Henriette Schrader-Breymann: Henriette Schrader-Breymann [Reprint 2020 ed.] 9783112407820, 9783112407813


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German Pages 591 [593] Year 1922

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Henriette Schrader-Breymann: Henriette Schrader-Breymann [Reprint 2020 ed.]
 9783112407820, 9783112407813

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Henriette Schrader-Breymann Ihr Leben aus Briefen und Tagebüchern

zusammengestellt und erläutert

von

Mary I. Lyschinska

In zwei Bänden mit 5 Bildern

Berlin und Leipzig 1922

Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter und mit ihr denselben zu besprechen. Dann hat sie den Wunsch, daß ich vor­ erst durch Frau Falk mit ihm selbst in Beziehung trete, und hat mich autorisiert, Frau Falk diesen ihren Wunsch auszusprechen. Ich bin so tief erfreut über unsere Unterredung, nicht weil die Kronprinzessin es war, die sich so eingehend für alle Fragen interessierte, sondern daß sie so gesunde, unserer Zeit entsprechende Ansichten hat. Ihr dringenderWunsch ist, nach und nachÄrzte in das Unterrichts­

ministerium zu bringen und Frauen eine Stellung zu geben, wo es sich handelt um Erziehung der Kinder bis zum 10. Jahre und bei der Er­ ziehung derMädchen; sowie sie wünscht, daß an jeder Anstalt, auch für Knaben, wie Kadettenhäuser usw. eine Frau mitwirkt, um das Haus­ mütterliche, was nirgends fehlen sollte, zu vertteten. Überhaupt ist sie mehr für tüchtiges, praktisches Arbeiten und Charakterbildung als das viele Bücherlernen für die Jugend, obwohl sie für die gereifte Frau den Anspruch stellt, daß sie das Leben denkend erfaßt. Aber das kann nur durch ein Lernen, welches mit dem Leben in Verbindung steht, erzeugt werden. Es scheint mir recht sehr derMühe wert, die Beziehungen mit dieser Frau, abgesehen von ihrer Stellung, zu pflegen; ich habe mich kaum je inBerlin mit einer Dame so gut unterhalten wie mit ihr. And welche gute Mutter und Hausfrau ist sie selbst. Fräulein dePerpigna erzählte mir zufällig kleine Züge. Erst war sie ganzMutter, — sie nährte ihre Kinder fast alle selbst — nun, da sie keine kleinen Kinder mehr hat, denkt sie an ihre Pflicht als Fürstin. Wie einfach und natürlich! Sie sprach auch viel von meinen: Manne und sagte lächelnd, sie. habe durch Frau Salis-Schwabes Vermittelung manches von ihm ge­ lesen, sie boffe, wir sähen es nicht als eine Indiskretion an. Mein Mann hatte nämlich einmal für Frau Schwabe die Punkte, um die es sich bei der Lösung der sozialen Frage handelt, zusammengestellt. „Was ich las, hat meine wärmste Sympathie, und ich möchte Ihren liebenMann

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so gern kennenlernen und hoffe bald Gelegenheit zu haben", sagt« die

Kronprinzessin.' Dann kam die Rede auf England, und ich erzählte, daß ich schon zweimal eine offizielle Aufforderung vom Londoner Fröbel-Verein

gehabt habe, zu kommen und die Kindergärtnerinnen zu examinieren, aber meinMann mir nicht erlaubt habe, zu gehen. „O er muß es Ihnen erlauben, gehen Sie nach England und glauben Sie mir, da gibt es auch noch etwas zu lernen! Ach, es war und ist so mein Wunsch, das Gute der englischen Erziehung mit dem Guten der deutschen zu verbin­ den, aber man ist ja auf einmal so vollkommen in Deutschland geworden, daß man nichts mehr vom Auslande hören will. Ich würde mich ganz speziell dafür interesfieren, wenn Sie nach London gingen; ich könnt« Ihnen Empfehlungen geben, die dort etwas gelten — oder gehen Sie einmal, wenn ich dort bin, da sollen Sie in der Aristokratie Frauen kennenlernen, die ein Äerz haben für daS Volk; ja, Ihr Mann muß Ihnen erlauben, zu gehen!" Ganz besonders interesfiert fich die Kron­ prinzessin für die Pflege derLausindustri«; Mr. Ellis in London, der die Sache von Klausson dort ins Leben gerufen, war der Kronprinzessin Lehrer in diesen Dingen und sie sprach so warm und dankbar über ihren Lehrer. Ich kann nicht anders sagen, daß es mich tief beglückt, weit mehr beglückt als ehrt, dieseBekanntschast gemacht zu haben, und ich glaube, daß, wenn unsere künftige Kaiserin die rechten Äilfen findet und treue, aufrichtige und ehrliche Menschen, wir viel Gutes von ihrem Einfluß zu hoffen haben. Ganz ängstlich fragte sie mich nach meinen Ansichten über denReligionsunterricht, und als ich ihr dieselben entwickelt hatte, so kurz als möglich, schien sie sich befreit zu fühlen. Sie will auch eine positive religiöse Erziehung; aber in Harmonie mit dem Denken, der Wissen­ schaft. Sie sagte: „Erst geben wir dem Kinde das Poetische, Schöne, das Wohltuende unserer Religion, ehe wir mit dem Schrecken des Kreuzes, mit der Sünde, mit Tod und Teufel kommen! Wenn die Pastoren endlich verstehen wollten, daß sie die Kinder schrecken oder gleichgültig machen, aber nicht gewinnen!" Run, meine liebe Anna, habe ich Dir das Wesentliche geschrieben, teile diesen BriefBruder Karl und Luischen mit; ich hab« keinen Grund, die Sache geheimzuhalten, aber natürlich ist es besser, nicht viel darüber zu sprechen, besonders keine Einzelheiten meiner Unterredung zu er­ zählen; es wird so leicht verdreht, und ich finde es schrecklich, daß diese

