbefindens – durch die disziplinierten Register der Benennung der Dinge den Anspruch spürbar werden lässt, der Sprache zu entsprechen, war gewissermaßen schon eine Folge der (abrupt und unvorbereitet eintreffenden) Wirkungen der damaligen europäischen Literatur. Darin drückt sich sozusagen symptomatisch aus, dass auch in Ungarn – mit einer gewissen Verspätung, aber mehr oder weniger parallel zum Ende der Moderne – eine ganze widersprüchliche literarische Periode an der Schwelle ihrer eigenen Umordnung angekommen war. Gyula Illyés, Ferenc Juhász, Miklós Mészöly, János Pilinszky, Ágnes Nemes Nagy, Sándor Weöres oder Géza Ottlik wirkten nicht mehr mit derselben Kraft, auch wenn mehrere von ihnen noch entscheidende Agenten der literarischen Prozesse der Periode blieben. Die größte Veränderung, das unterliegt keinem Zweifel, vollzog sich im Verhältnis der Literatur zur Sprache – und zwar mit einer Aufwertung der Sprache, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hatte. In alledem spielte die Erschöpfung des permanenten Erneuerungszwangs der literarischen Moderne wohl nur eine mittelbare Rolle. Diese Erfahrung der Nähe der Epochenschwelle konnte jedoch in dem Sinn eine neue Perspektive auf die sprachliche Tradition eröffnen, dass die Voraussetzung für ihre unumgängliche Neuschreibung in der Erkenntnis bestand, dass diese Tradition selbst unhintergehbar sei. Woraus dann ein Jahrzehnt später der völlig neue Umstand resultierte, dass – dies zeigte sich von Esterházy über András Ferenc Kovács bis zu Lajos Parti Nagy – die Zugehörigkeit zu der in ihrer artikulierten historischen Dimensioniertheit erfahrenen Sprachlichkeit bzw. deren Bewusstsein zu einem immer wichtigeren Faktor des literarischen Schaffens wurde. Den Prozess initiierte, dies ist im Rückblick klar erkennbar, Weöres’ 1972 erschienene Psyche bzw. seine Anthologie Három veréb hat szemmel ([Drei Spatzen mit sechs Augen], 1977), in der „verborgene, versteckte, unbekannte poetische Schönheiten vom Mittelalter bis zum Beginn unseres Jahrhunderts, besondere und außergewöhnliche Werke mit erregender Würze“4 vorgelegt wurden. Nun kam zögerlich eine Aufwertung der Sprache in Gang, die der Hochachtung der Romantik vor Sprache und Tradition zwar ähnelte, sich aber in zwei Elementen deutlich von ihr unterschied. Zum einen verengte dieser Prozess die nationalen Traditionen der literarischen Sprache nicht auf die Volksdichtung
4 Weöres: Három veréb, Klappentext.
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oder das in der literarischen Öffentlichkeit oft erwähnte und zudem von den Literaturwissenschaftlern der Repräsentationsästhetik gründlich missverstandene „Bartók’sche Modell“, zum anderen stand hinter ihm, anders als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht die Unterstützung einer Institution oder einer Kulturbewegung, auf deren Auftriebskraft er sich, umgeben von öffentlicher Zustimmung, hätte stützen können. Paradoxerweise wurde die Entfaltung der sprachlichen Wende, die die unerwartete Aufwertung der literarischen Tradition hervorrief, gerade von der Repräsentationsauffassung mit Befremden aufgenommen, obgleich sie sich zuvor jahrzehntelang reflexartig über die Vernachlässigung des sog. nationalen Paradigmas der Literatur beschwert hatte. Dass im nationalen Paradigma des Repräsentationsideals das Wie der sprachlichen „Verfasstheit“ ebenso als zweitrangig galt wie in den seinerzeit überaus erfolgreichen Zeitromanen vom Typ Rozsdatemető ([Schrottplatz], Endre Fejes, 1962) oder Húsz óra ([Zwanzig Stunden], Ferenc Sánta, 1964), findet seine Erklärung darin, dass die starke ideologische Beschränktheit der künstlerischen Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt bereits dazu geführt hatte, dass die ästhetischen Prämissen des Literaturschaffens selbst in höchstem Maß anachronistisch geworden waren. Und zwar nicht einfach im Vergleich zu Finnegans Wake (1939) oder dem „regionalen“ Ferdydurke (1973), sondern selbst im Verhältnis zur Sprachauffassung des 1948 in Ungarn erschienenen Romans Heliáne von Győző Határ. In der von den Prozessen der Weltliteratur abgeschnittenen ungarischen Prosaschreibung herrschte die Vorstellung einer nicht rhetorisierbaren, „natürlichen“ Sprache vor, die aus dem Ideal der erkenntnistheoretischen Kompatibilität der Wirklichkeit und der über sie getätigten Aussagen stammte. Die Ansprüche an die Sprache, wirklich der Welt zu entsprechen, beherrschten bis zum Ende der 70er Jahre ohne wesentliche ästhetische Zweifel die wichtigsten poetischen Modelle der ungarischen Prosaschreibung. Die theoretischen Rahmen der Forderung nach dem „genauen Erfassen“ behielten bei Miklós Mészöly ebenso ihre Gültigkeit wie bei Péter Nádas. Eigentlich ist der Produktionsroman das erste Erzählwerk, das sich durch bewusste poetologische Überlegungen von der Umgebung der damaligen Texte absetzte. Meine Sätze – schreibt Esterházy später – haben ohnehin ein etwas anderes Verhältnis zur Wirklichkeit, beinahe umgekehrt, als es normal ist. Ich schreibe nicht einen Teil der Wirklichkeit auf und kontrolliere mich dann, ob ich gut gearbeitet habe, ob diese Sätze diese Wirklichkeit tatsächlich beschreiben, sondern ich bastle Sätze zusammen und kontrolliere die Wirklichkeit meiner Sätze, indem ich nachsehe, ob es in der Welt einen Teil
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gibt, der der Beschreibung entspricht. Das ist ein anderes Verhältnis, das eigentlich behauptet, dass ich nur die Sprache als Wirklichkeit betrachte und alles als Sprache betrachte.5
Zwar bleibt diese Formulierung auch in den 90er Jahren noch innerhalb der überlebten erkenntnistheoretischen Rahmen der Literatur, doch die Poetik des Produktionsromans organisiert und gestaltet die oben genannten Korrespondenzen nicht mehr unter dem Zwang des „abbildenden“ Entsprechens.6 Die Wittgenstein-Paraphrase im Roman, die davon ausgeht, „[d]ie Welt muss ihren Beschreibungen entsprechen“, ist nicht präskriptiv bezüglich der Welt, denn so wäre sie ja nicht die Überwindung eines herrschenden Zusammenhanges, sondern nur seine Umkehr ins genaue Gegenteil. Sie reflektiert eher die neue textpoetische Erzählweise des Produktionsromans, in der die ästhetische Erfahrung des Lesens nicht von dem abstrakten Mitteilungspotential einer im Hintergrund aktiven („natürlichen“) Sprache ausgelöst wird, sondern von dem ultimativen textrhetorischen Geschehen, das – indem es auch seine eigene nicht instanzionalisierbare und unableitbare Materialität sichtbar macht – alles, wovon es spricht, als sprachlich darstellt: Miticsens Dreirad kippte bedauerlicherweise, und Dorko Mitics biss in eine Betonkante. „Jessas!“ Das Elternteil mit den schnelleren Reflexen sprang auf, denn aus dem Mund des Kindes strömte in einem dicken Strahl das Blut. Der Meister freilich tastete sich von der Grammatik und der Geschichte her in die Gegenwart vor. „Blut muss fließen knüppeldick, vivat, hoch die Republik!“,7 murmelte er und sprang ebenfalls auf, als zweiter. Als Mitocska
5 Esterházy: Egy kékharisnya, 311. 6 Nach der ironischen Selbstreflexion der Erzählung ist das Werk nicht in erster Linie an der Beobachtung der Welt (und an den abzubildenden oder zu repräsentierenden Dingen) interessiert, sondern stammt von einem Erzähler, der seine Aufmerksamkeit auf das sprachliche Geschehen der Welt richtet: „Denn wie er so vor sich hin spaziert, Sonnenblumenkerne knackt und sich kratzt und in unbedeutende Gespräche hineinlauscht, sozusagen: in die Konversation der Welt, lagert sich all das, nicht wahr, in ihm ab und er wartet wie ein räuberischer Tiger, auf weichen Pfoten . . .!“ (Esterházy: Ein Produktionsroman, 387.) 7 Die zitierte Formel aus dem sog. Heckerlied, dem Lied der Badischen Revolutionäre (1848/49), lautet: „Fürstenblut muß fließen / knüppelhageldick“. Döblin zitiert in Berlin Alexanderplatz (1929) aus den Straßenkämpfen der Weimarer Republik: „Blut muß fließen, Blut muß fließen, Blut muß fließen, knüppelhageldick.“ Dieses Zitatenspiel erleichtert die Penetranz des Kampfrhythmus jedenfalls dadurch, dass es unerwartet einen unmöglichen Bogen zwischen zwei sehr weit voneinander entfernten Vorstellungsbereichen zieht, der den poetischen „Wettstreit“ der beiden Dimensionen spielerisch werden lässt und dadurch die blutigen Inhalte neutralisiert. (Was dann zum Ergebnis hat, dass der kleine Unfall auf der Straße der historischen Szene nicht die Schärfe nimmt, diese letztere aber durch die sprachlich verknüpften Horizonte dafür sorgt, dass die Ereignisse um die Zahnreihe weder völlig bedeutungslos noch „dramatisiert“ werden können.)
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ihren Mund öffnete – die erste Blutwelle war verebbt –, sahen sie voll Schrecken, dass sich die ganze untere Zahnreihe nach außen neigte. Der Meister sah zu seiner Frau. „Einarmiger Hebel.“, er nickte. „Schlug hier dagegen, neigt sich nach da.“8
Diese zweifache – synchrone und diachrone – Aufwertung der Sprache, die in den 70er Jahren aufkam, aber sich erst ein Jahrzehnt später entfaltete, projizierte das Versprechen voraus, dass sich die Erfahrung, dass Sprache nicht wie ein Mittel fungiert, auch im breiteren Literaturverständnis durchsetzen kann. Genau genommen handelt es sich um folgende Einsicht: Eigentliche Dichtung ist niemals nur eine höhere Weise (Melos) der Alltagssprache. Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht, aus dem kaum noch ein Rufen erklingt. Der Gegensatz zum rein Gesprochenen, zum Gedicht, ist nicht die Prosa. Reine Prosa ist nie „prosaisch“. Sie ist so dichterisch und darum so selten wie die Poesie.9
Die Erfahrung nämlich, dass die literarische „Gestimmtheit“ der Texte bzw. die individuelle „Gestaltung“ des sprachlichen Duktus eines Textes nicht Elemente der dichterischen Sprache sind, die sich von außen an die Mitteilung anschließen lassen, lässt sich an der Jahrtausendwende mittelbar schon in zwei charakteristischen wirkungsgeschichtlichen Entwicklungen beobachten. Die beim Entstehen des Werkes nicht-zeichenartig mitwirkende Sprache ist ein poetisches Medium der Bedeutungsbildung, in dem die Intentionen des Verfassers nicht durch die Übertragung von Absichten zur Geltung kommen. Die Rede des Kunstwerks ist deshalb niemals auf einen einzigen Ursprung zurückführbar. Auch die Mitteilung als solche lässt sich weder ausschließlich als Rede der Kompetenzen des Verfassers noch der in ihr erklingenden sprachlich-literarischen Tradition interpretieren. Genau deshalb nahm um die Jahrtausendwende die wirkungsgeschichtliche Ausstrahlung zweier traditionsreicher Richtungen ab, die den Gedanken der sprachlichen Vorgängigkeit des künstlerischen Wortes und der sprachrhetorischen Unhintergehbarkeit der Bedeutungsbildung gleichermaßen abgelehnt hatten. Der Stilästhetizismus der sog. dritten Generation des Nyugat hatte bis dahin ohnehin ebenso viel von seiner traditionsschaffenden Kraft verloren wie das Erbe der Repräsentationsästhetik mit seiner Auffassung eines instrumentalen Sprachgebrauchs, der die Dinge gleichsam nur „abzubilden“ berufen ist. Die Folgen einer derartigen Aufwertung der Sprache für die Strukturbildung und Textorganisation zeigten sich natürlich schon in den 80er Jahren nicht nur in einer Richtung. Im Hinblick auf die Unterscheidbarkeit der Versionen erweist sich poetisch einerseits als entscheidend, welche Spuren sich für das
8 Esterházy: Ein Produktionsroman, 419–420. 9 Heidegger: Unterwegs zur Sprache, 31.
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gesamte Kunstwerk aus der sprachkünstlerischen Erfahrung ergeben, dass das Werk eigentlich Geschehen ist und als solches – von der sprachlich-rhetorischen Figurativität bis hin zur architektonischen Formung der Struktur – in erster Linie Ergebnis einer Entstehung, die nicht als reine Ausführung eines schöpferischen Planes zu betrachten ist. Andererseits wird der Unterschied darin erkennbar, ob das Zusammenwirken mit der Sprache von der Vorstellung gelenkt wird, dass die Sprache – trotz ihrer Unbeherrschbarkeit und Unzuverlässigkeit, ja, sogar im Gedenken an ihr irreführendes Wirken – in der Lage ist, der kontrollierten Bedeutungsbildung zu dienen. Esterházy ergriff noch in seinen letzten Werken entschieden dafür Partei, dass der Mitteilungsanspruch des Verfassers immer der medialen Autorität der – als Brücke und als Schranke zugleich wahrhaftigen – Sprache ausgeliefert sei. Infolgedessen bleibe auch die bedeutungsschaffende Leistung des eigenen Werkes unberechenbar: Ich glaube, was ich auch immer behaupte, zu welcher Behauptung ich auch gelange, werde ich später unsicher, ob ich wirklich sagen will, was ich sage, ob es auch wirklich wahr ist. [. . .] Ich möchte noch sprechen. Nicht mich unterhalten, plaudern, sondern etwas sagen. Was, das wusste ich nie, das stellte sich meistens im Nachhinein oder zwischendurch heraus, aber ich hielt dieses Nichtwissen für eine Tugend.10
Die Spannung zwischen dem nicht stabilisierbaren Funktionieren der dichterischen Sprache und dem Anspruch auf Bedeutungsbildung, der die Wörter mit den Dingen verbindet, führte am anderen Pol jedoch zu der Einsicht, dass die als Zeichenverhältnis gedachte Mitteilung, während sie auch den unausspielbaren Formenzwang der Komposition als relativ entlarvt, letztlich nur aussagen kann, dass es nicht möglich ist, eine vertrauenswürdige Botschaftsbildung zu begründen. In der in voneinander separierte Zeichen und Dinge aufgeteilten literarischen Sprache wird deshalb im Zeichen der gleichrangigen Ersetzbarkeit dasselbe über alles sagbar.11
10 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 64. 11 [„Dasselbe kann über alles gesagt werden“ [Ugyanez elmondható bármiről] – diese Gedichtzeile stammt von Dezső Tandori, einer wirkungsmächtigen Figur der ungarischen lyrischen Postmoderne, und ist zum geflügelten Wort geworden. Diese sprachkritische Gedichtpoetik findet sich auf Seite 46 seines Bandes Egy talált tárgy megtisztítása [Reinigung eines Fundstücks, 1973], der bei Kritik und Literaturwissenschaft besondere Aufmerksamkeit genoss (Fekete Sas Kiadó, o.O., 2000). Der Titel des Bandes selbst ist ein Zitat aus dem Gedicht Eszmélet [Besinnung] von Attila József, einem der größten ungarischen Dichter der Spätmoderne der 30er Jahre („. . . s mint talált tárgyat, visszaadja . . .“ [. . . die man, fundgleich, zurückerstellt; dt. Übersetzung von Franz Fühmann) – die Herausgeber.]
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Bei Esterházy sind mehrere charakteristische Versionen des Zusammenspiels von Gestimmtheit der narrativen Stimme und vom Text ausgedrückter Wertanschauung zu beobachten. Gelegentlich durchschreitet er selbst in den einfachsten, satzgroßen Einheiten der ausgedehnten epischen Formen die weiten Räume der Register – selbst wenn diese von der Gosse bis in die Galaxie reichen. In der Textversion eines Interviews beispielsweise so: „Dass es man bloß nicht an einem Ministerpräsidenten liegt, wie ich auf Gras, Baum, Stern, meinen Sohn, Männer, Frauen, den Philodendron sehe.“12 Hier entsteht die verdichtete Atmosphäre der aphoristischen Rede nicht nur durch die Spannung zwischen den Soziolekten und den Registern – also die unermessliche Entfernung zwischen man bloß nicht und den Sternen –, sondern auch durch idiomatische Redewendungsreichtum des von „fű, fa“ aufgerufenen Motivs13 oder Fű, fa, füst von Sándor Weöres14 ebenso wie durch die akustische Melodie der alliterierenden Substantive (fű, fa, fiú, férfi, filodendron). Dabei ist zu beobachten, dass das Zusammenspiel von leichtem und schwererem Nachdruck die Bedeutungsbetonungen auch hier nicht relativiert. Das graziös Spielerische des Satzes, seine betörende rhythmische Beweglichkeit stehen nicht im „Dienst“ der unmotivierten Mehrdeutigkeit der Mitteilung. Der Produktionsroman bezeugte als erster, dass auch bei der komplexeren Gestaltung des epischen Prozesses eine aus Elementen der kleinen Prosa aufgebaute Erzählweise eine Schlüsselrolle spielt, eine Erzählweise, die infolge der Ungebundenheit der nicht-kausalen, nicht-plotartigen Narration ebenso in der Lage ist, die Perspektiven der historischen und der gegenwärtigen Schicksale plötzlich zu verknüpfen, wie sie die sich – teilweise innerhalb ein und derselben Sequenz – ändernden Redesituationen und Mitteilungshorizonte jener an Einschüben reichen Erzählung miteinander verbinden kann, die Satzteile und
12 „Ne’ má, hogy egy miniszterelnökön múljék, hogyan nézek fűre, fára, csillagra, a fiamra, férfira, nőre, filodendronra.“ 13 „fűt-fát ígér“ = das Blaue vom Himmel versprechen. 14 Özönvíz-táj ez, tág és szédítő, / a kőkorszaknál ősibb az idő, / emlékezés sem kísér az úton – / Ekképp mesélték, csak innen tudom: / mikor pelenkám volt még és dadám / s a Hold kezemnél ült az almafán, / az „ee-ee” és „papa-mama” után / az első, amit kimondott a szám: / „fű, fa, füst [Sintflut-Landschaft, betörend und weit, / länger her als die Steinzeit ist diese Zeit / keine Erinnerung säumt meinen Weg – / Ich weiß es nur, weil man es mir erzählt: / Als ich noch Windeln und ein Kindermädchen hatte / und der Mond in Reichweite im Apfelbaum saß, / war nach „ää-ää“ und „Mama-Papa“ / das erste, was mein Mund sprach / „Gras, Baum, Rauch“].
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Syntagmen auflöst und sich mit Unterstützung einer permutativen, auf Techniken des Hyperbatons aufbauenden Syntax artikuliert: „Ah, die guten, alten Familien“, japste jemand hinter Pudertürmen hervor. Hier legte der Herr Vater des Meisters jenen Gesichtsausdruck an, der für das Verbergen großer Schelmereien berufen ist. „Eine alte Familie? Das bedeutet zweierlei.“ – Er rekelte sich ein wenig, umständlich. Ein anderer hätte hier angefangen zu stottern (damit man ihm aufmerksamer zuhört). – „Zweierlei: die benigne Natur der Kriegsgeschehen“ – wegen der unverständlichen Blicke, der Meister inklusive flüstert er: „dass die Familie nicht ausstirbt – sowie die Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit des jeweiligen Archivars.“ Und auf dieser Ziselierung der Hammerschlag: „Denn meine Teuren, ich bin noch keinem Menschen begegnet, der nicht Vater und Mutter gehabt hätte.“ Dies sagte der alternde Vater, an dem die plebejischen Züge stark waren (Nasenschnauben etc.). Nun, da der Besitz und das Etceterea dahin waren, hatte er es leicht, plebejisch zu sein, ich denke also nicht, dass der Herr Vater des Meisters die Schranken seiner Klasse niedergerissen hätte, obwohl es auch nicht wahrscheinlich ist, dass es dafür einen realen Bedarf gegeben hätte.15
Dieser Modulationsreichtum erschöpft sich jedoch sichtlich nicht im Zauber der reinen Vielfalt. Im folgenden Ausschnitt wird die leichte und spielerische ästhetische Wirkung der Bewegung der Redehorizonte und Zeitperspektiven nämlich von einer narrativen Modalität heraufbeschworen oder ins Leben gerufen, in der sich dem komplexen Verhältnis der meisten Texte Esterházys zum Wahrheitsgehalt des Gesagten auf die Spur kommen lässt. In diesem Fall dadurch, dass mit der diskursiven Kraft des leichten Spiels der Anmut – unter Ausschluss des reinen Lachens, das die Sache auflösen würde16 – der Zwang ins Behagliche gewendet wird: Mit dem Brot gab es öfters Kümmernis. (Der Meister wirft auch heute, im Wohlstand, kein Brot weg. Das ist ihm eingebläut. Er kaut und kaut an den trockenen Resten herum und brüllt seine Familie an, wenn diese eine Verfehlung gegen die Heiligkeit des Brotes begeht. Ein sympathischer Zug ist das an ihm.) Schon wieder die Schlange! Der Meister hält sich nun an der Hand seines Großvaters fest. Na, das ist vielleicht ein Anblick, wie der alte Graf durch den jungen, kraftstrotzenden, doch zu dieser Zeit etwas vehementen Sozialismus geht in seinen Bridges und mit der unausbleiblichen Schweizer Kappe auf dem Kopf! Ich glaube, der Großvater war angemessen gerecht („Mein Freund! Wir werden ja wohl nicht damit prahlen, dass man ihn aus dem Casino ausgeschlossen hatte!“), doch des Volkes Sohn wurde er nicht, was man über den Vater des Meisters durchaus behaupten kann. Das hatte seine Konsequenzen auch beim Brot. Die Verkäuferin sagte, es gebe
15 Esterházy: Ein Produktionsroman, 232. 16 Es ist wichtig, dies zu betonen, denn in der sog. ungarischen „Postmoderne“ gibt es Versuche, dem Erbe der 50er Jahre und der näheren Vergangenheit gerecht zu werden, indem der Rezipient im Zeichen einer alles auflösenden und vereinfachenden Relativierung zum Lachen gebracht wird.
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kein Brot, man möge doch Kekse mitnehmen. Der aristokratische Herr dankte für die Aufklärung und lachte leise auf: „Wie zu Marie Antoinettes Zeiten.“ (Nämlich, wenn es kein Brot gibt, soll man doch Kuchen essen, sprach also die Königin.)17
Es ist vor allem die Rhetorik der adjektiv-transmutativen, an Einschüben reichen Syntax, die der Modalität von Esterházys Texten ihre Stimmung verleiht, durch sie wird in der Lektüre die nicht leicht in Begriffe fassbare ästhetische Erfahrung des Verhältnisses zum Gesagten spürbar. Gemeint ist die unmittelbar nicht-semantische Komponente der Rede im Sinne Nietzsches, die sich durch ihre eigene rhetorische Leistung in dieser Beziehung als das Wesentliche jeder (künstlerischen) Sprache erweist. Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden – kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann.18
Die in ihrem Wortschatz mit feinem Gefühl aufeinander abgestimmte, auch soziolektal vielschichtige und registerreiche Prosasprache begründet den modalen und „stilistischen Totaleindruck“19 der Texte zumeist in einer geschlossenen, oft in intime Bereiche gehörenden, umgangssprachlich-familiären Redeweise. Dies tut sie vielleicht nicht einmal vorrangig auf der Traditionslinie des „Konversationsbarocks“20, wie es Zsolt Bagis sensible und textnahe Lektüre des Esti nahelegt. Denn Esterházys narrative Diktion, die entscheidende Tonart seines „Erzählens“21, bestätigt weder im Hinblick auf die akustische Satzmelodie à la Leo Spitzer noch auf die Stimmenstruktur im Sinne von Fónagy22 die Textlatenz der (gelegentlich überladenen) teils erhabenen, teils
17 Esterházy: Ein Produktionsroman, 235–236. 18 Nietzsche: Nachlaß 1882–1884, 89. 19 Der Begriff stammt von Jürgen Trabant: Der Totaleindruck. 20 Bagi: Elmeél és Bildung, 59. Esti selbst verweist zugleich mit ziemlicher Ambivalenz auf diese sprachliche Möglichkeit, siehe Esterházy: Esti, 153. 21 Für Esterházy galt dieser Faktor immer als entscheidend unter dem Aspekt des sog. Werkganzen – auch unter Einbeziehung der gesamten Umstände seiner komplexen Entstehung: „Ich meine, man sieht plötzlich von oben auf ein Buch, das man machen will. Es ist wie ein Bild, in mir hängt es zusammen, nicht mit der Erzählweise oder mit Sätzen, sondern mit einer Stimme: was für eine Stimme das Buch hat. Und wenn ich Glück habe, kann ich dann plötzlich sehr viele Notizen machen, auf die ich später zurückkommen kann.“ (Esterházy: Egy kékharisnya, 316–317.) 22 Als Beispiel für die Zusammengehörigkeit der beiden Momente kann ein Detail aus dem Produktionsroman dienen, das sich durch eine charakteristisch finalisierend-„herablassende“ konsolidierende Syntax auszeichnet: „(Die Frühjahrssaison neigte sich dem Ende zu.) Er zerrte an
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empfindungsreichen barocken Stilformen. Die unverwechselbare Tonlage der Texte von Esterházy, dem eine grundlegend „deutsche“ Bildung zugeschrieben wird, lässt sich überraschenderweise (?) am genauesten gerade mit französischen Stilbegriffen wie la finesse, la noblesse, la politesse charakterisieren, die den allegorisierenden und dekorativen barocken sprachlichen Formen weniger zu eigen sind. Die „launische“ Ungebundenheit der Vortragsweise, die durch apostrophische,23 zitative,24 assertive,25 kommentierende26 oder einfach konstatierende Einwürfe vielfach unterbrochen ist, erinnert viel eher an den style rocaille mit seinen
der Kandare des Pferds, bremste. Der Meister war unterwegs ins Radio, zu einer Aufnahme. ‚Irgendein Geschwätz.‘ Auf dem Madách-Platz geriet er in einen riesigen Stau. Es sah so aus, als wäre der Verkehr Richtung Dohány-Straße schneller und es würde sich vielleicht sogar lohnen, die längere Strecke zu wählen, doch er überschlug die Sache so lange bei sich, bis er die Kreuzung verpatzt hatte: er war drüber weg: nun gab es keine Wahl mehr. Zu allem Überfluss waren Scheibenwischer und Blinker kaputt, so musste er sich im lauen Regen immer wieder nach vorne beugen, um die Stirn seines Pferds abzuwischen und den Bereich um die Augen und die Scheuklappen zu trocknen. (Das war sicher nicht sehr angenehm – E.) Er fand zwar einen Parkplatz vor dem Museum, doch er rannte bereits völlig umsonst über die Sándor-Bródy-Straße – während der kühle und wirklich sehr unangenehme Wind ihm durch das geliebte, jedoch dünne blaue Blouson blies –, er war zu spät.“ (Esterházy: Ein Produktionsroman, 242.) Schon in der Kleinen ungarischen Pornographie (1984) gibt es Beispiele für die Verwendung dieses ausklingenden Satzbogens auch in komplexeren Fällen; hier wird der „postmoderne“ Synkretismus von einem Zusammenspiel aus mehrerlei Tonlagen, Sprechperspektiven und sehr weit voneinander entfernten historischen Stilformen gespeist: „Schwänzeln Sie vor Freude? Wackeln Sie mit dem Hintern? Greifen Sie im allgemeinen plötzlich, ungestüm, wild nach einer Frau? Was meinen Sie, die Volksherrschaft, sie stößt Ihnen sozusagen zu, oder im Gegenteil, Sie erschaffen sie erst? Diese Frau will und will nicht reden, rührt sich nicht, hält sich an der Kaminsäule fest, schließt die Augen, als wäre es ihr gleichgültig, was in der nächtlichen Dunkelheit hinter ihr geschieht, während sie sich ausmalt, was sie herbeisehnt? Ein altes Weib tritt ein, um nach dem Feuer zu sehen, als sie Sie beide erblickt, verzerrt sich ihr Gesicht zu einem teuflischen Grinsen, Sie jedoch stört ihre Anwesenheit überhaupt nicht, und heiser lacht sie: treib es nur, treib es mit ihr nur, gnädiger Herr, mit meiner guten Gnädigen, die Frau richtet sich auf, und seufzend, mit müde zitternden Knien, zerschmettert, mit nebligfeuchtem Lächeln und geschlossenen Augen wankt sie davon?“ (Esterházy: Einführung, 588.) 23 „‚Sehen Sie, mein Freund, dieser Satz – ich habe ihn gemacht! – ist wie der Regenbogen. Schön zweideutig.‘“ (Esterházy: Ein Produktionsroman, 151.) 24 „Die harte Kindheit war es, die den Meister abhärtete, so dass er auch in den heutigen seidigen Zeiten so hart wie ein Fels sein kann. Tu es Petrus, wie ich bereits andeutete . . . Obwohl, das kleine familiäre Doppelkinn . . .“ (Ebd., 269.) 25 „Der Meister lebte bereits mit sich verbessernder Tendenz im Familienkreis (‚Kreis: Abdruck von Gläsern auf klebrigen Caféhaustischen. Definition.‘).“ (Ebd., 268.) 26 „‚Die Welt spielt mir in die Hand.‘ (Seine Fingernägel! Ein Skandal!)“ (Ebd., 255.)
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verspielten, leichten und raffinierten Registerbewegungen, der mit zisellierter und ätherischer Graziosität eine Innerlichkeit der anmutig nahsichtigen Ironie, die spielerischen Effekte einer nicht-zynischen „Verunernstlichung“ hervorruft, die nicht frivol, wohl aber „aristokratisch“ ungeniert sind. An Mikszáths Verfahren erinnert unter dem Aspekt der Gestimmtheit der Erzählung und der Stimmenführung wohl am ehesten die makellose Zusammenfügung der zwanglosen, spielerischen Tonlage mit den Wertbetonungen. Zumindest dort, wo die unerwartete Pointierung der abschließenden Modulation die zuvor gebildeten, prospektiven Bedeutungshorizonte des Textes modifiziert. Eine andere – ebenfalls parabelhaft lesbare – Episode des Produktionsromans zitiert „das Aufeinandertreffen zweier selten brutaler Mannschaften“ in ihrer ungezierten sprachlichen Wirklichkeit: „Du kommst mir schon noch in den Fleischwolf!“ – „Du bist mir vielleicht ein Häschen, Chef“, hauchte er dem Verteidiger-Burschen zu, „dafür hat man mich hierhergestellt! Damit ich in den Fleischwolf gehe!“ Das Bürschchen war der Kleine Knochenmann, ein Verteidiger aus der Gattung der Killer, er war nur jung. „Sein Bruder, der Knochenmann, ist ein guter Aktiver.“ Wie der Meister den Knochenmann hasste! Wenn er hassen könnte, würde er ihn hassen. Der Kleine Knochenmann beute sich ganz nah an das berühmte Gesicht. „Ihr kommt schon noch wieder zu uns, Nasenbär, was?!“ – „Nun, mein Lieber“, antwortete er mit dem Gemüt einer Marquise, „wenn die Laune der Auslosung es so will.“27
Dieser Text, der mehrere Perspektiven zugleich geltend macht, aus unterschiedlichen Sprechakten aufgebaut ist, dabei aber an den Narrator gebunden bleibt, wechselt hier vollkommen unerwartet die Register zwischen den Tonlagen des niederen, instinktiven Affekts und der graziösen Leichtigkeit und präsentiert dem Leser die nicht kalkulierbare, unvorbereitete Entstehung der anekdotischen Struktur während ihres Geschehens. Diese Entstehung, die sich – teilweise sogar als unvorhersehbares Ereignis der sprachlichen Konfiguration – plötzlich vom Erwartbaren entfernt, folgt formal meist den narrativen Mustern von Mikszáths kleinen Prosaformen. An einer anderen Stelle des Romans tritt die unerwartete diskursive Wende in der Erzählung ein, indem beispielsweise Mikszáth selbst zitiert wird: „Wie spät haben Sie es, Onkel Móricz?“ Jókai war zu Scherzen aufgelegt. „Ja, bin ich denn deine Uhr? Ich gehe zwar, ich schlage auch, aber ich zeige nicht an.“ Und damit schlug er mir kräftig auf den Rücken und ging weiter. Selbst die Erde schien in diesem Augenblick zu beben. Dezső Szilágyi kam aus dem Ratssaal, fauchend, schnaufend wie der Waldochse aus dem Dickicht.
27 Ebd., 256.
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„Exzellenz, ich bitte dich, was sagt die Uhr?“ „Was ist das für eine dümmliche Frage?“ Ich trollte mich und zwischen all den gleichgültigen, kalten Figuren sah mich als Einziger Pál Kiss aus Nemeskér freundlich und vertraut an. „Euer Gnaden, wie spät ist es?“ Er dachte nach, zog seine Uhr hervor, sah aufs Ziffernblatt und schlug plötzlich den Deckel wieder drauf. „Wenn du’s unbedingt wissen willst“, sagte er zögernd, „kann ich Darányi fragen.“28
Aber während sich bei Mikszáth die Modalität der Mitteilung nicht verändert (oder: nicht bricht), verlässt bei Esterházy nicht nur die Grammatik die bisherige Ordnung des Diskurses, sondern auch die Vektoren der Bedeutungsbildung ändern ihre Richtung. Beim Vergleich der beiden Textstellen wird nämlich deutlich, dass bei Mikszáth auf den Richtungswechsel der Bedeutungsimpulse – wie allgemein – kein Wechsel der Tonart der Rede folgt. Poetisch betrachtet bedeutet das, dass der intentionale Richtungswechsel von derselben Syntax vollzogen wird, die ihn auch vorbereitet hat. Völlig anders ist der Erzähltonfall im Schlussteil von Indirekt gestimmt, wo die assertive Bildung des Anblicks die sinnliche Gesamtwirkung einer angespannt feierlichen Stimmung durch die harmonischen und drohenden Wahrnehmungen des Camus-Textes zur Betonung kommen lässt. Zugleich wird in der Abschlussmodulation des Textausschnitts die gefährdete Offenheit der humanen Perspektive durch die meisterhafte Verschränkung einander widersprechender Impulse gefestigt. tiefe Nacht wölbte sich über ihm, wie auch jetzt, an dem vom Wind blankgefegten Himmel funkelten klare Sterne, und der ferne Schein huschte alle Augenblicke aschgrau darüber hinweg, die Brise trug einen Geruch nach Gewürzen und Stein herbei, ein paar Straßen weiter
28 Ebd., 327–332. – S. Mikszáth: „Hány óra?“, 819: „Wie spät haben Sie es, Onkel Móric?“ Jókai war zu Scherzen aufgelegt. „Ja, bin ich denn deine Uhr? Ich gehe zwar, schlage auch, aber zeige nicht an.“ Und damit schlug er mir kräftig auf den Rücken und ging weiter. Selbst die Erde schien in diesem Augenblick zu beben. Dezső Szilágyi kam schnaubend, keuchend. „Exzellenz, ich bitte dich, wie spät ist es?“ Er sah mich vernichtend an und fuhr auf: „Was ist das für eine dämliche Frage?“ [. . .] Ich trollte mich, und zwischen all den gleichgültigen, kalten Figuren sah mich als Einziger Béla Lukács freundlich und vertraut an. [. . .] „Euer Gnaden, wie spät ist es?“ Er dachte nach, zog seine Uhr hervor, blickte darauf und schlug den Deckel plötzlich wieder zu. „Wenn du unbedingt willst“, sagte er zögernd, „kann ich Baross fragen.“ – Erweist sich eine Anekdote als treffend, pflegen die Namen zu wechseln; Esterházys Text bietet eine wörtliche Version von Mikszáths Anekdote, aber mit anderen Namen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Mikszáth selbst sie an anderer Stelle mit anderen Namen veröffentlichte, ausgeschlossen werden kann es jedoch nicht.
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schien ein Auto lange auf dem nassen Pflaster zu rutschen, danach zerrissen noch verworrene Rufe von weit her die Stille, winterlicher Ärger!, dann fiel sie wieder mit ihrem ganzen Gewicht von Himmel und Sternen auf sie zurück, was passiert hier, lieber Gott . . .29
Diese feierlich schwerfällige, düster getönte Qualität der Erzählung ist zweifellos – von Kosztolányi bis Ottlik, ja sogar von Márai bis Mészöly – ein viel häufigeres und bekannteres poetisches Merkmal der modernen ungarischen Prosa als das formal äußerst erfindungsreich zusammengeknüpfte rhizomartige Netz der kleinen Prosaformen, die gerade dadurch permanent unmittelbar und strukturell unfixierbar sind, dass keine „Prozesse“, „Zusammenhänge“ oder „Ereignisse/ Handlungen“ von der einen zur anderen führen. In ihren gelungensten Augenblicken bringen sie sogar gerade die ganz besondere, nur ihr eigene Erfahrung der Literatur zur Aufführung: Durch das Dazwischenkommen dieser Zerrissenheiten oder Getrenntheiten ist es gerade die Spannung der Brüche zwischen den linearen Sequenzen, die die Impulse der nicht-grammatischen Bedeutungsbildung für die gleichzeitig zeitliche und räumliche Lektüre – im Vergleich zu den Erzählformen mit geschlossener Motiviertheit – verstärkt. Dieses Potential speist sich viel eher aus der inneren sequenziellen „Zerbröckeltheit“ der kleinen Formen mit ihrem freieren Verhalten und ihrer leichteren Anpassung, die dem Ausdruck der Spannung zwischen den unterschiedlichen Wertformen einen größeren Bewegungsraum bietet. Die poetischen Komponenten dieser unterhierarchisierten epischen Mitteilungsformen sind momentan noch ziemlich unaufgedeckt, insbesondere ihr narratives Verhalten, ihre ästhetischen und sprachkünstlerischen Wirkungsformen. (Ein Beispiel für letztere ist der in der Verteidiger-Episode zugleich semantisierte und materialisierte Zusammenklang der Ausdrücke kedély und szeszély: „‚Nun, mein Lieber‘, antwortete er mit dem Gemüt – kedély – einer Marquise, ‚wenn die Laune – szeszély – der Auslosung es so will.‘“). Von besonderer Bedeutung ist hier zudem, dass diese Kombination aus ungezwungener Stimmführung und zugleich sehr komplexer modaler Gestimmtheit des epischen Erzählens zur Zeit des Erscheinens des Produktionsromans im Raum einer literarischen Öffentlichkeit, die zuvor jahrzehntelang nur von einem Erwartungssystem der Urteils- oder Verurteilungsästhetiken bestimmt war, ausgesprochen selten vorkam. Diese – dem Kantschen Angenehmen sehr ähnlichen – erzählpoetischen Qualitäten stehen zudem in einem ästhetischen Systemkonflikt mit der in der Urteilskraft verankerten Rezeptionsstruktur der ästhetischen Erfahrung. Das bei Kant dem interesselosen Gefallen gegenübergestellte Angenehme
29 Esterházy: Einführung, 312.
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mit seinem heiklen Status (hier: anmutig, lieblich, ergötzend, erfreulich, „graziös“)30 war in der ungarischen Erzähltradition der Gefahr einer ideologisch motivierten Verurteilung ausgesetzt, da es – und genau dies wurde der Anekdotenhaftigkeit von der Kritik auch vorgeworfen – das ästhetische Potential, von dem die Urteile ausgingen, eigentlich jederzeit auflösen oder neutralisieren konnte. Bei Kant wurde es als Bediener der Interessen, als an Interessen gebundener Faktor, der Sicherheit der rein interesselosen Geschmacksurteile geradezu gegenübergestellt. Daher man von dem Angenehmen nicht bloß sagt, es gefällt, sondern es vergnügt. Es ist nicht ein bloßer Beifall, den ich ihm widme, sondern Neigung wird dadurch erzeugt; und zu dem, was auf die lebhafteste Art angenehm ist, gehört so gar kein Urteil über die Beschaffenheit des Objekts, daß diejenigen, welche immer nur auf das Genießen ausgehen (denn das ist das Wort, womit man das Innige des Vergnügens bezeichnet), sich gerne alles Urteilens überheben.31
In welchem Maß der Produktionsroman in einem ganz anderen Erwartungshorizont die Betonungen der ästhetischen Erfahrung auf – sprachlich zumeist in den diskursiven Mustern des spielerischen und zwanglosen style rocaille medialisierte – sinnliche Faktoren verlegte,32 ist bis heute ein wenig beforschtes Gebiet der sog. Prosawende, wenn nicht sogar ihr absurdester blinder Fleck. Denn es ist offensichtlich, dass diese bis zur Markus-Version (2014) kontinuierlich präsente ästhetische Qualität der Gestimmtheit im Tonfall der Erzählung sich in viel komplexeren poetischen Verhaltensmustern33 realisiert, als dass man sie
30 Kant: Kritik der Urteilskraft, 117. Dem Grimmschen Wörterbuch zufolge bildete sich für das Graziöse (Anmut), das schon Solger synonym für das Liebreizende, Zierliche verwendete, bis zum 17./18. Jahrhundert jene Bedeutungskonvention heraus, nach der es als eine Art „begier anregende und befriedigende“ sinnlich wahrnehmbare Schönheit fungiert und sich vor allem in einem nicht von Detailgebundenheit beschränkten Reichtum zeigt. Deutsches Wörterbuch, 409–410. 31 Kant: Kritik der Urteilskraft, 117. 32 Die große Häufigkeit von Scherzen, Vaudeville und verwandten Gattungen lässt vermuten, dass sich Esterházys Prosa von der Tradition her eher als eine Weiterschreibung des auf der Seinsweise als Sprache bzw. Werk begründeten Erzählmodus des 18. Jahrhundert mit seinem schöpferischen/hervorbringenden Charakter zeigt denn als Erbe des Romanschreibens nach dem darstellenden/mimetischen/Repräsentationsprinzip, jenes Produkts des ästhetischen Diskurses des „manier“-feindlichen 19. Jahrhunderts, der von der Wirklichkeitserfahrung ausgeht, die Fiktion üblicherweise auf ein „wahres“ Sein bezieht und die Literatur so letztendlich immer „unwirklich“ werden lässt. 33 Im Vergleich zum Marie-Antoinette-Motiv des Produktionsromans erweist sich in Indirekt (1981) beispielsweise ein Typus des unerwarteten Richtungs- und Perspektivwechsels als konstitutiv, der nicht Gattungsbestandteil der pointierenden, scherzhaft-anekdotischen kleinen
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einzig als Ablehnung der urteilsästhetischen Einstellung ansehen könnte. Dabei bleibt weiterhin grundsätzlich zutreffend, dass Esterházys Werke, eingeschlossen selbst das Bauchspeicheldrüsentagebuch, das Geschehen der ästhetischen Erfahrung vorrangig nicht im urteilsästhetischen Horizont zugänglich machen (weil sie es nicht in den formalen Strukturen der Subjektivität begründen). Dieser in der Formsprache der Interpretation kaum abzubildende Reichtum an sprachlichen Registern kommt, wie es die Einführung in die schöne Literatur in bildlich-ikonischer Form ja auch reflektiert, innerhalb der Erzählung in der paradoxen Melodielinie der Mehrstimmigkeit zur Geltung, die an ein Möbiusband mit immer nur „einer Oberfläche“ erinnert und als ein und dieselbe Tonart wahrgenommen werden kann, sowie in ihrem multiperspektivischen Verhalten, das mit seiner zugleich vertikal und horizontal „sich erstreckenden“ Schichtung34 das Penrose-Dreieck heraufbeschwört. All das lässt sich auch so verstehen, dass diese modal so artikulierte Erzählweise die Koordinaten der ästhetischen Erfahrung in Esterházys Texten vor allem durch die starke Beschränkung der starren Betrachtungs-, Gattungs- und diskursiven Formen herausbildet. Die nachdrückliche Klang-/Tongebundenheit35 dieser belletristischen Redeweise bedeutet bei Esterházy jedoch – und darin liegt wohl das unvergleichlichste und individuellste Merkmal seiner Sprachkunst – nicht allein die axiomatische Stärkung des „ich betrachte alles als Sprache“. Die außerordentliche Aufwertung der Sprachlichkeit an sich ist bei den Klassikern des 20. Jahrhunderts keine ungewohnte Erscheinung. Die poetische Prämisse der Klanggebundenheit bedeutet hier, dass die künstlerische Mitteilung in einem Bewegungsraum gehalten wird, der viel eher als die originär geschriebene, textliche Sprache der Literatur der sprachlichen Spannung zwischen dem Schreibbaren und Sagbaren ausgesetzt ist. Die unterbrechungsreiche Syntax, die scheinbar launische Ungebundenheit der transmutativen Grammatik, die sich aus dieser Spannung speisen, unterstützen so eine Schreibweise, die gegenüber der Textgebundenheit der Narration den Mehrwert
Formen ist: „skandalös hingegen ist die Wahrheit, das ist sie, und alles, was das Sein grundsätzlich berührt, diesen Skandal muß man erkennen, und wenn es die Situation will, muß man skandalös sein, was aber kein Programm ist, er, K., ist kein Prophet, sondern wie er es schon einmal gesagt hat, ein Heini, das ist kein Programm, sondern Bereitschaft, Schutzlosigkeit, Achtsamkeit, mit den Knien, all sein Leben dafür, drang er voran, wie ein Rammbock, Meniskusriß, fuhr ihm durch den Kopf . . .“ (Esterházy: Einführung, 289). 34 „Wenn ich einen Satz auf Ungarisch schreibe, weiß ich, welche Stellung er zum Beispiel zwischen dem vierzigjährigen László Garaczi und dem vierhundertjährigen Péter Pázmány einnimmt, miteinbezogen sei dabei auch der Gemüsehändler von der nächsten Ecke.“ (Esterházy: Thomas Mann mampft Kebab, 122.) 35 Siehe Fußnote 5.
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der Sprache in ihrer gesprochenen Version und die Priorität des Sprachklangs geltend macht. Die auffallende Vielfalt der Mitteilungsindizes und -richtungen, die Dynamik und feine Flexibilität der grammatischen Erfindungen, die ungewohnte semantische „Belastung“ der Schriftzeichen (und sogar der Typografie) ziehen den Text regelmäßig in einen Raum der Leseerfahrung, der in der Rezeption die Illusion aufrechterhält, dass wir nicht schreibbare Akzentbewegungen, Intonationen, Pausen, Tempoveränderungen der Rede, habituelle und okkasionelle Indizes der Mitteilung sozusagen hören und auch verstehen – mehr noch, auch die Unterschiede zwischen den beiden Arten des (erzählerischen und darstellerischen) Verschweigens. Im Verhältnis zwischen der Priorität des sprachlichen Klanges und den Nachteilen der stummen Aufzeichnung, die die Eigenheiten der Rede nicht aufschreiben kann, bekommen bei Esterházy nicht ohne Grund jene Zeichenformen eine herausgehobene Rolle, die auch im Geschriebenen an den lebendigen Kontakt zwischen diesen beiden Medien der Mitteilung erinnern: Das Semikolon ist das literarischste Satzzeichen; – lesen wir in Estis Eigenkommentar – denn Satzzeichen sind zugleich Redezeichen, das Semikolon jedoch am wenigsten: Sein Zuhause ist der Text, dort ist es heimisch, meistens ist es nicht zu hören, nur zu sehen. Und natürlich zu spüren und zu ersehnen. Es trennt nicht nur Satzteile voneinander (oder verbindet sie) [. . .] Ein vornehmes Satzzeichen; das ist wahre Vornehmheit: Feinheit und nicht Überheblichkeit. Altmodisch, leicht resigniert; alt, aber nicht veraltet. In ihm steckt Kraft, Selbstsicherheit, weil Zeit in ihm steckt, Tradition.36
Diese „Feinheit“ im Sinne der finesse – Esterházys zentrales modales Element der Stimmführung – wird sicherlich auch hier nicht zufällig zur Eigenschaft eines Schriftzeichens mit besonderem Status, das die Hyperbata der klingenden Mitteilung sichtbar macht. Deshalb geht es hier nicht um die Einstimmigkeit der reinen mündlichen Erzählung, sondern um die „graziöse“ Zwanglosigkeit des Verhältnisses zum Gesagten, die die Vielfalt von Tonus, Register und Stimmlage im Gleichgewicht hält und all das in die Komplexität der Tonart integriert. Die zwanglose Komplexität und mehrfach strukturierte Architektur – nicht zufällig betonen das die Transformationsillustrationen der Einführung – setzen jedoch gerade nicht die Unordnung zum Grundprinzip ein, sondern machen
36 Esterházy: Esti, 319.
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nur den repräsentationsästhetischen Systemzwang der Korrespondenzen und Entsprechungen ungültig. Esterházys Texte inspirieren genau deshalb nicht zu „ästhetischem“ Urteil oder zur Stellungnahme über ihre „Schönheit“, sondern bahnen die Wege für ein neues Selbstverstehen des Lesers, das durch das ästhetische Sinngeschehen ausgelöst wird. Und zwar Wege, die erst in der Begegnung mit der Kunst zeigen, zu welch echter Offenheit und welchen schicksalhaften Unentschiedenheiten sie statt der vordefinierten Provinzen der humanen Ideologien führen. Die Gesamtwirkung von Esterházys Werken lässt sich schon deshalb nicht ausreichend mit dem Begriff der gewissen „ontologischen Heiterkeit“ (Miklós Mészöly) erklären, weil die Heiterkeit nicht immer die Heiterkeit des sokratischen Ernstes ist: Sie trägt auch etwas von den Inhalten der Naivität in sich. Die Fuhrleute (1983), Die Hilfsverben des Herzens (1985) oder die Verbesserte Ausgabe (2002) bezeugen gut, dass man über Esterházys Prosa nur mit ernsthaften Einschränkungen behaupten kann, dass über das Verhältnis des Textes zum Wahrheitsgehalt des Gesagten eine Gesinnungsmodalität herrscht, die sich auf die unterartikulierten Betrachtungsformen der Heiterkeit beschränkt. Es geht hier eher um eine umfassende sprachliche Atmosphäre, die – selbst in seinen späteren Werken mit ihrer homogeneren Stimmführung – eine komplexere Wirkung zeitigt als die, für die sich die sprachliche Wirklichkeit der ironischen Selbstreflexion, die die Mitteilungssicherheit der unmittelbaren („bekenntnisartigen“ oder „autobiografischen“) Rede ausbalanciert, eignet. Das sprachliche Mehrwertpotential dieser sprachkünstlerischen Atmosphäre liegt bei Esterházy nämlich darin, dass der Text – im Gegensatz zur spielerischen Gesamtwirkung der noch so unstabilisierbaren ironischen Doppelwertigkeit, die den Gegendiskurs unmöglich verbergen kann – hier nicht das (so oder anders geartete) Aussprechen von etwas vollzieht, sondern uns am Augenblick des unwiederholbaren Entstehens einer vor uns werdenden Welt teilhaben lässt. Und diese Welt macht in der ästhetischen Erfahrung ein Gebilde sichtbar, in dem sich die Ironie deshalb nicht liquidiert, weil sie nicht alles relativiert, und auch die Affirmation der Werte deren Hinterfragbarkeit aus einer anderen Perspektive nicht aussetzt. Die besten (und zugleich gewichtigsten) Textteile des Bauchspeicheldrüsentagebuchs halten die Entstehung der Bedeutung auch in einem solchen unverletzbaren modalen Gleichgewicht: Ich glaube, mir ist gar nie in den Sinn gekommen, ich würde irgendwann sterben. Nicht dass ich gedacht hätte, ich würde nicht sterben. Mein möglicher Tod hat mich nie berührt. Jetzt scheint es, diese Möglichkeit sei näher gerückt, sie berührt mich aber auch jetzt nicht. Manchmal muss ich wirklich denken, ich sei ein ernsthafter Gläubiger, dort auf der Handfläche Gottes, und wenn ich auch nicht gerade darauf warte, meinem himmlischen Vater unmittelbar zu begegnen, empfinde ich das eine wie auch das andere als gleichartig. Und dies hier, diese irdische Version, finde ich gut, wenn ich auch weiß, sie
„Graziöse“ Ungebundenheit
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ist gerade nicht so angesagt. Um in den dunstigen Raum zwischen Márai und einem untalentierten Pfarrer aus der Provinz zu treten: Es ist gut zu leben. Und ist es dann auch gut zu sterben? Dann gäbe es gar kein Gut und kein Böse? Theoretisch bliebe dann noch die Agonie als das Böse. Doch darüber dann später.37
Literatur Bagi, Zsolt. „Elmeél és Bildung. Az Esti stílusáról“ [Scharfsinn und Bildung. Über den Stil des Esti]. Műút 20 (2010). 56–60. de Man, Paul. „Literary History and Literary Modernity“. Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. London: Routledge, 1986. 142–165. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 1 [Nachdr. d. Erstausg. 1854]. München: DTV, 1999. Esterházy, Péter. Bauchspeicheldrüsentagebuch. Deutsch von György Buda. München: Hanser, 2017. Esterházy, Péter. Egy kékharisnya följegyzéseiből [Aus den Aufzeichnungen eines Blaustrumpfs]. Budapest: Magvető, 1994. Esterházy, Péter. Ein Produktionsroman (Zwei Produktionsromane). Deutsch von Terézia Mora. Berlin: Berlin Verlag, 2010. Esterházy, Péter. Einführung in die schöne Literatur. Deutsch von Bernd-Rainer Barth, György Buda, Zsuzsanna Gahse, Angelika Máté, Péter Máté, Terézia Mora und Hans-Henning Paetzke. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Esterházy, Péter. Esti. Deutsch von Heike Flemming. Berlin: Hanser, 2013. Esterházy, Péter. Kleine ungarische Pornographie. Deutsch von Zsuzsanna Gahse. Salzburg: Residenz, 1987. Esterházy, Péter. Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors. Deutsch von Zsuzsanna Gahse. Wien/Salzburg: Residenz, 1999. Heidegger, Martin. Unterwegs zur Sprache. Stuttgart: Neske, 101993. Kant, Immanuel. Kritik der Urteilskraft ( = Werke in 12 Bänden 10). Frankfurt a.M.: Holzinger, 1977. Mikszáth, Kálmán. „Hány óra?“. A hét (20. Dezember 1891). 819. Nietzsche, Friedrich. Die Geburt der Tragödie (= Kritische Studienausgabe 1). München: DTV, 1999. Nietzsche, Friedrich. Nachlaß 1882 – 1884 (Kritische Studienausgabe 10). München: DTV, 1999. Trabant, Jürgen. „Der Totaleindruck. Stil der Texte und Charakter der Sprachen“. Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986. 169–188. Weöres, Sándor. Három veréb hat szemmel [Drei Spatzen mit sechs Augen]. Budapest: Szépirodalmi, 1977.
37 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 62.
Péter Szirák
Ein Netz der kleinen Formen: Muster und Originalität im Schreiben Péter Esterházys „. . . Esterházys Werk hat nicht nur die Möglichkeiten der ungarischen Prosa in bedeutendem Maße ausgedehnt, sondern zugleich auch die überragende Mehrheit jener westlichen Werke in ihrer Gedankentiefe übertroffen, die gemeinhin als die maßgeblichen Schöpfungen der postmodernen Literatur angesehen werden“, schrieb Mihály Szegedy-Maszák, der ungarische Meister der Komparatistik, Mitte der 80er Jahre über das Buch Einführung in die schöne Literatur.1 In seiner Argumentation verband er Esterházys Schreiben mit einem Balancesystem von Erneuerung und Tradition auf hohem Niveau, wobei er auch zu bedenken gab, dass Postmodernismus in seiner besten Form nicht Liederlichkeit bedeute, sondern ein erneuerndes Bewahren, im Sinne der Wahlsprüche „Aus alt mach neu“ nach Jauß2 und „Erbe als Aufgabe“ nach Derrida.3 Zeitgenossen können bestätigen, dass Esterházy im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zu einem (zumeist bedacht voranschreitenden) Spracherneuerer der ungarischen Literatur geworden war. Zudem war sein Einfluss so stark, dass dadurch die literarische Sprache noch einmal – und vielleicht nicht zum letzten Mal, doch häufig geschieht so etwas nicht – über ihre eigenen Kreise hinaus wirken konnte und den Sprachgebrauch der gebildeten Leserschaft formte, vor allem den der jungen Intellektuellen. Als demobilisierte Soldaten etwa, mit unanständigem Vokabular teilweise zwangsmäßig, aber dennoch großzügig ausstaffiert, verschrieben wir uns der Mission, unserem Gesagten mit dem lexikalischen Element der „Fichte“ rhetorischen Nachdruck zu verleihen, womit wir den Schwur von Ottliks Helden4 mit dem verhüllten Angebot des Produktionsromans verschmelzen ließen (und uns auf die „uns noch zustehenden sonnigen Tage der großen Sommerferien“ einrichteten, die das Leben sind). Und damit haben wir noch nicht einmal die allseits
1 Szegedy-Maszák: „Minta a szőnyegen“, 265. 2 Vgl. Jauß: „Alter Wein in neuen Schläuchen?“. 3 Vgl. Derrida: Marx’ Gespenster. 4 Es handelt sich um den Roman Iskola a határon (1948–1959) von Géza Ottlik (dt. Schule an der Grenze), welcher Roman von poetischer wie kultischer Bedeutung für die spätere ungarische Literatur war, vornehmlich für Esterházy. Übersetzung: Deutsch von Sophia Matteikat. https://doi.org/10.1515/9783110618082-010
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Péter Szirák
beliebte Schlussformel „Das wird alles noch eine butterfarbene Nuance bekommen“ erwähnt oder den Wendezeit-Scherz „Land nehme ich nicht zurück“ oder die Minutennovelle, die von einer Gebrauchsanweisung zur ironischen Maxime wurde: „Die Straßenlage des Trabant ist ausgezeichnet, seine Beschleunigung hervorragend. Dies jedoch sollte nicht zum Leichtsinn verführen.“ Natürlich ist auch ein derartiges kultiviertes Übernehmen dieser Floskeln in die Umgangssprache eine Art Maßstab, zumal es auf der Ummontierung und Verbiegung der Zitatelemente beruht und somit auf dem Mittel des Kontextwechsels, was gerade eines der Schlüsselelemente der Esterházy-Poetik ist. Das Sammeln, neu Einrahmen und Verdichten des Lesbaren und Hörbaren, seine Einführung in und Ausführung aus der Literatur. Vom Verfassen des Produktionsromans an verarbeitete Esterházy immer mehr Zitate, und deren Selektion, also die „Textklauberei“, das Finden passender Zitate und ihre Zusammenfügung sowie ihre Neukontextualisierung durch Wiederholung wurden zum Markenzeichen dieser Art der Textschöpfung. Und wir Leser trugen als Zitierer (in der heutigen Sprache des Web 2.0: „Sharer“, „Aggregatoren“) ebenso unseren Teil zu dieser Ein-, Aus- und wieder Einführung bei. Die mit der Aufhebung der Grenzen zwischen literarischem und sogenanntem alltäglichem Sprachgebrauch, mit der Relativierung des Unterschiedes zwischen „Innerem“ und „Äußerem“ eines Werkes in Verbindung stehende „Zitattechnik“ war in der ungarischen Prosa der 70er Jahre natürlich keine unbekannte Erscheinung. István Örkénys ready-mades, Dezső Tandoris Anspielungssysteme, Miklós Mészölys „philologische“ Ausschnitte und Imre Kertész’ Methode der „Selbstkopie“ lassen sich alle dieser Technik der Zitatmontage zuordnen. Der Hauptunterschied besteht vielleicht darin, dass die Montagen dieser Autoren eher blockartig und modal größtenteils gleichartig waren, während die transtextualen Effekte Esterházys auf der Kollision sprachlicher Welten beruhen und die Tendenzen zur tonalen und semiotischen Pragmatisierung der Zitate vervielfachen.5 Und dabei bauen sie die – in vernetzter Form aufeinander anspielenden – neuen Kontexte der Zitate so auf, dass im Zuge dessen notwendigerweise alle früher existierenden abgebaut oder ausgelöscht werden. (Das Beispiel von Mihály Szegedy-Maszák spielte bereits darauf an, auf welche Weise das Zitieren einer Montage des Textes Tagebuch des Herbergsvaters im 20. Jahrhundert die kollektiven Zielwerte des Zitates aus dem 19. Jahrhundert entkräftet: „Nicht: wirke, schaffe, mehre, und die Heimat wird aufblühen oder nicht. Das ist so ungewiss. Hingestreckt wird man immer, das ist sicher.“6)
5 Siehe Szirák: „Ragasztás és/vagy újraírás“, 37. 6 Szegedy-Maszák: „Minta a szőnyegen“, 257.
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Der modulartige Gebrauch von Texteinheiten und Zitaten, das umkontextualisierende Wiederholen und Deplatzieren der Zitate geht mit der Variabilität der Identität des Erzählers („Textklaubers“) einher (so ist der Erzähler zum Beispiel in Die Hilfsverben des Herzens und in Harmonia Caelestis mal Romanfigur, mal Quasi-Autor, wodurch es unmöglich ist, in Hinblick auf den Wahrheitsbezug der Äußerungen zu einer klaren Erkenntnis zu gelangen, sodass die Abgrenzung von Fiktion und Realität immer wieder zu einem unmöglichen Unterfangen wird)7, und all das befreit die möglichen Sprachspiele fortlaufend vom Zwang der äußeren Bezugsbildung und schafft damit Raum für die amimetische Logik sprachlicher Spiele. Die stellenweise vielleicht noch unausgereiften Wortspiele des Produktionsromans und die komplizierteren Wortschöpfungen und Wortverschmelzungen der Einführung in die schöne Literatur nutzen gleichermaßen die Ähnlichkeit der Bedeutungen aus. Die zuletzt zu einer Art Esterházy-Archiv und zu einer Basis der Selbstkopie gewordenen Zitatelemente ziehen sich durch das ganze Lebenswerk. Im Kapitel Verhör aus dem Werk Pápai vizeken ne kalózkodj! [Räubere nicht in päpstlichen Gewässern!] (1977) ist die Grundidee von Das Buch Hrabals (1990) bereits vorhanden; die Gräfin Hahn-Hahn, die im V. Kapitel des ersten Teils des Produktionsromans und im 10. und 55. Eintrag des zweiten Teils auftaucht, erscheint später im rätselhaften Originaltitel des meisterhaften Donau-Romans (zu Deutsch Donau abwärts); eine Version des „Wie man den Trabanten pflegen muss“, das in Halassis Schreibheft vorkommt und das bereits erwähnte Motto der Kleinen ungarischen Pornographie nachklingen lässt, begegnet uns erneut im Titel des in den 90er Jahren berühmt bzw. berüchtigt gewordenen Pamphlets Wie man den Ungarn pflegen muss; das Klischee „Das Haus verwaist, der Herr verreist“, welches bereits in Agnes auftaucht und in Die Hilfsverben des Herzens wiederholt wird, füllt sich schließlich und endgültig auf den Seiten des Bauchspeicheldrüsentagebuchs mit humoristisch-tragischer Bedeutung.8 Worte kommen Worten zuvor, und als wandelhafte Geister kehren Wörter, Formulierungen und Zitate zurück, womit sie zeigen, dass es sich beim Esterházy-Lebenswerk um ein zusammenhängendes Projekt handelt. Das ist auch angesichts des Themen-Repertoires und der tropologischen Verkettungen offensichtlich. Als Hauptthemen treten immer die Erziehung auf, das Erwachsenwerden und die Familie, und im Zusammenhang damit Geschichte, Abhängigkeit, Tradition, Liebe, Politik,
7 In Bezug auf Harmonia Caelestis siehe Molnár: „Eine fragmentarische Enzyklopädie“. 8 Im Produktionsroman lässt Jozef Veverka seinen Schafspelz in Vonyarcvashegy anfertigen (Esterházy: Ein Produktionsroman, 441). Dieses kleine Dorf in der Nähe von Keszthely kommt auch im Bauchspeicheldrüsentagebuch vor (Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 33).
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Freiheit und Zusammgehören, Sexualität (Zärtlichkeit und Gewalt), sowie in den späteren Werken: der Tod und das Trauern. Esterházy gestaltete zudem die vorherrschenden Muster der Erzählstruktur grundlegend neu. Dabei stellen die bedeutsamsten Neuerungen die Auflösung des Chronotopos dar, die imaginäre Variation von Raum-Zeit-Gefügen9 (siehe die Anachronien ab dem Produktionsroman) und damit zusammenhängend die Kanonisierung der vielleicht auffälligsten Narrationstechnik der ungarischen Prosawende, der Unterbrechung. (Im Gedenkfilm über Esterházy10 stellte Krisztina Tóth eine Parallele zu Trends in der bildenden Kunst auf: Esterházy habe Unvollständigkeit gewöhnlich und Abgerundetheit ungewöhnlich gemacht.) Die Beendigung der Kontinuität steht mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den Desemiotisierungsversuchen der Neoavantgarde in Verbindung: Die in den 1980er Jahren entstandenden Teile der Einführung, wie etwa das circa 1980 verfasste Flucht der Prosa oder Indirekt, zeigen stark die dekomponierenden Praktiken der Unterbrechung, der Unabgeschlossenheit, der Zirkularität der Handlung, des Schnitts, Bruches und der Montage, wobei dies nicht nur durch die Wechselhaftigkeit der Typografie und des Layouts verstärkt wird, sondern auch durch die Konkurrenz zwischen Text und Bild und sogar durch die Auflösung der Grammatik. In den Jahren nach der Einführung wurden diese Desemiotisierungsvorgänge in den Hintergrund gedrängt und die Zitattechnik und die modale Komponente etablierten sich ausdrücklich als kanonische Formprinzipien der Esterházy-Prosa. Diese Schreibtechnik beruht auf der prinzipiellen Gleichstellung von Ton und Mitteilungsart und nutzt das Zusammenspiel der Formen des Sprachgebrauchs so aus, dass sie literarische und nichtliterarische Sprach- und Gattungsmuster und Anspielungssysteme vermengt. So geht mit der tonalen Komponente (zum Beispiel der Spannung zwischen der Erzählung und ihrem Gegenstand) die Dynamik der textuellen Semiose einher – vom Ineinander-Übersetzen der figurativen und wörtlichen Bedeutung über die De- und Rekomposition von narrativ-diskursiven Zitaten sowie jenen auf Klischeebzw. Wortebene bis hin zu selbstreflektierenden Figuren. Der Ab- bzw. Umbau des traditionellen Systems der Gattungen (der „Produktionsroman“, der Parodie und Satire ist, der „Kurzroman“, der ein Großwerk ist, der Roman, der ein Novellen- oder Prosagedicht-Imitat ist usw.), die Montage von nicht zusammenpassenden Diskursen, die Vermischung von derb und religiös, gehoben und unschicklich – das sind die Effekte, die am meisten für das Schlüsselelement von Esterházys Wirkung stehen: Für das Unerwartete, die Überraschung, die textuelle Ereignishaftigkeit, die Augenblicklichkeit des Lesens.
9 Siehe Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 74; Bónus: Garaczi László, 51. 10 . . . a mindiget javítom örökkére – Esterházy Péter Gedenkfilm, Reg. Zsolt Ruszthi, 2016.
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Der Produktionsroman und vor allem die Einführung erschufen diese unerwarteten Aspekte und Dissimilierungen mit außerordentlicher Intensität, doch auch in Donau abwärts, Harmonia Caelestis oder einigen Seiten und Absätzen der Markus-Version sind ähnliche Rhythmus- oder Perspektivenwechsel am Werk. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Esterházys Beliebtheit oder Unbeliebtheit zum Teil mit dieser Attitude der Textschaffung verbunden, wie auch seine Fähigkeit zur Neuerfindung oder zur Archivierung seiner selbst. Die einzigartige Vielschichtigkeit seiner Werke ermöglichte den Aufbau einer vielseitigen Leserschaft. Leser, die sich eher für die gut zitierbaren Wortspiele begeisterten („grünkret“, „die warmherzige Schwester“, „Chercher la MEHR“, „ist es des Guten zu mies“, „Ach, hol dir doch einen Kuss von der Madam Schoscha“, „nur Messer, Stasi, Feuer, Licht sollen euch trennen!“, „Große Zeit! Das Wort erfüllt sich: Eine Herde nun sind wir! Einz’ger Glaube ist die Freiheit, Brüder auf zur Côte d’Azir!“, „Ungarn ist noch nicht gewesen, sondern wird erst sein? Es wird werden müssen“ usw.) oder Leser, denen die ab Beginn der 90er Jahre immer häufiger werdenden politischen Spitzen gefielen, und auch solche, die ihre Freude an der ausgefeilten Semiose der rhizomatischen Intertexte, der modalen Komplexität und der atmosphärischen Einzigartigkeit der Texte fanden. Um ein vielleicht passendes Beispiel aus der Filmkunst anzuführen, ließe sich dies mit dem vielschichtigen Publikum von Quentin Tarantinos Werken vergleichen, unter Beachtung jenes offensichtlichen Unterschiedes, dass der für die Verschmelzung von Pop- und Hochkultur bekannte amerikanische Regisseur wesentlich weniger an seine Muttersprache gebunden ist als der, wenn auch viel übersetzte, ungarische Schriftsteller. Diese Vielschichtigkeit geht natürlich nicht nur mit einer Publikumsintegration einher, sondern führt auch dazu, dass es vielerlei Lesarten Esterházys gibt. Nach dem plastischen Beispiel des Verfassers der Esterházy-Monografie: „Sozusagen ähnlich jenem revelativen hermeneutischen Ereignis, das uns aus dem 2. Teil der Apostelgeschichte des Lukas bekannt ist, wo die zusammengetroffenen Völker das Gesagte ebenso ‚jeweils in ihrer eigenen Sprache‘ hörten.“11 Die Frage, wie originär diese „Stimme“ ist und wie individuell wir sie „hören“, ist verzwickt. Gewiss ist, dass die Wirkung dieser Stimme sich in ihrer eigenen Gestimmtheit verbirgt. Über die sogenannte Montiertheit von Esterházys Texten haben bereits viele vielerlei geschrieben. Zum Beispiel, dass er als Grundelemente der Erzählung die kleinen Formen der Prosa festlegte, vor allem den Kasus, den Witz und die Anekdote. Der fragmentarische Charakter seiner Texte hängt im Grunde eng mit dem Gebrauch von Kurzprosa-Strukturen zusammen, was gewissermaßen Raum
11 Kulcsár Szabó: „Nyelvművészet – kánon – világkép“, 53.
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lässt für die Montage von Zitaten, wobei letzteres Vorgehen das erste nur mehr verstärkt. Ein konsistenter, umfassender Spannungsbogen12 ist in keinem der Werke zu finden. Die Identität des Erzählers ist zumeist nicht feststellbar, die mimetische Welt bleibt fragmentarisch, da es Landschafts- oder Umgebungsbeschreibungen nur selten gibt und eine systematische äußerliche und innerliche Beschreibung der Charaktere meistens fehlt, wie auch eine zusammenhängende Darstellung von Handeln und Motivation, weshalb auch eine Ausarbeitung des Perspektivensystems der Figuren nicht charakteristisch ist. Mit anderen Worten schrieb Esterházy weder klassische psychologische noch philosophische Romane, wobei ihn jedoch an der Konfrontation von psychologischen und ideellen Diskursen immer und am meisten die Gegenüberstellung von Perspektiven und Werten interessierte, das heißt, sein anthropologisches Interesse war ungebrochen. Auf den Spuren von Kálmán Mikszáth erneuerte er die Anekdote, ließ sie aber nicht in Repliken aufgeteilt auftreten und gesellte ihr keinen Erzähler hinzu, der (wenn auch noch so ironisch) generelle Meinungen äußert, sondern spannte ein Netz aus kurzen Geschichten und platzierte sie so in die Polymodalität der Diskurse. Er zitierte seinen hochgeschätzten Vorgänger Márai oft, folgte aber nicht dessen kulturkritischer Überzeugung und seiner Neigung zum Erhabenen. (Die Vermischung von Erzählarten und Wortspiele auf der Basis von Bedeutungsähnlichkeiten vermied Márai tunlichst.) Regelmäßig zeigte Esterházy seine Ehrfurcht vor Ottlik, und während er die Vorliebe des Meisters für Perspektiviertheit radikalisierte, blieb er in der Suche nach einer transhumanen Stütze bis zuletzt sein treuer Nachfolger. Am engsten war er mit Kosztolányi verbunden. Den ausgefeilten Kompositionen und der anthropologischen Tiefe von dessen großen Romanen der 20er Jahre konnte er sich nur annähern, stärker knüpfte er an die spielerische Welt des Kornél Esti an, und seine Vorliebe für eine bunte, vielfältige Ausdrucksweise und die Risiken des „Erklingen lassens“ der Sprache ließ die Konstruiertheit seiner Texte weit von Kosztolányis Romanen abgeraten. Es stimmt, dass der Erzähler in Donau abwärts mit dem Rezipienten seiner Geschichte ähnlich konversiert wie Kornél Esti sich mit seinem Freund unterhält, der sein Co-Autor werden wollte13, doch dass der Erzähler (Textklauber) in Esterházys Werk dem aus Kosztolányis Novellenzyklus folgen würde, lässt sich dennoch nicht behaupten. Es handelt sich nämlich um einen Erzähler, der dem Leser nicht nur die Entstehung des Textes ausmalt (wie Mészöly und Tandori in ihren metafiktiven Werken), sondern auch in dem Sinne in die Literatur einführt, dass er der „Teilhabe des Rezipienten am Spiel
12 Siehe ebd., 55. 13 Szegedy-Maszák: „Sok, de nem minden“, 278.
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der Bedeutungsschaffung“ einen Weg bahnt, ihm Raum bietet.14 Auf der schöpferischen Seite des Werkes ermöglicht der Erzähler eine aktive Teilnahme des Lesers durch Unterbrechungen, direkte Anrede, Verschweigen, dissimilierendes Auftauchen von Zitaten und Selbstkommentare mit oder ohne Klammern, indem er einen Eindruck der ereignishaften Entstehung erzeugt, sowie der Eröffnung weit gefächerter und sich überkreuzender Bedeutungen, der Dynamik und Augenblicklichkeit von Aufbau und Zerstörung, Entfaltung und Ruinenartigkeit, was im Leser das Gefühl oder die Illusion eines gemeinsamen Schaffensprozesses erweckt, oder die Freude am gemeinsamen Erschaffen der Illusion. Dieser gesprächige, mitteilsame, nicht selten gefallsüchtige und oftmals provokative Erzähler inszeniert das Schreiben, das Zitieren, die Selbstreflexion, die Entstehung des Werkes, kurzum die Literatur als die wichtigste Sache der Welt. Er nimmt den Leser nicht an die Hand wie etwa Jókai, sondern behandelt ihn wie einen CoAutor, oder besser (da dies vielleicht selbst im metaphorischen Sinn eine Übertreibung ist) wie einen treuen Freund der Literatur, des Erzählers und des Autors. Genauer gesagt, erschafft er ihn als solchen. Hierbei geht es nicht nur um eine gegenseitige Bezeugung der Wichtigkeit der Literatur als Fachbereich der Existenz, sondern um die Involviertheit der gemeinsamen Erschaffung der Literatur und jenes Charakteristikum der Literatur, dass es sich bei ihr um eine ausschließlich „in der Ästhetik existierende Welt“ handelt, das heißt um keinen reinen „mimetischen Abdruck“15, sondern ein durch nichts zu ersetzendes Schöpfungsereignis. Höchstwahrscheinlich lag Ernő Kulcsár Szabó richtig, als er das Vorbild dieses verspielten und fantasievollen Erzähler-Agenten im Erzähler des Tristram Shandy von Laurence Sterne zu entdecken meinte.16 In Die Hilfsverben des Herzens vergleicht der Erzähler die Farbe der Raupe (ein in der Einführung häufig auftretendes Motiv, das übrigens aus Gombrowicz’ Pornographie entliehen ist) mit der 1955 in Győző Határs Übersetzung erschienenen ungarischen Ausgabe des Sterne-Romans17, und auch die Idee der schwarzen Seite übernahm er von dort. Folgender, ebenso entnommener Abschnitt ist in Ein Produktionsroman zu lesen: Im Bad war der Meister gerade am Einschäumen – jemand hatte von zuhause Duftseife mitgebracht, und er hatte sofort zugeschlagen, obwohl . . . –, als der klapprige Linke Mittelfeldspieler, daher der Name Grasmücke, sagte, da verlierst du ja den . . . Verstand. (Was die drei Punkte anbelangt: ich beabsichtigte damit nicht das Fehlen von etwas anzuzeigen, so halbseiden bin ich nicht, obwohl die Hiatusliteratur nicht gerade gering ist,
14 15 16 17
Kulcsár Szabó: „Nyelvművészet – kánon – világkép“, 55. Ebd., 54. Ebd., 54–55. Esterházy: Einführung in die schöne Literatur, 849.
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und sie nimmt täglich zu. Aber ich schreibe über ihn, und mein Ziel kann nicht ein literarisches sein. – Kursiv heißt: Selbstironie. – Nichtsdestotrotz, wenn mir etwas daran liegt, das verdiente Wohlwollen der weiblichen Leser und der zarteren Gemüter nicht zu verlieren, beziehungsweise allgemein derer, die noch nicht ganz bar des Respekts gegenüber echten Werten wie Autorität und so weiter sind; und auch meiner gewählten Methode der Treue treu bleiben will – um mich eines Wortspiels zu bedienen –, nun [!] in diesem Fall blitzt ein Konflikt auf. Worum es geht? Nun: dort, damals, im Bad hätte ein Magnetophon Folgendes festgehalten: DA VERLIERST DU JA DEN VERFICKTEN VERSTAND. Jesus . . . Doch nicht umsonst gibt es Routine, Erfahrung, ein vorteilhaftes Umfeld – den Meister –, in deren Lauf sich die Probleme immer wieder ins Geschick zurückbringen. Ich will kein Grundprinzip festlegen, so was ist meine Sache nicht, es soll also hier unten ‚lediglich‘ die Verwirklichung, das Ergebnis stehen, in dessen Fall künstlerische Wahrheit angewandt werden wird.)18
Es handelt sich hierbei um einen Ausschnitt, der in Worten schwer zu kommentieren ist, da er von der Konventionsartigkeit des literarischen Sprechens und Schreibens, der ebenso konventionalisierten Beziehung von Erzähler und Leser und dem Erhalt dieses Nexus erzählt (oder schreibt), indem er die Spannung zwischen Hören und Notieren durch Verschweigen und eine Vielzahl typografischer Zeichen darstellt. Die Sprechsituation ist zugleich eine Schreibsituation, mit einer Stimmung, die die Illusion des gerade eben Entstehens erzeugt. In komplizierteren Textausschnitten ist zudem zu bemerken, dass das „Managen“ der erzählten und zitierten Narratoren immer auch als Rollenangebot für den Leser zu werten ist. Gerade deshalb ist es von Bedeutung, dass der Textklauber beim Einbau der Zitate auch neben der prinzipiellen Gleichstellung der Zitatwelten wertorientiert selektiert.19 Der Erzähler sortiert nicht nur im Hinblick auf die Textauswahl, sondern behält die Möglichkeit des Lesers zur Rollenwahl auch über die Modalität (die Stimmung) vor: [. . .] hier führt er nicht das so oder so geartete Aussprechen eines Sachverhaltes aus, sondern lässt uns an dem nicht replizierbaren Moment teilhaben, in dem vor uns eine Welt entsteht. Und diese Welt macht in der ästhetischen Erfahrung ein Gestalten sichtbar, in welchem die Ironie sich nicht selbst beseitigt, da sie nicht alles relativiert, und die Affirmation der Werte schließt auch nicht die Möglichkeit ihrer Infragstellung (aus anderem Blickwinkel) aus.20
Sicherlich verleiht dies, einerseits die Unbestimmtheit, die eine Wahl oder Entscheidung des Lesers provoziert, andererseits die Freiheit, verschiedene Leserrol-
18 Esterházy: Ein Produktionsroman, 189–190. 19 Szegedy-Maszák über die Hierarchie von Zitaten, siehe Szegedy-Maszák: „Minta a szőnyegen“, 261. 20 Kulcsár Szabó: „Nyelvművészet – kánon – világkép“, 57.
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len auszuprobieren und an der Entstehung der ästhetischen Welt teilzuhaben, als würdigster und höchster Grad des Spiels, Esterházys auf Erbe und Übernahme beruhender Schreibkunst ihre Einzigartigkeit.
Literatur Bónus, Tibor. Garaczi László. Bratislava: Kalligram, 2002. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster – der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Esterházy, Péter. Ein Produktionsroman (Zwei Produktionsromane). Deutsch von Terézia Mora. Berlin: Berlin Verlag, 2010. Esterházy, Péter. Einführung in die schöne Literatur. Deutsch von Bernd-Rainer Barth, György Buda, Zsuzsanna Gahse, Angelika Máté, Péter Máté, Terézia Mora und Hans-Henning Paetzke. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Esterházy, Péter. Bauchspeicheldrüsentagebuch. Deutsch von György Buda. Berlin: Hanser, 2017. Jauß, Hans Robert. „Alter Wein in neuen Schläuchen; Bemerkungen zum New Historicism”. Ders.: Wege des Verstehens. München: Fink, 1994. 304–323. Kulcsár Szabó, Ernő. „Nyelvművészet – kánon – világkép (Esterházy Péterről)“ [Sprachkunst – Kanon – Weltbild (über Péter Esterházy)]. Alföld 68.3 (2017), 53–57. Kulcsár Szabó, Ernő. Esterházy Péter. Bratislava: Kalligram, 1996. Molnár, Gábor Tamás: „Eine fragmentarische Enzyklopädie“. In diesem Band. 225–244. Ottlik, Géza. Schule an der Grenze. Deutsch von Charlotte Ujlaky. Frankfurt a.M.: Fischer, 1963. Szegedy-Maszák, Mihály. „Minta a szőnyegen“. A műértelmezés esélyei [„Muster auf dem Teppich“. Möglichkeiten der Werkinterpretation]. Budapest: Balassi, 1995. Szegedy-Maszák, Mihály. „Sok, de nem minden. Esterházy Péter: Hahn-Hahn grófnő pillantása“ [Viel, aber nicht alles. Péter Esterházy: Donau abwärts]. Jelenkor 35 (1992), 277–280. Szirák, Péter. „Ragasztás és/vagy újraírás. Az idézettechnika módosulásai: Örkény, Mészöly, Esterházy“ [Zusammenkleben und/oder Neuschreiben. Modifikationen der Zitattechnik: Örkény, Mészöly, Esterházy]. Prózafordulat. Hg. Miklós Győrffy, Pál Kelemen, Gábor Palkó. Budapest: Kijárat, 2007. 31–40.
Ágnes Hansági
Selektive Tradition und Kanon bei Péter Esterházy „Mit der Tradition kann man nicht brechen“ (Péter Esterházy)
Tibor Kereszturys emblematisches Interview mit Péter Esterházy, aus dem auch das Zitat im Motto stammt, wurde in der ersten Ausgabe des 40. Jahrgangs der Zeitschrift Alföld veröffentlicht. Aus einer Distanz von drei Jahrzehnten lässt es sich kaum vermeiden, dieser Tatsache symbolische Bedeutung zuzumessen. Die Zeitschrift, in der Esterházy 1974 sein Debüt gab,1 beginnt das Jahr 1989 mit einem ausführlichen Esterházy-Interview. Es ist auch kein Zufall, dass diese Unterhaltung am Anfang des Essaybandes (Das wundersame Leben des Fischchens) abgedruckt wurde. Auf Kereszturys erste Frage, die selbstreflexiv auf die Gattung an sich abzielt, bzw. auf die Frage, ob eine solche Äußerung aus Sicht des Autors, des Schriftstellers sinnvoll sei, ja überhaupt sinnvoll sein könne, antwortet Esterházy in der Modalität des Lesers, die für den ganzen Text bestimmend ist, indem er seine eigene Leseerfahrung anbringt: „Üblicherweise haben sie etwas Besonderes. Ich zumindest lese gerne Interviews.“2 Entgegen der vielsagenden Jahreszahl ist es genau dieses Moment (das wir auch als Leseanweisung interpretieren können), das den (erneut) Lesenden Jahrzehnte später dazu ermahnt, die Antworten des „mit Äußerungen dieser Art“ bisher „auffallend zurückhaltenden“ Schriftstellers nicht (oder nicht ausschließlich) im Kontext der sich gerade verändernden gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu interpretieren. Das Lesen, aber auch im Allgemeinen der Bezug zur Tradition (und nicht ausschließlich zur literarischen Tradition) konnte zum Hauptmotiv des Interviews werden, weil Esterházys Texte selbst bereits unwiderruflich in die ungarische Literaturtradition eingegangen waren.3 Sie waren nicht nur Teil des literarischen Erbes geworden, sondern hatten auch ihr eigenes Verhältnis zu vorangegangenen
1 Vgl. Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 22. 2 „Azt csinálom, amit eddig, nézdegélek“, 19. Zuerst erschienen 1989 in Alföld. Sämtliche Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, von der Übersetzerin dieses Aufsatzes. 3 Auch Kereszturys siebte Frage bezieht sich darauf: „Welche Veränderungen hat die Tatsache, dass du innerhalb einiger Jahre der meistzitierte Vertreter der neuen Prosa geworden bist, auf dein Leben, deine Ansichten?“ Ebd., 28. Übersetzung: Deutsch von Laura Paschirbe. https://doi.org/10.1515/9783110618082-011
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Texten konsequent sichtbar gemacht. Auf die Frage, die Esterházys Beziehung zur Literaturkritik auf den Zahn fühlt, antwortet er mit einer Ironie, die die Gültigkeit seiner Antwort von vornherein für nichtig erklärt oder zumindest in Frage stellt („Einem über die Literaturkritik sprechenden Schriftsteller darf man doch kein Wort glauben.“4). Andererseits beschreibt er ziemlich genau, was er eigentlich von der Kritik erwarten würde. Nämlich: „eine bewusste Bestandsaufnahme unserer eigenen (literarischen) Vergangenheit“ und „ihre methodische Aufarbeitung“, denn „in einem westlichen Buchladen kann man nur heulen: Goethe von vorne, von hinten, mit einem Mann, mit kleinen Kindern, mit Ziege, mit Morgendämmerung, mit Schiller, mit Thomas Mann, zeitweilig mit Kleist. Wie eine Kultur von sich selbst Besitz ergreift . . .“5 Schon diese Textstelle macht Esterházys Meinung offensichtlich, dass die (Text-)Tradition für die Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft nicht selbstverständlich „gegeben sei“ oder „parat liege“. Sie ist eine unaufhörliche, immer wieder von neuem zu bewältigende Aufgabe, die nur durch die konkrete Inbesitznahme der Texte, durch Wiederholung der Aktualisierung zustande kommen kann.6 Die Frage nach dem Besitzen bzw. der Inbesitznahme der Tradition taucht auch in seinem späteren publizistischen Werk auf: Die Tradition ist kein Wurstfüll-Wettbewerb, weder akkordartige Weitergabe von Flaggen noch Freibier und Gratiswiener am ersten Mai, sondern Besitzen. Und auch nicht Tradition, sondern Traditionen. Und das Besitzen ist schwierig. Denn dann muss ich wissen, was ich besitze, das ist die Voraussetzung des Besitzens und dieses Wissen ist schwierig, in jeder Hinsicht, groß und schön und schwierig. Oder auch nicht schön und groß. Und zum Besitzen gehört auch die Verantwortung.7
Der Versuch, Tradition zu bestimmen, beginnt in diesem Text mit negativen Definitionen, mit der Beschreibung dessen, was nicht als Tradition angesehen werden könne. Ausgeschlossen werden Gemeinschaftsereignisse, denen die Zyklizität der Wiederholung und der Spektakelcharakter des Volkfestes gemein sind bzw. die durch die sich hauptsächlich lokal entfaltende, gemeinschaftsstiftende Wirkung
4 Ebd., 29. 5 Ebd. 6 Einen Hinweis darauf, dass die Tradition als permanente Aufgabe interpretiert wird, finden wir auch an anderer Stelle: „Die Tradition ist gemeinsames Wissen, aber nicht eines, das auf der Straße liegt und nach dem wir uns nur zu bücken brauchen. Die Tradition ist eine kollektive Erfahrung, die wir uns hart erarbeiten müssen, die wir aus uns selbst und unserer Umwelt entwickeln müssen. Ich meine nicht, dass man von neu auf beginnen muss, denn es gibt keine tabula rasa, in die Gegenwart spielt immer die Vergangenheit hinein, und in die Zukunft alles.“ Esterházy: „Mindent bele“, 108. 7 Esterházy: „1 nagyon szép könyv“, 361. Zuerst erschienen 2002 in Élet és Irodalom.
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des Festes definiert sind. Tradition im Sinne Esterházys ist aber etwas anderes. Wenn es eine Gemeinsamkeit zwischen den aufgezählten, die Tradition nicht repräsentierenden, repetitiven Ereignissen und der Tradition gibt, dann ist das die Gemeinschaft, ohne die beide unvorstellbar sind. Die Tradition ist jedoch viel mehr: Sie ist vor allem etwas, das weder sehenswert noch spektakulär ist und infolgedessen auch kein Ereignis; ihre aufschüttelnde, identitätsstiftende Kraft beruht nicht auf Wirkungsmechanismen einer gemeinschaftlichen, ästhetischen Erfahrung mitreißender Spektakel. Die Tradition ist sogar pluralisch (Traditionen). Das sprechende Subjekt im Text erklärt und definiert nicht, warum er die Tradition mit dem Besitzen gleichsetzt. Er stellt fest, behauptet. Diese konstatierende Äußerung bringt jedoch eine Definition hervor, die die Tradition nicht aus der Sicht der Gemeinschaft, sondern aus der des Einzelnen, des Individuums betrachtet. Das Ich ist es, das besitzt, das in der Lage ist zu erkennen und Verantwortung zu übernehmen. Die Schwierigkeit des Besitzens besteht dieser Argumentation nach vor allem darin, dass die Voraussetzung für das Besitzen das Wissen ist, die Kenntnis/das Erkennen dessen, was der Besitzende besitzt. Das heißt, die „Schwierigkeit“ der Tradition (für den Einzelnen) folgt aus der Schwierigkeit des Besitzens, die wiederum im Erkennen, im Wissen liegt. Die Verantwortung liegt (im christlichen Denken) immer und unausweichlich beim Einzelnen, es ist eine Verantwortung, die im Gegensatz zur Tradition nicht vom Erkennen und von der Kenntnis des Besitze(n)s zu trennen ist. Das Verhältnis des Individuums zur Tradition kann man sich auch deswegen nicht als passives „Annehmen“ vorstellen: im Schlusssatz des Artikels8 wird das Lesen bzw. die Kulturtechnik des Kennens und Aneignens der Texttradition mit dem Besitzen gleichgesetzt. Die zur Inbesitznahme der Texttradition einzig verfügbare Handlungsweise, das Lesen, ist keine Voraussetzung des Besitzens, sondern das Besitzen, das im letzten Satz auch selbst als Tradition definiert wird. Diese Umkehrung ist weder zufällig noch willkürlich: die Tradition ist Besitzen, weil sie den Einzelnen mit Verantwortung, zum Beispiel mit der Verantwortung des Erkennens ausstattet. Die Definition von Besitzen als Tradition bedeutet aber vor allem, dass das Besitzen ein menschliches Verhalten ist, für das das Individuum die ungeschriebenen Regeln und die Gepflogenheiten unabdingbar kennen und ihre Autorität anerkennen muss. In dieser Dualität wird die Tradition zur Quelle der Freiheit: Das Erkennen der Texttradition, die für das Ich nicht nur Verantwortung, sondern auch Kenntnis bedeutet, ist unvorstellbar ohne die Kenntnis und Akzeptanz jenes ungeschriebenes Regelsystems, zu der der Mensch nur aus freiem Willen im Stande ist.9 8 „Das Lesen als Besitzen, das Besitzen als Tradition, die Tradition als Freiheit.“ Ebd., 364. 9 Auch an anderer Stelle, zum Beispiel im Mészöly-Nekrolog, weist er auf diese Dualität der Tradition hin (die Voraussetzung für die Zugänglichkeit des Geschriebenen ist das Ungeschriebene; die Voraussetzung für die Verantwortung des handelnden Ichs ist die Gemeinschaft und
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Der Austritt aus der Tradition oder das Brechen mit der Tradition ist vor allem aus der Sicht des Schreibens, der schöpferischen Innovation unmöglich: Ich lese, dass die aktuelle Prosa mit der Tradition gebrochen hätte. Mit der Tradition kann man nicht brechen. Wovon (ab)brechen, wenn man aus und in ihr lebt. Autorrollen wurden abgelehnt, das stimmt. Es stimmt auch, dass wir anders sind, dass ich anders bin in dieser Tradition. Doch das ist die Ordnung der Dinge, so wächst die Literatur. Auch János Arany hat Csokonais Vorstellungen über den Haufen geworfen.10
Die zitierte Textstelle beschreibt die charakteristische Eigenheit des Verhältnisses zur Tradition, mit einer für die sprachliche Erfindungsgabe der Esterházy-Prosa typischen Methode. Er nutzt nicht nur einfach die verschiedenen Rektionen des Verbs, sondern verleiht seiner These über das Funktionieren der Tradition Nachdruck, indem er sich auf die Transparenz der Sprache stützt und ihr Funktionieren aufzeigt. Das Hauptglied des Satzgefüges, das Regens (szakít – brechen), wird von den beiden Rektionen des Verbs (szakít vmivel vs. szakít vmiből – mit etwas brechen vs. von etw. brechen) umrahmt, so dass das Grundverb Bestandteil zweier gegensätzlicher, einander semantisch ausschließender Sequenzen wird. Dieses schon bei Jókai bekannte Wortspiel11 bereitet (gleichsam als Bestätigung für Esterházys Behauptung, dass wir und die Literatur in und aus der
umgekehrt): „Er wusste sinngemäß viel über die Tradition, da er viel darüber wusste, was ist. Darüber, was dieses Land ist. Viel über die Menschen, über Frauen, über Männer, über sich selbst. Er hat sich immer sehr stark auf dieses Gemeinsame und dieses Persönliche bezogen. Und da die Tradition hauptsächlich nicht irgendeine Anhäufung, also etwas Bestehendes ist, aus dem man sich etwas herausklauben kann, sondern eher eine Verbindungsweise zum Bestehenden, deshalb behauptet Mészölys Werk, dass die Tradition reich ist. Grenzen und Reichtum.“ Esterházy: „Majd“, 86. Zuerst erschienen 2001 in Élet és Irodalom. 10 Ebd., 33. 11 Ich habe kein Beispiel mit dem Verb „brechen“ (szakít) gefunden, bei dem Jókai in der Manier seines humorvollen Sprachspieles zwei Rektionen des Verbs mit entgegengesetzter Bedeutung gegeneinander ausspielt. Doch das Motiv szakít vmit vmiből – von etw. etw. abbrechen (Blume, Haar) wird von Jókai oft verwendet, um das Verb szakít vkivel – mit jmd. brechen (sich von jemandem trennen) zu vermeiden. „Als Lisandra sich unbeobachtet fühlte, riß (szakított) sie sich ein langes Haar aus, fädelte es in ihre Nähnadel ein und vernähte es in den Saum des feinen Leinenhemdes. Mädchen glauben an allerlei Zauber. Sie meinen, ein so vernähtes Haar bringe den Träger des Kleidungsstücks irgendwann einmal zurück.“ Jókai: Die Kleinkönige, 246. „Hier ließ Szilard die Pferde rasten, beorderte die Mannschaft zum Schmaus, und als er wieder zu Pferde stieg, pflückte er (szakított le) sich vorher am Bachufer ein Vergißmeinnicht. Es war eine alte Gewohnheit, so oft er auf Vergißmeinnicht stieß, davon zu pflücken. Ehemals überreichte er sie der Geliebten, zuversichtlich wünschend: ‚Täubchen, vergiß mein nicht!‘ – Jetzt gab es Niemanden mehr, dem er solche Blümchen reichen konnte, doch blieb ihm die Vorliebe für das zarte Blümchen der Erinnerung und der traurige Seufzer: ‚Täubchen, vergiß mein nicht!‘“ Jókai: Die armen Reichen, 254.
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Tradition leben) einer organischen Metapher den Weg (so wächst die Literatur), die die Literatur, die literarische Tradition zwar als lebendige Ordnung veranschaulicht – ihr „Wuchern“ bedeutet ja, dass frühere Ordnungen ständig umgestoßen werden –, dabei das Leben jedoch nur als Dynamismus, in Bewegung versteht, nicht als Entwicklung (oder Fortschritt). Die gleichzeitige Behauptung des Lebens in und aus der Tradition verweist aber auch auf die selbstschöpferische Natur des literarischen Systems, auf die Autopoiesis,12 denn die Innovation, das Neue entsteht aus den schon gegebenen, vorhandenen („eigenen“) Elementen der literarischen Tradition. Esterházys Auffassung von Tradition folgt in diesem Punkt der Logik, mit der auch Aleida Assmann13 das postmoderne Innovationsmodell charakterisiert, in Abgrenzung zum Innovationsmodell der Moderne, das auch der linearen, generationellen Logik nichts gegenhält. Laut Assmann kann das Innovationsmodell der Postmoderne nicht mehr mit der Begrifflichkeit der Linearität beschrieben werden. Es ist synchronistisch und systematisch. Die wichtigste Kategorie der evolutionären Auffassung, der „Fortschritt“, verliert in dieser Struktur jeglichen Sinn. „Zeit ist nicht mehr die übergreifende Koordinate, auf der sich alles eintragen läßt, sie ist vielmehr ein weiterer Faktor in der Hervorbringung von Kontingenz [. . .]“14, „[. . .] Konfiguration und Rekonfiguration, Konnektivität (und allgemein: Vergessen, Verdrängen und Erinnern) verweisen auf nicht-chronologische, auf topologische Strukturen.“15 Nach Assmanns Mutmaßungen ist in diesem Modell die Aufmerksamkeit, „[. . .] ein Zustand ausgedehnter Wahrnehmung, der sich nicht auf das beschränkt, was normalerweise vom Wachbewusstsein an signifikanten Impulsen selegiert wird“, die Grundlage der Innovation. Diese Auffassung von Aufmerksamkeit führt sie auf die Traditionsdefinitionen bei T. S. Eliot (Tradition and Individual Talent, 1919) und Henry James (The Art of Fiction, 188416) zurück. Sie betont dabei, dass einige Künstler schon in der Moderne das synchronistische Innovationsmodell der Aufmerksamkeit anstelle des auf der Logik der Evolution beruhenden Traditionsverständnisses wählten. In Assmanns Konzeption ist die Tradition nicht einfach bzw. ist sie nicht Voraussetzung für die Innovation. Wenn wir auch bei mündlichen Gesellschaften und Kulturen von Tradition sprechen können, so ist die Mindestvoraussetzung für Innovation doch das Erscheinen von Schrift, das Aufzeichnen von Texten und ihre Archivierung. Innovation und
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Vgl. Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, 100ff, 257 ff; Maturana und Varela: Autopoiesis. Vgl. Assmann: Das Problem des Neuen. Ebd., 50. Ebd. Erste Veröffentlichung: 1884 im Longman’s Magazine.
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Antiquation bilden ein Begriffspaar, d. h. das Alte und das Neue (seine Geburt) bedingen sich immer und gegenseitig. Laut Assmann ist Eliots Traditionsverständnis paradigmatisch, weil es die Zukunftsorientierung der Innovation in ein neues Licht rückt. Das geschieht laut Eliots Argumentation dadurch, dass sich alt und neu immer in neuen Konfigurationen begegnen und die Innovation so zwei Richtungen aufweist: Die Kunstwerke der Vergangenheit werden von den neuen Texten als neu interpretiert und in der Aktualisierung der Texte, die der Tradition angehören, liegt der Dynamismus, der die Literatur am Leben erhält. So bevorzugt Eliot, genauso wie Henry James, das Erinnern gegenüber dem Vergessen. James bringt mit seiner Spinnennetz-Metapher17 genau zum Ausdruck, dass die künstlerische Empfindsamkeit, das künstlerische Gedächtnis als Textgedächtnis dem Vergessen widerstehen. In Aleida Assmanns Lesart von Henry James und T. S. Eliot ist die literarische Tradition Teil jener „Tradition“, in die sich auch Harold Bloom im Vorwort seines Buches über den westlichen Kanon18 einreiht. The canon, a word religious in its origins, has become a choice among texts struggling with one another for survival, whether you interpret the choice as being made by dominant social groups, institutions of education, traditions of criticism, or, as I do, by latecoming authors who feel themselves chosen by particular ancestral figures.19
In Blooms Verständnis des Kanons spielt das Vergessen eine mindestens ebenso große Rolle wie das Erinnern, denn anders als im Normalfall, in dem Texte vergessen werden, gehen aus den Kanonisierungsprozessen diejenigen Texte als Sieger hervor, die von den „late-coming authors“ ausgewählt werden. Bloom behauptet damit nicht einfach nur, dass die Literatur an sich, die Kunst, die literarischen Texte und ihre Schöpfer die literarische Tradition oder den literarischen Kanon am Leben erhalten, sondern auch, dass es die Innovation selbst ist, die sicherstellen kann, dass (schriftliche und archivierte) Texte tradiert, d. h. in Erinnerung behalten werden. Aufgrund dieser Überlegungen können wir Aleida Assmanns sieben Thesen noch eine achte These entnehmen: nämlich, dass die Innovation die
17 „Experience is never limited, and it is never complete; it is an immense sensibility, a kind of huge spider-web of the finest silken threads suspended in the chamber of consciousness, and catching every air-borne particle in its tissue. It is the very atmosphere of the mind; and when the mind is imaginative – [. . .] it takes to itself the faintest hints of life, it converts the very pulses of the air into revelations.“ James: „The Art of Fiction“. Dieser Abschnitt wird von Aleida Assmann zitiert. 18 Bloom: „An elegy for the canon“. 19 Ebd., 19.
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Grundvoraussetzung für die Überlieferung aufgezeichneter, archivierter (oder man könnte auch sagen: schon einmal kanonisierter) Texte ist. Raymond Williams hält das Verständnis des Funktionierens der selektiven Tradition für entscheidend, weil die selektive Tradition, d. h. die „continual selection and re-selection of ancestors“20, nicht nur eine allgemeine Kultur schafft und dabei die Geschichte jeder Gesellschaft kreiert, sondern gleichzeitig auch zur „rejection of considerable areas of what was once a living culture“21 führt. Für Williams ist beim Funktionieren der selektiven Traditionen genau dieses letzte Moment „most difficult to accept and assess“, d. h. die Bewusstwerdung der Tatsache, dass die einmal „gelebte Kultur“ (was fühlten und dachten andere?) in ihrer Ganzheit für die Nachwelt unzugänglich wird. Der einzige Zugang besteht in der selektiven Tradition, die nur jene durch mehrfaches Aussieben zu Dokumenten „polierten“ Bruchteile der einstigen Kultur weitervererbt. Während Williams an mehreren Stellen nachdrücklich wiederholt, dass „the cultural tradition is not only a selection but also an interpretation“, so beschreibt er das „Polieren“ der ausgewählten Dokumente als Vereinfachung, die es der Nachwelt im Wesentlichen ermöglicht, mit der Vergangenheit „abzuschließen“, indem sie einen Abschnitt der Vergangenheit benennt und einordnet. Für die gelebte Kultur bedeutet dieser Prozess also einen Verlust an Komplexität, selbst dann, wenn das Nacheinander der Zeitalter in der selektiven Tradition neue Komplexitäten erschafft. Das Williamssche Modell der selektiven Tradition stellt in dieser Hinsicht das völlige Gegenteil dessen dar, was Aleida Assmann in Anlehnung an Eliot und Henry James als postmodernes Muster von Innovation entwirft. In Assmanns Konzept entsteht ein „bewegliches Gleichgewicht“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart dadurch, dass die Vergangenheit „niemals abgeschlossen im Rücken [liegt], sondern von jeder Gegenwart aus neu und anders aktiviert [wird].“ Für Eliot hingegen ist die Tradition ein Gedächtnis, das „changes, and that this change is a development which abandons nothing en route“22. Williams’ Modell unterscheidet sich also nicht nur darin von den Aufmerksamkeits-Konzepten, dass es die Rolle der Institutionen bei der selektiven Tradition gegenüber jener der künstlerischen Innovation betont, sondern auch darin, dass die Funktion des Vergessens, im Gegensatz zur Verluste minimalisierenden Erinnerung (Eliot), aufgewertet wird, denn die Liquidierung der Komplexität der gelebten Kultur ermöglicht die Tradierung der vielfach ausgelesenen Dokumente (in unserem Fall Texte). Es wäre zu einfach und naheliegend, diesen Unterschied auf die divergenten Interessen
20 Williams: „The Analysis of Culture“, 69. 21 Ebd., 68. 22 Eliot: „Tradition and the individual talent“, 16.
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der Kunst/Literatur und der Kultur zurückzuführen. Vor allem auch, da diese gelebte Kultur, die die Babyboomer (1943–1960) und die Generation X (1961–1981) für sich beanspruchen23, auf dem Gebiet der Literatur gegen Komplexitäten zu arbeiten scheint. So gesehen ist es eine äußerst sensible Frage, zum Ausgangspunkt welcher zukünftiger Innovationen die Texttradition werden kann, die auf der Maximalisierung von sprachlicher Komplexität, der äußersten Ausreizung ihrer Möglichkeiten aufbaut und die wir mit Péter Esterházys Namen verbinden. Wer werden die zukünftigen Autoren sein, die dieses Textkorpus für sich selbst auswählt oder anspricht? In der Esterházy-Rezeption spielte die Frage nach dem Verhältnis zur Tradition von Anfang an eine gewichtige Rolle. Seine Methoden der Textverfassung, seine narrativen Techniken konfrontierten Leser und Kritiker fortlaufend mit der Frage nach dem Verhältnis von Innovation, neuen Texten und Texttradition.24 In Esterházys fiktionalen Prosatexten wird die Problematik der Tradition
23 Vgl. Strauss und Howe: Generations. 24 Nur einige Beispiele, um die Grundhaltung zu illustrieren: „Der Vormarsch des Zitats und seine neue, veränderte Rolle im Text sind heute schon literarisches Faktum. Die wachsende Bedeutung von Zitattechniken im 20. Jahrhundert hängt einerseits mit der Problematik der Originalität zusammen, und andererseits ist die Wurzel dieser Veränderung in der gewandelten Rolle der literarischen Tradition zu suchen.“ Wernitzer: Idézetvilág, 13. Eines der zwei Mottos in Ernő Kulcsár Szabós Esterházy-Monografie zitiert eine Passage aus Hans Robert Jauß’ Aufsatz Der poetische Text im Horizontwandel der Lektüre, in der die Grundvoraussetzungen für einen Dialog mit der Tradition erörtert werden. Auch im Zusammenhang mit den Erzählungen vom Anfang seiner Laufbahn stellt sich die Frage nach der Tradition: „Die Tatsache, dass Esterházys Kurzgeschichten den Erzählmodus aus der Erzähltradition ableiten, kündigt schon von der festen Priorität, die der epische Schreib- und Erzählmodus gegenüber dem der Abbildung genießt.“ Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 23. „Die Einführung in die schöne Literatur hat, und das mag für alle Texte provokativer Poetik gelten, die Chance auf Veränderung der literarischen Sprache erschaffen, indem sie auch rückwirkend ihre eigenen Vorgänger bestimmte. (Eher) gewollt (als) ungewollt bog sie die Feldlinien der Tradition zu sich heran und ordnete sie so neu. Im Zusammenhang mit diesem Werk an Kosztolányi, Csáth, Márai, Mándy, Mészöly oder Ottlik zu erinnern, würde schon beinahe ein Klischee bedienen, wozu ich weder jetzt noch in Zukunft bereit bin, zumal die Texte über Esterházy über dieses sein Lieblingsthema wahrscheinlich schon alles Wesentliche gesagt haben.“ Szabó: „. . . te, ez iszkol“, 5. István Margócsy hat in Verbindung mit Semmi művészet [Keine Kunst] die Rolle der Tradition in Esterházys Prosa folgendermaßen zusammengefasst: „Einer von Esterházys größten und ergebnisreichsten schriftstellerischen Glückstreffern war und bleibt wohl, dass er jedes Werk als Wiederschreiben darstellte, als Annäherung durch Anspielungen und Zitate, als Behauptung und Parodie gleichermaßen wie als affirmative Wiederholung und relativierende Umkehrung. (Denken wir nur an seine großartige Goethe-Paraphrase: „Kultur ist Parodie!“) Jedes seiner Werke erschien als Sediment, als Aufrufung anderer Werke, jedes seiner Werke interpretierte sich selbst (und sein Anderssein) jeweils als Geste des in die schöne Literatur Eingeführt-Werdens, infolgedessen sah die durch ihn angebotene, großartige und überzeugende Begrifflichkeit der schönen Literatur nicht anders aus als die gegenseitige Spiegelung und Selbstbespiegelung sehr verschiedener Werke.“ Margócsy: „Esterházy Péter“, 65.
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ebenso thematisiert wie in seinen essayistischen, publizistischen Schriften. So lässt sich die Frage nicht umgehen, was diese Texte unter Tradition verstehen und welchem Muster die Reflexionen über die Tradition in den Esterházy-Texten folgen. Die Tradition wird im doppelten Sinne zum Thema dieser Passagen mit weitgehend interpretierender Funktion. Einerseits als Texttradition, d. h. als Schrift, Gesamtheit von Dokumenten, als Texte, auf die wir dank ihres materiellen Getragenseins wie auf Objekte zurückgreifen können. Andererseits als Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln und Bräuche, die (um hier Gadamers Kriterien zu verwenden) als „Autorität des Überkommenen [. . .] über unser Handeln und Verhalten Gewalt“, „eine namenlos gewordene Autorität“ hat und auf der „alle Erziehung beruht“25. Diese zweifache Bedeutung von Tradition spiegelt zugleich auch die Dualität von Literatur (geschrieben) und Kultur (Dokumenten und ungeschriebenen Verhaltensregeln) wider. Die ausgewählten Textstellen beleuchten allerdings auch, dass die schriftliche Tradition, die von spezialisierten Institutionen und Archiven in Obhut genommen wurde, im Wesentlichen für den Zugang zur Texttradition sorgt, dabei aber stark auf jene als System von Gepflogenheiten interpretierbare Tradition angewiesen ist, die von der Ungeschriebenheit der Regeln charakterisiert wird. Daher kann lehrreich sein, wie eine Textstelle von Wittgenstein, die von Katalin Neumer in eigener Übersetzung in ihrem 1987 in der Ausgabe der Zeitschrift Magyar Filozófiai Szemle veröffentlichten Aufsatz Sprachspiel und Tradition. Ludwig Wittgensteins späte Philosophie zitiert wird, Esterházys Lebenswerk von Anfang bis Ende begleitet und im Internet zu Esterházys Satz wird: „Tradition ist nichts, was Einer lernen kann, ist nicht ein Faden, den einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; [. . .] Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklicher Verliebter.“26 Sucht man im Internet nach der ungarischen Übersetzung dieser Stelle, erhält man nicht nur viele Treffer, sondern auch eine Reihe von Quellen, die auf Esterházy verweisen. Dieses Zitat taucht in den drei Jahrzehnten seines Lebenswerks in drei Texten auf, in drei unterschiedlichen Kontexten, wo es am ehesten als variierende Wiederholung zu interpretieren ist: zum ersten Mal in den Achtzigern, dann in den Neunzigern und zuletzt am Anfang der 2000er Jahre. Dieser Satz kann unsere Aufmerksamkeit nicht nur
25 Gadamer: Wahrheit und Methode, 285. 26 Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, 146. „A tradíció nem olyasmi, amit valaki meg tud tanulni, nem fonál, amit akkor vehet föl valaki, amikor neki tetszik. [. . .] Akinek nincs tradíciója, és szeretné, ha lenne, olyan, mint a boldogtalan szerelmes.“ Nach Neumer: „Nyelvjáték és tradíció“, 95.
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deshalb beanspruchen, weil er heute zu den im Alltag meist zitierten EsterházySätzen avanciert ist.27 In allen drei Texten erscheint er als These, welche das Funktionieren der Tradition nach und nach aufdeckt, indem es die Übernahme der Zitate sichtbar macht: Nein. – „Tradition ist nichts, was Einer lernen kann, ist nicht ein Faden, den einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; [. . .] Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklicher Verliebter.“ (Wittgenstein, von Katalin Neumer ziAnhang zur Kleinen Ungarischen Pornographie (1988) tiert, Sprachspiel und Tradition)28 Hier könnten wir natürlich wieder Wittgenstein zitieren (nach Katalin Neumer): Tradition ist nichts, was Einer lernen kann, ist nicht ein Faden, den einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; [. . .] Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklicher Verliebter. Wer jedoch eine hat, aber so tut, als hätte er keine, der, seine Gründe mögen zahlreich und brillant sein, der ist nicht unglücklich verliebt, sondern bekloppt. Solche bekloppten Verliebten scheinen wir heutzutage zu sein.29 Über die Piaristen (1991) Wittgenstein (zitiert von Katalin Neumer in ihrem Buch Sprachspiel und Tradition, die ich zitiere, beide zitiere ich im Ausgestopften Schwan). Tradition ist nichts, was Einer lernen kann, ist nicht ein Faden, den einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; [. . .] Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklicher Verliebter.30 Aus dem wunderbaren Leben der Wörter (2003)
Im Anhang . . . wird das Zitat auch deshalb besonders hervorgehoben, weil es sich zum absoluten Auftakt des Textes, zum ersten Stichwort (Nein), gesellt. Die eindeutig nicht alphabetisch geordneten Stichwörter und Fragmente verweisen entsprechend der Intention des ersten Absatzes31, der die „Gattungsbestimmung“ (Sätze) aus dem Untertitel weiter interpretiert und erläutert, auch mit der Anordnungsweise des Textes selbst auf die seit der Romantik blühende literarische Tradition, die das Fragment im Grenzgebiet von Philosophie und Literatur in der Funktionalität der Zitatsammlungen als Gebrauchstexte ansiedelt. Das Fragment, aber der Aphorismus noch eher, ist nicht einfach nur zitierbar, sondern seine primäre Funktion besteht eben darin, zitiert zu werden, als Gasttext
27 Es handelt sich eigentlich um zwei Sätze mit einer Auslassung in der Mitte. Das Wort „Satz“ ist hier nicht in seinem grammatikalischen Sinne zu verstehen; vielmehr nehme ich mir eine kleine „Lizenz“ und verwende es eher im Sinne von Redewendung. 28 Esterházy: „Függelék“, 88. 29 Esterházy: „A piaristákról“. Erste Veröffentlichung 1991 in Élet és Irodalom. 30 Esterházy: A szavak csodálatos életéből, 64. 31 „Aus einem nicht existenten Tagebuch, Journal, Die Geschichte des Bleistifts, Das Tagebuch des Gastwirts, Der Ingenieur der Seele, Aufzeichnungen von E., etc.“ Esterházy: „Függelék“, 88.
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in eine fremde Textwelt einzutreten, sich als fremde Rede in die eigene einzufügen. Die Optionalität der Gattungsbestimmung verunendlicht im Nebeneinander der Aufzählung jene Möglichkeiten, aus denen der Leser wählen kann und fordert ihn auf, eine Entscheidung zu treffen, konfrontiert ihn jedoch zumindest mit deren Notwendigkeit. Das heißt, sie formalisiert als „Bestimmung“, als Definition des „Nein“ (das in diesem Fall eine satzwertige Negationspartikel, genauer Modifizierungspartikel ist) das von Katalin Neumer zitierte Wittgenstein-Zitat und macht es lesbar. In der Klammer hinter dem Zitat steht nicht nur der Name des Verfassers, sondern auch der Verfasser des zitierten Werkes und dessen Kurztitel. Dieser für Esterházys frühe Texte nicht unbedingt charakteristischen „philologischen Akribie“ verleiht genau das performative Moment Bedeutung, dank dem die Durchführung der Zitation die (verbale) Handlung selbst sichtbar macht. Im Text Über die Piaristen inszeniert der Erzähler nicht einfach das Funktionieren der selektiven Tradition, das Sich-Einlassen auf die Auswahl, die Selektion durch fremde Hand. Der Satz „Hier könnten wir natürlich wieder Wittgenstein zitieren (nach Katalin Neumer):“ leitet eine fremde Rede ein, die, obwohl als übernommenes Zitat angekündigt, nach dem Doppelpunkt nicht als solche markiert wird, sodass die Auslassung der Anführungszeichen und die grammatischen Marker es dem Leser erlauben, den unvollständigen „Aphorismus“ mit Dorrit Cohns Worten als „quoted monologue“ bzw. mit Käte Hamburgers Ausdruck als „erzählte Rede“ zu lesen, d. h. als eine fremde Rede, die in der Stimme des Erzählers, durch seine Vermittlung erklingt. Das Weiterschreiben des Zitats bekräftigt diese Lesart. Der Konjunktiv in „könnten wir . . . zitieren“ und das „nach“ weisen auch darauf hin, dass der Erzähler des Textes sich die fremde Rede angeeignet hat. Durch den Konjunktiv wird der Akt des Zitierens nicht konstatiert, sondern nur seine „theoretische“ Möglichkeit signalisiert und somit wird das erneute Sagen, die Wiederholung in den Status der dynamischen, da unaufgezeichneten Textsequenzen der variablen Wiederholungen der mündlichen Überlieferung gehoben. Im Anhang von Aus dem wunderbaren Leben der Wörter, im Verzeichnis der ausgelassenen Sätze, inszeniert die Zitierung auf ähnliche Weise den Akt der Tradierung. Im letzten Text der Zitatkette hingegen führt der performative Akt des Zitierens mit einem Eigenzitat das Zitieren der Zitatübernahme aus, der inszenierte Autor beruft sich so im Wesentlichen auf seinen eigenen, früheren Text. Der Ausgestopfte Schwan tritt für den Leser als primäre Quelle auf, auch wenn der Autor selbstreferentiell auf den allerersten Akt des Zitierens hinweist. Das liegt daran, dass es kein Werk mit dem Titel Sprachspiel und Tradition gibt. Dadurch, dass der inszenierte Autor das mediale Format der „ursprünglichen“ Quelle „verfehlt“, löst er seine eigene Quelle im „Rumoren“ des Archivs auf, sie wird unauffindbar und erklärt den „Ursprung“ somit als indifferent für das Verständnis des Textes. Die
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Wandlung von der Wittgenstein-Passage zum Esterházy-Satz bzw. die Inszenierung der Auflösung des Zitates zum Selbstzitat, das Ereignis der Inbesitznahme der Tradition und der Aneignung wird auch dadurch bekräftigt, dass der von Neumer ausgelassene Halbsatz32 auch dann nicht wieder an seinen Platz zurückkehrt, wenn es den Esterházy-Texten eigentlich gut gepasst hätte. Das heißt, was hier mit diesem Thesensatz über die Beschaffenheit der Tradition geschieht, ist nichts weiter als die Tradierung selbst, die Tradierung dieses Satzes, letztlich seine Inbesitznahme. Aber nicht nur seine Inbesitznahme: Das erneute Sagen des Textes löst ihn aus seinem eigenen „Festgehaltensein“, seine Wiederholung eröffnet die Möglichkeit zur variierten Wiederholung, auch zur „Übersetzung“. Vielleicht ist es auch von daher kein Zufall, dass der Zwang zur Interpretation von Tradition mehrmals im Textkontext der Übersetzung in der Esterházy-Prosa auftaucht.33 Die vielleicht radikalste Auseinandersetzung ist jene, die, von der Etymologie des Wortes Tradition ausgehend, im „Ersten Dossier“ der Verbesserten Ausgabe zu lesen ist. Der Erzähler hat die Absicht, „das alles in größere Zusammenhänge zu setzen“ (d. h. die Verratsgeschichte des Vaters), sich „die großen Mythen, die großen Verrate“34 anzuschauen. Er scheitert dabei bzw. erzielt nur einen Teilerfolg. „Auch über Judas“ liest er „dies und das“. In dieser Episode taucht das Lesen als nicht vom Schreiben trennbare Kulturtechnik auf, die den Zugang zur Tradition sicherstellt. Die begleitende Tätigkeit des Lesens ist das Schreiben, das Erstellen von Aufzeichnungen: das Exzerpieren, das Zusammenfassen des Gelesenen. Seine Funktion besteht darin, uns an den tradierten Text zu erinnern. Die im Prozess des Textverstehens entstehenden neuen Texte, die Kommentare, vermischen sich jedoch mit den Aufzeichnungen: „Aber aus den Zetteln geht nicht immer hervor,
32 Der durch eckige Klammern markierte, von Neumer ausgelassene Satzteil: „so wenig, wie es möglich ist, sich die eigenen Ahnen auszusuchen“. 33 „Beim Romanschreiben geht es um etwas ganz anderes, um eine ernstere, schwierigere, mit Arbeit verbundene Angelegenheit. Hierbei jedoch, beim Übersetzen, gibt es sprachliche Probleme und ich sehe, dass ich ein Händchen dafür habe, das man es gut erledigen kann. Das habe ich sehr genossen. Und das hätte man woanders nicht so erledigen können, nur in Frigyes Karinthys Haus. Ich, der ich immer solche blaustrümpfigen, zu enthusiastischen Vorstellungen davon habe, welche großen Kräfte entfaltet werden, wenn die Tradition den Menschen berührt oder der Mensch die Tradition, ich habe beim Übersetzen gefühlt, wie die Tradition dem Menschen helfen kann, wie sie ermutigen kann, und wenn ich es gut mache, dann macht sie mich nicht übermütig, sondern nimmt mich an der Hand.“ Esterházy: „Nem vagyok Berzsenyi“, 171. 34 Esterházy: Verbesserte Ausgabe, 30.
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wo ich zitiere und wo ich kommentiere; egal“.35 Die neuen und die alten, die fremden und die eigenen Sätze verlieren also nicht nur jegliche zeitliche Distanz, sondern auch ihre Autorschaft, ihr Ursprung wird im Prozess der Erstellung von Aufzeichnungen verunsichert. Das interpretierende Lesen, in dem sich die Tradierung eigentlich vollzieht und das das Vermischen der Sätze des Quellentextes und des Kommentars, die Aufkündigung der anfänglichen Hierarchie zum Ergebnis hat, funktioniert als eine Art Prolepse, die die Schlussfolgerung aus dieser Entdeckung vorankündigt, nämlich die Enthüllung der Tradition als Verrat: Die Untersuchung des griechischen Originaltextes brachte eine aufregende Entdeckung. Die Übersetzung der griechischen Wörter „verraten“, „Verrat“ ist keineswegs eindeutig. Herausgeben, ausliefern, überlassen, übergeben, es bedeutet all das. Die lateinische Übersetzung benutzt „tradere“, wie in Tradition. – Hat Judas also nur weitergegeben, was er sah und hörte, wie auch die anderen Apostel? Bemerkenswert ist, dass der Apostel Paulus im Brief an die Korinther (1. Kor. 2,23) dieses Wort zweimal verwendet. Steht Paulus im Schatten des Judas, dieser in dessen Licht? Wer etwas weitergibt, ist ein Hermeneut. Der Spitzel als Hermeneut. Wen wir interpretieren, den liefern wir aus. Das Dolmetschen ist Ausliefern und Ausgeliefertsein. Mein Vater ist (war) „perfekt“ deutschenglisch-französisch. Übergeben, hinterlassen, weitersagen: das geht stets mit einem Risiko einher.36
Diese semantische Unsicherheit (oder Offenheit?), die aus der Übersetzung eine hermeneutische Tätigkeit macht, erschafft unausweichlich diese Verschiebung zwischen Quellentext und Übersetzung, die aus jeder Texttradierung, der Natur der Sprache gemäß, einen Verrat macht. Der interpretierte, angeeignete, in unsere eigene Sprache übersetzte Text wird nie „treu“ oder perfekt übereinstimmend sein, ad absurdum selbstidentisch mit dem in der sprachlichen Fremde unvermeidlich fernen Text. Die Reihe der Schlussfolgerungen mündet schließlich in der Konklusion, dass die Tradierung notwendigerweise mit einem Risiko einhergeht. Dieses Risiko müssen wir jedoch auf uns nehmen, gerade weil wir nicht „aus der Tradition heraustreten“ können. Es ist allein die Tradition, die selbst in ihrer Erschütterung in der Lage ist, Schutz zu bieten. Obwohl instabil und schwer zugänglich, ist sie die einzige Stütze für das Ich und wird auch deswegen am Ende des Romans erneut thematisiert, womit die Wichtigkeit dieses Motivs hervorgehoben wird. Der Erzähler versetzt die Unterhaltung, durch deren auszugsartiges Erzählen die retrospektive Selbstnarration zur Frage der Beschaffenheit und vor allem der Funktion der Tradition zurückkehrt, in die
35 Ebd., 23–24. 36 Ebd., 31–32.
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kulturell stark markierte Sphäre der Leipziger Buchmesse. Er kehrt zum „Wort“ zurück, zu dem er durch ein anderes, das nicht den Schutz, sondern ganz im Gegenteil sein Fehlen, das Ausgeliefertsein und das Ausliefern evoziert, durch die Etymologie von Verrat gelangt war. Der Erzähler fasst alles zusammen, was seine Gesprächspartner sagen: der Leser erfährt durch den Bericht des Ich-Erzählers (der in diesem Fall auch der implizite Autor ist) vom „Inhalt“ der fremden Rede, d. h., die berichtete, erzählte Rede ist gleichzeitig fremd und eigen, denn sie gelangt über die Stimme des Erzählers, durch seinen Filter zum Leser. Die Zusammenfassung der Unterhaltung kann somit auch als eine Art Aneignung aufgefasst werden, bei der die fremde als eigene und die eigene als fremde Rede erscheint und es unmöglich ist, die beiden (auch narratologisch) voneinander zu trennen. Der wichtige, aber schwer in Argumente zu fassende Unterschied zwischen dem Ladendiebstahl und dem Verrat, die Moral als Privatsache. L. hat sofort einen dazu passenden Habermas-Text parat über das Legitimationsproblem des Spätkapitalismus und die auftretende Werteerosion. – Wie sehr kommt einem in solchen Fällen die sattelfeste Tradition deutschen Denkens zugute. Überhaupt jegliche Tradition. Kultur. Daß es etwas gibt, worauf man sich stützen kann, daß man nicht alles allein neu erfinden muß . . . Gerade diese Tradition ist freilich zweifelhaft geworden.37
Tradition im Sinne einer Kultur, die das menschliche Verhalten regelt, bedeutet am ehesten Gemeinschaft, die Zugehörigkeit zu etwas, das Akzeptieren der ungeschriebenen Regeln dieser Zugehörigkeit zusammen mit der Tradition. Sie bietet einen Schutz,38 den wir brauchen und außer dem wir uns auf nichts anderes verlassen können, von dem wir wissen, dass wir für ihn arbeiten müssen; sie zu besitzen bedeutet nicht nur Verantwortung, sondern im Akt ihrer Inbesitznahme immer auch unvermeidlich Verrat.
37 Ebd., 350. 38 „Die Gesellschaft könnte sich selbst als ohnmächtig bezeichnen, behaupten, da es nicht wirklich einen Raum gibt, in dem sie in Bewegung sein könnte und sie könnte das Individuum sich selbst überlassen, das nun alleine, ohne den Schutz der Gemeinschaft, der Tradition, der Kultur dasteht – ohne den wir dastehen, und wir versuchen es ein jeder für sich.“ Esterházy: „Függelék“, 98. Der zitierte Abschnitt steht unter dem Stichwort Fragment.
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Werkkomposition und Lesefiguren der Intertextualität
Danijela Lugarić
The Making of World Literature: Slavno je za otadžbinu mreti by Danilo Kiš and Mily dicső a hazáért halni by Péter Esterházy In his comprehensive analysis of the ways in which works of world literature can best be read, David Damrosch poses the question of whether something can exist that is not world literature, somewhat cynically concluding that a “category from which nothing can be excluded is essentially useless”.1 In an ironical twist, his own book, entitled What Is World Literature?, concludes with a fairly decisive, threefold definition of what world literature actually is, proving that, firstly, although the category may seem useless (the concept of “world literature” as a “floating signifier”), there obviously is such a thing as world literature, and, secondly, that it does make sense to engage in such scholarship. Departing from the premise that world literature is rather a complex strategy of reading, an experience of migration, than a fixed canon of texts, the paper analyzes the phenomenon of “in-translation”2 as one of the central ways by which world literature canon is articulated, negotiated and maintained. A comparison of the short story Slavno je za otadžbinu mreti by Danilo Kiš with Péter Esterházy’s Mily dicső a hazáért halni, published in Hungarian in 1986 with changes due to aspects of the text that are necessarily changed in translation, a text that was a cornerstone for his world famous works, such as Introduction to Literature and Celestial Harmonies, offers particularly valuable insights into how literature operates: through a complex set of gestures, such as the establishment of hierarchy and translation as determining mode of re-writing, re-interpretation and, finally, co-optation in the national literature canon, however defined. The example of Kiš’s (and/or Esterházy’s) story is especially symptomatic when we take into consideration that the beginning of Kiš’s story reverts back to Horatius’ Dulce et decorum est pro patria mori (Odes 3.2), which is one of the best known yet also notoriously puzzling lines in the canon of classic literature. The paper develops in a specific reading strategy in order to offer possible answers to the following questions: What is the role of (in-)translation in the study of literature? What does the metaphor of an elliptical refraction3 mean as
1 Damrosch: What Is World Literature?, 110. 2 Casanova: The World Republic. 3 Damrosch: What Is World Literature? https://doi.org/10.1515/9783110618082-012
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“the most convenient” description for world literature? If the stories of Kiš and Esterházy are exactly the same, but written in different languages and received in different cultural, historical and social contexts, can we refer to them as one literary work? If the author is different – is the literary work only seemingly the same? Who, in fact, is the author – if Esterházy read and used Kiš’s story in translation? How does this vortex-like example contribute to our understanding of world literature, its problems and difficulties, neuralgic and “blind” spots? Who authors world literature canon? How do notions of origins and authenticity resonate in the field of world literature? I think of literature as my country of origin. I am for Goethe’s concept of world literature.4 Migration is cultural mutation, it is the change of hereditary characteristics that results from the reconstructions and destructions in the informational code of both cultures’ senders and receivers. Mutations in nature and migrations in culture are decisive factors in evolution. They lead to the emergence of new species and are the foundation of the mutability in developing systems of life and consciousness.5
In her essay “Answering for Central and Eastern Europe,” Caryl Emerson claims that the Central-European region is “intuitively ‘comparative’”.6 Not only that “one town would commonly speak several native languages, belong to two or three empires in the course of a single generation,” but most of its residents are “hybrids who carried the dividing-lines of nationality within themselves.”7 Vladimir Biti rightly continues to develop a similar argument by claiming that this region is “comparative by birth.”8 Moreover, another point made by Caryl Emerson is worth mentioning: Exile, displacement, multilanguagedness, heteroglossia, outsideness to oneself and thus a taste for irony, the constant crossing of borders, and the absence of a tranquil, organic, homogenized center that belongs to you alone: all these Bakhtinian virtues and prerequisites for genuine dialogue have long been endemic to Central Europe.9
4 Kiš: The Conscience. 5 Epstein: Amerussia. 6 Emerson: “Answering,” 203. 7 Ibid., 203. 8 Biti: “Introduction,” 2. 9 Emerson: “Answering,” 203–204. In his essay The Condition We Call Exile, or Acorns Aweigh, written for the Wheatland Conference in Vienna in November 1987, Iosif Brodsky stated that writers are often in a condition “at which all one is left with is oneself and one’s language, with nobody or nothing in between” because “your capsule is your language” (Brodsky: “The condition,” 32), writing that “Displacement and misplacement are this century’s commonplace” (ibid., 23). Brodsky’s illuminative observations could be taken into account in relation to specificities of literary craft in general: if we consider exile as “a metaphysical condition”
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All these areas are a fruitful starting point for this analysis, in which I would like to address something that I see as a good pool for interpretation of various issues associated with world literature: what it is, i. e. what do we talk about when we talk about world literature, and how we can define a world literary work. In addition to this, I am interested in the place Central European literary practices occupy. The example of the seemingly one-sided inscription of Danilo Kiš’s story Pro Patria Mori (Slavno je za otadžbinu mreti – literally, To Die for One’s Country is Glorious) in Péter Esterházy’s earlier writings, and in his seminal work, Celestial Harmonies (Harmonia Caelestis, 2001), is at the same time a striking and uncommon example of this “intuitive comparativeness.” This paper aims to accentuate the aesthetic logic which underlies Esterházy’s nonnormative crossing of borders in this particular transfer of Kiš’s story, because it tells us something considerably crucial for understanding world literature as terminus technicus. I will start with several general observations and move on with the analysis of how literary scholarship on world literature can benefit from moving away from already well-established, but somewhat reductionist story about plagiarism in relation to Esterházy’s uses of Kiš’s story Pro Patria Mori.
1 At least three different understandings of world literature are in circulation today: 1) “exotic literature, verbal art of the world beyond their own,” 2) “universal cannon of masterpieces: the proverbial best that has been thought and said across histories and cultures,” 3) “innumerable works that travel globally, exposing themselves to readers in new places and languages and taking part in the flows of transcultural interaction and exchange”10. Another important issue, which is one of the most widely used conceptions of “world literature” in literary scholarship nowadays, is that world literature implies a certain understanding of world as a planet or globe (2) – but we all know that the world is “both more and less than this” (2). The term “world” “originates from a sense both of the particularity of humanity’s experience, as well as the sense of the here and now, rather than the far and distant. It is one of a number of cognates
(ibid., 25), every writer, in a sense, is an exilic writer – his/her homeland and at the same time his/her point of departure is his/her (never reachable, never expressible) language. At the same time, even when (s)he is freed (in the language, in his/her literary craft), (s)he is never free (of that same language). 10 Etherington and Zimbler: „Introduction,“ 1.
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belonging to Germanic languages – Welt (German), wereld (Dutch), värld (Swedish), verden (Danish) – that trace their roots to a nominal compound meaning something like ‘age of man.’ Their meanings thus come to include: the material world; humanity’s present; temporal state of existence; earthly things, or temporal possessions; an age; a person’s conditions of life; the course of human affairs” (2–3). To that end, world literature is “both more and less” than what we often mechanically take for granted, and therefore I want to put forth the idea of world literature as a totality according to which a world literary work “somehow encodes the logic of world literary totality”11. In order to talk about world literature, we in fact need to talk about literary totality. So what does this mean? If we claim that “the history of world literature is the history of notions of literary totality,”12 then “a simple list of significant literary works and their dates of publication would not be a chronology of world literature but a version of world literary history produced in accordance with one such notion.”13 So when we talk about the notion of literary totality we talk about a “broader set of reflections and methodological possibilities”14 which is historically and culturally conditioned, wherein totality implies those “which is concerned with total” (4). Just for illustration, the timeline of conceptions of literary totality may include such works as Aristotle’s Poetics in 335 BCE, Dante’s De vulgari eloquentia (1302–1305), Sidney’s An Apology for Poetry (1595), Herder’s Briefe zur Beförderung der Humanität (1793), Veselovsky’s “Try glavy iz istoricheskoj poetiki” (1899), Croce’s Estetica come scienza dell’ espressione e linguistica generale (1902), Lukács’ Die Theorie des Romans (1916), Benjamin’s Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), Propp’s Morfologia skazki (1928), Bakhtin’s Problemy tvorchestva Dostoevskogo (1929), Roman Jakobson’s “Closing Statement: Linguistic and Poetics” (1958) or Paul Celan’s “Der Meridian” (1961), and end with Amir Mufti’s book Forget English!, published in 2016.15 Despite few omissions, the editors of The Cambridge Companion to World Literature made an insightful but also a strategically important methodological breakthrough for any further analysis of world literature: the book doesn’t offer just a list of world literature works. Rather, it gives an overview of the ideas of totality and the historical relations between the ideas of literary totality and actual literary practices.
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Etherington: „Scales, Systems,“ 54. “Chronology,” xiii. Ibid. Etherington and Zimbler: „Introduction,“ 4. “Chronology.”
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To that end, I would like to set two starting points for this analysis. Firstly, “world literature, as an object of study, has to be made; it cannot simply be found.”16 World literature is made possible by various things: the development of the literary field in general – first and foremost, in the process of creating literary works, but also by a parallel development of literary infrastructure, which includes critical literary theory. Secondly, “world literature will be deemed a necessary concept or category only if it proves vital to understanding actual literary practices.”17
2 Danilo Kiš was a Yugoslav writer, most notable for his masterpieces such as A Tomb for Boris Davidovich (Grobnica za Borisa Davidoviča, 1976), The Anatomy Lesson (Čas anatomije, 1978) and The Encyclopedia of the Dead (Enciklopedija mrtvih, 1983). He lived in Paris for the last several years of his life. One of the reasons for this was the accusation of plagiarism that followed the publication of A Tomb for Boris Davidovich. Kiš’s The Anatomy Lesson is a response to what that day’s scholarship called the biggest literary scandal and controversy in pre-war Yugoslavia. The short story Slavno je za otadžbinu mreti (Pro Patria Mori), whose title evokes Horatius’ Dulce et decorum est pro patria mori (Odes 3.2), was published in Kiš’s masterpiece The Encyclopedia of the Dead in 1983. The main character of the story is “young Esterházy.” It was ordered by an Imperial decree that he would be executed for political rebellion. Court has been treated “His descent and the renown of his family [. . .] as a betrayal not only of the monarch but also of his own class,” so the punishment “was meant to set an example.”18 Young Esterházy is not so afraid of dying – instead, he is afraid that he won’t be able “to preserve the dignity required of an Esterházy at such a moment.”19 His courage was interrupted by a visit from his mother: “She had stood before him, solid, strong, with a veil over her face, filling the cell with her personality, her persona, her character, her large plumed hat and her skirts.”20 She tells him that she will throw herself in front of the feet of the one who has the life of her son in his hands, and if she succeeds in saving his life, the next morning she will be
16 Andrews: “Publishing, Translating,” 227. 17 Etherington and Zimbler: „Introduction,“ 6. 18 Kiš: The Encyclopedia of the Dead, 103. 19 Ibid. 20 Ibid., 105.
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standing in white. The next day, his mother is standing in all white; he is nevertheless executed. But since his own mother tricked him with a white dress (the one he knew well because one of his ancestors had worn it to an Imperial wedding), he – until the very end – doesn’t believe that he will “be hanged like some highwayman.”21 His courage and calmness in the moment of his death turned into a legend22 – one version of this legend is offered to us by Kiš’s story. Croatian scholar Tatjana Jukić already mentioned a special configuration of female figure in this novel: the story is “dominated by a cold, Oedipus mother who believes that the honorable death of her son is more important than the truth.”23 The novel ends with the following, rather clichéd phrases: “History is written by the victors. Traditions are woven by the people. Writers fantasize. Only death is certain.”24 It is important to emphasize that this story is part of the collection The Encyclopedia of the Dead, which was created, as Kiš wrote in Postscript, in the spirit of an obsessive theme in world literature: “ever since the Gilgamesh epic, death has been one of the obsessive themes of literature.”25 The book’s epigraph, Georges Bataille’s famous words “Ma rage d’aimer donne sur la mort comme une fenêtre sur la court” (literally, “The rage of my love looks at death as a window looks at a courtyard”), allows us to read the whole collection of stories from the perspective of the theme of death, to the extent death is manifested in the forms of eros and thanatos. At the level of content, the story can be seen as a literary work which is concerned with the total – not only the very theme of violence or a violent death, especially in relation to eros as another fundamental drive, but also that of the mother-son plot, particularly an Oedipus mother, which reverberate through the literary field from its beginnings. With its very form, Kiš’s masterpiece gives an interesting reflection of the idea of literary totality, as the encyclopedia is an “emporium of knowledge” (Borges), a book of absolute knowledge.26
21 Ibid., 107. 22 Ibid. 23 Jukić: “Plus d’un,” 102. 24 Kiš: The Encyclopedia of the Dead, 106. 25 Ibid., 159. 26 Danilo Kiš was, of course, aware that there cannot be such thing as absolute knowledge – in his interview Banality, like a Plastic Bottle, is Forever (Banalnost je neuništiva kao plastična boca) he writes: “My ideas are woven of skepticism; they are skepticism itself. Their underlying principle might be expressed as follows: don’t believe anything anybody says; everyone is a world unto himself, a lone planet, a star – no, stardust – the grain of a meteor meeting other grains by the blind laws of attraction and repulsion, colliding stupidly, pointlessly; and speech, talk is merely a source of fresh misunderstanding” (Kiš: “Banality,” 165). Or, when he explains his literary craft,
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The Encyclopedia of the Dead was translated into Hungarian in 1986, and that same year the Hungarian translation of Kiš’s story appeared in two of Esterházy’s works. The version in the literary journal “Életünk”27 was translated by Endre B. Bojtár, who was then a student of Yugoslav studies in Budapest. The title credits Kiš, and the story ends with the same words as Kiš’s original text: ESTERHÁZY PÉTER »Danilo Kiš: Mily dicső a hazáért halni« — BEVEZETÉS A SZÉPIRODALOMBA — (Bojtár B. Endre fordítása:) Amikor azon az áprilisi hajnalon, mely a császári dekrétum értelmében kivégzésének hajnala volt, az őrök a cellába léptek, az ifjú Esterházy a földön térdelt, s kezeit szorosan összekulcsolva imádkozott.28
Other more formal characteristics of Kiš’s text have been kept. The story was republished in Esterházy’s An Introduction to Literature (Bevezetés a szépirodalomba) in 1986, after Kiš’s The Encyclopedia of the Dead was already published in Hungarian (“Forum,” Novi Sad, and translated by Sándor Borbély). Nothing has been changed at the level of form or meaning, but one significant change did occur. Kiš’s and translator’s names disappeared from the title and a reference to Kiš has been added in the form of a graphically distinguished sentence at the end of the story. A történelmet a győztesek írják. A legendákat a nép szövi. Az írástudók fantáziálnak. Bizonyos csak a halál. A fenti szövegben, többek közt, szó szerinti vagy torzított formában Danilo Kiš-idézetek vannak.29
For Esterházy, literature “is a dialogue between good books.”30 His poetics is based on the abundant use of intertextuality, on the “ubiquitous use of quotation”31 and on releasing multiply articulated textual spaces. This is why it is worth remembering Esterházy’s explanation of why he borrowed Kiš’s story. After reading it, he concluded: His literary process was very similar, almost identical to mine. And then, it was a marvellous experience when I read the short story “Pro Patria Mori.” When I read it, I felt as if
he says that “Truth, if only literary truth, is a type of commitment as long as a shadow of doubt hangs over every word. (. . .) Writers must make us believe they know more than others yet doubt more than others” (ibid., 169). 27 Esterházy: “Danilo Kiš”. 28 Ibid., 385. 29 Esterházy: Bevezetés, 645. 30 Sollosy: “A Brief Introduction,” x. 31 Aczel: “Introduction,” vii.
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that was my text. A text I could never write myself, but a text that somehow belonged to me. It is a short story in which the main character is a certain Esterházy. The appearance of this word sends the text down a very unusual path. I venture to say that the 900 pages of my novel “Celestial Harmonies” in a way came out of that short story.32
This final remark by Esterházy is especially intriguing for at least two reasons. Firstly, while Kiš conceived the work as universal (the encyclopedia as a book of absolute and universal knowledge of death in its manifestation through eros and thanatos), Esterházy first and foremost read Kiš’s story as an account of the tragic destiny of his own family, told through a surname, which as we know, for the writer was simultaneously mythical and traumatic. In this, he also saw a very specific Central European way of translating the past. If we take into consideration that this story is just one among others in the Encyclopedia, in a way, Esterházy “localized” the horizon of Kiš’s universal idea. He narrowed and aligned Kiš’s story more clearly with the tradition of Central European cultural space, however defined. In other words, Esterházy stripped Kiš’s story of the literary totality, which was constitutive of it. On the other hand, this transfer can be observed as a mutual gift (Marcel Mauss writes that “the obligation attached to a gift itself is not inert. Even when abandoned by the giver, it still forms a part of him,”).33 We could read Esterházy’s gesture as an expression of his support, because at the time Kiš was accused of non-originality in his works. But, of course, there is more to it, because in a way, and without knowing it, Esterházy fulfilled the task Kiš assigned to another imagined, future author. To quote Kiš’s own words in the interview Seeking a Place under the Sun for Doubt (Tražim mesto pod suncem za sumnju): When I describe ‘The Encyclopedia of the Dead’ as a meeting place for all human events, I mean it as a metaphor for my own poetics in an ideal, unattainable form. It’s a description of an ideal project of condensation, the final product of which is the story ‘The Encyclopedia of the Dead,’ which in fact is a condensed novel, a novel reduced to some forty pages. I might add that another writer, less indolent and with a different poetics, would doubtless have turned the same material into a full-fledged classical, nineteenth-centurylike psychological novel, something a lot fatter than, say Maupassant’s Une vie.34
When here he talks about The Encyclopedia of the Dead, Kiš of course is not referring to the whole book, but only to the story that shares the book’s name. Therefore Esterházy, by writing “a full-fledged novel,” Celestial Harmonies, did exactly what Kiš hasn’t and probably couldn’t do. On the other hand, in the
32 From an interview for the Croatian weekly “Nacional,” Dugandžija: “Peter Esterhazy.” 33 Mauss: The Gift, 9. 34 Kiš: “Seeking a Place,” 201.
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framework of Bakhtinian dialogism, we must ask the question: Can an idea be adequately presented in only one language? Or, if there is no being but only cobeing (Russ. sobytie), i. e. “co-being of being” (Russ. sobytie bytiya35), if “my self needs the other, to become an I-for-the-other,”36 perhaps a literary work needs a minimum of two languages to release at least some of its meanings?37 That becomes especially relevant if we take into account that – according to the Postscript at the end of Encyclopedia – Kiš clearly stated that, in fact, he was the one who borrowed the legend about Esterházy. The story “is a free reworking of a Late Bourgouis legend, which was by that time the subject of a number of variations, all of them based on Austrian sources not devoid of partiality and sentimentality.”38 If all that was mentioned is taken into account, it becomes clear that it is impossible to decisively distinguish who is the giver of a gift and who the receiver, which is inscribed especially visibly in the third, most intriguing and the last use of Kiš’s story by Esterházy. Kiš’s story is the 24th Sentence in Esterházy’s seminal work Harmonia Caelestis. In relation to Kiš’s original text, we can find several significant changes. First, there is the adoption of Kiš’s character: In Celestial Harmonies Kiš’s “officer Esterházy” becomes “my dear father,” Esterházy’s mother becomes “my grandmother” (so it is not a surprise that the audience accepted this story as his autobiography). The second and perhaps even more important change is that in Esterházy’s version of Kiš’s text there is no dynamic exchange of direct and indirect speech, which was constitutive of Kiš’s story – all the characters of the story seemingly speak for themselves, creating the illusion of authenticity and multivoicedness. That being said, the first part of Celestial Harmonies relies on multiplication of different versions of a legend, and the abundant use of the
35 Russian word sobytie literally means “an event,” so the phrase could also be translated as “an event of being.” 36 Morris: The Bakhtin Reader, 246. 37 In his essays and interviews, Kiš often wrote about his (multi)linguistic “in-betweenness.” For example, in an interview entitled The Only Yugoslav World Writer (Jedini jugoslavenski svetski pisac), he claims that “I can say that I truly know only one language: Serbo-Croatian, and in that language I write in Paris. I have decided not to write in another language beforehand. [. . .] Unfortunately, or thanks to God, I learned few languages, so when I sit to write, I often find the Hungarian or French word (for what I should say in Serbian) easier. For example, the word kökényszemű: this word has meaning only in Hungarian, and it would be hopeless to try to translate it in Serbian. [. . .] Hungarian expressions are, for example, a sort of little surprises for the reader, whether they read my books in English or French translation. I want to bring them joy similar to the one I felt when I would find Hungarian words in the texts of writers from Yugoslavia – in Krleža, for example” (Kiš: “Jednini,” 261). 38 Ibid., 164.
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phrase “and here my father’s name followed” (“az ifjú, itt édesapám neve következett”) everywhere where one could, would or should expect the family surname. És valami furcsa, fölcserélt időrendben MÁR MOST hallotta, amint az őr a tiszti kaszinóban meséli: Uraim, az ifjú, itt édesapám neve következett, az éjjel mély álomba merülve aludt. Egy sóhaj nélkül. Mintha esküvő és nem kivégzés várna rá. Tiszti becsületszavamra mondom! Uraim, adózzunk neki elismeréssel. És hallani (hallja) a kristálypoharak csörrenését is. Prosit! Prosit!39 I on je, u nekom čudnom redosledu vremena, već čuo kako taj stražar priča u oficirskoj kasini: “Gospodo, mladi je Esterhazi te noći spavao mrtvim snom, bez uzdaha, kao pred venčanje a ne pred pogubljenje. Dajem vam svoju časnu oficirsku reč! Gospodo, odajmo mu priznanje!“ Onda se čuje (on čuje) kristalni zvuk čaša. „Eks! – Eks!“40
Celestial Harmonies is narratively structured around numerous replications and iterations of possible versions of “my father’s” life – on the basis of different sentences that came from different places, that are “always intertextual”41 – from sentences the author overheard on the street and sentences of Barthelme, Beckett, Bellow, Daly, Ginzburg, Gombrowicz, Jerofeyev, Joyce, Kolakowski, McCourt, Nabokov, Roth, Updike (843–844), to, finally, one version of “young Esterházy’s life” in Kiš’s own re-writing of a legend.42
39 Esterházy: Harmonia Caelestis, 26. “And, in a strange inversion of time, he could already hear the guard telling the others in the officers’ club, Gentlemen, the young, and here my father’s name followed, slept quite soundly that night, without so much as a sigh, as if going to his wedding rather than to his hanging. I give you my word as an officer! Gentlemen, let us render him his due! After which was heard – he heard – the crystal ping of glasses. Prosit! Prosit!” (Esterházy: Celestial Harmonies, 24–25). 40 Kiš: Enciklopedija mrtvih, 149. “And, in a strange inversion of time, he could already hear the guard telling the officers’ mess, ‘Gentlemen, the young Esterházy slept quite soundly that night, without so much as a sigh, as if going to his wedding rather than to its hanging. I give you my word as an officer! Gentlemen, let us render his due!’ After which is heard – he hears – the crystal pings of glasses. ‘Chin chin!’” (Kiš: The Encyclopedia of the Dead, 103–104). Comparison of English translation of Esterházy’s novel (see previous footnote) and Kiš’s Encyclopedia shows that the English translator of Harmonia Caelestis (unlike the translator in Croatian) used Michael Henry Heim’s translation of Kiš’s story, for which they – as stated in Acknowledgements – received permission from Farrar, Straus & Giroux, LLC (Esterházy: Celestial Harmonies, 847). 41 Ibid., 843. 42 Legacy of Hungarian (or, more precise, Austro-Hungarian) cultural field and Hungarian language in general is one of the most decisive parts of Kiš’s biography (see Kiš’s collection of interviews Gorki talog iskustva – Bitter Residue of Experience, 1991, and Homo poeticus, his collection of essays, 1990). As a son of Hungarian-speaking Jewish railway inspector, Kiš finished Hungarian school, and later translated different Hungarian authors (Ady, József, Petöfi,
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What is the meaning of this loss of direct/indirect speech on the one hand, and – of abundant use of a phrase “and here my father’s name followed,” on the other, in different words, the skillful intertwinement of diegetic levels which creates a sense of doublevoicedness? This point takes me back to the matter of how our knowledge of world literature as a term can benefit from such an analysis because this part (or these parts) offer(s) an answer to probably two key challenges of contemporary literary scholarship worldwide. (And this is where the necessity to place the issue of literary totality in the middle of our discussions of world literature comes to the forefront.) I’m talking here about the issue of text (that “dangerously unfocused term,” as noted by Clifford Geertz)43, and, along with it, the issue of authorship. The author is, and here I’m quoting from Ernő Kulcsár Szabó’s reading of Géza Szőcs’ uses of Shakespeare, “a ‘transferring point’ of activities in order for them to be disseminated once again.”44 On the other hand, in order to be disseminated again in a “defamiliarized” (Russ. ostranenie) form of repetitions of “my father’s” story / stories, this sentence states that Esterházy’s subject, as Kulcsár Szabó also noted in his analysis of his work, reflects upon this general intertextual situatedness like a crossroads of systemic conflicts: “Wie das Subjekt bei Esterházy auf diese – als Kreuzungspunkt von Systemkonflikten verstandene – allgemeine intertextuelle Situiertheit reflektiert [. . .].”45 The argument can be pushed forward along the line of the analysis of the “overburdened historical meaning of ‘Esterházy’,” as Sándor Hites wrote in his paper
Radnóti, Tolnai). His interest in Hungarian culture could also be interpreted through the lens of the fact that Danilo Kiš, the writer “who boldly embraced the ecumenical designation of the ‘last Yugoslav writer’” (Debeljak: “Durable Fiction,” 21), witnessed violence in relation to his Jewish father throughout his childhood. One massacre, in Vojvodina in 1942, he described as the start of his conscious life (cf. in Thompson: Birth Certificate, 82). His father’s death in Auschwitz in 1944, accompanied with their troubling relationship during his childhood, had a huge impact for his life and writings: as a “mythological, rather than psychoanalytical” figure (Matvejević, cf. in Birnbaum: “History,” 354), an absent father haunts Kiš’s storytelling (see also Jukić: “Between Auschwitz and Siberia”), and reverberates with his proclamation of being “the child of the Argentinian writer Jorge Luis Borges and the Polish writer Bruno Schulz” (Debeljak: “Durable Fictiont,” 21; in a recent analysis, I approach Kiš’s A Tomb for Boris Davidovich through the lens of the authority of Kiš’s father, the ghost-like figure par excellence, and in relation to Ricoeur’s notions of testimony as a philosophical problem, see Lugarić: “The Vow to Testify”). The notion of Kiš’s own preoccupation with his at once absent and omnipresent father could be interestingly interpreted through the lens of Esterházy’s complex father figure in both versions of Harmonia Caelestis (2001, 2005). 43 Geertz: Local knowledge, 30. 44 Kulcsár Szabó: “Preisgabe,” 77. 45 Ibid.
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The Hungarian Historical Novel in Regional Context: “The ceaseless displacements, the transformations that subvert the identity of the central trope, the father, make a linear following of the genealogy impossible”46. In light of this paper’s reading of Esterházy’s novel, through the eyes of Kiš’s story, I would emphasize that the word “genealogy” is not only related to the genealogy of Esterházy’s family, metonymically expressed by this at once universal, omnipresent and absent father, but also to the genealogy of Kiš’s story in particular, and – more broadly – to the principles of his poetics in general. I would agree with Hites’ reading of Esterházy’s novel, according to which narrative gesture of constant play, of delicate oscillation between fact and fiction creates “several centres of meaning by constantly recomposing the historical context” (478) instead of erasing them. To that end, it would be important to emphasize that, if it would be possible to explain main principles of Kiš’s poetics in general in a single sentence, then the quoted sentence from Hites’ reading of Esterházy’s Celestial Harmonies would be the one. So, Esterházy’s use of Kiš’s significantly contributes to our understanding of Kiš’s homo poeticus. However, one question needs to be asked: are we really talking about intertextuality when an absolute shift in modality occurs, when someone else’s text is appropriated with the aim of writing a family portrait (which is at the same time for Esterházy a portrait of his image of Hungary), or, to be more precise, of creating different versions of possible autobiographies? In fact, I believe we’re not even speaking about dialogism or intertextuality, and more about interlation, about stereotextuality, which the Russian philosopher Mikhail Epstein, in his essay written, coincidently, in the same year as Celestial Harmonies, sees as “the future of human communication.” According to Epstein, stereotextuality is “when languages will not be expected to replace but to supplement each other. [. . .] This super-posing of texts of different languages, this stereotext will produce a more striking, stratified, and deeper image of a single complex of ideas.”47 Celestial Harmonies, with the repetitiveness of possible versions of “my father’s story,”48 is an illustrative enough example of those text(s) with rich and loud “stereo effect” (at the end of this paper I will offer another striking example of this effect in contemporary Croatian culture).
46 Hites: “The Hungarian Historical Novel,” 478. 47 Epstein: Amerussia. 48 Father figure in Celestial Harmonies is not reductive, but expansive (“my father was all fathers and all men whose lives collided with Hungarian history,” cf. in Sollosy: “A Brief Introduction,” ix).
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3 This example shows that the structure of both Hungarian and Serbian (or Croatian or Yugoslav, or East-Central European, or Austro-Hungarian for that matter) literary field, in Bourdieuan terms, is necessarily modified by Esterházy’s uses of Kiš’s story outside of its initial context, and that various conflicts have arisen around the forms of these arrivals and diffusions. Bourdieau’s fieldbased model suggests that the understanding of a literary work as a network of activities simultaneously calls for an analysis of the “literary craft as relational practice.”49 Naturally, this relationality doesn’t refer only to how literature operates in relation to other forms of artistic expressions and knowledge in a cultural field, but also within its very being (within each seemingly autonomous literary work). A close reading of the metaleptic shifts of Kiš’s text in Esterházy’s literary works illuminates the acute awareness of both authors that a particular text originates in various discourse constellations – from the conditions of its origin to its copy, cultural transfer, and, finally, reception. At the same time, this analysis accentuates something that we often take for granted, which is that translation is a key component of the circuits of world literature.50 And here I’m not suggesting that translation itself was not important – after all, Esterházy got acquainted with Kiš’s story in translation. But I would like to emphasize that when we talk about translation in the context of the understanding of world literature as, according to Damrosch, group of texts which circulate beyond their culture of origin,51 this particular example shows how these things are much more complicated than that. Epstein’s concept of stereotext “counts on the difference, on immanent non-equivalence of languages and creates a non-linear, multi-dimensional image of the subject by combining linguistic projections.”52 The logic, which underlies Epstein’s claims, is following: languages have their own particular possibilities of expressivity, and boundaries between them are not always crossable.53 To that end, “If the translation annihilates the effect of difference, [. . .] the stereotext rather suggests interlation of languages (Russ. svod jazykov) in a three-dimensional
49 Zimbler: “Literary Worlds,” 71. 50 Helgesson: “Translation,” 86. 51 Damrosch: What Is World Literature?; see also Bernard: “Nation,” 40. 52 Epstein: Ot znanija, 319. “Stereotext is essentially an anti-translation, as it’s purpose is not in equating one language with another, but, on the contrary, in their greatest differentiation, in sharpening precisely the diverse potential of languages” (ibid., 319). 53 See one of Kiš’s accounts on this issue in footnote 4.
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perspective.”54 Caryl Emerson’s insightful comment is more than applicable in this case, and it relates to the issue of translation (often understood too mechanically, too literally in writings about world literature) as a crucial component for breaking all boundaries and allowing the circuits of world literature: when she discussed comparative literature in the age of multiculturalism, she remarked that “What had broken the visibility barrier was not the languages themselves and [. . .] not their classic literary texts, but an arsenal of devices, methods, and rationales (such as ‘literariness’) for linking all literary products at some higher level.”55 What I tried to show in this analysis was that the private interest of Esterházy for Kiš’s story not only re-designated a certain cultural space of Central Europe through Esterházy’s appropriation of Kiš’s story, but his interest offered a model of understanding world literature. So, at the end of this analysis, I will go back to its beginning, i. e. to the methodological reframing of world literature as a technical term for the idea of literary totality as a changeable but defining category of world literature being a complex set/circuit of practices. Because more than one current, prominent notion regarding literary totalities is made visible by Esterházy’s uses of Kiš’s text, and I assume that stereotextuality would be the less obvious one among them. [There are, roughly speaking, two of the most influential understandings of text in contemporary scholarship: one is Lotman’s, with his idea of a text as a box; another one in Derridian, with his idea of a text as entity with no borders where “no meaning can be determined out of context, but no context permits saturation.”56] The latter is mostly applied in analysis of both Kiš’s and Esterházy’s writings, and I’m not suggesting that we should stop thinking about their forms of textuality in that manner. But, this example (or these examples) demand(s) a shift in our way of thinking about the text because here we do indeed talk about something else, about a certain stereotext, where notions of frame, structure and unity not only work together in a completely new way, but create “stereo effect” in both cultural fields – sending and receiving, blurring lines between the two, showing that such clear cut division is not possible. Moreover, “stereo effect” might take different and unpredictable forms, thus proving that Damrosch’s concept of “elliptical refraction” of national literatures as one of the most convenient for describing world literature is, indeed, “double in nature.”57 For example, in 2002, an anthology of Hungarian short
54 (Epstein: “Stereotekst,” 229) Instead of the Russian phrase svod jazykov, in his later interpretations of notion of stereotextuality Mikhail Epstein uses oxymoronic word sorazvod, which “implies integration of separated, a double act of co- and div-” (Epstein: Ot znanija, 320). 55 Emerson: “Answering,” 207. 56 Derrida: “Living On,” 81. 57 Damrosch: What Is World Literature?, 283.
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stories was published in Zagreb,58 in which two stories by Esterházy were included, one of them being this one. The editors had commissioned a translation of Esterházy’s story, seemingly not being aware of the fact that the story was by Kiš. Therefore, they had the Hungarian translation of Kiš’s story, originally written in Serbian, translated into Croatian. This was reported in the media, as the Serbian Hungarologist Sava Babić, in his defence of Kiš’s literary works, attacked the Croatian literary public for forgetting Kiš and condemned the “Croatizing” of Kiš’s story originally written in Serbian. One of the editors, Neven Ušumović, told me personally that they had been aware it was actually a story by Kiš, but that they nevertheless decided to commission the translation of Esterházy’s Kiš because that further expanded the conceptual and postmodernist connotations of Esterházy’s act. Namely, in the new post-war situation, in which the question of dividing languages with a clear distinguishing line (what was once Serbo-Croatian and Croatian-Serbian had to became pure Serbian or pure Croatian) became a matter of first-hand political urgency, to commission a Croatian translation marked the continuation of the “game” and a new exploration of the relationship between the “copy” and the “original.” Moreover, in 2004, the translation of Celestial Harmonies was published in Croatia. The 24th Sentence offered a completely new translation. The consequence is the multiplication of Kiš’s text in Croatian, thanks to Esterházy – Esterházy’s uses of Kiš’s text resulted in different Hungarian versions under Esterházy’s name, along with numerous versions of “my father’s stories” especially in first, “hard core”59 part of Harmonia Caelestis, and also in two different Croatian translations of Esterházy’s versions of Kiš’s text. Since Kiš’s story (itself, let us remember, being a version of a legend from an unnamed Austrian source) is getting multiplied every time Esterházy’s Celestial Harmonies is translated in world languages, this analysis shows that world literature is indeed about transmission of literary works when they are being received into the space of a foreign culture, a space defined in many ways by the host culture’s national tradition and the present needs of its own writers. Even a single work of world literature is the locus of negotiation between two cultures. [. . .] World literature is thus always as much about the host culture’s values and needs as it is about a work’s source culture; hence it is a double refraction, one that can be described through the figure of the ellipse, with the source and host cultures providing the two foci that generate the elliptical space within which a work lives as world literature, connected to both cultures, circumscribed by neither alone.60
58 Lukač, Mann and Ušumović: Zastrašivanje strašila. 59 Sollosy: “A Brief Introduction,” viii. 60 Damrosch: What Is World Literature?, 283; emphasis ours.
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Indirekt in der Schwebe Formen der Zeiterfahrung in Péter Esterházys Werk Einführung in die schöne Literatur Die Einführung in die schöne Literatur ist, auch typografisch, ein explizit zerstückelt gestaltetes Buch. Er besteht aus kleineren und größeren Partien, sich abwechselnden Bild- und Textelementen und ist in diesem Sinne auf jeden Fall als vielfältiges, heterogenes Werk zu bezeichnen. Der Charakter, der Aufbau und die visuelle Anordnung der einzelnen Teile, d. h. der Bücher im Buch, changiert auf einer breiten Skala zwischen längeren, ziemlich ungegliederten Fließtexten und den schon von vornherein durch Bildelemente oder häufige Umbrüche in winzige Teile zerlegten Abschnitten. Auf geraden und ungeraden Seiten laufen der „Schwank“ Märchen, Märchen, Märlein und der „Bildroman“ Bis der Schweif des Pferdes nachwächst sowie Daisy und dessen OpernlibrettoVariante parallel nebeneinander her. Im Kontrast zu dieser Teilung auf der senkrechten Achse werden die Hilfsverben des Herzens nicht nur durch diese schwarz grundierte Seite (genauer: Satzspiegel), auf der sich in der Mitte eine Zeile Text in weißen Buchstaben befindet1 (nicht ganz symmetrisch) in zwei Teile geteilt, sondern auch auf der horizontalen Achse. Die in schwarze, traueranzeigenartige Rahmen eingefassten Texte teilen sich in zwei Bereiche auf. Oben steht der Text in normalem Satz und unten Zeilen in versalem Satz; die dazwischen eingekeilten, leeren Zwischenräume betonen die Trennung der beiden Textabschnitte. Die variierende Höhe dieser Leerräume ergibt sich daraus, dass die Abschnitte in Bezug auf den Umfang, die Ausdehnung betont unausgeglichen geblieben sind. Die Einführung in die schöne Literatur erweckt durch ihr inneres Erscheinungsbild – ganz im Gegensatz zu den äußerlichen, eine gewisse
1 Die erwähnte Seite bezieht sich auf das schwarze Quadrat auf weißem Grund von Kazimir Malewitsch, das am Anfang von Daisy platziert wurde, und vielleicht auch auf jenes Werk, das aus der Abschrift (Esterházys berühmte Geste) von Géza Ottliks Schule an der Grenze entstanden ist, und dessen Reproduktion, die relativ am Anfang von Flucht der Prosa und somit des ganzen Buches zu finden ist. Während sich in Malewitsch’ suprematistischem, textlosem Kunstwerk sowie im Text mit weißen Buchstaben von Hilfsverben des Herzen Schwarz und Weiß in scharfen Konturen voneinander abgrenzen, entsteht aus den schwarzen und weißen Partien in der wortwörtlichen Abschrift, der unlesbaren Kopie von Ottliks Werk ein körniges Gemisch, scharfe Umrisse werden vermieden, und so entstehen nur Kontraste in der Tönung. Übersetzung: Deutsch von Laura Paschirbe. https://doi.org/10.1515/9783110618082-013
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Autorität ausstrahlenden Merkmalen wie Umfang, Größe, schwere Buchdeckel, Titel – nicht den Eindruck einer geschlossen, kunstvoll geschaffenen Komposition, sondern eher einer erweiterbaren, bewegbaren, umgestaltbaren und schafft somit eine eigenartige Offenheit.2 So wird auch der Begriff des Kunstfleißes nicht außer Acht gelassen, denn so sorgsam die Einführung auch erstellt sein mag, so wurde ihr und den parallel verlaufenden, in verschiedenen Regionen und Zeiten spielenden, mal divergierenden, mal sich ineinander kopierenden Geschichten kein unantastbarer, letzter Schliff gegeben. Es kann überraschen, wie sehr sich die Einführung trotz ihrer stark verzweigten, unterteilten Erscheinungsform beim aufmerksamen Lesen als einheitlich erweist: Durch eine Vielzahl an Verweisen, Wiederholungen und textinternen Beziehungen entsteht der Eindruck eines kohärent verfassten Buches. Die sich daraus ergebende Spannung scheint mir, auch noch aus einer Distanz von dreißig Jahren, eine allgemeine Eigenart der Einführung zu sein. Gleichzeitig nahm ich diese Spannung beim Wiederlesen von Péter Esterházys monumentalem Buch, das zu Recht als bezeichnend für die ungarische Literaturgeschichte angesehen werden kann, auch darin wahr, dass mich die einzelnen Texte nunmehr nicht auf dieselbe spannende Art und Weise herausforderten. Die Flucht der Prosa konnte meine Aufmerksamkeit nicht im gleichen Maße fesseln wie Die Hilfsverben des Herzens, das mit ersterem in enger, rahmenartiger Verbindung steht. Die Kleine Pornographie Ungarns konnte ich nicht mit dem gleichen Interesse lesen wie Indirekt. Selbst die erneute Lektüre von Fuhrleute stellte für mich eine ambivalente Erfahrung dar. Es ist anzunehmen, dass meine persönlichen Vorbehalte im gleichen Maße für die wahrgenommene ästhetische Spannung zwischen den Büchern, aus denen das Werk besteht, verantwortlich sind wie die Veränderung meiner Vorstellungen über das Erzählen. Außerdem muss man einfach auch der Tatsache Rechnung tragen, dass wir uns mit dem gar nicht mehr so kürzlichen Eintritt ins dritte Jahrtausend literarisch und geschichtlich deutlich von jener Welt entfernt haben, in der die Texte der Einführung geschrieben wurden, in der sie spielen und die sie aufrufen. Bei Esterházy ist die Vergangenheit –
2 Der Gegensatz von Äußerem und Innerem, Außen und Innen wird nicht nur von den umgedrehten Klammern, die den Band einfassen, verunsichert, dekonstruiert, sondern auch durch den verdoppelten Titel auf dem inneren Titelblatt: Haupt- und Untertitel spiegeln einander durch Wiederholung, sie stimmen Wort für Wort überein und unterscheiden sich nur typografisch voneinander (ersterer erscheint in Versalien; der Untertitel ist im ungarischen Original komplett in Kleinbuchstaben gesetzt und wird von Gedankenstrichen gerahmt); so stellen sie das Verhältnis von Unter- und Übergeordnetheit, klein und groß, von Eingerahmtem und Rahmung in Frage. Vgl. dazu Szegedy-Maszák: „Bevezetés“, 108–109. Sämtliche Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, von der Übersetzerin dieses Aufsatzes.
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natürlich nicht nur die Ein- sondern auch die Überführung in die schöne Literatur – ausdrücklich die Sprache der Vergangenheit. Nur schafft der Text die Vergangenheit damit nicht neu, sondern er zitiert sie – im engeren Sinne dieses Wortes – und hängt in dieser verweisenden Beziehung von ihr ab: Er hebt sie im gleichen Maße auf, wie er sie fortsetzt. Daraus ergibt sich, dass das Verblassen der sprachlichen Erinnerung an die vergangene Welt, die Veränderung der sprachlichen Erfahrung nicht nur den Sinn des Gesagten überschreiben, sondern gelegentlich ein Gefühl der Verjährung, ein Nachlassen der Intensität der Beziehung zum Werk mit sich bringen kann. Unterdessen jedoch ist die Spannung des Buches durch eine solch bleibende Lebendigkeit gekennzeichnet, die auch von einem verschobenen Bewertungshorizont nicht getilgt werden kann. Das typografisch, sozusagen im physischen Sinne zerteilte, zergliederte Buch lenkt die Aufmerksamkeit auch visuell auf die nicht selbstverständliche Anordnung der Elemente des Werkes. Somit entsteht zwischen dem räumlichen Überblick und der sich in der Zeit entfaltenden Leseerfahrung wieder eine Spannung. Meines Erachtens steht dies im Zusammenhang damit, dass die Situation zu einem wiederkehrenden Grundmotiv, einer textorganisierenden Metapher der Einführung wird: manchmal, weil wir ja schon ein bißchen gelebt haben und daher die Welt in uns einige Spuren hinterlassen und sie uns eingedrückt hat, da sie uns gedrückt hat, kann sich uns ein Ding, eine Bewegung kristallklar zeigen, nämlich die unentwirrbar heikle Situation, daß es das gibt, und so werden die Wörter unerwartet zu Vermittlern von etwas, das nicht im geringsten eine Verbindung mit uns und unseren Wörtern zu haben schien.3 (281)
Der von Pascal ausgehende, sich bei Ottlik auflösende Gedanke zitiert mit der Hervorhebung des Verbes sein in der 3. Person Singular Präsens die halbfett gesetzte Reihe von „ist“-s4 aus der Einführung und macht sich von der Abwesenheit einer Welt, die keine Spuren hinterlässt, von ihrer Entwicklung zum deformierenden Mangel, auf den Weg zu einer unerwarteten Ordnung der Wörter in Zusammenhängen. Letzten Endes ist es natürlich fraglich, ob die Situation für den Sprecher durch die (Re)Präsentation von Strukturen hergestellt wird, die von Worten und Dingen geschaffen wurden, oder ob es sich nicht vielmehr um eine virtuelle Situation handelt, die eher in der ungreifbaren Augenblicklichkeit der Berührung besteht und auf unerwartete Kontakte verweist, die
3 Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Esterházy: Einführung. Alle Hervorhebungen folgen dem Original. 4 Im Ungarischen bedeutet die Verbform „van“ („er/sie/es ist“) auch „es gibt“, so wie es im obigen Zitat übersetzt wurde. (Anm. d. Ü.)
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sich zwischen den Konstellationen von Spuren und „Eingedrücktem“, von Seiendem und Wörtern, artikulieren, die also – um den Gedankengang ein wenig vorwegzunehmen – im Grenzbereich der von „Transformationen“ bezeichneten Kontakte besteht. Auch die Erzählsituation von Indirekt baut auf vielfacher Berührung auf. Dieser Roman zeugt fast beispielhaft (genauso wie ein großer Teil der Einführung) von der Gültigkeit der kritischen, auf ein Überdenken der Genette’schen Erzähltheorie drängenden Anregungen, nach denen die Unterscheidung zwischen den Fragen wer sieht? und wer spricht?, zwischen Erzählperspektive und Erzählmodus nicht restlos nachgewiesen werden könne, die Rede und der Blick nicht vollkommen voneinander trennbar seien.5 Die abduzierende Vermitteltheit von K.s Sprechen nimmt der Figur nicht das Wort, und die Erwähnung von K. in der er-Form durchdringt die Erzählstimme als eine Art eigenartige Selbstbezeichnung.6 Indessen entsteht nicht nur durch das Zusammenfallen zwischen dem Erzähler-Ich des Musil-Zitats, das Flucht der Prosa abschließt und am Anfang von Indirekt wiederholt wird, und dem er, mit dem K. regelmäßig bezeichnet wird, eine eigenartige Berührung, sondern sinngemäß auch durch die sich in der Erinnerung aufeinander beziehenden Zeitebenen. Außerdem ist die aufgerufene Vergangenheit schon an sich eine Grenzsituation, deren Charakterzüge in der Erzählung zwischen Kindheit und Erwachsensein, Unerfahrenheit und Reife, richtig und falsch, Ruhe und Spannung oszillieren. So lesen wir an einer Stelle über diese Vergangenheit: „und damit hatte die Situation mit Gewissensbissen zu tun“ (279). So ist es wenig erstaunlich, dass die mäßig entwirrbare Geschichte auf den verschiedenen sich entfaltenden Beziehungen zwischen den jüngeren und älteren Figuren und der Veränderung dieser aufbaut. In Bezug auf die Kräfteverhältnisse und Veränderungen der interpersonalen Konstellationen kann man die perspektivenverzerrenden Effekte der sich auf eigene, groteske Art entfaltenden politischen Situation nicht außer Acht lassen. Mag sein, dass die Geschichte öfter darauf anspielt, doch in Indirekt ist dieser Zusammenhang weniger betont, beziehungsweise mittelbarer als in anderen Teilen der Einführung. Indirekt kann der Versuchung nicht widerstehen, die fast bis an die Grenzen gespannte Erzählsituation zu verallgemeinern, sei es auch nur, um die Haltlosigkeit der zitierten Theoriegebilde immerfort bloßzustellen. Der Anfang
5 Vgl. bspw. Fludernik: „New Wine in Old Bottles?“ 6 K.s Name bzw. das Fehlen seines Namens und seine Sprechweise mögen den Leser nicht nur an Kosztolányi oder Kafka denken lassen, sondern indirekter auch an Thomas Bernhards oder Witold Gombrowiczs Werke, vgl. dazu: Wernitzer: Idézetvilág, 34.
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des Romans meint, die Freiheit sei „inmitten von Sünde, Sumpf und Rost“ (197) zu finden, während im Zusammenhang mit einer vergangenen Situation betont wird: [. . .] denn von nun an konnten sie in voller Blöße am Rand von irgendwas balancieren, wo jenseits des Randes die Sünde liegt, die Freiheit, das Geheimnis und die süße Verderbtheit, allerdings, und diese Suppe muss dann ausgelöffelt werden, derb gesagt blieben die Handlungen zeichenhaft, stilisiert, [. . .] hatten nichts Wahrhaftiges [. . .]. (212)
Das wiederholt auftauchende Verb sein (hier „liegt“ statt „ist“, Anm. d. Ü.) gleicht die in Richtung Unwirklichkeit schreitende, einschränkende Fortsetzung dieses Satzes aus, überschattet sie und schwächt nicht nur das hinter dem Rand liegende Reich der Sünde, sondern auch die „in den Wörtern“ (197) gesuchte Freiheit zu einem einigermaßen großtuerischen Nebelbild ab. Dennoch kann man daraus nicht auf die Frage nach dem Sein und der Ausdrucksfähigkeit des souveränen Individuums schließen, sondern auf die sich als einzige Möglichkeit ergebende enge Grenze der erzählungswürdigen, eigenartig richtungslosen Situationen: [. . .] wir können ja nicht einmal unsere Sehnsucht richtig beschreiben, die Richtung unserer Wünsche benennen [. . .] trotzdem können wir, während wir in unserem engen Niemandsland, ausgeliefert und aufmerkend voranschreiten, die Aussagen, die einfachen Aussagesätze, nicht verdammen [. . .] (230–31)
Nicht selten verleihen permutative Textstellen dem räumlichen Arrangement der Einführung in die schöne Literatur Nachdruck. So wird dies an einer Stelle in Indirekt reflektiert: [. . .] sein, K.s, Glücksgefühl schien eher ein bitteres Wissen zu sein, nicht ein Wissen von einem bestimmten Ding, eher die Einsicht in die Lage der Dinge, und er könnte sagen, daß er dabei die Wörter auswechselte, Wörter gegen Wörter, wechselte eines gegen das andere aus [. . .] (209)
Die mit Transformation betitelten Abschnitte lenken die rezeptive Aufmerksamkeit – neben der anhäufenden und auslassenden Anordnung – besonders auf das Kompositionsprinzip der Umgestaltung. Darin zeigt sich jedoch nicht nur die sinnschaffende Kraft des Textzusammenhangs, sondern die auch in der Einführung betonte Frage nach der Zeit, ohne die sich die Aneinanderreihung von Situationen und Konstellationen leicht als mechanische Wiederholung herausstellen könnte. Da die Bedeutung nicht den Signifikanten gehört, wählt sich Indirekt also den Mechanismus zum Thema, in dem die Dinge erst im Kontext der möglichen Vielfalt der Interpretation Bedeutung erlangen. Und all dies wird – über das Dazwischenkommen der Nachträglichkeit
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hinaus – in erster Linie zu einer Frage der Zeit, weil die Sinnbildung der Erzählung weder die auf der Identifizierung mit dem Ursprung basierende Logik anerkennt noch jene in der willkürlichen Zuordnung begründete.7
Es ist Zeit zitiert die Struktur des Produktionsromans und exponiert schon im Titel die Problematik der Zeitverhältnisse, obgleich das „ist“ nach oben Gesagtem an diesem Punkt für die Leser des Werkes schon eine ambivalente Bedeutung mit sich bringt. Denn nicht nur für die Konstellation der Wörter und Dinge, sondern auch für die zeitlichen Aspekte in der Einführung scheint das Verb sein in der dritten Personal Singular Präsens primärer Bezugspunkt zu sein. Zwar formuliert K. im Eifer der Unterhaltung mit der Frau den fehlbaren Wunsch nach etwas, was „die Gegenwart und das Sein verständlich macht, wodurch die Dinge zumindestens einen Ort bekommen“ (309), doch wirft dieser Gedanke die Frage auf, ob das „ist“ zu einem Verwahrer der Raum und Zeit verbindenden Transformationen werden vermag. Die Möglichkeit des sinnvollen Seins erscheint in Indirekt grundsätzlich nur schwer greifbar. In fast jedem Fall scheint sie im Zusammenhang mit der in der Zeit zerronnenen Jugendgeschichte formuliert, in Bezug auf die Fäden der Geschichte, die man zu rekonstruieren versuchte, und auf ihr entschwundenes Jetzt: „er, K., und Halassi hatten die mitreißende Gegenwärtigkeit der Frau, ihre wirkliche Beweglichkeit von Anfang an beneidet, das Thema auf ihren langen Spaziergängen war oft der Augenblick“ (307–308). Wenn jedoch das Erleben des Jetzt im Zusammenhang von Gegenwart und naher Vergangenheit der Erzählung auftaucht: was er jetzt sagen möchte, daß Hoffnungen ihre eigenen Zeiten hätten und daß jetzt nicht die Zeit der Hoffnungen sei, [. . .] und hat das Gefühl, daß sie beide nicht belastet waren, weder durch die Vergangenheit noch durch die Zukunft, nur die Gegenwart, die war belastend, doch deren Schmied, so das Wort, das ihm dort im dämmrigen Flur plötzlich eingefallen war, war er selbst, (193–194)
dann nimmt es verneinende Gestalt an oder die Fortsetzung wird mit dem Bild des in sich zusammenfallenden Kartenhauses assoziiert. Als jedoch die Frau „zunehmend aufgeregt [. . .] mißtrauisch [beobachtet], was mit seiner, mit K.s, Zeit sei“, heißt es „notgedrungen müsse er dann sein Elend bloßlegen, gerade das: in ihm ist keine Zeit, also nichts, was Mißtrauen wecken könnte [. . .]“ (216) In Indirekt sind die Zeitverhältnisse grundsätzlich mit einer Spannung belastet; das Vergehen der Tage und Jahre erscheint in der Erzählung als etwas Feindliches: „alle seine Vergleiche sind, wie sich im Laufe der Zeit herausgestellt
7 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 137.
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hat, immerhin, zumindestens hat sich das herausgestellt, alle sind nur dazu gut, um gleich korrigiert zu werden“ (220). Die Zeit ist in diesem Sinne nicht der Ursprung oder die Voraussetzung für die Erfahrung, sondern ein Korrektiv, das sich in den Textmodifizierungen ausdrückt. Die gewachsene Ohnmacht der Zeit ruft das Bild des mythischen Kreislaufes auf, jener in sich selbst zurückkehren könnenden Zyklen von Permutationen: „er begann den vorangehenden Augenblick wieder aufzurollen, was war er, K., für ein Sisyphos wider Willen“ (208–209). Dennoch halte ich es für zweifelhaft, ob diese in sich selbst verschlossene Geste des Aufrollens des Augenblicks oder insbesondere das Bewusstsein des Verlusts der Vergangenheit die Zeitperspektive der Ambiguität des „ist“ und des Rekonstruktionsversuchs erschöpft. Die Idee des sisyphosartigen Augenblicks wird an anderer Stelle in Indirekt durch eine andersartige Zeiterfahrung kontrastiert: er dachte, er sei bis zum Rande voller Tatsachen, bis zum Rande mit Tatsachen gefüllt, einfach mit der Tatsache des Ist, und in solchen Momenten, in diesen ungedeckten, gefährlichen Situationen, vermehren sich auch die diesbezüglichen Augenblicke, leuchtende Einsprengsel der Zeit, die sowohl außerhalb von ihr als auch in sie eingeschlossen sind, Augenblicke, die später mit einer Schärfe in einem hängenbleiben, sich sogar einmeißeln, daß man am liebsten aufjaulen möchte, doch eher runzelt man beherrscht die gequälte Stirn und denkt, na sicher, was wird das schon sein, halt unsere Vergangenheit. (208)
Im Vergleich dazu ist es eine kaum nebensächliche akzentuelle Verschiebung, dass in diesem Abschnitt das „ist“ nicht in der Prädikatsfunktion auftritt, also nicht als Verb des Seins, das den Akt der Transformation ausführt, sondern als Subjekt, als Erleidender einer eigenartigen Transformation. Der Zerfall, die Aufhebung des Kreislaufes erlaubt sofort das Auftauchen zahlreicher divergenter Zeitbezüge: In diesem Zitat geht es um die Häufung, die unerwartete und gefährliche Ereignishaftigkeit, Einschlussartigkeit, um in äußerer und innerer Berührung verweilendes Auseinanderdriften, schmerzhafte Prägungen sowie um den disziplinierten Bau der Vergangenheit, auch wenn sich diese Möglichkeiten nicht restlos miteinander vereinbaren lassen, wenn sie sozusagen keinen Ort bekommen, nicht in eine Ordnung kommen. Da die sich vervielfachenden, momentweise an die Oberfläche kommenden Aspekte der Zeit, die Textebenen, die Zeit unerwartet sichtbar machen, für sich genommen hingegen nicht von sinntragender Konjunktion charakterisiert sind, so ist auch ihre Präsenz nicht klar.8 Das verstärkt nun nicht die Verlusterfahrung, so wie Indirekt auch nicht in Versuchung gerät, die Nostalgie zu bedienen, sondern
8 Vgl. Wernitzer: Idézetvilág, 87.
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schreibt sich gerade als eine solche Spur einer der Zeit ausgelieferten, eigenartig zeitlichen Seinsweise in den Text hinein, die das wahre Medium des Leidens und damit auch der bis zum Rand vollen Leidenschaft sein kann. Die Dualität von „die sowohl außerhalb von ihr als auch in sie eingeschlossen sind“ ruft die Satzzeichen auf, die dieses Buch einfassen. Die Geltung dieser in Indirekt als Einschluss erscheinenden Passage zwischen den Klammern wird gewissermaßen gleichzeitig auf den ganzen Text, auch den außerhalb der umgedrehten Klammern stehenden, der Einführung erweitert. So gesehen ist es auch nicht abwegig die Abschnitte, die durch scharfe, sich einmeißelnde Augenblicke entstehen, in ein analoges Verhältnis zu bringen mit der rhythmischen Wirkung jener typografischen und paratextuellen Elemente, die die Texte des Werkes beim Lesen zerstückeln und verbinden. Ein solcher Zusammenhang wird auch von der Laufszene in Flucht der Prosa aufgerufen: durch „die Beine, die unter dem Körper rhythmisch hervortauchen“ und somit „dieses beruhigende – berechenbare – Tranchieren der Zeit und des Raumes“ (18) verkörpern. Etwas weiter im gleichen Text wird durch den Gebrauch der Töne, genauer Buchstaben, als gliedernde Elemente (41–44) eine ähnliche Lesesituation geschaffen. Im zweiten Teil von Kleine Pornographie Ungarns wird die Gliederung der Anekdote Die Aussagen eines Augenzeugen mit einer paradoxen Zweischneidigkeit vom Vergehen und von der Aufhebung der Zeit zusammengebracht, die dazu führt, dass die Zeitvorstellung des Agens der Handlung und des Patiens des Geschehens voneinander abweichen und sich nicht vereinbaren lassen, in der menschlichen Existenz jedoch beinahe notwendigerweise zusammentreffen: „Auch die Zeit wurde in Abschnitte zerstückelt: Mal war sie vorhanden, mal war sie nicht vorhanden (es war einmal – und mit einem Mal war es wieder nicht!)“ (575). Die Erfahrung der plötzlichen Zerrüttung, Vervielfältigung der Zeit geht mit dem Öffnen und Auflockern des repräsentativen Verhältnisses einher, das in „ist“ steckt. Der Tag des Geburtstages in A Hard Day’s Night wird durch das Zitieren einer mathematischen Formel (in der Fußnote) nicht nur auf ein Intervall von drei bis fünf Tagen erweitert – wobei die Enge dieses Spielraums auf paradoxe Weise genau auch durch seine Erweiterung illustriert wird –, sondern eröffnet durch die Zitate und Anspielungen eine sehr viel weitere Perspektive. So löst sich die Gegenwart, die sich einen aufgezeichneten Ort, einen eigenen Raum verschafft hat, gleichsam auf in Zeitprozessen, die zur Vergangenheit werden und für die Zukunft offen sind. So hat einerseits Sándor Radnóti Recht, wenn er sagt: „Der Titel von Esterházys Buch enthält eine folgenreiche Behauptung. Es gibt schöne Literatur“9, andererseits verbindet die Vielfalt der Zeitbezüge
9 Radnóti: „Az ambivalens műbírálat“, 61.
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im Hintergrund der Gegenwart und das Vorauseilen und Zurückschauen, durch das sich der Erzähl- und Leseprozess entfalten, die Frage der Literatur immer resoluter mit der Erfahrung der Vor- und Nachzeitigkeit, indem die Gewissheit, sozusagen die expansionslose Evidenz des „ist“ – ob punktuell oder grenzenlos –, in einen offenen und dynamischen Zeithorizont eingebettet wird. Denn die Einführung kann als dem vorausgehend betrachtet werden, was sie vorbereitet. Dies behauptet auch der vielzitierte Abschlusssatz des Buches, der nach der Ankündigung Ende. folgt: „SPÄTER WERDE ICH ÜBER DAS ALLES GENAUERES SCHREIBEN“ (881). Die beiden Texte, die den Band einrahmen, scheinen, zumindest anhand ihrer Titel, ebenfalls auf eine derartige zeitliche Umdeutung hinzuweisen: In Flucht der Prosa steckt ein Wortspiel, welches das Bild einer der Wahrnehmung entgleitenden, der Einführung entlaufenden schönen Literatur hervorruft, während die Komposition Hilfsverben des Herzens der Literatur eine Art ergänzende, kaum wahrnehmbare Grenzsituation zuweist. Die sich daraus ergebende Nicht-Anwesenheit der Literatur legt somit auch die entgleitende Rezeption der parallel gesetzten, nebeneinander gestellten Texte, der Randbemerkungen und Zitate fest. Der „Schwank“ und der „Bildroman“ lassen sich ebenso wenig gleichzeitig lesen wie die Librettoversion von Daisy und ihre Aufzeichnung, die an eine Theateraufführung erinnert: Das eine überholt unvermeidlich das andere. Die Wiederholungen wie der sogleich als Untertitel wiederholte Titel, die Allusionen und Entlehnungen verbinden Texte auf echoartige Weise im Gedächtnis der Leser. Diese auf der Wiederkehr basierende Ordnung schafft nicht nur eine Einheit bzw. stellt zumindest eine Spannung her, sondern ist auch Quelle einer außergewöhnlichen Selbstironie. So gibt es in Indirekt an einer Stelle, Richtung Ende hin, eine Art mise en abyme, einen Abschnitt, der seine Gültigkeit auch in Bezug auf die ganze Einführung behalten könnte: [E]r, K., kann sich jetzt die Situation der Frau gut vorstellen, sie kennen die Unruhe der Ehepaare und haben darüber schon gelacht, wenn sie die Geschichte des anderen mehrfach hören müssen, diese Spannungen zwischen Aufmerksamkeit und Ungeduld, die Außenstehende verlegen macht, man kennt schon alle Wendungen, Zwischenbemerkungen, die schlauen Rückschläge, die vielen Kniffe, um eine Spannung zu erhalten. (310)
Mihály Szegedy-Maszák, der Péter Esterházys Freund und einer seiner besten Kenner war und einige Tage nach dem Schriftsteller verstarb, schrieb vor drei Jahrzehnten über Esterházys 1986 erschienenes großes Werk: „In der Welt der Einführung heilt die Zeit keine Wunden, das Drehbuch von Es ist Zeit drückt letztlich eine außerordentliche Bitterkeit aus, es geht um ausgebliebene Entfaltung – das Schicksal erscheint als zerstörerische Kraft, und Ordnung ist höchstens in
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der Nähe zur Ewigkeit möglich, die Zeit kennt eher nur Wiederholung“.10 So ist die Einführung – in Gedenken an den Tod – ein in der Schwebe gehaltenes Zeugnis über die Zeit – auch gegen die Zeit.
Literatur Esterházy, Péter. Einführung in die schöne Literatur. Deutsch von Bernd-Rainer Barth, György Buda, Zsuzsanna Gahse, Angelika Máté, Péter Máté, Terézia Mora und Hans-Henning Paetzke. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Fludernik, Monika: „New Wine in Old Bottles? Voice, Focalization, and New Writing“. New Literary History 32.3 (2001). 619–638. Kulcsár Szabó, Ernő. Esterházy Péter. Bratislava: Kalligram, 1996. Radnóti, Sándor: „Az ambivalens műbírálat“ [Die ambivalente Kunstkritik]. Diptychon: Elemzések Esterházy Péter és Nádas Péter műveiről 1986–88. Hg. Péter Balassa. Budapest: Magvető, 1988. 58–93. Szegedy-Maszák, Mihály: „Bevezetés a szépirodalomba [Einführung in die schöne Literatur]“. Diptychon: Elemzések Esterházy Péter és Nádas Péter műveiről 1986–88. Hg. Péter Balassa. Budapest: Magvető, 1988. 108–126. Wernitzer, Julianna. Idézetvilág: avagy Esterházy Péter, a Don Quijote szerzője [Zitatwelt oder Péter Esterházy, Autor des Don Quijote]. Pécs: Jelenkor, 1994.
10 Szegedy-Maszák: „Bevezetés“, 109.
Gábor Tamás Molnár
Eine fragmentarische Enzyklopädie Péter Esterházy: Harmonia Caelestis Der im Jahr 2000 erschienene Roman von Péter Esterházy formulierte schon mit seinem Titel, Harmonia Caelestis, mit Umfang und Aufbau seinen „enzyklopädischen“1 Anspruch. Dies war nicht der erste Versuch im Lebenswerk dieses Autors, ein so umfassendes, repräsentatives Werk zu schaffen. Einführung in die Schöne Literatur, das in Ungarn zusammen mit Péter Nádas’ Großroman Buch der Erinnerung (1986) erschien und mit diesem zusammen als epochaler Wendepunkt der postmodernen ungarischen Prosaliteratur eingeläutet und von der Kritik ebenso gewürdigt wurde, kann mit Einschränkungen durchaus als enzyklopädische Komposition gelesen werden.2 Auf den ersten Blick sind die Unterschiede zwischen den beiden Großkompositionen Esterházys augenfälliger als die eventuellen Gemeinsamkeiten. Einführung in die Schöne Literatur war ein Nacheinander von lose miteinander verbundenen, in Thema und Gattung voneinander abweichenden, stilistisch vielfältigen Texten, die zum Teil schon in Einzelbänden erschienen waren, deren Untertitel gleichlautend mit dem Titel des späteren einheitlichen Werkes waren. Das primäre kompositorische Prinzip dieses Nacheinanders setzte sich aus Serialität und Iterabilität zusammen. Die wiederkehrenden Intertexte, die der Neuschaffung der literarischen Tradition entsprangen, sowie die illustrativen Einsetzungen, die Gattungs- und Medienrahmen strapazieren, machten das verbindende Element zwischen den einzelnen Texten aus. Die Spannung zwischen dem enzyklopädischen Anspruch und den kompositorischen Methoden macht es nahezu unmöglich, die Sichtweise von Einführung in die Schöne Literatur mit dem Ideal eines „begrenzten Weltganzen“ in Verbindung zu bringen, insofern die enzyklopädische Vollständigkeit hier eine „buchhafte“, im typografischen Raum des Bandes zur Geltung kommende Begrenztheit und gleichzeitige intertextuelle Offenheit bedeutet. Durch die Selbstkommentare der Texte wird zudem klar, dass diese Haltung „die welthaften Interpretationsformen von vornherein ablehnt“.3
1 Zu den literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen des Begriffs vgl. Mendelson: „Encyclopedic Narrative“. 2 Wernitzer: Esterházy Péter, 141–144. 3 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 150, 153. Übersetzung: Deutsch von Merten Both. https://doi.org/10.1515/9783110618082-014
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Harmonia Caelestis besteht dagegen aus zwei größeren Einheiten, die in vielerlei Hinsicht einander gegenübergestellt werden können, das heißt, das Buch schafft eine symmetrische Struktur – auch wenn es weiterhin nicht als vollkommen geschlossene Komposition anzusehen ist. Der Titel, der das barocke musikalische Werk eines fernen Vorfahren des Autors zitiert, bringt aufs Neue die Vorstellung des Weltganzen mit der künstlerischen Komposition in Verbindung. Die Titelgebung spielt auch auf literaturhistorische Klischees an, die (wie z. B. der berühmte Essay The Literature of Exhaustion von John Barth) die postmoderne experimentelle Prosa mit dem stilgeschichtlichen Etikett des „Neobarock“ versehen, wobei sie von einem unbegrenzbaren Weltganzen, einer Konstellation der Großformen und der Fragmentarität ausgehen und von Kompositionsstrategien, die die literarische Tradition wieder aufbereiten. Dabei zitieren die beiden größeren strukturellen Einheiten von Harmonia Caelestis zwei gegensätzliche Prinzipien des Totalen selbst, zwei gegensätzliche Prinzipien der Organisation des Wissens. Darauf weisen auch die in den beiden Untertiteln gefassten Artikel: Nummerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy/Bekenntnisse einer Familie Esterházy. Etwas vereinfacht könnte man das Verhältnis der beiden Textteile auch unter Zuhilfenahme von Begriffen der Wissenstheorie Jerome Bruners beschreiben: Der erste bildet eher eine Art paradigmatisches System, dagegen präsentiert der zweite narrativ die Geschichte der Moderne eines Landes anhand der Geschichte einer (hier) repräsentativen Familie. Eine genauere Lektüre wird hier gleichzeitig die Relativierung des symmetrischen Ausgleichs und die gelegentliche Umkehrung derselben entdecken können. Die „nummerierten Sätze“ der ersten Einheit beinhalten zahllose mehr oder weniger lange historische Anekdoten, Lebensgeschichten, Märchen- und Sagenfragmente sowie literarische Zitate. Ein beständiges Prinzip verbindet diese heterogenen Textteile miteinander: Der Erzähler nennt den Helden jeder einzelnen Episode „mein Vater“ (édesapám), unabhängig davon, welche erkennbare historische oder fiktive Referenz die Geschichte zitiert (von Robin Hood über Kurt Gödel bis hin zu Holocaust-Opfern). Das ungarische Kompositum enthält zwei wichtige Bestandteile: Zum einen drückt es die körperlich-biologischen Referenzen der Vaterschaft aus (apa), andererseits konnotiert die buchstäbliche Bedeutung der Vorsilbe (édes) ein emotionales Verhältnis. Die Streuung des Wortes in verschiedenen narrativen Beziehungsordnungen bringt die innere Spannung dieser beiden Bestandteile zum Vorschein: Im Sprachgebrauch des namenlosen und quasi bis zum Schluss nur in der dritten Person sprechenden Erzählers wird der emotive Bezug häufig scharf vom biologischen getrennt. Der performative Gestus des Geschichtenerzählens vermag jeden an den Platz des Vaters zu stellen, wodurch die Funktion der (leiblichen) „Vaterschaft“ unabhängig vom Zeugungsakt wird. Häufig ist dieses Verhältnis aber umgekehrt:
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Das Geschichtenerzählen erschafft den Vater, das Kindschaftsverhältnis entsteht in der Traditionsbildung, was die Texte auch entsprechend kommentieren (siehe unten). Der zweite Teil ist in der Hauptsache eine Erzählung, eine Reihe von Erzählungen, um genau zu sein, die die historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel der Familiengeschichte beleuchtet. Hier spielen die wohlbekannten und leicht erkennbaren, wenn auch stellenweise ausgewiesen fiktionalisierten Vorfahren des aristokratischen Autors eine herausragende Rolle: Im Mittelpunkt der Ereignisse stehen der Großvater Móric Esterházy, der Politiker, und der Vater Mátyás Esterházy, der von der kommunistischen Diktatur zusammen mit seiner Familie deportiert wurde.4 Die Repräsentativität der Familie erhält eine ebenso prominente Rolle wie der erzwungene Verzicht auf diese repräsentative Funktion in der kommunistischen Zeit. Den Brief, in welchem dem Großvater eine Stelle als Nachtwächter angeboten wurde, kommentiert der Erzähler so: „Gibt es jemanden, der sich so einen Brief, sagen wir: 1917 hätte vorstellen können? Kein noch so kommunistisches, noch so böswilliges Hirn hätte sich so weit vorgewagt. Guillotine, das ja, aber Nachtwächter?“ (836). Die Romangeste, die „meinen Vater“ zum Haupt-Helden eines universellen historischen Kompendiums, die „eine Familie Esterházy“ dagegen zum Repräsentanten der ungarischen Geschichte macht, kann auch als der Versuch gesehen werden, eine solche Autorität wiederzugewinnen.5 Es ist also kein Zufall, dass eine der Grundfragen der Repräsentation im Fall von Harmonia Caelestis Wesen und Ort der Autorität berührt. Im Zusammenhang mit dem ersten Buch, dem aus nummerierten Sätzen bestehenden Text, ist besonders interessant, in wessen Namen bzw. im Namen wovon und mit welchem Anspruch die Erzählstimme auftritt. Die Weigerung, das Ich auszusprechen, die starke Abhängigkeit von Nachbartexten, die von der Gattung abweichen (wobei die Versuche, diese zu homogenisieren, eher selten sind), die Dissemination des Signifikanten „mein Vater“, seine quasi-eventuelle Transformation zu einem austauschbaren Begriff, mag den Anspruch auf eine Art Universalität signalisieren,
4 Die Geschichte des Vaters kann so leicht mit der Lebensgeschichte des eigentlichen Vaters des Autors verwechselt werden, dass Péter Esterházy, nachdem er bei Nachforschungen von seinem Vater geschriebene Spitzelberichte für den kommunistischen Staatssicherheitsdienst gefunden hatte, die Notwendigkeit der Neufassung der Geschichte sah, die sich schon ihrem Titel nach (Verbesserte Ausgabe) auf den vorangegangenen Roman bezieht. 5 Es ist in dieser Hinsicht vielsagend, dass die Rezension von Michael André Bernstein im linken New Republic, eine der umfangreichsten Kritiken des Romans in den USA, diese Geste als „problematisch“ betrachtet, da der aristokratische Nachkomme sich die historischen Erfahrungen anderer „aneigne“ (Bernstein: „Dynasty“, 12–19, 44).