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 33 hohen Häupter und Ä erzen immer wie auf einem Präsentierteller herum­ gereicht werden. Ich will keine von denen sein, die sie zum Gegenstände der Unterhaltung machen; gerade weil die Kronprinzessin so menschlich warm und verständig sich gab, so will ich sie auch halten, und nicht wahr,

ich kann mich auf Euch verlassen ? Ich habe an Baumgartens geschrieben und den Stadtdirektor um ein Zeugnis meiner früheren Wirksamkeit gebeten. Denke nur ja nicht, daß ich nun unser Werk (in Berlin) gleich weiter entwickeln werde, das geht langsam; aber wenn uns die angebahnte Verbindung bleibt, so kann nach und nach etwas geschaffen werden" Diese Beziehungen zwischen zwei großdenkenden, warmherzigen Frauen haben während zweiundzwanzig Jahren ununterbrochen ge­ dauert; sie haben sonnige Tage hochfliegender Pläne sowie tieftraurige Zeiten überlebt; unterwühlt von den Intrigen eines Loses wie des Strebertums außerhalb des Loses, umtobt von den Leidenschaften einer politisch bewegten Zeit haben diese Beziehungen sich immer mehr befestigt zu einer edeln Freundschaft, welche durch tiefes Leid nur be­ siegelt wurde. Nie hat die Kronprinzessin sich beirren lassen in ihrem Glauben an die uneigennützige Treue von Henriette Schrader — ich darf wohl sagen des Schraderschen Ehepaares. Der Verkehr zwischen den beiden edeln Frauen beruhte auf rück­ sichtsloser Wahrhaftigkeit auf Henriettens Seite, selbstverständlich bei Innehaltung der üblichen Formen gebildeter Geselligkeit. Wer Lenriettens Wesen und früheres Leben kannte, wußte auch, daß sie ihrer ganzen Natur nach sich nicht anders geben konnte. Die Kronprinzessin mußte sie gebrauchen, wie sie war, oder sie verwerfen. Henriette Schrader hat die Vertrauensstellung bei der Fürstin nie gesucht, dieselbe brachte viele Unbequemlichkeiten ,Arbeit, Auftegungen, ja Menschenekel und tiefe Trauer in ihr sonst so glückliches Dasein; sie hat aber die hohe Verantwortung eines solchen Zusammenwirkens nicht gescheut, und ihre Vertrauensstellung zu den hohen Herrschaften nie mißbraucht. Die absolute Absichtslosigkeit, irgend etwas wie Herrschaft, Ehre für sich, für Verwandte und gute Freunde zu gewinnen, muß die Kaiserin angenehm berührt haben. In der ersten Anterredung, welche Henriette mit der Fürstin als Kaiserin hatte, drang diese auf sie ein, endlich einmal einen persönlichen Wunsch zu äußern, den sie als Kaiserin erfüllen könnte. Herzlich dankend, verhielt sich Henriette Schrader zu­ erst ablehnend; plötzlich besann sie sich und sagte: „GnädigeMajestät, ich L y s ch i n s k a, Henriette Schrader II.

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Kapitel 2:

habe doch einen großen, unerfüllten Wunsch; Sie haben mir früher zu.

gestimmt, wenn ich von berühmten Männern sprach, welche ihr alles für das Gemeinwohl geopfert hatten; an ihrem Namen hastet ost nach, träglich wenigstens der Ruhm der edlen Tat; von den Frauen dieser berühmten Männer spricht die Welt nie, und doch haben sie mitgedarbt und mitgeopfert. 3ch kenne eine solche Frau, welche mitgearbeitet und mitgedarbt hat, sie lebt jetzt in beschränkten Verhältnissen von den mil­ den Gaben weniger guter Freunde; sie ist alt und arbeitsunfähig, sie ist die Witwe Friedrich Fröbels! Gibt es im Deutschen Reiche keinen Fonds, um eine solche Frau zu unterstützen, und dadurch einen Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit zu vollziehen? Es würde mir eine große persönliche Freude sein, wenn ich durch meine Fürbitte das Leben dieser Frau erleichtern könnte!" Lebhaft stimmte die Kaiserin dem zu, notierte mit Bleistift auf einem Papier die Einzelheiten, um sie dem kranken Kaiser zu unter­ breiten, als Kaiser Friedrich selbst zufällig in das Zimmer trat und Lenriette Schrader auf das wärmste begrüßte. Sein elastischer Schritt ließ noch nichts von der tückischen Krankheit merken, undLenriette berichtete nachher, es hätte nur in seinem Blicke etwas so Erhabenes, Weltüber­ wundenes gelegen, sie sei einige Sekunden stumm vor Ergriffenheit ge­ wesen. Mit seiner gewohnten strahlenden Liebenswürdigkeit nahm er das erwähnte Papier aus der Land seiner Frau und schrieb auf die andere Seite den Namen der zuständigen Behörde, durch die ein solches Gesuch eingereicht werden müßte. Das Resultat war, daß die Witwe Friedrich Fröbels vom Deut­ schen Reiche eine Pension bis zu ihrem Tode genoß. Das war wohl das einzige Mal, daß Lenriette Schrader sich er­ laubte, eine persönliche Bitte den» kaiserlichen Paare gegenüber vor-

zuttagen. Die Volkswohlfahrt und Vollserziehung war das erste gemein­ same Interesse, welches die Kronprinzessin mit Lenriette Schrader ver­

band. Schon im Winter 1877/78 sprach die Kronprinzessin sich öfters gegen Schraders und Geheimrat Finkelnburg aus, wie sehr eine Reform der Krankenpflege und die Förderung der Gesundheitspflege beim Volke ihr am Lerzen läge. Durch diese Gespräche angeregt und durch das Vorhandensein des Volkskindergartens in der SteinmetzStraße 16, welches Laus zu den Vereinszwecken bald nachher gekauft