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während ironisch auch auf die Uneinschränkbarkeit dieser Universalität gedeutet wird (darauf kommt die Fachliteratur verständlicherweise oft zurück, es geht ja auch um ein unterhaltsames Spiel: der Ausdruck „mein Vater“ kann quasi alles bedeuten; mal Imre Kertész, mal Verbrecher, mal einen Schwertwal). Das Buch kann mehr oder weniger zu Recht als Familienroman (hauptsächlich das zweite Buch), als historischer Roman, als Anekdotensammlung (hauptsächlich das erste Buch), als Bekenntnis, als „Vaterroman“ (die Entstehung dieses Begriffs ist zum Teil auch auf den Erfolg von Harmonia Caelestis zurückzuführen) usw. gesehen werden. Während diese Enzyklopädizität auch die Grenzen der Fiktionalität deutlich macht (die erkenntnistheoretische Autonomie der erfundenen Welt, das ästhetische Dogma der Nur-auf-sich-selbst-Bezogenheit verlieren ihre Gültigkeit), geschieht all das in Esterházys Roman auf eine Weise, dass die Referentialität der nicht-fiktionalen Diskursformen, auf die der Text sich bezieht, ebenfalls in Frage gestellt wird. Diese doppelte Bewegung kann in Zusammenhang mit einer (für Esterházys Texte schon früh charakteristischen) Erzähltechnik gebracht werden, mittels derer „der Erzähler sich mal als Romanfigur, mal als quasi-Autor in den Text hinein- bzw. aus dem Text herausschreibt“6 bzw. der Diskurs kontinuierlich im Grenzbereich zwischen klassischem Roman und Abhandlung schwebt. So ist es fast unmöglich, in der Frage des Wirklichkeitsbezugs der einzelnen Äußerungen zu einer Entscheidung zu kommen. Vor allem im Licht der Beobachtung Péter Balassas wird das zu einem Kernproblem jeder Interpretation des Textes: Péter Esterházys Textgestaltung mit ihrem Reichtum an Sentenzen, Sprüchen und Verdikten verführt die Kritik (auch mich) dazu, sich auf diese zu konzentrieren, und [. . .] in die Falle der vorgegebenen, dargereichten, zu starken Bedeutung und des die Maske der Eindeutigkeit tragenden Zeichens zu tappen. [. . .] Bei Esterházy sollte die Sentenz bei der Lektüre eher die ‚Trope‘ des Misstrauens sein, sie sollte dazu aufrufen, bei der Bedeutungsfindung dagegenzuhalten, zu zögern.7
Der Hinweis Balassas wird des Öfteren zitiert, an prominenter Stelle z. B. von Gábor Vaderna, der exakt den „rezeptionsgeschichtlichen Gemeinplatz“ des Satzes 354 zum Gegenstand gründlicher Lektüre macht und Thesen aus Textteilen des Klappentextes oder des Werkes selbst untersucht, die an eine Ars poetica denken lassen: „Der Sohn meines Vaters hat nichts erfunden. [. . .] Auch die Namen sind echt (Meinvater) [. . .] Auch wenn es aus der Wirklichkeit geschöpft wurde, sollte man es lesen, als wäre es ein Roman“ (426 f).8 In der
6 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 178. 7 Balassa: „Apádnak rendületlenül“, 42. 8 Esterházy: Harmonia Caelestis. Die Seitenzahlen im Fließtext folgen dieser Ausgabe.
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Schlussbetrachtung seiner Arbeit weist Vaderna auch darauf hin, dass die Konfrontation mit solchen selbstreferentiellen Passagen von vornherein – vor allem im Augustinus-Kontext, in dem er den Text verortet – auf die Hermeneutik des guten Willens angewiesen sind.9 Alle diese Charakteristika haben die Esterházy-Interpreten schon vor Erscheinen von Harmonia Caelestis zu ernsthaften Auseinandersetzungen veranlasst, hauptsächlich in Bezug auf den Wahrheitsgehalt der in den Werken getätigten Äußerungen, auf die synekdochische Dehnbarkeit ihrer Bedeutung.10 Der historische Kontext, in dem Harmonia Caelestis erschien, führte dem Anschein nach jedoch zu einer verstärkten Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit, die die These vom notwendigen Politikum11 „enzyklopädischer Narrative“ stützte. Die Publikation von Javított kiadás (2002, in Deutschland: Verbesserte Ausgabe (2003)), der Enthüllung der „wahren“ Vergangenheit von Mátyás Esterházy, scheint (unabhängig vom Urteil über das schriftstellerische Niveau) insofern ein Schritt zu sein, der mit der erzählerischen Strategie von Harmonia Caelestis vereinbar ist, als auch das früher publizierte Werk das Prädikat einer „reinen Fiktion“ nicht zulässt. (Besonders lehrreich sind die Stellen von Verbesserte Ausgabe, in denen der Erzähler über die Berichte der Leser mit einem „wörtlichen Verständnis“ von Harmonia Caelestis informiert.) Harmonia Caelestis mobilisiert nämlich einen familien-, bildungs-, politikgeschichtlichen Stoff, dessen Masse, dessen Arrangement, dessen Zuordnung zu spektakulär ambivalenten poetischen Verfahren genau in dem Maße nicht erlaubt, irgendein Segment der zitierten Welt einfach als „fiktiv existent“ zu qualifizieren, wie sich das einfache Verfolgen der Wirklichkeitsbezüge als Irrweg herausstellt. Beáta Thomka sagt im Zusammenhang mit Harmonia Caelestis völlig zu Recht: „Die charakteristischste Gedankenfigur ist die Ironie, die es vermag, reihenweise Wort-, Satz-, Textfiguren, Tropen zu subsumieren“.12 Diese „Unterordnung“ funktioniert jedoch so, dass – und dadurch wird eine enge Bindung zwischen Esterházys Buch und den charakteristischsten Formen postmoderner Ironie hergestellt – sie auch die ureigene Definition des ironischen Diskurses einzubegreifen versucht. So geht es im Satz 89 in einem kurzen Streit darum, ob die Welt ernst oder ironisch zu betrachten sei. („Ernst und ironisch, antwortete der Schriftsteller.“ [117]) Später, im zweiten Teil, ist Folgendes zu lesen: „[Großmama] blinzelte genauso, so lustig und ironisch wie der Papi. Dabei war ihr Ironie fremd, sie gab nie Kommentare ab, was das sine qua non der Ironie 9 Vaderna: „Emlékezet és felejtés“, 600. 10 Vgl. Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 188. 11 Mendelson: „Gravity’s Encyclopedia“, 172. 12 Thomka: A történelem mint tapasztalat, 74.
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ist, sie handelte immer“ (594 f., Hervorhebung G. T. M.). Wenn der Kommentar (hier also das Gegenteil des Handelns) das sine qua non der Ironie darstellt, dann ist der Selbstkommentar des literarischen Textes – vor allem die Bemerkung über den Gebrauch der Ironie – das Nonplusultra der Ironie. Zwar kann der Tonfall des hier zitierten Textteils für sich genommen nicht gerade als augenzwinkernd oder lachend beschrieben werden, er stellt sich dennoch als fundamental ironisch heraus, denn er kann – wie so viele andere Zitate – mit wenig Mühe zu einem Kommentar umgestaltet werden, der sich auf den Sprachgebrauch des Romanganzen bezieht. Die ironische Parabase, die die funktionale Differenzierung zwischen schöngeistiger und Sachliteratur zitiert, kann dagegen anhand des eingeführten Begriffes der „Metafiktion“ gedeutet werden, insofern man akzeptiert, dass der Selbstkommentar nicht nur die Möglichkeit der Rückbeziehbarkeit der erfundenen Welt auf das Referentielle in Frage stellt, sondern zugleich die erkenntnistheoretische Autonomie der möglichen Welt.13 Die selbstreflexiv genannten Verfahren verorten die figurativen Formationen des Textes also weder auf einem wirklichkeitsanalogen, noch auf einem referenzlosen Terrain, was jedoch nicht völlig mit der Möglichkeit gleichgesetzt werden kann, dass Wirklichkeit und Fiktion aus ihrem gegenseitigen und auf den jeweils Anderen gerichteten Getriebensein austreten,14 so dieser Austritt überhaupt als die totale Auflösung von Innen und Außen gedacht werden kann. Dieses Verlangen nach dem Totalen, nach der vollkommenen Selbstreflexion wäre eigentlich die verdeckte Wiederkehr einer Art Autor-Prinzips: Oder aber das Spiegelbild ist ein absoluter Eigenname, so wie es eine absolute Ikone ist. Mit anderen Worten, der semiotische Traum von Eigennamen, die unmittelbar auf ihre Träger bezogen wären (ebenso wie der semiotische Traum von einem Bild, das alle Eigenschaften seines Objektes besäße), entsteht genau aus einer Art katoptrischer Sehnsucht.15
In Harmonia Caelestis bleibt die Spannung zwischen dem Innen und dem Außen jedoch immer bestehen, denn für die Erkennbarkeit der ironischen Figuren des Romans bürgt ausschließlich diese Unterscheidung. Die Trennung der Fiktion von der Wirklichkeit erscheint als eine Art permanent wiederkehrende, existente Unmöglichkeit. Diese Unmöglichkeit wird von den zahlreichen selbstreflexiven Verfahren des Romans illustriert. Die letzte Bemerkung des Satzes 203 („[Der älteste Sohn meines Vaters spricht es nicht aus: ich, sondern zeigt stumm auf sich selbst]“, 257) funktioniert z. B. als glaubhafter Selbstkommentar in dem bereits erwähnten
13 Waugh: Metafiction, 101. 14 Selyem: „Egy egyenlet“, 90. 15 Eco: „Über Spiegel“, 41.
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Sinn, dass das Wort „ich“ im ersten Buch ebenso fehlt wie die Verbformen der ersten Person Singular. In dieser Bemerkung muss das Personalpronomen jedoch sinnvollerweise vorkommen („spricht es nicht aus: ich“), d. h. sie schafft – vergleichbar mit dem Paradox des Epimenides – eine Struktur, die sich selbst widerlegt. Die Voraussetzung der Metafiktionalität läuft notwendig auf ein Paradox hinaus, denn die Figur der mise-en-abyme verdeckt das Auseinanderklaffen von Sprache und Erfahrung genau dort, wo sie die Realität literarischer Kommunikation dem Anschein nach emanzipatorisch zu erhellen beginnt. Wenn das Wort, das auf sich selbst zurückweist – wie einige Romantiker angenommen haben – die Wahrheit über sich selbst auszusprechen vermochte, dann wäre es der Verwahrer der absoluten Freiheit; wenn es dieser strikten Forderung nach Identität mit sich selbst aber nicht entspricht, wird es unvermeidlich in der endlosen Helix der Selbstwiederholung verharren müssen.16 Der sich selbst interpretierende Text wird sich also notwendigerweise aufspalten, entzweien, und seine Identität fragwürdig werden: Die Privilegierung solcher Textteile in ihrer Funktion als Selbstinterpretationen, als Äußerungen über den Roman selbst, geht damit einher, dass die zitierten Sätze gleichsam aus dem Text herausgehoben, an einen Ort außerhalb dessen verlagert werden und den Text so in einem größeren, ‚unschuldigen‘, sich selbst nicht bewussten Teil bzw. in einem aus einigen markierten Stellen bestehendem Metatext isolieren, in dem der Roman über sich selbst spricht.17
Esterházys oben erwähnter Kommentar kann auch nur durch solche Operation als gültiger Kommentar betrachtet werden, andernfalls würde er sich, wie gesagt, selbst widerlegen. In diesem Fall würde der Selbstbezug aber in Frage gestellt, denn der Kommentar muss radikal vom Text unterschieden werden. So gesehen besäße der Text keine über sich selbst hinausweisende Ebene, die für die verlässliche Kommunikation zwischen Werk und Leser bürgen könnte.18 „Man mußte ihn vom Grab wegführen. Nun trauerte er anständig um seinen Sohn, nicht mehr von oben herab, sondern dunkel, schluchzend. Mein Vater wurde jetzt erst zu meinem Vater, sozusagen im letzten Moment.“ (429)
16 Rose: Parody//Meta-Fiction, 80. 17 Bényei: Apokrif iratok, 151. 18 Vgl. „the narrative misleads its audience as to the origin of its mysterious narrative voice and can only answer the question ‚who is talking‘ by lying“, „this originating reality being by definition out of reach or already duplicated by the time it comes into play, the transcendental mise en abyme can only put forward a fiction (or a metaphor) of it – even if, textually, this fiction works as an origin“. Dällenbach: The Mirror in the Text, 80–81; 101.
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In den Romanen Péter Esterházys spielt der Gedanke des „filius ante patrem“19 bzw. das Paradox des Ursache-Wirkung-Verhältnisses an mehreren Stellen eine wichtige Rolle: Insbesondere, dass erst der Sohn den Vater zum Vater macht. Die Wirkung ist also der Ursache Ursache (die Ursache der Kausalität der Ursache). Dieser zum Teil von Nietzsche inspirierte Gedanke bildet jedoch – wie das obige Zitat andeutet – nicht einfach ein thematisches Problem des Vater-SohnVerhältnisses, das ein Roman einkreisen und beschreiben kann, sondern eine Komplikation, die technische, rhetorische und sogar sprachphilosophische Relationen der Textschöpfung berührt. Eine der Stärken von Harmonia Caelestis ist, dass der Roman den Problemen, die er aufwirft, auch auf der Ebene der Verfasstheit nicht aus dem Weg geht. Seine Sätze enthalten oft formale Lösungen, die in auffallender Weise auf die Grenzen der Textualisierbarkeit aufmerksam machen. Im Satz 341 des ersten Teils ist Folgendes zu lesen: Im Herzen meines Vaters schien, wie das vierzig Jahre später als Motto einer sogenannten weltumfassenden Techno-Party gerülpst wurde, die Sonne. Morgens wurde er davon geweckt, vom Schein. Jetzt käme es zupaß, wenn es einen Herrgott gäbe, wie gut, wie einfach und natürlich könnte man ihm jetzt Dank sagen. Er betrachtete den Sonnenschein als unmittelbaren Gottesbeweis, dieses Betrachten als den romantischen Beweis der Existenz Satans und die ersehnte Danksagung als den romantischen Beweis seiner selbst. (405, Hervorhebung: G.T.M.)
Der Text bringt das unsichere Verhältnis von Ursache und Wirkung („wenn es einen Herrgott gäbe [. . .] könnte man ihm jetzt Dank sagen“) auch thematisch zum Vorschein und hebt sowohl die logisch-erkenntnistheoretischen als auch die ethischen Relationen desselben deutlich hervor: Der Beweis eines jeden existenten Seins kann nur die von einer äußeren Erscheinung abgeleitete Inferenz sein: Das Sonnenlicht beweist das Sein Gottes, das Verlangen nach der Danksagung das Sein der Seele, und diese Logik (dieses „Betrachten“) selbst stellt sich im gleichen Moment als die Logik des Satans heraus. Der Anspruch auf Reflexion (aus der Perspektive von „Meinvater“) äußert sich in diesem Abschnitt also sehr stark, der syntaktische Aufbau des Textes durchbricht jedoch die hierarchischen Verhältnisse der reflexiven Bewegung: Im bravourös arrangierten letzten Satz bildet das „e tekintés [dieses Betrachten]“ eine Epiphora, die in einem untergeordneten Verhältnis zu dem Prädikat „tekintette [betrachtete]“ steht, und generiert so eine Art Unmöglichkeit, da das Demonstrativpronomen („e [dieses]“) auf eine Unbekannte deutet und das Verb „tekint [betrachten]“ als eine sich selbst untergeordnete Dopplung (im Bezug sowohl auf den Satan als auf das eigene Sein) dargeboten wird. 19 Balassa: „Apádnak rendületlenül“, 50.
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Begegnet man dem Verb ‚tekint‘ (betrachten) also zum ersten Mal, kann man gar nicht wissen, worauf es hinweist. Dabei mag jedoch nicht nur eine Rolle spielen, dass Aufmerksamkeit auf die Leser-Irritation, auf das „Konstruierte“ gelenkt wird. Der Bezugspunkt der Epiphora wird nämlich klar, sobald man den Satz zu Ende gelesen hat, die Grammatik des Satzes wird so jedoch nicht korrigiert: Dieser enthält nämlich ein Anakoluth, das zur Folge hat, dass die logische Struktur des Satzes auch nach wiederholtem Lesen schwammig bleibt. Das sich selbst untergeordnete „tekintés [Betrachten]“ und der in der Satzmitte auftauchende Satan können darauf aufmerksam machen, dass in jeder inferentialen Logik immer deren eigene Unvollkommenheit, deren eigene „Sündigkeit“ eingeschrieben ist. Der Satz vollführt syntaktisch einen Bocksprung, wie man ihn in Borges’ Der Garten der Pfade, die sich verzweigen oder in Alain Robbes-Grillet’s Die Radiergummis auf der Handlungsebene findet: Der Anfang kann nur als eine Folge des Endes, metaleptisch gedeutet werden. Ohne zu übertreiben darf man diese Syntax auf erkenntnistheoretischer Ebene mit der ohnehin im Roman zitierten These Gödels („Mein Vater zeigte mit den eigenen Mitteln der Logik auf – Lehrsatz meines Vaters, 1931 –, dass man in keinem einzigen gegebenen System alle innerhalb des Systems formulierbaren Wahrheiten ableiten kann.“ (241)) in Beziehung setzen. Andererseits wird das Anakoluth als Inversion der kausalen Ordnung auch von ethischen Bezügen belastet, wie ein Gesprächsdetail des zweiten Buches belegt: „Die Sünde schafft den Herrn“ (893). Auf die gedankliche Komplexität der Esterházy-Texte wurde des Öfteren hingewiesen,20 und auch in diesem Fall zeigt sich deutlich, dass den auf den ersten Blick vielleicht zum Selbstzweck verspielten sprachlichen Formen Inhalte zugeordnet werden können, die zwar mitnichten unproblematisch durch diese dichte Textualität „hindurchscheinen“, die aber präzise auf die Sprachlichkeit der zitierten gesellschaftlichen Praktiken (im Fall des letzten Zitates z. B. der Beichte), die komplexe Problematik ihrer rhetorischen Repräsentation hinweisen. Der Kreis der Fragen um Bekenntnishaftigkeit, Schuldbewusstsein, Gewissen lässt in Verbindung mit der rhetorischen Figur des Anakoluths tiefere Zusammenhänge ahnen, die jedoch nach einer eigenen literaturtheoretischen Auseinandersetzung verlangen.21 Die ununterbrochenen Selbstreflexionen des Romans, die immer wiederkehrenden Verweise auf die eigene Struktur, die eigene Konstruiertheit haben auch die Funktion, auf das Schreiben als sprachliche Tätigkeit
20 Z.B. Szegedy-Maszák: „Bevezetés a szépirodalomba“, 265. 21 Vgl. Kulcsár-Szabó: „Cselekvés és textualitás“.
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hinzuweisen bzw. auf die strukturellen Entsprechungen zwischen den thematisch zitierten sozialen Handlungen. So mag es stimmen, dass derlei narrative „Mottos“ die Illusion der natürlichen Romanwelt zerstören: „Mein Vater, der tote Vater, ist gestorben. Oh, Donald [Barthelme]!“ (167); „vom Vatertod schreiben?! Prosaprofi! hundsgemein!“ (438), andererseits passt eine derart „entlarvte“ Fiktion auch nicht mehr in das Schema der Opposition zur natürlichen Wirklichkeit der Alltagssprache, denn an der Erschaffung einer erfundenen Welt haben zahlreiche – nicht auffallend künstlerische oder literarische – Diskurse ihren Anteil. In einem der Textteile, den mehrere kritische Beiträge als Selbstparabel hervorheben, informieren die sich verzweigenden intertextuellen Bezüge die Lektüre über das in Bezug auf den Sinn zerstörerische Potential des Verkleinerungsspiegels, und gleichzeitig schreiben sie das Verstehen wieder in eine Art metatextuelle Logik ein: Mein Vater hängt von der Frage ab. Wie er ist? Er ist, wie er ist. (Wie der Rabbi im Witz. Du hast Recht, mein Sohn. Du hast Recht, mein Sohn. Aber Rabbi, wie kannst du zwei sich widersprechenden Auffassungen recht geben? Auch du hast Recht, mein Sohn.) Das heißt: Die Lage (meines Vaters) ist in ständiger Veränderung. Das letzte Wort ist nicht gesprochen, weil es kein letztes Wort gibt. Als mein Vater starb, waren das seine letzten Worte. „Mehr“ Teilchen. Oder Wellen. Na ja. (237 f.)
Péter Szirák hebt zu Recht die mögliche Inkompatibilität der allfälligen Leser-Reaktionen und die Parallele hervor, die sich zwischen den Stimmen des kurzen Zitates und der ironischen „doppelten Codierung“ des gesamten nummerierten Satzes auftut – die divergierende Parallele zwischen der Unauffindbarkeit des umherschweifenden Vaters und der erkenntnistheoretischen Konsequenz der Unschärferelation.22 Dieser doppelten Codierung begegnet in der Rabbi-Parabel jedoch gleichzeitig eine Allegorie, die auf den ersten Blick in eine übergeordnete, erklärende Beziehung zu dieser Dopplung gestellt werden kann – der Witz würde also gleichsam zu einem Kommentar, einem Metatext werden (die beiden Codes der Parabase würden mit den beiden Wahrheiten, die Tatsache der Unvereinbarkeit aber mit dem dritten „du hast Recht“ im Zusammenhang stehen). Berücksichtigt man indes, dass durch eine Umwendung des Goethe-Zitates einer der Codes der ironischen Allegorie in dasselbe figurative Schema gedrängt wird wie der Witz, der im Prinzip die Allegorie selbst kommentiert, so versteht man das fehlende Licht, das auch die Dualität von Teilchen und Welle umfasst, ebenso unweigerlich als letztes Wort wie die Einsicht in die Inkompatibilität in der Anekdote. Der absolute Relativismus des „jeder hat Recht“ geht als Haltung nämlich
22 Szirák: „Nyelv által lesz“, 139.
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eine Bindung mit der antihermeneutischen (das Verstehen notwendig suspendierenden) Auffassung der Ironie ein, weil letztere pointiert – oder das narrative Schema beschließend – auf die im Prinzip beliebige Fortsetzbarkeit deutet, so wie auch die gesamte Auseinandersetzung mit der Relativität keine Konsequenz hervorbringt, während im Prinzip alles aus ihr folgen könnte. Die Rabbi-Anekdote kann man übrigens in einer markanteren Ausprägung in der berühmten Arbeit Alessandro Manzonis über den historischen Roman finden (wobei der Held dort kein Rabbi, sondern ein Richter ist).23 Eine weitere Parallele zu Esterházy besteht darin, dass der Witz bei Manzoni einerseits die Perspektive der kritischen, die didaktische Funktion der Literatur betonenden, d. h. die vollkommene Anpassung des Romans an den historischen Fakt fordernden Stimme einnimmt, andererseits dagegen die der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die narrative Glaubwürdigkeit in den Vordergrund rückt und so die geschlossene Form der Romanwelt vorschreibt. Eine der Perspektiven steht für die Trennung von Geschichte und Fiktion, die andere will die beiden strategisch vereinen. In einer gegebenen historischen Situation weist die Anekdote also genau auf jene unauflösbare Dualität (Referentialismus versus Autonomie der Fiktion), die auch unseren Ausgangspunkt bildet. Die Ironie der Situation wird noch dadurch verstärkt, dass der Autor von Die Verlobten nach der Fertigstellung des großen historischen Romans den Versuch unternimmt, auf das Erscheinen der Epigonen und auf ernsthafte kritische Auseinandersetzungen24 zu antworten, indem er in seiner literaturtheoretischen Arbeit dem historischen Roman als Gattung die Geltung abspricht, da er die Inkompatibilität der möglichen kritischen Standpunkte als unauflösbar betrachtet. Der Zusammenhang ist wohl ein Zufall, dennoch behaupten beide Texte einvernehmlich den aporetischen Charakter der Spannung zwischen referentialisierender Lesart und Fiktionalität. Die Frage von Erzählung und Selbstkommentar kann natürlich nicht vom Problem der Identität des Erzähler-Ichs getrennt werden. Verstärkt wird dieser Zusammenhang – nähert man sich der Frage zuerst gleichsam „von außen“ – selbst durch Theoreme wie jenes Jan Assmanns. Die Trennung von außen und innen wird nämlich durch das begriffliche Netz des Gedächtnisses in beiden Fällen (der individuellen Identität und der Singularität des Textes) auf sehr ähnliche Weise in Frage gestellt.25 Man könnte sagen, dass sich das Ich im sich
23 Manzoni: „Del romanzo storico“, 1729–1730. 24 della Coletta: Plotting the Past, 19–69. 25 „Die Gesellschaft erscheint so [. . .] nicht als eine dem Einzelnen gegenüberstehende Größe, sondern als konstituierendes Element seines Selbst. Identität, auch Ich-Identität ist immer ein gesellschaftliches Konstrukt und als solches immer kulturelle Identität.“ Assmann:
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selbst kommentierenden Text außerhalb (aber nicht außerhalb des Textes) verortet und dadurch unwillkürlich jene soziale Person evoziert, die gewohnheitsmäßig auf die Subjekt-Position des Autors gerückt wird. In Esterházys Poetik geschieht etwas Ähnliches beim Zitat des Autor-Namens (also bei der Erschwerung der Trennung von Erzähler-Ich und Autor-Ich), einer Technik, die in Harmonia Caelestis in Beziehung zu den verschiedenen Deutungen der Familiengeschichte zu bringen ist. Die Verortung des Ich im Außen wird dagegen dann am extremsten wahrnehmbar, wenn die unvereinbaren Wahrheitsansprüche so sichtbar werden, dass die Trennung von Text und Kommentar auch auf die Position des Lesers bezogen werden kann, die Individualität des Lesers ordnet sich nämlich den Strukturprinzipien des Textes auch unter: Ich presste meinen Kopf auf die warme Erde. Es geschah, wie es geschrieben steht: Sengend brannte die Sonne auf die kahle Heide. Wortwörtlich. Man kann unmöglich nicht glauben, was ich da sage. Undenkbar. Noch nicht einmal Gott kann Undenkbares tun. Er mag allmächtig sein, wie er will, durch Null dividieren zum Beispiel darf er nicht. (608, Hervorhebung: G.T.M.)
Der Erzähler stellt sich hier natürlich auf einmal als Figur heraus, die sich selbst in ihrer Eigenschaft als Erzähler annonciert, indem er das zitierte KindIch zugunsten des metasprachlichen Kommentars plötzlich gleichsam hinter sich lässt und auch die relativierende Funktion dieser Selbstankündigung zurückzieht: „Man kann unmöglich nicht glauben, was ich da sage.“ Das Subjekt, das sich nach seiner eigenen Erklärung im Grunde im Text konstituiert, kann zugleich auch als uneingeschränkter Herrscher dieses Textuniversums aufgefasst werden, insofern diese betont fiktive Figur der einzige Beweis für das Zustandekommen literarischer Kommunikation ist, wobei seine Phänomenalität der Wahrheit des Textes aber nicht zuträglich ist – die intrusive Bemerkung des Zitates dient nämlich gerade der Verifikation der Katachrese, der Glaubhaftmachung des Unmöglichen, wenn sie dazu ermutigt, sich einen nicht referentialisierbaren literarischen Gemeinplatz wortgetreu vorzustellen. Die bisher erwähnten Beispiele weisen bereits darauf hin, dass die für den Selbstkommentar unerlässliche Entzweiung, die Spaltung des Erzähler-Ichs nicht eindeutig als reflexive oder dialektische Separation dargestellt werden kann, bei der die Kontinuität des Ich und des von ihm unterschiedenen Selbst und damit das Verstehen weiterhin von irgendeiner narrativen Struktur gestützt
Das kulturelle Gedächtnis, 132. Ferner: „Im Sprachgebrauch der Philologie ist ‚Text‘ ein relativer Begriff und steht im Gegensatz zum ‚Kommentar‘. Ein Gedicht, ein Gesetz, ein Traktat usw. werden überhaupt erst zu einem Text in strengen Sinne der Philologie, wenn sie Gegenstand eines Kommentars werden. Der Kommentar macht den Text zum Text.“ Ebd., 176.
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würden. Die Verortung des Ich in einem Außen stellt sich nämlich in manchen Fällen – und diese treten im ersten Teil natürlich häufiger auf – gleichsam als „Bauchreden“ dar, in der Form radikal inkongruenter Standpunktwechsel, die in Beziehung zur Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes zu bringen vollkommen unvorstellbar („unmöglich“) erscheint. Was auch für Momente von höchster Intensität gilt. Der Satz 368 evoziert unweigerlich das Bild des Autors, um dieses Bild jedoch referentialisieren zu können, muss man sich eine (im Vergleich zum allergrößten Teil des Romans) gleichsam inverse Redesituation zu eigen machen und als des Autors Kinder in den vorgestellten Raum eintreten: Klammer auf, in dem Moment, als wir bei unserem Vater anklopften und nicht, wie sonst, darauf warteten, bis er sein mal bedrohliches, mal resigniertes Knurren als Erlaubnis zum Eintreten von sich gab, mja, und das Zimmer betraten, um ihm die telefonisch erhaltene Nachricht vom Tode seines Vaters, unseres Großvaters, zu melden, schrieb er gerade den Satz nieder, mein Vater konnte weder vorwärts- noch zurückschauen. Schaue-n, er malte gerade die Wölbung des „n“, als wir anklopften. (441)
Genauer formuliert hieße das, dass die Redesituation dem anklopfenden Kind zugehört, der Standpunkt jedoch weiterhin dem schreibenden Vater („dem Sohn meines Vaters“), denn nur er kann den geschriebenen Buchstaben sehen, während der Sprecher noch draußen vor der Tür steht. Diese Trennung evoziert zugleich auch Unsicherheit hinsichtlich der Frage, um wessen Tod es eigentlich geht. Der Textteil kann zumindest vorübergehend auf zwei Generationen hindeuten – und dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass für die Wahrnehmung des radikal poetischen Verfahrens ein referenziell identifizierendes Moment nötig ist – : Die Kinder klopfen entweder bei Mátyás an und überbringen die Nachricht vom Tod Móric’ oder aber bei Péter mit der Nachricht von Mátyás’ Tod. Damit das Ich in einem Außen verortet werden kann, muss das Zeichen des „mein Vater“ also auch auf das Ich deuten können; d. h. der Text ist auf eine Wechselbeziehung angewiesen, deren Fundament die Trennung von Sprache und Sprecher ist. Diese Unterscheidung ist jedoch nur nach der eindeutigen Differenzierung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit möglich. Es kommt daher besonders zupass, dass der Standpunkt in der zitierten Passage, der in eine Differenz zur Redesituation tritt, genau auf den Akt des Schreibens, die Herstellung des Buchstabenbogens weist. Es ist unmöglich und wäre zudem inkonsequent, dieses Bild als mise-en-abyme zu betrachten, denn die Figur der Selbst-Parabel setzt eine Möglichkeit der Selbstrepräsentation der Sprache voraus, bei der die Unterscheidung von Standpunkt und Redesituation unmöglich ist. Dennoch verweist das Zitieren des Schreibens darauf, dass das Zur-Sprache-Bringen
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abweichender diskursiver Stimmen (dies sind natürlich akustische Metaphern und deswegen unweigerlich fehlerbehaftet) auf besondere Weise auf die Textualität angewiesen ist, denn das gesprochene Wort setzt das gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein von Ich und Sprache voraus. (So fällt es auch schwer, sich eine Parodie in gesprochener Sprache vorzustellen, bei der die Nachahmung der Stimme nicht gleichzeitig auch die Nachahmung der Person wäre.) Die Verknüpfung von Selbstinterpretation und Schriftlichkeit liegt allein schon aufgrund der eindeutigen Beziehung auf der Hand, die Havelock zwischen sprachlicher Bewusstheit und Schriftlichkeit herstellt – der augenfälligste Zug dieser Verbindung ist genau der Umstand, dass ein Bezug der Sprache zu sich selbst nur durch die Visualisierung der Sprache, also die mediale Differenzierung der Sprache vom Ich möglich wird.26 Die enzyklopädische Struktur, das weitverzweigte intertextuelle Netz des Romans vermag den kritischen Leser auch in diesem Zusammenhang zu widersprüchlichen Schlüssen zu bewegen. Harmonia Caelestis enthält eine Unmenge an Verweisen, die ausschließlich in der Schrift denkbar sind. Zugleich kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine der bevorzugten Figuren der Esterházy-Kanonisierung im Gebrauch leicht zu merkender, auch mündlich reproduzierbarer Formeln zu suchen ist. Im Fall von Harmonia Caelestis finden sich die wohlbekannten phrasenhaften Wiederholungen – das „Mein Vater ist ein gutes Beispiel für den sog. [. . .] Meinvater“ bzw. die Redensarten und Aphorismen, deren überwiegender Teil bereits aufgelistet wurde – eigenartigerweise im ersten, also dem Teil, der weniger stark zu einem narrativen Schema geordnet werden könnte (und vielleicht genau als Gegengewicht zu diesem), die „Performativität oder eben (den Namen zuzuordnende) Leere sprachlicher Verfestigung, nicht selten die diskursive Willkür“,27 also Bedeutungslosigkeit, Automatisierung, die der Intimität des Ich gegenüberstellbare Wiederholbarkeit sind interessanterweise eher mit dem gesprochenen Wort als mit dem Schreiben in Verbindung zu bringen, denn sie dienen einerseits der Memorierbarkeit und sind andererseits nicht auf die aufmerksame Arbeit des langsamen Lesens angewiesen. Die Grundlage für die Verhandlung dieser Zusammenhänge bildet die Beobachtung Péter Balassas, wonach das Verhältnis des ersten Teils von Harmonia Caelestis zu seinem zweiten Teil als der Unterschied von Gedächtnis und Erinnerung beschrieben werden könnte, d. h. als die Opposition von mechani-
26 Havelock: The Muse Learns to Write. 27 Szirák: „Nyelv által lesz“, 140.
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schem Memorieren und echtem Erinnern.28 Diese Überlegung wird von zahlreichen Faktoren gestützt – am ehesten liegt der Zeitbezug beider Teile des Romans auf der Hand, denn während der zweite Teil die Erinnerungen einer Familie über einen Zeitraum von zwei-drei Generationen behandelt, bewegt der erste Teil einen Stoff, bei dem weder Gegenstand noch Zeitspanne näher bestimmt werden können, und im Wesentlichen bilden die beiden Bücher damit den Unterschied zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis29 und damit zum Teil auch zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit ab. Nun kann auch festgestellt werden, dass – wie Balassa ebenfalls anmerkt – das Verhältnis der Gegenpole zueinander nicht zu einer einzigen fundamentalen Opposition verfestigt wird, sondern dass ein und demselben Begriff auch gegensätzliche Bezüge zugeordnet werden. Das Moment der Äußerlichkeit konnotiert in Verbindung mit dem Ich das Schreiben, im Zusammenhang mit der (Selbst-)Automatisierung „sprachlicher Verfestigung“ jedoch das gesprochene Wort. Denn das erste Buch, das, wie bereits erwähnt, mit dem kulturellen Gedächtnis in Zusammenhang gebracht werden kann, enthält Formeln, die sich refrainhaft wiederholen, während das auch thematisch an mündliche Erinnerung anknüpfende zweite Buch als ein literarischer verschriftlichtes Narrativ gelesen werden kann. Auch aus diesem Grund sind all die stilistischen Lösungen (die in vielerlei Hinsicht an die zitierten Passagen erinnern) interessant, die per se einen Beleg für das Konstruierte des Romans liefern, einerseits machen ihre Wiederholungen, ihre spielerischen Bezüge zueinander es leicht, sie sich zu merken und sie zu zitieren, andererseits verraten sie in bestimmter Hinsicht mehr über die perzeptiven Relationen des Textes als jeder erzählerische Kommentar. Die beiden folgenden Zitate können, zusammengelesen, als Beispiele für die nicht-spiegelhafte Verdoppelung, die Vervielfachung des Subjekts dienen: „Mein Vater konnte sicher sein, den Herrgott im Kampf des Herrgotts gegen meinen Vater auf seiner Seite zu haben“ (299). „Bis dahin wusste ich, dass der liebe Gott in meinem Kampf mit dem lieben Gott auf meiner Seite stand.“ (890 f.). Das Ich begegnet sich selbst hier nicht dadurch, dass die Verdoppelung einem Bewusstsein zu seiner Selbsterkenntnis verhelfen würde, sondern prinzipiell ergibt sich die Möglichkeit der Transzendierung des Ich aus einer chiastischen Struktur. Die Syntax erlaubt hier jedoch, den Chiasmus auf zweierlei Weise aufzulösen, da beide Parteien des Kampfes („bis dahin“) auch auf beiden Seiten des Kampfes gefunden werden können (konnten) – was ein Verständnis als göttliche Gnade oder menschliche Selbsttranszendierung erlaubt, in jedem Fall hält die
28 Balassa: „Apádnak rendületlenül“, 35. 29 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis.
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Spannung dieser Lesart die Subjekt-Position in einer permanenten Schwebe. In einem anderen Fall bietet der Erzähler keinen fixierten Bezugspunkt an – die Ironie liegt hier in der Transkription des Sisyphos-Mythos: „Die Mutter von vier Kindern zu sein, dafür reicht es nicht, so viel Kraft zu haben, wie da ist, man braucht ein wenig mehr. Und wenn man ein wenig mehr hat, braucht man wieder ein wenig mehr.“ (827) Diese Äußerung setzt voraus, dass es eine Rückkopplung zwischen Ansprüchen und zur Verfügung stehenden Kraftquellen gibt und erstere ins Unendliche wachsen. Ein weiteres Mal wird das Kausalitätsprinzip auf den Kopf gestellt – zugegebenermaßen nicht ganz im Sinn der bereits erwähnten Logik des filius ante patrem. Man hatte ihn wegen Sabotage der Pflichtabgabe eingebuchtet oder weil der Hof unordentlich war (Strohhalm vor dem Brunnen), wegen irgendwas, egal was, Ursache und Wirkung standen nicht in so einer streng archaischen Beziehung, wie sich das die alten Griechen anno vorgestellt hatten. Ursache und Wirkung standen nicht in einem kausalen, sondern in einem juristischen Zusammenhang. (698)
Das veränderte Verhältnis der Termini zueinander zieht keine Umbenennung der Pole nach sich, so bleiben Ursache und Wirkung auch dann erhalten (eine erneute Katachrese), wenn ihre Bindung bereits eine juristische (eine politische, um genau zu sein) ist. In mehreren anderen Fällen enthüllt die Erzählung ihre Willkürlichkeit gleichsam nebenbei. Hier bedenkt der Erzähler eine rhetorische Figur, die zur Anwendung kommt, ein rhetorisches Klischee mit einer ironischen Bemerkung: „vorsichtig, als würde ich Pferdepisse kosten, die kostet man bekanntlich vorsichtig“ (689), dort besteht dagegen ein einfacher Widerspruch, ein paradoxes Verhältnis zwischen zwei Einheiten einer Äußerung: „Diese beiden Sachen waren ihm auf der Tour durch Norwegen widerfahren: Angst, Nacktheit und Gott“ (634); bzw.: „Mein Vater zuckte mit den Schultern und schlug das Kreuz, wenn auch nicht in dieser Reihenfolge“ (266). Diese Äußerungen der Selbstwiderlegung zitieren in gewisser Weise das bekannte Verfahren Becketts, bei dem die letzten Sätze in Molloy die anfänglichen Behauptungen des zweiten Teils zurücknehmen: „Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb ‚Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.‘ Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.“30 Betrachtet man den Schluss von Molloy als eine Art „transzendentales mise-en-abyme“, darf eine Einschätzung von Viktor Žmegač nicht unerwähnt bleiben: Die Romanpointe besteht darin, dass auch die Aussage über eine angeblich nicht-literarische Wirklichkeit nichts anderes ist als ein geschriebener Satz. Becketts Romanschluss
30 Beckett: Molloy, 243.
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zeigt, dass auch die Äußerungen der Literatur über sich selbst der Fiktion nicht entkommen können.31
In den letzen hier zitierten Sätzen Esterházys fehlt jedoch der Verweis auf den Akt des Schreibens, der – wie bei Beckett – eine prinzipielle Hierarchie zwischen zwei Mitteilungen setzen würde (so dass die eine Mitteilung die andere als „reine Fiktion“ entlarven würde, während sie selbst die Illusion der Referentialität herstellte). Einer ähnlichen Struktur begegnet man auch, wenn die Welt des Theaters die Analogie bildet: Das Schlimme war nicht, wenn es denn schlimm war, daß sein Leben anders wurde, sondern daß ihn die Geschichte permanent aus seinem eigenen Leben hinausmobbte. Als würde ein Schauspieler aus einem anderen Stück, von einem anderen Stück her instruiert. Da gibt es einen großmäuligen Stinkstiefel von Regisseur, der meinen Vater ständig ins Links-ab schubst . . . Mein Vater spielt in einem Königsdrama und wird von einem leichten Brettl her geleitet. Oder umgekehrt. Und er läßt sich treiben, was bleibt ihm anderes übrig . . . . (508)
Die Eigenheit der den Bruch der theatralen Illusion evozierenden Figur besteht darin, dass das Bild die Welt des Theaters nicht verlässt, während die deklarierte Allegorie von der Ironie des Schicksals, des Lebens kündet. Die Figur kann also phänomenologisch nicht als Mise-en-abyme gelesen werden, weil sie anstelle der Inkompatibilität von Fiktion und Realität das Bild der Inkompatibilität, der korrelierenden Parabase zweier Realitäten (das Leben des Vaters – die Geschichte) einerseits, andererseits zweier Fiktionen (Königsdrama – BrettlTheater) schafft. Doch der Vater ist nicht der Erzeuger (générateur), der „reale“ Schöpfer vor und außerhalb jeder Sprachbeziehung. Denn worin unterscheidet sich die Beziehung Vater/Sohn von der Beziehung Ursache/Wirkung oder Erzeuger/Erzeugtes, wenn nicht durch die Instanz des logos? Einzig ein der Rede Mächtiges hat einen Vater. Der Vater ist stets der Vater eines Lebendigen/Sprechenden. Mit anderen Worten, vom logos her kündigt sich so etwas wie die Vaterschaft an und gibt sich zu denken. Selbst wenn in der Redeweise „Vater des logos“ eine einfache Metapher läge, so würde das erste Wort, wiewohl es am vertrautesten (les plus familier) schiene, dennoch mehr an Bedeutung vom zweiten erhalten, als es auf dieses übertrüge.32
Der Sprachgebrauch Esterházys in Harmonia Caelestis macht deutlich, in welchem Sinn dieses enzyklopädische Narrativ als „Vaterroman“ zu verstehen ist. Die stilistischen Lösungen des Romans, die auf Paradoxa aufbauen und die rhetorischen Möglichkeiten der Sprache oft bis zum Äußersten beanspruchen,
31 Žmegač: Povijesna poetika romana, 341. 32 Derrida: „Platons Pharmazie“, 89 f.
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lassen deutlich werden, wie wenig beliebig die Wahl des Themas in Esterházys Poetik ist. Die Erprobung der Möglichkeiten von Beziehungen bedeutet zugleich auch, die Grenzen der Sprache, der Textualität auszuloten – primär im Sinn Assmanns, wonach das Erzähler-Ich seine eigene Subjektivität, die sprachliche Identität des eigenen Textes dadurch zu transzendieren sucht, dass es sich selbst in einem Außen verortet, während es ausschließlich in dieser Auflösung im Anders-Sein überhaupt erst als narrative Autorität (als Figur, deren Status nicht ausschließlich fiktiv ist) realisiert wird. Durch diese – immer nur durch sprachliche Willkür verifizierte – Selbstermächtigung kann der Sprecher sich den Status des ‚Vaters des logos‘ zulegen, dazu bedarf es jedoch der Abwesenheit des eigenen Vaters. Eine der Schlüsselfunktionen des paradoxalen Sprachspiels mag gerade darin bestehen, dass es diese Autorität zumindest teilweise zurücknimmt, indem es das performative Moment sprachlicher Willkür vorübergehend erfahrbar macht. Daraus ergibt sich möglicherweise jene des Öfteren wahrgenommene Besonderheit (die eine der primären Besonderheiten von Esterházys Stil ist), dass leichtes Sprachspiel und erhabenes Pathos nicht nur in einem oppositionellen Verhältnis zueinander stehen, sondern dass ersteres dem Letzteren oftmals untergeordnet werden kann. Im Fall von Harmonia Caelestis kann das daran festgemacht werden, dass die spielerische Infragestellung der erzählerischen Autorität darauf abzielt, dass der Vater-Diskurs zur Sprache kommt (und dabei geht es natürlich nicht um Mátyás Esterházy als empirische Person). In gewissem Sinn kann auch das Hin und Her zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Beziehung zu diesem Ziel gesetzt werden, denn sich selbst vollendendes Schreiben, bloßes Schreiben ist – zumindest nach Derrida – „vatermörderische Schrift“,33 sofern die Abwesenheit des logos impliziert wird. Der Vater-Diskurs offenbart sich als das Andere der Sprache des Ich im Anakoluth, in der Parabase, darin, dass die rhetorische Bewegung wahrnehmbar wird – letztendlich immer nur temporär, nicht fixierbar, nicht aneigenbar. Mit den Worten Péter Balassas: „Das Buch schreibe also ‚nicht ich‘, sondern ein Anderer, das gänzlich andere, geradewegs ‚das Thema selbst‘, der ewige, in seiner Einzigartigkeit jedoch immer hinfällige Signifikant.“34 In der Romanpoetik Esterházys gründet die gesteigerte Textualisierung des Selbstverstehens, das permanente Zurückkommen der Sprache auf sich selbst also auf dem Versuch, das Andere zur Sprache kommen zu lassen. Zum Teil mag diese Deutung auch Antwort auf die kritischen Stimmen sein, die eine „Aneignung“ der Texte bzw. der Geschichten anderer durch Esterházy bemängeln. Dieser Modus der Repräsentation wirft immer ethische oder
33 Ebd., 165. 34 Balassa: „Apádnak rendületlenül“, 48.
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ästhetische Fragen auf, er verkörpert selbst aber auch eine Art Ethos. In diesem Ethos wird die Autorität des Ich (des Ich, das spricht und die künstlerische Komposition schafft) immer nur durch das Zur-Sprache-Kommen des abwesenden Anderen gesichert, so wird jedweder enzyklopädische Ganzheitsanspruch sich nur durch die Spaltung der Identität des Sprecher-Ich, dadurch verwirklichen können, dass er sich in Beziehung zu anderen Identitäten setzt, sei es durch Phantasie oder durch Diskurs.
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Profil, Bricolage, implizite Leser in Deutschlandreise im Strafraum „Man schreibt anders in der Nacht und bei Tag, anders bei Regen und im Sonnenschein – und wieder anders, wenn ein Text sofort in eine Fremdsprache übersetzt wird.“ (Péter Esterházy)
„Fußballer, Fußball-Journalisten und selbsternannte Fußballexperten, die Bücher über Fußball schreiben, gibt es gerade – pünktlich zur WM – mehr als genug. Auch Schriftsteller, die zwar selbst nie richtig Fußball gespielt haben, aber Romane darüber schreiben, findet man häufiger.“1 „Péter Esterházy ist eine rare Doppelbegabung: ein erstklassiger Autor und ein viertklassiger Spieler.“2 Obwohl diese beiden Zitate nicht aus dem gleichen Text stammen, besteht ein sehr enger logischer Zusammenhang zwischen ihnen: Während das erste von der Konjunktur, der Reichhaltigkeit des Angebots, sogar von dessen übermäßiger Vielfalt, der Überproduktion handelt, beweist das letztere die Notwendigkeit und den Erfolg des persönlichen Brandings unter den jetzigen Marktumständen des Buchhandels sowie die effektive Anwendung des Prinzips „unterscheide dich von den Konkurrenten, sei leicht erkennbar, identifizierbar und originell“. Die Entscheidung, zur WM 2006 in Deutschland ein Fußballbuch von Péter Esterházy auf dem deutschen Buchmarkt zu veröffentlichen, hatte zur Folge, dass sein Werk diesmal auf ein anderes Spielfeld kam als die früheren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Deutsche Akademie für Fußballkultur ließ das Buch im Wettbewerb für den Preis „Das Fußballbuch des Jahres 2016“ mit anderen zur WM herausgegebenen Bände konkurrieren wie die wissenschaftliche Arbeit Poetik des Fußballs des Philosophen Gunter Gebauer oder die Monografie des Journalisten Michael Horeni über den Werdegang von Jürgen Klinsmann (der damals gerade als deutscher Bundestrainer tätig war) sowie die ausgewählte Sammlung der Zeitungsartikel von Jorge Valdano, dem 23-maligen Nationalspieler, Trainer, Manager und Sportjournalisten. (Esterházy hat die ersteren auf der Rangliste überholt und in der Gesamtwertung den dritten Platz belegt. Aber auch der Sieg ließ nicht lange auf sich warten: 2009 kürte die Jury Keine Kunst zum Buch des Jahres.)
1 Funck: Fußballerische Bekenntnisschrift. 2 Siemes: Rezension. https://doi.org/10.1515/9783110618082-015
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Allerdings wäre es irreführend zu behaupten, dass die oben genannte Doppelbegabung etwa bloß ein zutreffendes und frisch gestaltetes Profilelement des Buches Deutschlandreise im Strafraum ist. Schon in Esterházys Ein Produktionsroman (Zwei Produktionsromane), der auf Ungarisch beinahe 30 Jahre zuvor erschien und dessen zweiter Teil den Titel „E.s Aufzeichnungen“ trägt, treten zwei Hauptfiguren auf, bei denen das Schriftsteller- und das Fußballerdasein wichtige Identitätselemente darstellen. Die deutschen Leser mögen 2006 noch kaum etwas davon gewusst haben, weil das Werk, das Esterházys Schriftstellerruf in der ungarischen Literatur begründete, erst im Jahre 2010 in deutscher Sprache erschien; hierbei wurde der Buchdeckel der ungarischen Neuauflage aus dem Jahr 2004 übernommen und dadurch das Fußball-Thema betont. Nicht einmal die ab 1984 regelmäßig veröffentlichten ungarischen Feuilletons von Esterházy, von denen viele in den Roman aufgenommen wurden (und in seinen früheren Publizistik-Sammlungen zu lesen waren) konnten die deutschen Leser des Bandes beeinflussen. Esterházys treuen ungarischen Lesern brachte die ungarische Neuausgabe des Fußballbuches von 2006 sicher weniger Neues als die Übersetzung der deutschen Leserschaft. Und da die Wiederverwertung früherer eigener Texte in diesem Buch ein Ausmaß annimmt, wie man es in anderen Werken von Esterházy, der auch sich selbst mit Vorliebe zitiert hat, kaum vorfindet, kann man sogar zu dem Schluss kommen, dass die deutsche Leserschaft schon bei der Gestaltung des ungarischen Textes in Betracht gezogen wurde. Es ist unbestritten, dass auch einer der Vortexte des Buches über deutsche Bezüge verfügt: Dieser Text von Esterházy wurde 2005 in der Reihe Deutschlandreisen des SZ-Magazins veröffentlicht.3 Nun ist es an der Zeit, meine Karten auf den Tisch zu legen. Ich habe vom SZ-Magazin den Auftrag erhalten, in Deutschland zu reisen und meine Eindrücke zu schildern. Reisen, das ist leicht gesagt! Irgendwie mußte der Kreis (das heißt, Deutschland) verkleinert werden. [. . .] Und dann, dann schlug die Lösung wie ein Blitz (ein zögernder Blitz) bei mir ein. Im Lichte des Blitzes erblickte ich die für mich zauberhafteste geometrische Form, ein spezielles Rechteck, mit Linien und mit Grün, ja, ich erblickte ein Fußballfeld.4
3 Darauf deutet der marketingmäßige deutsche Titel des Buches hin, wie auch das Motto des Buches Deutschlandreise von Roger Willemsen, das in der ungarischen Ausgabe fehlt. Da aber nur etwa die Hälfte des Buches von der Deutschlandreise handelt, hat Christof Siemes Recht, wenn er den Titel irreführend nennt. In dieser Hinsicht ist der ungarische Titel dehnbarer und exakter: Utazás a tizenhatos mélyére – Reise in die Tiefe des Strafraums. 4 Esterházy: Deutschlandreise im Strafraum, 32–34; die Seitenangaben im Fließtext folgen dieser Ausgabe.
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Der Rezipient der Deutschlandreise im Strafraum bezieht diesen Abschnitt wohl auf das vor ihm liegende Buch, während der im Auftrag des SZ-Magazins verfasste Beitrag im Umfang von ca. 55000 Zeichen unter dem Titel Ein Ungar im Abseits in der Ausgabe 2005/41 erschienen ist. Im letzteren fehlt dieser Abschnitt, er wurde nicht benötigt, weil sich die Leser des Magazins über die Gattungsmerkmale der Artikelreihe (Auftrag der Redaktion, Reisen in Deutschland, Aufzeichnung der Beobachtungen) im Klaren waren. Das 2006 veröffentlichte Buch leiht sich einerseits die Ursprungsgeschichte des Beitrags Ein Ungar im Abseits, ohne auf dessen Existenz hinzuweisen, andererseits nimmt es ihn in den Kapiteln 2 und 4 in sich auf. In Hinsicht auf die inneren Reflexionen auf das Selbstzitieren und die Wiederverwertung eigener Texte werden im Buch diverse Verfahren eingesetzt. Das erste und zugleich längste Kapitel setzt sich überwiegend aus den früheren Fußball-Feuilletons zusammen. Über das Länderspiel zwischen Ungarn und Brasilien am 16. März 1986 schrieb Esterházy ursprünglich einen Beitrag für die Weihnachtsausgabe des Magazins Képes Sport: das Feuilleton weist nur im Schluss auf die Momente des Fußballspiels hin, die Gegenwart der Erzählung ist der Vortag des Länderspiels, der Erzähler berichtet über sein Vorhaben für den nächsten Tag, wie er mit seinem Sohn ins Stadion gehen und worüber er ihm erzählen wird. Dieser Beitrag soll im Buch aus dem Jahre 2006 die wichtigste Leistung des Erzählers als Fußballanhänger heraufbeschwören, dementsprechend wandelt sich das einstige Futur in erzählte Vergangenheit. („Es war ein kalter Märztag.“; 26) Auf die Existenz des ursprünglichen Textes wird von dem Autor nicht hingewiesen. Die im Buch unmittelbar folgende Texteinheit beginnt so: „Meinem anderen Sohn konnte ich nach gut 15 Jahren nichts mehr zeigen. Das lief eher umgekehrt. Ich hatte den Auftrag, über die Olympiade zu schreiben.“ (27) Die erinnernde Erzählung setzt sich also fort („nach gut fünfzehn Jahren“; ebd.), wobei der frühere Schriftsteller-Auftrag heraufbeschworen wird („Ich hatte den Auftrag“), und ab dem nächsten Satz ist der Text, der nach dem Auftrag aus dem Jahre 2000 geschrieben wurde, in vollem Umfang und ohne irgendeine Veränderung zu lesen – auf das buchstabengetreue Zitieren weisen übrigens keine Satzzeichen, kein Umbruch und keine Zwischenbemerkungen des Erzählers hin. Im Gegensatz zum früheren Beispiel werden hier die Zeitverhältnisse des Textes nicht geändert. Was sich im Originaltext in der jüngsten Vergangenheit abgespielt hat, bleibt auch weiterhin in dieser Zeitform. („Unlängst sah ich mir mit einem jungen Mann das Spiel Ungarn – Italien an“; 28). Demzufolge wird die erzählerische Gegenwart des Textes aus 2000 ins Buch aus 2006 hineingeschrieben. Während der Verweis auf die jüngste Vergangenheit bei dem originalen Artikel als selbstverständlich galt, dieser wurde nämlich eine Woche nach dem Länderspiel zwischen Ungarn und Italien
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veröffentlicht, kann er hier vom Leser als Selbstentlehnung wahrgenommen werden. Im ersten Kapitel der Deutschlandreise im Strafraum findet man auch andere kurze Texteinheiten, in denen der Erzähler heraufbeschwört, wozu er einst beauftragt wurde, und dann den Text entlehnt, der anhand des Auftrags entstanden ist. Ähnlich wie im obigen Beispiel wird der Unterschied zwischen dem Kommentar und dem Originaltext in diesen Fällen nur von der Trennung der beiden Textschichten der erzählten Gegenwart angedeutet (von dem Ich des entlehnten Textes lesen wir zum Beispiel: „dreißig und einige Jahre alten Greis“; 48). Im ersten Kapitel gibt es lange Selbstzitate, die nicht mehr durch eine Reflexion auf einen ehemaligen schriftstellerischen Auftrag oder ein früher bearbeitetes Thema eingeführt werden. In diesen Fällen wird der Unterschied zwischen dem implizierenden und entlehnten Text höchstens durch Anachronismus gekennzeichnet. Über die Schwierigkeiten der Schiedsrichterarbeit hat Esterházy im Jahre 1987 für das Magazin Képes Sport ein Feuilleton geschrieben, in dem die Abkürzung ÁISH vorkommt. Die steht für das staatliche Sportamt, das zwischen 1986 und 1989, d. h. in den letzten Jahren der KádárÄra, bestand. Esterházy hat diesen Beitrag fast in vollem Umfang in das Buch von 2006 aufgenommen, und daher ist der Verweis auf den Namen des ehemaligen Amtes im Text geblieben. „Es wäre gut, das zu wissen, wissen zu können, zu fühlen, daß der Schiedsrichter einer von uns ist und kein Büttel, den uns die ÁISH (Staatliches Sportamt) oder sonst irgendeine Abkürzung aufgezwungen hat, jemand von denen da oben‘.“ (69) Was im Jahre 1987 noch aktuell war, gilt 2006 nur als ein Zeichen für den Bricolage-Charakter des Buches. Es kommt auch vor, dass gerade der zeitliche Abstand des Selbstzitats von Belang ist: Auf die Zeit des entlehnten eigenen Textes wird von dem Erzähler hingewiesen, weil der Unterschied zwischen der darin dargestellten Perspektive und der Gegenwartsperspektive die Entfaltung des Textes voranbringt (siehe dazu den Abschnitt Die Leiden eines mitteleuropäischen Mannes, den der folgende Satz einführt: „Das ist ein Fachausdruck, ein Terminus technicus, der im Ungarischen keiner Erklärung bedarf, ich versuchte den Begriff 1991 wie folgt zu beschreiben:“; 110). Es ist wichtig zu betonen, dass es sich in diesem Fall nicht um Fußball handelt. Die Wiederverwendung von mehrere Jahrzehnte vorher entstandenen Texten im ersten Kapitel wurde Esterházy gerade dadurch möglich, dass die Gültigkeit der Schriften über den alternden Fußballspieler, die Schwierigkeiten der Schiedsrichterarbeit, oder Flórián Albert, den bisher einzigen mit dem goldenen Ball ausgezeichneten Fußballer, nicht von den Veränderungen abhängig ist, die sich inzwischen im Fußball vollzogen haben – hauptsächlich diesem Merkmal ist die Wiederlesbarkeit des Buches zu verdanken. Das gleiche gilt auch für das dritte Kapitel, das erklärtermaßen eine Textsammlung ist und unter Beibehaltung der Originaltitel
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fünf Texte über die ungarische Auswahl der 50er Jahre enthält, die Esterházy schon früher veröffentlicht hatte. Im Text gibt es keine Spur davon, dass der Erzähler, der auch die Texte ausgesucht hat, seine Kenntnisse über Fußball zeitlich differenzieren will oder zu den übernommenen Texten ein kritisches Verhältnis hat. Der implizite Autor des Textes ist vielmehr daran interessiert, dass die Teile, die in mehr als 20 Jahren entstanden sind, von einer bekennenden Erzählerstimme zusammengehalten werden. Es ist ein wichtiges Merkmal der Schreibweise von Esterházy, wie er seine früheren Texte zusammenfügt. Zwischen den beiden Verfahren eines Autors, nämlich eine Sammlung von früher veröffentlichten Texten zusammenzustellen, oder aus diesen alten (d. h. aus vorhandenem Material) einen neuen zusammenhängenden Text zu bricolieren, besteht ein wesentlicher Unterschied. Um zwischen dem Artikel aus 1984 und dem Beitrag, der 2005 im SZ-Magazin veröffentlicht wurde, irgendwie eine Verbindung herzustellen, verwendet Esterházy das narrative Schema des autobiografischen Erzählens. Das geschieht nicht nur dadurch, dass der Name des Autors, des Erzählers und des Protagonisten identisch sind, sondern auch durch die Verwendung des bereits in seinen anderen Werken mit Vorliebe eingesetzten Kniffes, das heißt, ein charakteristisches Profilmerkmal des Autors wird im Text in einem ironischen Kontext dargestellt (übrigens durch die Entlehnung eines vor mehr als 10 Jahren entstandenen eigenen Textes): Ich sage meinem Freund, dem Fußball-Analphabeten, daß alles, was von der Tribüne heruntergerufen wird, streng beurteilt werden muß, wobei allerdings auch der Genius loci eine Rolle spielt. Wie meine ich das. Ja, als mir, dem Stürmer des Arbeitersportvereins Csillaghegy zum Beispiel zugerufen wurde: du jüdischer Hurensohn, jüdischer, hatte diese Äußerung weder mit meiner geliebten Mutter noch mit dem ebenfalls eine bewegte Geschichte aufweisenden jüdischen Volk etwas zu tun. Der Satz gereichte dem so Titulierten nicht unbedingt zur Freude, doch bestand seine Bedeutung lediglich in der bedauernden Feststellung: Oh, Jüngling mit dem edlen Profil, wie schade, daß du nicht unsere kleine Kollektive unterstützt! (17)
Auf dem hinteren Buchdeckel der ungarischen Ausgabe ist eine Fotomontage zu sehen, auf der der junge Esterházy in fußballtauglicher Kleidung – nicht im Trikot und in Fußballschuhen – auf einem Rasenfeld steht, was das Profil des Amateurspielers unterstreichen soll. Der Erzähler des Buches äußert sich als Autor der früheren Esterházy-Schriften, darüber hinaus kann er sie frei zitieren, verwenden und kommentieren. Es ist ein bedeutendes Merkmal des Buches, dass man darin die Geschichte eines Schriftstellers zu lesen bekommt, und was könnte das Leben eines Schriftstellers genauer beschreiben als das, was er selbst über sein Leben aufgezeichnet hat. Von diesem Standpunkt aus wird die Geschichte von Péter Esterházy in dem
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Buch Deutschlandreise im Strafraum von den Lesern, die die Selbstzitate erkennen, vorwiegend als die Geschichte des Schriftstellers empfunden, der seit Jahrzehnten Beiträge über Fußball schreibt und jetzt sein eigenes Archiv verwendet bzw. nach einem neuen Muster ordnet. Es ist nicht zu vergessen, dass auch der Text Ein Ungar im Abseits zu diesem Archiv gehört, der den Gattungsmerkmalen der Reisebeschreibung gemäß in der Gegenwartsform über die Reise berichtet. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Einerseits zeigt sich die doppelte Zielgruppe des Buches, insoweit die meisten der erwähnten Selbstzitate aus dem ersten und dritten Kapitel für die deutschen bzw. der deutsche Reisebericht für die ungarischen Leser in der jeweiligen Muttersprache unzugänglich war. Andererseits lässt sich die schreibtechnische Herausforderung erkennen, die Gegenwartsform der Reise und die erzählte Vergangenheit der übernommenen Fußballtexte irgendwie miteinander zu verbinden. Die letzeren sind sogar im zweiten Kapitel zu finden, dessen größten Teil der Beitrag Ein Ungar im Abseits ausmacht. Sehen wir uns zwei Beispiele an! Der im SZ-Magazin veröffentlichte Text von Esterházy wird durch in Großbuchstaben gesetzte Zwischentitel in kurze Einheiten gegliedert. Diese Titel sind nicht ins Buch aufgenommen worden, hie und da wird auch die ursprüngliche Gliederung des Textes aufgehoben. Der Abschnitt, der im Beitrag Ein Ungar im Abseits unter dem Titel DER TAXIFAHRER GRINST; ODER: DEUTSCH, REGENSCHIRM UND KUTTELN steht, bildet in der Deutschlandreise im Strafraum den Auftakt des zweiten Kapitels, der (an beiden Stellen) mit dem folgenden Satz schließt: „Ich versuche auf die Kuttelfleck-Thematik zurückzukehren, dieses Terrain erscheint mir sicherer.“ (83) Dem räumlichen Vorankommen der Reise entsprechend folgt auf die Episode der Taxifahrt im Text Ein Ungar im Abseits die Episode des Fluges und der Ankunft unter dem Titel ANSCHLUSS gefolgt. Zwischen diesen beiden Einheiten wird im Buch ein Abschnitt eingefügt, der wie folgt beginnt: „Zu den Kutteln kann mir sehr viel einfallen, hauptsächlich fallen mir Frauen, Männer ein, weil mir meistens Frauen, Männer einfallen (und mein Regenschirm), aber am ehesten steigen die Saisonschlußbankette vor meinem geistigen Auge auf, Breitwand, Technicolor.“ (84) Der Abstecher wird scheinbar durch das assoziative Gedächtnis des Erzählers motiviert, aber wenn man erkennt, dass man nach dem einleitenden Satz den Text eines Esterházy-Feuilletons von 1985 als unmarkiertes Zitat liest, erscheint der Erzähler, dem die Kutteln die Saisonschlußbankette einfallen lassen, eher als eine von dem bricolierenden Schriftsteller geschaffene Funktion, die Texte miteinander verbindet, die hinsichtlich ihres Themas und ihrer Entstehungszeit voneinander weit entfernt sind, denn als eine „Persönlichkeit“, die eine alte Story erzählt. Nach ein paar Seiten ist eine recht ähnliche Lösung anzutreffen: die Teile des Beitrags Ein Ungar im Abseits unter den Titeln WEITERES GELÄCHTER,
Profil, Bricolage, implizite Leser in Deutschlandreise im Strafraum
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HEIDI UND SUHRKAMP ALS RIVALINNEN und ANNÄHERUNG bilden im Buch eine Einheit, im letzten Abschnitt taucht der Platzwart vom Sportplatz des BSC Schwarz-Weiß auf. Im Text, der im SZ-Magazin veröffentlicht wurde, handeln nur ein paar Sätze von dem Platzwart, während im Buch – das Erzählen des Wartens auf das Spiel von Concordia Eschersheim unterbrechend – wieder eine Erinnerung anfängt, deren Einleitung dem Leser schon bekannt vorkommt: „Wie bei allen Platzwarten, fällt mir auch von ihm das Paar Carlo und Mari ein. Sie waren lange Zeit ein Teil meines Lebens.“ Anschließend bekommt man wieder einen alten Esterházy-Artikel in vollem Umfang als nicht markierte Übernahme zu lesen. Es lässt sich erkennen, dass dadurch eine seltsame, angesichts ihrer Entstehung zweisprachige Mosaikhaftigkeit entsteht. Die früheren auf Deutsch und auf Ungarisch veröffentlichten Texte von Esterházy wechseln sich ab, und von jedem Rezipienten, abhängig von der Sprache und dem Textgedächtnis, wird etwas anderes als neu oder bekannt empfunden – die deutschen und die ungarischen Leser verhalten sich in dieser Hinsicht komplementär zueinander. Unter den Abschnitten des Buches, die früher weder auf Deutsch noch auf Ungarisch veröffentlicht worden waren (sie machen deutlich weniger als die Hälfte des Textumfangs aus), sind mehrere zu finden, die dem Autor die Gelegenheit bieten, sich selbst zu zitieren. In diesen Szenen, die zur erzählten Gegenwart gehören, lässt Esterházy Figuren auftreten, die mit den Figuren seiner früheren Schriften entweder in metonymische (z. B. aufgrund der Familie) oder (aufgrund der ähnlichen Lebenssituationen) in metaphorische Beziehung gesetzt werden können. Wenn die Gelegenheit zur Herstellung dieser Beziehung besteht, kann ein früherer Text eingefügt werden. Daraus ergibt sich aber, dass die in der Gegenwart erscheinende Figur von dem Autor eher als Vorwand für die Erinnerung / das Selbstzitieren genutzt wird. Das passiert zum Beispiel dem Mann, der bei einer ungarischen Mannschaft mit unbekanntem Namen als Masseur tätig ist. Seine Funktion besteht bloß darin, den ehemaligen Mitschüler des Erzählers zu erwähnen, während der Center von Concordia Eschersheim die Erinnerung an das Ersatzspielerdasein eröffnen soll: an der ersten Textstelle ist ein Ausschnitt aus dem Feuilleton der Tageszeitung Nemzeti Sport vom 24. Dezember 1996 zu lesen, an der letzteren findet man eine längere Passage eines Beitrags von 1984. Nicht nur die Zusammenfügung der Selbstzitate verrät uns viel über die Natur der Deutschlandreise im Strafraum, sondern auch die Änderungen, die an den ursprünglichen Texten bei der Übernahme ins Buch vorgenommen wurden. Dem charakteristischen Typ des alternden Fußballspielers widmete Esterházy im Jahre 1988 einen langen Essay, der im Oktober jenes Jahres in der Literaturzeitschrift Jelenkor auf Ungarisch veröffentlicht wurde. Es ist wichtig,
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den Ort der Erstveröffentlichung zu erwähnen, weil der Autor – darauf wurde bereits hingewiesen – ab 1984 regelmäßig Feuilletons für die Sportzeitschrift Képes Sport schrieb, aber in diesem Fall erscheint das Fußball-Thema in einer Zeitschrift mit einem ganz anderen Profil und ganz anderer Leserschaft. Der Originaltext wurde – auf die halbe Länge gekürzt – in das Buch von 2006 mit dem ursprünglichen Titel (Die Hand) aufgenommen. Einerseits wurden die Verweise auf die Variationen der literarischen Metafiktion (z. B. auf Bulgakows Roman Der Meister und Margarita) herausgenommen, andererseits fehlt die psychologische Entfaltung und Umschreibung der Situation mit Zitaten (von Helmut Heißenbüttel und Frigyes Karinthy), die dadurch entsteht, dass der Vater den Text seines Sohnes ins Deutsche übersetzt. Die für den Autor kennzeichnenden selbstkommentierenden, metafiktiven Texte und Einfügung von zahlreichen Intertexten waren den Lesern der Literaturzeitschrift offenbar nicht unbekannt, während Esterházy in seinen Artikeln, die er für die Sportzeitschrift (d. h. für eine andere Leserschaft) schrieb, diese literarischen Mittel nicht einsetzte.5 Die ins Buch aufgenommene Fassung des Beitrags Die Hand erinnert uns eher an den Stil und die Gestaltung der letzteren. Das bedeutet aber nicht, dass sich Esterházy in seinen früheren Schriften oder gerade in der Deutschlandreise im Strafraum dem Stil der Sportjournalisten annähert, deren Fachjargon er sogar mit ironischer Distanz zitiert.6 Es ist wiederum unbestritten, dass die Sprache des Buches, offenbar nicht ganz unabhängig von der Tatsache, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil seines Umfanges ursprünglich in ungarischen oder deutschen Zeitschriften veröffentlicht wurde, deren Leser nicht unbedingt mit den Werken von Esterházy oder anderen postmodernen Prosaisten sozialisiert wurden, von einer breiteren Leserschaft aufgenommen werden kann. Bezeichnenderweise wirkt der Reisebericht Donau abwärts durch sein rhizomatisches intertextuelles Gewebe, durch die Vielfalt an eingeschobenen Gattungen sowie durch die Ton- und Perspektivenwechsel, die die Kontinuität der Erzählweise oft unterbrechen, der Durchsetzbarkeit der autobiografischen Lesart entgegen, während bei der Zusammenstellung von Esterházys früheren Texten und Textausschnitten in Deutschlandreise im Strafraum der autobiografische Erzähler und das narrative Schema des Reiseberichtes zum Einsatz kom-
5 Dadurch wird vielleicht verständlich, warum der Intertext von Peter Handke in der Eröffnung der deutschen Ausgabe von Deutschlandreise im Strafraum im ungarischen Buch fehlt. 6 Zum Beispiel: „Die Sportreporter gehen, wenn sie in ihrer unbegründeten, dummen Angst vor Wortwiederholungen statt ‚Ball‘ allerlei bornierte Synonyme (Leder, Pille oder Ei) bemühen, von Portugal – immer vorausgesetzt natürlich, daß Portugiesen spielen – auf Lusitanien über; die lusitanischen Mittelfeldspieler sind öfter im Besitz des Leders!“
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men. Man kann sogar behaupten, dass der (ob ungarische oder deutsche) Rezipient, wenn er die ins Buch Deutschlandreise im Strafraum aufgenommenen Selbstzitate nicht entdeckt, d. h. wenn er den Bricolage-Charakter des Buches nicht erkennt, die autobiografische Lesart problemlos durchsetzen kann (darunter ist natürlich nicht die Authentizität im Sinne der Sachlichkeit oder die Identifikation des Erzählers mit dem biografischen Ich zu verstehen). Bei Donau abwärts (wie auch bei anderen Esterházy-Werken) wird die Kontinuität der Aufnahme des Textes durch sein weit verzweigtes kulturell-literarisch-historisches Verweissystem oft unterbrochen. Obwohl die Verweise auch in Deutschlandreise im Strafraum nicht fehlen, können sie größtenteils sowohl von den ungarischen als auch von deutschen intellektuellen Lesern gedeutet werden.7 Da es sich um ein Fußballbuch handelt, könnten die Reflexionen auf die geschichtlichen Fakten, Anekdoten oder Eigenschaften der auftauchenden Vertreter der Sportart bei der Rezeption verschiedene Schwierigkeiten verursachen. Der Text von Esterházy nimmt jedoch Rücksicht auf die Leser, die keine Fußballanhänger sind. Einerseits besteht das Buch nicht ausschließlich aus Storys aus der Fußballgeschichte, die nur Eingeweihten verständlich sind, außerdem werden hauptsächlich Spieler erwähnt, deren Bekanntheit weit über Fan-Kreise hinausgeht (zum Beispiel: Albert, Pele, Cruyff, Maradona, Stoitschkow, Totti). Andererseits konzentriert sich das Buch immer wieder auf die ungarisch-deutschen Schnittstellen der Fußballgeschichte, was wieder einen Beweis dafür liefert, dass es Zielgruppen aus beiden Sprachkulturen im Blick hat. Die meisterwähnte derartige Begegnung ist das WM-Finale von 1954 (im ganzen dritten Kapitel geht es darum), aber auch die Spielerkarriere von Zoltán Varga und Lajos Détári in Deutschland wird behandelt. Es kommt auch vor, dass der Erzähler seine eigene Leistung als Fußballer in einem Vergleich mit deutschen und ungarischen Spieler zu verdeutlichen versucht: „Ich bleckte die Zähne hinter seinem Rücken, Berti Vogts, Lantos oder Liebrich waren im Vergleich zu mir Unschuldslämmer“ (19). An dieser Aufzählung fällt einem auf, dass neben zwei Spielern der 50er Jahre auch der Name von Berti Vogts erwähnt wird, der den deutschen Lesern als 96-maliger Auswahlspieler und als Bundestrainer, der im Jahre 1996
7 Zum Beispiel: „Das ist wie der Roman: man kann nicht darüber nachdenken, was Effi Briest am Nachmittag gemacht hat, wenn es im Roman nur um den Vormittag geht.“ „Vom Gebäude der Umkleideräume schwebt der Duft am Rost gebratenen Fleisches herüber, vermischt mit Rauch. Eine richtige Idylle, als befänden wir uns auf dem Seine-Ufer in einer Novelle von Maupassant. Zum Beispiel. Oder wie ein Bild von Renoir, Picknick am Sonntag.“ „Ein kleiner Küchenjunge guckt in den Speisesaal, er grinst mich an, so süß, daß aus diesem Grinsen Der Tod in Venedig – mit dem entsprechenden Talent – neu geschrieben werden könnte.“
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mit der Nationalelf die Europameisterschaft gewann, wesentlich bekannter sein mag als Werner Liebrich. Allerdings sollte man sich vor Augen halten, dass in Esterházys Buch überwiegend nicht der professionelle Fußball im Mittelpunkt steht, und noch weniger dessen zeitgenössischer Zustand. In seinen Fußball-Feuilletons beharrte Esterházy konsequent auf der Lösung, dass seine Texte durch die eigene Fußballer-Vergangenheit und das Betroffensein seiner Familie beglaubigt werden sowie dadurch, dass er seit seiner Kindheit selbst Fan war. Auf den Einführungsseiten sind diese Themen wiederzufinden: „Fußball gespielt hat jeder, auch der, der es nicht getan hat, das ist die Conditio sine qua non des Fußballs, nicht ein jeder ist aber ein Fußballspieler. Ich war einer. Ein Fußballer vierter Klasse.“ (7) „Ja, mein jüngster Bruder wurde sogar Profifußballer, zuerst spielte er in der ehemaligen Mannschaft von Ferenc Puskás, im Budapester Honvéd, dann verpflichtete er sich nach Griechenland, zum AEK Athen, dann zu Panathinaikos, und in der ungarischen Nationalmannschaft agierte er wohl dreißigmal.“ (8) „Wenn aber das Leben eines Menschen so intensiv mit dem Fußball verwoben ist, kann er freilich nicht umhin, ein Fan zu sein.“ (15) Die Auflösung dieser Verbindungen (zu alt zum Spielen sein, der Bruder beendet seine Karriere, der Niedergang des ungarischen Fußballs) hatte zur Folge, dass Esterházy immer seltener Fußballfeuilletons schrieb. Von diesem Standpunkt aus ist es leicht zu erklären, warum er im Jahre 2006 gezwungen war, seine früheren Texte für das neue Buch wieder zu verwenden. Es ist auch klar, warum der Besuch von Fußballspielen unterer Ligen der Deutschlandreise einen Rahmen gibt: „Ich dachte, [. . .] was wäre, wenn ich mir deutsche Kleinmannschaften anschauen würde, ich habe allerhand Erfahrung, was die ungarischen Spielplätze betrifft.“ (36) Andererseits ist es gar nicht selbstverständlich, dass die Chronik des Fußballs der vierten Liga (ob ungarisch oder deutsch) für die Öffentlichkeit interessant ist. Die Richtlinien, die bei den Büchern über TopFußball gewöhnlich vorkommen (der Autor sollte nämlich eingeweihter Journalist, ehemaliger Fußballspieler, aktiver Trainer oder Manager sein) würden einem Buch über die Regionalliga wohl nicht viele Leser verschaffen. Ein beruflich-analysierender Aspekt scheint hier wenig fruchtbringend zu sein. Ein wesentlicher Wirkungsfaktor des Buches von Esterházy ist gerade die dynamische Erzählperspektive, die ausschließlich durch die literarische Erzählweise ermöglicht wird: „Sie vertritt den Aspekt des Spielers, des Fußballfans und des Chronisten, den des Kollektivs und des Einzelnen, sie nimmt den Fußball von außen und innen unter die Lupe.“8 Die Betonung der persönlichen Betroffenheit und
8 Darvasi: „A kategorizálás nehézségei“, 130.
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der eigenen Erfahrungen dient im Buch nicht nur zur Beantwortung der Frage, was der Schriftsteller auf und neben dem Fußballfeld zu suchen hat. Sie soll auch die Voraussetzungen für die Textstellen schaffen, an denen der Erzähler als Medium fungiert, das die vom Fußball gebotene vergängliche körperliche Gemeinschaftserfahrung sprachlich zu fassen vermag. Gerade diese Fähigkeit liegt der Beständigkeit von Esterházys Texten über den Fußball zugrunde: Nach Spielende gehen wir mit den Spielern ab. Das Spielfeld wird nicht mit Straßenschuhen betreten – diesmal aber doch. Wir sind beisammen, Zuschauer, Spieler; ich sehe strahlende Gesichter, strahlende Mienen nach einem gewonnenen Spiel. Ein gewonnenes Spiel ist die Glückseligkeit selbst! Und wie ich mich daran erinnere! Diese Harmonie ist einfach unvergleichlich, die Arbeit, die schwere körperliche Anstrengung steckt uns noch in den Knochen, der Druck, noch glänzen die Schweißperlen auf den Gesichtern, wir keuchen erschöpft, alle Körperteile schmerzen, aber: wir haben es geschafft! Ich glaube, dieses „wir“ spielt bei den Stufen zur Glückseligkeit keine kleine Rolle. Wenn wir nämlich vom Spielfeld abgehen, wissen wir, wozu wir auf Erden sind, wozu der Herr die Welt er(111) schaffen hat. Oder einfach, was an dem Ganzen gut ist.9
Literatur Darvasi, Ferenc. „A kategorizálás nehézségei. Péter Esterházy: Utazás a tizenhatos mélyére“ [Schwierigkeiten der Kategorisierung. Deutschlandreise im Strafraum]. Bárka 14 (2006). 127–130. Péter Esterházy. Deutschlandreise im Strafraum. Aus dem Ungarischen von György Buda. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Funck, Gisa. „Fußballerische Bekenntnisschrift“. http://www.deutschlandfunk.de/fussballeri sche-bekenntnisschrift.700.de.html?dram:article_id=82735 (12. Mai 2020). Siemes, Christof. „Rezension zu: Deutschlandreise im Strafraum“. http://www.fussball-kultur. org/buch/book/deutschlandreise-im-strafraum/ (12. Mai 2020).
9 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines János-Bolyai-Forschungsstipendiums der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
Hajnalka Halász
Sprachbedingtheit, Sprachreflexion und Sprachvergessenheit in den Esti-Novellen von Péter Esterházy und Dezső Kosztolányi Man kann zwar jedes literarische Werk als ein einmaliges Ereignis in der Wirkungsgeschichte der Literatur betrachten, insofern jedes Werk notwendig in einen Dialog mit der Tradition eintritt sowie aus einem solchen Dialog entsteht. Jedoch ist Esti, das 2010 erschienene Buch von Péter Esterházy, in dieser Hinsicht von exemplarischer Bedeutung. Nicht nur, weil es seine sprachlich-dialogischen Entstehungsbedingungen mehrfach reflektiert, was bekanntlich ohnehin eines der Hauptmerkmale von Esterházys Prosa ist, sondern auch, weil es gleichsam in sich und durch sich selbst zugleich ein anderes Werk hervorhebt bzw. interpretiert: Das Vorbild von Esterházys Novellenband sind die sogenannten KornélEsti-Novellen von Dezső Kosztolányi (Esti Kornél [1933]; Esti Kornél kalandjai [1936])1, die seit den 80er Jahren sowohl in den literarischen als auch in den fachwissenschaftlichen Diskursen in Ungarn eine immer stärkere Rezeption erfahren. Durch Esterházys Werk wird also die Aufmerksamkeit erneut und noch prägnanter auf ein Textkorpus gerichtet, dessen kanonische Position zwar bereits außer Zweifel steht, für dessen Interpretierbarkeit aber gerade durch diese Geste neue und unvorhersehbare Horizonte entstehen. Esterházys intertextuelle Schreibweise zeugt von der Wirkung mehrerer Autoren und Diskurse, und auch Kosztolányis Wirkung ist in verschiedenen Formen und Variationen bereits in seinen ersten Prosawerken, etwa in Függő [1981; Indirekt] deutlich zu erkennen, in welchem der „Romancier“ die Erzählung von „K.“ in indirekter Rede wiedergibt und unter anderem auch Texte von Kosztolányi zitiert2 (in „K.“ könnte man eventuell auch eine Figur von Kosztolányi erkennen). Aber Kosztolányi trug zu seiner Prosapoetik nicht nur formal, d. h. nicht nur durch Motive oder markierte und unmarkierte Zitate bei. Seine Wirkung ist vielmehr der besonderen Rolle zu verdanken, die er im Schaffensprozess der Sprache zuwies: „Nicht nur wir denken: auch die Sprache denkt.
1 Kosztolányi: „Esti Kornél“, auf Deutsch: Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit; Kosztolányi: Összes novellái II, auf Deutsch: Kosztolányi: Die Abenteuer. 2 „Ich erzähle, dieses Ich ist aber keine fingierte Person, sondern der Romancier, ein unterrichteter, bitterer, enttäuschter Mensch, ich, ich erzähle die Geschichte meiner Freunde und Freundinnen, K. erzählt mir, daß er, K., das in einer kristallklaren Nacht seiner Frau gesagt habe [. . .]“ Esterházy: Einführung, 192. https://doi.org/10.1515/9783110618082-016
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Die Sprache ist unsere Mitarbeiterin, gleichberechtigte Mitautorin“ – schreibt er in einem seiner Essays, in denen die Sprache oft die Hauptrolle spielt.3 Die Einsicht der sprachlichen Bedingtheit des Denkens äußert sich auch bei Kosztolányi nicht bloß in deklarativen Gesten, sondern lässt sich auch in der Konstitution seiner lyrischen und Prosatexte beobachten.4 Das dialogische Verhältnis zwischen Denken und Sprache, in dem die Produktion des Sinnes zwischen zwei „gleichberechtigten“ Instanzen geteilt bzw. deren Zusammenspiel ausgesetzt ist, wird im ersten Kapitel von Esti Kornél auf beispielhafte Weise in Szene bzw. ins Werk gesetzt, „in welchem“ – so der Untertitel – „der Autor den alleinigen Helden dieses Buchs, Kornél Esti, vorstellt und entlarvt“. In diesem einleitenden Kapitel verbünden sich die zwei Freunde, der Autor/Erzähler und der Held, gemeinsam ein Buch – das bereits vorliegende und das noch zu schaffende – zu schreiben: „Laß uns eine Firma gründen. Was ist der Dichter ohne den Menschen wert? Und was ist der Mensch ohne den Dichter wert? Laß uns Partner [társszerzők, Mitautoren – H. H.] werden. Ein einzelner Mensch ist zu schwach, um gleichzeitig zu schreiben und zu leben.“5 Nicht nur Held und Autor stellen jeweils die eine/andere Hälfte des Anderen dar,6 sondern auch der Pakt, den sie schließen und der die Regel des Schreibens im Voraus festlegen soll, beruht auf dem Prinzip des wörtlichen Halbierens der Wörter („Wir machen auch hier halbe-halbe“) bzw. der Arbeitsteilung zwischen Leben/Sprechen und Schreiben.7 Diese Teilung lässt sich bis zu den buchstäblichen Ebenen des Werkes verfolgen, welche sich dadurch ebenso verdoppeln. Wer der „Autor“ und wer der „Held“ ist, wer denkt und wer spricht, ist in Hinsicht auf das Werk „egal“ bzw. nicht mehr entscheidbar.8 Genauso differenziert sich von
3 Kosztolányi: „Túlvilági séták“, 111. Zu Kosztolányis Essayistik siehe Szirák: „Kosztolányi“. 4 Dazu siehe Lőrincz: „Ästhetisierung der Sprache“, insbes. 331–338; Kulcsár Szabó: „Medialisierung“, insbes. 427–429. 5 Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 23. 6 „Wer er für mich war und was er war, das ließe sich nur schwerlich von A bis Z erzählen. Ich könnte das gar nicht. Meine Erinnerung reicht nicht so weit zurück wie unsere Freundschaft. Ihr Anfang verliert sich im urweltlichen Dämmer meiner Säuglingszeit. Seit ich denken kann, war er mir nahe. Immer vor mir oder hinter mir, neben mir oder gegen mich. Gleichgültig war er mir nie.“ Ebd., 9. 7 „‚Weißt du was?‘ sagte ich, um ihn zu beruhigen. ‚Wir machen auch hier halbe-halbe. Ich stenographiere alles, was du sagst. Und dann streiche ich.‘ ‚Nach welchem Schlüssel?‘ ‚Von zehn Vergleichen lasse ich fünf stehen.‘ ‚Und von hundert Adjektiven fünfzig‘ fügte Kornél hinzu. ‚Gut.‘ Er schlug ein. Der Pakt war geschlossen.“ Ebd., 25. 8 „‚Und wer zeichnet unser Werk?‘ ‚Egal!‘ rief er herunter. ‚Du könntest zeichnen. Du kannst deinen Namen draufschreiben. Mein Name könnte hingegen der Titel sein. Der Titel wird ja mit größeren Buchstaben gedruckt.‘“ Ebd.
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oder in sich selbst das materielle Korpus des ersten Kapitels, das gleich einem Titel, nicht nur ein Teil des von ihm benannten, eingeleiteten sowie eingerahmten Werkes ist, sondern ihm zugleich äußerlich bleibt und (gleich dem Erzähler, der Kornél die materiellen Bedingungen zum Schreiben als „Pfeiler“ und „Geländer“ zur Verfügung stellt9) den konventionellen Akt des Einrahmens bzw. Unterschreibens vollzieht. Dieser Rahmen steht an der Grenze zwischen Realität und Fiktion, Autor und seinem Helden, Titel und seinem Werk, Namen und seinem Träger, deren Verhältnis er in sich problematisiert. So wie sich der Held von seinem Schöpfer – dem Autor – löst, sich verselbstständigt und dabei selbst zum Schöpfer, Ursprung bzw. – in mehreren Novellen – Erzähler wird, löst sich auch der im Untertitel genannte „Autor“ von dem Namen „Dezső Kosztolányi“, der nirgendwo im Werk, sondern lediglich auf dem Titelblatt des Buches erscheint. Die geteilte, verdoppelte und dabei nicht fixierbare Position der textproduzierenden Instanzen, das Spiel mit den Grenzen zwischen Fiktion und Realität, in dem sie im Text etabliert und im gleichen Zuge überschritten werden, sowie die Reflexion der eigenen Entstehungsbedingungen auf einer Metaebene, die sich jedoch nicht von der Diegese trennen lässt – diese prosapoetischen Merkmale treten in Esterházys Ein Produktionsroman (1979) schon unverkennbar zum Vorschein. Oder anders gewendet: Erst von diesen bis zu ihrer letzten Konsequenz durchgeführten Produktionsprinzipien her sind die Regeln des „Paktes“ oder des Schaffensprozesses in den Esti-Novellen zu erkennen. Das Buch Ein Produktionsroman teilt sich in zwei Teile, die sowohl komplementär als auch in sich autonom sind: Der erste fiktive Teil wird durch einen zweiten Teil, „E.s Aufzeichnungen“10 in Form von Fußnoten bzw. Kommentaren ergänzt. In den Aufzeichnungen, die jedoch auch unabhängig vom ersten Teil gelesen werden können, wird vom Erzähler („E.“) das Leben des Autors („Péter Esterházy“) erzählt bzw. „aufgezeichnet“, wobei sich weder die Namen (E.; Péter Esterházy; Eckermann) oder die Figuren (Autoren, Erzähler und Helden der beiden Teile) noch ihre Subjektpositionen konsequent auseinanderhalten lassen.11 9 „Ich helfe dir dann auch. Etwas bin ich auch wert. Ich kann dir zur Verfügung stellen, was ich habe. Ein Zuhause, wo alles der Arbeit dient. Es sei auch deins.“ Ebd., 22. 10 Esterházy: Ein Produktionsroman, 145. 11 Dieses selbstreflexive Verfahren vertieft bzw. reflektiert die vergleichbaren Techniken bei Kosztolányi, bewahrt aber weiterhin die grundlegende Opposition zwischen der Ordnung der Dinge und der der Sprache (zwischen „sprachlicher Imagination und imaginierter Realität“), auch wenn die Priorität der Letzteren vorausgesetzt wird und ein wechselseitiges Verhältnis zwischen ihnen entsteht. „Diese ambivalente Sprachauffassung von Ein Produktionsroman ist allerdings nicht widerspruchsfrei, insofern er die Erfahrung der Totalität des Sprechens mit der Kompatibilität der Wörter und der Dinge in Einklang zu bringen versucht.“ Kulcsár Szabó:
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Durch die Anerkennung und die Reflexion der sprachlichen Bedingtheit des Denkens und des Schreibprozesses tritt also bei beiden Autoren die Sprache als „Mitautorin“ in den Vordergrund, die sich jedoch – und dies ist ein notwendiges Korrelat des vorigen Gedankens – nicht als solche repräsentieren lässt: Denn wäre sie durchschaubar und kontrollierbar für den „Autor“, könnte sie am Schreibprozess nicht „gleichberechtigt“ „mitarbeiten“ und dadurch unvorhersehbare Bedeutungseffekte hervorrufen. Über diese gemeinsamen Einsichten bzw. Bedingungen hinaus, die zwischen den Poetiken von Kosztolányi und Esterházy die Möglichkeit eines Dialogs schaffen und die allerdings bei vielen anderen (wenn auch nicht bei allen) Autoren der literarischen Moderne zur Geltung kommen, bleibt jedoch die Frage zu klären, was jeweils unter Sprache verstanden wird bzw. wie sie als eine gleichberechtigte und undurchschaubare Instanz (nicht) präsentiert, d. h. reflektiert und der Reflexion entzogen wird. Auf einen geschichtlichen Unterschied der Sprachauffassungen weisen bei Esterházy unverkennbare prosapoetische Merkmale hin, wie etwa die Auflösung der Textkohärenz und der zeitlich-kausalen Zusammenhänge der narrativen Handlung, das Unterbrechen der mimetischen Illusion oder die Kontamination von literarischem und nicht-literarischem Sprachgebrauch, wodurch auch die Vielfalt bzw. die innere Differenziertheit der Umgangssprache zum konstitutiven Teil des Werkes wird. Etwa die allererste Textpassage in Esterházys Esti schreibt eine Szene aus dem – neben dem neunten am häufigsten zitierten – ersten Kapitel aus Kosztolányis Esti Kornél um, in der sich die beiden „Autoren“ über die Gattung bzw. die Form des zu schreibenden Buches einigen und dabei die traditionellen literarischen Formen verwerfen bzw. diese in der Figur des Fragments auflösen: „Wir machen also eine Reisebeschreibung?“ bohrte ich. „Oder eine Lebensbeschreibung?“ „Weder das eine noch das andere.“ „Einen Roman?“
Esterházy Péter, 51; 53. Auch in Esti wird diese Opposition nicht völlig außer Kraft gesetzt. In einigen Aspekten geht die diskursive Zusammensetzung von Ein Produktionsroman sogar über die von Esti hinaus, indem letzteres auch eine andere Gegenüberstellung aufrechterhält: die der sich selbst reflektierenden Position des fiktiven Autors und der erzählten Welt, auch wenn bzw. gerade weil sich diese Welt teilweise aus „Selbstzitaten“ zusammensetzt (weshalb der erste Teil, die „Siebenundsiebzig Geschichten“, im Kontext des ganzen Werkes gleichsam als „Rohmaterial“ der beiden darauffolgenden Teile erscheint). Stattdessen könnte man die Neuerungen von Esti in den Reflexionen der Form der Novelle suchen. Kulcsár-Szabó: „Lásd, szétbomlok“, 91–93.