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wurde, entstand in dem Lause das erste Bezirkskomitee des „Vereins fiir häusliche Gesundheitspflege"; Vorsitzender des Vereins wurde Ge­ heimrat Finkelnburg und Vorsitzende des Bezirkskomitees Frau Betty Leo, stellvertretend« Vorsitzende Frau Lenriette Schrader. Gleich zu Anfang nahm die Frage der Ausbildung von Kranken­ pflegerinnen für die Familien des Volkes bei dem Verein für häus­ liche Gesundheitspflege einen breiten Raum ein, da die Kronprinzessin in den Kriegen von 1866 und 1870/71 die Mängel der Krankenpflege kennengelernt hatte; sie suchte den ganzen Stand der Krankenpflege durch Vorbildung und wissenschaftliche Ausbildung zu heben. Durch eine Schriftstellerin, Amalie Sohr, welche damals viel mit der Kronprinzessin arbeitete, empfohlen, wurde ein Fräulein Fuhrmann gewählt und auf ein Jahr nach London zur Ausbildung in der da­ mals in England höher stehenden Krankenpflege geschickt. Sie sollte un­ ter der Leitung von Mrs. Craven (selbst die geschätzte Schülerin von Florence Nightingale, der Berühmtheit des Krimkrieges) ihre Aus­ bildung bekommen. Unterdessen war der Verein für häusliche Gesundheitspflege sehr tätig in der Vorbereitung des Bodens fiir die spätere Wirksamkeit der Krankenpflegerinnen. In dem Bezirke eröffnete das Komitee Steinmetzstraße 16 eine Niederlage von Stärkungsmitteln für Kranke; eine Einrichtung zur Beschaffung guter Vollmilch zum Preise

des Großhandels, welche dann in kleinen Porttonen zum Kostenpreise und unter Umständen unentgeltlich den Familien Bedürftiger verab­ reicht wurde. Dies war eine Schöpfung von Frau Betty Leo. Eben­ falls richtete man eine Badestube im Kellergeschoß ein für Kinder mit Verleihung von Badewannen, Badesalz und bergt (Henriette Schraders Schöpfung). In derNähe wurde einePoliklinik für Frauen und Kinder eröffnet unter der Leitung der Ärzte Dr. Veit und Dr. Schmidtlein. Auf Wunsch der Mitglieder übernahm Lenriette Schrader den Vorsitz einer Kommission von Frauen, welche die Lausbesuche und Verteilung von Stärkungsmitteln an Kranke und Genesende besorgten, und so einen verttauensvollen Verkehr zwischen den Frauen des Volkes und den Frauen der begüterten Stände anbahnte. Diese Einrichtung war um so nötiget, als die Kranken Pflegerinnen später keine Geschenke verabreichen durften und nicht immer so viel Zeit haben würden, den gemütlichen Bedürfnissen Armer und Kranker zu genügen. Lier war Lenriette Schraders Begabung für eine feine Seelsorge gewiß so recht am Platze; wie wußte sie ost unter gegebenen Verhältnissen das pas3«

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sende Wort zu finden, eine neue Auffassung der Ding« dem verwun­ deten Gemüt einzuflößen. Im Jahre 1879 wurde die Ausbildung der Krankenpflegerinnen

näher ins Auge gefaßt. Der Verein für häusliche Gesundheitspflege bildete eine besondere Kommisfion zur Förderung dieser speziellen Sache. Sie bestand aus folgenden Mitgliedern: Kerr Geheimrat Finkelnburg als Vorsitzender und Leiter der Kommission, Äerr Georg von Bunsen, Frau von Krause, Kerr Eberly, Kerr Schrader, FrauLenriette Schrader. Die Verhandlungen mit der Leitung der städtischen Krankenhäuser blieben damals ohne Erfolg, dagegen hatten die Bemühungen der Kron­ prinzessin ein besseres Resultat erzielt, indem durch ihre Vermittlung Professor Esmarch in Kiel sich bereit erklärte, geeignete Persönlichkeiten auf ein Jahr zur Ausbildung in seine Klinik aufzunehmen. Der Kom­ mission fiel nun die nicht leichte Aufgabe zu, eine Auswahl der sich meldenden Kandidaten zu machen. Die Ausbildung sollte unentgeltlich sein, und zur Deckung derKosten dienten die Geschenke, welche der Kron­ prinzessin zu diesem Zwecke gegeben wurden und eine vonKerrn Schra­ der veranlaßte Theatervorstellung, welche jedem der beiden in der Steinmehstraße 16 wohnhaften Vereine eine beträchtliche Summe einbrachte. Nachdem Fräulein Fuhrmann als Oberin zurückgekehrt war, und im Sommer 1881 fünf Krankenpflegerinnen ihre Ausbildung absolviert hatten, wurde im zweiten Stockwerk des Kaufes in der Steinmetzstraße 16 eine Wohnung für sie gemietet und möbliert; zwei konnten in der Gegend gleich ihre segensreiche Tätigkeit beginnen, die andern wurden in andern Stadtteilen verwendet. Eine Veränderung in der Organisa­ tion und Verwaltung dieses Zweiges wurde notwendig durch das Schei­ den des Geheimrats Finkelnburg aus Berlin im Jahre 1881, so wurde ein besonderes Komitee für Krankenpflege gebildet, an deren Spitze Frau Anna Lelmholtz trat, und Staatsminister Falk übernahm den Vorsitz des Vereins für häusliche Gesundheitspflege. Ein Lieblingswunsch der Kronprinzessin war, daß die Kranken­ pflegerinnen, welche später eine Kinderstation zu übernehmen hatten, auch Übungen im Kindergarten und eine erziehliche Unterweisung dar­

inerhalten sollten; so arbeiteten die beiden Kauptvereine in der Stein­ metzstraße einander gedeihlich in die Kände. Ein anderer Zweig des Vereins für häusliche Gesundheitspflege erfreute sich der tatkräftigen Teilnahme der Kronprinzessin, nämlich die Ferienkolonien, ja, sie hatte auf dem Dorfe Bornstedt bei Potsdam selbst eine Ferienkolonie gegrün-

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det, und die Kinder wurden öfter durch ihren Besuch überrascht und durch ihre mütterliche Fürsorge erquickt. Da Frau Betty Leo den Vorsitz des Bezirkskomitees des Ver­ eins für häusliche Gesundheitspflege im Jahre 1881 niederlegte, ruhte eine doppelte Arbeitslast auf Lenriette Schrader. Sie bereiste selbst in dem Fahre alle Ferienkolonien für Mädchen, und ihre, auf viele Einzelheiten eingehenden Berichte zeugen, mit welcher Sorgfalt sie die ihr einmal zufallenden Pflichten erfüllte. Sie wählte auch die Leiterinnen für die Mädchengruppen, und meistens meldeten sich Lehrerinnen zu diesem Amte; bei dieser Gelegenheit tat sie auch manchen Blick in die Einseitigkeit der Lehrerinnenbildung, wie wenig diese ost bei den häus­

lichen Vorkommnissen sich und den Kindern zu helfen wußten. Diese Rundreisen bestätigten bei ihr auch die Ansicht, daß für die Mädchenkolomen ein festes, dauerndes Leim sehr wünschenswert sei, später wurde diesem Wunsch auch realisiert. Ebenfalls wurde Lenriette Schrader sehr für die sogenannten „Lalbkolonien" eingenommen, welche in keinem so schroffen Gegensatz zu ihrem Elternhause sich gestalteten, welche den Kindern die Möglichkeit gewährten, den Tag über in guter Luft, bei guter Kost sich stei zu bewegen, ohne das Elternhaus zu verlassen. Eine Ferienkolonie gefiel ihr Jahr aus, Jahr ein am allerbesten: Die Mädchenkolonie in Pförten, von Fräulein Klara Legewald*) ge­ leitet imLause eines Fräulein von Dalwitz. Dort waren Laus,Lof, Gar­ ten undLaustiere, und dieKinder schafften steudig mit für Reinlichkeit und Ordnung, dort war eben eine edle Familienatmosphäre. Im Laufe der Jahre sind die verschiedenen Zweige des „Vereins für häusliche Gesundheitspflege" sowie des „Berliner Vereins für Volkserziehung" weit über den Rahmen des Laufes Steinmetz-Straße 16 hinausgewachsen; das Viktoriahaus für Krankenpflegerinnen bildet ein selbständiges Kuratorium und bewohnt ein eigens dazu gebautes Laus in der Landsberger Allee, Berlin. Die städtischen Krankenhäuser und Ärzte begrüßen die Lilfe der Viktoriaschwestern. Auch der Zweig für Ferienkolonien ist ein großer selbständiger Verein geworden, welcher nicht mehr von seinen Lunderten, sondern von vielen Tausenden von Pflegekindern berichten kann, und ihm machen höchstens die städtischen Behörden mit ihrer Verpflanzung der Kinder auf das Land Konkurrenz.

*) Nachmalige Frau Clara Richter, zweite Vorsteherin des Pesta­ lozzi-Fröbel-Lauses I.

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Der Verein für häusliche Gesundheitspflege als Mutterverein hat ein Netz von Bezirkskomitees über ganz Berlin verbreitet, welche so viele Mittelpuntte der Hilfsbereitschaft sind oder werden können. Für das zukünftige Gedeihen von Wohlfahttsvereinen, für eine Neugestaltung ihrer Tätigkeit ist das Zurückgehen auf ihre geschichtliche Entstehung und ihr Wachstum keine so müßige Beschäftigung, wie sie manchem erscheinen könnte. Wie das deutsche Volk imRingen um seine nationale Existenz sich bewußt wird, daß es über einer dynastischen eine deutsche Geschichte gibt, mit welcher die Jugend viel inniger verttaut werden muß als je zuvor, so werden auch Vereine verjüngt durch ein Eindringen in die schöpferischen Ideen ihrer Begründer. Die Geschichte im Dienste der Gegenwart, im Dienste des Lebens ist ein mächtiger Äebel für ein jedes soziale Gebilde. Die verschiedenen Vereine und Zweige in der Steinmetz-Straße machten einander auch keine Konkurrenz bei einem so einheitlichen Geiste in der Leitung, sondern sie unterstützten sich durch die feine Differen­ zierung ihrer Tätigkeit zum höchsten Gedeihen ihrer Schutzbefohlenen. So konnte manche dem Antergange nahe gebrachte Familie von den verschiedensten Seiten erfaßt werden und zwar auf Wegen, welche die Selbsthilfe erweckte. Die Einheitlichkeit und das gegenseitige Ineinander, greifen verschiedener Wohlfahrtseinrichtungen wurde natürlich durch ihre örtliche Nähe begünstigt, aber der Geist, welcher die ganzen Or­ ganisationen durchströmte, war die Hauptsache dabei. Wie eingehend die Kronprinzessin das Wachstum und Gedeihen der verschiedenen Vereine in der Steinmetz-Sttaße verfolgte, bezeugten ihre häufigen, teils angemeldeten, teils unangemeldeten Besuche. Vom Jahre 1879 an verging kaum ein Weihnachtsfest im Kindergarten, wo sie, von den Prinzessinnen, ja sogar ost vomKronprinzen begleitet, dem Feste einen anspruchslosen natürlichen Glanz verlieh; denn weder Eltern noch Kinder wußten im voraus von dem Besuch hoher Herrschaften. So drängte sich die Kinderschar, zwar gewaschen und gekämmt, mit reinen Schürzen versehen, aber sonst nicht sonderlich geputzt, in die ihnen bekannten Räume; das war aber eben, was das kronprinzliche Paar liebte, die Volkskinder unbefangen, natürlich heiter und gesittet zu beobachten. Als eine „Tante" unter den andern „Tanten" stand ein­ mal die Kronprinzessin unter den Kindern, als ein kleines Mädchen sie am Kleide zupfte und sie auf ein neues Bild, welches soeben im Kinder­ zimmer aufgehängt war, aufmerksam machte. „Tante, die hat wohl