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„Gott bewahre! Jeder Roman beginnt so: ‚Auf der dunklen Straße ging ein junger Mann mit hochgeklapptem Kragen.‘ Dann stellt sich heraus, daß der junge Mann mit dem hochgeklappten Kragen der Romanheld ist. Das ‚Wecken des Interesses‘. Fürchterlich.“ „Was machen wir dann?“ „Alles zusammen. Eine Reisebeschreibung, in der ich erzähle, wo ich gern gereist wäre, einen romanhaften Lebenslauf, in dem ich auch Rechenschaft darüber gebe, wie oft der Held in seinen Träumen gestorben ist. Eines will ich mir aber ausbedingen. Daß du es mir nicht zu irgendeiner läppischen Geschichte zusammenkleisterst. Es soll alles so bleiben, wie es eines Dichters würdig ist: Fragment.“12
Während man die einzelnen Sprechsubjekte, den Erzähler und den Helden, hier noch klar unterscheiden kann und einer Rekonstruktion der mimetischen Welt nichts im Wege steht, erscheinen die imaginierte Welt und ihre Figuren bei Esterházy als Effekte von sprachlichen Funktionen, weshalb sie sich in keine einheitliche oder ganzheitliche Ordnung fügen: Der einzige Held dieses Buches ‚Auf der dunklen Straße ging ein junger Mann mit hochgeklapptem Kragen.‘ Das bin ich, in Anführungsstrichen, ich bin meine Reisebeschreibung, mein romanhafter Lebenslauf (in dem ich auch Rechenschaft darüber gebe, wie oft der Held in seinen Träumen gestorben ist), ich bleibe Fragment. Novellenkranz. Keiner schreibt, was er ist, sondern was er gern wäre. Nichtsdestotrotz wäre es gut, noch eine Zeitlang zu leben.13
Erzähler und Held lassen sich hier gerade durch ihre gescheiterte Identifizierung (nicht) unterscheiden: Das Ich zitiert sich selbst und konstruiert sich als einen bloßen Effekt von (eigenen/fremden?) Zitaten; es ist das Subjekt und zugleich ein Objekt seiner (eigenen?) Rede; es ist sowohl identisch mit sich als auch verschieden von sich selbst. Obwohl diese Implikationen, wie später noch deutlicher gezeigt werden soll, bereits bei Kosztolányi, wenn auch latent, vorhanden sind, treten sie hier als Konsequenzen bzw. Inkongruenzen von sprachlichen Funktionen in Erscheinung, als Spannungen bzw. Widersprüche innerhalb der Sprache, die also im Prinzip jede sprachliche Äußerung konstituieren und deshalb jederzeit den Prozess der Sinngebung unterbrechen können. Man könnte diesen Unterschied bzw. die prosapoetischen Konsequenzen von spätmoderner und postmoderner Sprachauffassung auch am Beispiel der Fragmentarität veranschaulichen, die durch Esterházys Umschreibung eine offensichtliche Umdeutung erfährt. Während das Prinzip der Fragmentarität in Kosztolányis Esti-Novellen nicht nur zur Unabschließbarkeit der sich dialogisch konstituierenden Bedeutung beiträgt, sondern auch zum integrativen, formge-
12 Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 24–25. 13 Esterházy: Esti, 9.
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benden und dadurch der Auflösung des Ganzen entgegenwirkenden Prinzip wird (die mimetische Illusionsbildung und die Lesbarkeit der in sich autonomen Geschichten werden durch dieses Prinzip nicht gestört oder unterbrochen, die selbstreflexiven Gesten führen nicht zur Fragmentierung des Sinnes), dient es bei Esterházy dazu, die Selbstverständlichkeit der konsistenten Sinngebung infrage zu stellen, diese als eine Konventionalität der Sprache zu enthüllen und dadurch die sprachliche Welt der Erzählung gleichsam von innen her zu sprengen.14 Die Fragmentarität, die Teilung sowie die Verdoppelung der „Autoren“ oder der textproduzierenden Instanzen können also sowohl zur Integrität und dadurch zum Erhalten von Sinneinheiten bzw. Komponenten der Erzählung (Figuren, erzählte Welt, Handlung, Geschichte, etc.) als auch zu deren Auflösung bzw. Dissemination führen. Dass bei Esterházy im Gegensatz zu Kosztolányis Schreibweise die letzteren Implikationen überwiegen, ist aber selber dem Umstand zu verdanken, dass sie, da diese beiden Tendenzen in und aus der Sprache zusammen- bzw. gegeneinander wirken und sich dabei gegenseitig bedingen, in den Texten von Kosztolányi bereits vorausgesetzt sind. Somit ließe sich Esterházys Esti als die andere Hälfte von Kosztolányis Esti Kornél betrachten, die aber nicht die Wiederholung und die Wiedererkennung, sondern vielmehr die Auflösung und die Dezentralisierung von Erkennungsmerkmalen und Identitäten des Originals (der Sprecher, des Textes) in Gang bringt, insofern sie etwa den Sinn von Zitaten und die vermeintliche Absicht der Rede in ihr Gegenteil verkehrt und dadurch Möglichkeiten freisetzt, die bereits im „Original“ am Werk sind. Bereits bei Kosztolányi wird Kornél als die latente, verborgene Seite des Autors/Erzählers beschrieben, die im Gegensatz zur Konstruktion gleichsam zur Destruktion neigt und die seine „bessere“ Seite jeweils zur Auflösung, Vernichtung, Verneinung, Verkehrung, Demoralisierung und Pervertierung treibt. Keine Scham, keine Moral und kein Gesetz halten Kornél zurück, er verwickelt den Erzähler in peinliche Situationen,15 er stiftet ihn in der Kindheit an, elterliche Befehle, moralische Tugenden und gesellschaftliche Konventionen zu missachten bzw. sich ihnen zu widersetzen, sich selbst und die Welt zu vernichten;16 Kornél war es also, der den Erzähler „in alles Sündhafte einführte“.17
14 Esterházys Esti aktiviert neben den erzählerischen Konventionen des Romans und der Novelle auch andere kleinepische Formen (dazu siehe Tátrai: „a mondat múlatja immár az időt“), welche Textmerkmale jedoch an sich selbst noch recht wenig über die Sinnereignisse des Textes verraten. 15 „ich gebe zu, dass er mich mehr als einmal zum Erröten brachte“. Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 8. 16 „Er gab mir eine brennende Kerze in die Hand. ‚Zünde die Vorhänge an‘, hetzte er. [. . .] Er gab mir auch ein Messer. ‚Stich es dir ins Herz‘, schrie er.“ Ebd., 10. 17 Ebd., 12.
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Die Freundschaft zu Esti, die Kosztolányis Erzähler im ersten Kapitel ambivalent, durch die – einander oft ausschließenden – Variationen und Umdeutungen des Motivs des Doppelgängers charakterisiert, wird bei Esterházy in sprachlich-ironischen Figuren der Ähnlichkeit interpretiert, die einerseits eine zeitliche, kausale oder strukturelle Asymmetrie bzw. Hierarchie implizieren, sich aber andererseits als umkehrbar erweisen. In den Verhältnissen von Vater und Sohn, Großvater und Enkelkind, Mensch und Gott, Urheber und Geschöpf, König und Volk, Urbild und Abbild oder Original und Kopie sind die Subjekte austauschbar bzw. lassen sich nur chiastisch identifizieren. Etwa das Verhältnis von Vater und Sohn wird in mehreren Novellen durch eine perspektivische Umkehrung interpretiert: „Zu seinem Vater blickte Kornél Esti gemeinhin wie zu Gott auf“; „Der Herrgott blickte zu der Zeit gern auf Esti, [. . .] in Estis ernstem und wildem Gesicht fand er sich (anhand unerwartet aufgetauchter alter Fotos) wohltuend wieder. Ich bin stolz, dir zu ähneln, erklärte er gelehrt seinem Sohn“.18 Zwischen Gott als Urbild und dem Menschen als seinem Abbild bzw. der Figur des Schöpfers und seinem Geschöpf vermittelt die Technik der Abbildung: die des Fotografierens und des Schreibens, von denen her die Ähnlichkeiten erst erkennbar werden. In der Feststellung ‚ich bin dir ähnlich‘ wird die Spannung zwischen Grammatik und Semantik, zwischen der Möglichkeit der Umkehrung sowie der Austauschbarkeit der Elemente des Vergleichs und der notwendigen semantischen Implikation des Satzes (das Urbild geht dem Abbild voraus) als eine Konventionalität der Sprache entlarvt. In einer anderen Novelle wird diese scheinbar natürliche, durch Ähnlichkeiten organisierte „Ordnung“ der Welt mit der Konventionalität der Erzählung in Zusammenhang gebracht: Früher verging in den Romanen die Zeit von selbst, man konnte darauf vertrauen, dass der Vater älter war als der Sohn, und musste nicht überrascht sein, dass in diesem Fall der Sohn jünger war als sein Vater, auch wenn das allein keinen Frieden brachte; jetzt hingegen braucht es für das Vergehen auch einen Satz, der Satz lässt die Zeit vergehen, wenn er nicht wäre, nähmen wir das Vergehen nicht nur nicht wahr, wir würden es auch nicht glauben, wenn sich das Vergehen (der Zeit, nicht des Satzes) doch irgendwie herausstellen sollte.19
Der Unterschied von Kind und Erwachsenem bzw. Sohn und Vater erscheint hier als eine Frage der Konventionalität der Sprache, die den pragmatischen Zusammenhängen der Realität nicht unbedingt entspricht. Die Verbindung zwischen Personen (Vater/Sohn) und ihren Eigenschaften (älter/jünger) beruht nicht auf natürlichen oder realen, sondern auf sprachlich-grammatischen Verhältnissen, deren
18 Esterházy: Esti, 121. 19 Ebd., 136–137.
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Ordnung sich als umkehrbar erweist. Auch der Eindruck des Vergehens der Zeit ist bestimmten Aussagesätzen zu verdanken, die „früher“ als selbstverständlich oder eben gar nicht als solche wahrgenommen wurden, „jetzt hingegen“ in den Vordergrund getreten sind. Die Unterscheidung zwischen „früher“ und „jetzt“ bzw. früheren und späteren Romanen, die nach diesem Kapitel, das das Problem von Originalität und Übersetzung/Wiederholung auf mehreren Ebenen reflektiert,20 ebenso als beliebig betrachtet werden soll, lässt sich auch im Verhältnis der beiden hier zitierten Textstellen bzw. Werke geltend machen: Es ist immer möglich, die Perspektive umzukehren und das spätere Werk vom früheren her zu lesen, als ob das frühere Werk später und das spätere früher entstanden wäre, als ob das eine von Kosztolányi/Esti und das andere von Esti/Esterházy geschrieben worden wäre. Dass eine solche Lektüre tatsächlich möglich ist, können die sprachlichen „Ereignisse“ des folgenden Dialogs aus Esti Kornél zeigen, in dem das Verhältnis vom Ich und dem Anderen nicht bzw. nur vorübergehend fixierbar ist: „Na, du hast dich auch nicht verändert“, spottete er. „Immer noch sentimental.“ „Du hingegen hast dich verändert, Kornél. Als wir Kinder waren, warst du der Große [a felnőtt; der Erwachsene – H. H.], du hast mich geführt und mir die Augen geöffnet. Jetzt bist du das Kind.“ „Läuft es denn nicht aufs gleiche hinaus?“ [Hát nem egy a kettő?; Sind denn die zwei nicht eins? – H.H.] „Genau das mag [szeretem; liebe/mag] ich an dir. Deshalb bin ich wieder zu dir gekommen, und von jetzt an stehe ich zu dir, auf ewig.“21
Das Vergehen der Zeit ist an sich ein nicht wahrnehmbarer Vorgang, zur Feststellung der Veränderung braucht das Ich einen äußeren Bezugspunkt, der nicht veränderlich oder zumindest vom Ich unabhängig ist. In diesem gegenseitigen, symmetrischen und doch asymmetrischen Akt der Bezeichnung kann man jedoch nicht entscheiden, welcher der beiden Perspektiven die Veränderung zuzuschreiben ist, umso mehr, weil die Selbstbestimmung des Erzählers, die durch die Bestimmung bzw. Beschreibung von Kornél erfolgt („Du hingegen hast dich verändert“), auf einem (eventuell falschen) Vertauschen ihrer Standpunkte beruht. Obwohl der Erzähler die Veränderung Kornél zuschreibt und sich selbst im Verhältnis zu seiner Veränderung bestimmt, ist es vielmehr wohl
20 Dieses Kapitel beleuchtet und kehrt das Verhältnis der beiden Werke durch die von Cervantes und Borges um: „Pierre Menards eigentlicher Name war Kornél Esti (und Kornél Estis Pierre Menard)“. Zweites Kapitel, in welchem Das vollkommene Leben des Kornél Esti oder Pierre Menard, der Autor des ungarischen Don Quijote, Ebd., 135. 21 Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 21; Kosztolányi: Esti Kornél, 429–430.
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sein eigener Standpunkt, der sich mit der Zeit verändert hat: Nicht Kornél ist vom Erwachsenen zum Kind, sondern im Gegenteil, der Erzähler ist vom Kind zum Erwachsenen geworden. Kornél scheint unter dem Gesichtspunkt des Kindes ein Erwachsener, unter dem des Erwachsenen ein Kind zu sein, was nur möglich ist, wenn Kornél währenddessen unverändert, oder genauer: stets zweideutig (zwei als eins, zwei in eins) bleibt; wenn er weder Erwachsener noch Kind, sondern alters- und zeitlos ist, oder eben sowohl Erwachsener als auch Kind ist, die beiden in sich vereinigt. Die Bedingung der Wahrnehmung der Veränderung ist ein gleichzeitiger und unlösbarer Gegensatz, der auch das Verhältnis der beiden Freunde bestimmt, und durch den der Erzähler seinen Freund in der Regel als sein eigenes Gegenteil wahrnimmt, ohne dass diese Differenz eindeutig fixierbar wäre. Der Gegensatz von Kind und Erwachsenem ist zeitlich und zugleich zeitlos, abhängig und unabhängig vom Alter und der Zeit; zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Alter einerseits und den Eigenschaften des Kindes und den des Erwachsenen andererseits, oder zwischen gefühltem und sichtbarem bzw. sichtbarem und tatsächlichem Alter besteht keine notwendige Entsprechung. Im Erzähler verbinden sich die beiden auf natürliche, in Kornél hingegen auf widersprüchliche Weise. Durch das Gespräch mit Kornél kommt der Erzähler jedoch nicht umhin, seine vorherige Meinung bzw. seinen Standpunkt zu ändern: Kornél zieht die Unterscheidung von Kind und Erwachsenem, Geführtem und Führendem sowie Einsicht und Blindheit in Zweifel, und zwar durch eine rhetorische, sowohl nach ihrem Sinn, als auch nach ihrer Form zweideutige Frage: „Sind denn die zwei nicht eins?“ Ähnlich wie in den platonischen Dialogen, zwingt die Frage den Anderen dazu, seine Vorurteile aufzugeben und die implizite Feststellung einzusehen bzw. zu bejahen. Dies geschieht hier aber nicht durch Einsicht oder (Ein-)Verständnis: Dass die zwei eins sind, kann man nicht berechnen oder mit Vernunft einsehen, sondern nur „lieben“ oder „mögen“ (szeretni). Die Umkehrbarkeit des Verhältnisses zwischen Held und Erzähler ist bei Esterházy der unauflösbaren Spannung von sprachimmanenten Aspekten zu verdanken, wie etwa der Austauschbarkeit der Personalpronomina im folgenden Zitat: „Kornél Esti beschloss, sich umzuschreiben. Ich schreibe mich um“.22 Der Held schreibt sich selbst (um) und ist identisch mit seinen Texten bzw. Zitaten, folglich ist der Erzähler/Held ebenso ein Leser seiner selbst, ein Leser seiner eigenen bzw. der von ihm zitieren Texte, deren unvorhersehbare semantische Effekte selbst ihn überraschen. Der „sich ereignende“ Unterschied der beiden
22 Esterházy: Esti, 288.
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meldet sich in semantischen Inkongruenzen bzw. in logischen Widersprüchen: „Meines Erachtens glaube ich nicht an die Existenz der Seele. Das hätte ich nicht von mir gedacht.“23 Hier täuscht das sprechende Subjekt die Intransparenz seines Helden/eigenen Bewusstseins vor, indem es nach seiner Aussage über sein Glaubenssystem nur eine Vermutung haben kann. Nach ihren semantischen Implikationen kann man diese Sätze nur in Bezug auf eine andere, aber nicht auf die erste Person widerspruchsfrei behaupten. Jedoch ist die Deutung der grammatikalisch richtigen Formulierung des Satzes (‚ich glaube, du glaubst nicht an die Existenz der Seele‘) nicht unbedingt einfacher, wie mehrere Variationen dieser Konstellation bei Kosztolányi zeigen.24 Esterházys Esti vollzieht die Teilung und Fragmentierung der Esti-Novellen auf mehreren Ebenen der Erzählung und trägt dadurch zur Auflösung der Grenzen seines „Vorbildes“ bei. Diese Fragmentierung ist in mehreren Geschichten referentiell zu verstehen: Nicht nur Wörter oder Sätze, sondern auch die Körper von Figuren werden verstümmelt und zerstückelt, mal ermordet, mal wiederbelebt, wodurch die häufig ins Groteske kippenden Szenen auch metareflexive Bedeutungsmöglichkeiten erhalten. Diese nicht-menschliche „Bosheit“ der Sprache veranlasst Esti, „[v]on nun an [. . .] ausschließlich kleine böse Novellen [zu] schreiben“,25 in denen man die Grausamkeit, so der Erzähler, nicht im wörtlichen Sinne, d. h. nicht durch Wörter vollzogen verstehen sollte: „Eine kleine Bosheit, das ist wichtig. Also nicht blutrünstige Brutalitäten, nicht dass Konjunktive zu Schwertern geschmiedet würden oder, noch besser, zu Hämmern, und er würde so lange auf den Schädel seiner Mutter, auf die Stirn, das Kleinhirn und,
23 Ebd., 278. 24 Als im ersten Kapitel Kornél dem Erzähler, der damals noch ein Kind ist, mitteilt, „er könne auch zaubern“, hat der Erzähler außer Kornéls Worten keine Referenzpunkte, die seine Vermutungen bestätigen oder widerlegen könnten: „Ich glaubte ihm und glaubte ihm auch nicht. Aber ich rannte aufgewühlt in unsere Wohnung zurück und beobachtete die ganze Zeit, wie die Zeiger unserer Uhr vorrückten. [. . .] Gegen zehn hörte ich in der Luft ein Rauschen und so etwas wie Musik. Unser Haus hob sich langsam und stetig in die Höhe, verharrte oben für einen Moment und ließ sich dann etwas schwankend, doch ebenso langsam und stetig wie beim Aufstieg, wieder zur Erde sinken. Ein Glas schlug ein bißchen auf dem Tisch auf, und die Hängelampe schaukelte. Das Ganze dauerte ein paar Minuten. Die anderen merkten nichts. Nur meine Mutter erbleichte, als sie mich ansah. ‚Dir ist schwindlig‘, sagte sie und schickte mich zu Bett.“ [Hervorhebung – H.H.] Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 11–12. Die Mutter stellt bei ihrem Sohn einen inneren Zustand fest, von dem zwar nur das jeweilige Subjekt glaubwürdig zeugen, der aber aus keiner Perspektive bewiesen werden kann. Was also bei Esterházy in der Form eines sprachlogischen Widerspruchs zum Ausdruck kommt, erscheint bei Kosztolányi innerhalb der Diegese, deren Ordnung aber auch sprachlich konstituiert ist. 25 Esterházy: Esti, 150.
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nur sehr schwer ideale Oberfläche findend, die Schläfen, bis . . . nun, wir wissen, wie diese Hämmereien ausgehen, nein, das wäre ihm zu viel“.26 Realität und Imagination bzw. wörtliche und metaphorische Bedeutungsebenen werden hier sowohl geteilt und verdoppelt als auch kontaminiert und miteinander verschränkt. Diesen erzählerischen Kommentar könnte man eventuell auch als eine Referenzialisierung des berühmten Wittgensteinschen Vergleichs interpretieren, in dem die scheinbare Totalität und Einheitlichkeit der Sprache durch die unendliche Vielfalt ihrer Funktionen und Verwendungsweisen gesprengt werden: „Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.)“27 Der Sinn des Vergleichs wird in sein Gegenteil verkehrt bzw. sowohl bejaht als auch verneint: Die unabschließbare Differenzialität der Verwendungsweisen von Wörtern als „Werkzeugen“, deren Prinzip in Esti in mehreren Zusammenhängen zur Geltung kommt, wird hier ausgeblendet und stattdessen die Gegenständlichkeit und Objektivierbarkeit der Sprache herausgestellt. Wörter können zu Gegenständen, „Konjunktive zu Schwertern geschmiedet“ werden, von welcher Möglichkeit Esti aber doch nicht Gebrauch macht, „das wäre ihm zu viel“. Jedoch kann man in der Sprache nicht oder nur bedingt (grammatisch, aber nicht rhetorisch) zwischen Realität und Möglichkeit unterscheiden, insofern selbst die Negation das Negierte vergegenwärtigen und deshalb gewissermaßen behaupten soll, denn „wir wissen, wie diese Hämmereien ausgehen“, ‚denk nicht an Mord‘.28 Der Akt der Zerstückelung bzw. des Mordes wird in Esti in der Regel mit der Figur des Hundes verknüpft (Hunde werden in mehreren Geschichten auf verschiedene Weise getötet, Esti mordet etwa im fünften Kapitel erst als Hund und wird dabei selbst von seinem Enkelkind getötet), welche Verknüpfung durch die Unabgeschlossenheit und Fragmentarität des neunten Kapitels von Esti Kornél „begründet“ wird. In diesem Kapitel ist es unter anderem ein Hundephoto, das zwar in der Geschichte als eine Art von Beweisstück aufgezeigt wird, dessen
26 Ebd., 153. 27 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 21. 28 Diese Spannung zwischen Praxis und Theorie bzw. Leben und Literatur führt auch in den Esti-Novellen von Kosztolányi oft zu überraschenden Wendungen: Mal tritt Esti als Wohltäter auf, und ist am Ende „gezwungen“, seinen Schützling zu „verprügeln“, mal wird ihm das Leben gerettet, wobei er aus dem Wasser gezogen wird, um am Ende seinen Lebensretter wieder ins Wasser zu stoßen: „‚Wenn ich ihn hineinstieße‘, dachte er. Dachte es aber nicht nur. Hatte ihn im selben Augenblick schon hineingestoßen. Er begann zu laufen.“ Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 280.
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Bedeutung oder Referenz jedoch sowohl Esti als auch dem Leser entzogen bleibt. Im vierten Kapitel von Esti erscheint der Hund tatsächlich als eine Figur des Fragments bzw. des Todes, und zwar wieder durch die Referenzialisierung eines Ausdrucks: Estis Tochter kauft, nachdem der Hund der Familie „hoffentlich“ durch einen „Fremd[en]“29 erschlagen worden ist, einen neuen Hund „auf Raten“,30 „részletben“,31 d. h. wörtlich ‚in Teilen‘: „Esti Kornél beugte sich hinab und nahm das Geschenk aus der Schachtel. Es war tatsächlich ein Hund, ein Teilhund, ein Hundeteil, ein Fragment: eine Hundepfote. Eine abgeschnittene Hundepfote.“32 Im darauffolgenden Kapitel, in dem „Kornél Esti gerade ein Hund [war]“, wird die Figur des Hundes durch den Erzähler als ein inneres, imaginäres, jedoch konventionelles und deshalb im Prinzip dekonstruierbares Bild vorgestellt: Damals war Kornél Esti gerade ein Hund. Darüber würde ich jetzt nicht allzu viel grübeln, denn schauen wir uns einfach den Satz an, was ein Hund ist, das wissen wir mehr oder weniger, beziehungsweise wir wissen es nicht, doch wir haben eine Vorstellung, vier Beine, Fell (im vorliegenden Fall natürliches, ungetrimmtes Nackenfell), Klang (wau! wau!), fertig; und auf das andere, das Subjekt, Esti einzugehen, lohnt sich nicht, weil es platterdings als möglich vorausgesetzt ist, als Maske, Leere, irgendetwas, Jedermann, auch wenn vielleicht wenige von uns gedacht hätten, dass es vier Beine hat.33
Obwohl die Verbindung des Eigennamens „Esti“ mit dem Zeichen, d. h. der Vorstellung und dem Klang eines „Hundes“ ungewöhnlich und willkürlich oder genauer: beliebig erscheint, kann sie gerade deshalb nicht in Frage gestellt, sondern muss – wie es im neunten Kapitel von Esti Kornél heißt – „unbesehen beziehungsweise ungehört“34 angenommen bzw. vorausgesetzt werden. Das Subjekt und seine Attribute lassen sich, genauso wie Bild und Klang bzw. Signifikat und Signifikant (die Teile eines Hundes), jederzeit voneinander trennen, und in der Erzählung muss man nur die Konventionen der Sprache voraussetzen. Das Prinzip der Fragmentarität verliert also bei Esterházy seine Funktion, dem Sprechen des Erzählers, der Figuren sowie des literarischen Werkes eine mit sich selbst identische Form zu geben, wodurch auch die Grenzen zwischen literarischen und nicht-literarischen oder „alltäglichen“ Sprechweisen
29 Esterházy: Esti, 160. 30 Ebd., 161. 31 Esterházy: Esti (ung. Ausgabe), 175. 32 Esterházy: Esti, 163. 33 Ebd. 34 Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 158.
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überschritten werden. Man kann bereits in Esterházys frühen Prosawerken beobachten, inwiefern durch diese Umfunktionalisierung des dialogischen Prinzips „die Bedingtheit immer mehr in einer Form von ‚polyglotter‘ sprachlicher Realität zur Geltung kommt“.35 Durch die Kontaminationen von höheren und niedrigeren Sprachregistern, figurativen und wörtlichen Bedeutungsebenen sowie von historisch, sozial und kulturell verschiedenen Sprachverwendungen werden jedoch die Differenzen dieser Sprachwelten nicht gelöscht oder aufgehoben, sondern vielmehr vertieft und verschärft, wodurch ihre produktiven, d. h. unerwartete Sinneffekte erzeugenden Spannungen sichtbar werden. So etwa werden nicht nur Prosa-, sondern auch Lyrikzitate – mehr oder weniger erkennbar, weil fragmentiert, deformiert und dabei manchmal bis zur Unkenntlichkeit maskiert – aus Kosztolányis Lebenswerk in die einzelnen Passagen/Kapitel/Fragmente von Esti eingeschrieben. Ein in Esti häufig zitiertes Gedicht von Kosztolányi ist Hajnali részegség [Rausch in der Frühe], das in den Fragmenten gleichsam als zerstückelt erscheint, etwa auch als Titel und Untertitel von im Band enthaltenen Kurzgeschichten. Kosztolányis Gedicht, in dem das lyrische Ich aus seinem irdischen Zimmerfenster schauend im oder eben am Himmel eine überirdische Schönheit erkennt bzw. durch seinen gleichsam „berauschten“ Blick das Bild einer himmlischen Schönheit entwirft,36 erhält in den einzelnen Fragmenten verschiedene Funktionen: Mal dient es als Anlass zur Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit,37
35 Kulcsár Szabó: „A nyelv mint alkotótárs“, 305. 36 „[. . .] Um mich herum die Lieben, ein sichres Land, / Sie träumen süß am Märchenmeeresstrand, / Ich aber fühl mich berauscht, trunken bis zum Rand, / Schau aus dem Fenster und will sagen, was ich da fand. // [. . .] Mein Freund, da oben liegt die heitere Himmelswelt, / Klar und gewaltig glänzt das große Zelt, / Zitternd und fest, wie Treue, die ewig hält, / Das große Firmament, / Genau wie es das Kind von früher kennt, / Der blaue Fleck, der sich über Mutters Decke gießt, / Die Wasserfarbe, die im Heft verfließt, / Das Atmen der Sterne / Funkelt still in der Ferne / In der lauwarmen Herbstnacht, / Die dem Frost vorauslacht, / Unaussprechlich drüben und weit, / Sie sahen schon Hannibal ziehen zum Streit / Und sehen jetzt mich in Budapest stehn, / Hierher verschlagen aus dem Fenster sehn. [. . .]“ Kosztolányi: „Rausch in der Frühe“. 37 Die Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Tod, deren Problematik in Kosztolányis Lebenswerk auf verschiedene Weise und andauernd präsent ist, erscheint auch in Esti jeweils in verschiedenen Modalitäten. Neben den ironischen, parodierend-grotesken Kommentaren des Autors-Erzählers könnte man hierzu vor allem das zwölfte Kapitel („in welchem Kein bisschen Mátyás [2]“) erwähnen, in dem der Tod (des Anderen) im Vergleich zu den distanzschaffenden Reflexionen schon komplexer, weil auch auf affirmative Weise (als unüberholbare Bedingung des eigenen Seins) erscheint. Dieses Kapitel wird zwar auch durch – an intertextuellen Verweisen reiche – selbstreflexive Gesten des Erzählers eingeleitet, wird aber durch die wesentliche „Unmitteilbarkeit“ einer Todesnachricht organisiert. Hier kann man vom Tod trotz seiner
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mal als Anlass zur Reflexion der Naturbeschreibung bzw. des Verhältnisses zur Natur, das sich etwa im zehnten Kapitel (in welchem Der Schoß der Natur) als ein künstlich-konventioneller Akt entpuppt. Esterházys Esti, der vor dem Fenster bzw. am Schreibtisch sitzt, sieht mal seine Wörter, mal die Aussicht,38 wobei man jedoch die Wörter und die durch sie bzw. in ihnen erzeugten Bilder sowie das Licht und den Schatten als Form und Medium der Imagination nicht unterscheiden kann: Genau wie der Himmel, der mal als Medium, mal als Hintergrund erscheint, werden auch die Wörter mal durchsichtig, mal materialisiert, mal gesprochen, mal zitiert.39 Dadurch stellt diese Textstelle auch sein „Vorbild“ in ein neues Licht, wobei sie nur wiederum etwas sichtbar macht, was bereits in seinem „Negativ“ „da“ war. Dies könnte man nicht nur an den Klangeffekten des Gedichts zeigen, die den Sinn bzw. die „Aussicht“ in gewissem Sinne auch materialisieren, sondern ebenso an der zentralen Zeile der letzten Strophe, in der das sprechende Subjekt beginnt, den Himmel, den Unbekannten oder den Herren als „den Azur anzusingen“ und dabei sich sozusagen verspricht: „dalolni kezdtem ekkor az azúrnak, / annak, kiről nem tudja senki, hol van“ [„dann begann ich den Azur anzusingen, / den, von dem niemand weiß, wo er ist“ Übers. und Hervorhebung – H.H.]. Der Herr (az úr), von dem niemand weiß, wer und wo er ist, „befindet sich“ buchstäblich im Azur des Himmels Unüberbringlichkeit und mehrfachen medialen Distanziertheit („Misi ist gestorben, diesen unglaublichen Satz hatte meine Frau aus dem Hörer gehört“ Esterházy: Esti, 268) keinen Abstand mehr halten, „Gegenüber dem Tod hilft keine Ironie“ Ebd., 267. Ein Prätext dieses Kapitels könnte die Erzählung aus Die Abenteuer des Kornél Esti sein, nach deren Titel „Esti [. . .] die Todesnachricht [erhält]“. Hier bekommt Esti von einem seiner Freunde die telefonische Mitteilung, dass seine Frau in der Nacht gestorben sei. Die Nachricht veranlasst Esti nicht nur dazu, über die Unbegreiflichkeit des Todes zu reflektieren, sondern konfrontiert ihn auch mit der Unmöglichkeit der Antwort als des Kommentars: „Unterdessen warf er sich schon die Kleider über, zog die Schuhe an, band sich wütend die Krawatte um. Und fragte sich, was man bei solchen Gelegenheiten eigentlich sagt, was sollte er zu dem armen Sándor sagen?“ – so lauten die Schlussworte der Erzählung. Kosztolányi: Die Abenteuer des Kornél Esti, 73. 38 „Am ersten Tag saß er, wie er sie zu Papier brachte, unwirsch über die Wörter gebeugt. Vergeblich versank er in seiner Arbeit, umwarb, streichelte, tätschelte die Wörter, kitzelte sie wie gewohnt, er sah sie auch dann, diese auf verwirrende Weise für überflüssig gehaltene Schönheit. Erst anderntags folgte er der Versuchung und nahm schmollend zur Kenntnis, dass er zuweilen aus dem Fenster sehen musste. Seine Entdeckungen machte er bei den ‚Krausenwolken‘ – – – vorn die Bühne im Schatten, dahinter Sonnenlicht, das seine Besonderheit ausschließlich dem Schatten hier verdankt – – – dem Mangel an Sonnenlicht – – – der Himmel das billigste Azurblau – – – wie Paul Newmans Iris [. . .]“ Esterházy: Esti, 226–227. 39 „Wenn ich es sehe, ist es, Esti nickte, als nähme er gerade an einem Crashkurs in Philosophiegeschichte teil. [. . .] Alles ist, nickte Esti erneut, wie in den Naturbeschreibungen der großen alten Romane –“ Ebd., 227.
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(azúr), ist aber trotz der deiktischen Funktion des bestimmten Artikels („az az úr“, ‚jener Herr‘) nicht identifizierbar. Das ist vielleicht der eine Grund, warum sich das sprechende Subjekt am Anfang seines Singens sofort korrigieren muss: es singt den Azur oder, verschiebt man die Wortgrenzen: „azaz“, „das heißt“, den Herrn an. Dieses beinahe unaussprechbare und tautologische Wortspiel tritt an der Folie der im ganzen Gedicht herrschenden Klangharmonie besonders „deutlich“ hervor, oder besser: Es entzieht sich in den „Rausch“ oder eben in das Rauschen der Schrift, zwischen die Grenzen der Wörter und die Buchstaben.40 Selbstkorrektur und ähnliche Wortspiele als Reflexion des Schaffensprozesses kommen bei Esterházy besonders häufig vor, jedoch so, dass dabei auch andere (literarische und nicht-literarische) Texte und Kontexte zitiert und evoziert werden, deren metonymische Assoziationskette nicht oder nur willkürlich abschließbar ist. Die Kurzgeschichte, die den Titel „Rausch in der Frühe“ trägt, berichtet über das Schließen eines Ehebundes, das die Konventionalität bzw. die Beliebigkeit in der Figur des Paktes und des Bündnisses hervorhebt: Oder Esti heiratet. Fritzchen, wenn mich nicht heimtückische und rasende Kopfschmerzen quälten, wenn ich nicht Frau und Kind hätte, wenn mich nicht diese törichte, traditionelle Mann-Frau-Einteilung daran hinderte, nun, dann nähme ich dich auf der Stelle zur Frau, sagte er zu Karinthy. Hier stellte sich die Frage, who’s who, wer ist Frigyes Karinthy, wer ist Esti, doch stelle sie sich nicht. Égi kar inti, frigye sikerülni fog. (Es winkt eine himmlische Hand, die Ehe wird glücken). Das übersetze mal, Schnuckiputzi, sagte einer von uns und küsste unverantwortlich den Bart des anderen auf den Mund. Ich stand da mit offenem Mund.41
Anfang und Ende zitieren bzw. erinnern noch ans Gedicht,42 aber der Text entfaltet sich aus einem Zitat, oder noch genauer: einem anagrammatischen Wortspiel von Frigyes Karinthy („Fritzchen“), ebenso Schriftsteller und ein
40 Auch Kosztolányis Gedicht geht also über die Opposition von Natur und Kultur, Immaterialität und Materialität sowie Transzendenz und Humanität hinaus, insofern es sie unterminiert bzw. in seiner zentralen Zeile in Form eines „sprachlichen Ereignisses“ kontaminiert: das „unfassbare“ Blaue des Himmels und der „unbegreifliche“ Herr werden durch eine materiell-metonymische Figur (azúr) in eine Einheit gefasst, die einerseits vom sprechenden Subjekt angesungen bzw. geschaffen wird, andererseits wird das Subjekt erst durch dieses Ereignis „reflektiert“, gezeigt bzw. „sichtbar“ gemacht. Zur Interpretation des Gedichts sowie der zitierten Zeile siehe: Kulcsár Szabó: “Boldogan és megtörötten?“, 60; 63. 41 Esterházy: Esti, 43. 42 „Erzählen will ich es dir, lass mich nur. / Letzte Nacht ließ ich die Arbeit liegen – / So um drei Uhr. / Ich ging zu Bett. Doch im Kopf weiter getrieben, / Nahm es kein Ende, das Gedankenschieben, / Wütend wälzte ich mich, / Schlaf aber fand ich nicht.“; „Ich stand da mit offenem Munde, / Schrie vor Glück in die gewaltige Runde, / Der Himmel feiert, feiert jede Abendstunde“. Kosztolányi: „Rausch in der Frühe“, 136; 139.
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enger Freund von Kosztolányi, in dem er seinen eigenen Namen in einen Satz fasst und dadurch semantisiert. Wie die Freundschaft von Esti und dem Erzähler ist auch die von Karinthy und Kosztolányi legendär, nicht nur wegen ihrer – teilweise schriftlich-literarischen43 – Wortspiele bzw. Parodien, sondern auch den Streichen, in denen sie sich entweder gegenseitig veralberten oder die „Spießbürger“ schockierten, indem sie sich anstoßend verhielten, einander verschiedene Rollen zuteilten und diese vor arglosen Zuschauern spielten.44 Die Antwort auf die Frage, wer Karinthy und Esti sind, kann man nicht im Personenlexikon (who’s who), sondern buchstäblich in den Buchstaben finden, oder wie Kosztolányis Erzähler über seinen Freund sagt: „Wer er für mich war und was er war, das ließe sich nur schwerlich von A bis Z erzählen.“45 Der Ehebund basiert, genauso wie das Bündnis („frigy“) der beiden Freunde, in diesem Fall auf einem Namen („Frigyes“), dessen semantisches „Verhalten“ in seiner Sprache unübersetzbar ist. Heike Flemming, die deutsche Übersetzerin von Esti, kommt jedoch der Bitte nach und übersetzt den Satz: „Es winkt eine himmlische Hand, die Ehe wird glücken“. Durch dieses Gegen- und Zusammenspiel von Realität und Fiktion, nicht-literarischen und literarischen Texten und Kontexten werden die Grenzen des Werkes durch ihre Überschreitungen markiert und zugleich verschoben, wodurch man auch sagen kann: entweder ist alles innerhalb oder außerhalb der Literatur, es gibt nur Literatur und keine Literatur, die deshalb kein mit sich selbst identischer Bereich ist. In diesem Sinne thematisiert Esterházys Esti oft gerade „Bereiche“, die zwar seinem „Vorbild“ äußerlich bleiben, jedoch sich nicht vom „Inneren“ 43 Karinthy ist vor allem durch seine Stilparodien bekannt geworden: in seinem Buch Így írtok ti (1912) [So schreibt ihr] parodierte er Werke der ungarischen und der europäischen Literatur, unter anderem auch den ersten Gedichtband von Kosztolányi, A szegény kisgyermek panaszai [Klagen des armen Kindes], dessen Titel Karinthy auf folgende Weise umschreibt: A szegény kis trombitás szimbolista klapec nyöszörgései [Das Ächzen des kleinen armen symbolistischen Trompetenburschen]. Kosztolányis bekanntester Scherz ist ein Spottgedicht, „Nyár nyár nyár“ [Sommer Sommer Sommer], das er an seinen Freund adressiert und dessen Anfangsbuchstaben die folgende „Nachricht“ enthalten: „Nyald ki a seggem Karinthi“ [Leck mich am Arsch Karinthi]. Kosztolányi: „Nyár, nyár, nyár“. 44 Dazu siehe: Kosztolányi Dezsőné: Kosztolányi Dezső, 194; Arany: Kosztolányi Dezső élete, 83–88. Auch Kosztolányis Esti „verwickelte“ den Erzähler-Freund „in irgendwelche Skandale“: „Zum Beispiel riß er beim Spazieren, während wir nebeneinander hergingen, unvermittelt ein Küchenmesser aus der Innentasche seines Jacketts und begann es zur Verblüffung der Passanten am Randstein zu wetzen. Oder er wandte sich sehr höflich an einen armen Blinden, er möge das Staubkorn entfernen, das ihm eben ins Auge geflogen sei.“ Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 7. 45 Ebd., 9.
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des Textes unterscheiden lassen. Solche Spuren von „Jenseits“ des Textes und der Sprache melden sich in Esti in verschiedenen Formen und Variationen:46 entweder in erzählerischen Reflexionen, die auf die Grenzen der Sprache hindeuten, oder in bestimmten Motiven, die scheinbar das „Geheimnis“ der ursprünglichen Geschichte erzählen.47 „Esti umgab sich mit Wörtern, er war sogar der Meinung, die Welt bestehe aus Wörtern. Nun, dazu hätte ich doch einiges zu sagen. Zum Beispiel, gerade im Zusammenhang mit dem Alter, der Tod. Der Tod ist nicht einfach ein Wort. Bitte ausprobieren. Oder das, was auf dem Klo stinkt.“48 Die Unhintergehbarkeit der Sprache wird in ihren ironischen Reflexionen sowohl bejaht als auch verneint, was zugleich den Sinn bzw. den Wahrheitswert der metareflexiven Behauptungen suspendiert: Man kann weder die Universalität noch die Gegenständlichkeit der Sprache (oder der Wörter) behaupten, ohne sich dabei in – hier ironisch reflektierte – Widersprüche zu verwickeln, und zwar weil dieser Behauptung dieselbe Ambivalenz innewohnt: Wörter können sowohl als Instrumente als auch als Medien fungieren, sie sind intransparent und transparent zugleich. Die erzählerische Perspektive bzw. die Selbstpräsentation des Erzählers werden auch durch diese sich gegenseitig bedingenden Tendenzen der Sprache und ihre Hin-und-Her-Bewegung bestimmt. So etwa wird die Ordnung der Welt bzw. Estis Weltansicht in mehreren Kapiteln als eine selbstverständliche und natürliche, nicht reflektierbare Totalität und dadurch als eine sprachliche Welt dargestellt, die auch sein Verhältnis zu den Dingen prägt. Dem widerspricht nur scheinbar, dass diese Geschichten in der Regel
46 Das „Jenseits“ und die Grenzen der Sprache, die aber gleichsam noch nicht oder nie festgestellt sind bzw. nicht im Voraus feststehen, sondern in ihrer eigenen Überschreitung jeweils ereignishaft und deshalb unvorhersehbar entstehen, spielen nicht nur in Esti, sondern auch in Esterházys anderen Texten eine zentrale Rolle. Zu diesem sprachtheoretischen Problemkomplex in den „Akten“ des „Schweigens“ bei Esterházy siehe Lőrincz: „Figurationen des Schweigens“. 47 Auch „Geheimnisse“ erscheinen in Esti in verschiedenen „Größen“, etwa im sechsten Kapitel („in welchem Das ungeheure Geheimnis des Kornél Esti“), in dem Esti sein Geheimnis (einen Traum) gerade deshalb (gescheitert) preisgibt, damit es nicht zum Geheimnis wird: „Vergeblich offenbarte ich etwas, gerade weil ich befürchtete, es könnte ein Geheimnis werden, meine Kinder rümpften die Nase und zischten im Wesentlichen, dass sie auf meine Geheimnisse nicht neugierig seien.“ Esterházy: Esti, 185. Ein Geheimnis bleibt im strengen Sinne nur solange ein Geheimnis, bis es erzählt, d. h. auf irgendwelche Weise (wenn auch vertraulich oder sich selber) sprachlich vermittelt wird. Was als „Geheimnis“ preisgegeben wird, ist im strengen Sinne kein Geheimnis mehr; die Erzählung eines Geheimnisses hebt sich selbst auf, welcher Vorgang jedoch einen Zuhörer, ein offenes Ohr oder ein Hören-Wollen voraussetzt – diese Widersprüche des (Nicht-)Sprachlichen kommen am komplexesten im neunten Kapitel von Esti Kornél zur Sprache. 48 Esterházy: Esti, 149.
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gleichsam die Kehrseite ihres Vorbildes erzählen. Ein Kapitel von Esterházy schreibt den Anfangssatz des dritten Kapitels von Esti Kornél als dessen ausgeschlossene, unmarkierte Seite fort, in dem Esti durch seinen Vater vor eine Entscheidung gestellt wird, die auch die spätere Entwicklung der (Anti-Reise-) Geschichten bestimmt: Als Kornél Esti 1903 beim Abitur praeclare maturus wurde, ließ ihm sein Vater die Wahl: entweder er würde ihm das phantastische Fahrrad kaufen, das schon lange sein Herzenswunsch war, oder er gab ihm das Geld, hundertzwanzig Kronen, bar in die Hand, und er durfte damit reisen, wohin es ihm beliebte. Esti entschied sich für das zweite. Aber nicht ohne langes Zögern und seelisches Ringen.49
Indem sich Esterházys Esti für den Fahrradkauf entscheidet, bleibt die Erzählung außerhalb und zugleich innerhalb der fiktiven Welt, deren Grenzen nicht überschritten oder nur überschritten werden können. Das Objekt seines „Herzenswunsches“ bedeutet für Esti die Welt: „Esti wollte etwas, das Fahrrad, dieses Fahrrad, und was jenseits davon lag, das sah er nicht [. . .]. Wir könnten das Fahrrad das Nichtweiter seiner Sehnsüchte nennen“.50 Die scheinbare Natürlichkeit des Verhältnisses zu den Dingen und der Welt wird hier auch als eine Konventionalität des Erzählens enthüllt, was unter anderem durch eine „unangemessen spielerische, aber nicht fahrlässige, weil präzise Parallele“51 mit dem erzählerischen Verfahren von Imre Kertész Roman eines Schicksallosen verdeutlicht wird, deren Wirkung auch auf der Spannung zwischen Literatur und ihrem Kontext bzw. auf der Diskrepanz zwischen der ahnungs- und erwartungslosen sowie „natürlichen“ Sichtweise des erzählenden Protagonisten und dem Wissen bzw. den Erwartungen des Lesers beruht:52 Es ging ihm damit [. . .] wie dem jungen Helden jenes ungarischen Romans mit dem Konzentrationslager [. . .], [sie] sahen, dass die Welt ist, wie sie ist, und infolge ihrer Unvoreingenommenheit und Aufmerksamkeit kamen sie nicht einmal auf die Idee, überrascht oder befremdet zu sein [. . .] Die Welt ist so, stellt der eine von ihnen fest, dass man früher oder später ins Lager gebracht wird, das ist normal, das ist der Lauf der Dinge, oder die Welt ist so, Esti nickte bedächtig, dass [ . . . .] in ihr dieses Fahrrad möglich ist.53
Das verstehende Verhältnis zur Welt widersteht der Reflexion, weshalb sie in den erzählerischen Reflexionen nur widersprüchlich thematisiert werden kann.
49 Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 37. 50 Esterházy: Esti, 123. 51 Ebd. 52 Szirák: „Im Sog des Schrifttextes“, insbes. 529–531, bzw. Szirák: Kertész Imre, 48–59. 53 Esterházy: Esti, 123.
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Indem der Erzähler die natürliche Ordnung von Estis Welt darstellt, thematisiert er ein Verhältnis, das jedoch nicht thematisierbar oder als solches wahrnehmbar ist, das es streng genommen nicht bzw. nur durch den Akt des Erzählens gibt oder das erst dadurch geschaffen wird. Dies lässt auch die Widersprüchlichkeit der häufigen Feststellungen „so ist die Welt“ bzw. „so ist das Leben“ hervortreten, deren Ambivalenz bei Kosztolányi vor allem im neunten Kapitel, bei Esterházy aber im ganzen Buch eine zentrale Rolle spielt. Diese allgemeine Feststellung, die sich bereits bei Kosztolányi als leer bzw. beliebig interpretierbar erweist, dient bei Esterházy oft dazu, die Unmöglichkeit der Reflexion des Ganzen sowie der Totalität (der Sprache, des Textes oder eben der „Welt“) zu signalisieren, wie etwa am Anfang des vierten Kapitels, in dem sich Esti, „dieser aus Worten gewobene Mann“, plötzlich mit anderen Attributen wiederfand: „Er mochte auch seine neuen Attribute. So ist das Leben, dachte er sich, beziehungsweise dachte er nichts, so ist das Leben.“54 Esti akzeptiert alles „unbesehen beziehungsweise ungehört“, passt sich seinen immer verändernden Kontexten, Attributen und „Lebensbedingungen“ an, insofern er – eine häufige und ebenso aus dem neunten Kapitel entlehnte Geste in Esti – „nickt“. Esti wechselt von Geschichte zu Geschichte und auch manchmal innerhalb einer Geschichte oder sogar eines Satzes seine Eigenschaften (Alter, Nationalität, Geschlecht), seine Umgebung (Sprache, Land, Zeitalter), die somit oft als arbiträr, konstruiert, artifiziell, austauschbar oder inszeniert erscheinen.55 Die Figur von Kornél Esti ist, noch bevor er als Held oder als Erzähler seiner Geschichten erscheint, ein Name, eine Figur des Eigennamens, die – im Unterschied etwa zu den Gattungsnamen – keine feste Bedeutung zu besitzen scheint: Esti ist ein Name, der zwar schon besetzt ist, der aber neckisch von sich behauptet, er sei leer, zu füllen, noch (immer noch!) unbestimmt, er sagt: Sei das Unendliche. Nennt mich Kornél Esti. [. . .] an Estis Stelle war nichts, nicht einmal ein schwarzes Loch. Schließlich war auch dieses „nicht einmal“ Kornél Estis schönes Leben, das auf das Unendliche verstörende Nichts, das mit dem Nichts drohende Unendliche.56
Erst wenn das Wort (ein)geschrieben ist, wird offensichtlich, dass sein Referent nicht bloß abwesend, sondern gleichsam „leer“ ist, welche Leere jedoch nie als solche wahrnehmbar ist („nicht einmal“ als „schwarzes Loch“). Denn selbst die Feststellung der Leere füllt die Leere aus, selbst die negative Bestimmung des „nicht einmal“ ersetzt das „verstörende Nichts“ und macht dadurch die Erzählung
54 Ebd., 159. 55 „ich blickte aus dem Fenster, und wie auf den Wink eines schlechten und vor allem geschmacklosen Regisseurs kam die Märzsonne heraus“ Ebd., 134. 56 Ebd., 16.
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des Lebens zu einer unendlichen und unmöglichen Aufgabe. Das Unwiederholbare und das Wiederholbare, das Unersetzbare und das Ersetzbare sowie das Singuläre und das Allgemeine, die beiden entgegengesetzten Aspekte der Sprache, erinnern gleichermaßen an ihre inskriptionelle Leere, ihre fehlenden Grundlagen und somit ihr sprachlich-konventionelles Entstehen. Vor allem im letzten Teil von Esti häufen sich die metareflexiven Gesten, die das „Leben“, das auch bei Kosztolányi auf die andere, unerreichbare Seite des Schreibens und der Literatur hinweist („Ein einzelner Mensch ist zu schwach, um gleichzeitig zu schreiben und zu leben“), immer wieder als eine inskriptionelle Leere enthüllen und es somit letztendlich im Bereich der Sprache oder genauer: der Schrift situieren. So lautet etwa nach dem ersten Fragment „Das abenteuerliche Leben des Kornél Esti“: „Kornél Esti lebte, dann starb er. Das ist (wurde, war, wird) Kornél Estis Leben.“57 Das „Leben“ wird durch die Erzählung bzw. die Schrift gesetzt und vorausgesetzt und deshalb zugleich wiederholt und verschoben. Einerseits kann die Unterscheidung von Leben und Schreiben allein durch die Schrift vollzogen werden, andererseits ist der Vollzug der Unterscheidung nichts anderes als das Leben selbst: „Esti hatte diese große, große Fähigkeit, Distanz zu schaffen. Abstand zu halten. Nur: wovon? Von wo wird der Abstand gemessen? Vom Leben, haben die Theorieexperten die Antwort parat. Nur gerade diese Distanz ist sein Leben geworden. Schreibe, und jammere nicht.“58 Dieses Spiel mit den Paradoxien der Sprache, die in Esti die mimetische Illusion sowie das Lesen unerwartet und immer wieder unterbrechen und für plötzliche und überraschende Bedeutungseffekte sorgen, wird also erst durch das Ausschalten bzw. das Fehlen der metaphysischen Grundlagen möglich, die somit nicht mehr für die Sinngebungsprozesse einstehen können. Das integrative Prinzip und die vereinheitlichende Funktion des Autors, des Subjekts oder des Sprechers werden durch die Sprachspiele untergraben und erweisen sich selbst als Effekte einer Interpretationsarbeit, die aber schon durch den Leser selbst als einen „Mitautor“ des Werkes vollzogen werden soll. Das dialogische Verhältnis von Denken und Sprache, das sich bei Kosztolányi unter anderem als eine teilweise Austauschbarkeit der Perspektiven von Erzähler und Helden zeigte, wird in Esti radikalisiert und auf alle Komponenten der Erzählung übertragen: Die Erzählung des Lebens ist ein unabschließbarer Schreib- bzw. Interpretationsprozess, der erst durch die Leere, Abwesenheit oder Unerreichbarkeit seines Signifikats (d.i. des Lebens) möglich, aber gerade deshalb auch unmöglich wird. Im Grunde genommen werden also sowohl Kosztolányis als auch Esterházys Esti-Novellen
57 Ebd., 287. 58 Ebd., 321.
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durch dieselbe Tendenz bestimmt: durch das Sich-Entziehen der Sprache und des Lebens als Spur im Spiel der différance (Derrida), was bei Esterházy in gewisser Hinsicht radikaler, weil schon auf allen Ebenen der Erzählung unverkennbar zur Geltung kommt. Die Sprache wird problematisiert und tritt als solche hervor, um sich im gleichen Zuge zu entziehen und das von ihr Gesetzte auszulöschen. Dass der Vollzug dieser Bewegung bei Kosztolányi weniger offensichtlich ist, spricht jedoch nicht unbedingt gegen, sondern womöglich für seine Konsequenz. Dies könnte man unter anderem am neunten, mittleren (es gibt insgesamt achtzehn), und auch für Esti in mehrerer Hinsicht zentralen Kapitel des Esti Kornél prüfen. Dieses Kapitel, „in welchem [Esti] mit dem bulgarischen Schaffner bulgarisch plaudert und den wonnigen Schauder babylonischer Sprachverwirrung genießt“, ist durch ein spannungsvolles Zusammenspiel von Wissen und Glauben organisiert. Esti „weiß gar nicht, warum, aber [er] beschloß“,59 auf der Zugfahrt durch Bulgarien mit dem Schaffner, dessen Sprache er – bis auf ein paar Wörter wie Ja und Nein – nicht versteht, „zu plaudern, und zwar lange und ausgiebig“. Esti simuliert das Sprechen und das Verstehen, ohne die Sprache des Anderen zu verstehen; er gibt sich durch Schweigen und vorgespielte Gesten des Fragens, der Bejahung und der Verneinung als Muttersprachler aus und gewinnt dadurch das volle Vertrauen seines gesprächigen und nichts ahnenden Opfers. Ein Gespräch oder genauer: Die Illusion eines Gesprächs kommt merkwürdigerweise zustande, ohne dass Esti entlarvt wird. Die Erzählung organisiert sich somit um einen blinden Fleck, der jedoch nicht mit sich selbst identisch und dessen „Ort“ nicht bestimmbar ist. Denn Estis Geheimnis, das er nur seinen Lesern bzw. Zuhörern enthüllt, ist aus dem Gesichtspunkt des Schaffners kein Geheimnis, wie auch das „Geheimnis“ des Schaffners in der Tat kein Geheimnis ist. Worüber er erzählt, bleibt Esti und dem Leser eine ewige Frage,60 auch wenn er nichts verheimlicht, sondern ganz im Gegenteil: Er erzählt eine/seine Geschichte, schüttet sein Herz aus. Seinen Zuhörern also, die Esti als „Freunde“ anspricht, enthüllt er, vor dem Schaffner hingegen bewahrt er sein Geheimnis, das ferner ein Wissen und zugleich ein Unwissen, eine Fähigkeit und zugleich eine Unfähigkeit ist: Esti spielt seine Rolle „sicher und fehlerfrei“,61 er ist zwar seinem Gesprächspartner in gewisser Hinsicht überlegen, allerdings um den Preis einer „vornehme
59 Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 159. 60 „Der Schaffner redete und redete. Wovon? Das hätte mich selbst wundergenommen. Vielleicht von der Verkehrsordnung, vielleicht von seiner Familie und seinen Kindern, vielleicht vom Rübenbau. Es ist alles möglich. Nur der liebe Gott vermöchte zu sagen, wovon er redete.“ Ebd., 163. 61 Ebd., 160.
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[n] Einsamkeit“ bzw. einer geistigen Taubheit, die ihm keine andere Wahl lässt, als alles „unbesehen“ und „ungehört“ zu akzeptieren: Es ist ein ungeheures Vergnügen, in der Fremde so herumzulaufen, daß einen der Lärm der Münder gleichgültig läßt und man jeden, der einen anredet, blöde anstarrt. Was für eine vornehme Einsamkeit, Freunde, was für eine Unabhängigkeit und Sorglosigkeit. Mit einem Mal fühlt man sich als unmündiger Säugling. Es erwacht ein unerklärliches Vertrauen in die Erwachsenen, die soviel klüger sind. Man überläßt das Reden und das Handeln ihnen. Und akzeptiert alles unbesehen beziehungsweise ungehört. [Hervorhebung – H. H.]
Esti, der freiwillig und aus „Vergnügen“ die Rolle des Unmündigen wählt, liefert sich selbst dem Schaffner aus, der – wenn auch auf eine andere Weise – Esti ausgeliefert ist: Er hat keine andere Wahl, als ohne Nachfrage an das Sprach- bzw. Urteilsvermögen seines Gesprächspartners zu glauben und dieses wörtlich ungehört zu akzeptieren. Esti glaubt seine Distanz und Unabhängigkeit bewahren zu können, bis das Gespräch eine unerwartete Wendung nimmt. Als der Schaffner am Ende seiner – wie Esti sie wahrnimmt – „gemütliche[n], fröhliche[n], langatmige[n] und zusammenhängende[n]“62 Geschichte zuerst in Lachen und – nachdem er Esti einen Brief, ein Hundephoto und zwei grüne Knöpfe zeigt – in Weinen ausbricht, wird klar, dass durch das Gespräch – wider seine Erwartung und seinen Willen – auch Esti in einen schwindelerregenden Wirbel von untrennbaren Gegensätzen, von Wahn und Gesundheit, Teilnahme und Distanz, Bejahung und Verneinung gerät,63 in dem er zwar nicht zwischen Ja und Nein oder Annahme und Ablehnung entscheiden kann, aber doch genötigt ist zu entscheiden und dem Schaffner etwas zu antworten. Seine – weder sinnlich-ästhetisch noch moralisch begründbare – Entscheidung („[ich] warf ihm einen stummen Blick zu, der ausdrückte: ‚Was du getan hast, ist nicht schön, doch Irren ist menschlich, und für diesmal will ich dir verzeihen.‘ Und auf bulgarisch rief ich ihm ein Wort zu: Ja!“)64 hat zwar anscheinend günstige
62 Ebd., 163. 63 „Ehrlich gesagt, mir begann zu schwindeln von der tiefen, unauflösbaren Wirrnis des Lebens. Was war denn das? Wie hingen die vielen Wörter mit dem Lachen und dem Weinen zusammen? Was hatte eines mit dem andern zu tun, der Brief mit der Hundephotographie, die Hundephotographie mit den zwei grünen Hornköpfen und alles zusammen mit dem Schaffner? Was es Wahn oder gerade sein Gegenteil, das menschlich gesunde Überquellen der Gefühle? Hatte das Ganze überhaupt Sinn, auf bulgarisch oder sonst in einer Sprache? Er war zum Verzweifeln.“ Ebd., 166. 64 Ebd., 167.
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Wirkung,65 die aber – wenn auch wieder aus unterschiedlichen Gründen – ebenso unergründbar und offen bleiben muss und mit dem Rezipienten des Wortes gleichsam spurlos verschwindet. Die Illusion des Gesprächs wird von Anfang an durch die unmerkliche Austauschbarkeit von Gegensätzen bzw. dadurch ermöglicht, dass das Fehlen von Wörtern sowohl Verstehen als auch Nicht-Verstehen, sowohl Wissen als auch Unwissen, sowohl Annahme als auch Ablehnung verraten oder tarnen kann. „Das Ja ist meistens auch ein Nein“,66 und das Ja heißt auch immer: „so ist das Leben“: „Ja, murmelte ich, ja, ja – teils im Ton einer Feststellung, teils im Ton der Widerrede, teils im Ton einer Frage. Dazwischen schüttelte ich den Kopf, als wollte ich sagen: bezeichnend oder: unerhört oder: so ist das Leben. Es gibt im Leben keine Situation, zu der das nicht passen würde. Wenn jemand stirbt, noch dann sagt man: so ist das Leben.“67 Die Austauschbarkeit von Ja und Nein bzw. von Wörtern, Eigenschaften, Ansichten oder Standpunkten erstreckt sich auch auf andere Komponenten der Erzählung: Das Wort „Ja“ und die Redewendung „so ist das Leben“ können durch ihre leere Allgemeinheit jede Leerstelle füllen; die konkrete Situation, auf die sie antworten, ist genauso austauschbar wie die – im gewissen Sinne auch ungehörte oder unerhörte und bezeichnende – (Lebens-)Geschichte des Schaffners, deren Leerstelle (ein Geheimnis und sein Geheimnis) durch verschiedene Hypothesen konkretisiert werden kann. Diese Erzählung enthüllt und zeigt also nicht nur die paradoxe und widersprüchliche Konstitution der Sprache, nach der sie jederzeit entleert, jedoch nie als bloße Leere aufgezeigt werden kann, sondern auch die Unkontrollierbarkeit und Unberechenbarkeit ihrer Bedeutungseffekte, die über die Erzählung und die Sprache hinausweisen und selber nicht erzählt, aufgezeichnet oder schriftlich fixiert werden können. Für die Möglichkeit der Unterbrechung der Kontinuität des Sinnes bzw. des Bandes oder des konventionellen „Paktes“ (des einen Aspekts der „Freundschaft“ zwischen Leser und Erzähler), die permanent und somit auch jenseits von Erinnerungszeichen besteht, lieferte auch Esterházys Esti mehrere und sogar komplexere, weil auch die Textkonstitution betreffende Beispiele,68 insofern man bei
65 „Es war von zauberhafter Wirkung. Der Schaffner entkrampfte sich, entwölkte sich, war wieder ganz der alte. Über sein Gesicht ging ein dankbares Lächeln. Er salutierte in strammster Haltung. So stand er am Fenster, vor Glück erstarrt, die ganze Zeit, bis der Zug abfuhr und er ewig, auf immer und ewig aus meinen Augen verschwand.“ Ebd. 66 Ebd., 162. 67 Ebd., 165. 68 Über diese Komplexität der Selbstreflexivität hinaus machte Ernő Kulcsár Szabó in seinem jüngsten Beitrag auf eine andere Art von Komplexität in Esterházys Schreibweise aufmerksam,
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ihm sogar den Akt des Erzählens als eine unabschließbare Verschiebung und Wiederholung solcher Spuren interpretieren konnte.69 Kosztolányis Erzählung bzw. deren Lesbarkeit basiert aber letztendlich auf einer Bedingung, die jeder Reflexion oder Problematisierung der Sprache vorausgeht, insofern sie nicht mehr an die Sprache erinnert bzw. an die Sprache nicht mehr erinnert, sondern sie rest- und spurlos vergisst. Obwohl sowohl Esti als auch der Schaffner – wenn auch jeweils auf andere Weise – im Irrtum sind (sie täuschen oder irren sich, täuschen und werden getäuscht), gibt es für Esti und den Leser eine – wenn auch sich entziehende – Spur (z. B. die Erzählung), die durch die Unzuverlässigkeit der Sprache auf die Unergründlichkeit der Erkenntnis und des Wissens hinweist. Den Horizont des Schaffners, jedenfalls von der Erzählung her betrachtet (und es gibt keine andere Möglichkeit der Betrachtung), bildet hingegen das Nichtwissen eines Nichtwissens oder ein Irrtum, der zwar immer und jederzeit möglich ist, aber keinerlei Spuren hinterlässt. Was mit Esti passiert ist, kann er und muss er sogar erzählen,70 aber was mit dem Schaffner passiert, kann jedem passieren, ohne dass man weiß, dass etwas (etwa die Täuschung oder die Erzählung einer Täuschung bzw. die Erzählung als Täuschung) passiert ist. Diese Möglichkeit ist der Erzählung als der Möglichkeit der Täuschung bzw. dem Spiel dennoch nicht äußerlich (obwohl sie nicht der Erzählung gehört): würde der Schaffner Esti kein Vertrauen schenken, käme das Spiel nicht zustande und wäre nichts zu erzählen, gäbe es keine Erzählung. Diese „Bedingung“ der Erzählung und der Sprache kann im Gegensatz zu ihren fehlenden (metaphysischen oder anderen) Grundlagen durch keine Zeichen, Inkongruenzen, Unterbrechungen oder Spannungen reflektiert werden. Diese beiden Perspektiven, also die Erinnerung an
die nicht allein die Reflexionen der Schrift oder des Schreibbaren, sondern vielmehr die Modalität der Erzählung betrifft: eine ungreifbar „graziöse“ Flexibilität und „Gleichgewicht“ zwischen Schreibbarem und Sagbarem sowie von nicht-markierbaren Sprechweisen (Intonation, Akzent- und Tempowechsel, Tonalität in Verbindung mit der Mehrdeutigkeit von Grammatik und Satzzeichen). Kulcsár Szabó: „‚Graziöse‘ Ungebundenheit“. 69 Obwohl also die sprachliche Bedingtheit bei Kosztolányi noch nicht als textuelle Bedingtheit zur Geltung kommt, implizieren die Esti-Novellen eine nicht minder konsequente Sprachauffassung. Die Sprache bedeutet auch in diesem Fall die unhintergehbare, ereignishafte, nicht begründbare und deshalb gleichsam „unmögliche“ Möglichkeit des Textes, deren Konsequenzen sich im Esti-Korpus in mehreren Zusammenhängen zeigen lassen. Dazu siehe Lőrincz: „In der Erprobung der Sprache“; Lőrincz: „Nyelvigazságosság“. 70 „‚Das muss ich euch erzählen‘, sagte Kornél Esti.“ – so wird Esti am Anfang der Erzählung vom Erzähler zitiert, und etwas später sagt er: „In Bulgarien verbrachte ich insgesamt vierundzwanzig Stunden. Da ist mir etwas zugestoßen, das zu verschweigen schade wäre. Ich könnte jederzeit sterben – im Herzen oder im Gehirn platzt eine Ader –, und jemand anderer, da bin ich sicher, wird so etwas nicht erleben, nie.“ Kosztolányi: Ein Held seiner Zeit, 159.
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die sprachliche Bedingtheit einerseits und ihr unmerkliches Vergessen andererseits arbeiten sowohl in Esterházys als auch in Kosztolányis Esti-Novellen mit verschiedenen Akzenten „mit“. Was jedoch beim Lesen von Esti leicht in Vergessenheit geraten kann, ist die Ambivalenz oder die doppelte Funktion der Aufrechterhaltung der mimetischen Illusion: jene Art der Sprachvergessenheit, die die nicht formalisierbare Bedingung jeder Sprachverwendung ist.
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Regionale Konstellationen der literarischen Kommunikation
Ágnes Balajthy
Die neu definierten Traditionen der Reiseliteratur in dem Roman Donau abwärts von Péter Esterházy Wohin man reisen muß. – Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. [. . .] man reisen müsse, wie Altvater Herodot reiste [. . .] Es leben sehr wahrscheinlich die letzten drei Jahrhunderte in allen ihren Kulturfärbungen und -strahlenbrechungen auch in unsrer Nähe noch fort: sie wollen nur entdeckt werden. [. . .] Wer, nach langer Übung in dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird seine Io – ich meine sein ego – endlich überall hinbegleiten und in Ägypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge die Reise-Abenteuer dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches)
1 Über Reiseliteratur Mit seinem 1991 veröffentlichten Roman Donau abwärts pflegt Esterházy eine kulturelle Tradition, die vermutlich bis zu den Anfängen der Literaturgeschichte zurückreicht. Trotz des Universalcharakters dieser Tradition handelt es sich hierbei um eine kulturelle Praxis, die je nach Epochen in verschiedenen Formen vorhanden ist und deren literarische Repräsentationen parallel zu der Gestaltung dieser Praxis immer wieder nach neuen Mustern strukturiert wurden und werden. Nietzsches oben zitierte Worte vom Ende des 19. Jahrhunderts deuten bereits auf einen komplexen und bis in die kleinsten Details ausgearbeiteten Reisebegriff, in dem die früheren Auffassungen kulminieren: Auf einer Entdeckungsreise begegnen wir nicht nur Gegenden, sondern auch der durch diese Reisen erschlossenen Vergangenheit, in deren Kontext sich Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition immer wieder verändern. Parallel zur Umwandlung der Reisepraxis und zur Verbreitung des Massentourismus, der schon zu Nietzsches Zeit in einer gewissen Form vorhanden war, wurde nicht nur die Reise nach und nach organisierter und zunehmend institutionell kodiert, sondern auch die Reiseliteratur selbst wandelte sich. Dabei gab es
https://doi.org/10.1515/9783110618082-017
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immer eine Trennlinie zwischen eher pragmatisch ausgerichteten Schriften und Texten, die die Thematik des Reisens in komplexen semiologischen Zusammenhängen behandeln. Sie wurde mit der Zeit zwar markanter, konnte jedoch noch immer nicht eindeutig identifiziert werden. Besonders problematisch ist es, zu beschreiben, worin Reiseliteratur eigentlich besteht, denn sogar die einschlägigen Definitionen weisen eher auf die Hybridität dieser literarischen Tradition hin. Mary Baine Campbell spricht beispielsweise von einer „aus anderen Gattungen geborene Gattung“.1 Unter literaturgeschichtlichem Aspekt darf weiterhin nicht verschwiegen werden, dass die Entstehung der Reiseliteratur und die des modernen Romans eng miteinander verflochten sind.2 Jan Brom versucht, sich über die verschiedenen Definitionen einen Überblick zu verschaffen, indem er sich für die Unterscheidung zwischen einer nicht vorwiegend fiktional ausgeprägten Gattung (travelogue) und einer breiteren thematischen Kategorie fiktionaler und nicht fiktionaler Werke (travel writing) einsetzt. Er weist aber auch darauf hin, dass in dieser Hinsicht fiktionale und nicht-fiktionale Elemente schwer voneinander zu trennen sind.3 Betrachtet man jedoch die Anfänge der Reiseliteratur im Kontext der Medialitätsgeschichte, das heißt, untersucht man, mit welchen Strategien die verschiedenen Texte auf die Veränderungen reagierten, die infolge der Verbreitung der optischen Medien in der medialen Vermittlung von Reiseerfahrungen stattfanden, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Im „travelogue“ gewinnt die Visualität neben der Schriftsprache immer mehr an Bedeutung. Durch die Verflechtung von Text, Fotos und Karten kommt ein multimediales Produkt zustande, das die schnelle Identifizierung der von Touristenblicken erfassten Räume ermöglicht und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine Fremderfahrung schafft, die mit dem Subjekt nur oberflächlich in Berührung kommt und leicht zu rezipieren ist. Willy Michel schildert hierzu, dass der literarische Reisebericht hingegen nicht über die entdeckten Gegenden und Kulturen informiert, sondern auf Grund des medialen Funktionswandels eher die Mechanismen der Fremdwahrnehmung erkundet, wobei der Reisebericht weitgehend das Ausdruckspotenzial des eigenen Mediums nutzt.4 Der ungarische Literaturwissenschaftler Péter Szirák bemerkt hierzu: Der literarische Reisebericht ist nicht von demselben Nutzen wie ein Baedeker-Reiseführer, da er eben die Schwierigkeiten der Perzeption und der Sinnstiftung, d. h. das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden erforscht.5
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Zitiert in Borm: „Defining Travel“, 14 f. Pordzik: The Wonder, 3–4. Borm: „Defining Travel“, 14–15. Michel: „Modelle der Fremdwahrnehmung“, 255–256. Szirák: „Az utazás melankóliája“, 419.
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Dieses wechselseitige Verhältnis nimmt im hier zu behandelnden EsterházyRoman eine Schlüsselposition ein. Seine Gestaltung lädt zur Deutung im weltliterarischen Kontext ein und reiht das Werk gleichzeitig in die am Ende des 20. Jahrhunderts durch Claudio Magris, Italo Calvino und Christoph Ransmayr gekennzeichnete Prosatradition ein, für die ein zunehmendes Interesse am Thema Reisen charakteristisch ist. Während sich der Text eine feste Position innerhalb „der regionalen Postmodernität“6 verschafft, kann er ebenfalls als die Wiederbelebung einer in der ungarischen Literatur für Jahrzehnte verschwundenen Tradition eingestuft werden. Nach Sándor Márai und Dezső Kosztolányi, deren Texte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Reiseerfahrungen eingehend und abwechslungsreich beschreiben, folgte nämlich eine lange Epoche ohne Reiseliteratur in diesem Sinne, die erst mit dem Erscheinen des Romans Donau abwärts endete, der sich zwar von einer anderen Warte aus, aber nicht mit einem geringeren Anspruch als Kosztolányi mit dem Wesen der Reise auseinandersetzt.
2 Reise und Selbstreflexion Mit dem Titel dieses Romans verknüpft sich die wohlklingende, wenn auch vielleicht überstrapazierte Bezeichnung „Donau-Roman“ – ähnlich wie Ein Produktionsroman als der „Fußballroman“ und Harmonia Caelestis als der „Vaterroman“ bezeichnet wird. Die Verkoppelung von Ort und Gattung passt aber in den vom Roman geschaffenen Kontext hinein. Dieses Attribut zeigt, dass sich die Donau im Roman als Textstelle (?) im doppelten Sinne des Wortes offenbart. Aus zahlreichen Anekdoten, Erzählungsfragmenten und fiktiven Briefen entfalten sich die zwei (oder unzähligen) Donau-Abenteuer so, dass der Bericht zu einer Wanderung zwischen Texten, Diskursen und Zeitepochen wird. Selbst dieser wissenschaftliche Beitrag, der sich als Bericht über diese „Wanderung zwischen den Texten“ lesen lässt, beweist wohl, wie schwer man sich von der Romansprache befreien kann, die die Reise und die Textgestaltung miteinander in Verbindung setzt und die Reisebegriffe in eine Metafiktion verweist. Die metaphorische Gleichsetzung von Schreiben/Lesen und Reise beruht in der europäischen (durch den Buchdruck geprägten) Kultur allem Anschein nach auf der Vorstellung einer linearen Fortbewegung. Dass die visuelle Wahrnehmung bei beiden Tätigkeiten eine große Rolle spielt, trägt zu dieser Gleichsetzung wesentlich bei. Die Reflexion über diese Analogie ist in den literarischen Werken
6 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 230–231.
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schon längst nachzuweisen. Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht, zehn Jahre vor dem Esterházy-Roman erschienen, konnte das poetische Potenzial in der Analogie Lesen–Reisen ausgesprochen produktiv ausnutzen. Dass sich der vorliegende Roman einer besonders reichen und ausgedehnten Tradition anschließt, indem er den in der mitteleuropäischen Kultur dominanten Donautopos einbezieht, kündigt der Text selbst an: Da begriff ich, daß ich von diesem Fluß alles bekommen würde, Auskunft über Berge und Wasser, Geschichte, Volkskunde, Fremdenverkehr, samt Anekdoten, Hoffnungen und Toten, alles würde da sein, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft [. . .] und Fischsuppe, und Menschen würden sein. (31)7
Semantisch sind diese Begriffe nur ziemlich locker verbunden, es ist vielmehr die diskursive Macht der Sprache, die sie nebeneinander anordnet. Der Text inszeniert, wie an mehreren Textstellen hervorgehoben wird, die Donau mit Hilfe von Anspielungen auf die ungarischen Dichter Csokonai, Kölcsey und József als „eine Fiktion“ (20). Eine traditionelle Voraussetzung für die Rezeption der Reiseliteratur ist, dass die im Buch dargestellten Länder, Städte und Gebäude auch außerhalb der Textwelt existieren und also vom Leser besichtigt werden können, so argumentiert Charles Grivel in seiner interessanten Studie Reise-Schreiben, in der er zu der reinen Referenzialität des Reiseberichtes Stellung nimmt.8 Am Beispiel der Definitionsversuche von Borm ist festzustellen, dass die Textfunktionen, die sich auf reale geografische Orte beziehen, das Dilemma des Wahrheitsempfindens zur Folge haben. Diese Problematik begleitet also die Geschichte der gesamten Gattung und bildet zugleich eine wichtige Grundlage für die Lesart des Romans, – die Selbstreflexion von Donau abwärts richtet sich demzufolge auch ständig auf die besondere Spannung zwischen den referentiellen und literarischen Elementen des Reiseberichts. Bei Donaueschingen zitiert der Erzähler zum Beispiel zuerst aus seinen Notizen – „Das schrieb ich in mein Heft, dort, wo die beiden Flüßchen sich vereinigen, von wo die Sache Donau genannt wird.“ (30), dann spricht er über seinen Spaziergang an der erwähnten Stelle: „Ich lief das kurze, steile Ufer hinab und schlenderte bis zum Y.“9 In diesem Kontext, der den Akt des Schreibens betont, enthüllt sich die Katachrese, die auf der Ähnlichkeit zwischen Buchstaben und Naturformen basiert. Die Beschreibung des Zusammenflusses zweier Gewässer
7 Esterházy: Donau abwärts. Die Seitenangaben im Fließtext folgen dieser Ausgabe. 8 Grivel: „Reise-Schreiben“, 631. 9 „Lefutottam a rövid, meredek parton, és kisétáltam az Y tövéig“. Esterházy: Hahn-Hahn grófnő, 27–28.
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bezieht sich nicht nur auf die beim Lesen imaginierte Landschaft, sondern gleichzeitig auf die visuelle Materialität der Beschreibung. Y ist im Ungarischen der mittlere Buchstabe des Wortes „folyó“ (Fluss). Das bemerkt sowohl der seine eigenen Notizen lesende Erzähler als auch der implizite Leser. Im Zusammenwirken von Anspielungen auf Attila József wird eine typische Reisesituation geschildert: Dort saß ich dann und blickte auf das Wasser, wie es sich mischte, versuchte, es auseinanderzunehmen, mit einiger Übertreibung: die Wassermoleküle zu erkennen, dies ist das der Breg, dies sicherlich das der Brigach, und dort!, das dort ist schon die Donau. (30)
Die Inszenierung ruft das Gedicht „An der Donau“ („A Dunánál“) wach, und das Wort Wassermoleküle selbst erinnert uns an ein anderes Gedicht, an „Eine Winternacht“ („Téli éjszaka“). Mit einem Blick, der die Technik der optischen Medien imitiert, beobachtet also der Erzähler das Wasser, in dem die Breg- und Brigach-Tropfen zur Donau werden. Während die Donau-Allegorie im Gedicht von Attila József mit dem Bild des „wirren, weisen und großen“ Flusses die harmonische Einheit von Individuum und Gesellschaft impliziert, garantiert hier die Begegnung mit der Donau und mit den von ihr wachgerufenen Überlieferungen die Integrität des Subjekts nicht, da diese Begegnung nur als Ergebnis rhetorischer Mittel zu verstehen ist: Angeblich soll man – ich weiß nicht mehr, wo ich es gelesen habe – die Donauquelle finden, indem man einen Fluß sucht, der glaubwürdig die Donau ist, und dann am Ufer entlang geht und geht, ohne Unterlaß murmelnd: Das ist die Donau, das ist die Donau. (30)
Der Text ist demzufolge das Endprodukt einer Kombination von Erzählerpositionen. Wollten wir ein Schema der narrativen Bewegungen angeben, so ist zu behaupten, dass der Leser zwei Donau-Geschichten verfolgen kann, zwischen denen dreißig Jahre liegen. Aufgrund der Anspielungen kann der Erzähler des retrospektiven Berichts über das Roberto-Abenteuer mit dem Erzähler gleichgesetzt werden, der als Erwachsener die Reise erlebt, also mit dem Reisenden selbst. Diese stark anthropomorphisierende Lesart, die sich vor allem am Gebrauch der Ich-Form orientiert, gerät jedoch ins Wanken, sind doch die Bezugselemente der Ich-Formen dank der abwechslungsreichen und wechselhaften Modalitäts- und Perspektivenwechsel des Textes nicht eindeutig zu identifizieren. Der Reisende steht weiterhin in einem ständigen Dialog mit seinem geheimnisvollen Auftraggeber. Ihm schwebten nicht nur Worte von Batsányi („Reisender begann zu reisen. Er richtete den schläfrigen Blick auf Donaueschingen“ [37]) vor, sondern auch ein Satz aus dem Märchen Robertos: „Das ist kein Märchen, plusterte ich mich sofort auf, es handelt doch von uns, denn es handelte von einem Reisenden, der an der Donau entlang reiste, ‚der den schläfrigen Blick wiederholt auf Donaueschingen richtete‘.“ (37) Die Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Kind und der Geschichte Robertos beziehungsweise
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der Mutter interpretiert ebenfalls das Verhältnis zwischen dem Reisenden und dem Auftraggeber aus einer durch den Intertext erschaffenen Distanz. Der Literaturwissenschaftler Péter Fodor hat darauf hingewiesen, dass das Verhältnis zwischen den beiden Figuren als eine Beziehung zwischen „Bericht-Erzähler und fiktivem Rezipienten“ interpretiert werden kann.10 Die eine Seite wird durch bestimmte Erwartungen („Machen Sie die Wirklichkeit wirklichkeitsgetreu“ [112]), durch das Moment des Erlebens und Einswerdens sowie durch die Präferenz einer soliden, genau festgelegten Identität gekennzeichnet. Die andere Seite hingegen zeichnet sich durch die Ablehnung von „Who is Who“-Fragen im Namen eines heterogenen Subjekts aus, das durch die performative Macht der Sprache geschaffen wurde („und den hauptsächlich dieses Ist erschuf“ [36]) Das Zitat aus den eigenen Schriften strukturiert gleichzeitig die narrativen Verhältnisse um, da der von Roberto erzählende Reisende selbst als eine Figur in Robertos Märchen erscheint, wodurch die unendliche Widerspiegelung zum wesentlichen Bestandteil der gesamten Erzählung wird. Donau abwärts ist merklich bestrebt, den metaphysischen Ursprungsbegriff umzudeuten und ihn in einen ironisch-relativierenden Kontext einzubetten. Fodor geht weiterhin darauf ein, wie das Spiel mit der Doppeldeutung des Wortes Quelle – die natürliche und die philologische – in diesen Vorgang einbezogen wird.11 Am Anfang des Buches erzählt Roberto über die Quelle der Donau, . . . er, Roberto, habe mit jener Frau gesprochen, in deren dunkler, säuerlicher Küche die, sagen wir so, Donau entspringt, obzwar es nicht ausgeschlossen sei, daß das aus der niedrigen Traufe herabrinnende Wasser die Quelle speist, aus der die Traufe ihr Wasser bezieht, so daß sich hier also gleich ein endloser Zyklus ergibt. (22)
Der Ursprung als das einzige, identische Bild des erzählerischen Subjekts wird aufgehoben: Die Textstelle, die das Konzept Fluss umdeutet und es statt einer Quelle eher als einen ständigen Kreislauf betrachtet, lässt sich als mise en abyme der Erzählstruktur des Werkes deuten. Wie die Suche nach der Donau-Quelle zeigt, kommt dem Motiv der Suche im Roman eine besondere Bedeutung zu, was mit der gattungs- und reisehistorischen Vorgeschichte zu erklären ist. Die Entdecker der früheren Neuzeit machten sich in der Hoffnung auf noch nicht eroberte Gebiete und noch nicht gefundene Schätze auf den Weg. Zweck der späteren Reiseliteratur, die sich mit dem Bildungsroman verflochten hat, wird eine Art (Selbst)Erkenntnis. Diese Tendenz wird aber durch die Stil- und Gattungsregister der Sprache des Romans Donau abwärts recht ironisch neu definiert. Die Erzählung ist – besonders bei den Abenteuern mit dem geheimnisvollen Roberto – von Wendungen aus 10 Fodor: „A közvetítés kódjai“, 55–56. 11 Ebd.
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Detektiv- und Spionageromanen durchsetzt („ich nicht behaupte [. . .] sie seien das Ehepaar Rosenberg auf der Flucht vor den FBI-Bütteln“ [51]) Die Erzählstränge finden sich nicht in einem für den Leser beruhigenden Ende zusammen. „Die Ermittlung“ wird auch als philologische Tätigkeit inszeniert. Während am Anfang des Werkes die retrospektive Erzählweise dominiert, herrscht im dritten Kapitel die wissenschaftliche Objektivität, gekennzeichnet durch die Verwendung der zweiten Person Plural, vor. Der absichtlich manierierte, wichtigtuerische Stil gilt als Parodie des typischen philologischen Diskurses: „überhaupt etwas zu sein – ja wohl eine Parodie ist“ (17). Nicht einmal auf diese Weise kann das Lesen jedoch zu einer festen, endgültigen Lösung verhelfen – ob es nun um Schicksalsfragen von Ost-Mitteleuropa oder um das Wesen des Deutschseins (oder Französischseins) geht. Der Text stellt auch die Nationalidentität als Produkt der einander erklärenden Perspektiven, als ein kontextabhängiges Phänomen dar: „Aber wer bräuchte denn Paris auch dringender als ein Deutscher! Denn Paris, der Franzose, der Nicht-Deutsche hat dann und nur dann eine Bedeutung, wenn der Deutsche eine hat!“ (17) Das Motiv der „Spurensuche“ verknüpft sich im tropischen Rahmen des Romans immer wieder mit der Intertextualität: „Nur bis zum nächsten Baum, sagte der Reisende, er weiß nicht mehr, nach wem.“ (74) Das Idiom „jemandem auf der Spur sein“ gewinnt seine ursprüngliche Bedeutung – im Sinne von Bewegung im Raum – zurück, wandelt sich aber gleichzeitig in eine metafiktive Form um, da der Rezipient auch „die Spuren“ des Gedichtes Fától fáig [Von Baum zu Baum] von Sándor Kányádi erkennt. Zur Aufdeckung des Geheimnisses der Donau verwendet die Erzählung auch Mittel der naturwissenschaftlichen Welterklärungen: Zahlen, Rechnungen werden instrumentalisiert. Es taucht sogar das Experiment als Erkenntnismethode auf: „[Ich] warf so weit wie möglich (Hauptströmung!) ein Blatt hinein und maß die Zeit, 10 Sekunden, das sind dann in 1 Minute, sagen wir, 20 Meter“ (30). Götz Großklaus berichtet, dass im 18. Jahrhundert die Beschreibung der wilden Natur im mathematisch-geometrischen Rahmen zwecks ihrer Zähmung zu einer verbreiteten Strategie zur Bewältigung der durch die fremden Naturräume hervorgerufenen Fremderfahrung wurde. Eine solche Thematisierung der Naturräume „überführt deren sinnliche und gegenständliche Wirklichkeit ins Abstrakte von Maß-Relationen.“12 Esterházys Text deutet oft auf die Tradition der Fremdwahrnehmung hin. Die Eindeutigkeit als Voraussetzung für die exakten Wissenschaften wird aber durch die Romansprache aufgehoben. Die Zahlen enthüllen sich entweder als überflüssige oder nutzlose Informationen (der Erzähler nennt sich nach dem Blatt-Experiment
12 Großklaus: „Reisen“, 224–225.
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selbst einen Esel). Diese Angaben können des Weiteren andersartige, nicht rationalisierbare Einsichten vermitteln – „168 seien das gleiche wie die 768“ (101) – ganz gleich, ob es um die Stufenzahl des Kirchturmes in Ulm oder die der Steingrube in Mauthausen geht. „[D]ie Naturgesetze sind nicht vom Herrn, nicht von den Engeln, nicht von der Natur – vom Menschen! Nur er pusselt hier herum“ (85) – so summiert sich die Skepsis den Doktrinen gegenüber den „harten Wissenschaften“. Während die Beschreibung voller Operationen mit Größen und Zahlen auf die Abstraktion der Erfahrung abzielt, wird sie beim Messen ständig durch die Materialität blockiert. Ein Beispiel dafür ist die „schmierige Blutspur“ (195) am Schaufenster, die den Wasserstand zur Zeit des Hochwassers im Jahre 1838 zeigt, und der Deckoffizier Hubert Hegedűs, der ohne einen Pegel über den Wasserstand nur noch sagen kann: „keine Stange“! (106) Das Motiv der Spurensuche ruft schließlich auch den Topos einer Reise in Erinnerung, die nicht zu einem äußeren, fassbaren Endziel, sondern zu inneren Landschaften der Seele führt. In den Werken von Sándor Márai kehrt diese allegorische Interpretation oft wieder, und das Werk Füveskönyv ist von der Erkenntnis geprägt, dass „die Selbsterkenntnis die größte Reise ist“.13 Im Roman finden wir einen Satz, der als eine Paraphrase dieser Textstelle zu deuten ist und mit der Fortsetzung des obigen Gedankenganges die konventionelle Subjektkonstruktion destabilisiert. Das Subjekt wird nicht mehr der Außenwelt entgegensetzt und als eine höhere Stufe der Wahrheit wahrgenommen. Bei Esterházy kann das Dasein des reisenden Ichs in seinem Übergangszustand, in seiner Zeitlichkeit sowie in seiner ständigen Inszenierung erfasst werden: Jede Reise ist eine innere Reise, das heißt, Reisender sucht sich selbst. Als ob es jemanden gäbe, den man suchen könnte. Reisender ist verpflichtet, nicht eine Persönlichkeit zu sein, irgend jemand zu sein, er hat also umherzuirren zwischen Jemand und Niemand. (38)
Die selbstreflexiven Aspekte, die gleichzeitig als Komponenten der Gestaltung von sich selbst gelten, setzen eine Lesart voraus, die ihrerseits als „Wanderung“, als eine Suche ohne jegliche von einer äußeren Instanz bestimmte Reiserouten und Endziele zu beschreiben ist.
3 Roman der Gegensätze Der Roman Donau abwärts lässt sich auch als ein Versuch lesen, in unserer Kultur einflussreiche Dichotomien zu hinterfragen. Der wichtigste Prätext des Romans,
13 Márai: Füveskönyv, 10.
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das Gedicht „A Dunánál“ [An der Donau] von Attila József, ist selbst „das Gedicht der gegensätzlichen und zusammengehörenden Dualität“.14 Die archetypischen Vorstellungen über das Wasser, die das Gedicht von Attila József völlig durchdringen, sind auch im vorliegenden Roman anzutreffen. Die erzählerische Stimme hält aber sowohl die Fülle an kulturellen und politischen Anspielungen im Fluss-Diskurs als auch den totalisierenden Charakter der Donau-Mythen für ein Problem. Die unendliche Variierbarkeit der berechenbaren, schematischen Metaphern („Kulturfluß. Liebesfluß. Fessel, die Völker verbindet. Freiheitsfessel“, das „Pathos, das die Donau umgibt“ [74]), der Überfluss an Bedeutungen führt nämlich zum totalen Sinnverlust des Flussnamens. Anders ausgedrückt kommt es zur Neuentdeckung der reinen Materialität, die nach Gertrude Stein mit der tautologischen (Schein-) Definition formuliert wird: „Die Donau ist die Donau ist die Donau“ (205). Inwiefern die Abschaffung der tradierten Mythologeme15 sowie die Verunsicherung der (auch) den Donau-Mythos prägenden diskursiven Oppositionen als eine die Werthierarchie für relativ erklärende, eindeutig postmoderne Geste zu interpretieren ist, wird später erörtert. Der Gegensatz von Chaos und Ordnung kehrt im Reflexionsfeld des Buches immer wieder: „Schwatze nicht. Du steigerst das Chaos“ (6), befiehlt der Vater am Anfang, wobei der Begriff des Chaos sogleich mit Diskursitivität verbunden wird. Der Befehl des Vaters kann als Aufruf zum sinnvollen, artikulierten Sprechen abgesehen werden, aber auch als Aufwertung der Stille zu einer bedeutsamen, sogar bedeutungsvollen Kommunikationseinheit. Die nächste narrative Bemerkung aber – „das war Vaters Lieblingsspruch“ (6) – betont das „Gesprochensein“ der Äußerung und zeigt, dass ihr Gebrauch in erster Linie nicht von nicht-rationalen, sondern von emotionalen Aspekten abhängt. Die Äußerung schließt dadurch jedoch die Möglichkeit einer Nicht-Schwätzer-Kommunikation aus: Auf Grund des diskursiven Charakters des Befehls und trotz seines beabsichtigten Inhaltes kann sich der Erzähler von den chaotischen, unkontrollierbaren Vorgängen der Sprache nicht befreien. Der Erzähler befolgt den väterlichen Befehl nicht, er „steigert das Chaos“ (6) mit jedem Satz. Durch diese selbstreflexive Anspielung wird auch die Sinnstiftung durch Lesen/Schreiben des Textes der Chaos-Metapher zugeordnet. Diese Metapher kehrt auch in der Broschüre des Reisenden zurück: „Ihr tragisches Existenzerlebnis wird nicht beschränkt, in seinem Zentrum werden Sie – um mit Van Cha zu sprechen – weiterhin nicht dem die Gegensätze aufhebenden Einen begegnen, sondern dem Chaos, dem Fehlen, der Abgrundartigkeit“ (40).
14 Németh: „A klasszikus óda“, 368. 15 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 228–229.
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„Einen“ großgeschrieben und das Wort „aufhebenden“ erinnern wieder an den Kontext von „An der Donau“. Der komplizierten Bewegung vom Eins-Werden und Sich-Vermehren fehlt aber das Endmoment des Ineinanderverschmelzens, was dem Unterschied der Subjektkonstruktion entspringt: „Alles hängt davon ab, was man mit dem Ich anfängt“ (40). Auch die vom Gegensatzpaar konnotierten Wertverhältnisse werden modifiziert: Der Mangel an Chaos kann als Verlust, als Sinnentleerung der Welterfahrung des älter werdenden, „anders erwachenden“ Reisenden verstanden werden. „Sitzt man im Burggarten, besteht kein Zweifel, daß die Welt nicht chaotisch ist und nicht bruchstückhaft, sie ist geordnet, klein und fein, durchschaubar.“ (132)
3.1 Naturbeschreibung in neuer Rolle Das Werk macht uns zudem auf einen weiteren Gegensatz aufmerksam, der mit der Problematik der Gattung Reiseliteratur selbst eng zusammenhängt – anders formuliert: Wie können Natur und Literarizität nebeneinander existieren? „Wieder die entnervende Schönheit der Natur“ (243), seufzt der Erzähler in den siebenbürgischen Bergen. Als er sich vorstellt, sich nicht verlaufen zu haben und nicht in Messkirch angelangt zu sein, gerät er wieder in einen angespannten Seelenzustand: „zähneknirschend die sogenannten Schönheiten zu absolvieren [. . .] die vom Kitsch nicht weit entfernte Weite der Landschaft“ (62). Die Konfrontation mit der Natur ist nach Großklaus ein paradigmatischer Fall der Fremdwahrnehmung, den der Theoretiker im Gegensatz zum Konzept Weißer Lärm der Informationstheorie eher mit einer nuancierten, hermeneutischen Theorie behandelt, die auf die Beschreibung von Grenzüberschreitungen fokussiert und den Übergang zwischen Bedeutungslosem und Bedeutungsvollem betont. Großklaus zeigt mit Hilfe einer Reisebeschreibung von 1770, dass Nervosität und Angst natürlicherweise mit Situationen einhergehen, in denen sich das Subjekt dem ihm gegenüberstehenden Fremden ausgeliefert fühlt.16 Die Inszenierung der Gereiztheit, die der unerkennbare Fremde auslöst, wirkt im Text sehr parodistisch. Das Wort „absolvieren“ weist auf die Touristen-Attitüde hin, nach der die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten eine heilige Pflicht sei. Die Ausdrücke „sogenannte Schönheiten“ und „die vom Kitsch nicht weit entfernte Weite“ zeigen sprachlich-kulturelle Strategien, die die bloße Wildnis in einen ästhetischen Gegenstand umwandeln. In dieser ironischen Naturbeschreibung wird das Verhältnis zwischen der „wahren“ Natur und
16 Großklaus: „Reisen“, 222.
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deren Repräsentation verwechselt: die Donaulandschaft wird als „eine klotzige Opernkulisse“ (94) bezeichnet. In dieser Metapher gelten die Kulissen, die übrigens als ikonisches Zeichen für die Landschaft stehen; die Landschaft selbst wird zum Bezeichnenden. Über die zahlreichen Tropen hinaus, die die Wildnis gleich aus Sicht der Kultur zeigen, zählt der gereizte Erzähler oft kurz und bündig Klischees der romantischen Reiseliteratur auf: „Fels, Burg, Holzbrücke, Baumgreis“ (59). Während die typischen visuellen Elemente ursprünglich mit der Bestrebung zusammenhingen, dem Fremden eine beruhigend bekannte Form zu verleihen, setzt hier die kurzgefasste Beschreibungsweise die vorherige Konditionierung der Perzeption (und der Imagination) voraus: es ist überflüssig, die Wörter in einen Kontext zu setzen – zur Belebung der fixierten Bilder der romantischen Landschaft genügen bloße Stichwörter. Die angenehm schaudernde Erfahrung, die der ästhetisierende Blick auf die Berggipfel und Flussufer hervorruft, wird im Text durch Wiederholungen und Berechenbarkeit untergraben. Das zeigt, dass sich die referenziell erscheinende Beschreibung der Landschaft als Zusammenspiel von Intertexten erweist. In der Thorenburger Schlucht zitiert der Reisende einen Reisebericht aus dem 19. Jahrhundert und lenkt die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die Grenzen der Sprache („Wörter sind zu kraftlos, diesen Punkt zu beschreiben.“ 243). Für die Beschreibungsstrategien sind hier Gleichnisse charakteristisch, die eine starke Parallelität zu den menschlich gestalteten Räumen schaffen („Es ist, als hätte ein Sturm tausend Pyramiden Ägyptens aufeinander getrieben oder als stünde eine Vielzahl abgebrannter Kirchen und Türme vor uns.“ 243). Die Doppelseitigkeit des Naturdiskurses – die Dualität referentieller oder performativer Sprachfunktionen – wird besonders durch Phrasen sichtbar, wobei das Lesen zwischen der figurativen und wortwörtlichen Bedeutung oszilliert: „[W]ir wissen nicht, daß wir uns auf dünnem Eis bewegen und unter uns zornig der gekränkte Fluß grummelt“ (14). Die Erfahrung, dass schon früher jemand da war und demzufolge die Betrachtungs- und Erzählweisen gewissermaßen vorgegeben sind, wird in den Text eingebaut, indem die Problematik der Unerzählbarkeit und sprachlichen Unerreichbarkeit der unberührten Natur in den Vordergrund gerückt wird. „Da mir dafür die Worte fehlen, eigene Wörter, anthropomorphisiere ich meine Beziehung, auf primitive Weise“ (60), kommentiert der Erzähler seine Handhabung in Bezug auf dieses „verblüffend direkte, ja plumpe Verhältnis“ (60). Der Erzähler verwendet nicht nur die Figurativität der Alltagssprache mit besonders ausgeprägter Vermenschlichung geografischer Orte („Zagreb als die Zitzen Mitteleuropas? Und Wien seine Ohrläppchen.“ 150), er kehrt sogar Metaphern um: „Auch Gesichter sind Landschaften“ (142). Ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Textfunktion ist der Abschnitt, in dem die sich streichelnde Dalma über
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Roberto fantasiert und dadurch der imaginäre männliche Körper und die Donaulandschaft miteinander verschmelzen: Russe (Rustschuk), der Körper hat seine ureigenen Pfade, und diese Wege sind verschlungen, bei Silistra, am Flußkilometer 375,1, winken wir Bulgarien zum Abschied; die Hoden, die beiden Hügel des Hintern, das Dunkel, die Brücke die Cernavodă; stimmt es, daß du mich dein Seelchen nennst. (265)
Esterházys Donau abwärts strebt eine Konfrontation mit der allgegenwärtigen Fremdheit der Natur sowie mit dem zwangsläufigen Scheitern jeglicher Versuche, textexterne, sinnliche Spektakel zu beschreiben, an, wobei das poetische Potenzial der Figurativität des Naturdiskurses ausgesprochen erfindungsreich genutzt wird.