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Flügel?" fragte das Kind, auf das Bild zeigend. Das Bild stellte die Kronprinzessin selbst dar im Renaissance-Kostüm, und das Kind hatte den hervorstehenden Kragen als „Flügel" sich erklärt. Auch der Kronprinz scherzt« gern mit Kindern, so kostete er im Kindergarten bei einer festlichen Gelegenheit von dem einen die Schokolade, einen andern kleinenBuben nahm er auf seinen Arm und seht« ihm seinen Lelm auf den Kopf. Später nach dem Manne befragt, der ihm seinen Lelm geliehen hätte, sagte der kleine Bengel ohne Zögern: „Der Schutzmann." Gelegentlich erzählteLerr Schrader demKronprinzen von seiner neuen Benennung, da lachte der Kronprinz und behauptete, er wünschte sich keinen besseren Titel als der „Schutzmann" seines Volkes zu heißen. Sehr oft fehlte es dem Verein für Volkserziehung an Geldmitteln, und eine Periode sorgsamster Sparsamkeit trat ein. Nicht nur der Vor­ stand und das Frauenkomitee sorgten und bangten um die Fortexistenz des Pestalozzi-Fröbel-Lauses, sondern Lehrkräfte, Schülerinnen und die Eltern der Kinder teilten die Sorge und brachten nach Vermögen ein Opfer dar. Eines Tages nahm eine Schülerin des Seminars die Aufgabe auf sich, ein Zimmer mit einer frischen Tapete zu verschönen, um dem Verein di« Kosten des Landwerkers zu ersparen. Der Topf mit dampfendem Kleister stand auf dem langen Brettertisch bereit, mit einem Stück Tapete stand die eifrige, aber kurzsichtige Schülerin und wollte die beklebte Tapete gerade an die Wand drücken, als sie sich von hinten verhindert fühlte, und eine Dame ihr zurief: „Sie halten das Muster verkehrt 1 Erlauben Sie I" And mit einer raschen Wendung reichte die ftemde Dame die richtige Seite der erstaunten Schülerin. Die Fremde verschwand aus der Tür, ehe die kurzsichtige Schülerin sie erkannt hatte; es war die Kronprinzessin, welche einen unerwatteten Besuch der Anstalt abstattet«. Damals knüpften keine offiziellen Beziehungen die Frau Kron­ prinzessin an den „Verein für Volkserziehung", erst als Kaiserin über­ nahm sie das Protektorat der Anstalten. Zehn Jahre vorher war sie die interessierte Freundin derselben ohne jegliche Verpflichtung als die, welche in der Natur der Sache lag. Sei es bei einem Kinderfeste, bei einer heimkehrenden Ferienkolonie oder sollte ein Konzert, eine Theatervorstellung im königlichen Opern­ haus« zum Besten der Vereinszwecke der Steinmetz-Sttaße 16 dienen, immer waren die Mitglieder der kronprinzlichen Familie bereit, ihre

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Kapitel 2:

Unterstützung zu gewähren, durch ihre Gegenwart und echte Menschlich­ keit die Lerzen breiter Volksschichten zu erwärmen und zu erfreuen. Auch Kaiser Friedrich war von der Wichtigkeit von Erziehungs­ fragen durchdrungen. Lenriette Schrader hatte reichlich Gelegenheit, den schönen Familiensinn des fürstlichen Paares kennenzulernen, denn bei Geburtstags-, Konfirmations- und Verlobungsfeiern war sie, trotzdem sie nicht „hoffähig" war, ein gern gesehener Gast. Ihre flinke Feder hat uns ein schönes Bild eines Kinderfestes* im „Neuen Palais" bei Potsdam entworfen. Ich lasse einige Briefe aus der Korrespondenz der Kronprinzessin und Kaiserin Friedrich mit Lenriette Schrader hier folgen in dem vollen Vertrauen, daß das ernst denkende deutsche Volk, befreit von der offi­ ziösen Letze der Presse, geläutert durch Trübsal und von ungerechter Behandlung selbst gequält, dem Andenken dieser viel verleumdeten Frau Gerechtigkeit widerfahren lassen wird. An dem weitschauenden Blick, getragen von dem mütterlichen Ker­ zen dieser Fürstin, kann ein denkender Mensch das Anglück ermessen, welches mit dem Tode Kaiser Friedrichs und seiner Gemahlin nicht nur über Deutschland, sondern über Europa hereinbrach. Die Kronprinzessin an L. Schrader. Villa Zirio. Can Remo. 5.März 1888. Liebe Frau Schrader I Zwar habe ich wenig Augenblicke zum Schreiben, aber ich möchte ein paar Zeilen senden, um Ihnen zu danken für Ihren vortrefflichen Brief, für das Schriftliche gegen Fräulein LangesVorschlag und Fräu­ lein Langes Entgegnung, die sehr gut ist! Ich freue mich sehr, daß die „Viktoria"-Fortbildungsschule für Mädchen von Frau Lenschke so gelobt wird. Die neueste Nummer der „Nation" enthält zwei sehr gute Artikel: der erste und dann einen von Lerrn L. Bamberger, genannt „Pessi­

misten"; letzterer ist vorttefflich. Lier habe ich schwere Zeiten durchgemacht nach vielenRichtungen hin. Gottlob geht es unserm teuern Patienten täglich etwas besser, und obgleich Schlaf und Appetit zu wünschen übriglaffen, und der böse Lüsten noch nicht ganz gewichen, so sind dieKräfte gut — und die Stim-

*) Siehe Vereinszeitung früherer Schülerinnen des PestalozziFröbel-Lauses I Berlin.

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 41 mung auch, und er ist viel aus dem Balkon, und Lesen, Schreiben usw. sind ihm keine Anstrengung. Gottlob daß wir in einem Klima sind, wo wir jede sonnige Stunde benutzen können, um ihn frische Luft einatmen zu lasten. Ich denke, daß wir in etwa 8 Wochen zu Lause sind. Sowie er sich von dieser Zeit erholt hat und es etwas wärmer wird, können wir nach Deutschland. Ich muß hier in Eile Lebewohl sagen. Grüßen Sie bitte Ihren Mann vielmals, auch FrauLeyl und Eberty. Ihre Kronprinzessin.

Die Kaiserin Friedrich an Lenriette Schrader. Friedrichskron. Den 21. Juni 1888. Ich bin tief gerührt durch die Absicht des Mr. Lenry Villard, meinem geliebten Kaiser noch ein Denkmal setzen zu wollen durch eine Summe für wohltätige Zwecke 1! Gewiß wäre für Freibetten und Frei­ stellen diese Summe geeignet!! Ich weiß nicht, ob man ihm, diesem edelsten, reinsten derMänner, dieserPerle aufdem Throne, einNationalDenkmal setzen will, aber wie wäre es, wenn man einige seiner Ideen versuchte zur Ausführung zu bringen! Z. B. das Institut für die Er­ ziehung der Frauen? Die Klinik für Lalskrankheiten, die Arbeiterwoh­ nungen in Berlin, das Pestalozzi-Fröbel-Laus I usw. Wie wäre es, wenn der Silber.-Lochzeits - Fonds vergrößert würde, man ihn mir zur Verwaltung gäbe? Das hätte meinem Engel besser gefallen als ein Denkmal von Stein und Eisen. Er war selbst so schön, daß ein Bild von ihm überall ein Schmuck sein würde, aber wie oft sagte er: Das einzige, womit man ein teures Andenken richtig ehrt, ist, indem man irgendeine Wohltat für die Armen, die Leidenden damit verbindet, und dazu gehört jeder Kulturzweck, Schulen, Anstalten usw., die einen Schritt auf dem Wege der Entwicklung bedeuten. Man kann Mr. Villard alles Material zu besagtem Artikel geben, welches nicht so intimerNatur ist, daß es nicht vor die Öffentlichkeit kommen sollte. Ich

überlasse es meinen Freunden, ihm das Material zu geben. Ich bin so gebrochen, so elend, so überhäuft mit allerlei Ge­ schäften, daß ich jetzt genannte Lerren Villard und Schurz nicht empfangen könnte, aber es wäre möglich, daß es sich später macht. Sie kommen gewiß einmal nach Berlin, oder ich treffe sie in einem andern Teile Deutschlands. Wenn Mr. L. Villard seine Gabe überreichen will, könnte es vielleicht seine Gattin tun und sich später bei einer meiner Damen zu diesem Zwecke melden.

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Kapitel 2:

Die Kaiserin Friedrich an Henriette Schrader. Windsor Castle. Den 28.November 1888.

Liebe Frau Schrader I Herzlichen Dank für Ihren Brief. So viele Beweise der Teilnahme und Anhänglichkeit rühren mein armes, gebrochenes Herz tief! und wiegen die Kränkung und Beleidigung auf, die Unbill und Ungerech­ tigkeit auf, die ich noch nicht vergessen kann, wenn ich auch jeden Tag mir selbst sage, daß es nicht alles Bosheit, sondern ein gut Teil Torheit ist; aber gegen Torheit kämpfen die Götter selbst vergebens! Frau Leos Bericht hat mich sehr gefreut. Gottlob daß das unschuldige Büchlein von Mr. Rodd und mein sehr schlichter Brief nicht Mißfallen erregt haben. Sier umgibt mich alles, was dem Herzen wohltun kann: Liebe, Verständnis, Zartgefühl, und der Verkehr mit den Meinigen ist mir ein großer Trost I Besonders dankbar bin ich dafür, in der Nähe meiner Mutter sein zu können, deren Herz alles mitfühlt und mitversteht und die mit mir trauert von ganzer Seele! Ich fühle mich aber körperlich und geistig matt und zerschlagen, und die Erinnerungen, die mir hier auf Schritt und Tritt entgegentreten, sind schrecklich wehmütig. Ich freue mich, daß Ihnen die Sprüche recht waren, ich finde sie auch so schön. Was hört man von dem armen, verfolgten, eingesperrten ®.*), mich jammert des armen kleinen Mannes mit seiner schwachen Gesund­ heit, eine künstlich zum Verbrechen gestempelte Unvorsichtigkeit muß er nun so büßen! Doch ich sage lieber nicht, was ich denke — jedenfalls nicht auf Papier; da in Berlin russische Zustände herrschen, könnte ich Ihnen damit schaden. Im Polizeistaat darf man ja überhaupt gar keine Mei­ nung haben, und sie zu äußern ist ein willkommenerVorwand, diejenigen Menschen zu verfolgen, denen man gerne von der Autorität aus — „et­ was anhängen möchte". Tiefer Ekel erfüllt mich, wenn ich an all dies denke — an irgendeine Zukunst habe ich überhaupt aufgehört zu denken, weil ich sie mir nicht ausmalen kann und kein Licht sehe in dieser Finster*) Professor Geffcken, Herausgeber des Tagebuchs Friedrich III. (Herausgeber).

von Kaiser

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 43

nis, seit unser guter Engel, unser Schutzgeist, unser Loffnungsstern von uns gegangen ist. Leben Sie wohl und möchten Sie und alle unsere Freunde und Freundinnen einen gutenWinter verleben. Das wünscht von Kerzen Ihre Kaiserin Friedrich.

Die Kaiserin Friedrich an Henriette Schrader.

Königliches Schloß Kiel. 23.März 1889. Teuere Frau Schrader! Erst heute habe ich die Möglichkeit, Ihnen für Ihren lieben Brief zu danken I Hoffentlich sehen wir uns bald l Mein armes Herz ist ebenso wund und gebrochen als damals, wo ich Berlin anfangs.des Winters verließ. Unsäglich viel habe ich leiden müssen und leide stets 1 Der Sonnenstrahl, den das Erscheinen des kleinen Enkels in diese Nacht des Kummers hat scheinen lassen, ist mit D a n k ausgenommen l Ich send« Ihnen Broschüren, über welche wir daun sprechen können. Ich wollte so gern, daß im Pestalozzi-Fröbel-Hause alle jungen Mäd­ chen einen Samariterkursus nach Esmarchs Methode durchmachten. Ich möchte auch, daß es im Lette-Haus geschähe, käme einmal ein Krieg, was Gott verhüten möge, so wäre es sehr nützlich und in Friedenszeiten ist es auch gut. Unser öffentlicher Gesundheits-Verein müßte sich mit Energie der Sache annehmen, nicht wahr? Grüßen Sie IhrenMann vielmals von mir, ich habe alles verfolgt, was er sagt und geschrieben und konnte nur völlig beistimmen. Vom 4. bis 10. April werde ich wohl in Berlin sein. Schade, daß Sie nicht auch einmal eine Erholungsreise nach Homburg machen, da könnten wir uns so schön ruhig sehen. Ihre Sie liebende

Bitte grüßen Sie alle Freunde.

Kaiserin Friedrich.

Dieselbe an dieselbe. Schloß Homburg v. d.Höhe. l.Mai 1889. Liebe Frau Schrader I Nehmen Sie meinen allerbesten Dank entgegen für Ihre lieben Zeilen vom 20. April. Ich habe mich sehr gefreut über das Resultat des Konzettes zum Besten des Pestalozzi-Fröbel-Hauses und finde es gar