3.2 Die textuelle Zersplitterung des Blicks Die Problematik der Naturbeschreibung zeigt, dass die textkonstruierende Funktion des visuellen Codes in der Reiseepik von großer Bedeutung ist. Donau abwärts untersucht eine in unserer Kultur tradierte Opposition: Nämlich den Gegensatz von Blindsein und Sehen, was als Selbstreflexion auf die eigene Gattung betrachtet werden kann. Die Reise ist nämlich mit der Zeit als eine Erfahrung institutionalisiert worden, bei der die visuelle Perzeption unter den Wahrnehmungsmechanismen eine herausragende Rolle spielt. Judith Adler erörtert in einer Studie,17 wie zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert der Akzent vom Hören und Schmecken des Reisenden auf das Sehen verlagert wurde, wobei sogar die Bewegung seines Blickes geregelt und organisiert wird. Von dieser Periode an beruht die Glaubwürdigkeit der Reiseberichte im Sinne einer neuen Authentizität nicht auf der Autorität von klassischen Zitaten (Plinius, Tacitus), sondern vielmehr darauf, ob der Reisende das Beschriebene „mit eigenen Augen“ gesehen hat. Parallel dazu haben sich die Techno-Medien im Reisediskurs immer intensiver durchgesetzt, da die wachsende Reiselust und die Verbreitung der medial unterschiedlich ausgeprägten, visuellen Darstellungsstrategien mit der Geschichte der Modernität verflochten sind, so Osborn.18 In der Reisekultur nimmt das Betrachten seit diesen Entwicklungen eine zentrale Position ein. Wenn es jedoch zur Funktionsweise der Perzeption kommt, wird nicht mehr der unmittelbare Zugang „zur Wirklichkeit“ betont, sondern eher die Simulacra dieser Reisekultur.
17 Adler: „Origins of Sightseeing“. 18 Osborn: Travelling light, 3.
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Donau abwärts ist als Reflexion auf das komplexe, sich geschichtlich ändernde Verhältnis zwischen Sehen und Reisen zu lesen, andererseits wird auf durch andere Sinnesorgane vermittelte Impulse fokussiert. Durch die erwähnten Beschreibungsweisen wird nicht nur das Sehvermögen als Mittel der Welterkenntnis infrage gestellt, auch die Oppositionen Sehen–Blindsein sowie Wissen–Unwissen verlieren an Schärfe. In die Sinnstiftungsmechanismen wird ein weiterer Topos einbezogen, in dem Blindsein mit Weisheit und zugleich mit der Aktivität des inneren Auges einhergeht. (Ein Beispiel aus der griechischen Mythologie ist Teiresias.) Die figurative Sprache, die mit Wörtern aus dem Begriffskreis Sehen und Blindsein operiert, schafft für den ziemlich rätselhaften Romantitel (ungarischer Originaltitel „Hahn-Hahn grófnő pillantása“ – Der Blick der Gräfin Hahn-Hahn) einen Kontext, der eine Vielfalt von Interpretationen ermöglicht. Der Name der Gräfin taucht zuerst in einem fiktiven Heine-Brief auf: „Allmählich werde ich so wie eine Schriftstellerin. Sie kennen das?! Ein Auge aufs Papier gerichtet, das andere immer auf einen Mann. Ausnahme: Gräfin Hahn-Hahn, die einäugig ist.“ (21) Die Frage ist nur, wohin die Gräfin Hahn-Hahn mit dem einen Auge blickt: sieht sie zu einem Mann, und werden also die Zeilen ohne Kontrolle durch den Blick nacheinander geschrieben? Oder sieht sie auf das Blatt? Nimmt die Gräfin die mittelbare Form des Dialogs an und weist dadurch die unmittelbare Begegnung der Blicke zurück? Später kann der Reisende nicht in Beuron „bei den gelehrten Patres, die die Geheimnisse alter Pergamente erforschen, die bloßgekratzte, abgeweichte Schrift (wenn ich so will: auch dies ein Blick des blinden Auges der Gräfin Hahn-Hahn)“ (62) anhalten. In der Selbstreflexion mit Hinweis auf die Palimpsest-Technik – wo das Pronomen „dies“ auf die Tätigkeit der Väter bezogen wird – deutet der Blick der Gräfin Hahn-Hahn eine Lesart an, die ihre Aufmerksamkeit den Texten hinter dem Text widmet. Man kann die „abgeweichte Schrift“ ebenfalls mit dem Antlitz der Gräfin identifizieren. Es ist der Mangel, der die beiden über die grammatischen Verhältnisse hinaus verbindet. Nur eine Leere bleibt hinter ihnen zurück, und sie zu füllen ist Aufgabe der Lesestrategie der Gräfin und zugleich des ganzen Textes: Als würde sich die Gräfin in der sich widerspiegelnden Funktion des Romans selbst erblicken.
3.3 Reise und Tourismus Einem Gegensatzpaar kommen wir immer entgegen, wenn es um Reisen geht: Jonathan Culler erörtert in seiner Studie, dass der Unterschied zwischen dem Reisenden und dem Touristen immer besteht.19 Authentizität und Inauthentizität,
19 Culler: „The Semiotics of Tourism“, 156.
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Aktivität und Passivität, eine individuelle Leistung von Entdeckung und „MassenStadtbesichtigung“ – man könnte die Aufzählung unendlich weiterführen, die Wertdifferenz zwischen den beiden Tätigkeitsformen liegt auf der Hand. Culler vertritt jedoch die Meinung, dass der Tourismusdiskurs selbst für diesen Unterschied zuständig ist. Der amerikanische Wissenschaftler zeigt, wie die Weltreisenden als „Agenten der Semiotik“ die verschiedensten Sehenswürdigkeiten als Symbolsysteme deuten, und wie sich in diesem Vorgang die Vorstellung des authentischreinen, unberührten Ursprungs als bloße Konstellation von Zeichen enthüllt. Der Gegensatz zeigt sich auch in Esterházys Roman. Die Broschüre des Reisenden spricht eine von Culler verachtete Sprache der aristokratischen Absonderung: Dieses Jahrhundert ist nichts für Reisende. Wir sind ein Jahrhundert des Tourismus. Der Tourist reist nicht, er wechselt den Ort. [. . .] Er ist der Reisekrüppel des Jahrhunderts, der feige in die Zukunft flieht. Und hat er in einem der überall gleichen Hotels ausgepackt und legt sich an den für derlei vorgesehenen Strand, so spricht er hochnäsig: „Hier kommen wir nächstes Jahr wieder her!“ (40)
Obwohl die Werbung Spuren einiger traditioneller Oppositionen trägt, wird die Trennung zwischen Touristen und Reisenden im Licht des ganzen Textes und durch die ständig präsente Selbstironie besonders problematisch. Die Reflexion über die Gegensätze ist weiterhin deswegen von Wichtigkeit, weil sich durch diese Oppositionen herausstellt, was für einen eigenen Reisebegriff der Text anbietet. Statt der Eintönigkeit der Touristenreisen, die das Subjekt nicht ansprechen, bietet der Reisende eine Reise an, die eben mit ihrer zauberhaften Unberechenbarkeit und Eventualität anlockt. Die Broschüre lehnt kategorisch das Modell ab, das nur auf „Ortsveränderung“ beruht. Die Verbalphrase mit einem Akkusativobjekt, die im Zitat auftaucht, impliziert eine Tätigkeit, deren Agent zwar die Tätigkeit koordiniert, aber von ihren Einflüssen auf die Identität unberührt bleibt. Im Roman Donau abwärts wird diese durch eine auf einer klaren Trennung basierende Beziehung abgeschafft: Die Reise erscheint in diesem Fall als eine Erfahrung, die die Grenzen der eigenen Identität infrage stellt und nie abgeschlossen werden kann. Die Broschüre legt besonders großen Wert auf das Verhältnis zur Zeit: Die Torheit des Touristen besteht darin, dass er oberflächliche Erwartungen hegt und sich auf eine Wiederholung der Gegenwart konzentriert, wodurch er die Gegenwart eigentlich schon zur Vergangenheit macht. Die Vergangenheit, die den Reisenden fasziniert, ist jedoch von anderer Natur. Die Zitate aus Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches zeigen, dass das Bereisen verschiedener Räume in unserer Kultur eng mit der Erkenntnis der Geschichte zusammenhängt. „Zeitspiel-Raumspiel“ – mit diesem Wortspiel weist die Werbung des Reisenden nicht nur auf den geografisch-kulturellen, sondern auch auf den historischen Charakter der Fremderfahrung während des Reisens
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hin. Dass der Reisebegriff im Roman Donau abwärts von dieser Betrachtungsweise geprägt ist, spiegelt sich auch darin wider, dass die Fiktion dieser Reise entlang der Donau in sehr komplexen chronotopischen Formen aufgebaut wird. Das RobertoAbenteuer lässt sich auf das Jahr 1963 datieren, der erwachsene Ich-Erzähler forscht zur Zeit der Wende nach den Orten seiner Spaziergänge mit dem Onkel. In der vielschichtigen Struktur der Erzählung sind weiterhin noch mehrere Zeitebenen zu unterscheiden. Die Erzählung, in der die Szenen der ungarischen Revolution von 1956, des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 oder der Judenverfolgung sowie des Rákóczi-Freiheitskampfes zusammenhangslos aneinandergereiht werden, inszeniert die Geschichte als eine chaotische Erscheinung. Die Dynamik dieser Zeitreise garantiert die Einsicht, dass die Vergangenheit über keine feste Eigenschaft verfügt und somit an sich ohne eine Distanz undenkbar ist. Der Unterschied zwischen dem Reisenden und dem Touristen geht aber über diese Erkenntnis hinaus. John Urry behauptet20, dass der Tourismus in erster Linie Entspannung sei, eine Freizeitbeschäftigung, die ihr Gegenteil, d. h. die Welt der organisierten Arbeit, voraussetze. Eine Reflexion darauf ist das folgende Zitat aus dem Roman: „Ein Tourist ist fit, ein Reisender lebt.“ (76) Während der Urlaub einem Touristen Erholung ohne Arbeit verspricht, arbeitet der Reisende für den Auftraggeber, folgt seinen Befehlen oder klagt über sie. („Schauen Sie mal nach dem Karlowitzer Frieden“, 40). Ernő Kulcsár Szabó weist darauf hin, dass die Entstehung der „Dienstleistungsliteratur“ gewollt parodistisch wirkt und gleichzeitig die Ablehnung solcher „Dienst-Literatur“ eine Ablehnung der Rollenkonventionen im Zusammenhang des Donau-Motivs signalisiert.21 Die Absonderung vom Fit-Sein des Touristen und vom Komfortgefühl, gewährleistet durch eine organisierte Reise, hat auch andere Folgen: „Und Müdigkeit, Murkel, gehört zum Reisen“ (76) – sagt Roberto seinem Neffen. Einen wichtigen Bestandteil dieser als Arbeit aufgefassten Reise bilden daher eben die physisch-sinnlichen Erfahrungen, die zwar nicht als angenehm oder erfrischend zu beschreiben sind, die aber dem Subjekt ein nichtmetaphysisches Gefühl der Vollkommenheit verleihen, das sich im Gegensatz zum „Fit-Sein“ am besten mit dem Verb „leben“ ausdrücken lässt. In dem vom Tourismusdiskurs implizierten semiotischen Rahmen sind diese Aspekte der körperlichen Wahrnehmung überhaupt nicht präsent. (An dieser Stelle ist es jedoch wichtig anzumerken, dass nicht alle Texte die von Culler geschilderte Werthierarchie vertreten. In seinem Essayband verwendet Christoph Ransmayr zwar ebenfalls die Analogie Schreiben–Reisen, und der Erzähler positioniert sich auch als Tourist. Mit dieser Rolle verknüpfen sich hier aber nicht vorrangig semiotische Operationen,
20 Urry: The Tourist Gaze, 2. 21 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 225.
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sondern eher Erkenntnisse, die jeglichen sprachlichen Konstruktionen vorausgehen und sich mit sinnlichen Erfahrungen assoziieren lassen: „Auf Formularen sind mir die Felder am liebsten, in die sich einfach Tourist setzen läßt, denn Ahnungslosigkeit, Sprachlosigkeit, leichtes Gepäck, Neugier oder zumindest die Bereitschaft, über die Welt nicht bloß zu urteilen, sondern sie zu erfahren, zu durchwandern, von mir aus: zu umsegeln, erklettern, durchschwimmen, notfalls zu verkleiden, gehören wohl mit zu den Voraussetzungen des Erzählens.“)22 Während Esterházys Text die Möglichkeiten des Gegensatzes zwischen dem Touristen und dem „wahren“ Reisenden völlig ausschöpft, setzt der Text gleichzeitig wegen seiner poetisch-rhetorischen Struktur eine postmoderne Weltanschauung voraus, in der die Diskrepanz ihre Gültigkeit zwischen authentischen und nichtauthentischen Erfahrungen verliert. Die verzweifelten Befehle vom Auftraggeber sind noch von der Auffassung motiviert, dass die authentische Erfahrung indirekt in die Sprache zurückversetzt werden kann: „Noch einmal! Gefühlvoller! Ich will wissen, was man an der Quelle fühlte! [. . .] Stehen Sie im Fürstenbergpark an der Marmortafel und seien Sie erschüttert, kleiden Sie das dann in Worte!“ (50) Der Text enttäuscht jedoch diese Erwartungen. An der Donauquelle, am mythologischen Ursprung grübelt der Reisende folgendermaßen: „Du bist der und der, und auf diesen Kies baue ich und so weiter. Donaukies, scherzte ich bei mir.“ (50) An die Stelle der „Berührung“, der emotionalen Überwältigung tritt der Scherz, der eben aus der nicht-identischen Wiederholbarkeit der Dinge entspringt. Mit den Steinen am Ufer assoziiert man den Begriff Felsen, und damit auch einen bekannten Satz aus der Bibel: „Und ich sage Dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen.“ (Mt 16,18) Der katholischen Auffassung nach ist dieses Moment ein Anfangspunkt, in dem der Apostel seine Identität als Grundsteinleger der Kirche gewinnt, da er das Wesen Jesu erkannt hat. Das metafiktive Spiel mit dem Namen des Apostels und des Verfassers/Erzählers verleiht der Apostrophe eine einzigartige Spannung. Es gibt hier keine äußere Instanz, die dem Namen eine eindeutige Referenz zuschreiben könnte: Es bleibt allein die Unentscheidbarkeit, die von den Demonstrativpronomen („dies und jenes“) suggeriert wird. Im Zusammenhang mit den Reisegewohnheiten unserer Zeit spricht Maxime Feifer über den Post-Touristen23, der, sich seines eigenen Touristenseins bewusst, die erfolglose Suche nach authentischen Erfahrungen aufgibt und die Reise eher als ein Spiel mit Signifikanten betrachtet. Die Äußerungen des Reisenden enthalten oft Einsichten, die denen des Post-Touristen von Feifer ähnlich sind: „Ich versuchte mich an die Wegweiser zu erinnern und zog auch
22 Ransmayr: Geständnisse, 10. 23 Feifer: Tourism in History, 270–271.
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meine Karte zu Rat, womit ich dann endgültig alles durcheinanderbrachte, Karte, Wirklichkeit, Plan, Erinnerung.“ (63) Parallel zur Kritik der Tourismuspraxis wird auch der Mythos des Reisens abgeschafft: Besonders betont wird die Abhängigkeit von äußeren, technischen Apparaten, die zur Orientierung im fremden Raum dienen. Ebenso akzentuiert der Text, dass die Erkenntnisse des Reisenden notwendigerweise nicht von dem Codesystem zu trennen sind, das diese Erkenntnisse ermöglicht. Der Text erhält doch die Chance einer Art „Erkenntnis“ aufrecht: „Beim Blick auf die Karte hatte mich Erregung erfaßt. Diese Erregung blieb dann das einzige reale Ereignis von Budapest bis hierher“ (28). Aufregung ist ein verstärkter seelischer und zugleich körperlicher Zustand, der dem Erwarten, dem Noch-Nicht-Wissen, der Vielfalt der aus der Gegenwart sich verzweigenden Geschichten entspringt – und ist nach dem Roman das Einzige, das man überhaupt von einer Reise erwarten kann.
4 Die unsichtbaren Städte Der Reisende von Donau abwärts befindet sich ständig in der hermeneutischen Aufgabensituation der Fremdwahrnehmung. Die Begegnung mit dem Fremden der deutschen und der österreichischen Gebiete unterscheidet sich aber wesentlich von den Erfahrungen, die beispielsweise Levi-Strauss in den „traurigen Tropen“ zuteilwurden. Die westliche Donaulandschaft erschließt sich von einem reich ausgearbeiteten Horizont aus. Die Wahrnehmung wird durch die Vielfalt der überlieferten Klischees, Texte und Nationalcharakterologie bestimmt: „Ach, Wien . . . Walzer . . . Cafés . . . [. . .] Nach Wien kommen die Ungarn einigermaßen hochmütig“ (115). Der Dialog mit dem Fremden erfolgt in einem dynamischen Wechselspiel und unter Überprüfung der kulturell festgelegten Annahmen. Die gemeinsame historische Vergangenheit und das sich daraus entfaltende System von Stereotypen verleiht dem Nachbarland eine Art „sekundäre Vertrautheit“24, deren Hinterfragung eben die grundlegenden Erkenntnisse bedrückend erscheinen lässt: „es ist das unheimliche Gefühl das Heimischseins, und ich muß daran denken, daß dieses Land und mein Land früher ein Land waren“ (116). Das paradoxe Verhältnis zum Fremden, das das Wortgefüge „das unheimliche Gefühl das Heimischseins“ hervorbringt, erscheint auch im Vergleich von Wien und Budapest. „Extravagante Kenntnis einer unbekannten Stadt: Das war immer angenehmer. Budapest hingegen: Nichtkenntnis des bis in den letzten Winkel Bekannten: Das ist immer unangenehmer.“ (145) Der Text inszeniert also auch Erkennensvorgänge, in denen die 24 Jauß: „Das Buch Jona“, 87.
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Fremdheit des Eigenen zum Vorschein kommt. „Oh Gott, bloß gut, daß ich ungarisch spreche und die Stadt kenne wie meine Westentasche“ (228) – summiert der Erzähler und erzählt eine Anekdote, die eben die Fragilität dieses Sicherheitsgefühls darstellt. Dank der Doppeldeutigkeit des Syntagmas „Wiener Zug“ hat er seiner Schwägerin beim Einstieg in den Zug aus Wien nach Bukarest und nicht in den Zug aus Budapest nach Wien geholfen. Die Geschichte vertritt als mise en abyme die für den ganzen Roman gültige Ansicht: Wie man sich auf dem Bahnhof der Geburtsstadt verirren kann, so auch in der Muttersprache. Der Abschnitt über Budapest – „Die unsichtbaren Städte“ – wird zum stärksten Teil des Romans, indem er aufzeigt, dass man nicht einmal das Heimische sein Eigen nennen kann. Die Unerkennbarkeit der Heimatstadt des Reisenden zeigt sich darin, dass sich die Heimatstadt selbst nicht als Spektakel lesen lässt und demzufolge für die totalisierende Lesart unzugänglich bleibt. Mit einem Hinweis auf einen der wichtigsten Prätexte, auf den Titel des Calvino-Romans, kann man sogar sagen, die Heimatstadt bleibt unsichtbar. Die in Calvinos Roman zentrale Fragestellung nach dem „Wesen“ der Städte wird hier mit der Beibehaltung der Pluralform („Städte“) in einen neuen Kontext gesetzt. Marco Polo teilt in diesem Roman nämlich dem Khan mit, dass er in seinen Beschreibungen von Städten unwillkürlich etwas über Venedig verriet, ohne die Stadt beim Namen zu nennen. Während in Marco Polos Erzählungen abertausende ferne Länder untrennbar mit den Erinnerungen an Venedig verbunden sind, vervielfacht sich im Roman Donau abwärts das einzige Budapest – „es gibt ein böses Budapest, es gibt ein genießerisches Budapest, ein machtgieriges, ein lässiges“ (196). Diese Pluralisierung schließt folglich die Existenz einer Perspektive aus, aus der die Stadt Budapest in ihrer Vollständigkeit darzustellen wäre. In diesem Sinne ist das Dasein der Stadt durch unendliche, von dem jeweiligen Blickwinkel abhängige, imaginäre Konstruktionen bedingt: „Komm nur, komm, wer du auch bist, mach dir ein Budapest!“ (176) Nicht nur der kursiv gedruckte Teil stammt aus dem Roman Le città invisibili, sondern der gesamte Abschnitt ist mit Calvino-Zitaten durchwoben, der ganze Aufbau folgt dem Beispiel des italienischen Textes. So wird der Text in nummerierte Abschnitte gegliedert, die „die Vorstellung über die Stadt mit den semiotischen Strukturen anderer Städte verknüpfen“25 („Die Städte und der Austausch“, „Die Städte und die Augen“, „Die Städte und die Zeichen“). Das Verhältnis zwischen Titeln und Textfragmenten ist jedoch recht unterschiedlich: die illusorische Ordnungsmäßigkeit bietet letztlich keinen richtigen Interpretationsrahmen, der einen Überblick des Erzählgegenstandes garantieren könnte.
25 Molnár: „Az elbeszélő mint olvasó“, 183.
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In Esterházys Werk bauen sich die Erfahrungen aus dem Calvino-Roman nicht nur auf dieser Ebene ein, sondern auch die Hypotyposis wird ähnlich verwendet. In seiner tiefgreifenden Studie erklärt Gábor Tamás Molnár, wie in Le città invisibili das Paradigma des Eigennamens für ungültig erklärt wird, und wie dies gleichzeitig zur Abschaffung des monolithischen Weltbildes führt, das eben durch den Topos der Beschreibung/Bezeichnung aufrechterhalten wurde.26 Budapest als konstruierter Raum enthüllt sich ebenfalls in den Rissen und Umbenennungen: Budapest gibt es nicht, es ist weg, gestohlen, spurlos verschwunden [. . .] An der Stelle der engen Gassen befinden sich jetzt enge Gassen, an der Stelle des schwungvollen Halbkreises der Ringstraße die Ringstraße. (198)
Sogar das Verhältnis zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem ist zu verwechseln: „Budapest war damals Szolnok, Szolnok war Lovasberény, Lovasberény war Szeged [. . .] wer zum Beispiel den Jenissej mit Jessenin verwechselte, spielte mit seinem Leben“ (179). Es geht hier natürlich auch um eine ironische Anspielung auf die Rákosi-Ära, in der die Kommunisten viele Orte eifrig umbenannten. Charakteristisch für die Weiterschreibung des Calvino-Romans ist, dass die abstrakten Begriffe des selbstreflexiven Spiels mit Bedeutungen aus verschiedenen historischen Kontexten bereichert werden, ohne die selbstreflexive Referenzialität zu verlieren. Die Frage nach dem Wesen des „Namens“ taucht auf diese Weise auch in Verbindung mit der ÁVH-Geschichte auf: „Dabei, was ist schon ein Name? Eine Buchstabenfolge. Oder nicht?“ (180). Péter Fodor bemerkt bezüglich der chronotopischen Formen des Romans zusammenfassend, dass Budapest „in der Stimme des Reisenden als ein Text vollgeschrieben mit Zeichen aus verschiedenen historischen Zeitepochen erscheint“.27 Die Textfunktion, die die Stadt als Text inszeniert, macht zugleich die verschiedenen Zeichenebenen insbesondere dann sichtbar, wenn in die Beschreibung von Budapest der Calvino-Prätext über die Stadt Zaira aufgenommen wird: Eine Beschreibung Budapests, wie es heute ist, müßte Budapests gesamte Vergangenheit enthalten. Aber die Stadt sagt nicht ihre Vergangenheit, sie enthält sie wie die Linien einer Hand, geschrieben in die Straßenränder [. . .] jedes Segment seinerseits schraffiert von Kratzern, Sägspuren, Einkerbungen, Einschlägen. (165)
In der Heimatstadt angelangt, wird dem Reisenden bewusst, dass die Zugehörigkeit zu einer Stadt kein substantielles Wissen über sie garantiert – dieses Verhältnis kommt eher aufgrund ihrer Dynamik als eine Beziehung zustande, die nie
26 Molnár: „Az elbeszélő mint olvasó“. 27 Fodor: „A közvetítés kódjai“, 55.
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festzuschreiben ist. Die Definitionsversuche sind durch die Tropen von Geheimnis, Rätselhaftigkeit sowie von der Unmöglichkeit der Entzifferung durchdrungen, als würde das letzte Fragment die Geschichte „über die ehrliche Stadt“ aus Kosztolányis Die Abenteuer des Kornél Esti wachrufen. Die Stadt erinnert uns hier aber nicht an die merkwürdige Hochburg von Anständigkeit, sondern an die Heimatstadt des Erzählers, in der die Leute der Ästhetik zuliebe „bunt und gemütlich“ lügen. In Donau abwärts werden also die unerlässlichen Voraussetzungen für alle Definitionen, weiterhin der Unterschied zwischen Wahrem und Unwahrem außer Kraft gesetzt: Das Dasein der Stadt wird – mit Bezug auf die eigene Konstruktionskraft des Textes – in seinen fiktiven Akten vollkommen. „Eine Stadt ist das, was sie sich von sich einbildet. [. . .] Was sie lügt. Flunkert, schwindelt. Was sie verdreht, erdichtet, mogelt. Eine Stadt ist das Blaue, das sie vom Himmel herunterlügt!“ (199)
5 Doppelseitige Traditionsauffassung Die Bilder der durch den Reisebegriff traditionell konnotierten Umwandlung – die sich in den klassischen Reiseberichten in erster Linie als Bereicherung der Persönlichkeit des Reisenden und als Erweiterung seines Erfahrungshorizontes zeigen, sind auch im Esterházy-Roman anzutreffen, bloß auf der Ebene der Textstrategien und der Strukturierung. Die Namen von Wien und Budapest sind demzufolge als Zeichen eines nicht so drastischen, aber in der Sprache der Erzählung erkennbaren Wechsels zu betrachten. Eine wortwörtliche Lesart wird vor diesem strukturellen Umbruch durch die die chronotopische Einheit zersetzende, alineare Erzählweise unmöglich gemacht. In diesem Teil dominiert anstelle des mimetischen Codes eher das Zusammenspiel von Texten und Diskursen. In Wien verschwindet der alte Roberto, „die Wiener Wende“ ist auch als eine Umwandlung im selbstreflexiven, dezentrierten Subjekt einzustufen. Als der Liebhaber der Donau die „Muskelbündel“ an seinem Hals betastete, „mußte er [. . .] erkennen, daß das alles zwar wirklich so und so ist und daß es auch anders wird sein können, aber jetzt so und so ist. Die Zeit rührte ihn an“ (128). Weder die vielerlei Möglichkeiten erlaubende grammatische Struktur der Auswahl noch die explizite Unausgefülltheit der Deixis der Bestimmungspronomen hat die Aufgabe, das Zustandekommen eines selbstidentischen Subjekts zu signalisieren. Doch das Wort „jetzt“, das in der Textstruktur ans semantische Feld der Metapher „Berührung der Zeit“ angeknüpft gelesen werden kann, setzt der Erfahrung der Einmaligkeit das unendliche Spiel der Ich-Multiplizierung entgegen. In Ráckeve wandernd grübelt der Reisende über dasselbe Problem, obwohl sich die Wiederkehr des Motivs „Muskelbündel“ („Asthma, ein Muskelbündel, ein abschüssiger Uferab-
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schnitt, ein gebrochener Zweig?“ [219]), die Aussage von „Einmaligkeit“ sofort an die Figur der Wiederholung knüpft, ebenso wie der Vergleich „als säßen wir in einem Tschechowschen Garten“ (220) die Wahrhaftigkeit des Dorfabends für relativ erklärt. Die Thematisierung der Zeit wird aber dadurch kompliziert, dass sich auch Ráckeve inzwischen als eine Welt der sich zyklisch wiederholenden Zeremonien erweist – dank der jährlichen Angeltouren, der Sauferei und der Anekdoten. Die Entfaltung der Dorfidylle wird jedoch durch die Anmerkung des Erzählers blockiert, dass die völlige Wiederbelebung der Vergangenheit eine Illusion sei: „Selbstbetrug, Nostalgie, Laci Szőke sucht seine verlorene Jugend“ (216). Trotzdem ist nicht zu behaupten, dass dieses Prinzip bis zu den kleinsten Details die ästhetische Praxis des Textes bestimmt. Nach der Ankunft in Rumänien wird die Beziehung zur Zeit noch archaischer, wie auch die Vernichtung der Armbanduhr symbolisiert: „Am Morgen bin ich darauf hin auf meine Uhr getreten, versehentlich, mit feinem Knistern, wie auf einen Maikäfer.“ (242) Ohne Messgerät orientiert er sich seitdem wieder an seiner unmittelbaren, physischen Perzeption: „Es ist wieder früh [. . .] ist Abend, man ist also müde. Ich orientiere mich an Zeichen, an Signalen meines Körpers, aus der Umgebung, der Natur.“ (267) Die Natur gilt hier als lesbare Sphäre, die magische Wiederholung der Wendung „es gibt wieder“ feiert die Rückkehr einer wenig mediatisierten Zeiterfahrung und zugleich die zurückerlangte Körperlichkeit. Die Kapitelüberschriften wie „Fortsetzung der Fortsetzung der Wahrheit“ zeigen diese Schwerpunktverlagerung, ab „Reichtumdonau“ werden die Wahrheit, die Authentizität und der Ursprung – wenn auch in einen ironischen Kontext gestellt – doch immer wichtiger; parallel dazu lässt sich beobachten, dass die Erzählweise ebenfalls viel mehr den traditionellen Lesererwartungen entspricht. Die mimetische Lesart betont auch die Tatsache, dass das bisher vorwiegend lesende Subjekt nach diesem Wandel eher Geschichten vorträgt, die der Fiktion nachgesprochen und nicht gelesen werden. Wie Ernő Kulcsár Szabó erklärt, versucht der Erzähler ab Rumänien „dem Ton und dem Tonfall sowie der in der Modalität steckenden Weltauffassung zuzuhören“.28 Mit diesem Zuhören geht Still-Werden einher – „[n]ichts Dramatisches geschah, nur daß er leiser sprach, daß er Tag und Nacht wachsam war wie ein Tier und die Ohren spitzte“ (249) –, und Stille spielt eine immer größere Rolle in der Erzählung. Für diese Erscheinung gibt es in Esterházys Werken noch mehr Beispiele. Kulcsár Szabó hebt in seiner Monografie über Ein Produktionsroman hervor, dass „der Erzähler sich nicht einmal von den mystischen Bedeutungen von ‚Stille‘ und ‚Stillschweigen‘ distanzieren“
28 Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 225.
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kann. Die Spuren dieser Mythologie sind auch in Donau abwärts anzutreffen, die Darstellung des traurigen „Fremdseins“ von Mitteleuropa ist auch ein Zeichen dafür: „Dort werde ich sehen, daß dieses Anderssein kein solches ist. Einfacher. Wortloser, ohne Worte“ (229). Die Erzählung ist aber an mehreren Stellen fähig, die Stille eben in ihrer Bedeutungsvielfalt zu zeigen. Ein wiederkehrendes Motiv der Trianon-Legende erscheint beispielsweise als Paradoxon der Erfolglosigkeit der Kommunikation: „Nur einer schwieg, Graf Apponyi, in vier Sprachen, mit makelloser Aussprache.“ (235) Im Bericht über den Besuch bei der Familie Tüske ist das Moment der Stille in den Kontext der Religiosität eingebaut, doch bedeutet dies nicht, dass die Interpretation dadurch homogenisiert würde: „‚Ich habe Stille gehalten‘, sagt am Morgen die Großmutter. Abends singen sie gemeinsam Psalmen, die Brüder und ihre Frauen, junge Frauen, junge Männer. Ich schweige mit ihnen.“ (242) Das Stillschweigen zeichnet sich in dem Beitrag der Großmutter nicht als Fehlleistung aus, sondern eher als eine produktive Tätigkeit. Die Unterscheidung ist aber aufgrund der grammatischen Formen sowie des Aktes der Benennung möglich. Während die Adverbialbestimmung „mit ihnen“ eine gemeinsame Tätigkeit als gegeben vermuten lässt, löst das Verb diese scheinbare Eindeutigkeit auf: Das Wort kann sich nämlich auf die Stille beziehen wie auf eine gewisse Frömmigkeit, die auch der Erzähler übernimmt, die aber auf das gemeinsame Singen bezogen das ambivalente Verhältnis zur Religiosität widerspiegelt. „[E]in Tropfen im Meer, die Donau in einer Fischsuppe, auch das ist Erkenntnis“ (210), reflektiert der Erzähler während eines Gespräches über die Mahlzeiten in Ráckeve über das Schmecken, auch dieser Sinn wird neben dem Hören und Sehen oft vernachlässigt. Donau abwärts schließt sich ständig den gastroliterarischen Traditionen der ungarischen Prosa an, die Sprache der Kochkunst dient in erster Linie zur allegorischen Vorstellung der soziologischen, gesellschaftlichen und politischen Zustände der Donaulandschaft. Zuerst rückt also das Moment der übertragenen Bedeutungszuschreibung in den Vordergrund: „Die alte Küche betrachtet jedes Abendmahl als das letzte, und sie hat einen kleinen sozialen Oberton (Nebengeschmack)“ (109). Nach der Überquerung der ungarischen Grenze gehen die kulinarischen Genüsse in Qualen über: Die Klagen über den Mangel an Mineralwasser und über billige Brause, kurz, das schlechte Essen wird zum Zeichen des rumänischen Elends. Die Temporalität bleibt weiterhin mit den sensuellen Erfahrungen verbunden, und diese Merkmale der Erzählung sorgen dafür, dass letztlich ein Erzähler aus „Fleisch und Blut“ entsteht. Die Unterschiede in der Selbstrepräsentation, der Narration und im Sprachgebrauch können nicht völlig mit einer Erzählung der allmählichen, zielgerichteten Veränderung vereinbart werden. Daher tendierten viele Kritiker dazu, Donau abwärts als einen Roman über Zwiespältigkeit zu interpretieren. Mihály
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Szegedy-Maszák nennt es in seiner Rezension den Zusammenprall zwischen der Betrachtungsweise der postmodernen und der „wertbewahrenden“ Kunst.29 In der Rezeption wurde bereits früh erkannt, dass der Roman keinesfalls als Nachfolger der „chemisch reinen“ postmodernen Literatur nach dem Beispiel von John Barth gelten kann. Diese Aussage stellt natürlich kein Werturteil dar. Der Text ist weiterhin im Vergleich zu Einführung in die schöne Literatur weniger experimentell. Der Roman berücksichtigt die vorherige Determination des (selbst)deutenden Verhaltens, ohne die tradierten Welt- und Subjektkonstruktionen für völlig relativ zu erklären. Die Erzählung des Reisenden liest sich als eine Allegorie der Unmöglichkeit, sich von der eigenen Vergangenheit zu befreien. Der Reisende verspricht zwar in seiner Werbung „Zeitspiel – Raumspiel“ und „das Unendliche“, „[i]n Wirklichkeit [aber] war er ausschließlich Donaureisender; [. . .] sie kannten ihn schon, der Ungar ist da, wisperten sie sich zu“ (41). Der Text setzt das geschichtlich-kulturelle Erbe der Donau nicht als etwas von vornherein Determiniertes voraus, sondern definiert die Donau vielmehr als Konstrukt, das jeweils von den Interpretationsversuchen der Einheimischen abhängig ist: Sähe er jedoch oder nähme er zumindest an, es gebe etwas, das Ulm mit Wien und dieses mit Belgrad verbindet, und wollte er nicht sagen, dieses Etwas sei die Donau, dieses metaphysische Quatsch-Patsch [. . .] dann bliebe ihm, daß er es ist, der Ulm mit Belgrad verbindet, er, der Reisende. (75)
In die Fortsetzung wird der Attila József-Intertext besonders stark einbezogen, und der Text macht darauf aufmerksam, dass die Interpretation notgedrungen in Traditionen verankert ist: Aber getragen wird das Schiff von der Donau und die Donau vom Gewicht gelebter Leben [. . .] Deshalb ist es so, daß die Donau vor ihm kommt. Und deshalb ist es so, daß er am Kai auf dem unteren Stein sitzt und zusieht, wie die Melonenschale wegschwimmt, falls das jemandem etwas sagt. (75)
Die große Bedeutung von Donau abwärts liegt also nicht darin, dass der Roman eine literaturgeschichtliche Wende signalisiert, relevant sind vielmehr die nicht nur poetischen Fragestellungen im Roman. Was ist mit dem Mythos von Mitteleuropa passiert, den die Erzählung gleichzeitig abzuschaffen und aufrechtzuerhalten versucht? Warum ist die Donaulandschaft als Inbegriff für Vielfalt und gleichzeitig für ein gemeinsames Erbe aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden? Der Verfasserin dieses Artikels fiel des Weiteren unwillkürlich auf, dass in
29 Szegedy-Maszák: „Sok, de nem minden“, 281.
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der Erzählung die (Tschecho-)Slowakei fehlt. Sollte man das etwa als Reflexion über unsere politisch-gesellschaftlichen Zustände auffassen? Die Einzigartigkeit des Romans besteht darin, dass der Text die literarischen Traditionen auf besonders produktive Weise neu definiert. Deswegen stellt Donau abwärts zweifelsohne eine hervorragende Leistung der Reiseliteratur dar, die in der zeitgenössischen ungarischen Prosa außer von László Krasznahorkai kaum vertreten wird. Krasznahorkais Reisebegriff ist jedoch viel klarer metaphysisch geprägt, und obwohl „Schreiben [. . .] auf dem Papier geboren [wird], nicht im Kopf; Reisen auf der Reise“ (28), ist es gut, wenn beide gelegentlich Hand in Hand gehen.
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Péter L. Varga
Mitteleuropa und die „Stille“ von Diktaturen in Péter Esterházys Sprachkunst Was ist Mitteleuropa, von welchen anderen Regionen lässt es sich abgrenzen, wo endet seine Geschichte und wo beginnt seine Gegenwart? Welches Verhältnis entsteht durch das Zusammentreffen von Vergangenheit und Gegenwart zwischen Mitteleuropa und seiner Geschichte, Literatur, Politik und seinen ethischen Traditionen? Auf diese Fragen suchte Péter Esterházy in seinen belletristischen Werken wie auch in seinen Essays und publizistischen Texten nicht bloß Antworten, sondern stellte die Erfahrung in den Vordergrund, dass das Erzeugen bzw. Finden von Antworten ein Ereignis der sprachlichen Entstehung selbst ist. Wahrscheinlich ist hierauf die Kraft des bis heute nicht gelösten, in ferner Vergangenheit entstandenen, aber noch immer wirkenden sprachlichen Dilemmas zurückzuführen, dass wir im Zwischenraum zwischen Westen und Osten nicht in der Lage sind, den Charakter, die Philosophie der „Mitte“ herauszuarbeiten. Im Gegenteil, in der wechselnden Dynamik der Daseinsbedingungen und Distinktionen von Westen und Ostern führt uns der Mangel der Synthese schon das Problem der sprachlichen Benennung betont vor Augen: Sprechen wir von Ost-Mitteleuropa oder Mittel-Osteuropa, wenn wir versuchen, über die (geo-)politische Lage der Region zu berichten, der wir auch Ungarn zuordnen? Im Geografieunterricht ungarischer Gymnasien konnte man, wie es meine Generation für die zweite Hälfte der 90er Jahre bestätigen kann, auf einer vor der Tafel abgewickelten Europakarte mit Bestimmtheit auf das Karpatenbecken zeigen und es als Mitte bezeichnen: die Entfernung von dort nach London, Paris oder zum Uralgebirge ist in etwa die gleiche. Nimmt man aber Esterházys Schreiben, die soziokulturelle und literarische Tradition der Region sowie ihre politischen Systeme in den vergangenen Jahrzehnten in Betracht, stellt die Zuordnung vermutlich eine kompliziertere Aufgabe dar. Wenn der Begriff „Mitteleuropa“ sprachlich existiert (entsteht), bzw. die Daseinsbedingungen eines Mitteleuropas distinktive Merkmale aufweisen, die seiner gesellschaftlichpolitischen sowie sprachlichen Etablierung eine Art referenzielle Basis sichern oder eine solche in Erinnerung rufen („Mitteleuropäer zu sein bedeutet, dass die
Übersetzung: Deutsch von Sophia Matteikat. https://doi.org/10.1515/9783110618082-018
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Kultur westlich, das Leben jedoch östlich ist“),1 muss nämlich vor allem betrachtet werden, wie sich diese Daseinsbedingungen im Sprachgebrauch, pragmatisch verhalten. Das bei Esterházy immer so nachdrücklich auftretende, häufig auf Wittgenstein zurückgeführte Prinzip der Relativität des Sprachgebrauchs und dessen Praxis zielt nämlich nicht auf die Relativierung der Dinge, sondern ihre sprachliche Entstehung ab, das heißt, auch die Dinge selbst erhalten ihre Daseinsberechtigung und ontologische Relevanz als Fragen der Sprache. Esterházys Fiktion und Publizistik handeln in Bezug auf diese unausweichliche Frage im Grunde immer von der Sprache an sich, wenn sie versuchen, Aussagen über das nicht instrumentalisierte Mitteleuropa, über Westen oder Osten bzw. über Ungarn zu treffen: Das „Statement“ ist allerdings immer und ausdrücklich im Entstehen begriffen. Da sie sich mitten im Entstehungsprozess befinden, sind die Texte in der Lage zu bezeugen, wie sich ein politisches, gesellschaftliches und dadurch auch sprachliches System im Licht jener schwerwiegenden Ereignisse verändert, die wir im Nachhinein als Geschichte bezeichnen. (Bei diesen – nicht punktuellen – Ereignissen, die sich als Zäsuren in die Prozesse einschreiben, die den Eindruck von geschichtlicher Kontinuität erwecken, handelt es sich in Esterházys Werken in erster Linie um die radikale kommunistische Diktatur der 1950er Jahre, um die 1956er Revolution und den darauffolgenden Staatssozialismus unter Kádár sowie um den Systemwechsel 1989 und seine Folgen.) Vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, über dieses „Entstehen“ zu berichten, vorwiegend unter Betrachtung Péter Esterházys früher Essays und publizistischer Texte aus den Jahren 1988 bis 1991, sowie die Literaturauffassung zu umreißen, die nicht nur die inneren Zusammenhänge der eigenen Werke aufzeigt, sondern auch jene Aspekte, welche die entscheidenden anschauungsformenden und poetischen Merkmale der im 20. Jahrhundert vollzogenen Transformationen der weltweiten (und mitteleuropäischen) literarischen Tradition gestalteten. Denn so wie der Begriff „Mitteleuropa“ den Horizont von Westen und Osten impliziert, so setzen die Literatur und der Diskurs über Literatur jene Effekte voraus, die in soziokulturellen und politischen Kontexten als vorhanden oder als fehlend, als Sagen oder als Stille erfahren werden können und sogar über das Potential zur Sprach- und Textformung in den entstehenden Werken verfügen. Der Satz „die Kultur westlich, das Leben jedoch östlich“ beinhaltet nämlich – ebenfalls implizit – die dichotome Relationsordnung von Kultur und Leben, eine Art Verschiebung, einen Shift in Zeit und Raum, in dem
1 Esterházy: „A halacska“, 8. Der Text ist ursprünglich für ein ausländisches Publikum entstanden, im Jahr 1988. Der zitierte Satz ist auf Deutsch (als einzelnes Zitat) bereits erschienen in Esterházy: „Anführungszeichen“, 135.
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das eine, auf das andere geschichtet, zwar existiert (Kultur und Leben überlagern einander „materiell“, auf wahrnehmbare Weise), aber dennoch ein Gegensatz zwischen ihnen spürbar ist. Mitteleuropa und die in der Erinnerung lebendigen Diktaturen erlangen erst in dieser spezifischen sprachlichen und existenziellen Konstruktion ihre Bedeutungsfülle und Bedeutsamkeit, da der Kontrast immer sichtbarer und offensichtlicher wird, der sich beim Vergleich mit den Aussagen „die Kultur westlich und das Leben ebenfalls“, „die Kultur östlich und das Leben ebenfalls“ sowie „die Kultur östlich, das Leben jedoch westlich“ auftut. (Letztere Transformation hat vermutlich eine unmögliche referenzielle Basis, das heißt, sie existiert nicht – auch das zeigt, dass die Kontexte der „Mitte“ nicht frei vertauschbar oder veränderbar sind.)
1 Der Blick des „Anderen“, der eigene Blick – Osteuropa und Mitteleuropa als Sprache „Der eiserne Vorhang ist kein Vorhang und nicht aus Eisen.“ – So beginnt Gabriel García Márquez seinen Bericht in der 2017 auf Ungarisch erschienenen Reihe von Reportagen und Reisetagebüchern Utazás Kelet-Európában [Reise durch Osteuropa].2 Der Band verewigt die 1957 unternommene Reise des jungen kolumbianischen Journalisten, die mit der Grenzüberschreitung in die DDR ihren Anfang nimmt und – über Ost- und Westberlin, Leipzig, Prag, Krakau und Warschau sowie die Weltfestspiele in Moskau – schließlich nach Budapest führt, zehn Monate nach der 1956er Revolution, in der Aufbauphase der Kádár-Ära. Die Aussage zu Beginn des Bandes ergibt sich nicht bloß aus den Anforderungen an die Berichterstattung, also aus dem Bestreben des kolumbianischen Journalisten (García Márquez hatte zu der Zeit eine eigene Kolumne im El Heraldo, einer der größten Tageszeitungen Kolumbiens), dem kolumbianischen Leser zu erklären, was der eiserne Vorhang ist und was nicht, denn es ist davon auszugehen, dass sich selbst auf einem anderen Kontinent niemand einen sich über mehrere Länder hinziehenden, aus Eisen angefertigten Vorhang vorstellte, wenn in den Nachrichten über den eisernen Vorhang des im Kalten Krieg befindlichen Europas berichtet wurde. Die in betonter Position stehende Behauptung drückt dennoch den Bedarf aus, die Frage zu klären, und verleiht damit viel eher der Grundannahme Gehör, wonach das Verhältnis von Realität und Sprache verwobener und komplizierter ist, als die
2 García Márquez: Utazás Kelet-Európában, 7. Das Kapitel über den Aufenthalt in Ungarn erschien in László Scholz’ Übersetzung zuerst 2003 in der Zeitschrift Nagyvilág (2003/11).
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Metaphorik der bloßen Aussage vermuten lässt. Aus diesem Blickwinkel erlangt nämlich die Erfahrung Bedeutung, dass die Sprache das, was sie benennt, weniger beschreibt oder charakterisiert als vielmehr entstehen lässt, formt sowie auf seinen gesamten referenziellen Kontext Einfluss nimmt. Die Aufhebung der Metapher, wie García Márquez sie vornimmt, ist also gleichzeitig ein Ergebnis und eine Folge der Geste, welche das Schwanken in der Oszillation und Kontamination der objektiven sprachlich-stilistischen Beschaffenheit der Reportage sowie des subjektiven Charakters der Literatur für einen Moment gleichsam zum Stillstand bringt. Bei dem erwähnten Ergebnis und der erwähnten Folge handelt es sich nicht um die Aufhebung der Unbeherrschbarkeit der Sprache, sondern eine rhetorische Umkehrung: die Idee des Eisernen Vorhangs wird durch die Negation oder sprachliche Kontrapunktierung der surrealen referenziellen Basis sozusagen beherrschbar und, wie das Reisetagebuch und der Bericht bezeugen, auch effektiv zugänglich. Trotz alledem werfen die Gattungen der Publizistik regelmäßig die Frage nach der Erörterbarkeit von Ereignissen auf. García Márquez ist auch deshalb nicht in der Lage, den osteuropäischen Kommunismus zu „interiorisieren“, weil er einerseits trotz seiner linken politischen Einstellung weder den Einzug der sowjetischen Truppen nach Budapest 1956 noch die blutige Niederschlagung der Revolution guthieß (sondern dies im Gegenteil tief verurteilte, da es in den Städten sichtbare Spuren der Armut, Rückständigkeit, Einengung und Nachkriegstraumata hinterließ), andererseits verschafften ihm seine westlichen Erfahrungen in Italien, Spanien und hauptsächlich Frankreich die Möglichkeit, verschiedenste Blickwinkel zu betrachten und einander gegenüber zu stellen. Diese distanzierte, aber nachsichtige Position vermeidet auf sprachlich durchdachte Weise jene Fallen, welche die potemkinschen Stadtteile, Plätze und Situationen ihr stellen. Sein Besuch im Moskauer Mausoleum und die Beschreibung von Lenins, aber vor allem Stalins wachsartigem Leichnam stellt die scheinbare Verschiebung der Verhältnisse zwischen objektiven und subjektiven Aspekten des entstehenden Textes von Grund auf richtig: Stalin schlummert ohne schlechtes Gewissen. Links auf seinem Brustkorb hängen drei Reihen von einfachen Verdienstorden, seine Arme liegen in natürlicher Haltung, ausgestreckt neben seinem Rumpf. Da die Verdienstorden in kleinen blauen Bahnen nebeneinander sitzen, verschmelzen sie mit dem Sakko und wirken auf den ersten Blick nicht wie Auszeichnungen, sondern Insignien. Ich musste meine Augen anstrengen, um sie besser sehen zu können. Daher weiß ich, dass sein Sakko genauso dunkelblau ist wie das von Lenin. Sein – vollkommen graues – Haar sieht im Schein der Särge rot aus. Sein Gesichtsausdruck ist menschlich, lebendig, es ist eine Grimasse, die nicht nur eine Kontraktion der Muskeln zu sein scheint, sondern der Ausdruck eines Gefühls. Es steckt eine Spur von Hohn in dem Gesichtsausdruck. All das, abgesehen von seinem Doppelkinn, passt nicht
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zur Persönlichkeit. Er ist nicht wie ein Bär. Er ist ein ruhiger Mensch, ein guter Freund, der auch noch einen Sinn für Humor hat. Sein Körper ist kräftig, aber leicht, seine Körperbehaarung fein, und sein Schnurrbart nur ein bisschen stalinartig. Die stärkste Wirkung hatte die Zartheit seiner Hände auf mich, mit den dünnen und durchscheinenden Fingernägeln. Er hatte weibliche Hände.3
In der zitierten Passage finden sich zahlreiche Attribute und Umschreibungen, die – natürlich zutreffend – suggerieren, dass sich der die Beschreibung notierende Beobachter darüber im Klaren ist, welchen Einfluss die vor ihm ausgestreckte Figur in der und auf die Geschichte gehabt hat, was ihre Rolle gewesen ist und was für Taten mit ihrem Namen und ihrem Regime verknüpft sind. Aber schon die Eingliederung dieses Vorwissens („Stalin schlummert ohne schlechtes Gewissen“) wird in der Widersprüchlichkeit des Eindrucks scheinbar relativ („passt nicht zu der Persönlichkeit“, „ist nicht wie“, „nur ein bisschen stalinartig“). Es wäre jedoch ein Fehler, anzunehmen, dass der Beobachter mit dieser Beschreibung die Taten des Diktators „entschuldigt“ oder relativiert, denn schließlich beinhaltet der Bericht eine grundlegende Unterscheidung, welche die ständig wechselnden sprachlichen Manifestationen der Präkonzeption und der Subjektivität von Grund auf modifiziert. Gegenstand der Beschreibung ist nämlich nicht Stalin, sondern dessen Leichnam im Mausoleum. Dies ist ein wichtiger und ausschlaggebender Unterschied, der vor allem eine Aussage über das Verhältnis von Geschichte und Sprache trifft. Die „Ekphrasis“ bietet dem aus Vorwissen resultierenden Urteil und dem kontrapunktierenden Vorgang des Beschreibens Gelegenheit, gleichzeitig in zwei unterschiedliche Richtungen zu wirken: An den im Mausoleum platzierten und zum Ausstellungsobjekt gemachten Körper knüpfen sich durch den Charakter und den räumlichen Kontext der Ausstellung sogleich die geschichtlichen Taten, gleichzeitig dekonstruiert die Beschreibung aber durch bestimmte Methoden (die präzise äußerliche Erfassung des Leichnams, der Vergleich von dessen Eigenschaften mit den – vermuteten oder tatsächlichen – Eigenschaften des lebendigen Körpers) die bereits vorhandenen Ideen und alles, was das Umfeld des Mausoleums im Vorfeld zu suggerieren versucht haben mag. Die Sprache der Beschreibung lässt den Bericht also eher wieder zur Objektivität tendieren, als dass sie ihn subjektiv werden ließe, da die Darstellung primär und sachlich vom Körper handelt und erst zweitrangig vom Diktator selbst. In der Position und mit dem Horizont des Beobachters ist es natürlich und sogar notwendig, dass der Anblick sich nicht in allen Nuancen mit jedem vorweg gebildeten Wissen, Urteil oder jeder Vorstellung deckt und umgekehrt; weiterhin wirkt in Bezug hierauf die Frage verunsichernd, auf was für moralischen Grundlagen dieses Urteil beruht, das heißt, ob es eine östliche, westliche oder „mittlere“ Dimension hat. Nimmt also
3 Ebd., 132–133.
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die Anschauung des Berichterstatters, des Publizisten eine der Perspektiven an, die zum Teil aus der Extensität der Reise entspringen? Mit gänzlich anderen Fragen ist der unverfehlbar härtere Ton jener Berichte und Reportagen verbunden, die sich mit den osteuropäischen, sowjetisch geprägten „Volksdemokratien“ beschäftigen, sowie ihr performatives Potenzial par excellence, das zwischen den inneren und äußeren Spannungen der geopolitischen Gegensätze im Kalten Krieg zur elementaren Funktion des Reisetagebuchs, der Reportage, des Berichtes zurückkehrt. Vor allem in der Hinsicht, dass die Institution des unabhängigen oder sogar kapitalistischen (d. h. marktbegründeten) Journalismus zu der Zeit besonders in der Sowjetunion als politisches und wirtschaftliches Konzept fremd (hier tatsächlich: nicht bekannt) war,4 und dass in den als „Volksdemokratie“ bezeichneten, sowjetisch geprägten Ländern Europas alle politischen Bestrebungen, die sich von der Sowjetunion abwandten, mit schweren Konsequenzen verbunden waren. Gerade einmal zehn Monate nach der 1956er Revolution, in einem Ungarn, das sich in der sehr langsamen Wiederaufbauphase befand, war García Márquez also gezwungen, mit performativer Kraft Folgendes festzuhalten, zuerst am Vorabend seiner Abreise: Als ich am letzten Abend im Hotelrestaurant einem der kommunistischen Führer erzählte, wie roh und offen ich diesen Bericht verfassen würde, war er etwas verunsichert, doch dann wurde er nachdenklich. Sie werden uns ernsthaften Schaden zufügen, sagte er, aber vielleicht hilft uns das, von unserem hohen Ross herabzusteigen.5
Ein Jahr später dann, 1958, rückblickend: „Die Hinrichtung von Imre Nagy ist eine gnadenlose Botschaft an alle, die in der Volksdemokratie eine von Moskau unabhängigere Politik verfolgen wollen.“6 Imre Nagys Hinrichtung als einen politisch motivierten Mord zu benennen, war in dieser Ära keinesfalls selbstverständlich, nachdem das Kádár Regime gerade 1956 an einer begrifflichen Umstrukturierung arbeitete und die Bezeichnung des Ereignisses als Ereignis – Imre Nagys Liquidierung inbegriffen – praktisch auslöschte, um sie durch eine verzerrende, scheinpolitisierte Interpretation zu ersetzen: Die 1956er Revolution wurde als Gegenrevolution bezeichnet und damit das größte eigene Verbrechen quasi legitimiert, nämlich die Anforderung der sowjetischen Truppen zur Niederschlagung der Revolution. Péter Esterházy äußerte sich in einer späteren
4 Siehe zum Beispiel ebd., 117–118. 5 Ebd., 165. 6 Ebd., 173.
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Retrospektive zur Sprache von Diktaturen folgendermaßen über die (sprachliche) Struktur von Kádárs Staatssozialismus: Es ist verblüffend und entwaffnend, fast schon bewegend, wie sehr die Kádár-Diktatur von einem einzigen Wort abhing. Ihre Legitimation (vor sich selbst) und ihre Kraft schöpfte sie daraus, dass sie die Revolution als Gegenrevolution bezeichnete. [. . .] Gegenrevolution sagten die, die sie dafür hielten oder sich offen unterwarfen oder schon von allem genug hatten und gar nichts mehr dachten, wer sich offen widersetzte, sagte Revolution. Und dann gab es das offen Nichtssagende, es war die große Erfindung des Kádár-Regimes, dies zuzulassen und sogar zu unterstützen, der Ausdruck dafür war „die 56er Ereignisse“, später mit leichter Ironie (auch wenn wir nicht wissen, wohin die Spitze der Ironie weist): die bedauerlichen 56er Ereignisse.7
Nach dieser Deutung von Esterházy wird der das Ereignis auslöschende Begriff „Ereignis“ in Bezug auf 1956 zum Synonym oder Interpretationsbereich für „nichtssagend“, die von ihm erwähnte „Spitze“ der Ironie wiederum ist in dem Attribut „offen“ zu finden, denn „offen nichtssagend“ zu sein hat selbst in dem Zusammenhang wenig Bedeutung (mit Null kann man nicht multiplizieren, hätte Esterházy mit einem seiner ursprünglichen Ausbildung nahestehenden Beispiel gesagt, besonders, da er seinen hier zitierten Vortrag im Rahmen der Reihe ironisch mit einer arithmetischen Beispielsammlung eröffnete), dass „sich offen zu widersetzen“ damals bedeutete, „nicht stumm zu bleiben“, also öffentlich Widerstand zu leisten, Tatkraft zu zeigen. Dieses „wider“ verhält sich in diesem Punkt ähnlich, wie das in Esterházys sarkastischer Umkehrung zum Negationsaffix avancierende Wort „sozialistisch“: „Das Wort ‚sozialistisch‘ zum Beispiel [. . .] verhielt sich wie ein Privativaffix, sozialistische Demokratie bedeutete ein Fehlen von Demokratie, sozialistische Moral ein Fehlen von Moral, und sozialistische Zukunft war die Aussichtslosigkeit selbst [. . .].“8 So betrachtet ist Sprachgebrauch gleichzeitig auch Sprachkreation, ein eigenes, explizites Programm jeder Diktatur oder im Grunde ihre Grundvoraussetzung.
7 Esterházy: A szavak csodálatos életéből, 17. Der Inhalt des schmalen Bandes erklang zuerst einige Jahre nach der Jahrtausendwende in einer populärwissenschaftlichen Vortragsreihe gemischter Disziplinen, die als „Allwissensuniversität“ bezeichnet wurde. Esterházy wurde von den Organisatoren eingeladen, einen Vortrag zum Thema „Was ist Literatur?“ zu halten, worüber er folgendermaßen reflektierte: „Ich würde ungern um die Frage „Was ist Literatur?“ herumeiern, das überlasse ich den Fachmännern und Fachfrauen, aber umformuliert ginge es mir schon leichter von der Hand, nämlich in der Form was zum Teufel ist eigentlich Literatur? (Und wenn wir uns nicht in einer so vornehmen und/oder öffentlichen Einrichtung befinden würden, dann könnte anstelle des Teufels auch ein anderer Ausdruck stehen – wie allgemein bekannt ist, möchte ich hinzufügen). Und dann ginge es halt ein bisschen um diesen Teufel.“ (6–7.) 8 Ebd., 16.
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Esterházys eindeutige Reflexion auf diese Sprachkreation zeigt auf, dass die Wörter in dem gesellschaftlichen, politischen (und sprachlichen) Umgestaltungsprozess nach dem Systemwechsel weder von den Bedeutungen, Gesten und Reflexen bereinigt werden können, mit denen sie zuvor getränkt waren, noch jene Bedeutungen zurückerhalten können, die aus ihnen verschwunden sind – oder eben gelöscht wurden. Wenn wir als Ausdruck für den Terroranschlag in New York die Bezeichnung „Ereignisse im September“ hören, dann hört unser in der Diktatur geschärftes Ohr ein leichtes Stolpern, Stottern, eine Verunsicherung, als ob wir zwar etwas sagen wollten und auch wieder nicht, oder sogar: als ob wir etwas denken wollten und auch wieder nicht.9
Das letzte Glied dieser Satzkonstruktion, das eine Steigerung darstellt, schließt mit ein, dass die Bezeichnung („Ereignisse im September“) nicht einfach mit dem Akt des Aussprechens gleichzusetzen ist, das heißt, das Benannte wird – anders als bei der entleerenden, auslöschenden Geste des Kádár-Regimes – nicht einfach als leerer sprachlicher Markierer erschaffen, sondern es wird ein interpretativer Horizont angelegt: „als ob wir etwas denken wollten und auch wieder nicht“. Dieses „Stolpern“, „Stottern“, die „Verunsicherung“ ruft das Attribut „offen“ und das Risiko der damit verbundenen Geste in Erinnerung: das „Ereignis“ als Begriff wirft das Problem auf, ob man es aussprechen darf, und wenn es ausgesprochen wird, ob es auch gedacht werden darf. Auf eigentümliche Weise geht in dieser Konstellation das Aussprechen dem Denken voraus, aber nur, weil der Gedanke, im Gegensatz zum „offenen“ Aussprechen, versteckt bleiben kann und daher nicht der Gefahr der Retorsion ausgesetzt ist. Zwölf (2001) bzw. vierzehn Jahre (2003, Jahr des Vortrages und seiner Veröffentlichung) nach dem Systemwechsel zeigt diese sprachliche Assoziation bzw. die Anspielung darauf, wie lange die Wirkung der sprachlichen Gewalt und der Überschreitungen einer Diktatur sowie die dadurch entstandenen, oft unterbewussten Reflexionen anhalten und damit Spuren im gesellschaftlichen, politischen, aber auch persönlichen oder gar umgangssprachlichen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch hinterlassen können. Eine Nation, eine Gesellschaft interiorisiert diese Einflüsse, macht sie sich „zu eigen“, und nicht selten sind nur neuerliche Gewalt und Überschreitungen in der Lage, sie zu überschreiben, was mit der Erfahrung einhergeht, dass die (sprachliche) Entstehung von Gewalt in gewisser Weise mit dem Schweigen, dem Verschweigen und der Stille in engem Zusammenhang steht.
9 Ebd., 17. Es ist bezeichnend, dass auch in der ungarischen Ausgabe der zitierten Reportagereihe von García Márquez die Wendung „56-er Ereignisse“ auftritt, als würde man in die „fremde“ Perspektive die Eingeschränktheit und Erdrücktheit der „eigenen“ Perspektive sowie die sprachliche Entleerung oder Auslöschung des tatsächlichen Ereignisses hineinschreiben.
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2 Die „Stille“ von Diktaturen – Lauschen auf die Sprache Wenn wir behaupten, die sprachliche Entstehung von Gewalt stehe mit dem Schweigen und Verschweigen in Verbindung, dann müsste daraus zum Teil folgen, dass die Sprache, das Sprechen und der Akt des Aussprechens, das heißt, das Performativum des „Offenen“, mit der Freiheit in Verbindung stünden. Obgleich in der ungarischen literarischen Publizistik und Essayliteratur während des Systemwechsels 1989 sowie in den darauffolgenden – bis heute unabgeschlossenen – Prozessen das Prinzip, das Konzept, der Begriff und die Möglichkeit der Freiheit unbestreitbar von entscheidender Bedeutung waren – von Esterházy bis zu Péter Nádas, von István Kemény bis zu János Térey, von László Garaczi bis zu Gábor Schein – so deutet die Unabgeschlossenheit dennoch darauf hin, dass der Übergang von der „Volksdemokratie“ zur „echten Demokratie“ nicht nur nicht reibungslos verlaufen ist, sondern vielleicht niemals wirklich stattgefunden hat. Demzufolge impliziert auch die sprachlich-intellektuelle Situiertheit des Prinzips, Konzepts, Begriffs und der Möglichkeit von Freiheit nicht eindeutig, dass diese mit der Sprache, dem Sprechen und dem Akt des Aussprechens sowie im weiteren Sinne mit ihrem Horizont der „offen“ freien und gut funktionierenden Öffentlichkeit in einer Beziehung steht, in der das eine das andere miteinschließt. Die Frage ist um einiges komplizierter und war in Péter Esterházys Schreiben praktisch von Anfang bis Ende Gegenstand ständiger Reflexion. Die Sprache der Diktatur ist die Stille, die tödliche, endlose, unbewegliche Stille. Ich kenne nur noch die abgeschwächte Version, die weiche, den Softporno, ihre Sprache ist das Schweigen, das Schweigen gerade über die Diktatur, denn auch eine schwache Diktatur ist eine Diktatur, auch das Schwache ist stark, es verschlingt das Leben der Untertanen.10
In diesem Kontext ist das Schweigen die Gewalt, die darin besteht, „über etwas nicht zu sprechen“, noch dazu das Verschweigen der Selbstreflexion der politischen Ordnung. (All dies wird im Allgemeinen von lautstarker Propaganda sowie der Kategorisierung in geförderte, tolerierte und verbotene Kunst begleitet, von den Stufen von Gerede (nach Heidegger) und Zensur also.) Die Attribute der „Stille“ („tödlich, endlos, unbeweglich“) signalisieren, dass demgegenüber die „offene“ Sprache zuweilen die Möglichkeit der Vitalität erschafft, der Neuerfindung, des kritischen Geistes, der Beurteilung, sowie Chancen auf Flexibilität und intellektuelle Bewegung, Dialog und Polylog – oder sogar deren Notwendigkeit. Die Sprache selbst steht allerdings außerhalb beziehungsweise über allen Intentionen von
10 Esterházy: A szavak csodálatos életéből, 18.
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Stille und Sprechen, und diese Erkenntnis reflektiert auch auf das „Ist“, die sprachliche Deixis von Existenz und Entstehung, eine zentrale Figur in Esterházys Lebenswerk: Denn die Menschen kann man einschüchtern, und dann erschrecken sie, dann gestehen sie alles und vergessen alles. Die Sprache aber pfeift auf Diktatoren, sie lacht sie nicht einmal aus, sie zuckt nur mit den Schultern, und deshalb haben die Diktatoren recht damit, sie verändern zu wollen. Doch die Sprache ist schwer zu verändern. Die Sprache ist natürlich nicht gut und moralisch, es ist nicht so, dass sie Diktatoren hasst und die Freiheit liebt, die Sprache ist, und das Ist ist schwer zu verändern.11
Beim „Ist“ handelt es sich also um eine Besonderheit, die sich weder vermeiden noch auslöschen lässt, denn obgleich die radikale Änderung der Struktur der Öffentlichkeit mit zwangsmäßigen Modifikationen der Sprechsituationen einhergeht und die agitierende Propaganda und die Zensur statt „offener“ Sprache die Auflösung der freien Rede bieten, erfolgt das „Verändern“ der Sprache dennoch über die Stille, das Schweigen und das Verschweigen, selbst im System der „schwachen“ Gewalt, und nicht über die Auslöschung der Sprache. Nichtsdestoweniger und ohne alledem zu widersprechen wird die Sprache in den Händen ihrer Sprecher beziehungsweise in dem eigenartigen politisch-ästhetischen System, in dem Diktaturen entstehen und existieren, auch kontaminiert und verschmutzt. Gerade deshalb erfordert die Pragmatik der Sprache zu jeder Zeit ein reflexives Zuwenden und Zuhören. Die Kenntnis der Vergangenheit von Wörtern ist keine schriftstellerische Fachaufgabe, sondern quasi eine patriotische Pflicht, in jedem Fall eine notwendige (wenn auch keine hinreichende) Bedingung für das europäische Gespräch. Wenn ein Wort beschmutzt worden ist, also schmutzige Kerle es abgenutzt haben, dann gehört auch dieser Gebrauch zu dem Wort. Ob wir wollen oder nicht. Das ist keine Frage der Entscheidung oder des Entschlusses. [. . .] Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist keine politische Frage, sondern eine sprachliche. (Wobei natürlich wahr ist, dass das wiederum eine politische Frage ist . . .) Die Sprache ist stärker. [. . .] Und da sagen wir vergebens, dass wir das [einen Ausdruck, der beschmutzt wurde – Anm. d. Verf.] nicht so gemeint haben. Das wollten wir so nicht sagen. Sehr schön, aber dann müssen wir diese Sprache lernen, es gibt keinen Grund, das aus Gekränktheit nicht zu tun, und dann sagen wir das, was wir denken. Mehr oder weniger. Aber ist das nicht absurd? Nur, weil ein blöder Nazi oder Pfeilkreuzler diese Wörter benutzt hat [z. B. „Endlösung“, „Lebensraum“ – Anm. d. Verf.], deshalb soll ich sie nicht benutzen dürfen? Ja, deshalb. Aber ich verwende das Wort in seinem ursprünglichen Sinn! Es gibt keinen ursprünglichen Sinn, sondern es ist, was ist. Aber das ist doch eine
11 Ebd., 16 (Hervorh. P.L.V.). Zur vorliegenden Frage siehe auch Bengi: „Indirekt in der Schwebe“.
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Einschränkung meiner Freiheit! In der Tat, das ist es. [. . .] Dies ist keine Geste von uns an andere, nicht um die Geschichte anderer geht es, sondern um unsere, und unsere Empfindlichkeit ist nicht Höflichkeit, sondern Moral.12
Es ist beachtenswert, dass die Sprache, der die Möglichkeit der offenen und dialog- bzw. polylogfähigen Rede innewohnt sowie die Chance auf kritische Beurteilung, Neuerfindung und Korrektur, der Diktatur über das „Ist“ Widerstand leisten kann und sowohl deren „Stille“ erzwingt, als auch Schweigen und die mit dem Verschweigen einhergehende (sprachliche und tatsächliche) Gewalt (wobei die beiden Formen oft koinzidieren), und gleichzeitig mit Nachdruck zu der präzisen, intellektuellen, reflexiven Geste des Zuhörens auffordert. Die Pragmatik des Wort- und Sprachgebrauchs schließt nämlich die Vorstellung vom „ursprünglichen Sinn“ aus und hält stattdessen im hermeneutischen (und leicht theologischen) Horizont der Bezeichnung („es ist, was ist“) den pragmatischen Kontext der Entstehung fest. Das leichte Verrücken des „Ist“ einerseits in Richtung der Sprechhandlung von Erschaffen und Benennen, andererseits in Richtung der „zum Gebrauch zur Verfügung stehenden Ausrüstung“ (d. h. sich mit so viel zufrieden geben, wie da ist, wie zur Verfügung steht) – das ist nicht zufällig so, und die Geste, die von den individuellen affektiven Intentionen (der Empfindlichkeit) des Sprechers unabhängig ist, ist keine protokollarische Form, die sich in einer gegebenen Sprechsituation ergibt (Höflichkeit), sondern in erster Linie Moral. Da allerdings auch die Moral – um Paul de Man zu paraphrasieren – nur eine diskursive Modalität von vielen ist,13 gehört sie ebenso unter die Hoheit der Sprache, unter ihr „Ist“, wie auch die von der Pragmatik erzwungene Aufmerksamkeit oder Disziplin im Sprach- und Wortgebrauch.14 All dies erklärt vermutlich auch, dass Esterházys frühe Essays und Publizistik die Vielfalt von Meinungen, Ansichten, Perspektiven, das freie Nebeneinander und die Variabilität verschiedener Diskurse und Ausdrucksweisen sowie
12 Ebd., 20–21, 22. Die erste Hervorhebung stammt aus dem Originaltext, die zweite vom Beitragsautor. 13 Siehe de Man: Allegories of Reading, 207. 14 „Die Vergangenheit der Wörter“, ihre Kenntnis, die Bezeichnung in der Gegenwart, aber auch die theologischen Bezüge der in der Vergangenheit der Wörter steckenden Temporalität stehen im Buch Hrabals nebeneinander, dennoch überschreiben bzw. revidieren einander – in Esterházys kontrapunktierender bzw. immer auch „Nebendiskurse“ erwähnender Redeweise – der theologische und der pragmatische Kontext: „Der erste Augenblick der Zeit ist identisch mit dem Augenblick der Schöpfung, schreibt der heilige Augustinus; die sich auf die Zeit beziehenden Bemerkungen sind unersthaft, man wehrt sich vergebens, die Sätze sind von der Zeit so durchtränkt, daß sie darinnen waten, sie planschen bestimmt nicht, im besten Fall stapfen sie durch das Naß, man kann die Zeit aus ihnen herauswringen, wie das abgestandene Wasser aus einem nassen Küchentuch.“ Esterházy: Das Buch Hrabals, 11.
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das flexible, zuweil auch innerhalb eines Absatzes oder Satzes wechselnde Auftreten von Polymodalität inszenieren.15 Seine zwischen 1988 und 1991 entstandenen Arbeiten versuchen gerade deshalb, vorrangig der Sprache gerecht zu werden – und damit auch unmittelbar dem von Esterházy in seinem gesamten Lebenswerk registrierten und reflektierten „Ist“ –, und zwar in dem Sinne, dass die Beschaffenheit der Sage (nach Heidegger) von der „Wahrheit“ der Sprache und ihrer Pragmatik gleichermaßen abhängig ist. Hierbei ist eine Folge dieser in zahlreichen Texten der Fiktion und Publizistik ausgearbeiteten und angewandten Ausdrucksweise auch die Einsicht, dass die Sprache im Schaffensprozess aufgrund ihrer Unbeherrschbarkeit eher „Partner“ ist als „Meister“, Werkzeug oder instrumentalisierbares Medium.16 In diesem Sinne erstreckt sich die Verflechtung von Sprache, Politik und Privatleben ganz bis zu den grammatischen Fragen von Subjekt und Prädikat, Kasus und Flektion, beziehungsweise bis zur ironischen Registrierung der instrumentalen Unbeherrschbarkeit von Wörtern und Dingen, woraus sich als eine der wichtigsten Konsequenzen ergibt, dass zwischen dem Glauben an die Sprache und dem „Ist“ der Sprache, mitten in einer als temporär empfundenen Ära, die Illusion der für allgemein akzeptiert gehaltenen, erworbenen oder fertig vorgesetzt bekommenen Bedeutungen aufgehoben wird: 1956 war immer noch eine Gegenrevolution, als es schon längst tragisch war. Ich bin gespannt, wen sie hier als Sieger hervortun werden. Und wer hat die Befehle erteilt? Oder erhalten? Woher? Von wem?
15 Hierzu siehe Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 240–253. Über die Essay- und Publizistiksammlungen Az elefántcsonttoronyból (1991) und A halacska csodálatos élete (1991) schreibt der Verfasser der Esterházy-Monografie: „Man kann sagen, dass hier ein Sprachgebrauch eine mögliche Wendung der ungarischen literarischen Publizistik vorausprojiziert, der die Gültigkeit seiner eigenen Aussagen nicht vom implizierten Leseranspruch auf ‚Gegenrede‘ abhängig macht.“ (243.) 16 „[. . .] denn es kann ja noch stimmen, dass der Kollege der Meister war, und der Vers nur der geschmückte Diener, am Ende ist aber doch die Sprache der Meister. Daher kommt es, dass ich zur Treue nicht meinem Land, meiner Heimat verpflichtet bin, nicht meiner Klasse, wenn es die gibt, nicht meiner Familie, sondern einzig und allein der Sprache, der ungarischen Sprache. Da bin ich in guter Gesellschaft.“ A szavak csodálatos életéből, 11. Esterházy zitiert ein Gedicht einer der ungarischen Größen der klassischen Moderne, Endre Ady, Hunn, új legenda [Hunne, neue Legende], 1913. Dieser Passus versucht, den sprachphilosophischen Unterschied zwischen Adys klassischer Moderne und Esterházys Nach- bzw. Postmoderne deutlich zu machen, noch dazu zugunsten des Letzteren, denn der Gedanke der Unbeherrschbarkeit der Sprache kann nachträglich in die Rezeption der klassischen Moderne hineingeschrieben werden, wenn auch nur über die Poetik eines Gegenbeispiels.
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Aber so weit kommt es ja noch, dass ich politisierte – oder ist das Indikativ? Es kommt dazu, dass ich politisiere, dass du politisierst, dass er/sie/es politisiert . . . ja, Indikativ. Damit wäre das also auch geklärt: wenn man politisieren kann, im Indikativ, dann muss man nicht – ich wollte das hier nur sprachlich gegenabhandeln, im Prinzip.17
Das absichtliche Spiel mit dem aleatorischen Charakter der Sprache beziehungsweise dessen politische Ausnutzung über die Zerlegung und Einschiebung sprachlicher Spiele (Gegenrevolution und „gegenabhandeln“), das sind offensichtlich betont sprachliche Fragen, was sie zu politischen Fragen macht, was wiederum sprachliche Fragen ergibt – es entsteht also eine endlose Schleife, in welche die Komponenten einander wieder und wieder eingliedern. Das alles hat allerdings eine wichtigere Konsequenz als nur die modale und semantische Unfixierbarkeit dieser Ausdrucksweise oder das spielerische Vergegenwärtigen der Gattungs- und Stiltraditionen, die durch die zitierten Sprachformen in Erinnerung gerufen werden, denn es erschafft genau jene dialogische oder sogar polylogische Stimmführung, durch die, da sie immer von der tropologischen Bewegung der Sprache abhängt, die Offenheit der Ausdrucksweise und der Bedeutungsbildung überhaupt erst wahrnehmbar wird.18 Die Poetik des Lauschens auf die Sprache brachte zur Zeit des Systemwechsels im Grunde die Möglichkeit der Erneuerung der literarischen Publizistik mit sich, doch gleichzeitig – wie schon angedeutet – war sie auch in Esterházys (belletristischem) Lebenswerk von Bedeutung. Die Behauptung ist daher berechtigt, dass Esterházy sich in seinen publizistischen Texten durchaus nicht als Sprachrohr oder als Vertreter irgendeiner (politischen oder sprachlichen) Wahrheit inszenierte (wenngleich natürlich dennoch spürbar ist, dass er in seiner politischen Anschauung die Errichtung der Demokratie befürwortete), sondern als eine Art „Produkt“ der Sprache, welche die Rede, die Aussage (nach Gadamer) und den offenen Dialog möglich macht, die „tödliche, endlose, unbewegliche“ Stille aber bricht.
17 Esterházy: „Most, hogy így“, 51. (Hervorh. im Original.) Anm. d. Ü.: Im Original spielt Esterházy hier mit der Frage, wie das Verb „politisieren“ (politizál) konjugiert wird – regelmäßig oder als „ik-Verb“. Letzteres bezeichnet eine Gruppe von Verben, deren Konjugation in einigen Formen von der Regel abweicht, doch es ist natürlich fraglich, ob dieser Konjugationstyp für neuere Fremdwörter, deren Stamm den historischen „ik-Verben“ ähnelt, übernommen werden sollte – auch angesichts dessen, dass diese Konjugationsregel im heutigen ungarischen Sprachgebrauch ohnehin immer seltener eingehalten wird. 18 „Die offene Rezipierbarkeit des Textes hängt hier nicht einfach von der Komplexität des Registers ab und auch nicht von der Vermischung der spielerischen, frivolen, verdorbenen, ironischen, alltäglichen oder gehobenen Wendungen der Sprache in einer Art Repertoire, sondern von der Offenheit des Spielraums zwischen der prinzipiellen Verneinbarkeit und Bejahbarkeit der Aussagen. Davon, dass durch sprachliches Verhalten mitgeteilt wird, dass die diskursive Ausgestaltung dieses Raumes nicht grundsätzlich die Regeln seiner semantischen ‚Bespielbarkeit‘ vorschreibt.“ Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 244. (Hervorh. im Original.)
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3 Mitteleuropa erträumen, Heimat erträumen Die sprachliche Leistung der oben erläuterten Ausdrucksform ist nicht weniger als die Hermeneutik des Bestrebens nach gegenseitigem Verständnis und Gedankenaustausch, sie begreift Sprache als interpersonales Verbindungsglied, statt sie sich als Mittel der Spaltung für eine scheinbare Herrschaft zunutze zu machen; weiterhin schafft sie die nötigen Bedingungen für die Offenheit von Verständigung, kritischem Diskurs und Argumentation über die Allgemeinheit, ohne diese dabei ab- oder einzugrenzen, sondern indem sie sie noch erweitert.19 Eine diesen Prinzipien entsprechende Publizistik konnte unmittelbar vor und nach dem Systemwechsel auch über jene Wende von Anschauung und Sprachgebrauch Auskunft geben, die in der Geschichte der ungarischen Prosa symbolisch mit dem Jahr 1986 verknüpft ist, dem Jahr der sogenannten „Prosawende“ (als nämlich die Einführung in die schöne Literatur und Péter Nádas’ Roman Buch der Erinnerungen erschienen). Es ist also deutlich spürbar, dass die von Esterházy betriebene Publizistik auch die Merkmale seiner Prosa aufweist und umgekehrt: Seine belletristischen und publizistischen Werke erhalten ihre Aussagekraft in Bezug auf die inneren Charakteristika der Literatur sowie auf die äußere (referenzielle) Basis der entstehenden Welt vor allem durch die Aufhebung der sprachlichen Trennung (der Opposition von Schreiben und Realität).20
19 Vgl. Péter Sziráks frühe Beobachtung: „Diese Ausdrucksweise, zu deren wichtigstem Merkmal die Distanzerzeugung, die Ausarbeitung der Szenierung und Situation und das kontrapunktierende Balancesystem wurden, sowie das ‚Abbremsen‘ der Schließung des Horizonts über die Parologie dienten dem Kampf gegen die monologische Wahrheitsauffassung. Aus heutiger Sicht scheint es, als sei die Geschichte von Esterházys ‚Publizistik‘ zugleich auch die Fieberkurve der geistigen Situation Ungarns am Ende der achtziger und Anfang der 90er Jahre.“ Szirák: Az Úr nem tud szaxofonozni, 87. – Der letzte Satzteil des Ausschnitts, der sich auf die „geistige Situation Ungarns am Ende der achtziger und Anfang der 90er Jahre“ bezieht, stellt Esterházys Essays und andere publizistische Texte als herausragenden Punkt in der Geschichte der ungarischen Publizistik dar. Dass der Begriff „Publizistik“ in diesem Zusammenhang dennoch in Anführungszeichen auftaucht, was seinen schwankenden, nicht genau definierbaren oder zuverlässigen Status signalisiert, kann dadurch erklärt werden, dass die nach Esterházy offene, freie und dia- bzw. polylogische Sprache und Rede sich erst zu dieser Zeit stabilisieren und jene Charakteristika annehmen konnte, die auch die sprachlich-rhetorischen Merkmale des Prosaverständnisses nach der Moderne aufweisen beziehungweise dessen sprachliche Sichtweisen zur Schau stellen. 20 Vgl. „Hier zeigt sich jenes literarische Bestreben Esterházys [in seinen publizistischen Arbeiten] in einer neuen Form (und steht gleichzeitig vor ungewohnten Möglichkeiten), das in der Einführung nicht nur die Sonderstellung der literarischen Sprache in den Registern beendete,
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Unter sprachphilosophischem Aspekt zählt Esterházy weitere gewichtige Anschauungsmerkmale auf, als er in seinen Mitteleuropa-Schriften (in einer Laudatio) unter Aufdeckung der Illusionen und Lügen des Existenzverbs „sein“ in der ersten Person Plural („wir sind“) den russischen Schriftsteller Joseph Brodsky zitiert, dem zufolge das politische System, die Form der gesellschaftlichen Ordnung, so wie gewöhnlich jedes System, aufgrund seiner Bestimmtheit eine Vergangenheitsform ist, die sich der Gegenwart (und häufig der Zukunft) aufdrängen will – das darf am wenigstens derjenige vergessen, dessen Metier die Sprache ist. Für den Schriftsteller besteht die wahre Gefahr nicht in der Möglichkeit (und nicht selten Praxis), dass der Staat ihn verfolgen könnte, sondern darin, dass er sich von den monströsen, zeitweise den rechten Weg einschlagenden, aber immer vorübergehenden Formationen des Staates hypnotisieren lassen könnte.21
Das „Ist“ der Sprache und die Existenz des „Wir sind“ stehen an diesem Punkt allerdings noch getrennt, so sehr, dass eine der ernsthaftesten und schwerwiegendsten Behauptungen der zu dieser Zeit entstehenden Publizistik der Schrecken der identitätslosen Situation ist, die durch die politischen Wendungen und die geopolitische, kaum begreifbare Unsicherheit gekennzeichnet ist: Die größte aller Lügen ist, dass sie sagten: wir sind. Dass es das Land gibt. Dass es ein Wir gibt. Das gibt es nicht. Wir wurden zerteilt (zerfetzt, zerschlagen). Doch wenn es nur das Ich gibt, dann ist das ein großes Problem. Wer allein ist, ist am allermeisten ausgeliefert.22
Das Spiel mit der Permutation von einer/viele, ich/wir, ist/sind ist sicherlich kein Zufall, wobei die im Titel des Textes auftauchenden Vergleiche als Belegungen dieser Deixes bzw. Hindeutungen nur an einer einzigen Stelle die Möglichkeit liefern, dass die Permutation die Komponenten in eine passende Anordnung setzt, nämlich im Wort „Chance“. Was aus dieser Konstruktion eine verständliche Matrix erschafft, ist der Akt der sprachlichen Zeugenschaft der Moral: „Ohne ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie bedeutet auch das Wir nicht das, was es bedeutet: Zusammengehörigkeit, Solidarität, Liebe und Heimatliebe. Sondern nur einen Mangel an Persönlichkeit und Verantwortung.“23 Die Vorstel-
sondern auch die klassisch-moderne Opposition von Schreiben und Realität.“ Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 243. 21 Esterházy: „Közép-Európa mint seb“, 47. 22 Ebd., 45. 23 Esterházy: „Az új rizsa“, 27. Anderswo manifestiert sich die persönliche Verantwortung vorwiegend im erweiterten Horizont der Vitalität und der Prosperität, und nicht in der defensiven Haltung des Nicht-Vergehens, wenn das „Wir“ entsteht: „Noch lange könnte ich so weiterlesen, zum Beispiel Frigyes Karinthy über das neue Gelaber, wie er für den verantwortungslosen Gebrauch
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lung des „Wir“ kann also all dessen nicht entbehren, was es im Prinzip nicht umfasst, sondern was von den anderen Personalpronomen bezeichnet wird, und umgekehrt – für sich genommen erschafft jedes Pronomen nur die Opposition von privat/öffentlich und Moral/Teilnahmslosigkeit neu. Auch der Begriff „Heimat“ lässt sich nicht über den Horizont dieses „Wir“ hinaus interpretieren oder gänzlich außerhalb dessen. Eine der am häufigsten wiederkehrenden Fragen in der literarischen Ästhetik der knapp drei Jahrzehnte nach dem Systemwechsel – von Péter Esterházy bis zu Péter Nádas und Gábor Schein oder István Kemény – ist die, wie in der Dynamik der sich zu Geschichte verfestigenden Ereignisse Persönlichkeit und Verantwortung geformt werden, vor allem an der Sichtgrenze zur persönlich werdenden Verantwortung. Immer nachdrücklicher und reflektierter tritt nämlich die Idee einer persönlichen Verantwortung auf, die innerhalb der oben erwähnten gesellschaftlichen und diskursiven Systeme und der durch die Personalpronomen bezeichneten (sprachlichen) Gemeinschaften alle Akteure in ihren Einflussbereich zieht, welche an der Praxis einer entstehenden oder noch zu erschaffenden Demokratie teilhaben wollen. Natürlich kann sich keiner der Akteure dieser Verantwortung entziehen, nicht einmal einer, der nicht spricht, sondern nur als Mitglied der erwähnten (sprachlichen) Gemeinschaft existiert – das heißt, jeder Staatsbürger. Er kann es nicht, da sich vor ihm als handlungsfähiges Individuum nicht nur die Institution des Rechts zu eröffnen scheint, sondern auch die Möglichkeit, die Heimat als gemeinsame Idee zu verstehen.24 Als eine Idee, die nicht nur durch die diskursiven Systeme der persönlichen Verantwortung entsteht, sondern zum Beispiel auch durch die Hoffnung der Generation, die Hoffnung auf Chancen für die eigenen Nachkommen. Das Potenzial dieser Idee und dieser Chance liegt in der Freiheit, und diese wiederum schließt die Möglichkeit ein, dass das „Wir“ von der Einheit zurückgewonnen werden kann, welcher der das „Wir“ aussprechende, das heißt, der das „Wir“ durch das Ereignis der Rede ins Leben rufende Sprecher selbst angehört: von einem Kollektiv. Endlich gibt es etwas, das von uns, von unserer Phantasie und unserer Begabung abhängt. Wir können uns sogar die Freiheit erträumen. Und dann können wir [. . .] sogar unser gemeinsames Wir zurückerlangen. Wir Mitteleuropäer, damit könnten wir es zunächst versuchen, hinterher könnten wir schon leichter sagen: wir Ungarn, wir Slowenen, wir Serben undsoweiter.25
von ‚wir‘ die Todesstrafe verlangt, und wer kann wohl diese legere, hedonistische, fast schon liederliche Figur sein, derzufolge unsere Bestimmung nicht nur darin liegt, nicht zu vergehen, sondern zu leben, lebensfroh . . .“ Esterházy: „Kossuth Lajos azt üzente“, 47. 24 Hierzu siehe zuletzt Schein: „Szép-mondatok“. 25 Esterházy: „Közép-Európa mint seb“, 46. Zitierter Abschnitt auf Deutsch in Esterházy: „Anführungszeichen“, 136.
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Wir sehen, dass als diskursive Bedingung des Ausdrucks „wir Ungarn“ (und anderer Volksgruppen) der Ausdruck „wir Mitteleuropäer“ steht, was in dieser Lesart abhängig vom Traum von der Freiheit ist, und damit auch von Phantasie und Begabung. Das Verhältnis von Teil und Ganzem und dessen Bezug zu Geopolitik, Gesellschaft, aber auch Sprache, ist eines der charakteristischsten Konzepte in Esterházys Lebenswerk und erschafft einen engen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen, geopolitischen und individuellen Dilemma von Identität, Individuum und dem sprachlichen „Ich“. „Wir müssten zugleich Mitteleuropa erträumen, unsere Heimat erträumen – und uns auch davon abwenden, albern sein, eigenartig, nutzlos, ohne Nutzen, bedeutungslos und klein, also ohne zu vergessen: dass wir auf das Ganze berufen werden, dass wir zum Ganzen eingeladen werden.“26 Diese synekdochische Struktur, die das Mitteleuropa und dann auch Ungarn (nach Esterházy in dieser Reihenfolge) während und nach dem Systemwechsel beschreibt oder sogar erschafft, ist als Tiefenstruktur in Esterházys gesamtem literarischen Schaffen wiederzufinden, doch das wohl eklatanteste Beispiel und die deutlichste Inszenierung taucht im zu dieser Zeit entstandenen Roman Donau abwärts (1990) auf. „Es ist lächerlichstes und vergeblichstes Bemühen, wenn das Geschöpf Chaos schöpfen möchte . . . Gott – pars pro toto . . .“27 Die Flussmetaphorik eignet sich gut, um aufzuzeigen, dass der gemeinsame geopolitische Strang, die Donau, sich in verschiedene Abschnitte aufteilen lässt, die nicht nur die Homogenisierungseffekte des Konzepts Mitteleuropa relativieren,28 sondern auch darauf reflektieren, dass – vermutlich wieder im theologischen Kontext – all dies nur die Möglichkeit dessen garantiert (diesmal über den als Ausgangpunkt dienenden Heine-Diskurs), was nicht beherrschbar ist: „Vergessen Sie nicht: Der Unterschied zwischen Wasser und Fluß ist der, daß letzter eine Erinnerung hat, eine Vergangenheit, Geschichte. Es gibt keine Entwicklung. Es gibt kein Geschehen. Aber Schicksal gibt es.“29 Dieses maßgebende Dilemma von Teil und Ganzem, das sich „Mitteleuropa“ nennt, ging während des ungarischen Systemwechsels neben dem Paradoxon „westliche Kultur, östliches Leben“ mit einer Erfahrung einher, die
26 Ebd., 47. 27 Esterházy: Donau abwärts, 21. 28 Vgl. „Der sichtbare, ‚ablesbare‘ Aussagewert wird spürbar immer fragwürdiger, je weiter wir uns die ‚arme Donau‘ hinab bewegen. In Rumänien erfährt der Erzähler über die Schicksale das meiste nur, indem er auf die Art und Weise der Sprache achtet: er bemüht sich, auf den Ton, die Stimmlage, die in der Modalität verborgene Weltauffassung zu lauschen“ – Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 226. (Hervorh. im Original.) 29 Esterházy: Donau abwärts, 21.
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sich aus der durch die Ereignisse geschmiedeten Geschichte bzw. deren Unsicherheit ergab: mit der philosophischen und diskursiven Situation des NichtVerstehens. Esterházy reflektierte in seiner Publizistik zu dieser Zeit vorwiegend auf den Versuch, diese Situation des Nicht-Verstehens im Bewusstsein seines Zwischendaseins zu ermessen und beispielsweise für eine deutsche Leserschaft vermittelbar zu machen. Weder die durch die Donau kreierte Fiktion der geopolitischen Gemeinschaft noch das Erzählen der historischen Lasten der Völker und Nationen an ihrem Ufer machen die begriffliche Einordnung von Westen, Osten und Mitte einfacher, besonders nachdem – mindestens nach Donau abwärts auch explizit – der Roman auch die Demythisierung der erwähnten Fiktion vornimmt, beziehungsweise darin sogar seine Grundhaltung besteht. Die Erfahrung der mitteleuropäischen Ereignisse um den Systemwechsel hält also in erster Linie eine Gemeinschaft des Nicht-Verstehens fest: Endlich! Schon lange warte ich auf den Moment, in dem nicht nur ich nichts weiß, sondern auch andere nicht, in Paris oder Hamburg. Diese Mitteleuropäer sagen immer stolz, Mitteleuropa kann man nur von Mitteleuropa aus verstehen, Mitteleuropäer zu sein bedeutet aber gerade, uns selbst nicht zu kennen. Was ist es, was da nicht zu verstehen ist? Ich würde bescheiden behaupten, dass man überhaupt nichts verstehen kann, nicht den zu beschreibenden Gegenstand, die zur Beschreibung benutzte Sprache, und auch den nicht, der spricht.30
Das Paradoxe dieser Aussagen taucht in Esterházys Publizistik regelmäßig auf, aber auch in seinen belletristischen Werken, besonders in jener Erzählform, die auf Unterbrechungen und narrative Inkongruenz baut und die reflektierten literarischen Dilemmata des „Beschreibens“ mit dem Situationsbild dieser immer wiederkehrenden, auch in Selbstzitaten identifizierbaren (geo)politischen Philosophie verbindet. In einer solchen Konstruktion ist auch die Position des Erzählers kaum noch mit Sicherheit zu bestimmen, vor allem wenn man berücksichtigt, dass Selbstzitate und Selbst-Paraphrasen zwischen den belletristischen und sonstigen Werken ungebunden möglich sind, das heißt, die Art und Modalität einer Aussage lässt sich nicht ausschließlich der einen oder der anderen Sprachform zuordnen, sondern sie kann im Grunde überall auftauchen. Ich fasse zusammen: Ein Westler spricht vom Gegenstand, es gibt den Gegenstand, und er nimmt ihn in Augenschein, zuweilen höchstpersönlich; ein (Mittel-, Zwischen-)Ostler spricht von sich selber, es gibt ihn, und darüber spricht er, vermittelst eines Gegenstands.