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Kapite. 2:

freundlich von Frau Dr. Levysohn, sich so viel Mühe zu geben, und das

Unternehmen so großartig zu unterstützen. Es hat mich auch gerührt, daß die Künstler und die Künstlerinnen so gern zu diesem Zwecke mitwirkten und so Vortreffliches leisteten. In der Tat war die Nachricht über die schöne Summe, welche das Konzert gebracht hat,ein Tropfen Balsam auf mein wundes, gebrochenes Äerz I Ein jedes Gelingen oder Empor­ blühen einer guten Sache ist mir ein Trost und gibt wieder ein wenig Mut in einer Zeit, wo Tod,Vernichtung und Antergang (wenigstens äußerlich), allem zu werden scheint, wofür man gelebt und gelitten hat, allem, was wir erhofft und erstrebt 1 Manchmal denke ich, der Triumph der Lüge wird nicht ewig dauern können, wenn er auch mit allen Mitteln und Kräften, die der Macht zu Gebote stehen, aufgebaut ist — (wovon die neueste Rede v.Bergmanns bei dem Chirurgen-Kongreß wieder ein schlagendes Beispiel ist), dieVerleihung des Ordens an diesen Ärn.Camon (den Freund des Gf. Ä. Bismarck), dessen Verdienst gewesen ist, einen Teil der Lügen erfunden zu haben, die nachher diesen Zwiespalt zwischen denÄrzten hervorgerufen haben. Ebenso daßFriedrichskron — dieser dem Schmerz und den heiligsten Erinnerungen geweihte Ort — dies Jahr schon wieder bewohnt werden soll, und das Kofleben darin weitergehen, als wäre nichts geschehen, als wäre es nicht 30 Jahre des Glücks und auch des Leides mein Home

gewesen, tut mir unbeschreiblich weh! Es ist ja nur eineNebensache, ein äußerlicher Eindruck, aber er schmerzt wie so vieles, vieles andere! Den Prolog von Lerrn Albert Träger finde ich sehr hübsch; ich werde ihn sorgfältig unter meinen Erinnerungen aufheben. Ich sinne immer darüber nach, wie dem Äerrn und der Frau Mare einmal mein Dank auszusprechen sei für die Summe, die sie für unsere Anternehmungen gespendet haben. Vielleicht wäre es bei der Grund­ steinlegung für das Kinderhospital zu machen, daß sie vorgestellt würden und ich danken könnte. Ich will es mir nach allenRichtungen überlegen. Äier ist das Frühjahr sehr zurück, die liebliche Gegend schmückt sich aber jetzt jeden Tag mehr. Aber wenn man so geknickt ist, und die Sehn­ sucht nach dem verlorenen Gluck nicht zu stillen ist, so kann man nichts genießen! Ich lebe in Gedanken jeden Augenblick des vorigen Jahres durch, und die Tränen fließen immer wieder I Wie wäre es wohl anders möglich! Ich habe viel zu tun auf meiner Besitzung, Wege werden verlegt und angelegt und Bäume gepflanzt, und ich hoffe, in der zweitenÄälfte

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 45

des Monats wird der Bau beginnen. Die Arbeiten zu verfolgen, be­ schäftigt, zerstreut und interessiert smichs und ich bin froh und dankbar, dies zu shaben,) aber befriedigen oder die Leere ausfüllen in meiner Seele und in meinem Leben kann es doch nicht. Von unserer guten Miß Green haben wir uns gestern getrennt 1 Wieder ein schmerzlicher Abschied nach 8 Jahren Zusammenlebens. Sie ist gar tüchtig und vortrefflich, und ich misse sie sehr ungern. Nun leben Sie wohl und grüßen Sie Ihren Mann vielmals. Wie hübsch wäre es, wenn Sie beide einmal durchkämen, wenn Sie verreisen l Wie wird es mit der Reise nach Amerika? Ich labe mich stets an den Artikeln in der „Nation", wenn sie nur viel gelesen werden und Eindruck machen! Dazu sind sie, fürchte ich, zu solide und feineWare, zu „superior", um dem großen Publikum zu ge­ fallen; sie reden zu einer kleinen Gemeinde der „Elite" der-Patrioten, und man muß zufrieden sein, wenn sie nur in die Tiefe, nicht in die Breite gehen in ihrer Wirkung. Verwahren Sie diesen Brief wohl. Stets Ihre Sie liebende, tief trauernde Kaiserin Friedrich. Meine Töchter erwidern Dank und Ihre Grüße. Dieselbe an dieselbe.

Schloß Komburg a. d.Löhe, den 27. Juni 1889. Teure Frau Schrader!

Erst heute komme ich dazu, Ihnen meinen innigen Dank zu sagen für Ihren so wohltuendenBrief, der in meine Stimmung tiefstenWehes, fast der Verzweifelung, nur zu gut hineinpaßte. Die Jahrestage waren schrecklich, zu meinem Schmerze konnten sie nichts hinzufügen, aber sie brachten jene furchtbaren Stunden einem wieder so nahe — und mir blutete dasKerz wieder aus tausend Wunden I Es mag wahr sein, daß die Zeit Äeilung bringt, ich weiß es aber nicht, und dieses Jahr war so voller Lärten und Bitterkeiten für mich, und meine Empörung ist noch so groß, daß die Sehnsucht täglich größer wird nach dem, der unser Schutz und unsere Hoffnung, unser Stolz und unsere Freude war! Für jedes Ihrer teuren Worte möchte ich Ihnen Dank sagen! Ich weiß, Sie begreifen und fühlen die ganze Schwere, das unsagbar Grausame des Geschicks, welches mich getroffen hat; zertrüm-

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Kapitel 2:

mert und vernichtet, was Glück undLoffnung hieß! So einsam, so iso­ liert fühle ich mich, weggespült, weggewischt von der Stelle, wo zu stehen und zu wirken unsere Aufgabe zu sein schien; verlassen, verraten und verleumdet von so vielen, deren Interesse es scheint, so zu handeln I Za, es ist sehr, sehr schwer! Aber an der Treue der wenigen Freunde, die mir geblieben sind, richte ich mich auf, und das Bewußtsein, daß es die gute Sache ist, um derentwillen ich so viel leiden muß, gibt mir Kraft! Sie kann nicht ewig untergehen; kommt sie nicht zur Geltung, so wird jeder gute und verständige Patriot doch wenigstens wissen, daß es für Deutschland, Europa und die ganze Welt besser gewesen wäre, sie hätte gesiegt, und daß wir, ihre Vertreter, nicht so arg zu verschreien und zu verketzern sind, als wie man es für notwendig gefunden hat in den letzten zwei Jahren auf jede Weise zu tun! Manch rührendes Gedicht, manchen schönen Artikel las ich in der vergangenen Woche, welche mir zeigten, daß unser vielgeliebter Kaiser nicht vergessen ist, und daß manch treues Lerz sein Andenken bewahrt, um ihn trauert und das Geschick beweint, welches ihn uns so ftüh raubte 1 Das tat mir wohl Die Artikel Ihres Mannes über die Frauen in der „Nation" finde ich ausgezeichnet, wie ich mich überhaupt an diesemBlatte erbaue. Von dem schweren Anglück der armen Mrs. Montefiore hatte ich noch nichts gehört! Wie traurig ist der Tod der netten und begabten jungen Tochter! Die arme Frau zum dritten Male in wenig Jahren so hart getroffen und selbst so gut und vortrefflich. Laben Sie die Broschüre des Dr. Larmening aus Jena gelesen, ^Wer da?", eine Antwort auf die abscheuliche Schrift „Ein Programm aus den 99 Tagen"?Mir schien sie recht gut.Wenn Sie die Gelegenheit haben, so sagen Sie an Eberty, daß Mr. Knowles*) mit der größten Angeduld das Material zu seinen Artikeln über deutsche Zustände er­ wartet, er meint, die Zeit ginge so rasch, und das Interesse dürfe sich nicht