30 Esterházy: „Isten kalapja“, 171.
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Frage: Ob das stimmt, und wenn es stimmt, ob es dann in meinem Interesse ist, es aufzudecken. Antwort: Stimmt und auf Deibel komm raus abstreiten.31
Das Paradoxe der Äußerung und des Statements liegt darin, dass der „von sich selber“ Sprechende nicht über den Horizont des „Selbst“ hinausblicken kann, das heißt, sobald er reflektiert, bereitet er der Reflexion gleichzeitig auch ein Ende – beziehungsweise der fixen Position, die den Sprecher identifizieren könnte. Die diese Unsicherheit bzw. Verunsicherung inszenierende sprachliche Handlung bejaht auf die zuvor beschriebene Weise jene neue Version des Wahrheitsdiskurses, welche – gerade durch die Schwierigkeit, die Positionen festzulegen – ihren Gegenstand relativiert, indem sie der Rede zugleich ein affirmatives und ein negierendes Verhältnis verleiht. Das Statement ist natürlich in der Hinsicht bedacht formuliert, dass es versucht, über die nicht fixen Positionen ein Verstehensereignis (oder Nicht-Verstehensereignis) ohne fixen Ausgang zu ermöglichen: „auf Deibel komm raus abstreiten“ kann sich auf die Leugnung der Wahrheit beziehen, aber auch darauf, ob es im Interesse des Sprechers liegt, besagte Wahrheit aufzudecken. Das alles ist erst im Lichte der Frage wirklich von Bedeutung, ob das „von sich selber“ Sprechen mittels eines Gegenstandes überhaupt etwas aufdecken kann, wenn „Mitteleuropäer zu sein bedeutet [. . .], uns selbst nicht zu kennen“. In der Rezeption Esterházys können die in den Band A halacska csodálatos élete aufgenommenen publizistischen Texte und Essays sowie der Roman Donau abwärts als jener Wendepunkt angesehen werden, der innerhalb der ideologischen und literarisch-diskursiven Zusammenhänge der Schicksalsfragen Mitteleuropas den neuen Schwerpunkt des Lebenswerks markiert.32
31 Esterházy: Donau abwärts, 67. (Hervorh. im Original.) Es drängt sich die Bemerkung auf, dass der zitierte Ausschnitt aus einer Passage der narrativen Unterbrechung stammt, der in Form von folgender Anekdote gerade die „internationale“ Situation des Nicht-Verstehens vorausging: „Ich erinnere mich, bei einem netten kleinen Abendessen fragte ein junger österreichischer Journalist einmal, auf welcher Verfassung unsere Verfassung basiere. Wir führenden Intellektuellen verstanden die Frage kaum. Unsere Verfassung; sollte sie wirklich auf etwas basieren? Wir sahen uns ratlos an. Ich flüchtete mich gewohnheitsgemäß zur Crème caramel.“ (Ebd.) – Die „Basis“ der verfassungsschaffenden Verfassung inszeniert auf ähnliche Weise die Struktur von Teil und Ganzem, was hier die Idee der geopolitischen Homogenisierung verstärkt. 32 Vgl. Gángó: „Esterházy Péter Monarchiája“. „Die Monarchie als Bezugspunkt wird wichtig, wenn sich historische Epochenwandel vollziehen. In Esterházys Donau-Roman erklingt das Echo der politischen Wendungen von 1989 in Osteuropa. Esterházy begann nach 1989, sich mit dem Monarchie-Thema (mit Mitteleuropa) zu beschäftigen – auch diese Entscheidung ist eine typisch Musil-artige Geste: nachdem die politisch-kulturelle Konstruktion zerfallen ist, in der er bis dahin gelebt hat, versucht er sie zu verstehen, indem er sie in seinem Schreiben wieder aufbaut. Das Auftreten der Monarchie in der Literatur wird durch das Ende des politischen
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4 Literatur – die „nicht angewandte“ Kunst Die oben erörterte komplexe Situation von Literatur und Äußerung impliziert gleichzeitig auch, dass Péter Esterházy als Autor die Funktion, die sich ihm auf den ersten Blick zuweisen ließe, nicht ausfüllt und auch nicht ausfüllen kann: die Funktion und Rolle des durch lokale Merkmale gut charakterisierbaren, die couleur locale inszenierenden mitteleuropäischen Erzählers. Und zwar am offensichtlichsten aus dem Grund, dass – wie leicht erkennbar ist – bei der Definition sowohl des Begriffs „Mitteleuropäer“ als auch „Erzähler“ ernste Hindernisse, Vorbehalte, Widersprüche und Schwierigkeiten auftreten und die Voraussetzung für diese diskursiven Manöver wenigstens die Idee eines durch Freiheit begründeten alten und neuen („zurückerlangten“) „Wir“ wäre. Diese Idee, die in der Lage wäre, nicht nur Mitteleuropa, sondern auch Ungarn zu erschaffen, beruht auf der persönlichen Verantwortung, doch ist die persönliche Verantwortung zu dieser Zeit ebenfalls eine Instanz, die der Definition bedarf. Aus schriftstellerischer Perspektive – und hier kehren wir zum Dilemma des Pars pro Toto zurück – ergibt sich auch die Frage bzw. Fragwürdigkeit dessen, ob die Literatur stellvertretend sein, bleiben oder werden kann, wenigstens in der Hinsicht, dass das „Denken in Subjekt und Prädikat“ das Ereignis des „Ist“ (im Sinne von „existiert“) von Natur aus mit sich bringt. Esterházy als Erbe und Erzeugnis dieser Ansicht überträgt deren Gültigkeit auf die gesamte Literatur der Moderne: „Vom Drama der Dramenlosigkeit handelt, glaube ich, die ganze moderne Literatur. Vom Ist im Nichts.“33 Das Verhältnis von „es gibt den Gegenstand“ und „es gibt ein Er“, also von Erzähltem und Erzähler, bedarf im Kontext der Literatur also erneut der Eingrenzung. Es lässt sich jedoch selbst im diskursiven Verhältnis der couleur locale noch behaupten, dass Esterházys Schreiben, ob es sich um Fiktion oder Publizistik handelt, mit den nach der Moderne auftretenden (mittel-)europäischen Sprachformen einen Dialog eingeht (und nicht mit den nordamerikanischen Modellen).34 Ein mit Nachdruck auftretendes Distinktionsmerkmal dessen ist, dass die geopolitischen Zusammenhänge und die rekursiven Formen der Selbsterkenntnis („Reisen ist für mich Selbsterkenntnis; ich suche darin nicht das Neue und Unbekannte, sondern das Alte und Bekannte, um letztlich den zu erkennen, der mich erkennt.“35) selbst mit der Erfahrung der sprachlichen Präkonzeption über ihren eigenen Horizont hinausgehen; so gewinnt beispielsweise die areale, räumliche
Mitteleuropa möglich. Einfach ausgedrückt ist die Monarchie als Mangel mit dem verwandt, von dem ebenfalls nur ein Mangel geblieben ist.“ 33 Esterházy: A szavak csodálatos életéből, 14. (Hervorh. P.L.V.) 34 Vgl. Kulcsár Szabó: Esterházy Péter, 225. 35 Esterházy: Donau abwärts, 106 f.
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Erfahrung der Reise ihren Sinn zwar nicht im Zusammenhang mit Entwicklungsmustern und kognitiv-epistemologischen Verschiebungen, orientiert sich aber an literarischen Mustern und Vorbildern. Die Sprechsituation und die sich aus der Instabilität des Gegenstands ergebenden Komplikationen bei der Definition von Erzähler und Gegenstand, für die bereits Beispiele aus Esterházys Essayistik und Prosa angegeben wurden, um die Merkmale aufzuzeigen, die das Schreiben als solches unabhängig von Genre und Ausdrucksweise begründen und charakterisieren, können auch auf die Funktion, Rolle und den Charakter der Literatur selbst in großem Maße Einfluss ausüben. Einerseits lässt sich dabei ein formales Dilemma erkennen, durch das die Möglichkeit von „Vollständigkeit“ und „Endlichkeit“ im hermeneutischen Sinne bedroht wird und der Gegenstand (das Erzählte) und die Romanform (die Art der Erzählung) einander abbilden: „In jedem Roman heutzutage gibt es ein zu sich selbst zurückführendes Möbiusband. Auch die Donau ist ein Möbiusband.“36 Andererseits ist die Literatur ein Performativum und stellt als solches schon allein damit den Gegensatz von Schweigen und Verschweigen dar, dass sie das Wort ergreift: „die Literatur nennt die Dinge beim Namen. Was nicht wenig ist.“37 Infolgedessen wird nicht nur das literarische
36 Esterházy: „Hahn-Hahn grófnő pillantása“, 248. 37 Die literarischen bzw. materiellen Formen des Schweigens sind allerdings nicht innerhalb dieser Dichotomie und dieses Oppositionssystems zu bestimmen, sondern als konstitutives Ereignis des literarischen Textes – nicht als Gegenteil der Rede, sondern als das „Andere“. Siehe dazu Lőrincz: „Figurationen des Schweigens“. – Die Eigenschaft der Literatur, Dinge beim Namen zu nennen, „was nicht wenig ist“, das ist die grundlegende Unterscheidung, welche die Literatur der Moderne definiert, sozusagen die Kraft des „Ist im Nichts“. In einer Kosztolányi-Paraphrase in Einführung in die schöne Literatur, im Schluss der Kosztolányi-Erzählung Paulina (1929) – die dort in eingescannter Form vollständig zu lesen ist, neben dem von Esterházy überarbeiteten und ebenfalls eingescannten Manuskript – sinnieren der stoische Weise und der Dichter über die Verschleppung und das laute Geschrei Paulinas, der Gastwirtstochter, woraufhin der Dichter das Gesehene und Gehörte folgendermaßen zusammenfasst: „Die Gerechtigkeit ging über die Straße, und sie schrie. Und wir haben ihr Wort vernommen. Wir schreckten aus unseren Betten hoch. Wir vermögen nicht wieder einzuschlafen, wir können unser unterbrochenes Gespräch nicht fortsetzen. Wir denken über sie nach. Über die Gerechtigkeit. Siehe, noch immer sprechen wir davon. Das ist mehr als nichts.“ Esterházy: Einführung, 731. In Esterházys Neufassung klingt der Schluss wie folgt: „‚Die Gerechtigkeit wurde jammernd (rufend) durch die Straßen getragen. Wir vernahmen ihren Schrei. Wir erhoben uns verschreckt von unserem Lager. Nun können wir uns weder zur Ruhe begeben noch unser begonnenes Gespräch weiterführen. Wir denken nach über sie. Über die Gerechtigkeit. Sieh, wir reden immer noch über sie. Das ist nicht wenig.‘ (ist mehr als nichts) (ist immerhin auch etwas)“ (Esterházy: Einführung, 730) – Die Wahrheit, die als unverfehlbare Erfahrung der Literatur identifiziert wurde, wird von der relativierenden Modalität des „ist auch etwas“ zu der gesteigerten Zuschreibung „ist nicht wenig“ (das heißt: es ist viel) korrigiert, somit wird sie aufgewertet, während die Ergänzungen in Klammern dem durch das Spiel mit dem „Nichts“
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Werk, sondern auch das Risiko der Rezeption gesteigert, denn das sprachliche Erzeugnis lässt die Idee von der Uneinschränkbarkeit der freien Rede erahnen, was aber wiederum mit der radikalen Umstrukturierung und Überschreibung der Rollen und Funktionen einhergeht. Die Literatur von heute ist manchmal beengend, weil sie die Grenzen der eigenen Einschränkung anders setzt. Dies tut sie zum Teil im schon erwähnten Rausch des Benennens, zum Teil aus Argwohn, aus dem Argwohn heraus, dass dort, wo das Schild „Geheimnis“ angebracht wurde und man über das Geheimnis eigentlich nur schweigen kann, kein Geheimnis ist, sondern eine Lüge. Der Vorwurf, die Literatur würde ein schlechtes Beispiel setzen, ist nicht berechtigt. Zuerst einmal ist die Literatur nicht dazu da, ein gutes Beispiel zu setzen. Sie ist nicht dazu geeignet und nicht dafür geschaffen, Gegenstand des Literaturunterrichts zu sein. Sie ist nicht dazu da, zu lehren, zu erziehen, zu unterhalten. Sie ist keine „angewandte Wissenschaft“. Schönheit ist wild und unzähmbar.38
Anderswo und früher lassen sich auch dafür Beispiele finden, dass Esterházy im Gegensatz zur „angewandten Kunst“ – worunter er im Zusammenhang mit Vergangenheitsaufarbeitung und Gegenwartsinterpretation vorwiegend die politische Unterhaltungsliteratur versteht, also im Grunde alles, was die Erfahrung unter Wert verkauft, welche über die zurückgewonnene Idee des „Wir“ den Traum der Region und der Heimat voraussetzt – die Funktion und Rolle der Literatur darin sieht, welches Verhältnis sie zur (politischen) Macht unterhält. In diesem Punkt hält Esterházy die durch die Einschränkung der literarischen Öffentlichkeit entstehende „Spannung“ um die Literatur zwar für förderlich, er erinnert aber auch: „die schriftlichen Dokumente eines Freiheitskampfes – das ist nicht zwangsläufig Literatur. Natürlich dürfen wir aber nicht vergessen, dass die Literatur immer das schriftliche Dokument irgendeines Freiheitskampfes ist.“39 So betrachtet würde sich durch Esterházys Sprach- und Literaturauffassung sowie die Möglichkeiten der Rede die folgende Matrix ergeben: – Diktatur → Zensur → eingeschränkte Öffentlichkeit → Freiheitskampf → Literatur – Literatur → Leugnung des Freiheitskampfes
wieder eine weitere relativierende Bemerkung hinzufügen, um dann auf selbstreflektierende Weise das korrigierte literarische Objekt und das Ereignis der Korrektur zu kommentieren („ist immerhin auch etwas“). Es ist spürbar, dass das Verhältnis zum literarischen Diskurs der Wahrheit sowohl räumliche als auch zeitliche (materielle) Dimensionen innehat, wobei wir nicht wissen können, „wohin die Spitze der Ironie weist“ – Esterházy stellt auch hier die wandelnde, instabile Diskursivität der Redepositionen, Rollen und der durch die Aussage entstehende Rede zur Schau und relativiert damit das hierarchische System der einseitigen Lesarten. 38 Esterházy: A szavak csodálatos életéből, 28–29. 39 Esterházy: „A halacska“, 11.
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– Gegenstand (erzählte Welt) – Erzähler → die Zweifel des Erkennens – sprachliche Frage = politische Frage = sprachliche Frage – Wahrheit (wahre Rede, Verifizierung, Bezeugung) – Leugnung – (sich) Erschließung – Leugnung des Erschlossenen In seiner Essayistik behält Esterházy die einzelnen Komponenten dieser Konstellation sowie ihre Verknüpfungen und ihre möglichen Zusammenhänge im ständigen Spiel miteinander, mit wandelndem Fokus. Das Werkstatttagebuch aus Donau abwärts zum Beispiel, das auch als Kommentar lesbar ist, bleibt dem auch werkimmanente Gesichtspunkte verwirklichenden Gedankengang treu, indem es einerseits den geopolitischen Kontext textualisiert (mit der Gleichsetzung sowohl der Donau als auch des Romans als Möbiusband), und andererseits, dem entgegengesetzt, der geopolitische (und historische) Kontext an die Stelle des Textes tritt. Als Zeichen oder Beleg dafür, dass alles, woraus der Text schöpft, auch selbst ein textuelles – oder textuell werdendes – Phänomen ist, dessen zahlreiche Aspekte die Ereignisse und Dilemmata von Räumlichkeit und Temporalität, Geschichte und Region, Ablauf und Selbstverständnis vertiefen und komplexer werden lassen. Eines der auffälligsten Distinktionsmerkmale all dessen besteht gerade darin, dass die Unterscheidungen selbst nicht identisch sind, wenn es um die Frage der Identität und des Charakters des entstehenden Textes geht. Und zwar in dem Maße, dass die Definierbarkeit in erster Linie die Merkmale einer divergierenden Permutation zeigt: Der Roman ist im Grunde ein Donau-Roman, er handelt von der Donau. Ein Buch, das von der Donau handelt – dieser Satz ist natürlich weder richtig noch falsch, dieser Satz ist leer. Er hat keinen Sinn. Es ist daher verständlich, dass sich ein ganzer Roman damit beschäftigen muss. Nach unseren hochtrabenden Plänen wird das Buch ein Geschichtsroman, ein Liebesroman, eine Mitteleuropa-Satire, ein Anti-Magris-Buch, ein Reiseführer, ein Restaurantführer, ein Chaos-Buch, ein Buch-Buch.40
Bei der im Zitat erwähnten Leere handelt es sich weniger um eine Entleerung als um die Kenntnisnahme dessen, dass das Sprechen über etwas und die als etwas verstandene Geschichte und Rede unter bestimmten Umständen einen nicht bestimmbaren Gebrauchswert annehmen – im Fall von Donau abwärts handelt es sich bei diesen Umständen um den post-monarchischen, gleichzeitig post- und prä-mitteleuropäischen Zustand,41 der während dieses historischen
40 Esterházy: „Hahn-Hahn grófnő pillantása“, 247. 41 Gángó zufolge konnte Donau abwärts nur in dieser historischen Situation entstehen, siehe Gángó: „Esterházy Péter Monarchiája“.
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Péter L. Varga
Zeitraums (zur Zeit des Systemwechsels) sozusagen keine genau festzulegende referenzielle Basis hat. Gerade deshalb geht auch die Literatur dann am genauesten vor, wenn sie die entleerten Bezeichnungen mit allem zugleich – mit der Vorstellung der „Vollständigkeit“ und des „Ganzen“ – auffüllt, wenn auch in höchst ironischer Weise. Der Plan ist demzufolge ein „ehrgeiziger“, mit zahlreichen positiv und negativ artikulierbaren Attributen, die letztendlich auf ein mit der Leere in Verbindung gebrachtes oder als Variante/Alternative ebendieser zu verstehendes Chaos-Buch und auf das als Möbiusband zu sich selbst zurückkehrende Buch-Buch hinauslaufen. So kann es geschehen, dass die textualisierte Donau sowie der als Donau vor uns tretende („donauisierte“) Text von hier an mit Bestimmtheit eine Leitfigur in Esterházys Schreiben werden, denn sie ist in der Lage, Relationssysteme von Teil und Ganzem aufzustellen, ohne eine von deren Komponenten abschließend zu stabilisieren. Des Weiteren ist sie fähig zu jener dialogischen oder polylogischen, der Sprache des stets mitverstandenen Anderen Raum und Zeit bietenden, verständnisvollen Textausarbeitung und Redeführung, welche nicht exklusive Wahrheiten zur Schau stellt, wobei sie instabile Sprechpositionen beibehält und bewegt, und damit die aktuellen, gängigen Voraussetzungen der literarischen Äußerung und Aussage erschafft. Da die poetischen Konditionen dessen in den belletristischen und nicht belletristischen Werken Esterházys Lebenswerkes regelmäßig zum Gegenstand der Reflexion werden, impliziert der Versuch seines Schreibens zur Annäherung an und Rück-/Einkehr in die Sprache zugleich auch das Risiko, ob die Rezeption in der Lage ist, auf erschließende Weise die sprachlichen Ereignisse aufzuzeigen, die zwischen den Gattungen liegen, über Ausdrucksweisen hinausgehen, die Freiheit der Variation immer beibehalten und geltend machen und die Möglichkeiten und Prozeduren der Korrektion laufend ausnutzen. Wenn nämlich ein sprachliches Ereignis immer auch ein politisches Ereignis ist, welches wiederum stets ein sprachliches Ereignis ist, dann beinhaltet diese Zirkulation auch die große Chance, es könnte endlich einmal möglich sein, über Politik, Macht oder die sich abspielende Geschichte so zu sprechen, dass die gefestigten Sprechpositionen und sprachlichen Blöcke sich lösen und ihre ideologische Aussagekraft verlieren, weil sie entleert werden. Was dabei wiederum entstünde, wäre die gerade in diesem Entstehen offenbar werdende sprachliche Kraft, ein instabiler Ort, der nicht dadurch zu definieren ist, wie sehr er die durch ihn befreite Sprache beherrscht oder nicht beherrscht, sondern viel eher dadurch, dass er die Sprecher und Zuhörer von der lähmenden Wirkung der als Ursprung verstandenen Ideologien befreit und im Ereignis der Entstehung das verworrene Verhältnis von Politik, Macht, Freiheit und Literatur sowie auch das in diesem Verhältnis steckende außerordentliche – da vergli-
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chen mit einer Ideologie stets gültigere, ursprungsunabhängige – Potenzial in Szene setzt.
Literatur Bengi, László. „Indirekt in der Schwebe“. In diesem Band. 215–224. de Man, Paul. Allegories of Reading. New Haven/London: Yale UP, 1979. Esterházy, Péter. „A halacska“. A halacska csodálatos élete, 7–17. Esterházy, Péter. „Anführungszeichen von Mittel-E. Selbstwiederholungen“. Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors. Deutsch von Zsuzsanna Gahse. Salzburg/Wien: Residenz, 1999. Esterházy, Péter. „Az új rizsa“ [Das neue Gelaber]. Az elefántcsonttoronyból. 26–29. Esterházy, Péter. „Hahn-Hahn grófnő pillantása. Mexikói házi feladat“ [Donau abwärts. Mexikanische Hausaufgabe]. A halacska csodálatos élete. 243–249. Esterházy, Péter. „Isten kalapja“ [Gottes Hut]. A halacska csodálatos élete. 170–176. Esterházy, Péter. „Kossuth Lajos azt üzente“ [Lajos Kossuth hat gemeldet]. Az elefántcsonttoronyból. 46–49. Esterházy, Péter. „Közép-Európa mint seb, homály, hiba, esély és reménytelenség“ [Mitteleuropa als Wunde, Dämmerlicht, Fehler, Chance und Hoffnungslosigkeit] (1988). A halacska csodálatos élete. 46–47. Esterházy, Péter. „Most, hogy így“ [Jetzt, da es so]. Az elefántcsonttoronyból. 50–52. Esterházy, Péter. A halacska csodálatos élete [Das wunderbare Leben des Fischchens]. Budapest: Magvető, 31991. Esterházy, Péter. A szavak csodálatos életéből [Vom wundersamen Leben der Wörter]. Budapest: Magvető, 2003. Esterházy, Péter. Az elefántcsonttoronyból [Aus dem Elfenbeinturm]. Budapest: Magvető, 1991. Esterházy, Péter. Das Buch Hrabals. Deutsch von Zsuzsanna Gahse. Salzburg: Residenz, 1991. Esterházy, Péter. Donau abwärts. Deutsch von Hans Skirecki. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2006. Esterházy, Péter. Einführung in die schöne Literatur. Deutsch von Bernd-Rainer Barth, György Buda, Zsuzsanna Gahse, Angelika Máté, Péter Máté, Terézia Mora und Hans-Henning Paetzke. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Gángó, Gábor. „Esterházy Péter Monarchiája és Közép-Európája. Gondviselés a kettős veszteségben“ [Monarchie und Mitteleuropa Péter Esterházys. Vorsehung in der zweifachen Niederlage]. Lettre 56 (2005). http://epa.oszk.hu/00000/00012/00040/ gango.htm (4. April 2020). García Márquez, Gabriel. Utazás Kelet-Európában (1957) [Reise durch Osteuropa 1957]. Ungarisch von László Scholz und Vera Székács. Budapest: Magvető, 2017. Kulcsár Szabó, Ernő. Esterházy Péter. Bratislava: Kalligram, 1996. Lőrincz, Csongor. „Figurationen des Schweigens in Péter Esterházsys früher Prosa“. In diesem Band. 45–70. Schein, Gábor. „Szép-mondatok“ [Schöne Sätze]. Esernyők a Kossuth téren. Pécs: Jelenkor, 2014. 11–19. Szirák, Péter. Az Úr nem tud szaxofonozni [Der Herr kann nicht Saxofon spielen]. Budapest: József Attila Kör/Balassi Kiadó, 1995.
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Archiv und Zeugenschaft in Esterházys Verbesserter Ausgabe Unmittelbar nachdem Péter Esterházy Ende 1999 seinen großen Familien- und Geschichtsroman Harmonia Caelestis beendet hatte, nahm er Einsicht in die Akten des Historischen Amtes. Er wollte hiermit im Nachhinein überprüfen, ob er seitens der Geheimpolizei während der kommunistisch-sozialistischen Diktatur beobachtet worden war. Tatsächlich stellte sich heraus, dass er selbst zwar nicht unter Beobachtung gestanden, dafür aber sein eigener Vater zwischen 1957 und 1978 mehr oder weniger regelmäßig Berichte für die Staatssicherheit verfasst und als sog. III/III Agent gearbeitet hatte (wie noch einige Zehntausende in Ungarn, bei weitem aber nicht so viele, wie z. B. in der ehemaligen DDR). Für Péter Esterházy bedeutet diese Entdeckung den absoluten Schock, galt ihm doch sein eigener Vater, Nachfahre einer der wichtigsten aristokratischen Familien in Ungarn (mit zahlreichen europäischen Verwandtschaften) als der beispielhafte „freie Verlierer“,1 dessen Charakter und gesellschaftliches Verhalten zu brechen und zu korrumpieren der stalinistisch-kommunistischen Diktatur nicht gelungen war. Die Lektüre und das Abschreiben gewisser Teile der drei Dossiers von Berichten wird auch als Tagebuch gestaltet, öfters vermittelt mit dem historischen Hintergrund der Zeit, in der die Spitzeltätigkeit des Vaters stattfand, und mit Reflexionen moralischer, historischer, gesellschaftlicher und ästhetischer Art versehen.2 Der Erzähler der Verbesserten Ausgabe3 – der mit dem Autor identisch sein soll – gerät in eine ethische Krise, in eine moralische Unsicherheit, und versucht verzweifelt, mit diesem desorientierenden Schock zurande zu kommen. Er nimmt letztlich die Rolle des Zeugen auf sich, der Äußerungen, Verhaltensweisen des Vaters, bestimmte familiäre Szenen usw., die in den Berichten erwähnt bzw. in ihrem Stil widergespiegelt werden, aber auch andere,
1 Esterházy: Verbesserte Ausgabe, 20. Die Seitenzahlen aus diesem Text werden fortan im Text mit der Sigle VA und Seitenzahl angegeben. 2 Zur textuellen Beschaffenheit und gattungspoetischen Lesart der VA vgl. Dobos: „Az értelmezés lezárhatatlansága“. Ferner vgl. die Rezensionen von János Bányai und Anna Menyhért in der Zeitschrift Holmi. Auf Deutsch vgl. den Lexikonartikel von Péter Szirák im neuen Kindlers-Literaturlexikon. 3 Dieser Text ist anlässlich der Konfrontation mit der Geschichte seines Vaters entstanden und trägt den Untertitel: „Anlage zu Harmonia caelestis“, vgl. Javított kiadás. – Zitate aus dem Original im Folgenden mit der Sigle JK und Seitenzahl. (Der Untertitel fehlt in der deutschen Übersetzung von Hans Skirecki.) https://doi.org/10.1515/9783110618082-019
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beglaubigt. Von der Handschrift bis zu Stimme und Ausdrucksweisen des Vaters, die er öfters zu hören meint, werden eine Reihe von vertrauten (hier vor allem: sprachlich-kommunikativen) Zügen des Vaters gegenwärtig (wenn auch auf quasi-halluzinatorische Art, als „déjà-vu“), die aber auf krasse Weise konterkariert werden vom unpersönlichen, politisch und machttechnologisch codierten Vokabular bzw. diskursiven Muster der Berichte. Die Kreuzung des persönlich-idiomatischen mit dem bürokratisch-aktenführenden Diskurs, mit der Gewalt des Archivs also, erzeugt den Effekt des Unheimlichen und führt (nach einer maschinellen Logik) zu einer Desubjektivierung des Persönlich-Individuellen.4 Dieser Verschränkung entspricht die Doppelstellung des Erzählers als Kopist und Zeuge, die zu einer gewissen performativen Ambiguität führt. Das schreibende und abschreibende Subjekt Esterházys ist zugleich Handelnder und Zeuge als Dritter in derselben Subjektposition. D. h. Subjekt und Objekt zugleich: „Ich habe mich beobachtet, wie man ein Tier beobachtet: Wie ich mich in dieser Situation verhalten werde, was ich mache und was mit mir gemacht wird.“ (15) Es handelt sich gleichsam um ein Experiment, in dem auch der „Menschen“-Status des Zeugensubjekts aufs Spiel gesetzt wird. Wer beobachtet nun wen in diesem Experiment? Der Schreibende den Abschreibenden, der Handelnde den Zeugen, die Fiktion das Zeugnis oder umgekehrt? (Die experimentelle Seinsweise bedeutet möglicherweise diesen unverfügbaren Chiasmus, weniger eine intentionale Tätigkeit.) Diese Fragen stehen der Lektüre der Verbesserten Ausgabe bevor. Zur menschlichen und ethischen Enttäuschung, zur traumatischen Relation des Persönlichen und Unpersönlichen gesellt sich eine eigentümliche literarische Kontaminierung: Die Hauptfigur in Harmonia Caelestis5 ist nämlich der Vater selbst (wobei diese Figur sich im Roman auch signifikant auflöst bzw. vervielfältigt), und nun steht er in einem äußerst befremdlichen Licht da, das den gesamten Text des Romans imprägniert, gleichsam an ihm parasitiert. Die Verbesserte Ausgabe stellt somit eine quasi-philologische Fiktion auf, die gewissermaßen den Roman berichtigt oder eine bestimmte referentielle Emendation
4 „Wahrscheinlich ist es aus Selbstverteidigung, aber ich kann diesen Menschen immer weniger als meinen Vater ansehen. [. . .] in mir beginnen, ich spüre es, diese Spitzelmaschine und mein Vater auseinanderzugehen. Meine Hand spricht: ich sehe, daß sie immer weniger gern ‚mein Vater‘ hinschreibt, sondern lieber: ‚der Agent‘. Wie Herz und Seele (+Stilgefühl) schlau vorgehen, um alles zu überleben. [. . .] Die Verachtung spüre ich auch. Aber meine Gefühle schrumpfen. Das Persönliche meines Vaters schrumpft . . .“ (VA 203–204, vgl. noch den „Menschen“ als einen „Fall“, in Bezug auf Sascha Anderson vgl. ebd., 176, 262.) 5 Esterházy: Harmonia Caelestis, Zitate aus der deutschen Ausgabe im Folgenden mit der Sigle HC.
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an diesem vornimmt. Der (nachträgliche) Verlust der moralischen Integrität des Vaters schlägt sich auch auf der textuellen Ebene nieder, im Verlust der semantischen Unschuld des Romans (und der Verfügungsgewalt des Autors über diesen, wie freilich schon über die Akten). All das geschieht während des Lesens und partiellen Abschreibens der Akten und Berichte von „Csanádi“ (so der Deckname des Vaters als Agenten), zusammen mit einer Reihe von Befindlichkeitsmitteilungen, Reflexionen, empirischen Szenenbeschreibungen aus dem lebensgeschichtlichen Umfeld des Erzählers und Autors Péter Esterházy. Die Philologie des Archivs geht mit der Philologie des eigenen Textes einher, die Auswirkungen der archivarischen Gewalt der Akten der Staatssicherheit sind sowohl lebensweltlich-empirischer als auch textueller Natur. Dieser doppelte Effekt spiegelt gleichsam auch die doppelte – sprachliche wie referentielle und ethische – Gewalt der ursprünglichen Berichterstattung wider. Die Gewalt des Archivs zeigt sich hier auf eine markante Weise, sowohl auf der referentiellen als auch auf der textuellen Ebene, in einer Vorzeitigkeit wie in der Nachträglichkeit. Die deskriptive Beschreibung dieser Umstände, Machtdispositive und Praktiken (und ihrer institutionellen Hintergründe) würde dennoch nicht ausreichen, denn die Konstellationen in diesem mehrfachen Textarchiv sind etwas zu kompliziert, um daraus einmal mehr das schon zur Genüge bekannte Prinzip des archivarischen Apriori ableiten zu können. Es ist nämlich nicht restlos zu entscheiden, „was“ eigentlich die VA archiviert: Die Akten des Vaters, die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der damaligen Epoche (die mit dieser Art von geheimer Tätigkeit zusammenhängen) oder eine bestimmte textuelle Anomalie der HC? Ist die VA ein Archiv oder ist sie der philologische Kommentar zum Archiv im Historischen Amt oder aber zur HC? Welche Rolle übernimmt der Erzähler und Autor der VA in Bezug auf dieses Verhalten seines Vaters, mehr noch: auf sein lebenslanges Schweigen über die Tatsache der geheimen Berichterstattung? Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass die archivarische Tätigkeit weitgehend von einer ethischen Problematik – des Geständnisses, der Beichte usw. – eingefärbt und beeinflusst wird, dass man es hier mit genuinen „Archiven des Geständnisses“ zu tun hat,6 auch wenn diese Geständnisse gelegentlich nur als merklicher Mangel vorhanden sind. Die VA legt gewissermaßen Zeugnis anstelle des ausgebliebenen Zeugnisses ab, sie nimmt die doppelte (sowohl auf die Sünden als auch auf die das ausgebliebene Zeugnis zielende) Herausforderung an – ihr zweites, supplementäres Zeugnis richtet sich auf ein Fehlen, die Frage aufwerfend, inwieweit denn sie gegen oder für den falschen Zeugen (den Vater) zeugt, als Anklage oder als Freispruch. Dementsprechend thematisiert das Buch
6 Vgl. Derrida: „Das Schreibmaschinenband“, 35.
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intensiv die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Vergebung. Ferner spielt noch der literarische Text (HC) in den archivarischen Sachverhalt hinein, was hier aber nicht einfach figural und poetologisch zu verstehen ist, sondern gewissermaßen als eine Instanz fungieren kann, die dem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen imstande sein könnte, über die krude Tatsache der Berichterstattung hinaus. Das alles wirft jedoch nicht nur das Dilemma der ethischen Verantwortung des Vaters, die Frage seiner falschen Zeugenschaft auf, sondern verfremdet das Autorsubjekt des HC von sich selbst (von der eigenen Intentionalität) und macht es zum falschen Zeugen: „Édesapám, mein lieber Vater: ein in Wahrheit unübersetzbares Wort. Wie oft habe ich dieses schöne Wort im Laufe von fast zehn Jahren geschrieben! Und jedes einzelne Mal wie das geheime Bekenntnis eines Sohnes.“ (VA, 280) Das Schweigen des Vaters verdeckt ein Geheimnis, in der Sprache des Sohnes besitzt das „Mein Vater“ nicht nur einen Gebrauchs- (use), sondern auch einen Erwähnungswert (mention), das bleibt aber „geheim“, der performative Aspekt des Geständnisses selbst bleibt also verdeckt. Es kann aber durchaus sein, dass das erst nachträglich hervorkommt, die Veränderung der eigenen Worte zum falschen Zeugnis (vom Meineid des Angesprochenen oder Benannten her) lässt deren Geständnischarakter als ein nun durchgestrichenes Performativ zum Vorschein kommen. Eine Art Rauschen als „Geheimnis“ schreibt sich also dem früheren eigenen „Geständnis“ ein und beeinträchtigt dessen Glaubwürdigkeit. Auch aus diesem Grund versucht die VA – neben dem Lesen (Abschreiben) des Archivs der Staatssicherheit – die Lesbarkeit von HC auf supplementäre Weise wiederherzustellen. Die Kreuzungen zwischen HC und VA, zwischen Trope und Referenz, Fiktion und Faktualität sind zu vielfältig, um noch zuverlässig eine Grenze zwischen ihnen etablieren zu können. Überhaupt scheint hier die Archivierung gewisser Tatbestände noch nicht viel zu bedeuten (manchmal bedeutet sie in der Tat so gut wie gar nichts, wie der Erzähler beim Lesen der Berichte ebenso erfährt, wie es die Auftraggeber von Csanádi vermerkt haben), vielmehr ist ihre Wertung und Codierung bzw. ihre Interpretation ausschlaggebend und das Machtdispositiv der Archivierung richtet sich auch auf die Determinierung (und natürlich Konstituierung) der referentiellen und semantischen Zusammenhänge in den Berichten. Die Gewalt des Archivs ist in diesem Sinne die Verfügungsgewalt der bzw. über die Interpretation, eine Praktik der Interpretation von einem bestimmten Code her – ein Aspekt dessen, was Derrida „Konsignation“ genannt hat.7 Die Gewalt des Archivs besteht in der gewaltsamen Codierung, die nicht einfach über die
7 Vgl. Derrida: Dem Archiv verschrieben, 13. Vgl. noch aus einem anderen Kontext Keppler und Luckmann: „Beredtes Schweigen“, 220.
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Akten und Daten, sondern auch über deren Interpretation verfügen will.8 Im Folgenden wird versucht, den referentiell-textuell-performativen Knoten in diesem
8 Diese Herrschaft des Codes im Archiv, des archivarischen Codes, ist dasjenige Dispositiv, das aus „Unordnung“ erst „Ordnung“ herstellt (vgl. Ernst: Das Rumoren der Archive). In dieser Hinsicht ist aber der zur paradigmatischen Differenz ernannte Unterschied zwischen „Statistik“ und „Narration“ (vgl. wiederum Ernst: „Das Archiv als Gedächtnisort“, 188–189) eher formal: ob über einer „Datenmenge“ (ebd., 195) oder einem Geschehenszusammenhang (schon diese beiden sind alles andere als austauschbar) mithilfe eines narrativen oder eines Erfassungscodes verfügt wird, ist wohl von sekundärer Bedeutung – wichtig ist die Herrschaft oder Gewalt des Codes (dass das Archiv definitionsmäßig als „kodierter Speicher“ anzusehen ist, wird von Ernst ja seinen Überlegungen zugrunde gelegt, ebd., 184). So kann man konsequent sagen: Was „mit dem Archiv geschaffen wird, sind nicht Zitate, sondern Zitierbarkeit“ (Ebeling: „Das Gesetz des Archivs“, 85), freilich nicht im Benjaminschen Sinne, und auch nicht allgemein, sondern durch das Dispositiv der Codierung, müsste man hinzufügen (so stellt Ebeling zwei Seiten später auch fest: „Was hier aufgezeichnet wurde [. . .] waren weniger Namen auf einer Liste, sondern das Gesetz, das die Aufzeichnung der Namen überhaupt erst dekretierte: also eher eine Codierung als eine Repräsentation.“ Ebd., 87). In dieser Hinsicht trennt sich das Archiv durch eine fundamentale Differenz vom Literarischen, dessen Interesse nicht einfach in einer kulturtechnischen und institutierenden Bearbeitung der Unordnung zwecks Ordnung besteht, sondern einen Präsentations- und Mitteilungsanspruch zeitigt (vgl. etwa den Begriff des „Ausdrucks“, der gerade für die unpersönliche Poetologie eines Gottfried Benn wichtig war), der nicht in einem Codierungsdispositiv aufgeht, ein solches vielmehr subvertiert. Zur Thematisierung der (öfters nicht archivierten) Geschichte und Archiv: Reinhart Koselleck hat oftmals deutlich gemacht, dass eine hermeneutisch gesinnte Historik nie einfach von Quellen (oder medientheoretisch gesprochen: von „Daten“) ausgehen kann, diese werden erst in der Interpretation zu Quellen im Sinne von Zeugnis. „Es geht in der geschichtlichen Erkenntnis immer um mehr als um das, was in den Quellen steht. Eine Quelle kann vorliegen oder gefunden werden, aber sie kann auch fehlen. Und doch bin ich genötigt, Aussagen zu riskieren. [. . .] Jede Quelle, genauer jeder Überrest, den wir erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandeln, verweist uns auf eine Geschichte, die mehr ist oder weniger, jedenfalls etwas anderes als der Überrest selber. Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt. Sonst wäre jede klar fließende Quelle selber schon die Geschichte, um deren Erkenntnis es uns geht“ (Koselleck: Vergangene Zukunft, 204–205) Daher sind die Quellen einerseits auch zukünftig, stellen also Versprechen dar – Derrida hat das Archiv bekanntlich mit dem Versprechen und der Zukunft in Verbindung gebracht (Derrida: Dem Archiv verschrieben, 57, 60, 65). Andererseits ist die Archivierung nie ganz zum ontologischen Ersten Beweger zu verklären (was im ansonsten vorzüglichen Buch von Vismann: Akten. Medientechnik und Recht passiert, aus einer rechtswissenschaftlichen Sicht gewiss auf legitime Weise), eignet ihr doch eine konstitutive Nachträglichkeit und Lückenhaftigkeit (vgl. dazu Ernst: „Das Archiv als Gedächtnisort“, 198–199). Die Frage stellt sich, wie denn die Vorgängigkeit und die Nachträglichkeit des Archivs zusammen zu denken seien (beide Momente werden jeweils von verschiedenen AutorInnen stark gemacht). Auch auf diese Frage bieten vor allem die Arbeiten von Derrida Antworten: im vorliegenden Zusammenhang könnte eine solche Antwort darin bestehen, darauf hinzuweisen, dass der dem Archiv intrinsischen Gewalt ein Exzess innewohnt,
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mehrfachen Archiv offenzulegen, wobei die Analyse sich niemals gänzlich auf den Text der VA verlassen kann, scheint diese Komplexität doch gerade diesen zu überfordern und zu mehreren Inkonsistenzen zu führen. Es ist paradox, aber es scheint so, als ob die VA den von ihr aufgedeckten intertextuellen und interarchivarischen Zusammenhängen oft nicht gewachsen wäre. Bevor aber diese Probleme angegangen werden, sollen die Techniken der Berichterstattung, die die innenpolitische Staatssicherheit prägten, grob skizziert werden. Deren Art von Archivierung ist mit Foucault der Ordnung (Verwaltung) bzw. Disziplinierung und nicht dem (öffentlichen) Recht zuzuordnen. Diese Archive waren nämlich Medien und Funktionen des Überwachens – und ggf. des Strafens. Dadurch emblematisieren sie auf besonders markante Weise das moderne gouvernementale Auseinandergehen der Dispositive des Rechts und der Verwaltung und eine (asymmetrische) Internalisierung der Machtverhältnisse in der Gesellschaft als politische Technologie.9 Das Codesystem der gouvernementalen Macht bestimmt die Berichte bereits in ihrer Konstitution: in ihrer Sprachlichkeit, Logik, Denkweise und Perspektive bzw. in ihrem Informationsgehalt.10 Die Informationen dienten vordergründig der Verifizierung der Überzeugungen und Meinungen innerhalb der Institution. Die primäre, via sprachlicher und inszenatorischer Gewalt erzwungene und aufrechterhaltene Referenz der Berichte ist so letztlich die Institution selbst: Die Gespräche zwischen dem Berichterstatter und seinen Bekannten, die dann als Bericht fixiert wurden, sind in dieser zweiten Form bereits „Teil eines anderen Diskurses, Abdrücke der Kommunikation zwischen dem Agent des Netzes und der Institution, der Organisation der Staatssicherheit.“11 Der Bericht als Text wird also zum Archiv, insofern er nicht einfach alltägliche, vertrauliche, intime usw. Konversationen wiedergibt, sondern indem er den kommunikativen und machttechnologischen Code der Institution selbst archiviert.12 In den Berichten werden Situationen, Mitteilungen, Informationen
infolgedessen archivierendes und archiviertes Ereignis nicht zusammenfallen können (vgl. Derrida: „Das Schreibmaschinenband“, 83), eine Gewalt, die sich selbst auch destruiert, und gewissermaßen sowohl vor dem Archiv als auch nach ihm wirksam ist. 9 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, Kap. III u. IV. 10 Zum Folgenden vgl. Rainer M.: Jelentések hálójában, 17. Zur Organisierung des Staatssicherheitsdienstes in der Rákosi-Ära vgl. Gyarmati: Államvédelem a Rákosi-korszakban und A politika rendőrsége Magyarországon. 11 Rainer M.: Jelentések hálójában, 17. 12 Nach der Rekrutierung des neuen Angehörigen des Netzes (des Agenten) haben der Agent und sein Führungsoffizier „die neue Welt des Ersteren gemeinsam aufgebaut, die nunmehr nicht von Kollegen, Freunden, Bekannten bevölkert wurde, sondern von in verschiedene Klassen eingereihten potentiellen Zielpersonen. Die eigene Mikrowelt des Netzangehörigen wurde nach den begrifflichen und sprachlichen Kategorien der Staatssicherheit geordnet und erhielt
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usw. der „Welt“ aufs Papier gebracht, doch ist – nicht einfach das Transzendentalsignifikat, sondern – der Interpretant dieses Materials die in der auftraggebenden Institution etablierte politisch-semantische Perspektive selbst. Diese Selbstreferenz der Institution geht natürlich mit einer restlosen Politisierung des gesellschaftlich-alltäglichen Lebens einher: „die Berichte versuchten den politischen – oder der Perzeption des Staatssicherheitsdienstes entsprechend durchpolitisierten – Gehalt meistens alltäglicher Unterhaltungen zu fixieren.“13 Die Tätigkeit und Selbstdefinition bzw. Funktion dieser Netze waren mit dem politischen Tauwetter vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Schwankungen unterworfen, die gerade die systemische Selbstreferenz der Gewalt dieses Berichterstattungs- und Archivierungssystems unterstrichen. Im Zuge des „Paktes“ zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – ein ungeschriebener und verschwiegener Vertrag, der als Folge des Volksaufstandes von 1956 gewertet wird14 –, in der innenpolitischen Liberalisierung rückte das Organ der Staatssicherheit in eine zwiespältige Position. Es hat sich die Rolle des wahren Verteidigers der Staatsordnung angeeignet, dabei war es von sekundärer Bedeutung, „wie sich die beobachteten Personen zur sozialistischen Staatsordnung verhielten. Viel wesentlicher war es, dass man die Maschine mit der nötigen Intensität in Gang halten konnte.“15 Dies war so oder so notwendig aus der Sicht der Staatssicherheit: Wenn die Anzahl der gegnerischen Personen abnahm, so hat dies die Kraft und Legitimität des Systems bewiesen, konnte jedoch auch auf Mängel in der Effizienz der Wachsamkeit und der operativen Arbeit hindeuten. Aus der Sicht des
neue Bedeutungen.“ Ebd., 74. Zur Aufzeichnung des Gesetzes selbst im Archiv vgl. Ebeling: Das Gesetz des Archivs und Vismann: Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft. 13 Rainer M.: Jelentések hálójában, 203. „Das grundlegende Motiv der Entstehung dieser Texte war, dass die Institution [der Staatssicherheitsdienst] wissen wollte, wie denken die beobachteten Personen über das weiteste System ihres Lebens: über das politische System, in dem sie lebten“. Hier gab es „drei Hauptprotagonisten: die Institution, die die Textentstehung beauftragt hat, die Personen in der Institution, die die Texte verfasst haben, und schließlich die Person, von der die Berichte handeln und die sie in dieser Weise konstruieren.“ Ebd., 14. 14 Das wird auch in der VA angedeutet (158–159), in Bezug auf den Essay von Péter Nádas über Sascha Anderson (auf Deutsch: Nádas: „Armer Sascha Anderson“). Zu diesem Pakt – der in den berühmten Worten von Kádár angedeutet (oder besser: diktiert) wurde: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ (ein Satz, der natürlich auch eine zynische Lesart erlaubt) – vgl. Fischer: Kleine Geschichte Ungarns, 217–218. Zur Problematisierung der Paktfigur im Zeichen einer historischen Kontingenz (die aber gewollt oder ungewollt auch eine entschuldigende Volte hat) vgl. Kende: Eltékozolt forradalom?, 202–208. Zu den „langen“ 60er Jahren in Ungarn vgl. noch Rainer M.: „A ‚hatvanas évek‘ Magyarországon“. 15 Rainer M.: Jelentések hálójában, 68.
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Organs war sogar die erste, positive Perspektive nicht ungefährlich: So wie die Akzeptanz des ganzen Systems steigt, so sinkt die eigentümliche Legitimität der Staatssicherheit.16
Diese Annahme war freilich insoweit fiktiver Natur, als bis zum Ende der 70er Jahre in Ungarn keine politische Opposition existierte. Etwa vor diesem Hintergrund sind bestimmte diskursive Phänomene und (deren) referentielle Effekte in der VA bzw. im von ihr vermittelten Archiv zu sehen. Der Text von Esterházy präsentiert sich selbst auch als Bericht – „Dies ist kein Bekenntnis: es ist ein Bericht“ (VA 30) – und etabliert somit eine Art Gesetz der Gattung in Bezug auf den eigenen Text.17 Ein (gleichsam philologischer) Bericht über die Berichte des Vaters sollte das sein, was freilich nicht ganz stimmt: Der Text von Esterházy ist – ob gewollt oder ungewollt – auch als eine Art öffentliche Beichte anstelle des ausgebliebenen Bekenntnisses des Vaters zu lesen (das ist eine mögliche Bedeutung der „verbesserten Ausgabe“, neben der Angabe des neuerlich entdeckten referentiellen Hintergrundes vom Vater).18 Gerade als Überlebender zeugt er für jenen Zeugen, der aus welchem Grund auch immer über das eigene Vergehen, über den eigenen „Verrat“ (ein Wort, das in der VA mehrmals vorkommt) nicht (zu) zeugen konnte oder vermochte.19 Er bezeugt das Faktum der Berichte noch vor jeglichem Inhalt und zweifelt damit die oben aus historischer und metasprachlicher Sicht angenommene pure Selbstreferenz der Beobachtungsmaschinerie an (bzw. betont diese mit einem anderen Vorzeichen), da – könnte man sagen – diese Annahme Gefahr läuft, nur die latente (institutionsgebundene bzw. rechtserhaltende), nicht
16 Ebd. 17 Das steht gleichsam im Zeichen von arché im nomologischen Sinne (als Gebot). Vgl. Derrida: Dem Archiv verschrieben, 9. 18 Der Ausdruck „Beichte“ oder „beichten“ taucht in der VA des Öfteren auf, meistens auf den Vater bezogen, aber auch auf den Sohn, s. VA 104, 247, 260, einmal kommt es zum Abschreiben einer katholischen Beichte, s. VA 301–302. Die folgende Stelle beleuchtet diesen Zusammenhang auf ökonomische Weise, mithilfe eines Eigenzitats: „Über das Ausmaß des Verrats könnte der Verräter berichten, aber er kann nicht. Gerade über Tar und seine Novellen habe ich einmal geschrieben: Für die, die nicht reden können, muß der reden, der es kann.“ (VA 159) (Sándor Tar, ungarischer Schriftsteller, der auch über Bekannte und Freunde berichtete und, als dies sich herausstellte, Selbstmord beging.) Vgl. noch Dobos: „Az értelmezés lezárhatatlansága“, 400. 19 Menyhért spricht sogar von „Trauerarbeit“, vgl. Menyhért: „Trafik“, 262.
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aber die potentielle (referentielle bzw. rechtsetzende) Gewalt jener Maschinerie20 in Rechnung zu stellen: Papa sieht hier so aus wie eine Marionette. Als würde er sich auf ein Gespräch nur einlassen, um diese schäbigen Berichte schreiben zu können, die nur aus wenigen Zeilen bestehen, selbst in dieser Hinsicht wertlos sind, nichtssagend. Oder klein. Nichtse. Nicht Nichtse. [Ein Bericht ist nie nichtssagend. Nie sagt er nur nichts. Auch wenn er leer ist, sagt er etwas aus. – Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren schrieb ich in der „Spionnovelle“, ohne zu wissen, daß ich zwischen den Hörnern das Euter traf: „Was im (VA, 67) Bericht ist, ist zweitrangig. Wichtig ist das ist. Die Ist-heit . . .“21
Die Spionnovelle war eine der Novellen im zweiten Buch von Esterházy, Pápai vizeken ne kalózkodj! („Räubere nicht in päpstlichen Gewässern!“, 1977). Und dieser Text schreibt sich nachträglich auch in den Zusammenhang der Berichte ein. Die neutrale Philologie bleibt jedenfalls eine Illusion angesichts des Zeugenstatus des Erzählers in der VA, ferner der semantischen Verflechtungen mit den eigenen Texten (Spionnovelle; Harmonia Caelestis). Das gouvernementale Dispositiv des Spitzelsystems kommt gerade darin zum Ausdruck, dass die Führungsoffiziere und andere Angestellte der Staatssicherheit die Reaktionen des Spitzels, die psychologischen Prozesse, die Entwicklung seiner Kompetenz der Berichterstattung aufs Schärfste beobachten. Sie sind an der individuellen Disposition seiner Tätigkeit, überhaupt an der Herausbildung dieser Disposition, sehr interessiert und eng in sie involviert. Das ist also im Sinne Foucaults eine gouvernementale und disziplinierende Technologie der Subjekte selber 22 und
20 Man erinnert sich, dass Walter Benjamin in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt gerade die Institution der modernen Polizei als Beispiel dieser „gespenstischen Vermischung“ interpretierte (hier sind Latenz und Potentialität gewissermaßen identisch), vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften II.1, 189. 21 So wird die Meinung von Historikern, wie etwa Rainer M., die in den 60er Jahren die Vermilderung der Diktatur – auf der Folie des erwähnten „Paktes“ zwischen Staat und Gesellschaft – als positive Errungenschaft einzustellen versuchen (Rainer M.: „A ‚hatvanas évek‘ Magyarországon“), doch etwas ambivalent. Dieses Manöver versteht die Geschichte in ökonomischen Mustern, als ob das politische Tauwetter der 60er Jahre eine Kompensation wäre für die Opfer von 1956. Ganz zu schweigen davon, dass das System die Aufständischen mit krasser Gewalt verfolgte usw. (S. hierzu Kende: Eltékozolt forradalom?, 187–196) Und aus der Sicht der Gegenwart wäre dieser Pakt (oder die gleichsam kontingente, doch asymmetrische Balance) erst recht unter die Lupe zu nehmen, da die schon seit 1990 andauernde politische, moralische, gesellschaftliche, mentalitätsmäßige – und sich immer wieder verschärfende – Krise in Ungarn sehr viel mit den Folgen dieses Paktes und seinen Kontexten zu tun hat. 22 Vgl. jüngst eine Reihe der diesbezüglichen Vorlesungen von Foucault im Band Kritik des Regierens, 9–145. Foucault bezeichnet den „Osten“ als Raum der „unbestimmt ausgedehnten Gouvernementalität“ (ebd., 140). Ferner macht er darauf aufmerksam (mit Blick auf „das so-
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nicht einfach eine praktische Kompetenz, wie vom Historiker banalisierend suggeriert wird.23 Die erwähnte Disposition in Bezug auf die Berichterstattung, die Textproduktion ist laut dem Zeugnis der VA nämlich (auch) eine modale: P. fragt, wie lange das Kind dort bleibt. . . . Zu Beginn des Schuljahres will ich ihn nach Hause holen lassen, in Anbetracht dessen, daß ich noch 3 Söhne habe, denen ich diese Möglichkeit nicht beschneiden möchte. Als „sorgender Vater“ stellte ich die Frage, ob nicht doch angesichts der Eskalation der Lage in Berlin irgendwelche Feindseligkeiten während des Auslandsaufenthaltes meines Sohnes zu befürchten seien. Wie ekelhaft duckmäuserisch. – Der Agent wird immer besser. Wie ein guter postmoderner Autor [. . .] vermischt er das Fiktive mit dem Realen, er schafft eine reale Situation und fiktionalisiert darin nach Belieben. Immer komplizenhafter wird der Tonfall; als sorgender Vater zwinkert er dem Führungsoffizier zu. (VA 206–207)
Der Pakt zwischen System und Spitzel soll oder muss also auch von der Modalität besiegelt, der Bericht auch modal codiert sein (auf der Ebene der Adressierung und Verarbeitung des archivierten Materials). Diese Modalität zeugt wiederum nicht einfach von der Einrichtung eines Codes, sondern vielmehr von der inneren (individuellen) Disposition des Spitzels, seiner Ergebenheit den Aufgaben und dem System gegenüber. Die Gewalt der Archivierung greift also in die Subjekte selber hinein. Man könnte sagen, dass die Tatsache, dass „ein Bericht nie nichtssagend“ ist, auch wenn er inhaltlich nichts wirklich Relevantes auszusagen scheint, doch den Meineid, den Verlust der Wahrhaftigkeit bezeichne oder bezeuge. Der Bericht erscheint in dieser Funktion als Lüge, als Missbrauch des Vertrauens des Anderen, als eine implizite Kontamination der Kommunikation bzw. ihrer Bedingung, die in einem Ja-Sagen, dem (immer schon) gegebenen Wort gründet. Das jeweilige, zum Zwecke der Berichterstattung initiierte oder generierte Gespräch ist von vornherein an einen Dritten adressiert, von dem der Gesprächspartner nichts weiß – ferner wird dieses Gespräch auch aufgezeichnet und medial umgeformt, was seine bestimmte Codierung und Lesart, seine Überzialistische Projekt“), dass die „Milderung“ nach dem Terror gerade keine Lockerung der Disziplinierung, sondern auch ihre Verstärkung (wirkungsvollere Implementierung) bedeuten kann: „Sie sagen, der Terror habe nachgelassen. Das ist sicher richtig. Doch im Grunde ist der Terror nicht der Gipfel der Disziplin, sondern deren Scheitern. (. . .) Der Terror ist stets umkehrbar; er fällt fatalerweise auf diejenigen zurück, die ihn ausüben. Die Furcht ist zirkulär. Doch von dem Zeitpunkt an, da die Minister, die Polizeikommissare, die Akademiemitglieder und all die Verantwortlichen der Partei unabsetzbar werden und für sich selbst nichts mehr befürchten, wird über sie die Disziplin voll funktionieren, ohne dass es auch nur die vielleicht ein wenig schimärische, aber stets gegenwärtige Möglichkeit einer Verkehrung gäbe. Herrschen wird die Disziplin, ohne Schatten und ohne Risiko.“ (Foucault: Kritik des Regierens, 329). 23 Vgl. Rainer M.: Jelentések hálójában, 75.
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setzung in einen anderen Kontext ermöglicht.24 Hier ist noch Folgendes anzumerken: die Einführung oder Rekrutierung des Agenten in das „Netz“ hat den Kandidaten vor allem zu einer belastenden Aussage gezwungen, um ihn nachher auf diesem Belastungsmoment basierend für die Organisation gewinnen zu können.25 Ein scheinbarer performativer Akt also, dessen Insinuierung auch im Archiv der VA auftaucht: „Auswertung: Sein Bericht ist gut, obgleich wir die Aussage bereits auch an anderer Stelle überprüfen konnten. Aber dennoch wertvoll, da wir sehen, daß Agent einen gewissen Willen zur Arbeit zeigt. Vielleicht ist das der Augenblick des Sichabfindens.“ (VA 87) In diesem Lichte wird die Erwartung unterminiert, dass solche Agenten von sich aus ohne weiteres ein Zeugnis über ihren Verrat oder ihre Tätigkeit in der Nachgeschichte ablegen sollten, sind doch zumindest einige von ihnen bereits von einem „Bekenntnisakt“ gezeichnet oder stigmatisiert. Die Funktion des Philologen bleibt aber mindestens zweifach in Geltung: Der Erzähler bezeugt das sprachliche Kompromittieren des Vaters als Subjekt und Objekt der Berichterstattung. Das wird auch in der „Immanenz“ des Berichtes, in der Relation zwischen Bericht als Text und als Produkt der archivarischen Macht (mit politischer Codierung) wiederholt (wo auch eine Differenz zwischen den beiden erscheint, ohne freilich die Bedeutung des Faktums der Berichterstattung aufzuheben). Dieser Aspekt wiederum bildet eine Parallele zur referentiellen Kontamination der erwähnten eigenen literarischen Texte, vornehmlich der Harmonia Caelestis. Eine paradoxe Parallele: So wie die Gespräche im Bericht mehrfach transponiert werden, so wird die Beichte der VA von den früheren literarischen Texten gewissermaßen gelesen und umgekehrt. Eine neutrale Beichte oder ein neutrales Zeugnis scheint nicht möglich zu sein, und das nicht nur aus persönlich-inneren (emotionalen), sondern auch aus sprachlich-textuellen Gründen. Zunächst ist aber der erste „philologische“ Aspekt zu beleuchten: darüber hinaus, dass überhaupt berichtet wird, wiederholt die sprachliche Art und Weise der Archivierung den kompromittierenden „Sündenfall“, wie es in Orthografie und bestimmten Formulierungen dem professionellen Leser-Autor Esterházy unmittelbar auffällt (VA 52 und 56: „Kontakte weiterentwickeln: Wie er diese viehischen Ausdrücke gelernt hat!“). Zuvor hat sich ihm – wiederum noch vor jeglichem Inhalt – die unverwechselbare, ihm nur zu gut bekannte Handschrift seines Vaters aufgedrängt (VA 15), ein traumatisierendes Moment, das auch später noch wirksam bleibt (VA 236): Der idiomatische Zug der Handschrift (als einer – mit Freud gesprochen – „sachlichen Erinnerungsspur“) wird mit dem unpersönlichen,
24 Beispiele für die im Vorhinein erstellte Choreografie der Gespräche s. VA 261–262. 25 Zur Methode dieser „Gewinnung“ s. Rainer M.: Jelentések hálójában, 73–74.
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technisch-bürokratischen Vokabular (als „Wortbesetzungen“)26 kontrastiert, und so entfaltet diese Verdopplung ihre verheerende Wirkung auf den Sohn.27 Das Trauma ist hier das „déjà-vu“ selbst (da die Handschrift und die Worte des Vaters im Kontext der Berichte auf verfremdete Weise erscheinen) und umgekehrt. Der Zeuge steht hier in einer selbstaufhebenden Kreuzung: Er ist Kopist einer unverwechselbaren Handschrift, zugleich eines hochgradig machtbedingten und inszenierten Diskurses und die Frage stellt sich, welche(n) er denn bezeuge. Die Handschrift im Modus des gedruckten Textes zu bezeugen, ist bereits durch den medialen Wechsel von einem potentiellen Meineid erkauft, und so kann sich der Zeuge auch seinem eigenen Zeugnis entfremden. Durch dieses Zeugnis hindurch zu sprechen „gelingt“ dem Vater aber immer wieder, in den halluzinatorischen Momenten, wo der Sohn seine Stimme zu vernehmen meint, in Entsprechung zum visuellen idiomatischen Charakter der Handschrift, von dem er sich auch nicht loslösen kann. Dieser traumatische Effekt kreist weiter im Sachverhalt, dass Esterházy in Hinsicht auf Harmonia Caelestis zu seinem eigenen Philologen wird und der Text des eigenen Romans an vielen Stellen (selbstverständlich vor allem in Bezug auf den Vater) wörtliche Bedeutungen zu suggerieren scheint, eine quasi-referentielle Funktion erhält. Der für bekannt gehaltene Text zeigt plötzlich an, dass er im Prinzip immer schon von diesen gespenstischen Referenzen kontaminiert war und dass er semantisch-referentiell unverfügbar ist, was gerade auch an der Nachträglichkeit des referentiellen (vom Archiv bedingten) Effekts ablesbar ist. Der literarische Text wird von der Referentialität der archivarischen Sprache wie von einem Parasiten kontaminiert, Text und Außertextliches kommen in der VA auf eine Weise in Berührung, die Esterházys seit jeher dezidierte intertextuelle Poetik zu verunsichern scheint. Zitate aus Harmonia Caelestis erhalten plötzlich eine literale Bedeutung: Wenn zum Beispiel der Sohn meines Vaters seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, daß sie eine Familie waren, ein bißchen Goethe, ein bißchen Bonaparte, mit Helden unter ihnen und Verrätern, bat es sich mein Vater empört aus, was denn für Verräter?! Wer denn konkret?! Konkret, fuck it, du. So darf man doch nicht reden!! Offensichtlich hielt er die Existenz eines solchen prinzipiell für ausgeschlossen. [. . .] Hier, von den Seiten 57 und 58, könnte ich durchgehend abschreiben. Im übrigen ist ausgerechnet mein Vater ein gutes Beispiel für den sog. Verräter-Meinvater. Der Autor als Prophet – schon wahr, in vollstem Maß in seinem eigenen Land. (VA 130)
26 Vgl. Freud: „Trauer und Melancholie“, 210. 27 Der plötzliche Anblick der väterlichen Handschrift tritt in Parallele mit dem Anblick des Flugzeugs, als dieses in den Turm des World Trade Center rast (VA 298–299). Zum Trauma in der VA vgl. Menyhért: Trafik, 265.
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Oder: [Wieder habe ich einen Satz aufgeblättert, der einen neuen Sinn erhält: Mein Vater war im Grunde genommen ein schlechter Mensch, eine gemeine Wanze, aber im we(VA 346) sentlichen kam das nie heraus, es kam nicht dazu. – Doch.]28
Interessanter sind die selteneren Fälle, wo es zu einer Dekanonisierung der Harmonia kommt, nämlich eine Ambivalenz des Romans zutage tritt, die auch den Verfasser überrascht und ratlos macht: S. 307: Ein Glück, daß er es nicht erzählt hat, denn das wäre dann wieder für meine Mama zuviel gewesen. Und mein Vater, bei dem alles zusammenlief, wie das Wasser in den Ozean, dachte sich (als er noch lebte), es gibt sicher auch jemanden, einen Jemand, der mir nicht alles erzählt, damit es auch für mich nicht zuviel wird. Was bedeutet das jetzt? Wie gut für mich, die Götter passen auf mich auf, oder daß immer noch nicht alles gesagt ist? (Als ob sich im Buch selbst ein vor mir verstecktes Wissen verborgen halten würde, so lese ich es. Wenn das kein Hochmut ist, weiß ich nicht, was.)29 (VA, 137–138)
In diesem Fall macht die VA den Text von Harmonia Caelestis unlesbar, gerade der referentielle Kommentar potenziert die Mehrdeutigkeit des ‚Mastertextes‘. Dieses Verhältnis kennzeichnet auch die anstelle des Täters abgelegte Beichte, die nicht unbedingt zu einer ethischen Balance führt, sondern die Unkenntlichkeit oder Unerkennbarkeit des Vaters steigert.30 Denn Harmonia caelestis könnte
28 Ähnliche Beispiele aus dem Roman ließen sich noch finden, die in der VA nicht erwähnt werden (z. B. HC 196). Wichtig ist noch die längere Stelle im Roman über die „Einsamkeit“ des Vaters nach 1956, die im Lichte der geheimen Agentenrolle eine weitere Sinnkonkretisierung erfährt, wie der Erzähler der VA eingangs überrascht feststellt, vgl. VA 26–27. Ferner der Schluss des Romans, der auch semantisch entlarvt wird: „. . . sitzt mein Vater schon an der Hermes Baby, die ununterbrochen rattert, wie eine Maschinenpistole, er schlägt und drischt auf sie ein, und die Wörter fließen, fließen nur so aus ihr heraus, fallen aufs weiße Papier, Wörter, mit denen er nichts, aber auch gar nichts zu schaffen hat, niemals hatte und auch niemals haben wird. Reden wir nicht um den heißen Brei herum, es ist eine schöne Szene, einer der schönsten Romanschlüsse, vielschichtig, schmerzvoll und erhebend. Nur: Der Spitzel schreibt seinen Bericht.“ (VA 145). 29 Die Frage „und was heißt das also alles?“ wiederum ist ein Zitat aus Harmonia caelestis (HC 21) und suggeriert die intrinsische Ambivalenz des Romantextes. Vgl. hierzu eine Bemerkung Gottfried Benns: „Es ist zu vermuten, daß in jedem bedeutenden Werk Stellen sind, die dem Autor selber unklar bleiben.“ Benn: „Roman des Phänotyp“, 161. 30 „Eines [ – alles! alles! – ] begreife ich nach wie vor überhaupt nicht – wieso unser Vater auf uns keinerlei Angst ausgestrahlt hat. [. . .] Daß es gut wäre wegzutauchen. Warum haben wir nur Ruhe und Unanfechtbarkeit gesehen? Und ein wenig Geheimnis.“ (VA 273) „Er verbreitete sie nicht. Er selbst war diese Servilität. Aber wenn er etwas verbreitete, so war es deren Gegenteil. Man möge fragen, wer ihn kannte. Ich sage es nicht zu seiner Entschuldigung. Und ich begreife
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beinahe als eine unbewusste Beichte aufgefasst werden, bar des Wissens des Autorsubjekts, wo der Text gleichsam von sich aus, zwischen den Zeilen die unterlassene Beichte, das Bekenntnis, für den Vater ablegt, ohne diese aber als einen eigenen performativen ‚Akt‘ auszuführen. Vielmehr fungiert er wirklich als Archiv eines Geständnisses, wenn auch aus der Perspektive der Nachträglichkeit. Das ist natürlich vom Lesen – von der nachträglichen Perspektive der VA – bedingt, und hier kommt die genuin literarische Dimension des Romans – über Klartexte der wörtlichen Bedeutung hinaus – zum Vorschein, in dieser quasi-performativen Eigenschaft, die aber alles andere als eine ‚Handlung‘ oder eine ‚Performanz‘ ist, vielmehr erst in einer Lektüre- und Zitationsfigur und ihrer Verunsicherung – auch der Relation von Text und Außertextlichem – sich ereignet.31 Die literarische Performativität findet also zwischen zwei Texten, zwischen Text und Kommentar bzw. Zitat statt, was aber im gleichen Zuge auch eine Dekanonisierung des „Originals“, des Mastertextes mit sich bringt und aufdeckt, dass dieser nie mit sich selbst identisch war.32 Da der Kommentar auf Zitierung, also auf einem anderen Text basiert („Verbesserung“ meinte im Vokabular von Esterházy seit jeher Zitierung),33 ist der Bezug zwischen Text und Referenz nicht einer interpretatorischen Subjektivität, sondern Texten zu verdanken. Ferner wird die performative Qualität der „gelungenen“ Beichte gerade verunsichert. Zwar kann man von der Kenntnis der verschwiegenen Agentenrolle des Vaters nicht abstrahieren und (wohl nicht nur) bestimmte Passagen des Romans in dieser Lesart aufnehmen, doch ist in diesem letzten Beispiel gerade die Problematik der Beichte und a fortiori der Vergebung adressiert, die erst recht zu einem Dilemma interpretatorischer und „ethischer“ Art avancieren. Dadurch wird aber auch der „Bericht“ der VA zu einem Text, zu einem hybriden Diskurs, nicht nur der Roman wird von der Referentialität, von der wörtlichen Bedeutung heimgesucht – gerade dadurch, dass er die nicht-identische Textualität des Romans aufdeckt. Hier sieht man, dass die rhetorische Flexibilität und die referentielle Ausgeliefertheit der Literatur identisch sind. Das Literarische ist demnach nicht einfach eine technisch-instrumentell konstruierte Sprache, sondern
auch nicht, wie es möglich war. Kann es sein, daß mein Vater ein großer Schauspieler war?“ (VA 297) Vgl. das Gespräch mit Roberto in HC, das die „Komplexität“ der Vaterfigur auf subtile Weise andeutet (HC 823–924). 31 Vgl. hierzu eine selbstreflexive Bemerkung in HC: „Auch wenn es aus der Wirklichkeit geschöpft wurde, sollte man es lesen, als wäre es ein Roman, und nicht mehr und nichts weniger davon erwarten, als ein Roman zu geben vermag (alles).“ (427). 32 Das ist die dekonstruktive Figur, die Paul de Man in der Relation von Original und Übersetzung im Anschluss an Benjamin aufzeigt, vgl. de Man: „Schlußfolgerungen“, 196–197. 33 Vgl. Bányai: „Derű vigasz nélkül“, 257.
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die Entbindung der Sprache von ihren kulturellen, ideologischen, semantischen, pragmatischen usw. Konventionen, Codierungen und Autorisierungen, was aber auch bedeutet, dass gerade die so freigesetzte Sprache für die Intervention (oder den re-entry) solcher Semantisierungen und Autorisierungen anfällig wird. Jedenfalls wird die ideologiekritische Funktion der Literatur bei Esterházy problematisiert – sie ist der expliziten ideologischen Gewalt gegenüber letztlich ohnmächtig. Zur Kontamination der Literatur durch unvorhergesehene Referenzen gesellt sich nämlich auch ihr spiegelsymmetrisches Gegenteil: wo die Referentialität gerade die Kraft der Worte oder Texte (erst recht) bestätigt. Nicht nur wird der Text vom Außertextuellen tangiert, auch das Außertextuelle erscheint als eine Art Zitat der Textualität, deren performative Kraft aber erst dadurch schockartig erfahren wird. Und zwar bereits von Anfang an: Nicht das Herz ist mir schwer, sondern der Magen. Haargenau wie in HC [S. 890]: „Am Morgen beim Aufwachen packte mich die Angst an der Gurgel. Das war was anderes, als was ich bis dahin kannte.“ Nur daß ich dies aus dem Kopf geschrieben habe, aus der Phantasie. Ich hinke meinem Buch hinterher. (VA 20)34
Der Text wird wiederum erst aus der Nachträglichkeit zum Archiv; im Zuge einer Lektürefigur, eines Wiederlesens,35 das in einer virtuellen textuellen Vorgängigkeit der Referenz gegenüber gründet. Das sprachlich-textuelle Zitat hingegen erhält einen quasi materiell-indexikalischen Charakter. Ferner wird nicht nur der Roman von der archivarischen Macht und ihrer referentiellen Gewalt kontaminiert, sondern die Sprache selbst, z. B. auf der Ebene des Eigennamens und verschiedener metaphorischer Ausdrücke. Z. B. der Name des Vaters in einem Spruch, dessen kalendarischer Sinn eine auf die Agentengeschichte bezogene Bedeutung erhalten kann: „Das Radio ist an, eine idiotische Stimme sagt gerade: Wenn Matthias kein Eis findet, macht er welches.“ (VA 177) Hier kehrt die übertragene, körperlose, unpersönliche Stimme eine potentielle Gewalt der Sprache selber – aber vielleicht nur in dieser Übertragung? – hervor, ihre semantische Unschuld erweist sich als illusorisch. Ähnliches gilt für den Ausdruck „tégla“ („Ziegel“), der im Slang „Spitzel“ bedeutet: „Er bot sofort an, bestimmte Aufgaben für uns zu erledigen. Er betonte, nicht emigrieren zu wollen, da er seine Frau und seine 4 Kinder nicht hier läßt. Die Einheit der Familie, wie schön! Die Familie als wertebewahrender
34 In HC erfolgte ein ähnlicher Effekt mit einem Zitat aus János Aranys Toldi (der in Ungarn berühmte Auftakt des Werkes): „Ich preßte meinen Kopf auf die warme Erde. Es geschah, wie es geschrieben steht: Sengend brannte die Sonne auf die kahle Heide. Wortwörtlich. Man kann unmöglich nicht glauben, was ich da sage. Undenkbar.“ (HC 608). 35 Vgl. Dobos: „Az értelmezés lezárhatatlansága“, 400.
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Baustein [tégla] der Gesellschaft. [Und darauf ein Satz, der in der Übersetzung von H. Skirecki fehlt:] Der Scherz ergibt sich von selbst.“ (VA 177, JK 137) In diesen Beispielen wird die referentielle Bedeutung metaphorisch in ein anderes Bezeichnetes, die metaphorische Bedeutung via Slang-Semantik in eine referentielle gekehrt. Der Verlust der Verfügbarkeit der Sprache verstärkt sich aber in Fällen, wo der Erzähler/Abschreiber seine eigene Sprache, ihre kognitive und performative Dimension nicht beherrschen kann: er kann auf Fragen nicht die Wahrheit sagen (VA 228) bzw. seine Motivation zur Antwort wird fahl, indem sie ausgesprochen wird,36 ferner muss er die Verselbständigung der Sprache registrieren.37 Und so ist es fast schon folgerichtig, dass der Erzähler und Kopist der VA in seinen traumatischen Symptomen nicht umhin kann, gewisse Struktureigenschaften des Vaters als Subjekt und Objekt der Berichterstattung und ihrer Gewalt zu reproduzieren oder zu spiegeln. Die grundlegende Verdopplung in seiner textuellen Rolle – Leser und Scriptor zugleich zu sein – wiederholt gewissermaßen die Situation des Berichterstatters, der seinen Text von vornherein unter der Schirmherrschaft eines bestimmten politischen bzw. Adressierungscodes zu schreiben und zu lesen hatte. Der Erzähler der VA unterliegt dieser Schwankung dermaßen, dass er dem gelesenen Material oft verzweifelte Bemerkungen hinzufügt bzw. die kompromittierende Lage mit Reflexionen versieht, die manchmal etwas unbeholfen, aber auch hyperbolisch, reduktiv wie generalisierend zugleich klingen, oft ihre Funktion auch nicht ermittelt werden kann. Abgesehen von dieser durchgehenden Eigenschaft der VA gibt es doch Momente der erwähnten Verdopplung von grundlegender Tragweite. Das Wichtigste ist möglicherweise die Kreuzung von persönlicher Involvierung und unpersönlicher Perspektive, die die mediale Situation des „Erzählers“ figuriert, Kopist und Kommentator zugleich zu sein. „Wiederholung: Ich beschreibe, was ich vorfinde, und beobachte mich wie ein Tier – soviel kann ich tun, bis hierhin reicht es.“ (VA 185)38 Einerseits die maschinelle Prozedur, eine regelrechte Aktenführung, als materialer Prozess bar jeder anthropomorphen Perspektive, andererseits die emotionale und moralische Verbundenheit, die nicht auszuschalten ist, um ein reines mediales oder archivarisches
36 „Sie fragten im übrigen, warum ich schreibe, aber ich konnte darauf nicht antworten, gab nur kleinere Blasiertheiten von mir. Ich hätte sagen sollen, daß mich ein ständiges inneres Feuer vorwärtstreibe, die Geheimnisse des Kosmos auszuspähen, das verbrennende Feuer der Neugier und des Ehrgeizes. Das ist auch wahr, nur daß es falsch wird (und lächerlich, aber das zählt jetzt nicht), wenn ich es ausspreche.“ (VA 174). 37 Vgl. Dobos „Az értelmezés lezárhatatlansága“, 396. 38 Im Original: „bis hierhin reiche ich.“ (JK 143).
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Apriori zu affirmieren.39 Diese letzte Operation wäre schlichtweg die Entschuldigung des Vaters und aller anderen Spitzel. Man sieht also, dass noch so sehr begründete kulturtechnische Beobachtungen und Überlegungen die performative („ethische“ und politische) Perspektive nicht außer Kraft setzen können, was eben heißt, dass sie nicht bloß „Beobachtungen“ sind. Freilich könnte man die „Ethik“ (mangels eines besseren Wortes) auch als Anthropomorphismus abtun, dieses Verlangen ist aber ein menschliches, allzumenschliches Begehren, wie man befürchten muss. Diese Maschinalität und ihre das Persönliche auslöschende Wirkung kommt am eindrücklichsten im Abschreiben von „k“ („könny“, „Träne“) zum Vorschein, wo auch das Signal der direktesten, auch körperlichen Betroffenheit des Sohnes40 nach einer Weile dem mechanisch-unpersönlichen Aufzeichnen, besser: Abschreiben weicht und gleichsam zum indifferenten Glied einer seriellen Aktenführung wird.41 Einen weiteren Effekt des Abschreibens (nicht einfach Aufschreibens) stellen solche Momente dar, wo der Zeuge und Erzähler sich gerade auf der Ebene der archivierten Sprache in die Position des bezeugten Vaters stellt: „Daß ich seinen Platz eingenommen habe S T, ich bin das Familienoberhaupt, ich bin fortan der Mann, der aus der E.-Straße (über die B-Straße) mit seiner Aktentasche stadteinwärts zieht. Ich betrachtete meinen Schatten wie meinen Vater. Der Schatten als Vater. Plötzliche Wut kam in mir hoch, ich will nicht an diesen . . . an dieses Neue denken.“ (VA 275) Auf der selbstreflexiven Ebene des Textes verschmelzen gar die Perspektiven des Berichts und des literarischen Werkes.42
39 Eine ähnliche Strategie wird von Vismann auf erhellende Weise analysiert (Akten, 312–313, wo gar – horribile dictu – die „Subjektwerdung“ im Aufschreibesystem 1800 unter postarchivarischen Bedingungen aufgegriffen wird), diese Optik scheint freilich die Kittlersche Perspektive, jede literarische Operation sei die unbewusste Kopie gegebener Aufschreibesysteme, zu modifizieren. Die Hermeneutik des Selbstverständnisses scheint doch nicht ausrottbar zu sein, solange Menschen und nicht einfach Maschinen im Spiel sind. 40 Zur Spannung zwischen der unverfügbaren, automatischen Körpersprache und der verbalen Sprache vgl. Menyhért: „Trafik“, 265. 41 „Ein schöner, großzügiger, hilfsbereiter Mann, [. . .] der mit heroischer Kraftanstrengung seine vielköpfige Familie unterhielt [T]. ‚Blasiert schreibe ich die Ts auf.‘“ (VA 214) Im Original steht: „schreibe ab“. (JK 165) Das „T“ ist das Zeichen für „Träne“, wo der Sohn in der Konfrontation mit der Vergangenheit seines Vaters wider Willen weint. 42 Die Perspektive des literarischen Autors: „Vermerk: Agent erstellt seine Berichte viel zu oberflächlich. Deshalb müssen die Treffs so ausgewählt werden, daß wir uns mit ihm befassen und ihn seine Berichte umschreiben lassen können. Was er dann noch erzählt, muß man ihn aufschreiben lassen, da er seine Aufgabe erfüllt, aber nichts aufschreibt. Das zum Beispiel unterscheidet ihn klar von mir, ich schreibe alles auf. Gerade das wäre ja meine Aufgabe.“ (VA 78) Die Perspektive des Berichterstatters, freilich aus der Sicht des Zeugen: „Plötzlich [. . .] erkannte ich: Mein Vater hat mit seinen sog. ‚anständigen‘, seinen ‚guten‘ Sätzen nicht
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An einem Punkt kommt es im Zuge dieses Alles-Sagens sogar zu einem „Wirklichkeitseffekt“ im Sinne Barthes’, also zu einem nicht-codierten Effekt, gar zu einem „punctum“ (oder Anakoluth?): „Sie zeigte mir eine schöne ungarische Briefmarke (Specht), die sie zurechtgelegt hatte, um sie auf den Brief für ihren Sohn zu kleben. Mehr sage ich nicht, aber diese Spechte lassen mich ausflippen. Schlagen, kotzen usw. könnt’ ich.“ (VA 283) Dabei könnte diese Stelle im Bericht des Spitzels fast schon ironisch gelesen werden – womit man durch die literatur- und fiktionserzeugende Lektüre der Berichte freilich den Vater entschuldigen könnte. Gegen Ende der VA kommt es dann zu einer merkwürdigen Szene mit dem Zeugen, die zwischen Traumbeschreibung und Halluzination (oder Zitat?) oszilliert, auch ein eindrückliches Beispiel einer traumatischen Halluzination, die die szenografische Codierung und den referentiellen Wert der Beschreibung verunsichert.43 Der Zeuge sieht sich vom Bezeugten gesehen (ihre Perspektiven lassen sich voneinander nicht trennen), der/das die Zeit(phas)en subversiv durcheinanderbringt. Und dem entspricht, dass im Zuge des Wiederlesens der HC andere Stimmen oder semantische Effekte zum Vorschein kommen, über deren zeitliche Zugehörigkeit keine definitive Entscheidung möglich ist. Diese Kreuzung zwischen maschineller Wiederholung und persönlicher Betroffenheit ist aber die grundlegende Bedingung der Möglichkeit des Zeugnisses, der Zeugenschaft selbst.44 Die beiden Merkmale stehen in wechselseitiger Spannung, die maschinelle Iterabilität droht die ethische Perspektive des Zeugen auszulöschen, seine testimoniale Fähigkeit und Kompetenz – die ihn als Subjekt begründen oder kennzeichnen würde – zu problematisieren. Die Gewalt des Archivs und der Archivierung kommt in dieser Bedrohung zutage, die
nicht schaden wollen, hat nicht den durch ihn in Not Geratenen helfen wollen, sondern er war nur – aufrichtig. [Also auch das von ihm geerbt . . . ] Aufrichtig zum Verbindungsoffizier. Oder nicht einmal das, er schreibt einfach alles auf. Er schreibt, X. sei unschuldig, weil er dachte, daß X. unschuldig sei. Nur das. Hätte er gedacht, er sei ein Vaterlandsverräter, hätte er geschrieben: ein Vaterlandsverräter. Ganz und gar Flaubert. Eher Stendhal.“ (VA 190–191). 43 „[In einem Fahrstuhl in Paris – ich reise ‚Harmonia‘ hinterher – sind rundum Spiegel, von überall her gucke ich zurück, ich kann nicht widerstehen, trete näher, starre mir ins Gesicht, als ich darin plötzlich das meines Vaters erkenne. Ich sehe, da ist mein Vater, er ist erschienen, als wäre er auferstanden, ich rühre mich nicht, um ihn nicht zu verscheuchen. Ich sehe in meinem Auge sein Auge, Papika, ich seufze auf (irgendwoher aus frühester Kindheit), ich sehe seinen blinzelnden, lustigen, zweifelnden Blick, als er noch zeushaft gut gelaunt war, doch wenn er darauf noch einen trinken wird, braucht es dann nicht mehr allzu lang . . . Diese Unsicherheit entdecke ich in meinem Gesicht, diese Unzuverlässigkeit, die ich jetzt so nahe spüre wie ihn, samt und sonders, jetzt, in diesem reichlich funkelnden französischen Fahrstuhl. – Die Dossiers sind weit weg, ich habe sie lange schon nicht gesehen, man sieht es mir an.]“ (VA 351). 44 Vgl. Derrida: Bleibe, 44–45.
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nicht einfach vom Bericht, sondern auch vom eigenen Text her erscheint (wenn die Perspektiven der beiden nicht mehr ganz zu trennen sind). Da der Zeuge eine metasprachliche Distanz zum Bezeugten nicht aufrechterhalten kann (sonst wäre sein Testimonium kein Zeugnis, sondern Beschreibung oder eben Bericht), so ist die Zeugenschaft wesensverwandt mit der Wiederholung, die auch technischmaschinelle Züge in sich birgt oder impliziert. Daher ist der Zeuge sowohl persönlich-singulär als auch unpersönlich, da sein Zeugnis auf Wiederholung hin angelegt ist. Gerade der technische Aspekt bedroht aber die Singularität, die ethische Entscheidung und Urteilsfindung des testimonialen Subjekts. Dieser Aspekt erscheint in der Gewalt des Archivs, die sich als ein Überfluss auftut („alles sagen/niederschreiben“), dadurch sich aber gegen sich selbst kehrt und gerade das Archiv – seine nomologische und codierende Verfügungsgewalt – schwächt (vgl. das Beispiel „Specht“). Das Zeugnis resultiert aus der Gewalt des Archivs in der Form ihrer Wiederholung, das Zeugnis ist also an den Exzess der archivarischen Gewalt (die sich dadurch schwächt) gebunden (der Exzess als die Passion, die das Zeugnis hervorruft45 oder in ihm wirkt, als eine Intensität). Wie zu sehen war, sind gerade an diesem Punkt der archiviolithische und literarische Diskurs, Archiv und Zeugnis nicht ganz voneinander zu trennen. Das ist der Zusammenhang, von dem sich die VA irritiert zeigt, vielleicht gerade weil sie die Symptome und Momente dieser grundlegenden – nicht einfach nur „irritierenden“ – Verflechtung aufzeigt oder enthält. Welche Bewandtnis hat es mit der supplementären Beichte und der potentiellen Entschuldigung (oder Beschuldigung) des Vaters seitens des Zeugen angesichts dieser Verschränkung? Wie schon dargestellt, ist der Sohn der beglaubigende Zeuge vieler Äußerungen, Verhaltensweisen usw. des Vaters und legt an seiner Statt bzw. für ihn seine Beichte ab (er wiederholt die einst ausgebliebene Beichte und zeichnet sie auch gegen), wo diese beiden Richtungen von den medialen Funktionen des Abschreibens und des Kommentierens modelliert werden. Diese beiden Momente lassen sich nicht zur Einheit verschmelzen, auch wenn sie öfters nicht auseinanderzuhalten sind, sie können nicht in die Form einer Gegenwart gebracht werden. Bereits aufgrund dieser Verdopplung wird es sowohl nötig als auch unmöglich, den Vater in welcher Weise auch immer zu ent- oder zu beschuldigen (für das Erstere sind die Bezugnahmen auf die Kádár-Epoche, die auf der instituierten Lüge basierte, für das Zweite die Berufung auf die Freiheit des Menschen – als anthropologische Konstante, auch im Schluß der VA – das Beispiel). Beide Strategien überzeugen eigentlich nicht ganz. Bei einem gewissen
45 Vgl. ebd., 25.
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Generalisierungsgrad werden die beiden Perspektiven gar identisch: Etwa bei der doch hyperbolischen Parallelisierung des 11. September mit den Taten des Vaters auf der Achse der „Brutalität der Schöpfung“ (VA 298) ist es nur noch eine rhetorische Frage, ob das nun Be- oder Entschuldigung ist (wohl beides) . . . Denn hier droht der „Mensch“ wieder zu einem „Fall“ zu werden (wie in Bezug auf Sascha Anderson konstatiert, vgl. VA 176), zumindest wird er dergestalt determiniert, dass damit die Gewalt der Archivierung reproduziert wird – wie dies bei dem brennenden Interesse gewisser Leute an der Vergangenheit anderer auch heute noch, lange nach dem Systemwandel, in Ungarn der Fall ist, wo also nach „Fällen“ gesucht wird (so setzt sich also die Beobachtungslogik in Bezug auf die Vergangenheit nun fort).46 Tiefer geht hingegen die Erwägung der Möglichkeit, dass die Zeugenschaft hier in einer Scham für den Vater bestehen könnte: „Es ist leichter, sich zu schämen, als die Scham in seinem Gesicht zu ertragen. Es ist leichter, für ihn zu beten, obschon Beten schwer ist, als mit ihm zu brüllen oder verächtlich zu schweigen.“ (VA 229) Das ist die Situation, in der man sich, wie Walter Benjamin sagt, für andere schämt: nicht nur seiner selbst wegen, sondern im Sinne einer „gesellschaftlich anspruchsvolle[n] Reaktion des Menschen“, weshalb für Benjamin die Scham auch „die stärkste Gebärde Kafkas“ darstellt.47 Diese für andere gefühlte Scham steht möglicherweise im Zeichen der erwähnten Unpersönlichkeit, die Scham wegen sich selbst – zwar intersubjektiv-gesellschaftlich bedingt, aber – im Kreise der eigenen Subjektivität. Die Scham für den Spitzel vereinigt in sich also die Momente der persönlichen Involviertheit und des Unpersönlichen – nur eine solche subjektivierte wie zugleich desubjektivierte Scham entspricht der gerechten Zeugenschaft. Diese Zeugenschaft vergibt nicht
46 Vgl. Heideggers Bemerkung: „Das Miteinander im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske der Füreinander spielt ein Gegeneinander.“ Heidegger: Sein und Zeit, 175. Zur Freigabe der Archivbestände und zu deren rechtlich-politischen und kollektiv bedingten mentalen Anomalien in Ungarn vgl. Kenedi: K. belügyi iratfelmérő jelentése. Ferner Gyarmati: „A közelmúlt feltárása“. (Hier mit kurzer Anspielung auf die VA.) Zu rechtlichen Umständen der Akteneinsicht (Stasi-UnterlagenGesetz) in Deutschland und zu etwaigen diskursiv-literarischen Begleiteffekten und Thematisierungen vgl. Vismann: Akten, 300–318. 47 Benjamin: „Franz Kafka“, 428. „So ist Kafkas Scham nicht persönlicher, als das Leben und Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: ‚Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie . . . Wegen dieser unbekannten Familie . . . kann er nicht entlassen werden.‘“
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einfach aufgrund von ökonomischen Modellen oder aus Verdrängung: Das Ausagieren der Iterabilität des Berichts als eines Zeugnisses ist an eine Materialität gekoppelt, die aber auch Vergessen meint. Noch weniger autorisiert sie sich zur Schuldzuweisung und dann zur inszenierten Aufhebung der von ihr selbst eingeführten Schuld, da eine solche, sich nicht als Zeugen in Vordergrund stellende Wiederholung gewissermaßen bar jeder Intention ist. Hinsichtlich der Scham ist an dieser Stelle eine Hypothese in Bezug auf die durchpolitisierte gesellschaftliche Dimension der Kádár-Ära naheliegend: In einer Kollektivität, die auf der institutionalisierten Lüge basierte (resultierend aus dem „Auseinandergehen von öffentlicher und privater Rede“48), tauschen die Scham seiner selbst wegen und die Scham anderer wegen die Plätze und höhlen vor allem den Begriff der Verantwortung (für die Gemeinschaft) aus. Man schämt sich für sich selbst wie für andere, um sich selbst zu entschuldigen, und schämt sich für andere wie gleichsam für sich selbst, um sie beschuldigen zu können: ein Meineid oder eine Selbstlüge der Scham.49 In beiden Fällen wird die Verantwortung umgangen, und so kommt es in der Nachgeschichte einer solchen Ära zu einer tiefgreifenden moralischen, gesellschaftlichen und politischen Krise, die Ungarn in den letzten beiden Jahrzehnten kennzeichnet (und der Reduktion der – in der ungarischen Geschichte und Kultur im Vergleich zu westlicheren Gegenden begrifflich und mentalitätsmäßig weniger stark ausgeprägten – Individualität im Zuge des Kollektivismus entspricht). Es kommt zu Momenten, wo die Scham anderer wegen ganz und gar ohne Rückhalt ist und von Berufungen auf allgemeine habitualisierte Präzedenzen gerechtfertigt bzw. bagatellisiert wird, wie dies gerade Esterházy (und noch vielen ungarischen Intellektuellen) unterlaufen ist.50
48 Vgl. Kende: Eltékozolt forradalom?, 213. 49 Auch Nádas macht ähnliche Bemerkungen, wenn auch mit anderen Begriffen, vgl. „Armer Sascha Anderson“. 50 Eine der Bemerkungen in einem Interview Esterházys zur skandalösen Rede von Őszöd (in 2006) des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der dieser die auf schamlosen Lügen basierende Politik seiner Partei und der Regierung „eingestand“ (aber wohlgemerkt nicht vor der Öffentlichkeit, sondern im geschlossenen Kreis seiner Parteigenossen), war folgende: „Nun hat der König selbst eingeräumt, dass der König nackt ist. Daher gelingt es uns nicht, so gerne zu lachen, wie im Märchen.“ (Tageszeitung „Népszabadság“ vom 26.09.06) Gerade im Lichte der VA war das natürlich eine höchst problematische „Stellungnahme“: Er wirft dem Vater vor, dass bei ihm „Anzeichen von aktiver Feindseligkeit“ nicht zu erkennen seien (VA 278, vgl. dazu noch ebd., 302–303), was aber auf ihn selbst anlässlich der Gyurcsány-Rede potenziert zutrifft (er wurde zu seiner Stellungnahme ja nicht gerade gezwungen). In welchem Verhältnis steht denn die Entschuldigung, gar Exemplarisierung des Lügners im Interview mit dem Schock der VA?.
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Gerade die gelegentliche Ununterscheidbarkeit der Perspektiven von Bericht und abschreibendem Kommentar birgt in sich die Chance, den „Fall“ des Vaters auf gerechte Weise zu bezeugen, gerade jene Dimension, in der der Zeuge seine vorgängige ethische, ideologiekritische, metasprachliche und ästhetische Kompetenz verliert, dort, wo Iterabilität und Singularität des Zeugnisses voneinander nicht zu trennen sind (nur so kommt es zur Benjaminschen Scham für andere, die auch Scham vor der Sprache oder ihrer Benutzung ist, der die Gewalt – der Benennung etwa – wohl intrinsisch eignet).51 Das könnte ein Name für Fiktion sein, eine Fiktion,52 die die Referenz und vor allem ihre Unvorhersehbarkeit nicht negiert. Das kann aber auch das Moment des höchsten Verrats sein, wo gerade die Gewalt des Archivierungscodes bestätigt oder gegenzeichnet wird, da zwischen Vergessen und Reproduktion einen Unterschied zu markieren letztlich unmöglich ist (wie zwischen rechtserhaltender und rechtsvernichtender Gewalt).53 Die Lüge – und vor allem die Selbstlüge – wäre in dieser Sicht nicht einfach eine kognitiv-intentionale Operation, sondern läge einer solchen voraus: als Übernahme, Aneignung oder Wiederholung bestimmter sprachlicher Rollenmuster und Codes, die zum Spitzelbericht, ferner zum Meineid der Scham (zur Schamlosigkeit) unerlässlich sind.54 Wenn im Zeugnis Singularität und Iterabilität voneinander nicht zu trennen sind, so meint das die Gabe: etwas, das das Eigene des Beschenkten betrifft, doch von ihm nicht zu beherrschen oder anzueignen ist (vgl. etwa die sprachlichen und spiegeleffektgebundenen Identifikationen von Vater und Sohn). In dieser Exposition ist das Subjekt weder einfach frei noch unfrei, wie das die VA
51 Vgl. hierzu eine Szene aus Harmonia caelestis, die die Sprache als Gewalt, den kompromittierenden Charakter der Worte thematisiert, im Zusammenhang eines privaten Archivs der Mutter in Bezug auf den Vater: „In diesen Notizen traute sich meine Mutter nicht, die Wörter auszuschreiben, sie hatte sichtlich Angst vor den Wörtern, vor der Festschreibung durch Wörter, und sie hatte auch Angst vor den leeren Zeilen, dem gähnenden Nichts, dem Selbstbetrug. Z.B. stur: das bedeutete sturz, sturzbesoffen; lip: daß er Lippenstift am Kragen oder am Körper hatte.“ (HC 735–736). 52 Vgl. Derrida: Bleibe, 84–85. 53 Zu diesem Zusammenhang bei Benjamin (und über ihn hinaus überhaupt zur Rolle des Gewaltexzesses, die auch in vorliegender Arbeit einen wichtigen Stützpunkt bedeutet) vgl. jüngst Kulcsár-Szabó: „Die Politik der reinen Mittel“. 54 Vgl. die weitreichende Beobachtung in Bezug auf das Lügen während der Kádár-Ära und nach dem Systemwandel: „Die Menschen sind fähig, die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie es so wollen. Ich muß sagen, der Zynismus der Kádár-Ära hat nicht soviel Hüfteschwingerei erfordert. Hier und jetzt müssen wir selbst uns schon ehrlich betrügen – sofern das das Ziel ist.“ (VA 258).
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vorauszusetzen scheint,55 sondern jenseits von dieser Alternative, sofern man frei und unfrei als Attribute (von Subjekten) versteht. Freiheit ist hier kein Attribut (und erst recht nicht das eines unpersönlichen Subjekts), sondern Effekt einer Gabe, die das Subjekt auf unvorhersehbare Weise zum Zeugen macht. Dennoch war das Subjekt immer schon der Zeuge dieser Gabe (wie der Roman auch von den dunklen Seiten des Vaters Zeugnis abgelegt hat), sofern diese ihn als sein Eigenes betrifft oder heimsucht (auch als Fremdes), gar im eigenen literarischen Text (dem Roman). Das ist also nicht als Eigenschaft vorauszusetzen, Freiheit und Unfreiheit kreuzen sich hier auf eigentümliche Weise, so wie in HC von der „Ehrlichkeit“ gesagt wird, sie sei „keine Eigenschaft, sondern eine Gabe“.56 Hier vermutet der Erzähler zwischen „Geheimnis“ und „Ehrlichkeit“ eine Unentscheidbarkeit – vielleicht weil das Subjekt nie wissen kann, weil nicht das Subjekt darüber entscheidet, wann man aufrichtig sein (und nicht etwa schweigen) sollte („auch schweigen können ist wichtig“). Also kann die „Ehrlichkeit“ nicht festgestellt werden (so wäre sie bedingt vom Konstativen!), es gibt nur „Ehrlichkeitseffekte“. Sogar die eigene „Ehrlichkeit“ kann zu einem Geheimnis werden, zu etwas Unpersönlichem, dies aber nicht im Zeichen eines kategorischen Imperativs, sondern wegen des materiellen und iterativen Charakters des Zeugnisses. Die Beispielhaftigkeit des Zeugnisses ist also bedingt von einer Art Gabe, was in der VA zugleich in spiegelverkehrter Weise im Verhältnis der Vergebung als Gabe (forgive, vergeben, pardonner) akut wird. Meinem Vater können wir – wir, Menschen, die er verraten und die er nicht verraten hat – nicht verzeihen, da er sich vor uns zu seiner Tat nicht bekannt und sie nicht bereut hat (. . .) Das Leben meines Vaters ist ein unmittelbarer (und abstoßender) Beweis für die Freiheit [im Original: „Frei-Sein“] des Menschen. (364–365)
Der Zeuge klagt den Vater im Grunde wegen eines Vergehens gegen die Menschheit an. Die „Menschen“ selber werden beispielhaft (sie werden in zwei Klassen unterteilt), insofern sie nicht „vergeben“ können, eine Art Ohnmacht, Nicht-Potenz
55 Die Schlussthese der VA, „Das Leben meines Vaters ist ein unmittelbarer (und abstoßender) Beweis für die Freiheit des Menschen“ (VA 365), ließe sich im Sinne der hier ausgeführten Überlegungen auch umgekehrt verstehen: „Beweis für die Unfreiheit des Menschen“. Es ist aber fragwürdig, die Geschichte des Vaters unbedingt als Beweis zu verstehen, wird so doch das Schema von Einzelfall und allgemeinem Gesetz, Referenz und Allegorie wiederholt. 56 „mert az őszinteség roppant fontos, nem is tulajdonság, hanem adomány . . .“ (HC im Orig. 637) In der hier etwas simplifizierenden Übersetzung von Terézia Mora: „Ehrlichkeit sei eine sehr wichtige Eigenschaft, ja Tugend . . .“ (HC 823) Zur Problematisierung der „Aufrichtigkeit“ in der VA vgl. Bányai: „Derű vigasz nélkül“, 257–258, und Menyhért: „Trafik“, 264.
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charakterisiert sie, die zugleich als Zeugnisgeben funktioniert (so wie oben das „Schweigen“ laut von HC). Also ist auch die Nicht-Vergebung Index einer Gabe, weniger einer individuellen Entscheidung, vielmehr Effekt einer Grenze. Die Unmöglichkeit der Vergebung stimmt die Entscheidung des Zeugen oder der Zeugenschaft. Währenddessen ist auf der anderen Seite der Vater gerade Agent der immoralischen Handlung, der falsche Zeuge, der auf zwei Ebenen „die Freiheit des Menschen“ exponiert: da er sich für die Spitzelrolle entschieden hat und da er von seinem Verrat geschwiegen hat, ihn nicht bezeugt hat, genauer: somit in doppeltem Sinne ein falsches Zeugnis veranlasst (und die Komplizität mit seiner Schuld unterschrieben) hat. Also kann man nicht nur etwas (seinen ursprünglichen Verrat) nicht vergeben, vielmehr ihm selbst kann man nicht vergeben, nachdem er gegen „die Kraft der Vergebung“ selbst gesündigt hat, die „aus dem Menschen einen Menschen macht“.57 Natürlich wäre eine vereinfachende Operation, die „Freiheit“ dem Nicht-Bezeugen zuzuordnen, insofern auch der Vater Gewalt an sich selbst verübt, wird er ja nie erfahren, ob er eine Chance auf die Vergebung gehabt hätte, somit bekräftigt er seinen nicht-öffentlichen Verrat, macht diesen irreversibel. Auf der anderen Seite, der der „Menschen“, würde die Unfähigkeit zur Vergebung im Prinzip die Unfreiheit nahelegen, zugleich muss der singuläre Zeuge wegen genau dieser Unfähigkeit oder Ohnmacht sein Zeugnis ablegen, die Last der Zeugenschaft auf sich nehmen, und zwar im doppelten Sinne: sowohl den Verrat als auch das Verschweigen – also einen doppelten Verrat – zu bezeugen. Der Zeuge muss das Risiko auf sich nehmen, dass sein Zeugnis Entschuldigung oder Freisprechung, dadurch ein falsches Zeugnis sein kann. In dieser Weise tritt „die Freiheit des Menschen“ in eine doppelte Perspektive: das Verschweigen als falsches Zeugnis und die Nicht-Vergebung als Zeugnis (vom Unverzeihbaren). Was bedeutet denn hier die „Freiheit“, die Fähigkeit der immoralischen Taten, ferner ihres Verschweigens oder aber die Unfähigkeit zur Vergebung als zugleich (nicht-willentliches) Erinnern an das Unverzeihbare, dessen Zeugenschaft also? Die Vergebung würde einerseits normalisieren, sogar die Souveränität oder Macht des Vergebenden (über den Akt des Vergebens) behaupten,58 andererseits würde die intentionierte Nicht-Vergebung auch für Ökonomie und Teleologie arbeiten: in Bezug auf die Negation des Nicht-Geständnisses (nicht um Verzeihung bitten) in einer spiegelsymmetrischen Weise als zweite Negation, also als Strafe. Damit würde sie den „abstoßenden“ Sinn des „Frei-Seins“ bestätigen. Dabei stellt die
57 Derrida zitiert Jankélévitch (und sieht ihn mit Arendts Auffassung verwandt), vgl. Derrida: „Jahrhundert der Vergebung“, 11. 58 Vgl. ebd., 12, 18.
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Unmöglichkeit der Vergebung nicht den Modus dieser Negation, sondern ein Ereignis dar und verdoppelt die Bedeutung der „Freiheit des Menschen“, streicht gleichsam sie durch oder setzt sie in Anführungszeichen. Die Vergebung (auch als Unmöglichkeit) bedeutet vielmehr eine Gabe, so wie die „Ehrlichkeit“ laut HC – die vorausgesetzte Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit der (Unmöglichkeit der) Vergebung kann also selber nur eine Gabe sein. Damit aber bleibt die Bedeutung des „Menschen“ (und seiner „Freiheit“) auf irreduzible Weise ambivalent: Die Vergebung entzieht sich nämlich der „menschlichen“ Fähigkeit als „Möglichkeit“, der Ordnung eines „souveränen ‚Ich kann‘“, was „Korrelat der Möglichkeit der Strafe“ ist (laut Arendt).59 Damit wird auch das Rollenmuster des Zeugen als eines souveränen Bezeugenden problematisiert, jenes Zeugen, der in der Gestalt des Vaters gewissermaßen den „Menschen“ (seine „Freiheit“) bezeugt. Daraus resultiert auch jene Unentscheidbarkeit: Diese Exemplarisierung kann zu gleicher Zeit als Anklage und als Entschuldigung gelesen werden (als Entschuldigung nicht unbedingt im intentionalen Sinne, da die Unmöglichkeit der Vergebung im Mittelpunkt stand, als vielmehr im Zeichen der unumgänglichen exemplarisierenden Operation der Zeugenschaft). Diese „Freiheit“ („Frei-Sein“) ist das letzte Geheimnis in der VA, die Unentscheidbarkeit von Anklage oder Entschuldigung, die sich auch auf die Zeugenschaft und deren Subjekt ausbreitet, in der wechselseitigen Kontamination von Abschreibendem und Schreibendem, Handelndem und Zeugen, Zeugnis und Fiktion. Der Zeuge bittet eigentlich immer für sich um Entschuldigung, für sich selbst als unvermeidlich sekundären Zeugen, er entschuldigt sein potentiell falsches Zeugnis (insofern man dem Zeugnis vor jeglichem Beweis Kredit geben soll, also macht es seine nicht-kalkulierte Seinsweise immer schon untrennbar vom falschen Zeugnis, vom Falschgeld). Zugleich entscheidet der Zeuge auch über die Bedeutung (der „Freiheit des) Menschen“, zumindest zeigt er die Bestimmung dieses Begriffs bedingt von einer Entscheidung (und keiner deduktiven oder induktiven Ableitung). Über dieses „Frei-Sein“ lässt sich im Zusammenhang der oben ausgeführten Überlegungen so viel dennoch sagen, dass es keine Eigenschaft ist (so wie die „Ehrlichkeit“). Wenn man über Freiheit überhaupt reden kann, so wird sie von einem Ereignis, gar vom Ereignis der Entscheidung gegeben (wo auch die Entscheidung selbst gegeben oder angerufen wurde vom ihr vorgängigen Ausnahmezustand, einem Rauschen des Unentscheidbaren, des Unverzeihbaren). Der Zeuge zeichnet diese Entscheidung eher gegen, als er sie fällt – auch
59 Ebd., 12. Vgl. Arendt: Vita activa, 300–311. Das „Vermögen“ zu verzeihen und zu versprechen wird von Arendt an einer Stelle auch als „Mittel“ („zum Wiedergutmachen“) apostrophiert (ebd., 304).
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deswegen gibt es kein primäres Zeugnis, da die Entscheidung des Zeugen keinen souveränen Akt darstellt. Die Bezeugung könnte nur als eine dekontextualisierend-entcodierende Iteration stattfinden: Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Bericht und Fiktion (wie zwischen persönlicher Involvierung und unpersönlichem Aspekt), wie das im Gebot des „Alles-Sagens“ deutlich wurde, wo die Perspektiven des Berichts und der literarischen Fiktion quasi identisch geworden sind. Das zeigt mit Vehemenz, dass es ein morphologisches und phänomenales Unterscheidungsmerkmal für das Literarische nicht gibt, dieses vielmehr immaterieller Natur ist. Nur so kann die Literatur ein Geheimnis archivieren, das sie zugleich auch nicht archiviert, wo das Archiv vielmehr an seine Grenzen stößt.60 Dieses archivierte wie nicht-archivierte Geheimnis ist folglich nicht kognitiv-semantischer Natur, sondern ein unsichtbarer Effekt der Iterabilität, die jegliche archivarische Codierung aufzulösen imstande ist – gerade infolge einer Gewalt, die sich in einem Wiederholungszwang gegen das Archiv selbst kehrt,61 die aus dem Exzess der archivarischen Gewalt (also der „Brutalität der Schöpfung“) resultiert bzw. mit ihm zusammenfällt.62 Das Geheimnis steht bzw. konstituiert sich in einer indexikalischen Relation mit dieser Wendung gegen sich selbst. Dass das Geheimnis nicht archivierbar ist, bedeutet die Chance für den Text, zum Zeugnis jenseits des Archivs zu werden. Diese Zeugniswerdung kann jedoch nur in der Interpretation erfolgen: nur durch die paradoxe Freiheit – als eines Mittels ohne Zweck, im Willen zum Verstehen als einer Gabe (keiner Eigenschaft oder Intention, eher ihrer Aus- oder gar Ent-setzung) – der Interpretation als Zeugenschaft.
60 „Doch vom Geheimnis selbst kann es, per definitionem, kein Archiv geben. Das Geheimnis ist die Asche selbst des Archivs, der Ort, an dem es nicht einmal mehr Sinn macht, ‚die Asche selbst‘ oder ‚direkt (in) die Asche‘ zu sagen. Es macht keinen Sinn, das Geheimnis dessen zu suchen, was irgendwer, a fortiori ein fiktiver Held, Hanold der Archäologe, hat wissen können. Dies ist es, was diese Literatur bestätigt. Dies ist also ein einzigartiges Zeugnis, die Literatur selbst, die ausgebüchste – oder emanzipierte – Erbin der Heiligen Schrift.“ Derrida: Dem Archiv verschrieben, 174–175. 61 Vgl. die Applikation des Todestriebs im Wiederholungszwang auf das Archiv: „Der/das Eine wird Gewalt/tut sich Gewalt an (L’Un se fait violence). Er/es verletzt und vergewaltigt sich, aber er/es gründet sich auch in Gewalt. (. . .) Als Wiederholung seiner selbst kann der/das Eine diese gründende Gewalt nur wiederholen und erinnern. (. . .) Schreibt man so die Wiederholung ins Herz des Zu-Künftigen ein, so muß allerdings im selben Zug der Todestrieb, die Gewalt des Vergessens, die zusätzliche Unterdrückung (sur-répression), das Anarchiv darin eingeführt werden, kurz, die Möglichkeit, genau das zu töten, das, welches auch sein Name sei, das Gesetz in seiner Überlieferung trägt: den Archonten des Archivs“ (ebd., 26, 142–143). 62 Vgl. Kulcsár-Szabó: „Die Politik der reinen Mittel“.
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1 Replik von Péter Szirák Csongor Lőrincz stellt in seinem Aufsatz das Beispiel der sekundären, supplementären Bezeugung in den Mittelpunkt, indem er die Verbesserte Ausgabe untersucht, das Werk Esterházys, das die verheimlichte Agentenvergangenheit des Vaters thematisiert. Dabei wird gezeigt, wie das Archiv des Amtes, die archivale Gewalt der kommunikativen und machttechnischen Codes wirkt, die den Bericht und dessen Interpretation lenkt, auf welche Weise die Referentialität der archivalen Sprache den literarischen Text „infiziert“. Das „Innere“ und das „Äußere“ des Textes treten in eine spezifische Berührung, die das Archiv des Amtes, die Verbesserte Ausgabe, die Harmonia caelestis, ja sogar frühe Werke Esterházys wie die Spionnovella [Spionnovelle], aber auch den Produktionsroman oder Donau abwärts um einen neuen Aspekt bereichert: Während stellenweise das Nichtwörtliche zum Wörtlichen wird, wendet sich an anderen Stellen die Referentialität ins Metaphorische, wobei sich die Sprache nicht selten verselbstständigt. Im Schnittpunkt von Archiv des Amtes und der Bezeugung, die auf der Scham für den Vater basiert, stellt Csongor Lőrincz den zweifachen Verrat der nicht eingestandenen Agentenvergangenheit (die Entscheidung für den Verrat und das Versäumen der Bezeugung des Verrats) und die erfindungsreiche Freiheits-Interpretation des hier angefügten Erzählerkommentars in den Mittelpunkt seiner Überlegungen („Meinem Vater können wir – wir, Menschen, die er verraten und die er nicht verraten hat – nicht verzeihen, da er sich vor uns zu seiner Tat nicht bekannt und sie nicht bereut hat [. . .] Das Leben meines Vaters ist ein unmittelbarer (und abstoßender) Beweis für die Freiheit des Menschen.“). Er bringt dieses Freisein in einen Zusammenhang mit der Fähigkeit zum Begehen und Verschweigen der immoralischen Tat, also mit einer Art Außermoralischem bzw. mit der Unfähigkeit zu verzeihen und der Bezeugung des Unverzeihlichen. Die Unentscheidbarkeit zwischen Anklage und Freispruch fasst er als das archivierte/unarchivierte Geheimnis der Verbesserten Ausgabe. Diese ansonsten wirkungsvolle Argumentationsführung ließe sich vielleicht dadurch ergänzen, dass die Unfähigkeit zu verzeihen in der Passage, die auch Lőrincz zitiert, (auch) im Diskurs der christlichen Ethik interpretiert wird, in dem Verzeihung nur demjenigen zusteht, der seine Sünde bezeugt, sie bereut und um Vergebung fleht. Gerade deshalb ist es vielleicht kein Irrtum daran zu denken, dass der Kommentar über die Halsstarrigkeit des Vaters ebenfalls auf einen – ironisch zitierten – theologischen Zusammenhang verweist, nämlich darauf, dass das „Freisein“ des Menschen, der seine Sünde im Geheimen akzeptiert und trägt, sein sündhaftes Geheimnis bewahrt, ein Beweis seiner Freiheit/Entfernung/Verlassenheit von Gott bzw. eine Art negativer Gottesbeweis ist. (Es ist ein Zeichen für die Hybridität der zitierten Passage,
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dass die Ausdrücke „mittelbarer“ und „unmittelbarer Beweis“ gleichermaßen zum juristisch-strafrechtlichen wie zum theologischen Diskurs gehören.)
2 Entgegnung von Csongor Lőrincz Péter Szirák macht völlig richtig und legitim auf den „theologischen Zusammenhang“ des Schlusses der Verbesserten Ausgabe aufmerksam. Diese semantische Prägung ist für die Interpretation des gesamten Textes von fundamentaler Bedeutung. Zumal damit auch die umgekehrte Richtung interessant wird: die „Infizierung“ der Bezeugung des referentiellen Sachverhaltes (des doppelten Verrats seitens des Vaters) durch einen hybriden Sprachgebrauch (nicht nur die Kontaminierung des literarischen Textes durch außerliterarische Diskurse). Eine solche Hybridisierung wäre vielleicht in der Tat eine wichtige Leistung des Buchs von Esterházy, wie auch sonst grundlegend charakteristisch für seine Sprachverwendungsweise. Die Beispielhaftigkeit des Vaters soll eine negative sein, aber dennoch von einer Exemplarität in anthropologischem Sinne63– der Text versucht also, dem Unverstehbaren dennoch einen Sinn abzugewinnen. Im theologischen Kontext steht die Freiheit des Menschen mit seiner Personalität in Verbindung: Für die Frage nach einer Wirklichkeit, die nicht ein vorhandenes Seiendes ist, wird . . . die Personalität Gottes in neuer Weise relevant: Person ist das Gegenteil eines vorhandenen Wesens. Menschen sind gerade dadurch Personen, daß sie in ihrer Wirklichkeit für uns nicht ganz und gar vorhanden sind, sondern durch Freiheit ausgezeichnet sind und dadurch im Ganzen ihres Daseins verborgen und unverfügbar bleiben.64
Diese Verborgenheit oder „Entzogenheit“ ist aber auch gegenüber sich selbst im menschlichen Subjekt da, wie Jüngel hervorhebt.65 Sich selber Entzogensein als Folge oder Strukturmoment des Freiseins (als Transzendierung der Wirklichkeit) –
63 Dieselbe Syntax kam bei Esterházy in einem völlig anderen Kontext bereits früher vor, in Bezug auf den meisterhaften, dichtungsgeschichtlich äußerst interessanten Dichter Sándor Weöres (1913–1989, in literarisch-poetologischer und intertextueller Hinsicht ein wichtiger Bezugspunkt, gar Vorgänger für Esterházy): „Sándor Weöres ist in singulärer Weise lebendiger Beweis, ein lebendiger Beweis auch jetzt, für die Erhabenheit des Menschen.“ Esterházy: „Más így“, 394. 64 Pannenberg: Gottesgedanke und menschliche Freiheit, 43, zitiert bei Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, 82. 65 „Als Wesen der Möglichkeit transzendiert der Mensch seine jeweilige Wirklichkeit, ist er sowohl anwesend als auch zugleich entzogen. Daß der Mensch darüber hinaus nicht nur dem anderen, sondern auch sich selber entzogen ist, unterscheidet ihn von dem – ihm hinsichtlich des Ineinanders von Anwesenheit und Abwesenheit analogen – Sein Gottes.“ Ebd., 82.
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hier als Widerstand gegen die „Möglichkeit“ des Bezeugens der eigenen Sünden, was paradoxerweise dennoch ein Akt des Freiseins ist, dadurch seine Verborgenheit potenziert, und zu einer unheimlichen Anwesenheit gesteigert wird. Im Sinne durchaus der Verlassenheit von Gott, wie Péter Szirák schreibt, welche Verlassenheit dieses Sich-selber-Entzogensein umso stärker vermuten lässt. – Wie nun könnte man sich dieser doppelten Entzogenheit gegenüber verhalten? Kann dieses Verhalten auf einem ökonomischen Muster der somit „bedingten“ Vergebung basieren, auf einem Tausch also?66 So, wie dies vom Text anscheinend bejaht wird? „Meinem Vater können wir – wir, Menschen, die er verraten und die er nicht verraten hat – nicht verzeihen, da er sich vor uns zu seiner Tat nicht bekannt und sie nicht bereut hat; er hat nicht bereut, daß er von der dunkleren Hälfte seiner Seele besiegt wurde.“67 Wie sähe die Möglichkeit einer nicht-ökonomischen Vergebung aus?68 Könnte sie von einem menschlichen Aktanten ausgeführt werden? So gesehen verfährt der Text wohl konsequent, wenn er das Problem am Ende gewissermaßen der göttlichen Instanz (s. „negativer Gottesbeweis“) anvertraut. Vielleicht suggeriert er damit, dass dem Vater bzw. das Unvergebbare nur Gott, zumindest eine nicht-menschliche Instanz, zu vergeben imstande wäre? Dadurch letztlich die Möglichkeit der Vergebung (der Gabe in diesem Sinne) offen haltend? Könnte dadurch das Vergeben der justizialen Logik entzogen werden, die durch die Wortwahl des Schlusses evoziert wird?
Literatur Arendt, Hannah. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper 2002. Bányai, János. „Derű vigasz nélkül“ [Heiterkeit ohne Trost]. Holmi 15 (2003). 255–259. Benjamin, Walter. „Franz Kafka“. Gesammelte Schriften II.2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977. 410–438. Benjamin, Walter. Gesammelte Schriften II.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977. Benn, Gottfried. „Roman des Phänotyp“. Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M.: Fischer, 2006. 149–192.
66 Vgl. Derrida: Vergeben. Laut Derrida kann die Vergebung nur das Unvergebbare vergeben, wenn sie nicht als eine vorausgesetzte, sogar programmierte Geste erscheinen möchte. 67 VA 364. 68 Vgl. diesbezüglich die grundsätzliche Bemerkung des Theologen: „Wo Gott nur als Fordernder verstanden wird, wird er nicht mehr als ursprünglich Gebender erwartet. Doch wo Gott nicht mehr als ursprünglich Gebender erwartet wird, sondern nur noch als Zurückgebender in Frage kommt, da wird er in seiner Gottheit in Frage gestellt.“ Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, 501–502.
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Dialog und Testamentarität in den letzten Werken
Gábor Tolcsvai Nagy
Im-Körper-Sein, Transsubstantiation und Offenbarung: Sprechmodus in MarkusVersion 1 Der Modus der Rede In der Entstehungsgeschichte der literarischen Hermeneutik zeichnet sich am ehesten die Rede, das Sprechen als bedeutsam ab, nicht allein die Sprache. Dabei geht es nicht um eine strukturelle Opposition, sondern um das Wirken der Sprache im lebendigen Wort, um nichts Anderes letztlich, als um die sprachliche Leistung des sprechenden Menschen. Das poetische Potenzial der Sprache und ihre Verwirklichung bilden in diesem dynamischen Verhältnis Medium und Prozess, das Geschehen der Autopoiesis des sprechenden Menschen. Und so wird auch deutlich, dass die Rede, das Sprechen nicht nur ein bloßes Zeigen auf die Sprache ist, oder ihr geradezu nur das Wort erteilt wird, sondern dass die Rede (das Sprechen) auf die eigene Situiertheit des Sprechenden, auf seine Situiertheit im Verstehen oder auf das transzendentale Erblicken und Sichtbar-Werden seiner selbst im Experiment des Verstehens deutet. In einem großen Teil der Werke Péter Esterházys ist es nicht die Perspektive des Betrachters (Erzählers) oder des Rezipienten, sondern des im Text zu Wort kommenden Sprechenden, von der her das einsichtig wird. Im Roman Die Markus-Version: Einfache Geschichte Komma hundert Seiten1 – wie in zahlreichen anderen Werken – konstruiert Péter Esterházy eine Autopoiesis, die im Prozess der Rede des Sprechenden selbst entsteht, die mit der Rede des Sprechenden selbst handelt. Diese Rede übersteigt in ihrer Komplexität noch die der zugrundeliegenden Konfiguration: Der Sprechende ist ein taubstummer Mensch, er spricht primär zu sich selbst, in sich selbst, im inneren Sprechen, im Monolog, sein Sprechen vollzieht sich in einer Rede, die im Esterházy-Werk einerseits dialogisch auf die Einlassungen, die Ereignisse der Umgebung antwortet,
1 Esterházy, Péter: Die Markus-Version; die Seitenzahlen im Fließtext folgen dieser Ausgabe. Übersetzung: Deutsch von Merten Both. Anmerkung: Die Arbeiten zu diesem Aufsatz wurden unterstützt durch das Projekt NKFIH K 129040 (Verbalkonstruktionen im Ungarischen. Forschungen zur gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik). The research and the paper were supported by the NKFIH K 129040 project (Verbal constructions in Hungarian. Research in usage-based construction grammar). https://doi.org/10.1515/9783110618082-020
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ohne aus sich herauszutreten, und andererseits dennoch von einem Dritten gelesen wird, dem formal nicht adressierten Leser. Die Rede in der ersten Person Singular ist deiktisch,2 der Sprechende weist durch sie, von einem äußeren Standpunkt her, auf sich. Zugleich stellt die Rede in der ersten Person Singular aber den Seinszustand des In-der-Welt-Seins3 unmittelbar und temporal als Geschehen her, sie ist sein symbolisches Kennzeichen. Die Rede der ersten Person Singular objektiviert (der Sprechende macht sich selbst zum Gegenstand) und subjektiviert (der Sprechende bezieht sich selbst unmittelbar, ohne eine äußere Instanz, die dieses Selbst objektivieren würde, in die Rede ein) gleichzeitig. Natürlich ist diese Rede immer auch auf einen Anderen hin ausgerichtet, ist jemandem zugewandt. Dieser Jemand ist kein passives Objekt, sondern ebenso ein handelnder Angesprochener, dessen Handeln auch in seiner bloßen Existenz, seiner bloßen Präsenz bestehen mag. Dem Anschein nach entspricht die Rede des Sprechenden in Markus-Version der Erzählung (der Erschaffung) der Geschichte bzw. der durch den Sprechenden als eine innere Geschichte für ihn selbst (und dadurch auch für das Heft, das in der Geschichte eine Rolle spielt) erschaffenen Geschichte, die äußere, wirkliche Ereignisse aufarbeitet. Ihrem Wesen nach gleicht diese Rede jedoch einem ununterbrochenen Gebet, an Gott gerichtet und in Gott das Verstehen suchend. Die Rede der ersten Person Singular in Markus-Version ist gleichzeitig kontinuierliche Affirmation der Existenz und Suche nach der Essenz4, deren sprachliche Artikulation, und im Verlauf dieser Rede zugleich deren immer neues Erkennen (durch die repetitiven, integrierenden Textteile der nummerierten Abschnitte) sowie deren immer neue Erschaffung. Der Sprechende ist in Markus-Version im überwiegenden Teil des Textes ein taubstummes Kind, im kleineren Teil Jesus Christus, wobei Teile des MarkusEvangeliums in die erste Person Singular transkribiert werden. Die Interpretation dieses Sprechenden bildet den formalen Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse von Markus-Version, ich werde später noch einmal darauf zurückkommen. Es besteht nämlich die Möglichkeit einer Deutung, wonach der Sprechende kein Kind wäre, und dieser menschliche Sprechende würde sich nicht wesentlich von dem sprechenden Jesus unterscheiden. Ich will im Folgenden versuchen, die Elemente der Rede des Kindes als Sprechenden vorzustellen, die formal gesehen im Verlauf eines verdeckten Gebetes von der Identifizierung des eigenen körperlichen Seins her auf das Geistige, das Moralische, das Göttliche hinweisen. Jene Elemente, die das unmittelbar Körperliche mit dem Transzendenten verbinden, die in der
2 Vgl. Langacker: Foundations; Tátrai: Bevezetés a pragmatikába; Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 3 Heidegger: Sein und Zeit, 52–62. 4 Heidegger: Die Grundprobleme, 140–170.
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Rede auf Gott als ein gegenwärtiges Wunder deuten, und die letztlich, jedoch nicht mehr in der Erzählung des Kindes, zum erlösenden Tod Jesu führen. In dieser Begegnung der Rede des taubstummen Kindes, die sich selbst erschafft, mit dem Wort Gottes, das die menschliche Gestalt formt, in der die Unterscheidung des Endlichen und des Unendlichen dennoch bewahrt wird, ist eine sich ereignende humane diskursive Perspektive der Begegnung mit der Sünde und der Hinwendung zur Liebe der Evangelien angelegt.
2 Die Rede als Gebet Am Anfang von Markus-Version benutzt der Sprechende als Kind eine eigene Varietät seiner Muttersprache.5 Die Muttersprachvarietät, das Vernakuläre ist die Sprachvarietät, die der Sprechende sich bis zum Erwachsenenalter als die komplexeste, die am meisten verfeinerte, auf jede Situation anwendbare Varietät aneignet, die er für sich selbst ausarbeitet und verwendet und die zugleich Verwirklichung und Zeichen seiner eigenen Identität ist. In dieser Sprachvarietät ist er am ehesten zu Hause, diese nutzt er in der spontanen Rede. Und auf dieser bauen, so sie sich von ihr unterscheiden, die Redeweisen auf, die zu Situationen, Themen und Zielen gehören, die vom Alltäglichen abweichen. In dieser Sprachvarietät sind die Dinge der Welt durch das kognitive Wirken der entsprechenden Sprechendengemeinschaft verankert, durch Tradierung erhalten sie sich. Und auch der Sprechende selbst ist verankert in dieser Sprachvarietät. Im Monolog von Markus-Version ist diese Grundlage des Modus maßgeblich: Das sprechende Kind geht systematisch von Interpretationen, Benennungen von Weltpartikeln aus, die in seiner Umgebung vorhanden sind, und gelangt dann zu deren eigenständiger intellektueller und emotionaler Aufarbeitung. Dies ist eines der primären Charakteristika der Rede: Die innere Aufarbeitung, die Reflexion setzt immer neu an, ihre wiederholten Fragen und provisorischen Antworten schreiten von der Existenz fort in Richtung Wesen. Die Sprechenden in Esterházys Werk nutzen in ihrer Rede eine Vielzahl von ungarischen Sprachvarietäten, die Übergänge sind dabei sogar spontan, immer erhalten bleibt jedoch die Muttersprachenvarietät. In Markus-Version spricht das Sprechender-Kind grundsätzlich eine Kleinkindsprache, seine Redeweise ist in der Hauptsache kindlich und an einigen Stellen zurückgeblieben (ein Eindruck, der durch die sehr kurzen Sätze und die plötzlichen inhaltsfernen Assoziationen erzeugt wird). An anderen Stellen im Monolog sind die sprachlichen Strukturen interpretativer, intellektualisiert und kohärent, die kindliche Pers5 Halliday: „The Users and Uses“.
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pektive wird gleichsam verlassen und weitere, eher allgemeine humane Horizonte werden einbezogen. Zu wem spricht das Kind? Es spricht zu sich selbst, virtuell zu seiner Umgebung, formal übertragen zu Gott, dabei betrachtet es unmittelbar das Wesentliche der Rede, deren Rahmen das einbegriffene Gebet bildet, zumeist wird Gott ohne Anrede adressiert. Gott ist bereits von Anfang an und immer anwesend. Über Gott spricht es in der dritten Person, in der zweiten Person spricht es ihn an. Dennoch, Gott ist in dem Gebets-Monolog keine Person, eine Sache jedoch auch nicht. Funktional betrachtet ist der Sprechendenmonolog in Markus-Version ein ununterbrochenes Gebet. Diese Rede bringt nicht die sakrale Sprache der Zeremonie zur Anwendung, noch nicht einmal jene der Theologie, sondern sie bringt ihre eigene, originelle Perspektive bzw. Konstruktionsmethoden ins Spiel. Das Gebet ist „das Sicheinlassen des Menschen auf die Transzendenz seines eigenen Wesens, damit das [. . .] Bejahen des totalen Angesprochenseins“.6 In MarkusVersion bedeutet das Gebet Hinwendung zu Gott, die Suche nach Gnade in der Suche nach dem Guten und der Suche nach der Liebe sowie im permanenten Versuch der Identifizierung des Bösen kommt im oben charakterisierten sprachlichen Medium scheinbar als Monolog daher, in Wirklichkeit handelt es sich aber um einen Dialog, der sich der Umgebung im Medium des Diesseitigen zuwendet, Gott aber über das Transzendente. So verortet die Rede die Fragen nach dem Unendlichen ganz betont im Endlichen, in der Perspektive des Endlichen. Die Rede des Kindes in Markus-Version wird von der Ahnung oder der Erkenntnis durchdrungen (in der Form einer Behauptung oder einer Frage), dass zum Wesen des Menschen die Möglichkeit gehöre, Gott zu erkennen, für die Offenbarung empfänglich zu sein,7 dass der allgemein barmherzige Wille Gottes sich immer auf den Menschen beziehe: „Das ist der Beginn. Beten konnte ich früher als sprechen. Doch insgeheim konnte ich beides“ (1. Seite). Dies ist die Geschichte selbst: Die Rede bzw. das innere Sprechen, der Monolog, der sich in seiner Unwissenheit (d. h. seiner Unschuld) der einzig möglichen äußeren Instanz, Gott, zuwendet. Aus diesem Grund erzählt Markus-Version keine Geschichte, das wäre eine nur oberflächliche Interpretation. Die Geschichte ist die Geschichte des Gebets, der Prozess der Hinwendung zu Gott. Diese ununterbrochene Gebetsrede, diese Gebetshandlung, um genau zu sein, hat eine Ereignisstruktur, der wiederum Momente zugehören, die auf sich selbst zurückverweisen. Einer der Faktoren, der die Gebetshandlung maßgeblich bestimmt, ist die Natur der inneren Rede, die Glaubhaftigkeit der Hinwendung zu Gott ohne hörbare
6 Rahner und Vorgrimler: Kleines theologisches Wörterbuch, 133. 7 Ebd.: 274–275.
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Rede, die im Monolog fragend geprüft wird. Schon in Mantel-und-Degen-Version heißt es: „Herr, warum braucht man Wörter um zu beten?“8 In Markus-Version offenbart sich dem Leser dann hinter dem Schein-Vordergrund des Diesseitigen, des Oberflächlichen der alltäglichen Rede die Hinwendung zu Gott, ja eigentlich die Erkenntnis und die Annahme des Angesprochenseins durch Gott: „Das Gebet ohne Worte ist das wahre Gebet. Das Wort zieht uns auf die Erde. Das Wort gehört dem Menschen. Meinem Bruder“ (39). Der Zugang zum Monolog des taubstummen Sprechenden wird hier über das Alltägliche hinaus erweitert, denn was der unmittelbaren menschlichen Umgebung verschlossen bleibt, das ist, gemäß der Seinsweise des Sprechenden, Gott zugänglich. Eng damit verbunden ist die ebenso ausgesprochene Erkenntnis, dass man der Gnade nicht teilhaftig wird, indem man nur auf sie wartet, sondern dadurch, dass man sich zu Gott hinwendet, dass man sein Angesprochensein durch ihn akzeptiert: „Wenn ich nicht bete, ist kein Gott“ (32). Der in der inneren Rede lebende kindliche Sprechende bringt sich im Gebet zum Sein, denn in seiner unmittelbaren physischen, biologischen und sozialen Umgebung versagt dieses Sich-zumSein-Bringen. Diese Situation wird jedoch nicht vom Scheitern der diesseitigen Kommunikation hervorgerufen, vielmehr ist dieses Scheitern Kennzeichen und Wirklichkeit dieser Situation, der nicht in menschlicher Rede antwortende Gott wird währenddessen über das Gebet erreichbar: „[I]ch glaube, doch ist es bei mir umgekehrt, ich bete, um zu glauben. Glaube ich. Damit jemand da ist, an den ich glauben kann. Damit Gott ist. Deshalb muss ich ständig beten“ (21). Die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten der beiden zitierten Textteile erlangen in anderen Abschnitten des Monologs Bedeutsamkeit. Die Gewissheit, dass die Erkenntnis der Gnade Gottes nicht von außen kommt, sondern mit dem permanenten Handeln des Sich-Ihm-Zuwendens, ist dort bestimmend: „Das Gebet ist das vielmalige Wecken des Gedächtnisses des Herzens. Man muss sich häufiger an Gott erinnern, als wir Luft holen. Barmherziger Gott, verlass mich nicht!“ (83). Alles ist Sache Gottes, so tritt der Fakt der Sünde, die Begegnung mit der Sünde, die Befreiung von ihr sowie die Fixierung derselben in die Rede des Kindes ein. Die Rede des Kindes, das in ihr einbegriffene permanente Gebet weist noch eine erwähnenswerte Besonderheit auf: Im physikalischen, akustischen Sinn des Wortes spricht der Sprechende nicht, er ist stumm, er ist taub – nichts als ein Geheimnis für seine Umgebung. Das stumme Kind bildet als endliches Geheimnis eine Parallele zu Gott, was die Rede des Kindes auch betont, ein wenig so, als wäre dieses Geheimnis auch für das Kind selbst ein Geheimnis. Hinzu kommt,
8 Esterházy: Die Mantel-und-Degen-Version, 59.
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dass der Sprechende ununterbrochen kommuniziert: Er spricht mit seinem inneren Sprechen, er beobachtet, er nimmt die Zeichen anderer wahr und interpretiert sie. Das nach außen hin Stumme, das Geheime des inneren Sprechens, geht eine Verbindung mit einem anderen Umstand ein: Auf die monologisierende, unmittelbare, tönende Rede erhält der Taubstumme, seiner eigenen Erzählung zufolge, keine Antwort von Gott: „Wie weiter? [. . .] Du pflegst zu antworten, indem du nicht antwortest. Du kannst schön schweigen, Herr. Wenn ich dich frage, schweigst du, und wenn es keine weiteren Fragen mehr gibt, wird das die wahre Antwort sein. “ (83). An dieser Stelle wird wieder die durch den Sprechende markierte Spannung deutlich: Die Großmutter spricht zum Kind über Gott, vernehmlich, lebendig, diesseitig menschlich, sie ist eine der wichtigsten diesseitigen Quellen für den Sprechenden, was Gott angeht: „Sie [die Großmutter] kann auf eine Weise von Gott erzählen, dass es unbegreiflich wird, dass er nicht sein soll“ (3). Als die Großmutter aufgrund ihres Schlaganfalls verstummt, „ist Gott fast aus dem Haus verschwunden“ (52), während das monologisierende Kind in seiner eigenen inneren (nach außen ihn stummen) Rede, im Gebet, andauernd zu Gott spricht und so sein eigenes Angesprochensein sucht und neu erkennt. Währenddessen bleibt die diesseitige Rede des kleinen Bruders in sich verschlossen, die Jesus-Geschichten der Großmutter bleiben Geschichten, die Wunder werden nicht wiederholt, von der Brotvermehrung bleiben nur die Krümel Brot. Aus dieser Perspektive bedeutet der innere Monolog, das in ihm einbegriffene Gebet die unmittelbare Rückkehr zum erfahrungsgemäßen Ursprung desselben, wobei der als Grundlage funktionierende Glaube als die Verwirklichung der sich dem Glauben entsprechend entfaltenden Rede handelnd erlebt wird. Dementsprechend muss sich [e]ine Hermeneutik der Offenbarung [. . .] vorrangig den ursprünglichsten Modalitäten der Sprache einer Glaubensgemeinschaft zuwenden, folglich den Ausdrücken, durch die die Mitglieder der Gemeinschaft in ursprünglichster Weise ihre Erfahrungen interpretieren, für sich selbst und für die anderen.9
Die so verstandene Offenbarung als Manifestation „siedelt sich nahe bei der Lebenserfahrung an [. . .] die fundamentaler [ist] als jede ontotheologische Artikulation“.10 In dieser hermeneutischen Perspektive Ricœurs rückt der Gläubige in den Mittelpunkt, „der Glaubende, der sich zu verstehen sucht, indem er die Texte seines Glaubens besser versteht“.11
9 Ricœur: „Hermeneutik der Idee der Offenbarung“, 57. 10 Ebd., 62. 11 Ebd., 43.
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3 Die Existenz des Sprechenden im Körper Charakteristisch für die Rede des Kindes ist die Unmittelbarkeit, d. h. dass die sprachlichen Ausdrücke sich oftmals ganz buchstäblich auf die Dinge beziehen. Primär fällt auf, dass es seine eigene Körperlichkeit und körperliche Versehrtheit ununterbrochen reflektiert, die Reflexionen, die Kennzeichnungen anderer registriert und sogar liebevoll annimmt. Vom Standpunkt des Sprechenden her ist sie ein Zustand, nicht tragisch, eher ein Wert. Als eine besondere Manifestation dessen treffen die diesseitig zu verstehende Stummheit, die körperliche Einschränkung und das, was das Sprechender-Kind dessen ungeachtet von Gott als Antwort in menschlichen Worten erwarten würde, aufeinander. Diese Situation betrachtet das Kind als selbstverständlich: „Zum Beten brauche ich keine Worte, deshalb kommt mir Großmutters taubstummer Gott gelegen. Ich verheimliche, dass ich sprechen kann, und zeige nicht, dass ich verstehe, was sie zu mir sagt.“ (5). In der innerlich sprechenden und innerlich hörenden Welt der Gehörlosigkeit wird ein diesseitiges Moment der Transsubstantiation verwirklicht: Das Kind spricht, d. h. es wird mit einer menschlichen Stimme vernehmbar. Das ist ein Wunder, das es selbst als natürlich hinnimmt (es quittiert den Umstand einfach, als wäre er auch für es selbst nicht erschütternd, sein Monolog ist ja auch ein ununterbrochenes Sprechen, aus ihm ergibt sich das Wesentliche seiner Autopoiesis), und auch seine Umgebung scheint das Wunder nicht wahrzunehmen. Die unmittelbare Materialität des Im-Körper-Seins ist in der Rede präsent, denn diese Rede ist zusammen mit dem Gebet, das sie einbegreift, im In-der-WeltSein der eigenen Körperlichkeit verankert. Ein Beispiel dafür ist das barfüßige Gehen bzw. die unmittelbare materielle Berührung, und zwar so, dass auch die eigenen Fußsohlen einen materiellen Charakter erhalten. Die Komplexität des symbolischen Bezugs nimmt neben dem bloßen Material auch die Berührung des lebendigen Körpers zum Ausgangspunkt, als zum Beispiel die Rede vom Zertreten der Küken ist. Der Stärkere, der den Schwächeren zerquetscht, das Moment des alles überschreibenden Instinkts wird übergangslos vom unmittelbar Körperlichen, Materiellen zu einem transzendenten Verweis auf die Sünde. Ganz ähnlich die mehrfache Erwähnung der Wahrnehmung des Lichts: das spärliche, abgedunkelte, fahle Licht des Zimmers, in dem die gesamte Familie in Verbannung (Aussiedlung) lebt, ist ein konkreter physischer Lichtsplitter, der unverzichtbar für die Sichtbarmachung der Dinge ist, auch wenn er nur schwach leuchtet. Zwei Passagen aus dem Buch sollten im Zusammenhang mit der unmittelbaren Begegnung des Materiellen und des Transzendenten, der übergangslosen ontischen Verbindung, zitiert werden. Die eine Passage nimmt eine Episode des Verhältnisses zwischen der als Kulakin qualifizierten, unfreiwilligen Gastgeberin
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und der Mutter des Sprechenden/Kindes, der ausgesiedelten Aristokratin zum Ausgangspunkt: Tante Róza, nicht Rózsa, Tante Róza, die auch meine Eltern Tante nennen, die Kulakin, fand es, als sie es bemerkte, sehr merkwürdig, dass meine Mutter nicht jeden Tag das Zimmer putzte. Der Staub ist ein großer Herr, sagte sie nur so in die Luft. Ich verheddere mich immer mit dem „der eine Gott“. Blieb, als er herabstieg, der Himmel leer? Verließ er alles für dreiunddreißig Jahre? War auch der Himmel von Staub bedeckt und waren in den Ecken Spinnenweben? So wie es im Himmelreich keine Zeit gibt, gibt es auch keinen Raum. Also auch keine Spinnen. Das ist gut, denn dann gäbe es das Durcheinander, wer der größere Herr ist, die Spinne oder Gott. Kreuzspinne, ich kichere. Kichern ja, sprechen nicht. Im Himmel gibt es nichts, nur Glück. Trauriger, glücklicher Gott, auch er. (17)
Eine unmittelbar erfahrbare Materialität beherrscht den oben zitierten Redeabschnitt, hebt man nur einen Aspekt des semantisch außergewöhnlich dichten Textteils hervor, und die Reinheit sowie die Sterblichkeit des Menschen schimmern nur als Übertragung hindurch: Aus Staub sind wir geworden, zum Staub kehren wir zurück. Die andere Passage stellt einen tragikomischen Augenblick zwischen dem Elternpaar der verbannten Familie dar: Der Vater verlangt von der Mutter Rechenschaft über die mitgebrachte Europa-Karte, denn in der Situation vollkommenen Verlusts und vollkommener Verbannung erschließt sich die Notwendigkeit einer Landkarte nicht, die bei den wenigen Dingen, die behalten werden konnten, zudem Platz wegnimmt: Warum zum Teufel, sagt er, warum zum Teufel hierher eine Europa-Karte? Er brüllt schon: Wozu Herrgott nochmal?! Fliegen, mein Herz, fliegen! Sie sagt es, als wäre sie verliebt. Die Berge sind braun. Auch in Ungarn gibt es Braun, nicht Dunkelbraun, aber doch Braun. Auch auf dem Berggipfel bin ich Gott nicht näher. Wenn er überall ist. Das aber glaube ich nicht, dass er auch im Klo ist. Man könnte viele solche Beispiele nennen. Denn wenn er in meinem Herzen ist, wieso sollte er nicht auch in meinen Eingeweiden sein? Doch so etwas sagen wir nicht.
Die episodische, anekdotische Erzählung der Situation der vollkommen ausgelieferten Familie bildet (mit der ironisierenden und selbstironisierenden Pointe der Mutter) den assoziativen Ausgangspunkt für das Zitat der geografischen Darstellung der Landkarte. Die auf der Landkarte angegebene Höhe wird übergangslos zu einer physikalische Höhe, und von dort zum Abstrakten, hochgelegenen Raum des Himmels. Die Assoziation ereignet sich im Subjektivierungsprozess des sprechenden Kindes: Die Höhe des Berges wird dem Kind vom Standpunkt seines eigenen, auf der Oberfläche der Erde befindlichen Körpers klar, und von dort aus geradewegs die Unmittelbarkeit des sichtbaren Himmels (der vom Gipfel aus „näher“ ist) und die absolute, unerreichbare und unmittelbar nicht erfahrbare Höhe des göttlichen Himmels. Diese Perspektiviertheit, das Konstruierte des räumlichen
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Bezugsrahmens12 werden augenscheinlich nicht reflektiert, tatsächlich wird in den kurzen aufeinanderfolgenden Sätzen, die wieder die eigene Körperlichkeit in den Fokus rücken, jedoch noch einmal die übergangslose Verbindung des Im-KörperSeins und des nicht körperlichen, transzendenten Erfahrens deutlich. Die unmittelbare Wahrnehmung, das Bewusstsein der Körperlichkeit, des Im-Körper-Seins und der Verortung des eigenen Körpers im Raum objektivieren in dieser Redeweise, als Paradox, auch Gott: Gott ist, im physischen Raum, überall und, sogleich die Gegenannahme, nicht überall. Am vielsagendsten ist die Rekursion des Metaphorischen auf das erfahrungsmäßig Körperliche: Die körperliche Bedeutung des seelischen, geistigen Sinns von er ist in meinem Herzen erhält ihr Profil im Nachhinein von der körperlichen Bedeutung des er ist in meinen Eingeweiden her, während der vereinfachte, gleichsam geistig zurückgebliebene oder kindliche Aspekt in einem Experiment, das die nicht sichtbare Gegenwart Gottes zu fixieren sucht, zugleich aus der diesseitigen Materialität heraustritt (oder -treten kann). In dieser Perspektive des Sprechenden wird die duale Natur Jesu im Text primär aus dem Diesseitigen, dem Menschlichen konstruiert. In den Erzählungen der Großmutter herrscht der göttliche Teil mit den Wundern, in den erzählten Handlungen wird aber der Ereignischarakter der Geschichte mit den Partizipanten und dem Ergebnis (z. B. bei der Brotvermehrung) hervorgehoben, ohne dass dies erklärt würde. Ganz ähnlich bei der Figur über dem Bett, dem Kreuz, bei dessen Beschreibung der Standpunkt des Sprechenden dem Anschein nach maßgeblich von dessen körperlicher Erscheinung beeinflusst wird, indem die materiellen Teile der Plastik visuell aufgearbeitet werden (bzw. die Erfahrung unmittelbar ausgesprochen wird, was der Sprechende sieht). Über beides spricht das Kind in der dritten Person Singular, wobei es Jesus in der Sachlichkeit der verankerten Redesituation in die Ferne rückt und zugleich die Passion abstrahierend, übertragen ahnen lässt oder in den Hintergrund stellt, das Wesentliche nur andeutet. Demgegenüber erzählt Jesus seine eigene Leidensgeschichte (bis zu einem gewissen Punkt), indem er die Texte des MarkusEvangeliums transkribiert, in der ersten Person Singular. Dadurch werden die unmittelbare Perspektive, die Konstruktion, die vom eigenen Körper ausgeht, die epistemische Unmittelbarkeit auch hier bestimmend und stellen so eine charakterliche Nähe zur kindlichen Rede her. Die rekonstruierte Jesus-Rede löst sich von der sakralen Sprache, obwohl das Archaisierende jener diese zum Teil bewahrt, und vermag sich, auf der unmittelbare Suche nach der Wahrheit, die sich im Präsens-basierten Haupttext ununterbrochen vollzieht, mit dem Sprechendenstandpunkt des Kindes zu verbinden.
12 Heine: Cognitive Foundations.
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4 Die Sünde In der Sünde ist die Sünde selbst das Unvermeidliche, das dem Sprechenden ununterbrochen vor Augen steht. Auf der Suche nach Liebe teilt er das Elend und das Scheitern seiner Umgebung mit, gleichzeitig erzählt er von seinen eigenen Neuanfängen, seinem Elend, seinem Scheitern, wobei dem Anschein nach der Redemodus zumeist von Gleichgültigkeit und Sachlichkeit bestimmt wird, tatsächlich vollziehen die reflexiven Anmerkungen eine Wertung und bringen den Monolog integrativ in Verbindung mit dem erlösenden Tod Jesu. In dieser Domäne zeichnet sich in der Rede des Kindes das Kreatürliche, das Endliche des Sprechenden selbst, ab. Das sprechende, betende Kind sucht die Freiheit im christlichen Sinn, doch erlangt es die Freiheit, die sich in der Liebe findet, nicht bzw. nur teil- oder fallweise. In den kritischen Augenblicken, den Grenzfällen13 scheitert es, beispielsweise als die Großmutter, die mit der Familie zusammenlebt, einen Schlaganfall erleidet und auch, als der kleine Bruder stirbt. In diesen Szenen ist wieder der unmittelbarste körperliche Aspekt, die instinktiv biologische Antwort entscheidend: bei der Wahrnehmung des tatsächlichen Todes im Fall des Bruders oder des vermeintlichen Todes im Fall der Großmutter ist der Sprechende nur zu körperlichen, vorangegangene Erfahrung ermangelnden Handlungen fähig. Das Beispiel für die Schlaganfall-Szene der Großmutter sieht folgendermaßen aus: Ich drehe sie um, ich bin erschrocken, habe aber keine Angst, ich sammle die Erdkrumen von ihrem Gesicht, kratze sie aus den Runzeln, aus den allerlei Falten. F-Großmutter. FaltenGroßmutter. Sie sieht tot aus. Ich sehe, dass sie tot ist, reglos, sie hat auch die Augen geschlossen. Ihre Mund ist zur Seite verzogen, als wollte er vom Gesicht klettern. Ich knie neben ihrem Kopf. Die Erde ist weich, es ist gut zu knien. Die eine Gesichtshälfte hängt herab. Ich könnte sie zurückstreichen. Besser nehme ich ihr Gesicht zwischen meine Hände und richte so die beiden Hälften zueinander aus. Es springt zurück. Ich wiederhole es. (48) Zum Leben tätscheln. Ich tätschele ihre Gesichtshälfte. Bitte lebendig werden. Ich bemerke gar nicht, dass ich laut spreche. Dass ich spreche. Dann mit beiden Händen. Ich muss erkennen, dass ich meine Großmutter immer stärker ohrfeige. Komm schon, schreie ich mehrmals. Meine Hände sind müde. Ich keuche, höre mein Keuchen. Wir sind allein. Irgendwie verschwindet das Alter aus dem Gesicht. Meine Hände ruhen dort. Dann rutschen sie müde herab, ich spüre den Knochen. Kinnlade, so habe ich es von meinem Vater gehört. Ich ergreife ihren Hals. Meine Hände sind klein. Wie eine Blume oder Efeu, so wachsen meine Finger, umranken den Hals meiner Großmutter. Ich drücke, lasse locker. Drücke, locker. Meine Daumen auf ihrer Kehle. Ich drücke sie. Lasse locker, drücke. Immer stärker. Mir ist warm, mein Gesicht brennt. Mein Herz klopft. Haben sich ihre Lider
13 Jaspers: Einführung.
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bewegt? Als wollte sie irgendwoher herauskommen. Wo es jedoch gut für sie ist. Ich drücke stark, ein Knacken. Als wäre der Himmel aus Eis, und er ist es. Ich schließe die Augen, ich will nichts sehen, nur mit meinen Händen. (49)
Der Erzähler berichtet von seiner eigenen Ohnmacht, in der der Wille, zum Leben zu erwecken, stufenweise in eine Bewegung des Tötens umschlägt, wobei aber unklar bleibt, ob er eine Einbildung oder eine tatsächlich vollzogene Handlung beschreibt, da die Großmutter am Leben bleibt. Hier, in der Dualität der epistemischen Unmittelbarkeit und der Unerklärlichkeit der Grenzsituation, wird das ursprüngliche und unvermeidliche Wesen der Sünde offenbart. Die komplexe Undurchsichtigkeit, die nicht transzendierbare Widersprüchlichkeit der hier zitierten Episode, die vom Standpunkt des Sprechenden/Kindes her konstruiert werden, scheinen durch den wesenhaft gegensätzlichen Wandel hindurch, der gleichzeitig diesseitig, materiell und körperlich bzw. transzendent ist: Die über Gott redende Großmutter verstummt aufgrund des Schlaganfalls, das stumme Kind, das die Großmutter während des Anfalls auffindet und sie gleichsam tötend zum Leben erwecken will, hebt dagegen zu sprechen an. Das human handelnde Sich-Hinwenden zur Sünde und zur Liebe erhält in Szenen wie dieser in Markus-Version echte Intensität. Die einfacheren und offeneren Situationen wirken in der Rede eher als Kurzschluss dessen: Der Sprechende/ das Kind erwähnt die kindliche Tötungsabsicht und die zu verheimlichende Ausführung dieser im Zusammenhang mit den zu Tode getrampelten und ins Klo geworfenen Küken und Entlein. Die Erbsünde bzw. das Gegenteil der Liebe ist die Versuchung selbst: [. . .] lass uns heute böse sein. Und dann sind wir böse. Es ist nicht einfach, aber es hilft, sich eifrig zu bemühen. Oder lass uns gut sein. Und dann sind wir gut. Es ist leichter, gut zu sein als böse. Das Böse ist ein wenig interessanter, aber nicht viel. Auch das Gute ist interessant, weil es doch nicht so leicht ist. Es ist interessant, weil es kompliziert ist. Komplizierter als das Böse. Ich weiß auch nicht. (26)
Das stumme Töten, die heimliche Vollendung der Sünde bedeuten gleichzeitig die Hoffnung, sich von der Sünde zu befreien und sie anzunehmen, denn der Erzähler weiß, dass die Sünde vor den Augen Gottes geschieht. Das Dilemma des „seien wir böse, seien wir gut“ ist erneut eine epistemisch unmittelbare Offenbarung der Begegnung mit der Freiheit, deren Tiefe der kontinuierliche Gebetstext systematisch ahnen lässt: Sünde [. . .] ist die freie existentiell radikale Entscheidung gegen den in der Offenbarung der Natur u. Gnade u. in der Wortoffenbarung geoffenbarten Willen Gottes [. . .] In ihr versagt sich das Geschöpf [. . .] dem Willen Gottes zu seiner Selbstmitteilung an die Kreatur in
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seiner Gnade u. widerspricht so auch seinem eigenen Wesen u. dem Sinn seiner Freiheit, Liebe zum höchsten verwirklichten Wert, zum persönlichen Gott, zu sein.14
5 Die Transsubstantiation Im Text von Markus-Version wandelt sich die eigene Rede des Kindes stufenweise um in die Rede des Evangeliums: Jesus erzählt seine Leidensgeschichte in der ersten Person Singular. Der Übergang vollzieht sich stufenweise so, dass zuerst kurze Teile in die eigene Rede eingefügt werden, hier jedoch diskursanalytisch gesehen auch schon übergangslos, später werden die Jesus-Redeanteile immer länger, und schließlich sind nur noch sie übrig. Der Wandel vollzieht sich dem Anschein nach unerwartet, abrupt, sein Zweck bleibt verborgen. Mit Fortschreiten des Textes wird sein Sinn aber kenntlich. An diesem entscheidenden Punkt öffnet sich die Interpretierbarkeit von Markus-Version in mehrere Richtungen. Einerseits entfaltet sich das analoge Verhältnis zwischen der in einem endlichen, vergänglichen Körper lebenden, zerbrechlichen Person und dem Mensch gewordenen Sohn Gottes: Seiner menschlichen Natur entsprechend stirbt der Sohn Gottes, der nach dem Bild des sprechenden Gottes geschaffen wurde und sich Gott im experimentellen Erleben seiner Kreatürlichkeit annähert, am Kreuz. Andererseits identifizieren sich (vermögen sich zu identifizieren) die Sprechenden, das Kind und Jesus in dem von der ersten Person Singular konstituierten Redefluss: Der zerbrechliche, endliche Mensch vermag sich dem Wesen Jesu anzuverwandeln (sich ihm zu nähern), der die Liebe und die Reinheit unter den Bedingungen des Diesseits verwirklicht, der Mensch gewordene Gott nimmt aber das menschliche Schicksal auf sich. Die völlige Identifikation wird jedoch von der intertextuellen Archaisierung des Evangeliumstextes verhindert, die ihn in die Ferne rückt, zugleich aber universalisiert, ihn zeitlos macht, ihn also dem Redetext zueignet. Das aus der endlichen menschlichen Perspektive (oder von der Rede des Kindes her) verstehbare wesentliche Moment der konvergierenden Parallele wird am Ende des Werktextes zugänglich, im letzten Satz, den schon nicht mehr der bis dahin formal als einziger sprechende Jesus verlauten lässt. Identifikation und Isolation sind auf mehreren Ebenen Elemente der Rede des Kindes. Das Verhältnis zu seinem kleinen Bruder wird von dieser kontinuierlichen Identifikation und Isolation bestimmt. Das Experiment und das Scheitern auf dem Wasser zu gehen, das Ausbleiben der Auferstehung (die Endgültigkeit des Todes des Bruders) bedeuten eine Annäherung durch Erleben an die von der
14 Rahner und Vorgrimler: Kleines theologisches Wörterbuch, 395.
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Großmutter erzählten Jesus-Geschichten, eine auf das transzendente Sein gerichtete Handlung, eine von der Existenz ausgehende Annäherung an die Essenz. Das Scheitern liegt nicht im Schweigen Gottes, sondern in der Manifestation der Unterschiedlichkeit von Mensch und Gott, der Separation des Endlichen vom Unendlichen und zugleich deren Entsprechung vom Standpunkt menschlichen Handelns her. Die kindliche Rede ist im Verhältnis zum Jesus-Text nicht auf die Abbildung der Gnade, der Erlösung hin ausgerichtet, sondern auf die Abbildung der Sünde, indem sie die wesentlichen Elemente der menschlichen Natur in den Vordergrund stellt. Jesus erscheint im Buch, in der ersten Person Singular, in den Passionspassagen und spricht über die menschliche Seite der unio hypostatica. Mit seinem Kreuzestod gelangt die „Einfache Geschichte“ auf mehreren Ebenen an ihr Ende: Der Abstieg in die Hölle und die Auferstehung bilden keinen Teil des im Übrigen abgebrochenen Monologs mehr, in der Selbsterzählung der Passion sind die letzten Worte die des römischen Soldaten, die jedoch die Göttlichkeit Jesu behaupten. Auf den ersten Blick enthält das Buch keine erzählte Eschatologie, bzw. gibt es sie nur teilweise, oder sie hebt sich auf. Tatsächlich vereinen sich der kindliche Erzähler und Jesus als Erzähler seiner eigenen Passion, und zwar nicht nur formal (in der ersten Person Singular des Erzählers), sondern in ihrer gemeinsamen Erlösung und Erlöstheit.
6 Die kerygmatische Rede Die kindliche Rede des Kindes, das sich in seiner eigenen Rede als Gebet selbst erschafft, wandelt sich stufenweise um in eine Verlautbarung des Wortes Gottes, sie geht vom Endlichen aus dem Unendlichen entgegen, auch wenn sie dies mit der Perspektive der ersten Person Singular aus einem ziemlich weltlichen Blickwinkel tut. Das, was aus dem Blickwinkel des Kindes bzw. des ontisch determinierten endlichen, diesseitigen Blickwinkels in den zusammenströmenden Redeflüssen der beiden Erzähler entsteht, reicht, wenn auch eingeschränkt, an die wirklich göttliche Verlautbarung des transzendent verstehbaren Wortes Gottes heran. Ein Hören des Wortes Gottes als eines göttlichen (und nicht nur durch Gott irgendwie transeunt gewirkten) ist nur möglich, wenn der zum echt menschlichen Vollzug dieses Hörens notwendige apriorische Verstehenshorizont selbst „göttlich“, d. h. von dem, was wir „Gnade“ nennen, aufgehellt ist. Und umgekehrt ist Mitteilung der Gnade selbst schon immer von sich her die Grundweise der Offenbarung selbst, weil Gnade als Selbstmitteilung
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Gottes als des absoluten Geistes an Geist und Freiheit des Menschen nie eine bloß dinghafte, absolut vorbewußte Anwesenheit im Menschen haben kann.15
Nun ist dieser dialogisierende diskursive Prozess aber weder seiner selbst sicher noch eindeutig. Er wird von Zweifel, sicherem Glauben, Aussagen und Fragen, Reden und Schweigen charakterisiert. Die scheinbare Beschränktheit des kindlichen Blickwinkels, der kindlichen Weltkenntnis bildet tatsächlich die transzendente Abhängigkeit des Subjektiven der zeitlos menschlichen Person und die Partialität der Erkennbarkeit dieser Abhängigkeit ab. „Ich blieb allein mit der Geschichte“ (92), sagt der Erzähler, „Es gibt nichts außer der Geschichte“ (94). Diese Geschichte ist die Geschichte des Gebets, die mit der Verkörperung des Wortes Gottes in der Gestalt eines Menschen und der menschlichen Verlautbarung desselben zusammenfällt, und die am Ende wieder mit dem Göttlichen verknüpft wird. Dennoch bleibt der gesamte Text bis zum vorletzten Satz offen, der schon nicht mehr Jesus zugehörig ist, sondern eher dem Kind: „eine Stimme eines Predigers in der Wüste“ (101). „Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss“, ist da zu lesen, ein universeller Standpunkt bereits, denn die Rede bzw. das Gebet ist nicht zu Ende.16 Aus dem Prozess, der auf diese Weise ausläuft, der aber nicht abgeschlossen wird, erhebt sich die mehrfach gestellte Frage: „Wie geht es weiter?“ (45, 67, 98, 99). Der Erwartbarkeit der Eschatologie, die suspendiert wird, die transzendente Transsubstantiation und das Angesprochensein durch Gott, die aufgeschoben und zugleich gesucht werden, bestimmen auch die früheren Esterházy-Werke. Der unterbrochene kanonische rituelle Text im ersten und letzten Abschnitt von Die Hilfsverben des Herzens („Im Namen des Vaters und des Sohnes – “) gibt dieser Suche, dem Experiment der Überwindung des Endlichen, der Erhörung des Wortes Gottes, einen Rahmen. In Markus-Version hat die Passion keine Kontinuität, die Sätze am Schluss des Textes geben keinen Aufschluss darüber, ob die Erlösung erfolgt (ist), diesbezüglich gibt es keine Klarheit. Zugleich wird der Übertritt in Die Hilfsverben des Herzens vollzogen: Nach der schwarzen Seite spricht die Mutter aus dem Tod zu dem Jungen (als Umkehrung der Passion). In Harmonia caelestis verliert die Endlichkeit des Menschen jedoch wieder ihren Zugang: In den parallelen Geschichten der Sätze 105 und 106 weist Jesus Christus bzw. der Vater den Anderen in dessen Armut, dessen Bettler-Dasein, dessen Obdachlosigkeit zurück, die Konsequenz fällt jedoch (auch textgemäß), in beiden Versionen gleich aus: „Mein Vater ging von Haltestelle zu Haltestelle und fand [. . .] keine Ruhe“ (129–130).
15 Rahner: Hörer des Wortes, 37–38. 16 Vgl. dazu Pannenberg: Theologie und Philosophie.
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Es gibt noch weitere Faktoren, die den Modus bestimmen und die zum Vorschein kommen, wenn man Markus-Version zu Ende liest. Der Sprechende als Kind benutzt eine rationalistische Sprache, wenn es über den Glauben spricht. Eine deklarative (feststellende und verneinende) Sprachvarietät, mit der es sich der objektivierenden konstruktiven Grundstruktur der logischen Propositionen annähert. In dieser Rede herrschen die Geistesgründe, während die Symbole im Hintergrund bleiben; die Symbole der Nicht-Erzählbarkeit, ihre symbolischen (metaphorischen und allegorischen) Ausdrücke spielen keine Rolle. Die Jesus-Geschichten der Großmutter werden gleichsam buchstäblich, mit dem materiellen Charakter der Plastik, des Bildes in den Fokus genommen. Die Verbindung zwischen dem Diesseitigen und dem Transzendenten zeigt sich in den allgemeinen, wesenhaft logischen sprachlichen Äußerungen der Vernunft, oder genauer: Das Sprechende als Kind sucht diese Verbindung auf diese Weise, und so lässt es diese Verbindung auch den Leser in der Rezeption der Rede suchen. Die allgemeine Rationalität bildet den Rahmen sprachlicher und menschlicher Erkenntnis, die im Tun des christlichen Glaubenslebens und der christlichen Theologie, vor allem in der Neuzeit (tatsächlich aber bereits im Mittelalter), eine bedeutende Rolle erhalten hat.17 Bestimmend sind hier die theoretische und die praktische Urteilsfähigkeit des Verstandes und die verantwortliche und freie Entscheidung, die Beziehung zur Heilsgeschichte ist vermittelt: „Dans l’immédiat toutefois, ce qui est souligné, mis en relief et effectivement construit, c’est la consistance et la cohérence humaines des objets, des valeurs et des choix.“18 In dieser Interpretation, die sich mit Bestimmtheit aus dem Blickwinkel des Sprechenden/Kindes heraus entfaltet, bedeutet die Sünde, bedeutet das Böse die Spannung zwischen dem ersehnten Universum und der einfachen Wirklichkeit. In Markus-Version bedeutet das Böse gleichzeitig das Spannungsverhältnis zwischen der persönlichen Verantwortung und dem Leiden, dessen Quelle ebenso das Schicksal wie die Freiheit19 ist („seien wir böse [. . .] Oder seien wir gut“). Auf diese Weise verwandelt sich das Böse in Markus-Version in einen unumgänglichen Faktor, der erst durch die Vereinigung in Jesus aufgelöst wird. Diese Vereinigung wird mittels einer argumentativen Sprachlichkeit erzählt und durch die Rede Jesu Christi in der ersten Person Singular scheinbar auf paradoxe Weise objektiviert, und zwar gerade dadurch, dass die Erzählung der Passion unterbrochen wird und Jesus (oder der im Namen Jesu Sprechende) sie
17 Vgl. dazu ebd., 106–128; 361–367. 18 Lafont: Histoire théologique, 144. 19 Ebd., 423–424.
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nur solange erzählt, wie sie aus einer rationalistisch-humanen Perspektive erzählbar ist. Die Rede des Kindes als Gebet vollzieht aufgrund des rationalistischen Charakters der Glaubensrede nicht die Urtypen der Redeakte des Gebets (z. B. das Bitten, die Buße, das Danken20) nach. Das Gebet nimmt hier diesseitige, verstandesgemäße dialogische Formen an. Das sprechende Kind unterhält sich in seinem eigenen inneren Sprechen auf alltägliche Weise (z. B. über das FrageAntwort-Paar) mit den Personen seiner Umgebung wie auch mit Gott. Die Heilssuche, die Erkenntnis und die Annahme der Absolution drücken sich nicht in der symbolischen (metaphorischen, allegorischen) analogen Demonstration der Erschütterung des endlichen Menschen aus, sondern in den rationalen Äußerungen und Fragen des nach Autonomie strebenden und forschenden menschlichen Geistes. Gleichzeitig beziehen sich diese Äußerungen und Fragen auf die „letzten“ Situationen: Geburt, Tod, Schuld und Liebe. Sie leugnen das Angesprochensein durch die Gnade also nicht. Der Text von Markus-Version offenbart letztendlich in seiner Qualität der Erzählung als Rede ein doppeltes Wesen: Diesseitig und transzendent, eine Rede, die zugleich Storys zum Besten gibt und den Selbstoffenbarungen Jesu Gehör schenkt. Die Erzählung ist ein Zeugnis im folgenden komplexen Sinn: Cette dernière porte sur la foi qui va être accordée au témoin qui raconte et donc au récit qu’il fait, mais plus précisément au futur qui se dessine à partir du récit qui été fait. [. . .] Lorsque le récit, comme c’est le cas dans le christianisme, porte sur un événement de mort et de résurrection, qui évoque par conséquent une situation-limite du temps, il appelle une communion de type spécifique: il ne s’agit pas seulement en effet, pour l’auditeur, de recevoir l’évocation d’un événement intratemporel en vue de partager quelque chose seulement dans le temps; il s’agit d’accueillir l’annonce d’un mystère de mort et de résurrection et ceci ne se peut faire que dans la mesure où on accepte de rentrer dans la réalité de naissance et de mort que le récit rend présent. C’est pourquoi un tel récit ne peut se développer, à cause même de ce qu’il raconte, que dans un cadre de rituel et d’inspiration. [. . .] En lui, l’idée de récit atteint sa limite pleine, car il n’y a pas de réelle distance, pourrait-on dire, entre „les mots et les choses“. Ce qui est évoqué est rendu présent dans la puissance des mots et des symboles.21
Esterházy konstruiert in Markus-Version alles, was in einer rationalistischen Sprache sagbar ist, was im Modus der von Geistesgründen gesteuerten weltabbildenden und weltkonstruierenden Erzählung bzw. des Gesprächs, in der Dualität von modernisierender Autopoiesis des Subjekts und Angesprochensein in
20 Sándor Radnóti macht auf die nicht-konventionellen Charakteristika des Gebets in MarkusVersion in seiner Kritik „A süketnéma Isten“ aufmerksam. 21 Lafont: Histoire théologique, 447–449.
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der Offenbarung möglich ist. Was in diesem Rede-Modus keinen Platz hat, „darüber muss man schweigen“. Die letzte Antwort auf die Frage „Und was nun?“ ist die Vereinigung in Jesus, in Gott, die nicht mehr erzählt, aber vollzogen wird.
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Robert Smid
On the Concept of Writing “Versions” of a “Simple Story” in the Late Prose of Péter Esterházy “It passes, but it does not pass away”
In the final paragraphs of Péter Esterházy’s critically acclaimed novella, entitled Helping Verbs of the Heart1 (1985 [Hun.] / 1990 [Eng.]), the narrator assures the reader of a more accurate account of his mother’s life in forthcoming books. Esterházy had kept the narrator’s promise, and published Not Art: A Novel (2008 [Hun.] / 2010 [Eng.]) as a gesture of bidding a final farewell to his mother – after having finished Celestial Harmonies (2000 [Hun.] / 2004 [Eng.]), the magnum opus of the oeuvre which in turn focused on the life story and genealogy of his father. The aforementioned three titles can be associated with a genre that is specific to the Central-European literary tradition and which made its appearance in Hungary after the so-called “Prosaic Turn” of the 1970s and ‘80s. The Prosaic Turn signifies a change in the epochality of Hungarian fiction and was introduced by writers such as Péter Nádas, László Krasznahorkai, Ádám Bodor and Esterházy himself. The genre in question exemplified by the three works mentioned above is that of the father/mother-novel which chronicles the life of a real father/mother while rewriting the poetics of a literary father figure. For Esterházy this father figure was Géza Ottlik (1912–1990) whose style and storytelling techniques are highly prevalent in the first phase of Esterházy’s career. Towards the end of his literary contribution, however, he shifted to the transformation of rules established by him and his contemporaries. As an example, in his Simple Story Comma One Hundred Pages – the Duel Version (2013) he synthesizes his father-narrative from Celestial Harmonies with the story of the mother from Helping Verbs of the Heart and Not Art. By means of this collision of different narratives, he deconstructs the generic foundation that provided the ground for the offset of his career.
1 The English translation of the title partly misses the point with deciding between the two meanings of the Hungarian word “segédige.” It is true that the verbs help the mediation of the narrator’s grief and even resolve it to a certain extent. But the other meaning is lost in translation: the verbs are not just helping verbs, but also auxiliary verbs that modify the modality, structure, syntax, etc. of narrative confessions and although they are not verbs per se, they are indispensable in expressing grief. https://doi.org/10.1515/9783110618082-021
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In my paper, I examine the pre-texts and contexts of the concept of writing “versions” of a “simple story” and scrutinize the interdependence between the narrative’s temporality and the construction of its historical settings by means of discursive and non-discursive elements. Furthermore, I shed light on the importance of focalization in Simple Story Comma One Hundred Pages – the Duel Version and explain the functions of different (narrative) transformations evolving from the mechanics of permutation and iteration that serve as means of accessing the emotions of the narrator’s father at the final decade of his life.
1 The concept of “simple story” was established at a later stage in the oeuvre of Esterházy. Although it highly determines the writer’s literary style in this period, it does not replace the unique complexity of his narrative technique. Esterházy’s complex way of storytelling lies on the heavy historical inclinations in the intertexture of different eras (e.g., merging the atmosphere of the Habsburg Monarchy and the Communist dictatorship), the contamination of lingos, registers, and idiosyncratic settings or elements of the plot, the depiction of the narrator’s family as typical to and indicative of a particular historical era in order to represent the events that have shaped that specific period, the construction of narrative from anecdotes, pieces of wisdom, and phrases which accumulated in the family’s legendarium, etc. In this regard, Esterházy’s father/mother-novels can always be interpreted as archives of family stories. Moreover, their narratives demonstrate how these stories can be told and retold with the passing of time, in different versions, through different perspectives. In Simple Story Comma One Hundred Pages – the Duel Version, the narrator attempts to tell a story with the above-mentioned elements in order to find the reason for his late father’s joy in the last two decades of his life: “I don’t think that he was ever happy before – or that he made the woman he lived with, my mother, happy for that matter.”2 The prospective success of such a project is fueled by the belief that a sentence can alter or even create its own reality: “As for me, of course, I think that the reverse is also true: sentences make reality. And I can hear the chorus of unbelievers right away, but just think of the heart for a second. In this story, unless it slips my mind, there will be someone who anxiously and unhappily says ‘I am falling in love with you again,’ and then,
2 Since there is no official English edition of the novel, all the translations in this essay are mine – R. S.
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just like that, he does fall in love.” The visually self-evident manifestation of this potential of sentences first catches the reader’s eyes when s/he realizes that the numbers on the sheets of the book and those on the ‘pages’ of the story do not match. This technique even allows for the ‘final page’ to appear in the middle part of the book as well as different versions of the same page (e.g., the reduplication of ‘page ninety-four’ or ‘the penultimate page’) occupying separate sheets. Hence, while the “First Book” of Celestial Harmonies composed of ‘Numbered Sentences from the Lives of the Esterházy Family,’ in Simple Story ‘pages’ become the elementary building blocks of storytelling. On these ’pages’, the convergence of intra- and extratextual elements is a pure coincidence. As a result, contingencies, whether they concern proper names or appear in the reenactments of actual events in Hungarian history, play a major role in the narrative’s goal to describe something that is beyond the text’s inherent dynamics (e.g., grasping the joy that the father felt in his later years). Now, in order to understand the dynamics of contingencies in the novel, let’s take a closer look at one of the main characters, Baron Pál Nyáry. Nyáry gained victory against the Ottoman armies on Hungarian soil as the captain of several fortresses in the sixteenth century. After his military successes, he became the Lord High Constable of the then independent Principality of Transylvania, nevertheless his son was educated in Vienna and became loyal to the Habsburgs, a royal family which would later become rulers of the Kingdom of Hungary. This divergence between the elder and the younger Nyáry evokes a certain canonical piece of Hungarian literature, a nineteenth-century historical novel entitled The Heartless Man’s Sons (1869) by Mór Jókai (1825–1904) which deals with the controversial legacy of the father and the alienation of his sons in the nineteenth century. Although Esterházy’s novel preserves the actual lifeevents of characters, it uses these facts to allude to a great classic that is wellknown to Hungarian readers. In Simple Story, Esterházy creates an intertexture between important historical events by means of applying an element of the plot from The Heartless Man’s Sons as a subtext to depict the preceding historical period of the Ottoman wars. This latent intertextuality demonstrates the development of narrative structure by combining different historical periods.
2 The motto of my essay is a quotation from László Krasznahorkai’s book The Melancholy of Resistance. The variations of the sentence “It passes, but it does not pass away” appear numerous times in Esterházy’s Simple Story, which
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illuminates the novel’s storytelling mechanisms as far as temporality is concerned. A defining and memorable moment in Hungarian history is the defense of the fortress of Eger against the Ottomans in the fifteenth century. Nonetheless there was a second Ottoman siege against the fortress in the sixteenth century which resulted in the capitulation of the defenders commanded by Pál Nyáry. These two sieges are both evoked in the novel but in significantly different ways. When describing the first battle, the narrator concentrates on the possible sexual exploitation of the heroic women of Eger and the penalty imposed on the captain for the missing wine in the cellars instead of receiving a celebration for his victory. Simply put, by retelling historical facts and hearsays, the narrator reverses an otherwise glorious moment in Hungarian cultural memory. Considering the second siege, the novel refuses to give a detailed discussion of Nyáry’s defeat, which surely was a defining moment in his character. The narrator’s excuse for this omission is that “[Nyáry] had already got old before the writing of this story began,” so he could not participate in the passing of time which is the main theme of Simple Story. But when Nyáry meets the Prince of Transylvania Emeric Thököly, the fictional temporal dimension and the factual historicity seem to synch up: when the prince asks Nyáry if he is younger than him, the narrator makes a note that “[b]ased both on the supposition of the novel and the facts of the world, there are at least 20 years between them – so Thököly’s rude question hurts Nyáry.” In reality, however, the encounter of the two men would have been impossible, since they did not live in the same century. With passages like the one above, describing the encounter of Nyáry and Thököly, not only does the novel create tension between the contemporary time of the reader, who has the possibility to look up the actual facts, and the time of the historical setting, but also enacts the tension that is maintained between the temporal status of the fictional scene of writing and the time of the narrative. The latter can be regarded as concentric with the pillaging of the hometown of Zsigmond Kara at its core. Twenty years after that event (which coincides with and thus replicates the age-gap between Thököly and Nyáry) is the actual present tense of the narrative, which is filled with recollections of several characters recounting the events of the past and filling the twenty-year gap simultaneously with the reports of Prince Croy’s spy from different military encampments. These branches of narrative together establish fixed points of temporal indexes within the story. Despite the factual retelling of certain historical events, the narrative never ceases to remind of and redirect the reader to the essential aim of the text which is not the incorporation of extra-textual temporal figures (e.g., historical, chronological, etc.) but the manipulation of time to the extent that it resuscitates a part of the father: “I have read in a book on a famous family of Swiss watchmakers the following
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failed slogan: ‘Onto a cross yes, on the hand of seconds no.’ This was meant to clarify that time belongs to man, not to God even if he created everything.”3 The divergence between the time of story and that of storytelling becomes evident from the narrator’s comment on the difficulties of following and merging storylines while “time does not cease to pass everywhere: in the novel, in the room, down the streets, up on castle walls.” Nevertheless these temporal departures are eventually mended in a wide number of ways. One way is the use of aphorisms: “time passes with, in, and within hawks too, and in comparisons.” Furthermore, different timelines can be merged through focalization, a topic which I will return to in the third part of my essay, for instance when the narrator prays for enough strength to finish the novel with borrowing the words of Nyáry who is at a crossroads in his life after his defeat: “I have worked in and on this world knowing that it was all for your glory, My Lord. I wasn’t looking for you, but I’ve built your world eventually. You know that it’s true. // Where to next? This is my question and this is what I’m waiting an answer for, from you.” As a matter of fact, prayers play an important role in the constitution of the narrative because their addressee (i. e., God) is both transcendental and transcendent to the text which gives hope that writing the text can ultimately go beyond itself.4 And so do phrases since in the narrator’s self-constitution they carry a sense of self-identity and invariability. What becomes clear when comparing Simple Story to Esterházy’s previous novels, is that it does not atomize linguistic blocks, what is more, leaves clichés untouched with its textual combinatorics and permutation of pages. Also, Simple Story employs footnotes in a significantly different way than did Esterházy’s Production Novel (1979) in which the main text and its commentaries together paved the way for not only reading in a non-linear fashion, but for interpreting the laws of the genres the text evoked from secret reports to the social-realist production novel.5 In Simple
3 It is worth noting that one of the supporting characters, the young prince Ransmayr’s name yet again coincides with someone else’s, the famous Austrian author Christoph Ransmayr’s whose novel Cox tells the story of an English watchmaker’s trials in the Forbidden City, in China. He is given the task of creating different clocks and watches that can measure the perception of time passing in different stages of human life. In reality, although Alister Cox was a famous watchmaker, he never visited China but the Chinese emperor did have a copy of his book. 4 In the “Mark’s version” of Simple Story Comma Hundred Pages, as Gábor Tolcsvai Nagy remarks, if there is any story at all, then it is the story of the prayer: a dialogue with God (see also fn. no. 10) that has its own eventuality and performative plotline. Tolcsvai Nagy: “Im-Körper-Sein”, 373–376. 5 While the most important characteristic trait of the production novel is the accurate representation or even the meticulous mirroring of reality, due to the unproductive nature of planned economy typical of communist countries such novels were often full of fiction; they
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Story, however, footnotes serve as a playground for the author’s alter-ego and the narrator’s counterpart E. P. who is doing the exact same play on words that always characterized Esterházy’s works. Such play is mixing the description of scenery with erotica when E. P. connotes the act of deepthroating from the opposition of a high tower and a low trench. At first, he employs an apophasis stating in a Laurence Sterne-like fashion that if he had not restrained his hobby horse (i. e., writing puns) or rather his quill, he would have done what he always does, which is deconstructing traditional categories of narratology (e.g., scene, description, event, etc.). However, several pages later, he does take a break from this disciplined narrative to write a sex scene before going back to the action, this time with duels.6 Furthermore, while in Helping Verbs of the Heart the narrator includes a blank page with a mourning border to express his grief over the loss of the mother (reminiscent of the one found in Sterne’s Tristram Shandy), in Simple Story at least E. P. is given the opportunity to speak his mind explicitly about his sorrow in the footnote to ‘page seventy-seven’: “meaning that I don’t give a damn about that self-evident, worldly truth and obligation that as there’s no piglet without sow, no butterfly without maggot, there’s no footnote without main text.” What the narrator tries to achieve with his reduplication in the main text and the corresponding footnotes is in fact to create a “simple story” supporting the dominance of a cohesive narrative over linguistic articulation. One way of making the reader see this effort is examining the history of phrases and idioms, in other words, integrating the etymology of words into the story itself. While the genealogy of the Esterházy family is a frequent topic in the oeuvre, after the etymological examination it turns into the genealogy of sayings and words to the extent that the iconic product of the Eastern Block, the Trabant’s low-oiling is traced back to the invention of the fictional Ransmayr oil-cap (see footnote no. 3 for the importance of this name as far as the connection between temporality, fiction, and reality is concerned) or the invention of the praline
reported about marvelous growth in production, the well-being and productivity of workers, etc. Esterházy exploits this paradox and also raises awareness of the fact that production novels contained a mixture of “artificial” verbal registers, like the overly formal dictionary of state officials or spokespersons, or the indiscreet and dishonest discourse used in office smalltalks. In fact, Esterházy’s Production Novel does nothing more than make the unholy matrimony of modes of speech, which feel “unnatural” in the first place, plausible and thus brings some reality into the genre with integrating everyday phrases and ways of speaking into the fictional portraying of the growth of communist economies. 6 This passage also evokes the witty categorization of movies by everyday people in Communistera Hungary, when action movies were referred to as “dueling films,” romantic movies as “fucking films,” and the mix of the two as “dueling and fucking” ones.
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attributed to the Nyárys. The attempt of tying words appearing in the story together on the one hand based on their etymologies, on the other in reference to famous historical families, is expressed as purely a grammatical necessity in the novel. Furthermore, taking into account the novel’s complex sentences written in periodic style and filled with diacopes and circumscriptions, the rhetorics itself calls for a scrutiny on words. Hence the rhetorics can be interpreted as a product of the time period portrayed in the novel and as the evocation of rhetorical functions in the Baroque era, the time of the counter-reformation movement with its polemies focused on the words of the Bible. In other words, the language of the text recapitulates the atmosphere of the seventeenth century in a two-fold manner: “He [i. e., Kara] did not complain about his fate, even if he had enough dignity for it, he did not care about the fairness in the world. Bey Hassan, in whose service he was in, was rather fair, however” – and the footnote to this last excerpt goes “If we can say something like that [i. e., that he is fair] about a bey. Especially if we take into account the time period of the seventeenth century since – and I might be repeating myself here – in the case of such sentences it should always be taken into account.” It is clear from the quote that what is meant by “repeating myself” not only holds true for E. P.’s reminding the reader of what period the story is set, but also for the iteration of the word “fair” which provides a seventeenth-century-like prosaic rhythm to the passage. Exploiting the historical distance, the novel constantly reminds its reader of the importance of paying attention to grammar. As if the story itself yielded to a focus on grammar and not the other way round, namely that a certain usage of grammar evokes the atmosphere of a period whose documentation is always after-the-fact in the novel. The text-immanent and extra-textual elements of the novel’s historical-constructive methods,7 including footnotes or the allusion of ‘page fifty-six’ to the Hungarian revolution against the Soviets in 1956, activate metonymic relations that in turn start to operate as vacuums sucking in frames of reference. In this manner, linguistic elements do not get
7 Ernő Kulcsár Szabó regards this trait as one of the greatest innovations in Esterházy’s prose. On the one hand Kulcsár Szabó emphasizes that Esterházy did a pioneering job in showing that whether a novel’s main theme is history or society it is first and foremost presented as language in literature. On the other hand, he identifies historicity as a par excellence factor in presenting the linguistic nature of storytelling: “it is all the more through the historicity articulated by such novels that they themselves experience their own attachment to language, and their awareness of such dynamics has become one of the most important factors in contemporary literature.” Kulcsár Szabó: “‘Graziöse’ Ungebundenheit”, 151.
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linked up with the seventeenth-century setting of the novel but rather with each other. This mechanism’s mise-en-abyme can be identified in the theory of regions that is articulated in the text. For example, Plessis-Praslin’s cook, György Sellér brought almond and hazelnut from the bank of river Ipoly and the dessert made from the nuts is served to Earl Schweidenfeldt exactly when he would start quoting a passage from Lőrinc Szabó (1900–1957), a poet of Hungarian modernism who is from the Ipoly region. In addition, there is a Hungarian saying rooted in the period of the Crusades when lieutenant Makó got so drunk that he thought he was in Jerusalem when in fact he was in the Dalmatian city Split: “[Something] is as far away as Makó is from Jerusalem.” First, the text transforms the name of the lieutenant into a Hungarian town that has the same name (which was called Felvöl in lieutenant Makó’s time and which is also quite far away from Jerusalem for that matter), then in a footnote it mentions that in Transylvania the word “mackó” (bear) appears in the saying instead of Makó, which alludes to the passion of Nicolae Ceaușescu’s, communist dictator of Romania, for hunting bears. This theory of regions postulates once again a linguistic and by no means a topographic connection in the story, even though in the case of the proper name it substitutes a town for a person and even goes beyond the borders of (present-day) Hungary when it analyzes the Transylvanian variant of the saying. On the whole, this areal linguistic scrutiny also extends to different historical eras and brings us closer to understanding what Esterházy means by the concept of writing a version of a “simple story.” It then comes as no surprise that due to variability and the transgression of spatio-temporal boundaries, the narrator seems to shy away from any type of certainty for the sake of keeping the arch of the storyline intact. Yet the text still critiques non-existent works like Ferenc Takács’s Herr und Hund which cannot be trusted since it provides misinformation about dogs. Nonetheless Simple Story is full of ambiguities, it exchanges proper names, exploits historical contingencies and counter-factualities, etc. So one might legitimately ask how could such a text evaluate the truth-content of any other texts, after using the laws of historical fiction only to create a genealogy which is based on linguistic contingences and metonyms, ultimately producing not an historical novel, but the history of the novel (“there is a sentence, but without a reality”). Simple Story thus first and foremost presents itself as historiographic metafiction in which the several interconnected storylines not only deconstruct the idea of a single protagonist, but also multiply narrative attitudes grounded on the textual mechanisms of interplay between the main text and the footnotes that extend the order of linguistic elements to non-discursive aspects. As a result of the visual separation of E. P.’s commentary from the narrative, the clearly graphic horizon is reintroduced to the world of linguistic expressions,
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whenever the commentator wants to use irony, sarcasm, and other rhetorical devices which are so characteristic of him. Instead of applying non-discursive elements (e.g., cursives, different fonts, quotation marks, etc.)8, however, as the narrative does in the separation of the main text from the footnotes, E. P. tries to articulate the modality of the comment with phrases like “Joke.” Not only does this draw attention to the philological boundaries of telling a story (e.g., the ambivalent attitude of the narrator towards writing only a hundred pages, when it duplicates ‘page ninety-four’ and creates a camping scene, stating that “I have to slow down a bit towards the end. And stick to the hundred. Or rather, it is the other way round, the hundred sticks to me;” the important role of the invisible margins of the page which impose a limit not on what happens but how the events of the story can be told on a page) but also contours the limits of the narrative tone. In other words, commentaries restrict the multi-modal subjectivity of the narration to a single monogram, E. P. Consequently, the constant differentiating dynamic that encompasses even proper names comes to a halt at the very moment when the main text starts discussing the commentator’s textual worldbuilding techniques. E. P. does not say anything that could be turned into a pun, but only writes “–”. This is the only place in the novel where E. P. uses a nondiscursive character instead of articulating his standpoint on the matter. This action–reaction sequence between the narrator and its counterpart clarifies that the more the narrator is devoted to (telling) the story, the more materials he serves up for commentaries, which with their highly linguistic focus help to establish new links between events, as explained above. The only case this proves impossible is when the narrator starts paying attention to this dynamic, adopts the role of the commentator and makes remarks on how the story comes together on the level of the narrative. The connection between narration and commentaries can be paralleled to the relationship between the act of writing and reading. At first sight, the latter is inherent. For instance, the important thing about the reports addressed to Prince Croy is that “they are written, not read.” Later on, however, we encounter the deciphering of an already written passage but the narrator only hints at its meaning because it is unreadable. This could mean that reading has to happen before writing what is understood/interpreted. Another twist in this case is that the mentioned deciphering happens in a footnote on ‘page twenty-five’ but
8 This might be the final phase of the finesse of verbalizing those extra-verbal elements that literary pieces can rarely encompass. In Esterházy’s case, however, the text „maintains in its reception the illusory perception and understanding of the accent, tonality, pauses, scansion” (Ibid., 165) while it clearly keeps its distance from direct communication which would turn it into purely autobiographical or confessional discourse.
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the passage itself is in the main text of ‘page twenty-six.’ This is an example of how the narrative can create après-coup temporal structures. The question is whether all this time-manipulation can yield to an experience that is outside the text but can nevertheless be grasped by intra-textual narrative means. In other words, the question is whether there is a passage which leads to the father through the blanks between the letters (through “the nothing of letters”) or the narrator should follow his father’s advice in that “[he] should not look at where there is nothing, but where there is something.”
3 Since there are no true protagonists in the novel – just like there are no true protagonists in history,9 or at least, choosing who the (anti-)hero is always depends on the narrative of a certain era –, the characteristics of the father and the mother are disseminated among the characters. Therefore, the good old question of literature, “Who is speaking?,” is replaced by “On whose behalf is one speaking?” Reflecting on Nyáry’s prayer, the narrator asks: “My Lord, why do we need words for praying?” and E. P. immediately incorporates this passage in his own discourse.10 The ambiguity of the narration becomes apparent: Is E. P. a commentator, a codex-copier, a chronicler or a memoir-writer11? If we identify him as a commentator, he must be an interpreter too. For instance, when he refrains from understanding the phrase “God is my Father!” in an etymological context (meaning:
9 In his philologically oriented scrutiny on Esterházy’s Production Novel, Gábor Reichert associates the strong emphasis on the narrator’s self-establishing tone with a genre that was just as popular with the trend of socialist realism as the production novel (see fn. no. 5). At the time of its publication, the communist cultural politics prioritized biographies of the system’s past (e.g., Mihály Károlyi [prime minister of Hungary after World War I], Béla Kun [dictator of the Council Republic of Hungary after Károlyi resigned]) and present heroes (e.g., Lajos Fehér [the deputy director of the communist secret police]), i. e., politicians who did their fair share in bringing the country closer to the utopia envisioned by the communist dictatorship. Since they were regarded as protagonists of their time for purely political reasons (and after the fact, of course), Esterházy might have reacted to this trend with providing his narrator with a decisive historical agency. See Reichert: “A Termelési regény”, 235–238. 10 In the reception of Esterházy, the impossibility of a monologue-structure is frequently discussed because of the narrative’s constant transgression of boundaries via focalization, the use of intertexts, etc. between one’s own discourse and the other’s. See Lőrincz: “Figurationen des Schweigens”. 11 See fn. no. 9.
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“as God is my witness”), he also rejects the idea that his father would be God; a meaning that is inherent to the grammatic structure but which would nevertheless mean that the father could never be reached since God has nothing to do with time, as quoted above (see also fn. no. 3). If E.P. is taken for a codex-copier, however, incorporation via substitution also happened on the ambiguously numbered ‘page ninety’ where in the arms-dealer Genzwein’s sentences, addressed to his dead mother, the word “mother” is meticulously corrected to “father” by E. P. which turns the whole monologue into his own prayer to the father who could might as well be “heavenly,” of course.12 And if we regard E. P. as a chronicler, then he must know everything that belongs to the world he created. Such knowledge is evident when he mediates pieces of information left unsaid in the conversation of Prince Lajos and Earl Schweidenfeldt, namely a question which Lajos did not want to ask after not receiving a proper answer from Schweidenfeldt to his previous ones. Giving a testimony about something that did not happen means that E. P. knows all the variations of the story – not just “the duel version” of it, as it is anticipated by the subtitle of the novel. One of the most characteristic tensions stems from this omnipotence, since according to E. P., he does not know anything that transcends the text. Through writing chains of comments, E. P. keeps constructing more and more sublevels to the main text yet this “layered” tone does not yield to any type of self-reflection. Even when he goes back to the practice that was so characteristic of Production Novel and starts to censor names “due to current regulations and customs,” he simply exchanges one character for another: “‘I did believe in God’ – this is what Zsigmond Kara would whisper into Pál Nyáry’s* ears” – and the footnotes: “* Error of my quill: Mihály Bárány’s* / * Error of my quill: Earl Schweideenfeldt’s** / ** Peter Gerendás, László Genzwein, Christoph Ransmayr, Ali, the gardener, Zsófia Pázmándi.” This appears as an aporia of the text since whenever it anchors down a connection and consequently stops the semiosis that transfigures even proper names, it also makes any kind of self-reflection impossible on the commentator’s side and the turning of linguistic relations into story-links on the narrator’s side.
12 Just like the impossibility of a monologue-structure, the ambiguity of dialogues is another crucial aspect of Esterházy’s prose, which in this passage shows just how the complexity of narrative transgressions develops via iterations and reduplications: Genzwein, whose prayer E. P. appropriates as his own, is said to be the personal arms-dealer of Nyáry whose prayer is also incorporated by E. P.’s tone and is thus read not as an allusion to his grief over the loss of his father, but as an allusion to the situation where it is originally articulated nevertheless (i. e., Nyáry’s state of indecision). But it can also be read from an inverse perspective: E. P. is the real dealer, supplying both Genzwein and Nyáry with words for their prayers from the narrative discourse.
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This enables repetitions to have a place value of something other than inconsistencies in the plot. One prime example of this is the discussion between Pázmándi and Gerendás about the nature of pain and its turning into kitsch whenever someone writes about it. Later when Gerendás meets his Maker, God asks what is his reason for ending his prayers always in or with pain. In spite of this repetition, however, the narrator still struggles with articulating his pain. At one point, he takes using short sentences into consideration. These short sentences are associated with motherly feelings, encompassing both the emotional state of the grieving mother and the grief felt for the mother as in Helping Verbs of the Heart. Nevertheless, E. P. ultimately restarts analyzing the statements, even the sentence, “Motherly feelings.” Sadly, it turns out to be an incomplete sentence; a sentence that lacks an element (a verb, nonetheless, not even a helping verb in sight), similarly to the mother missing from the text. After this revelation, short sentences have no use for the narrator. Along the same lines, unfortunately the pain referred to in the above-quoted passages does not converge with the lack that the father left behind and which can only be approached on the merits of Marx’s theory of the surplus.13 These iterations stem from narrative necessities, such as the fact that both Kara and Pázmándi have brain tumor which provides an opportunity for the narrator to discuss the possibility of using the Fibonacci-series for modeling such a pattern. However, the Fibonacci series also undergoes a permutation and drives the line of the narrative to the story of the fictive Cibofanni family (an almost-anagram, and thus permutation of the word), which explains the already mentioned ambiguity in the numbering of page ninety. The prayer of the arms-dealer via the Cibofanni family connects Kara to Pázmándi, while the very link between the two is the tumor that requires the Fibonacci series as an explanation in the first place. This example represents another après-coup causality that integrates elements used for the storytelling into the story itself. The parabolicity (in all possible sense of the word, since “Being a brother is no one-variable function”) turns tropology into topology; the narrative takes a non-Euclidean turn, meaning that with someone’s story’s being the repetition of someone else’s the narrator hopes that one of them would echo his father’s. This is why the last sheet of the novel goes back to the ‘last page’ that could be found in the middle part of the book. What the novel does achieve this way is following the father’s footsteps on the penultimate sheet but it never finds certainty about what caused his father’s
13 This passage about Marx is an intertext from Esterházy’s other book, entitled Esti (2010) which is already a rewriting of a collection of short stories staring the vagabond golden-boy Kornél Esti by Dezső Kosztolányi, an important writer of Hungarian modernism.
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happiness: “I will write it somewhere, some other time, through another hundred (or not hundred) pages” – a promise that echoes the one made at the end of Helping Verbs of the Heart. Everything seems to serve to maintain the status quo, a passing that does not pass away. This is why the novel shows us Pázmándi’s effort to save Nyáry from his downfall; a man who is not part of the flow of time and got old before the beginning of the story while the downfall still happens despite not being part of the narrative. Furthermore, this is the reason why Nyáry’s downfall can coincide with the father’s downfall; two negative events that are too painful to give account on create a positive, valid link here. The rewriting of something that has already been written does not provide access to something that has been missed (out on) by the narrator, however, but creates versions to an already established genealogy. And rewriting reaches its climax in the imperative of the father written on the ‘final page’ (“chin up”) which seemingly contradicts the statement on the last sheet of the book. As a result of Simple Story Comma Hundred Pages – the Duel Version’s ending with a peculiar zeugma it simultaneously encapsulates the father’s leaving and returning. However, both meanings point to the same motion due to the novel’s closing word “forever.” While the negativity of “leaving forever” is contrasted with the positivity of “returning forever,” the text is certain that after filling a “hundred pages” with verbal permutations for a story, the reader can see the inversion inherent to the trope. The zeugma softens the tragedy of leaving since “leaving forever” means that the father passes, but he does not pass away – ever. Nevertheless, it also renders another encounter impossible as a result of the incompleteness of the father’s return. Making a choice between the two meanings mirroring each other inversely, lets us have a blink at the struggle in the duels.
Literature Kulcsár Szabó, Ernő. “‘Graziöse’ Ungebundenheit”. In diesem Band. 147–167. Lőrincz, Csongor. „Figurationen des Schweigens in Péter Esterházys früher Prosa“. In diesem Band. 45–70. Reichert, Gábor. “A Termelési regény és a realista hagyomány” [The Production Novel and the Tradition of Realism]. “Nincs vége. Ez a befejezés.”: Tanulmányok Esterházy Péteről [“It is not finished. It is the end.”: Essays on Péter Esterházy]. Ed. Csongor Lőrincz, Péter L. Varga and Gábor Palkó. Budapest: Prae, 2019. 232–45. Tolcsvai Nagy, Gábor: “Im-Körper-Sein, Transsubstantiation und Offenbarung: Sprechmodus in Markus-Version”. In diesem Band. 371–387.
Mária Bartal
Die Darstellung von Krankheit in Péter Esterházys Werken Bauchspeicheldrüsentagebuch und Schuldig „Rhythmische Pause“ (Péter Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch)
In diesem Aufsatz möchte ich den Text vom Bauchspeicheldrüsentagebuch1 analysieren und unter Einbeziehung von Harold Brodkeys 1996 erschienenem Buch This Wild Darkness. The Story of my Death2 und Péter Esterházys 2015 erschienener, zu einem Aquarell-Tagebuch verwobener Kriminalnovelle Schuldig3 die Darstellungen von chronischen somatischen Krankheiten untersuchen. Miklós Szüts malte sein Farbtagebuch in einen Aquarell-Block aus Fabriano-Papier im Format 10x15cm, den er in einem Londoner Geschäft für Künstlerbedarf erworben hatte. Das Trägermaterial war also ein Heft, das aus leicht blätterbaren, der Struktur von geschöpftem Papier ähnelnden Blättern bestand, das aufgrund seiner Bindung und Stärke aller Akzidenz zum Trotze dennoch dem Medium Buch zuzuordnen ist. Die im 19. Jahrhundert noch als Reiseausstattung der Maler genutzten Aquarellfarben ermöglichten in der Moderne radikalere Malexperimente: Die eigenwillige und schwer beherrschbare Ausbreitung und das willkürliche Trocknen der dünnflüssigen Farbe auf dem Papier und die sich daraus ergebende Launenhaftigkeit und Zufälligkeit der Farbintensität bzw. die Unberechenbarkeit, der Kampf mit dem Material und das gesteigerte Bewusstsein dafür ermöglichte es den Malern, die Prozesshaftigkeit in den Vordergrund zu stellen, die die schöpferischen Absichten veränderte. Miklós Szüts, der die Aquarelltechnik seit den 70er Jahren regelmäßig nutzt, hat Esterházys Idee, Krimis zu den Aquarellen in seinem Farbtagebuch zu schreiben, als Grafiker weitergesponnen. Das Bauchspeicheldrüsentagebuch
1 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch. 2 Zuerst erschienen 1996 bei Metropolitan Books in New York. In meinem Aufsatz beziehe ich mich auf die Seitenzahlen folgender Ausgabe: Brodkey: This Wild Darkness. 3 Esterházy und Szüts: A bűnös. Übersetzung: Deutsch von Laura Paschirbe. https://doi.org/10.1515/9783110618082-022
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zeichnet mehrmals die über einen längeren Zeitraum aufgeschobenen Arbeitsphasen4 auf, dokumentiert den Prozess, der mit einer Idee im Juni 2015 begann, auf die ein Auftrag folgte und dann ein unterbrochener Arbeitsprozess am Text, aus dem Ende Oktober schlussendlich eine einzige Kriminalnovelle entstand.5 Entgegen Esterházys anfänglicher Vorstellung füllt der Text die freigelassenen Stellen auf dem plastischen Aquarellpapier nicht in seiner Handschrift, sondern er steht als gedruckter Text auf den gleichartigen und chirurgisch weißen Buchseiten im Kontrast zu den auf gekörnten Papier gemalten Bildern. Die Fotografie der büttenpapierartigen Seiten des für die Skizzen genutzten Aquarellheftes kontrastiert mit dem homogenen Weiß der Textseiten. Der Anblick dieser beiden unterschiedlichen Texturen macht den Lesern von Schuldig die Komplexität der Gattung anschaulich, die einem auch beim Lesen von Bauchspeicheldrüsentagebuch begegnet. Es entsteht eine Spannung zwischen dem Sichtbarmachen der Zufälligkeit des Werkstatt-Tagebuchs, der Gestaltung des Materials und der Pausen im Arbeitsprozess durch die Reihe der Entwürfe, die die endgültige, zukünftige Textversion vorbereiten und der mit Datum versehenen Notizen und der fast schon stagnierend langsamen Linearität des Krankheitsnarrativs, das willkürlich durch den Tod des Erzählers oder das mit der Verschlimmerung der Krankheit zusammenhängende Verstummen seiner Stimme abgeschlossen wird. Der autobiografische Erzähler des Bauchspeicheldrüsentagebuchs verdeutlicht, dass die Arbeit an den Texten die sich dynamisch verändernde Operation seines Verhältnisses zur eigenen Krankheit und Endlichkeit ist. Es handelt sich also um eine Autopathografie, um den Terminus von Thomas Couser aufzugreifen.6 Während die Textkohäsion in den autobiografischen Gattungen vor allem durch den Bezugspunkt des Erzählers in der ersten Person Singular hergestellt wird, der durch eine Reihe von narrativen Operationen eine erzählte Identität schafft, so ist die Autopathografie eher ein Kampf um die eigene Identität, die Stimme und ihre Kontinuität und somit die Spur der Unterbrechung, der Brüchigkeit und der Experimentalität der Stimme. Die Krankheit und die Schwächung des Erzählers bestimmen die Funktionsweise des Textes in seiner Gänze. Ähnlich wie in Esterházys früheren Texten ist die Anzahl von metanarrativen Textstellen sehr hoch: Der Erzähler artikuliert sich eher als Leser denn als Autor und thematisiert dabei immer wieder die Arbeit an den Texten im intertextuellen Raum. Schon im zweiten Absatz nennt er mit ungewohnter Genauigkeit seine Quellen: „Ich muss auch noch Devecseris Buch anschauen, A hasfelmetszés előnyei [Über die Vorteile des Bauchaufschlit-
4 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 18, 38, 70, 99, 123, 160–161, 194, 198, 199. 5 Ebd., 201. 6 Couser: Autopathography.
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zens]. Gestern hatte ich danach gesucht, es aber nicht gefunden. Vielleicht Herrndorf, er hat auch so ein Sterbebuch. Und Brodkey. Harold Brodkey: Die Geschichte meines Todes.“7 Später kommen unter anderen der Band vom Kalligram-Verlag mit den Dokumenten von Kosztolányis Krankheit und Sterben und die parallel entstehende deutsche Übersetzung der Markus-Version dazu. Im angelsächsischen Sprachraum stieg die Zahl der Autopathografien in den 90er Jahren sprunghaft an. Es gab zahlreiche Versuche diese Texte zu kategorisieren, sie einer interdisziplinären, vergleichenden kulturwissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen.8 Im Vergleich von amerikanischen und britischen Texten lässt sich festhalten, dass die amerikanischen Krankheitsnarrative, die den Überlebenskampf heroisieren, die auf die affektive Einbeziehung des Lesers abzielen und damit einen Kontrapunkt zum ironischen Tonfall der britischen Texte setzen, ungefähr ab der Mitte der 90er Jahre durch Texte abgelöst wurden, die Strategien zur ironischen Distanzierung von der Krankheit erarbeiten.9 Die vorherrschende Textsorte der autobiografischen Erzähltradition der amerikanischen Prosa hat Diedrich mit dem Fachausdruck oprafication bezeichnet,10 weil in den Werken dieser Kategorie die Bemühungen zur Perfektionierung des Ichs und damit zum Ausschluss anderer, die Inszenierungen dieses Vorgangs sowie emanzipatorische Strategien dominierten. Gattungsgeschichtlich ist es spannend, dass auch das sich dynamisch verändernde Korpus der Krankheitsnarrative, von denen Brodkeys Roman ein typisches Beispiel ist, zu diesen Texten gehört. In seiner Monografie, einer der ersten, die autopathografische Texte analysiert, stellt Thomas Couser fest, dass ein Teil der Erzähler im Laufe der Selbstdarstellung das Modell des medizinischen Diskurses übernimmt, in dem das Selbst vom Körper getrennt wird.11 Esterházys Erzähler artikuliert sich im Text über die Veränderungen im Körper und die davon nicht zu trennende Dynamik der Schreibtätigkeit. „I dont’ see the point of privacy. Or rather, I don’t see the point of leaving testimony in the hands or mouths of others. (H. B. June 1993)“12 Das mit Harold Brodkeys eigenem Monogramm (!) indexierte, zweite Motto seines Sterbetagebuchs zeigt deutlich an, wie radikal das Verhältnis von privat und öffentlich,
7 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 7–8; Der Erzähler des Bauchspeicheldrüsentagebuchs liest Brodkeys Buch in deutscher Übersetzung: Brodkey: Die Geschichte meines Todes. 8 Unter anderem: Couser: Recovering Bodies; Stacey: Teratologies; Mattingly und Garro: Narrative and Cultural Construction; Avrahami: The Invading Body; Diedrich: Treatments; Atkinson: „Illness Narratives“; Charon: „The Novelization“; Gygax: „On Being Ill“. 9 Hierzu: Frank: The Wounded Storyteller, 93; Gygax: „On Being Ill“; Diedrich: Treatments, 55. 10 Ebd., 63–68. 11 Couser: Recovering Bodies, 14. 12 Das obige Zitat stammt von der unnummerierten Seite nach dem Vorwort.
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vom Ich zu den Anderen im Krankheitszustand uminterpretiert wird, was auch die komplexe narrative Erzählstruktur der Gattung Tagebuch in sich birgt. Bei der vergleichenden Betrachtung13 von drei britischen und drei amerikanischen zeitgenössischen Autopathografien erwähnt Franziska Gygax, dass die Autoren der von ihr ausgewählten Texte in allen sechs Fällen zur Zeit ihrer Publikation bekannte Akteure der Kultursphäre waren (wie Esterházy), was die Lektürestrategien, den Zwang zur Referenzialisierung, das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit in entscheidendem Maße beeinflusst hat. Spuren davon finden sich ohne jede Schwierigkeit auch in der Rezeption von Bauchspeicheldrüsentagebuch und Schuldig und der außergewöhnlichen Aufmerksamkeit, von der die Lesungen begleitet waren. Die Erfahrung von Intimität des Kranken wird während seines Krankenhausaufenthalts wiederholt und drastisch verletzt und somit verändert, das stimmt vor allem für diejenigen, die an einer sexuell stigmatisierten, ansteckenden Geschlechtskrankheit leiden, wie der Ich-Erzähler, der von der Notaufnahme sofort in ein Einzelzimmer gesteckt wird.14 Es ist eben jener „private room“ im Krankenhaus, der in Brodkeys Buch das erste Anzeichen einer ansteckenden, tödlichen Krankheit ist,15 der zum Schauplatz der uninterpretierbar werdenden „privacy“, der Intimität wird. Im Raum Krankenhaus lösen sich die Möglichkeitsvoraussetzungen des privaten und individuellen Seins auf und somit auch die Eigentümlichkeit eines individuellen Zeugnisses: „To tell a little of the story about me and my father less shyly, I would have to change the way I write.“16, so lesen wir bei Brodkey. Der Aktivismus und die Performativität des Textes, der den Kampf gegen die Tabus und die Stille aufnimmt, die AIDS umgeben, ist nicht von der innovativen Sprechweise über das traumatisierende Verhältnis zu seinem Pflegevater zu trennen, von jenen Postulaten, die Brodkeys Prosa erneuern, aufbrechen. Der Versuch, die Schreibweise zu verändern, bedeutet nicht die Illusion des Findens einer persönlichen Sprache, sondern das Brechen des Stolzes. Die Mitteilung beim Schreiben eines Sterbetagebuchs, dass „after all, death – and AIDS – are a commonplace“17. Anstatt sein Zeugnis anderen in den Mund zu legen bzw. in die Hände zu geben, liefert der Erzähler den (Erzähl-)Stoff. Der Erzähler 13 Gygax’ vergleichende Studie untersucht folgende Werke: Gillian Rose, Love’s Work, 1995; Harold Brodkey, This Wild Darkness 1996; Marilyn French, A Season in Hell, 1998; Ruth Picardie, Before I Say Good-Bye, 1998; Tim Parks, Teach Us to Bill Still, 2010 und Siri Husvedt, The Shaking Woman, 2010. 14 Brodkey: This Wild Darkness, 5–6. 15 Ebd., 8. 16 Ebd., 61. 17 „And then, lying in that room, I saw it differently: after all, death – and AIDS – are a commonplace.“ Ebd., 9. Siehe auch: „But it was a hospital room, and I was dying, and I didn’t have many private emotions.“ Ebd., 32.
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des Bauchspeicheldrüsentagebuchs gibt mit methodischer Sorgfalt an, wenn er gerade die deutsche Übersetzung des Brodkey-Textes liest und neuschreibt, er folgt dem Voranschreiten des Sterbetagebuchs und führt dabei eine Übersetzungsleistung aus, die das gesamte Buch durchzieht, denn an fast vierzig Stellen zitiert er direkt oder indirekt aus dem Text des amerikanischen Autors. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht möglich, die gesamte methodisch korrekte, vergleichende Analyse vorzustellen, von daher werde ich hier nur kurz die Ergebnisse skizzieren. Beim Neuschreiben der Brodkey-Textstellen können wir die Schichtung der Erzählebenen beobachten: Sowohl in Esterházys als auch in Brodkeys Text dominiert der Ich-Erzähler (mit eingeschränktem Wissen), der zu einem Vermittler, Dolmetscher, Zeugen, Interpreten wird. Die komplexe Operation des Neu-Schreibens kann mit einem Textbeispiel verdeutlicht werden. Schauen wir uns die erwähnte Textstelle genauer an und vergleichen sie mit dem englischen Text: „Das Leugnen der Wahrheit, fiel mir auf, nannten alle Takt.“ Und weiter noch interessant (fachlich!), dass er, um über seinen Vater weniger schamhaft erzählen zu können, seine Art zu schreiben ändern müsste. „Im wirklichen Leben habe ich mit Homosexualität experimentiert, um meinen Stolz zu brechen, um . . .“ (oder: und dadurch?) „. . . mich der Geschichte zu öffnen“. Hm, verstehe ich das? Fast. Das Fast-Verstehen ist Nicht-Verstehen.18 That truth is a form of caress. [. . .] To tell a little of the story about me and my father less shyly, I would have to change the way I write. In real life, I experimented with homosexuality to break my pride, to open myself to the story.19
Hier sieht man, wie die kurze Notiz, die das ungenaue, direkte Zitat als (durch Einschübe unterbrochene) Gnome vermittelt, innerhalb weniger Sätze zum interpretierenden Kommentar, dann wieder zum direkten Zitat und schließlich zur Reflexion wird. Beim Einschieben der Brodkey-Übersetzungen dominiert der freie Gebrauch der indirekten Rede, der das vorwiegend in der 1. Person Singular geschriebene Narrativ des Bauchspeicheldrüsentagebuchs unterbricht und stört. Die Autopathografie wird zur Lektüre und zum Kommentar einer anderen Autopathografie und inszeniert gleichermaßen die Verbindung vom Ereignis des Lesens und des Todes und ihre Trivialität sowie die Verunmöglichung der Intimität des Sprechens über den Tod: Ich könnte mit dem armen Brodkey schneller vorankommen. Der erlösende Tod könnte schon bei ihm sein. Jetzt bringe ich ihm den Tod mit dem Lesen. Er bekommt dieses Geschenk von jedem seiner Leser. Dass er sich darüber nicht mehr freuen kann, vermehrt nur den Wert des Geschenks. Was sich dabei auf mich beziehen lässt – höchstens so viel jetzt (!), dass auch ich ein Schriftsteller bin, oder was.20
18 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 106. 19 Brodkey: This Wild Darkness, 61. 20 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 130–131.
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Dieses Zitat macht auf die repetitive Zeitstruktur aufmerksam, die durch das Lesen geschaffen und in Gang gehalten und durch Esterházys Leser um weitere Schichten bereichert wird. Diese führt die Erzähler von der Bewusstwerdung der Krankheit über ihr fortgeschrittenes Stadium zum Brüchigwerden, zum Verstummen ihrer Stimme, also zum Tod der Erzählung, um sie durch das Eintreten eines neuen Lesers wieder an den Anfang dieses Prozesses zurückzustoßen. Damit mag es teilweise zusammenhängen, dass in der Metaphorisierung des Todes und des Sterbens in Brodkeys Text Verpackung und Wiederverwertung, die Verschiebung von der Tragisierung der Exposition des nackten Körpers bis zur Printversion, zentral werden. „I am prejudiced toward a nakedness in print – toward embodiment in black-and-white“.21 Schon die Erzählung der Bekanntgabe der Diagnose und die Aufzählung der Folgen schafft eine eigenartige Wiederholungsstruktur im Text, denn die Verpackung macht den formbaren, unüberschaubaren Inhalt handhabbar: „Yet these first moments in which I consciously felt the reality of having AIDS are hazy, slippery, and return to me in different coverings.“22 Die Unzugänglichkeit des persönlichen Erlebens und die Verhinderung seiner sprachlichen Wiedergabe nimmt der Körper, das Bewusstsein als Papierschachtel wahr: „No one can possibly know the power of feeling I project inside my carton.“23 Die Tragisierung des Todes, die mit Selbstmitleid verbundenen Gedankengänge werden immer wieder von einer in Umweltbewusstsein gebetteten Ironie niedergeschmettert: „I’m sixty-two, and it’s ecological sense to die while you’re still productive, die and clear a space for others, old and young.“24 Später wird diese Idee auf die ökologisch schädliche Lebensweise der intellektuellen Mittel- und Oberschicht ausgeweitet. Hier ist es wichtig anzumerken, dass das Bauchspeicheldrüsentagebuch auf keine dieser Stellen eingeht, diese Lücken, diese blinden Flecke zeigen die grundsätzlich wahrnehmbaren Unterschiede der beiden Texte im Verhältnis zum Tode. In Esterházys als Reihe von Kommentaren gedachtem Tagebuch wird die Arbeit am Text als eine Aufgabe betont, die in einer bestimmten Zeit zu erledigen ist.25 Schuldig ist ein besonders gutes Beispiel um zu illustrieren, dass die 21 Brodkey: This Wild Darkness, 30. 22 Ebd., 5. 23 Ebd., 12. 24 Ebd., 19. 25 „In den zwei Wochen habe ich wenig fertiggebracht [. . .] habe das kleine Buch mit Szüts nicht angefangen. Meine Zeit verläuft stumpfer, als sie sollte.“ (Montag, der 6. Juli 2015, 38); „Gestern hatte ich versucht, zu den Szüts-Bildern zu arbeiten, doch ich ging im Zettelsuchen unter. Mir schwant nämlich, schon einmal Notizen gemacht zu haben. Ich gehe in immer mehr Sachen unter. Bücher, Manuskripte, und Papiere für das Haus . . .“ (Dienstag, 18. August 2015, 99); „Das SzütsProjekt habe ich wieder losgelassen, fälschlicherweise.“ (Donnerstag, 24. September 2015, 160);
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schon erwähnten Eigenarten der Aquarelltechnik (die eigenwillige Ausbreitung und das willkürliche Trocknen der dünnflüssigen Farbe, die Zuwendung zum Material und seine Unbeherrschbarkeit und Unberechenbarkeit) auf das Risiko des Bauchspeicheldrüsentagebuchs verweisen. Der Erzähler überträgt die Worte einer „dilettantischen Schwärmerei“ für abstrakte Kompositionen in ein langsames, eingehendes Lesen der Bilder, was Esterházy später in einem Interview26 mit der Tennisszene aus Antonionis Blow up in Verbindung bringt, mit dem Versuch, den unsichtbaren Tennisball zu verfolgen. Das Bauchspeicheldrüsentagebuch zeigt eine dynamischere Versprachlichung der körperlichen Prozesse, von Operationen der Beobachtung und Beschreibung bis zu performativen Operationen der Körperbeherrschung können wir verschiedene sprachliche Experimente im Text aufspüren. Es mag eine interessante Ergänzung sein, dass Virginia Woolf in ihrem Essay On Being Ill auch ein Ballspiel als Metapher für die Interaktion von Verstand und Körper verwendet. In seinem Eroberungsdrang tritt der Verstand den Körper wie einen Fußball.27 Weiterhin ist es spannend, dass Blow up das berühmteste Beispiel der europäischen Filmgeschichte für eine Anti-Detektivgeschichte ist. In typisch postmoderner Manier verwendet Schuldig Elemente von Detektivgeschichten und kann auch als metaphysische Kriminalgeschichte gelesen werden, in der der Prozess der Ermittlungen eine Allegorie für das Erkennen und das Interpretieren und die Lösung des Falls für den Text vollkommen irrelevant ist.28 Anhand der komplexen Erzählstimme im Bauchspeicheldrüsentagebuch lassen sich die spannenden Seiten der Aquarellmalerei, die Erfahrung der temporär als Geschichte lesbaren und unlesbaren aufeinanderliegenden Farbschichten und die Zufälligkeit des Unpersönlichen als Erlebnis der Unbeherrschbarkeit des Materials thematisieren: Welcher Pinselstrich deckt welchen ab, was war früher da, was später. Die im Bild versteckte oder sich versteckende Zeit, daran habe ich zum Beispiel noch nie gedacht. Der zum Verschwinden gebrachte Pinselstrich ist nicht mit dem Fehlen des Striches identisch. Dazwischen trinke ich immer wieder Wasser (ich lechze nach Wasser, brauche Wasser),
„Schon wieder sitze ich nur da und sinne, was ich machen sollte. Den Text zu den Szüts-Bildern. Und dass ich dafür schon etwas erfunden habe, aber was. Das ist schon ziemlich schrecklich, ich möge es einsehen. Ich sehe es ein.“ (Sonntag, 18. Oktober 2015, 194); „Ich musste beim Szüts-Text innehalten, weil ich schon wieder auf mehrere Sachen zugleich achten musste, somit auf keine so richtig.“ (Samstag, 24. Oktober 2015, 199); „Und mit dem Szüts müsste ich auch weiterkommen. Das versuche ich jetzt.“ (Montag, 26. Oktober 2015, 200). 26 Das Interview ist auf folgender Seite abrufbar: http://index.indavideo.hu/video/esterhazy_ peter_szuts_miklos (30. Juli 2018). 27 Woolf: „On Being Ill“, 9. 28 Zu postmodernen metaphysischen Detektivgeschichten und Anti-Detektivgeschichten: Bényei: Rejtélyes rend.
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aber das ist nicht das Einzige, was mich an die Lage erinnert. Ich glaube, etwas nicht Zufälliges in den Bildern zu sehen, und etwas unerwartet Unpersönliches.29
Der Erzähler vermengt im vierten Satz des obigen Zitats das während des Malens feucht gehaltene Medium des Aquarellpapiers30 und den Betrachter des Bildes. Dieses Unpersönliche ist laut dem Narrator keine Zurschaustellung von Technik oder Talent, sondern die organische Verbindung zur europäischen Kultur, die es ermöglicht, dass sich das Material durch sichtbare, bedeutungstragende Veränderungen zeigt. Beim Betrachten der komplexen Verhältnisse der beiden Bücher und Szüts’ Aquarelle gilt es das von Parti Nagy Lajos 2008 herausgegebene Album Szütch & Vojnich hinzuzuziehen, welches Bilder mit Texten ungarischer Autoren, Dichter und Literaturhistoriker der Gegenwart zeigt. Der Band beginnt mit Esterházys Kurzgeschichte Most jut eszembe, mégis van művészet [Jetzt fällt es mir ein, es gibt doch Kunst], die unter dem Titel Siebentes Kapitel, in welchem Alles Kunst 31 später auch in Esti auftaucht. Die Geschichte paraphrasiert die ungarischen Übersetzungen von Kafkas Erzählung Die Verwandlung: Esti wacht als Aquarellgemälde auf und als moderne Schöpfung (nach Cézanne) tut er das nicht als Objekt der Betrachtung im Text, sondern als Betrachtungsweise (Standpunkt), die die Maler und die entstehenden Bilder beobachtet und analysiert. Beim erneuten Lesen der Interviews und Gespräche mit Miklós Szüts fällt auf, dass die Novelle Esti fast wortwörtlich solche fixen Ideen des Malers wiedergeben lässt wie das Verschwinden der linearen Geschichtserzählung aus dem „Bildbereich“ bei Rothko,32 das Fehlen als eine der wichtigsten Bedeutungskomponenten der Gemälde 33, die Transformation der Landschaft auf dem mit dem Moment verbundenen Gemälde, die auf dem Foto ihrer Zeitlichkeit und Zufälligkeiten beraubt ist 34 und die Erotik der Verwendung der Farben.35 Folgt man den in Esti eingebundenen Kommentaren Szüts’, so überlässt Esterházys Novelle, die auf den nicht nummerierten Seiten von Schuldig so launisch mit den Bildern verflochten ist, aber kein hierarchisches Verhältnis mit ihnen eingeht, die Historizität und die Tatspuren den Bildfolgen,
29 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 124. 30 „An dieser Stelle sollen die Vorbereitungen zur Aquarellmalerei nicht im Detail dargestellt werden, aber das Papier muss auf beiden Seiten feucht sein (damit es von hinten nicht trocknet). Das Papier ist geschöpft – aus was schöpft sich das geschöpfte Papier?“ Esterházy: „Most jut eszembe“, 11. 31 Esterházy: Esti, 190–201. 32 Szüts: Akvarellek, 12. 33 Ebd., 22, 40. 34 Ebd., 14. 35 Ebd., 10–12.
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platziert sie mit ihren inneren Wiederholungen eher in der Zeit des Entsetzens, des Zurückschreckens, der Hilflosigkeit und der Ermittlung, also in der Vorzeitigkeit und der übereifrigen Nachträglichkeit der Tat bzw. des Ereignisses. „Was soll jetzt passieren.“ „Jetzt, da meine armen Sätze nicht wissen, wo es langgeht . . .“36 Die Sprache der erfolgreichen Verschmelzung von Bildern und Text entfernt sich von einem klar definierbaren Verhältnis von Text und Illustration, Bild und Ekphrasis oder Kommentar, aber radikal anders, als wir es bei Péter Nádas’ Bildband Der eigene Tod erleben. Nádas’ Buch verwendet den Märchenkern als Elemente der Wende und der Verblüffung, indem er neue, alternative Narrative für das Aufeinanderfolgen der Bilder anbietet: „Wie der alte Geizkragen im Märchen, mein liebes Kind, stöhnt er mit dem letzten Atemzug, weil er noch ein großes Geheimnis loswerden will. // Den großen Topf mit dem geraubten Gold habe ich drei Schritte vom großen Wildbirnenbaum vergraben.“37 Das von Esterházy als Bilderbuch bezeichnete Schuldig beginnt mit der typischen Eröffnungsphrase von Märchen und anders, als sein Kommentar suggeriert, ist es diese Gattung, die das Verhältnis von Text und Bildern bestimmen soll: „Es ist schwierig, ein Märchen zu erzählen und nicht zu kommentieren. Es fällt schwer, keine Fußnoten anzufertigen.“38 Nach den Apostrophen im Text wird der Leser ähnlich wie die Geschworenen zum Zuhörer, der wie ein begeistertes Kind versucht, die Verbindung zwischen Märchen und Bildern zu entschlüsseln, und dabei die launischen Selbstkorrekturen und Wenden der Erzählführung akzeptiert. Esterházys Kurzprosa zerschreibt natürlich nicht nur die gattungsspezifischen Merkmale des Märchens, sondern auch die der Kriminalgeschichte. So wird auf einen Teil der Täter in der Geschichte mithilfe eines Sammelbegriffs verwiesen (Galeri), die Abkürzung A. vertritt zwei Figuren entgegengesetzten Geschlechts, deren Beziehung zum Bauchspeicheldrüsenkrebs und zum Erzähler – ähnlich wie zum beseitigten Pinselstrich – unergründlich bleibt, aber im Text entscheidend ist. Die Ungeklärtheit des Verhältnisses von Erzähler und Figuren, die Unbenennbarkeit der Tat, der durch die Bilder geschaffene, abstrakte Raum, in dem Nah und Fern, Oben und Unten als radikal anders und dynamisch behauptet werden, und die Anwesenheit des Persönlichen ohne das Ich („Ein Mord ist immer persönlich.“) dringen auf die Schaffung einer neuen Sprache: „Man weiß nicht, was auf den Bildern zu sehen ist. Aber irgendetwas passiert. Die Bilder wissen, wo es langgeht. Als könnte man
36 Esterházy und Szüts: A bűnös [7, 9] (übersetzt von LP). 37 Nádas: Der eigene Tod, 191–193. 38 Esterházy und Szüts: A bűnös, [1.]
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die Verben nicht konjugieren. Als ob man eine Feder an Balassis Schwanz anbinden würde, und die Bewegungen der Feder wären das Schreiben.“39 Eine Möglichkeit, die Bilder und die Krankheit zu lesen, die auch in Schuldig angeboten wird, besteht in der Personifikation der sich auf dem Aquarellpapier abzeichnenden Formen, die die Geschichte von den im Buch immer wieder die Herrschaft übernehmenden, zögerlichen Kommentaren hin zu Bedeutungszuweisung und Benennung der Figuren und Verantwortlichen und zugleich ins Register des Humors verschiebt, was sich von den vorherrschenden zögerlichen Kommentaren zum Buch abheben würde und sich eher in Richtung einer Bedeutungszuordnung, Benennung von Figuren und Verantwortlichen bewegen würde und die Geschichte dennoch im Register Humor verorten ließe. Diese provisorischen Momente des Anekdotisierens werden im Laufe des Textes einer nach dem anderen von Fragereihen oder Formen der Stille abgelöst, die zum Beispiel durch das Foto eines leeren Aquarellbogens betont wird. Es kann aber auch sein, dass die Aneinanderreihung der Bilder den inneren Rhythmus des Textes diktiert. Diese Unentscheidbarkeit demonstriert den sich ändernden Zustand und das Korrelationssystem von Körper/Bewusstsein/Schöpferkraft gut. Wessen Geschichte ist das schwarze, schmutzige Rinnen, das notwendig gewordene zufällige Spritzen? Wessen Geschichte ist der Mord? Die des Toten oder die des Mörders? Oder die des Mordes? Bei einem konsequenten Erzähler wäre eine Liebesgeschichte die Stille an sich, Stille, tiefes Schweigen. Doch wessen Stille. Das ist schwer zu sagen.40
Schuldig konstatiert und realisiert in einer von Humor getränkten Sprache jene sprachlichen Bemühungen, die auch im Text des Bauchspeicheldrüsentagebuchs zu finden sind. Der Erzähler betrachtet die natürliche, über eine referentiell verortbare Individualität hinausgehende Schaffensweise des Farbtagebuchs: Ich glaube, etwas nicht Zufälliges in den Bildern zu sehen, und etwas unerwartet Unpersönliches. Das ist selten, und im genannten Künstler stecken vielerlei Eitelkeiten, doch sprechen diese Bilder nicht von ihm, oder wenn doch, dann nicht von seinem Talent. Sie tun, als sprössen sie auf natürliche Weise – ja, aus der europäischen Kultur hervor.41
Schon der zweite, mit Datum versehene Textabschnitt weist darauf hin, dass im Bauchspeicheldrüsentagebuch der Ebene der Ungeschicklichkeit und der Unkontrolliertheit eine besondere bedeutungsbildende Kraft zukommt. All das lässt sich in den Gliedsätzen lesen, die einen komplexen mit Klammern unterbrochenen
39 Ebd. 40 Ebd. (3) übersetzt von LP. 41 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 124.
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Satz korrigieren und die Kontrolle über eine frühere aus der Esterházy-Prosa und aus Interviews gut bekannte Aussage ausüben: Der Text ist ein Text ist ein Text, einerlei, ob es sich um ein persönliches Bekenntnis, um einen Bericht handelt, es existiert als Text und kann als Text zur Kenntnis genommen werden; so sinnierte ich: Das ist nicht ganz richtig, manchmal können hinter oder unter einer unbeholfenen (amateurhaften) oder einer nicht mehr kontrollierten (Todesnähe) Formulierung wichtige Botschaften stecken, über das Leben und über die Leben, über Endlichkeiten und Unendlichkeiten.42
Gerade die scheinbar fehlende Überarbeitung, die Unbeherrschbarkeit des wuchernden Textes scheint seine Vielschichtigkeit zu ermöglichen und hervorzuheben und eine Bedeutungsebene aufzudecken, die in der zitierten Szene aus dem Bauchspeicheldrüsentagebuch zufällig stumm bleibt, weil Gitta, die potentielle Zuhörerin des vorzulesenden Auszugs, schläft. „Wie es im Ungarischen scherzhaft heißt: Der Eifer hat sie übermannt.“43 Die Figur der Personifikation, die den Text vom Bauchspeicheldrüsentagebuch an zahlreichen Stellen unerwartet zurechtzurrt, gibt dieser Szene wieder eine metanarrative Funktionsweise. Es ist also die eifrige Arbeit am Schreiben, die die hinter und unter der Formulierung versteckten Botschaften erstickt und unterdrückt. In ihrem Werk Krankheit als Metapher, das auch im Bauchspeicheldrüsentagebuch erwähnt wird, untersucht Susan Sontag die stigmatisierende Metaphorisierung der Alltagssprache, die stark, ja in vielerlei Hinsicht untrennbar mit der literarischen Sprache verbunden ist. Sie vergleicht dabei die sprachlichen Bilderwelten von Tuberkulose und Krebs. Sontag zeigt und betont, dass die Bildkraft der stigmatisierenden Ausdrücke historischen Veränderungen unterliegt und die Metaphern bspw. ausgetauscht werden, wenn die Krankheit heilbar wird. Während bei der meist schnell verlaufenden Tuberkulose Tropen der Zeit vorherrschen, überwiegen bei der Verdeutlichung der Unbeherrschbarkeit und Fatalität der Krebserkrankung Tropen des Raumes.44 Einat Avrahami weist darauf hin, dass der Anspruch und der Versuch, das Todeserlebnis zu normalisieren, auch bei Brodkey nicht frei von der repressiven, stigmatisierenden Metaphorik des öffentlichen Diskurses über AIDS bleibt.45 Auch in der Metaphorisierung von Schuldig und Bauchspeicheldrüsentagebuch erkennen wir diese Machtstrategien, die Stigmatisierung und die Vorgänge einer ausgrenzenden Bezeichnung, die sich
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Ebd., 10. Ebd. Sontag: Krankheit als Metapher, 17–18. Avrahami: „Impact of Truth(s)“, 167.
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um die als allgemeine Subjekte dargestellten Figuren A. und A. aus Schuldig verdichten. Die Eintönigkeit der Tagebuchform, häufige interne Wiederholungen, die Aufzeichnung der immer ähnlich ablaufenden, ereignislosen Tage schaffen in Esterházys Text eine eigenartige Funktionsweise der Zeit. Die Zeitstruktur des Textes ist zunächst von quälender Stagnation und Anstauung, später von einem immer beklemmender werdenden Gefühl der Eile charakterisiert. Die schon in Schuldig angewandte erotisierende Personifikation des Bauchspeicheldrüsenkrebses ermöglicht im Text die sprachliche Abstraktion des Vordringens in die unübersichtlichen Innenräume des Körpers und die Veranschaulichung der Verflechtung von Figuren und Verantwortlichen, von Mörder und Opfer, von den Liebenden: Sie machen mich glücklich, säuselt Bauchspeichelchen. So bleiben, telegraphiere ich zurück. Bauchspeichelchen klingt vielleicht besser als das Fräulein. Nein, doch nicht. Bauchi. Bauchspei. Hm. Dazu brauche ich dann auch Sie, Teuerste. Wir werden uns anstellig zeigen. Und sind Sie glücklich? Die will wohl auch alles haben, spricht in mir der fußballerische Weiberheld, der ich niemals geworden bin. Kratzbürsten müssen Sie wirklich nicht, ich bin ganz Samt und Seide. – Kosmisches Sahnehäubchen.46 Meine liebe Fee oder mein Bauchspeichelchen oder wie du auch immer heißen magst, kannst du mir wohl von innen einen blasen? – Dieser Satz beschwört mir im Sinne Freuds, in seinem trivialisierten Sinn, meine Mutter herauf, als sie uns rief und die Namen verwechselte, oder als zeigten diese Sexausbrüche die Vitalität des Körpers. Nicht zeigten, vielmehr damit prahlten. Oder existiert sie eben nur so. Diese Sache sollte beschrieben werden, wie sie aussieht. Sie soll jung sein, so viel an (neueren) Gemeinplätzen kann verkraftet werden. Das ist an sich schon mal gut. Hörst du, Bauchspeichelchen? Du bist – mir – gut. [. . .] [. . .] Ziemlich groß gewachsen, über 170, mit Stilettos heißt das schon etwas. Wie aber faltet sie sich in mich hinein? Wieder ein undurchschaubares geometrisches Problem.47
Der Titel des Bauchspeicheldrüsentagebuchs markiert nicht die Krankheit, sondern das Zentrum der Krankheit im Körper, das am meisten betroffene Organ, das dafür verantwortlich ist, das Bedeutungssystem ständig in Bewegung zu halten, d. h. das den inneren, intimen Raum des Körpers markiert, von dem die destruktiven Vorgänge ihren Lauf nehmen. Anders als in autobiografisch angelegten Texten gerät ins Zentrum des Textes der abstrakte Raum, der für die Modifikation der Körpererfahrung, des Zustandes und der Identität des Erzählers und im Zusammenhang damit für die Destruktion des Textganzen verantwortlich ist. Der amerikanische Arzt und Phänomenologe Drew Leder stellt in seinem Buch
46 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 24. 47 Ebd., 25–26 (Hervorhebungen im Original).
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Absent Body von 1990 zu Recht die Frage, wie es möglich sein kann, wenn wir im Sinne Husserls davon ausgehen, dass alle anthropologische Erfahrung in der Körperlichkeit wurzelt und wir den Körper als primäres Medium der Weltwahrnehmung betrachten, dass im Bewusstsein dennoch das Gefühl des abwesenden Körpers überwiegt und wir den Körper als transparentes Medium ansehen.48 In seinem Buch möchte er den Dualismus von Körper und Geist der kontinentalen philosophischen Richtungen überwinden, von dem er meint, dass er auch die Phänomenologie der Körpererfahrung nicht unberührt lässt und der schließlich zu Abwertung und Stigmatisierung des Körpers führt. Seine Analysen fokussieren auf jene Perioden und Prozesse, in denen das Körperbewusstsein übergangsweise gesteigert ist: auf schnellere körperliche Veränderungen (Pubertät, Schwangerschaft), auf körperliche Verletzungen, auf Krankheit, auf Fälle von Behinderung und die Handlungen zum Erwerb neuer Fähigkeiten. Die von mir untersuchten Texte erschaffen die eigenartige Erfahrung der aus den Fugen geratenen Zeit während einer chronischen Erkrankung. Im Bezug zum letzten Abschnitt der zitierten Textstelle lässt sich noch festhalten, dass die Metaphorisierung bzw. Allegorisierung der Krankheit im gesamten Buch als eine Art widerspenstiges Wuchern des Textes präsent ist, wobei die Gedankenstriche einerseits Stellen markieren, in denen die Macht über den Text übernommen wird, und andererseits das ohnmächtige Stocken. In der psychiatrischen Beschreibung chronischer somatischer Krankheiten sind seit Jahrzehnten Charakteristika der Traumatisierung präsent. Das zwiespältige Verhältnis zur Krankheit äußert sich sprachlich in der Konstatierung ihrer Unerzählbarkeit und im zwanghaften Paraphrasieren bzw. in einem Schwanken zwischen diesen Polen, wie es auch in Esterházys Text feststellbar ist.49 Für die somatische Krankheit als Trauma ist charakteristisch, dass sie nicht in einem einmaligen Erlebnis besteht und auch nicht in einer Wiederholung desselben Erlebnisses über eine lange Zeit, sondern dass sie sich als eine Reihe zahlreicher traumatischer Erlebnisse realisiert, die wir auch im Bauchspeicheldrüsentagebuch aufspüren können: – das Erleben der Diagnose (unter Umständen verschlimmert durch die bedrohlichen Zuschreibungen der Krankheit wie unheilbar, „tödlich“) – die Schwierigkeiten, die mit der Behandlung und den neuen Rollen einhergehenden Veränderungen anzunehmen – die Verletzung des Körperbildes aufgrund von Erfahrungen bei der Behandlung – Stigmatisierung in der Gesellschaft und im unmittelbaren sozialen Umfeld
48 Leder: The Absent Body, 69. 49 Rigó und Zsigmond: „A szomatikus betegség“, 291.
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– drohender erneuter Krankheitsausbruch und drohende Verschlimmerung der Symptome – das Erleben von Ausgeliefertsein, Ohnmacht und Kontrollverlust (in Bezug auf die Symptome und die Behandlung) – die Bedrohtheit des Selbstbildes: das Vertrauen der Person in die Welt, in sich selbst wird erschüttert (zum Beispiel in Bezug auf Gesundheit, Unverletzbarkeit, Unsterblichkeit) Ähnlich wie im Text von Verbesserte Ausgabe führt die Thematisierung der Traumaerfahrung zu einem „ärgerlichen Zwang zum Realismus“. Auch das Bauchspeicheldrüsentagebuch ist voll von archivierenden Beschreibungen und einer Narration ohne jegliche storyhafte Elemente. „Ich möchte die Dinge nicht verrücken, sondern nur beschreiben.“50 Auch die Operationen der Wiederlektüre und des Wiederschreibens im Spielfeld von Harmonia und Verbesserte Ausgabe (VA) beruhen auf dem Realitätsprinzip, wenn der Erzähler der VA in dem früheren Roman Aussagen entdeckt, die zum veränderten Vaterbild passen, und wenn er erkennt, wie sich die Bedeutung bestimmter Details verändert.51 Beim Abschreiben der Agentenberichte erzeugt und betätigt die Gleichzeitigkeit von Glaubwürdigkeit und Konfabulation eine Parallele zwischen dem Autor-Erzähler und dem Agenten, auf die auch das Bauchspeicheldrüsentagebuch Anspruch erhebt. Natürlich geht es auch in diesem Text um ein eigenartiges Schwanken, um die Wippe von fiktiv und nicht-fiktiv.52 Es ist ein Text, der gleichzeitig die charakteristischen Gattungsmerkmale von Selbstportrait, Werktagebuch und Bekenntnis zeigt und der mit den Operationen des Dokumentierens und Dosierens verdeckt, über was er schweigen will, weil er nicht reden kann. Laut der Studie von Enric Sumalla, Christian Ochoa und Ignacio Blanco53 konzentriert sich die Trauma-Aufarbeitung nicht auf vergangene Ereignisse, die Bewältigung projiziert vielmehr eine zukünftige und kontinuierliche Integration voraus.54 Die Literatur, die sich mit dem Trauma von somatischen Krankheiten beschäftigt, konzentrierte sich zunächst auf die pathologischen Merkmale, doch vor allem im letzten Jahrzehnt ist auch die Beschreibung eines möglichen Wachstums, einer Entwicklung aufgetaucht. Die PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) und das PTW (Posttraumatische Wachstum) galten früher als Ex-
50 Esterházy: Verbesserte Ausgabe, 33. 51 Hierzu: Angyalosi: „A kritikus őszintesége“, 173. 52 Ebd., 189. 53 Sumalla, Ochoa und Blanco: „Posttraumatic growth“. 54 Rigó und Zsigmond: „A szomatikus betegség“, 302.
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treme aller Reaktionen, die auf außerordentlichen Stress gegeben werden, später wurde immer mehr darüber publiziert, dass beide auch gleichzeitig auftreten können bzw. einander bedingen.55 Am Morgen haben sie mir Blut abgenommen, ich muss das Ergebnis abwarten. Hierzu (zu diesem Satz) fällt mir ein: Ich muss mich trauen, monoton, langweilig zu sein. Ob die aufeinandergeschobenen Lagen von Langeweile etwas anderes ergeben? Etwas Fatales? Das unaufhaltsame Ende, das sich aus diesen kleinen, unbedeutenden Stücken zusammenfügen würde, Blutabnahme, die Peristaltik verlangsamende Medikamente, Krankenhausgeruch, Warterei, Gereiztheit, Müdigkeit, Lustlosigkeit, Schrille und Venen?56 Nichts Besonderes machen, das Vergehen der (meiner) Zeit zeigen, und das wird es schon tun. Oder müsste ich schlussendlich extra noch etwas verstehen? Etwas wie auch immer, etwas Bedeutendes, etwas Wesentliches? Also das . . . würde mich überraschen.57
Diese und ähnliche Textabschnitte stimmen die Aufmerksamkeit des Lesers um, fokussieren sie, lassen sie ausruhen. Sie laden zu einem gemächlichen Verweilen beim Text ein und machen aus dem Blick des Außenstehenden den eines geduldigen, flexiblen Besuchers. Dies sind die wichtigsten Momente der Umkonditionierung des Lesers in den Bänden: die Hemmung, Verunsicherung des Automatismus der Sinngebung, die Erschließung neuer Bedeutungsebenen, das Gefühl, dem Text ausgeliefert zu sein, und der Ohnmacht, die Fokussierung der Aufmerksamkeit, die mögliche Mehrdeutigkeit der Texte. In Esterházys Text liegt die Betonung durch den in Folge der Krankheit veränderten Körper- und Bewusstseinszustand und durch die Verunsicherung der Bezugsrahmen der Identität auf den Eigenheiten der Abhängigkeitssituation. In beiden Büchern taucht die Krankheit als Seinsmetapher auf, als Situation des Ausgeliefertseins, auf sich selbst Angewiesenseins, die untrennbar mit dem Prozess des Schreibens verbunden ist. Der Erzähler befragt mit einer durch Schmerz und schlechtes Allgemeinbefinden geschärften Wahrnehmung dieses sprachlich schwer vermittelbare, mehr als einmal stumm bleibende, intensive Seinserlebnis, das man nicht zu einem Narrativ anordnen kann. Abschließend möchte ich nochmal zusammenfassen, welche sieben thematischen Besonderheiten für die Struktur und narrative Funktionsweise von Bauchspeicheldrüsentagebuch und This Wild Darkness maßgeblich sind: (1.) Die Texte arbeiten mit einer komplexen Zeitstruktur: Der von der Tagebuchgattung vorgegebene Anschein von Linearität paart sich und kollidiert mit der Unbeweglichkeit bzw. Außerzeitlichkeit des ritualisierten, überregulierten Seins im Krankenhaus. Laut Zoltán Z. Várgas ausgezeichnetem Aufsatz wird diese Doppelheit in Esterházys Text durch die existenzielle Dichte der Krisenzeit und die Spannung der Alltäg-
55 Ebd., 304. 56 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 16–17. 57 Ebd., 30.
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lichkeit hervorgebracht und definiert. Die traumatische, aus den Fugen geratene Zeit wird also mit Hilfe der Zeit des Tagebuchs strukturierbar.58 (2.) Der Erzähler gerät immer mehr in eine Situation der Abhängigkeit, im sterilen Raum verliert er seine Selbstbestimmung. Bei der Repräsentation des kranken Körpers lässt sich beobachten, dass der Körper in Folge der unlenkbaren, unbeherrschbaren somatischen Prozesse aus seinen früheren Umrissen heraustritt und für den Text schwer zu artikulieren ist. Der von Personifizierungen, Reihen von Metaphern gekennzeichnete ärztliche Blick hingegen durchleuchtet den Körper, beherrscht ihn stellenweise durch seine Bezeichnungen. Der kollektive Sprachgebrauch stigmatisiert den Körper. Die Diagnose entfaltet sich in diesen Texten nicht als Ereignis, sondern als Prozess. Der kranke Körper entsteht im Text als Produkt der eigenen, verstärkten Gefühle, im Laufe der Beschreibung der Prozesse, doch seine Grenzen werden trotzdem regelmäßig verletzt. (3.) Im Netz der intimen Räume schafft der Text mit einer speziellen Technik der Perspektive, die durch die Reglosigkeit und Ortsgebundenheit des Erzählers ermöglicht wird, eine eigene abstrakte Raumstruktur. (4.) Die Darstellung des kranken Körpers gerät in ein Spiegelsystem, welches sich im Netz der Körperdarstellungen der anderen Patienten, Besucher und Angehörigen artikuliert. (5.) Die in den Texten beleuchteten Gemeinschaftsräume, die öffentlichen Räume kontrastieren mit den intimen Räumen der Konfrontation und ermöglichen somit eine intensive Interaktion des Erzählers mit den nahen Angehörigen und den Besuchern. (6.) Die Identität des Erzählers wird im Laufe des Textes graduell verunsichert, die divergenten narrativen Vorgänge seiner Selbstbestimmung werden seltener und der Schmerz und der Krankheitszustand treten als bestimmendes Identifikationselement auf. Der autofiktionale Charakter des Textes zeigt sich in der Doppelheit des biografischen Autors und des als fiktiv gelesenen Erzählers des Textes. (7.) Im Zustand der chronischen Krankheit gerät der Erzähler in die Klemme, seine Selbstbestimmung ist stark beschnitten und dadurch kommt der Unbeweglichkeit, der Entwurfhaftigkeit, den elliptischen Strukturen und der Fragmentierung eine immer größere Rolle in der Struktur des gesamten Textes zu.59 „Ich spreche nicht; ich schweige auch nicht: Das ist auch nicht dasselbe.“60 _ Das Vorwort der Hilfsverben des Herzens verortet die Äußerungen über die Trauer, das Sterben und den Tod im Zwischenraum einer langweilenden Sprache ohne Gegenstand und dem Schweigen, als Produkt einer Erinnerungs- und Begriffsma-
58 Z. Varga: „Időszivárgás és ólomszív“, 952. 59 Hierzu: Deshazer: Fractured Borders, 173. 60 Esterházy: Die Hilfsverben des Herzens, 7.
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schine. Die bedeutenden Momente des Trauerprozesses stehen in Verbindung mit einer plötzlich eintretenden, zum Innehalten zwingenden Stille.61 Im Text wird immer wieder darüber reflektiert, dass die in der täglichen Routine, in der vertrauten Kommunikation, entstehenden Pausen als Fehler interpretiert werden können, die die anwendbaren Formen und mithin das ganze System bedrohen.62 Die Angst vor dem Nichtsein, dem Fehlen, wird im Text, einmal ausgesprochen, sofort zum Verschwiegenwerden verurteilt, die Struktur des Romans verträgt die Tragik kaum: „[. . .] wie sollte man auch Angst haben vor etwas, das ist, ist denn nicht um vielfaches schrecklicher das, was nicht ist, das Nichts, was ist, das ist, was nicht ist, pst, pst, schweig du dummer, garstiger Junge, schweig.“63 Der Schlusssatz der Hilfsverben des Herzens („SPÄTER WERDE ICH ÜBER DAS ALLES GENAUERES SCHREIBEN.“) stellt eine intensive Verbindung zwischen dem zweiten Teil des Romans und dem Bauchspeicheldrüsentagebuch her. Die schon zuvor erwähnten textuellen Operationen der Verzögerung, die Esterházys Prosa durchweben, sind im Bauchspeicheldrüsentagebuch nicht auf thematische Markierungen beschränkt. Im Tagebuch häufen sich aus einigen kurzen Nebensätzen bestehende Sätze und ihre plötzliche Unterbrechung durch von Gedankenstrichen markierte Auslassungen, jähe Verkürzungen von Gliedsätzen oder einfach durch unvollständige Sätze. Die Mehrzahl dieser Sätze wird nicht ergänzt, verwandelt sich auch im Laufe des Textes nicht in Material, sodass der Leser nicht nur aufgeschobene, sondern unterbrochene Sätze, Wörter und damit die wiederholte Unterbrechung der Arbeit am Text wahrnimmt. Bei der Versprachlichung von Krankheitszustand und Sterbeprozess verwendet der Roman Der eigene Tod von Péter Nádas eine extreme Gliederung des Textes, um das Lesetempo und die entgleiste Zeiterfahrung zu verdeutlichen: Oft steht auf einer Seite nur ein einziger Satz. Die Verlangsamung des Textes von Bauchspeicheldrüsentagebuch ist durch Zeilenauslassungen markiert, die im Verlauf des Textes zu einer immer häufigeren Erscheinung werden. Der Gedankenstrich, der im Tagebuch häufig die Reflexionen des Erzählers einleitet, wird als Pausenzeichen, als Marker von Bruch, Leere und Stille zu einem
61 Zum Beispiel: „Wir platzten vor Lachen, als plötzlich von außen Stille über uns hereinbrach. Gott versetzt mit seinem rauhen Finger unseren Herzen einen Schlag. Wir hielten inne.“ Ebd., 16 (Hervorhebungen im Original). 62 Zum Beispiel: „Hin und wieder hatte ich eben ‚Zustände‘: die tagtäglichen Vorstellungen, ohnedies nur die zum zigsten Mal hergeleierten Wiederholungen jahre- und jahrzehntelanger Anfangsvorstellungen, wichen plötzlich auseinander, und das Bewußtsein schmerzte, so leer war es darin auf einmal geworden . . .“ (8); „Ich konnte an nichts denken, nur daran, daß diese Hilflosigkeit ein Fehler sei, der nicht passieren dürfte.“ (Ebd., 21) (Hervorhebungen im Original). 63 Ebd., 50.
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Mária Bartal
Rhythmuszeichen. Die Dynamik des Textes verändert sich im Laufe des Buches graduell zu einer rhythmischen Pause.64
Literatur Angyalosi, Gergely. „A kritikus őszintesége“ [Die Aufrichtigkeit des Kritikers]. Másodfokon. Írások Esterházy Péter Harmonia caelestis és Javított kiadás című műveiről. Hg. Gábor Böhm. Budapest: Kijárat, 2003. 155–178. Atkinson, Paul. „Illness Narratives Revisited. The Failure of Narrative Reductionism“. Sociological Research Online (2009). http://www.socresonline.org.uk/14/5/16.html (14. Mai 2020). Avrahami, Einat. „Impacts of Truth(s). The Confessional Mode in Harold Brodkey’s Illness Autobiography“ Literature and Medicine 22.2 (2003). 164–187. Avrahami, Einat. The Invading Body. Reading Illness Autobiographies. Charlottesville: University of Virginia Press, 2007. Bényei, Tamás. Rejtélyes rend. A krimi, a metafizika és a posztmodern [Geheimnisvolle Ordnung. Der Krimi, die Metaphysik und die Postmoderne]. Budapest: Akadémiai, 2000. Brodkey, Harold. Die Geschichte meines Todes. Deutsch von Angela Praesent. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1996. Brodkey, Harold. This Wild Darkness. The Story of My Death. London: Fourth Estate, 1996. Brodkey, Harold. This Wild Darkness. The Story of My Death. New York: Metropolitan Books, 1996. Charon, Rita. „The Novelization of the Body, or, How Medicine and Medicine and Stories Need One Another“. Narrative 19.1 (2011). 33–50. Couser, G. Thomas. „Autopathography. Women, Illness, and Lifewriting“. On the Literary Nonfiction of Nancy Mairs. A Critical Anthology. Hg. Merri Lisa Johnson und Susannah B. Mintz. New York: Palgrave Macmillan, 2011, 133–144. Couser, G. Thomas. Recovering Bodies. Illness, Disability and Life Writing. Madison: University of Wisconsin Press, 1997. Deshazer, Mary K. Fractured Borders. Reading Women’s Cancer Literature. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2005. Diedrich, Lisa. Treatments. Language, Politics, and the Culture of Illness. Minneapolis/ London: University of Minnesota Press, 2007. Esterházy, Péter und Miklós Szüts. A bűnös [Schuldig]. Budapest: Magvető, 2015. Esterházy, Péter. „Most jut eszembe, mégis van művészet“ [Jetzt fällt es mir ein, es gibt doch Kunst]. Szütch & Vojnich. Hg. Lajos Parti Nagy. Budapest: Scolar, 2008. 11. Esterházy, Péter. Bauchspeicheldrüsentagebuch. Deutsch von György Buda. Berlin: Hanser, 2017. Esterházy, Péter. Die Hilfsverben des Herzens. Deutsch von Zsuzsanna Gahse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004. Esterházy, Péter. Esti. Deutsch von Heike Flemming. Berlin: Hanser, 2013.
64 Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch, 225.
Die Darstellung von Krankheit in Péter Esterházys Werken
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Esterházy, Péter. Verbesserte Ausgabe. Deutsch von Hans Skirecki. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2003. Frank, Arthur. The Wounded Storyteller. Body, Illness, and Ethics. Chicago: The University of Chicago Press, 1995. Gygax, Franziska. „On Being Ill (in Britain and the US). Illness Narratives of the Self“. The European Journal of Life Writing 2 (2013), 1–17. Leder, Drew. The Absent Body. Chicago: Chicago UP, 1990. Mattingly, Cheryl und Linda C. Garro (Hg.). Narrative and Cultural Construction of Illness and Healing. Berkeley: University of California Press, 2000. Nádas, Péter. Der eigene Tod. Göttingen: Steidl, 2002. Rigó, Adrien und Orsolya Zsigmond. „A szomatikus betegség, mint trauma“ [Die somatische Krankheit als Trauma]. Gyász, krízis, trauma és a megküzdés lélektana. Hg. Enikő Csilla Kiss und Hajnalka Sz. Makó. Pécs: Pro Pannonia, 2005. 291–312. Sontag, Susan. Krankheit als Metapher. Deutsch von Karin Kersten und Caroline Neubaur. Frankfurt a.M.: Fischer, 1981. Stacey, Jackie. Teratologies. A Cultural Study of Cancer. London/New York: Routledge, 1997. Sumalla, Enric C., Cristian Ochoa und Ignacio Blanco. „Posttraumatic growth in cancer: Reality or Illusion?“ Clinical Psychology Review 29 (2009). 24–33. Szüts, Miklós. Akvarellek / Watercolours 2009–2013. Übersetzt von Katalin Orbán et al. Budapest: Magvető, 2013. Woolf, Virginia. „On Being Ill“. The Moment and Other Essays. New York: Harcourt, 1948. 14–24. Z. Varga, Zoltán. „Időszivárgás és ólomszív. Esterházy Péter: Hasnyálmirigynapló“ [Zeitsickern und bleiernes Herz. Péter Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch]. Jelenkor 59.9 (2016). 951–957.
Über die Autor*innen Ágnes Balajthy, Dr. phil. (1987) ist Universitätsoberassistentin am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Debrecen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der ungarischen Prosa des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart sowie der ungarischen und britischen Reiseliteratur. Ihr erstes Buch „Egy eredendő Máshol“: Az utazás művészete a közelmúlt magyar irodalmában [„Ein originäres Anderswo“: Die Kunst der Reise in der ungarischen Literatur der nahen Vergangenheit] erschien 2019. Mária Bartal is an Associate Professor in Twentieth-Century and Contemporary Hungarian Literature at Eötvös Loránd University. Her research interests and publications span the fields of translation studies, genre theory, mythological literary criticism, illness in contemporary writing, disability theory, aesthetics of violence, the interactions between literature and fine arts. She is the author of Áthangzások: Weöres Sándor mítoszpoétikája (The Poetics of Myth in the Texts of Sándor Weöres, Kalligram, 2014) and a co-editor of „tánc volnék, mely önmagát lejti”. Tanulmányok Weöres Sándorról (Studies on Sándor Weöres, 2014). She is completing a book that focuses on the representation of humiliated, tortured or sick human body and corporeal transgressions in contemporary Hungarian literature. László Bengi is an Associate Professor at the Department of Comparative Literature and Cultural Studies, Eötvös Loránd University (ELTE), Budapest. He received his PhD and Habilitation in literary and cultural studies from ELTE and he also holds an MSc in chemistry from the same university. His research focuses primarily on modern fiction and its interaction with natural sciences since the end of the 19th century. He has published three books in Hungarian on 20th-century Hungarian literature, alongside one on publishing practices of Hungarian writers in the first half of the 20th century. His most recent publication in English (“Calculation as a cultural practice in modern literature”) appeared in the Neohelicon in 2019. Bónus Tibor, PD Dr., (1972) Dozent am Lehrstuhl für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte sind ungarische und französische Literatur des 20. Jahrhunderts, Literaturtheorie und Kulturwissenschaft bzw. die französische Literatur des 17. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: A másik titok (Kosztolányi Dezső: Édes Anna) [Das andere Geheimnis (Dezső Kosztolányi: Anna Édes)], Budapest 2017. Heike Flemming, 1982 bei Dresden geboren, lebt als Übersetzerin, u.a. von Péter Esterházy, Szilárd Borbély und László Krasznahorkai, in Berlin. Fodor Péter, geb. 1976, ist Dozent am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Debrecen. Sein wichtigster Forschungsschwerpunkt sind die Geschichte der modernen Prosa und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf den Sport. Neuste Publikation: (zusammen mit Péter L. Varga: Az eltűnés könyvei. Bret Easton Ellis [Bücher des Verschwindens. Bret Easton Ellis], Budapest 2012.
https://doi.org/10.1515/9783110618082-023
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Über die Autor*innen
Zsuzsanna Gahse, österreichisch-deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Übersetzerin, geb. 1946 in Budapest, lebt in Müllheim (Schweiz). Etwa 30 Buchpublikationen. Zuletzt erschienen: Schon bald, Wien 2010, und Andererseits, Wien 2020. 2019 erhielt sie den „Grand Prix Literatur“ des Schweizer Kulturamtes. Hajnalka Halász (PhD, Dr.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Ungarische Literatur und Kultur des Institutes für Slawistik und Hungarologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Sprachtheorien des 19. und 20. Jahrhunderts; Hermeneutik, Dekonstruktion, Medialität der Sprache. Ihre Dissertation behandelte philosophische Ansätze, die von der Untrennbarkeit von Denken und Sprache ausgehen und sie als eine Art von Differenz beschreiben: Differenzen des Sprachdenkens: Jakobson, Luhmann, Humboldt, Gadamer und Heidegger. Transcript, 2017. Zusammen mit Csongor Lőrincz war sie Herausgeberin des Sammelbandes Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen. Transcript, 2019. Ágnes Hansági lehrt klassische ungarische Literatur am Lehrstuhl für Ungarische Literatur der Universität Szeged. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Feuilletonromans, Serialität in der Literatur, Kanonisation. Wichtigere Publikationen: Tárca – regény – nyilvánosság. Jókai Mór és a magyar tárcaregény kezdetei [Feuilleton-Roman-Öffentlichkeit. Maurus Jókai und die Anfänge des ungarischen Feuilletonromans] (Budapest, 2014); „Abbauende Medien – expansive Archive: die Öffentlichkeit der Literatur. Zsigmond Móricz und der Feuilletonroman in den 1930er Jahren“, in Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, hg. Zoltán Kulcsár-Szabó / Csongor Lőrincz (Bielefeld, 2014); „Romanphilologie ist Buchphilologie?“, in Kulturtechnik Philologie, hg. von P. Kelemen et al. (Heidelberg 2011). Ernő Kulcsár Szabó, Prof. Dr., Professor am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest, ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Mitautor und Herausgeber der Geschichte der ungarischen Literatur (de Gruyter, 2013) und der literaturwissenschaftlichen Vierteljahrsschrift Irodalomtörténet [Literaturgeschichte]. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Medialität der Literatur in der Moderne, literarische Hermeneutik, Kulturwissenschaft, Theorie der Literatur. Letzte Publikation: Költészet és korszakküszöb [Dichtung und Epochenschwelle, Budapest 2018]. Péter L. Varga ist Literaturhistoriker und Kulturforscher, Assistent am Lehrstuhl für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest und Herausgeber des literatur- und kulturwissenschaftlichen Periodikums Prae. Csongor Lőrincz, Prof. Dr., ist Leiter des Fachgebiets Ungarische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitautor der Geschichte der ungarischen Literatur (hrsg. von Ernő Kulcsár Szabó, de Gruyter, 2013). Letzte Publikationen: Zeugnisgaben der Literatur. Zeugenschaft und Fiktion als sprachliche Ereignisse (Bielefeld 2016). Herausgegeben zusammen mit Hajnalka Halász: Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen. (Bielefeld 2019) Danijela Lugarić Vukas is Assistant Professor at Faculty of Humanities and Social Sciences, University of Zagreb, and the Director of the Institute of Literary Studies, where she edits Biblioteka L monographs in literary criticism. Her research interests include the history of
Über die Autor*innen
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Russian literature and film, comparative literature, female prose writers, the culture of late Soviet socialism between myth and trauma, and Russian critical theory. Her recent publications include: “M. Bakhtin: The Theory of the Novel” (Edicije Božičević, transl., 2020; in Croatian), “Journeys to the Otherness: Myth, Class, and Gender in Russian Literature, Film and Popular Culture” (FF press & HSN, 2019; in Croatian); Myth and Its Discontents: Precarious Life of Memory and Trauma in Central and Eastern European Literature (eds., with M. Car and G. T. Molnar, Praesens Verlag, 2017). László Márton, geb. 1959 in Budapest, wo er auch heute noch lebt. Nach dem Studium der Germanistik, Hungarologie und Soziologie arbeitete er kurz als Verlagslektor und ist seitdem freischaffender Schriftsteller und Übersetzer, vorwiegend aus dem Deutschen. Er war Stipendiat der Stiftung Preußische Seehandlung und des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, Siegfried Unseld-Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin und hat zahlreiche ungarische und internationale Preise erhalten. Zuletzt erschienen der Roman Két obeliszk [Zwei Obelisken, Budapest 2018] und seine deutsche Fassung Die Überwindlichen (Ottensheim 2018) sowie die Übersetzung A Nibelung-ének (Das Nibelungenlied; vollständiger Text, aus dem Mittelhochdeutschen; Budapest 2020). Gábor Tamás Molnár is associate professor at Eötvös Loránd University, Budapest, and a lecturer at McDaniel College, Budapest. He is the author of five books in Hungarian as well as the co-editor of two international volumes: Hungarian Perspectives on the Western Canon: Post-Comparative Readings (Cambridge Scholars, 2017) and Myth and Its Discontents / Mythos und Ernüchterung (Praesens, Vienna, 2017). His research interest include: theory of interpretation, narrative theory, and the pedagogy of literature. Gábor Palkó (Ph.D. habil), Associate Professor at Eötvös Loránd University, senior researcher of the Institute for Literary Studies. He defended his doctoral dissertation in 2002, which was published in 2007 under the title Esterházy-kontextusok. Közelítések Esterházy Péter prózájához [Esterházy-contexts. Approaches to Péter Esterházy’s prose] published online in 2017 by the Digital Literary Academy (www.dia.hu). His wider field of interest includes digital philology and cultural heritage, theories of the archives, Niklas Luhmann’s media and art theory and 20th-century Hungarian literary history. He is the Editor-in-Chief of the International Journal of Digital Humanities published by Springer. Robert Smid (1986) is a researcher in literary and cultural studies as a member of the Association for General Studies of Literature Research Group. His first book entitled “Paper Machines of Sigmund Freud and Jacques Lacan: The Inherent Media-Archaeological Discourse of Psychoanalysis” was published in 2019 and won the Debut Award from the Hungarian Association of Writers in the category of literary and cultural theory. Currently, he is working on his post-doc project which concerns the genealogy of ecological thinking in European modernity. Péter Szirák, Prof. Dr. (1966), Literaturwissenschaftler. Nach dem Studium der Hungarologie an der Universität Debrecen lehrt er seit 1991 ebenda, seit 2014 Professor am Institut für ungarische Literatur und Kultur; Forschungsgebiet: ungarische Literatur im 20. Jahrhundert und an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert, Literatur- und Medientheorie; seit 1993 Redaktionsmitglied, seit 2016 Chefredakteur der Zeitschrift Alföld. Neuste Publikation: Ki említ megérkezést? [Wer redet von Ankommen? Über ungarische Reiseprosa in der Zwischenkriegszeit, 2016].
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Über die Autor*innen
Tolcsvai Nagy Gábor, Prof. Dr. (1953), ist Professor an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest und der Univerzita Konštantína Filozofa v Nitre und ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsgebiet: Kognitive Linguistik im philosophischtheoretischen Rahmen der Hermeneutik, kognitive Grammatik und Semantik, kognitive Beschreibung des Ungarischen, Stilistik, Textologie, Fragen der Sprachlichkeit der Literatur, Sprachpädagogik, Kulturgeschichte der ungarischen Sprache.
Personenverzeichnis Aczel, Richard 203 Adler, Judith 296 Ady, Endre 35, 150, 206, 322 Anderson, Sascha 338, 343, 356, 357 Andrews, Chris 201 Angyalosi, Gergely 416 Arany, János 118, 150, 182, 351 Arany, Zsuzsanna 272 Aristoteles 200 Assmann, Aleida 183–185 Assmann, Jan 236 Atkinson, Paul 405 Avrahami, Einat 405, 413 Babić, Sava 211 Bachtin, Michail 62, 64, 200 Bagi, Zsolt 158 Balajthy, Ágnes 13 Balassa, Péter 228, 232, 238f, 242 Balázs, Géza 97 Banga, Ferenc 110 Bányai, János 337, 350 Bartal, Mária 12 Barth, John 226, 307 Barthelme, Donald 206, 234 Barthes, Roland 51, 354 Bataille, Georges 202 Beckett, Samuel 206, 240f Bellow, Saul 206 Bengi, László 11, 320 Benjamin, Walter 90, 200, 341, 345, 350, 356, 358 Benn, Gottfried 49, 341, 349 Bényei, Tamás 231, 409 Bernard, Anna 209 Bernhard, Thomas 4, 218 Bernstein, Michael André 227 Bethlen, Miklós 23 Birnbaum, Marianna D. 207 Biti, Vladimir 198 Blanco, Ignacio 416 Bloom, Harold 184 Blumenberg, Hans 8 Bodor, Ádám 21, 389 https://doi.org/10.1515/9783110618082-024
Bojtár, Ende B. 203 Bónus, Tibor 10, 12, 64, 78–81, 84, 172 Borbély, Sándor 203 Borges, Jorge Luis 14, 202, 207, 233, 264 Borm, Jan 286, 288 Brodkey, Harold 403, 405–408, 413 Brodsky, Joseph 198, 325 Brom, Jan 286 Bruner, Jérôme 226 Bulgakow, Michail 252 Calvino, Italo 4, 6, 287f, 302f Campbell, Mary Baine 286 Casanova, Pascale 197 Ceaușescu, Nicolae 396 Celan, Paul 200 Cervantes, Miguel de 364 Charon, Rita 405 Cohn, Dorrit 189 Cortazár, Julio 4 Couser, G. Thomas 404f Croce, Benedetto 200 Csáth, Géza 23, 186 Csokonai, Mihály 35, 182, 288 Culler, Jonathan 52, 297–299 Dällenbach, Lucien 231 Daly, Maureen 206 Damrosch, David 197, 209–211 Dante 200 Darvasi, Ferenc 254 de Man, Paul 51, 150, 321, 350 Debeljak, Aleš 207 della Colletta, Cristina 235 Derrida, Jacques 45, 48, 51–53, 71, 87, 100, 112, 169, 210, 241f, 277, 339–342, 344, 354, 358, 360, 362, 365 Deshazer, Mary K. 418 Détári, Lajos 253 Diedrich, Lisa 405 Döblin, Alfred 100, 153 Dobos, István 337, 344, 351f Dugandžija, Mirjana 204
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Personenverzeichnis
Ebach, Jürgen 49 Ebeling, Knut 341, 343 Eco, Umberto 230 Eliot, T.S. 50, 183–185 Emerson, Caryl 198, 210 Epstein, Mikhail 198, 208–210 Ernst, Wolfgang 341 Esterházy, Mátyás 13, 25–27, 53, 190, 227, 229, 241f, 337–340, 344, 347–350, 353–361, 363–366 Esterházy, Móric 26, 227 Etherington, Ben 199–201 Fábri, Zoltán 75 Fehér, Lajos 398 Feifer, Maxime 300 Fejes, Endre 152 Fischer, Holger 343 Flemming, Heike 2, 272 Fludernik, Monika 218 Fodor, Péter 9, 97, 140, 290, 303 Forgács, Tamás 97 Foucault, Michel 342, 345f Frank, Arthur 405 French, Marilyn 406 Freud, Sigmund 347, 414 Funck, Gisa 245 Gadamer, Hans-Georg 8, 92, 140, 187, 323 Gahse, Zsuzsanna 2 Gángó, Gábor 329, 334 Garaczi, László 164, 319 García Márquez, Gabrie l 313f, 316, 318 Gárdonyi, Géza 99, 100, 110, 118 Garro, Linda C. 405 Gass, William 4 Gazdag, Gyula 27 Geertz, Clifford 207 Genette, Gerard 52, 106, 218 Ginzburg, Natalia 206 Gödel, Kurt 226, 233 Gombrowicz, Witold 3f, 175, 206, 218 Greenblatt, Steven 148 Grivel, Charles 288 Großklaus, Götz 291, 294
Gumbrecht, Hans Ulrich 91, 93, 96 Gyarmati, György 342, 356 Gygax, Franziska 405f Gyurcsány, Ferenc 357 Halász, Hajnalka 8 Halliday, M.A.K. 373 Hamburger, Käte 189 Han, Byung-Chul 51 Handke, Peter 4–6, 33, 252 Hansági, Ágnes 6 Hart-Nibbrig, Christiaan L. 49, 60 Határ, Győző 152, 175 Havelock, Eric 238 Heidegger, Martin 37, 46–48, 50, 71f, 154, 319, 322, 356, 366, 372 Heim, Michael Henry 206 Heine, Bernd 379 Heine, Heinrich 297, 327 Heißenbüttel, Helmut 32, 252 Helgesson, Stefan 209 Herder, Johann Gottfried 200 Hites, Sándor 207f Hofmannsthal, Hugo von 60 Horaz 197, 201 Horeni, Michael 245 Howe, Neil 186 Humboldt, Wilhelm von 7, 14, 134 Husserl, Edmund 415 Husvedt, Siri 406 Iser, Wolfgang 92, 111 Jakobson, Roman 200 James, Henry 183–185 Jaspers, Karl 380 Jauß, Hans Robert 6, 169, 186, 301 Jerofejew, Viktor 206 Jókai, Mór 150, 175, 182, 391 Joplin, Janis 102 Joyce, James 3, 11, 139, 148, 206 József, Attila 28, 150, 155, 206, 288f, 293, 307 Jukić, Tatjana 202, 207 Jüngel, Eberhard 364f
Personenverzeichnis
Kádár, János 76–79, 128–131, 136, 248, 312, 313, 316–318, 343, 355, 357f Kafka, Franz 33, 218, 356, 410 Kant, Immanuel 162f Kányádi, Sándor 291 Kardos, György 29 Karinthy, Frigyes 190, 252, 271f, 325 Károlyi, Mihály 398 Kemény, István 319, 326 Kemény, Zsigmond 149 Kende, Péter 343, 345, 357 Kenedi, János 356 Keppler, Angela 340 Keresztury, Tibor 179 Kertész, Imre 5, 21, 170, 228, 274 Kiš, Danilo 197–199, 201–211 Klinsmann, Jürgen 245 Kołakowski, Leszek 206 Kölcsey, Ferenc 288 Konstatinović, Zoran 1, 3 Kornai, János 87 Koselleck, Reinhart 99, 341 Kosztolányi, Dezső 6–8, 14, 20, 21, 23, 25, 33, 50, 53, 57, 60, 71, 150, 162, 174, 186, 218, 257–281, 287, 304, 331, 400, 405 Kosztolányi, Dezsőné 272 Krasznahorkai, László 308, 389 Kraus, Karl 20 Krúdy, Gyula 148f Kulcsár Szabó, Ernő 6, 10, 12, 58, 59, 61, 67, 68, 100, 134, 137, 143, 172, 173, 175, 179, 186, 207, 220, 225, 228, 229, 258–260, 269, 271, 279f, 287, 293, 299, 305, 322, 323, 325, 327, 330, 395 Kulcsár-Szabó, Zoltán 50, 57, 58, 72, 233, 358, 362 Kun, Béla 398 Lafont, Ghislain 385f Lagaay, Alice 47, 50 Laki, János 103 Langacker, Ronald W. 372 Lausberg, Heinrich 98 Lázár, Guy 88 Leder, Drew 414
429
Liebrich, Werner 253f Lipps, Hans 47, 66 Lőrincz, Csongor 48, 71f, 78, 143, 258, 273, 280, 331, 363, 398 Lotman, Juri 210 Luckmann, Thomas 340 Lugarić, Danijela 6, 9 Luhmann, Niklas 87–90, 92, 96, 99, 103, 108, 183 Lukač, Stjepan 211 Lukács, György 200 Magris, Claudio 287 Malewitsch, Kazimir 215 Mándy, Iván 21, 35, 186 Mann, Jolán 211 Mann, Thomas 81–84, 127, 180 Manzoni, Alessandro 235 Márai, Sándor 5, 6, 21, 26, 150, 162, 167, 174, 186, 287, 292 Margócsy, István 186 Márkus, Béla 89 Márton, László 2 Marx, Karl 400 Mattingly, Cheryl 405 Maturana, Humberto R. 183 Mauss, Marcel 204 McCourt, Frank 206 Mendelson, Edward 225, 229 Menyhért, Anna 337, 344, 348, 353, 359 Mészöly, Miklós 21, 35, 59, 102, 107, 126, 151f, 162, 166, 170, 174, 181f, 186 Michel, Willy 286 Mikszáth, Kálmán 21, 63–66, 78–80, 82f, 99, 103, 117–121, 125, 136, 140, 148–150, 160f, 174 Miller, J. Hillis 52 Molnár, Gábor Tamás 6, 9, 171, 302f Mora, Terézia 2, 36, 359 Móricz, Zsigmond 22f, 160 Morris, Pam 205 Mozart, Wolfgang Amadeus 102 Mufti, Amir 200 Müller, Heiner 4 Musil, Robert 33, 149, 218, 329
430
Personenverzeichnis
Nabokov, Vladimir 206 Nádas, Péter 152, 225, 319, 324, 326, 343, 357, 389, 411, 419 Nagy, Imre 316 Németh, Béla G. 293 Neumer, Katalin 187–190 Nietzsche, Friedrich 81, 148, 158, 240, 293, 298 Nyáry, Pál 391–393, 395, 398f, 401 Nyíri, Kristóf 80, 103 Ochoa, Christian 416 Örkény, István 21, 170 Osborn, Peter D. 296 Ottlik, Géza 21, 29, 35, 91, 150f, 162, 169, 174, 186, 215, 217, 389 Palkó, Gábor 10, 12, 54, 56, 66–68, 115, 120 Pannenberg, Wolfhart 364, 384 Parks, Tim 2, 406 Parti Nagy, Lajos 151, 410 Pascal, Blaise 217 Pázmány, Péter 35, 164 Pelewin, Viktor 1 Petőfi, Sándor 150, 206 Picardie, Ruth 406 Pordzik, Ralph 286 Propp, Vladimir 200 Puskás, Ferenc 254 Radnóti, Miklós 207 Radnóti, Sándor 222, 386 Rahner, Karl 374, 382, 384 Rainer, M. János 342, 343, 345–347 Rákosi, Mátyás 36, 110, 125 Ransmayr, Christoph 4, 287, 299, 300, 393f, 399 Reichert, Gábor 398 Révai, József 90 Ricœur, Paul 376 Rigó, Adrien 415f Rinner, Fridrun 1, 3 Robbes-Grillet, Alain 233 Rose, Gillian 406 Rose, Margaret 231 Roth, Philip 206
Sánta, Ferenc 152 Schein, Gábor 319, 326 Schmiele, Corona 49 Scholz, László 313 Schulz, Bruno 207 Seiler, Lutz 1 Selyem, Zsuzsa 230 Sidney, Philip 200 Sieburg, Friedrich 84 Siemes, Christof 245f Skirecki, Hans 337, 352 Smid, Róbert 11, 13, 14 Sollosy, Judith 203, 208, 211 Spitzer, Leo 158 Stacey, Jackie 405 Stadler, Wolfgang 45 Stalin, Iosif Vissarionovič 125, 314f Stein, Gertrude 293 Sterne, Laurence 148f, 175, 394 Strauss, William 186 Sumalla, Enric C. 416 Szabó, Gábor 186 Szabó, Lőrinc 396 Szegedy-Maszák, Mihály 10, 89, 95, 169, 170, 174, 176, 216, 223f, 233, 306f Szirák, Péter 10, 12, 61, 127, 129–131, 135, 234, 238, 258, 274, 286, 324, 337, 363–365 Szőcs, Géza 207 Szüts, Miklós 403, 408–411 Tandori, Dezső 155, 170, 174 Tar, Sándor 344 Tátrai, Szilárd 262, 372 Térey, János 319 Thököly, Imre 392 Thomka, Beáta 98, 229 Thompson, Mark 207 Tisza, István 110 Tisza, Kálmán 74, 125 Tokarczuk, Olga 1 Tolcsvai Nagy, Gábor 12, 13, 14, 393 Tolnai, Ottó 207 Tomasello, Michael 372 Tóth, Krisztina 172 Trabant, Jürgen 158
Personenverzeichnis
Updike, John 206 Urry, John 299 Ušumović, Neven 211 Vaderna, Gábor 228f Vajda, Karl 135 Valdano, Jorge 245 Varela, Francisco J. 183 Varga L., Péter 12f Varga, Zoltán 253, 417 Vas, István 87 Veselovsky, Alexander 200 Vismann, Cornelia 341, 343, 353, 356 Vogts, Berti 253 Vološinov, Valentin 52 Vorgrimler, Herbert 374, 382
431
Waugh, Patricia 230 Weöres, Sándor 35, 150, 151, 156, 364 Wernitzer, Julianna 11, 59, 186, 218, 221, 225 Willemsen, Roger 246 Williams, Raymond 185 Wittgenstein, Ludwig 12, 80, 103, 134, 153, 187–190, 267, 312 Woolf, Virginia 49, 71, 409 Z. Varga, Zoltán 417f Zimbler, Jarad 199–201, 209 Žmegač, Viktor 240f Zrínyi, Miklós 119 Zsadányi, Edit 52 Zsigmond, Orsolya 415f
Sachverzeichnis Abhängigkeit 418 acolyte 53, 60 Adressierungscode 52 Aleatorik, aleatorisch 10, 115–142, 323 Allusion 7, 130 Anagramm, anagrammatisch 10f, 62, 142 Anakoluth 52, 233 Anekdote, anekdotisch 127f, 136, 148, 160, 163, 173 – anekdotische Parabel 133 – Anekdotisieren 412 Anlehnungskontext 87f Anmut 157, 160; siehe auch graziös Anthropologie, anthropologisch 364, 415 – anthropologisches Gleichnis 126 – anthropologische Konstante 355 Anti-Detektivgeschichte 409 Aporie 92, 99, 101f, 109f Aquarelltechnik 403, 409 Arbeit 90, 100, 118 – Arbeitsbedingung 88, 90f – Arbeitsplatz 93, 98f, 112 architextuell 7, 11 Archiv, archivarisch 250, 337–362 – Archivierung 66, 183–185, 340, 346 – Archivierungscode 358 – Archivierungsverfahren 89 – Philologie des Archivs 339 Atmosphäre, atmosphärisch 111f, 166, 173 Aufschreibesysteme 93, 353 Auslassung 51–62, 71, 189, 419 Außerliterarisches 120 Autonomie 21f, 87f Autopathografie 404–406 Autopoiesis 94, 183, 371, 377, 386 – autopoetisches System 92 Autorisierung 351 Autorsubjekt 340, 350 Barock 158f Beliebigkeit, beliebig 25, 268 Berichtsintention 61 Bezeugung, bezeugen 51, 56–59, 138, 175, 333, 347f, 354–362 https://doi.org/10.1515/9783110618082-025
Bifurkation 99 Bricolage 248, 253 Budapest 119, 302–304 Bürokratie, bürokratisch 87 Central-European region 198; see also Mitteleuropa co-being of being 205 Code 340–344 – kommunikativer C. 363 – Codierung 234, 346f commentary 393, 396f; see also Kommentar cultural field 209 Dephraseologisierung 97 Desubjektivierung, desubjektiviert 338, 353 dialogism 205 Differenzierung 89, 92 – funktionale Differenzierung 87 Diktatur 87–90, 312, 317–321, 332 Dissemination 91 doublevoicedness 207 Ellipse 51, 55 elliptical refraction 210 Endliches und Unendliches 372–374, 383 Enzyklopädie, enzyklopädisch 225–241 – Enzyklopädizität 228 – enzyklopädische Komposition 225 – enzyklopädisches Narrativ 229, 241 – enzyklopädische Vollständigkeit 225 – Universalität 227 – Epochenschwelle 128 Ereignis 51f, 78, 115–121, 136–143, 160–162, 172f, 221, 271f, 311–318, 332–334, 418 – archivierendes und archiviertes E. 342 – E. der Rede 131, 133–137, 141 – E. des Schweigens 78f, 131 – sprachliches E., Sprachereignis 14, 142, 334 – Verstehensereignis 329 Erinnerung 58, 184, 217f, 238f, 292 – Erinnerungsarbeit 53 eros 202
434
Sachverzeichnis
Erzählen 52–61, 158, 226f, 274f, 280 – autobiografisches E. 249 – postmodernes E. 6, 226 Erzähler 25, 52, 57–64, 80–83, 103, 131, 171–176, 189–192, 226–229, 236–242, 259–269, 289–291, 305f, 330f, 338–340, 383–419 – autobiografischer E. 252–255 – E. als Leser 138f – E. als Zeuge 349–353 Erzählsituation 218 Erzählstimme 54–58, 227, 293, 409 Erzähltechnik 228; siehe auch Komposition Evolution 89f extra-textual 392, 395 father-/mother-novel 389f Fiktion 29, 61, 139, 171, 228–235, 259, 286–288, 338–340, 358–362 – fiktionserzeugend 354 – fiktiv 138, 344, 346, 363 – philologische F. 338 filmhaft 106–108, 111f focalization 390, 393, 398 footnote 393–399 Fragment, fragmentarisch 105, 173f, 188, 225–243, 260f, 268–276 – Fragmentarität 226, 262 – Fragmentierung 266, 418 Fremderfahrung 291 Fremdreferenz 88, 90, 94 Fremdwahrnehmung 286–294, 301 Fußball 30, 90f, 122, 140f, 245–254, 409 Gabe 363 Gattung 11–14, 109–111, 148, 163, 172, 286–290, 404–417 – gattungsbedingt 11 – Gattungsbestimmung 188f – Gattungscode 109 – Gattungsmuster 6 – Gattungsparodie 11 Gebet 372–377, 383–386; see also prayer – G. als Schweigen 53 Gedicht 54–57, 154f, 172, 269–272, 289–293 Geheimnis 77, 273, 277–279, 332, 340, 359–363, 375, 411
Gerechtigkeit 27 Gesellschaft, gesellschaftlich 337–339, 342–345, 352, 356f Gesinnungsmodalität 166 Geständnis 339f, 360 Gestimmtheit 46-47, 62, 67, 154–156, 160–163, 173 Gewalt 71, 128, 338–346, 351–363 Globalisierung 1 Gott, Göttliches 239f, 263, 363–365, 372–387 gouvernemental 342 graphematisch 10 Graziosität, graziös 143, 147–167, 280 – graziöse Ungebundenheit 147 grotesk 3 Heilsgeschichte 89 Hermeneutik, hermeneutisch 9, 46–48, 191, 294, 376 – literarische H. 371 Heterotopie 13 historiographic metafiction 396 human interest 93, 108 Hybridität, hybrid 363f – Hybridgattung 14 hypertextuell 2, 7 ideologiekritisch 351, 358 illokutiv 50, 57 indexikalisch 351, 362 innenpolitisch 342 inneres Wort 51, 59 Innovation 184f inskriptiv 137 Inszenierung 106, 111f Intensität 49 Intention 58, 83, 188, 319 intentional, Intentionalität 46–51, 57–58, 67, 340 interkulturell 13 Intertext, intertextuell 117, 127, 137, 147, 252, 257, 291, 364, 382 – Intertextualität 94, 100, 119, 342, 348; siehe auch intertextuality intertexture 390f
Sachverzeichnis
intertextuality 203, 207f; see also Intertextualität Intimität 406f intratextuell 137 Ironie, ironisch 4–5, 12, 91–93, 103–108, 121, 137–141, 149, 166, 228–235, 240f, 273, 405f – ironische Parabase 230, 241f – postmoderne Ironie 229 – Selbstironie 61, 140, 223, 298 Irritation 89, 95f – irritative Selbstprogrammierung 88 Irrtum 280 Iterabilität 354, 357–362 Iteration 262; siehe auch iteration iteration 390, 395, 399f; see also Iteration Kanon 148–150, 184f – Kanonbildung 147, 150 – Dekanonisierung 350 Kasus 173 katachretisch, Katachrese 62, 115 kleine Prosaformen 147–149, 160 Koinzidenz von Literatur und Leben 120 Kollektivismus 357 Kolloquialität 136; siehe auch Redeartigkeit Kommentar 132, 190f, 230f, 239, 269, 350, 407–412; siehe auch commentary – Selbstkommentar 104, 175, 225, 235f komparativ 4, 13, 79 Komplexität, komplex 10, 81, 89, 103, 131, 163, 233, 279, 371–373, 409f Komposition 56, 216–219, 225–243 – Kompositionsstrategie 226 – kompositorische Methoden 225 konstativ 119, 359 Kontingenz, kontingent 87, 134, 141f Konvention, konventionell 259, 262f, 268–270, 276, 279, 299, 351 – Konventionalität 262f, 270f, 274 Körperlichkeit 372, 379f Körper-zu-Körper-Analogie 108 Krankheit 404–408, 412–418 – Krankheitsnarrativ 404f Kriminalnovelle 403f, 409
435
kulturwissenschaftlich 13, 405 Kunstmarkt 87f Kurzprosa 21, 173, 411; siehe auch kleine Prosaformen Literarizität 53, 119f, 294 literary totality 200 literaturhistorisch 9f, 226 Materialität 89–90, 92, 102, 109–111, 153, 289, 377–379 – immaterielle 109 Medialität, medial 87–110, 189, 286, 346–355 – mediales Substrat 99 Medien 91–92, 109–110, 113, 273 – medientheoretisch 341 Meistererzählung 7 Metafiktion, metafiktional 5, 9, 11, 230f, 252, 287 – Metafiktionalität 231 – Metatext 234 – metatextuelle Logik 234 Metaphorisierung 102, 413–415 Metaphorologie 99, 104 metaphysische Kriminalgeschichte 409 metareflexiv 266, 273 metasprachlich 236, 355–358 mimetische Illusion 276 Mimikry 3 Mitteleuropa 248, 288, 306f, 311–313, 324–333 Modalität, modal 157f, 161, 173 multiculturalism 210 multivoicedness 205 Mündlichkeit 237–239, 242 – mündliche Erinnerung 239 nachmodern 7; siehe auch postmodern Narration 51, 156, 172; siehe auch Erzählen – narratologisch 52f, 192 national literatures 210 Naturbeschreibung 294, 296 Neologismus 98 Nicht-Kunst 92, 94f Nicht-Verstehen 279
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Sachverzeichnis
Nichtwissen 280 Novelle 14, 257–263
propositional 60 prosaic turn 389
Offenbarung 371–376, 381 Oedipus mother 202 Öffentlichkeit 75, 77, 406 Ökonomie, ökonomisch 71, 345, 357, 360, 365 oprafication 405 optische Medien 102 optische Metapher 104 Ostmitteleuropa 13, 291, 311 – ostmitteleuropäische Literatur 2 Oszillieren 90
Quasi-Identität 109 Quasi-Objekt 90, 92 quasi-persönlich 92f Quasi-Realität 99
parasitär 109 paratextuelle Elemente 222 Parodie 72f, 77–84, 172, 238, 272, 291 Performanz 143, 350 Performativ, performativ 4–8, 45–53, 58f, 119, 134, 189, 238, 295, 319, 331, 340f, 350–353, 406 Permutation, permutativ 13, 157, 219, 221, 325; siehe auch permutation permutation 390, 393, 400f; see also Permutation phatische Geste 55 Philologie, philologisch 290f, 339, 344–347 Phrasem, phrasematisch 56, 62–65, 97f, 115f, 123f, 132 Phraseologismus 97, 100 Poetizität 56 Poetologie, poetologisch 1, 4f, 7, 11f, 152 Politik, politisch 73–78, 121–128, 312–334, 338–357 – politische Parabel 130 – politische Sprache 111, 128 – Kulturpolitik 22 Postmoderne, postmodern 5, 7f, 97, 169, 287, 409 Präsenzeffekt 109 prayer 393, 398f; see also Gebet production novel 393f, 398 Produktion 88, 90–93, 101 Profilelement 246 Propaganda 88, 111
Rauschen 340, 361 Redeartigkeit 129, 135; siehe auch Redehaftigkeit Redehaftigkeit 119, 134; siehe auch Redeartigkeit; Kolloquialität Reflexionsmedium 90 Reiseliteratur 285–308 – Reisebericht 250f Responsivität, responsiv 48, 54, 60, 62 rhizomatisch 7, 147, 252 Satzmelodie 158 Scham 356–358, 363 Schreibbarkeit 53, 55 Schriftlichkeit 237–239, 242 – mediale Differenzierung 238 Schweigen 24, 45–68, 71–85, 129, 319–321, 332, 340, 359f, 416–419 – Schweigeakt 50f, 59 – Schweigeereignis 78f – Schweigemoment 71f, 85 – verschweigen 51–62, 72f, 128f, 318–321, 360 Selbstbetrachtung 89 Selbsterkenntnis 239, 330 Selbstinterpretation 63, 91, 238 Selbstprogrammierung 89–94 Selbstreferenz 88–90, 94, 343 Selbstreflexion, selbstreflexiv 54, 90, 100, 104, 132, 147–149, 166, 230, 233, 287–303 Selbstrepräsentation 8, 121–123, 137, 237, 306 Selbstverleugnung 89 semiotisch 13 Serialisierung 7 Sport 89–92 sprachanthropologisch 1, 14, 45, 71
Sachverzeichnis
Sprachatmosphäre 2, 8 Sprachspiel 12, 171, 242 Sprachtheorie 45, 50 Sprachvarietät 373f, 385 Sprechakt 50, 56, 68, 160 Sprechhandlung 48, 58, 321 Starkult 108 Sterbetagebuch 405 stereotext 209 – stereotextuality 208 Stille 59–63, 293, 305f, 311f, 319–323, 419 Stimme 47, 133, 137, 147f, 173, 351, 404; siehe auch Erzählstimme Stimmung 46, 82, 158, 176 style rocaille 159, 163 Subjekt 14, 59f, 181, 221, 236–240, 289–292, 304, 338, 345–347, 352–359, 364, 386 – Subjektivität 164, 242, 266–270, 315, 350, 356 – Subjektwerdung 353 Sünde 363–365, 375–377, 380–385 Syllepsis, sylleptisch 10, 13, 97f, 117, 120, 125f, 134–139 – Rhetorik der Syllepsis 138 Systemwechsel 312, 318f, 323–334 Täuschung, täuschen 266, 280 Temporalität 58, 105, 306, 333 testimonial 48, 354f Textsammlung 248 textuelle Ereignishaftigkeit 171 thanatos 202 Thema-Horizont-Bewegung 111 Tourismus 297–299 – Post-Touristen 300 Tradition 3, 7, 22–24, 179–192, 285–308 – literarische T. 100, 150–154, 225f, 311f – Texttradition 181, 187 – Traditionsbildung 5, 149, 227 – Traditionskonzept 3 Transsubstantiation 377, 382f transtextualer Effekt 170 Transzendenz, transzendent 53, 271, 372–374, 383–386
Trauerarbeit 53 Trauma 26, 45f, 338, 345, 415f – Trauma-Aufarbeitung 416 – Traumaerfahrung 416 – Traumatisierung 415 Tropologie 142 typografisch 215, 217, 222 Übersetzung 2, 10f, 35–37, 72, 132, 142, 190f, 264, 407 Umwelt 88f, 95f ungesagt 48, 60, 72 Vergebung 350, 359–361, 365 Verletzung 91, 97–99 Verpackung 408 Verrat 191f versions 390f, 401 Verweissystem 253 visuelle Rhetorik 102 Weltliteratur 2f, 150–152 s. auch world literature Werktagebuch 416 Widerspruch; Widersprüchlichkeit 139, 238–240, 265f, 273–275, 381f Wiederholung 79 – Wiederholbarkeit 136 Wiederlektüre 416 Wiederschreiben 416 Wiederverwertung 247, 408 Wirklichkeitseffekt 51 Witz 173 world literature 197–211; see also Weltliteratur Zeit 264 – Zeiterfahrung 419 – Zeitstruktur 417 Zensur 88f Zerstückelung 267 Zeugma 52, 98 Zeugnis 46, 48, 151, 224, 338–362, 386, 406
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438
Sachverzeichnis
Zirkularität 96 Zirkulation, zirkulieren 93–96 Zitat, Zitation 7–9, 79–82, 188–190, 239, 257–265, 270f, 290, 299, 348–351, 405–408 – Lyrikzitat 269
– Selbstzitat 91, 247f, 250f, 328 – Zitateffekt 73, 85 – Zitationsakt 8 – Zitattechnik 170–176 Zufall 94, 103 – Zufälligkeit 88, 94
Titelverzeichnis 1 nagyon szép könyv avagy a csúnya könyv dicsérete 180 A bűnös 403–411 A halacska 312, 332 A halacska csodálatos élete 322, 329 A piaristákról 188 A szavak csodálatos életéből 188, 317–319, 322, 330, 332 Az elefántcsonttoronyból 322 Az új rizsa 325 Azt csinálom, amit eddig, nézdegélek 179 Bauchspeicheldrüsentagebuch 155, 164, 166, 171, 403–421 Bevezetés a szépirodalomba 203 Celestial Harmonies 197, 199, 204–211, 389, 391 ‚Danilo Kiš: Mily dicső a hazáért halni‘ – BEVEZETÉS A SZÉPIRODALOMBA 197–211 Das Buch Hrabals 33, 171, 321 Die Hilfsverben des Herzens 4, 25, 32, 53f, 59, 166, 171, 175, 215f, 223, 384, 418f Die Mantel-und-Degen-Version – Einfache Geschichte Komma hundert Seiten 36, 374f Die Markus-Version – Einfache Geschichte Komma hundert Seiten 8, 53, 57f, 163, 173, 371–387, 405 Donau abwärts 171–174, 252f, 285–308, 327–334, 363 Egy kékharisnya följegyzéseiből 153, 158 Egy kellemetlen alak 3 Ein Produktionsroman (Zwei Produktionsromane) 2, 7, 8–12, 19–22, 53, 60–64, 71–85, 87–113, 115–143,
https://doi.org/10.1515/9783110618082-026
148, 152–163, 169–177, 220, 246, 259f, 287, 305, 363 Einführung in die schöne Literatur 3f, 7–11, 20–21, 32f, 54, 59, 148, 159, 162–165, 169–175, 186, 215–224, 225, 257, 307, 324, 331 Esti 4, 6–8, 14, 37f, 50, 57, 60, 71, 149, 158, 165, 174, 257–281, 400, 410 Fancsikó és Pinta. Pápai vizeken ne kalózkodj! 53–63, 102, 148 Függelék a Kis Magyar Pornográfiához – mondatok − 188, 192 Hahn-Hahn grófnő pillantása. Lefelé a Dunán. 288, 297, 331–333 Hahn-Hahn grófnő pillantása. Mexikói házi feladat 331–333 Harmonia Caelestis 22–28, 53, 59, 79, 94, 171f, 199, 205f, 225–243, 287, 337–340, 345–361, 384 Isten kalapja 328 Javított kiadás – melléklet a Harmonia caelestis-hez 229, 337 Kossuth Lajos azt üzente 326 Közép-Európa mint seb, homály, hiba, esély és reménytelenség 325f Majd 182 Más így 364 Mindent bele 180 Most jut eszembe, mégis van művészet 410 Most, hogy így 323 Nem vagyok Berzsenyi. Esterházy Péterrel beszélget Petri György 190
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Titelverzeichnis
Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors 164 Ünnepi beszéd és rekonstrukció [Kosztolányi] 59
Verbesserte Ausgabe 24–28, 88, 166, 190, 227–229, 337–361, 416