abkühlen. Ich sende Ihnen einen Zeitungsausschnitt über dieBodelschwinghschen Anstalten, welcher sicher zutreffend ist. Den 30. Erst heute kann ich weiter schreiben und sende diese Zeilen nicht durch die Post.Bitte lesen Sie in der „Revue des deux Mondes" von der zweiten Lälste des Juni einen Artikel von Bourdeau über Treitschke; ich finde ihn vorttefflich. *) Redakteur der „Fortnightly Review", einer englischen Zeitschrift«

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 47 Wie außer mir ich über unsere Zustände bin, kann ich nicht sagen; ich bin seit frühester Kindheit gewohnt, mit so tiefem Interesse alles zu verfolgen, daß es mir kaum möglich ist (wie so viele raten), einfach die Augen abzuwenden von allen öffentlichen Dingen und nicht mehr darüber nachzudenken I So den Faden eines ganzen Lebens abzubrechen, ist mir nicht gegeben; tausend Klammern halten Geist und Seele fest an

den Dingen, die einst meines geliebten Mannes Denken und Streben waren! Aber weiter mit erleben heißt weiter leiden. Mein eigenes Schicksal wendet sich auch nicht zum besseren. Zwischen meinem Sohn und mir besteht kaum noch eine Verbindung; er scheint meine Existenz kaum noch zu kennen, und ich muß immer und immer erfahren, wie in seiner ganzen Umgebung gegen mich gehetzt und gearbeitet wird; wie ich verleumdet und verschrien werde. Dies ist sehr bitter und schwer zu tragen. Er ist so vollerMißtrauen gegen mich, es ist der Clique gelungen, ihm dieses beizubringen, daß er jedwedes im voraus glaubt, das gegen mich vorgebracht wird. Seine älteste Schwester, die erst recht ein In­ strument der Clique ist, fast noch mehr! Dieses Kreuz in Geduld tragen zu allemWeh, welches mein Äerz zerreißt, ist furchtbar schwer. Im September komme ich wahrscheinlich nach Berlin, am 27. Ok­ tober ist voraussichtlich die Lochzeit meiner Tochter Sophie in Athen, so daß ich hoffe, den 18. Oktober in Berlin noch zu sein. Eine sympathische Beschäftigung ist mir das Einrichten meines zu­ künftigen „Home" bei Kronberg. Es gibt so viel zu tun, daß die Ar­ beiten nur langsam gehen können. Ich will dort alle Erinnerungen a n ihn und das ganze Laus seinem geliebten Andenken weihen! Sein Geist soll darin walten, und so allein kann seiner armen, verlassenen, gebrochenen Frau etwas Friede werden in ihrer Einsamkeit und in ihrem Schmerz. Dort werde ich unabhängiger sein können als irgend­ wo anders, da es mein Eige ntum sein wird. Ich möchte nur, daß meine Freunde sich recht hingewöhnen könnten. Meine Tochter Viktoria kehrt heute abend zurück von ihrer Reise... Nun leben Sie wohl, liebe Frau Schrader, grüßen Sie Ihren vortrefflichenMann tausendmal von mir und senden Sie mir eine Zeile auf demselben Wege wie bisher, damit ich weiß, ob dies sicher in Ihre Lände kommt. Ihre tieftrauernde V., Kaiserin und Königin Friedrich.

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Kapitel 2:

Dieselbe an dieselbe. Schloß Lomburg v. d.Löhe, den 6. Juli 1889.

Teure Frau Schrader! Es ist alles richtig angekommen, beide Sendungen und mit größ­ tem Dank ausgenommen worden!

Die Antwort auf Dr. Fränkels Bestrebungen lautet gerade, wie ich es erwartet hatte. Die Broschüre der TX werde ich bei Gelegenheit zurückschicken. Der Standpunkt ist haarsträubend; eine so häßliche Ge­ sinnung und kranke Seele schaut aus diesem giftigen Gemisch vonWahrheit und extravagantem Unsinn heraus, daß man wahrhaft erschrickt I Das wäre eine nette Welt, wenn die Frauen so würden wie dieses unerfteuliche Exemplar ihres Geschlechts 1 Es wünscht eine neue „nuance“ von Nihilistin! Lingegen erscheinen mir die Bestrebungen, wie sie das gedruckte Programm enthielt, „Lilfsverein weiblicher Angestellten" recht gut, ver­ ständig und nützlich zu sein. So etwas fehlt uns schon lange und existiert unter verschiedenen Formen schon in England. Unser schwacher Versuch, in der Steinmehstraße eine Art von Arbeiterinnen-Abend-Leirn zu gründen, gelang ja nicht, aber wenn dieser neue Verein Anlehnung an den unsrigen suchte, und verständige Elemente die Leitung mit über­ nehmen, könnte er gewiß wohltätig wirken. Der Verein für öffentliche Gesundheitspflege, Lette-Verein, Leimatshaus für Töchter höherer Stände könnten wohl in irgendeine Verbindung mit diesem treten! Wäre irgendeine Kundgebung meinerseits gut? Soll ich einen Beitrag senden? oder soll man erst abwarten, wie die Sache wird?

Der zweite Verein, von dem die Rede ist, für die untere Stufe der Arbeiterinnen und zum Schuhe für die jüngeren gegen die schlimmsten Gefahren, ist auch sehr nötig, und die Schwierigkeit wird auch sein, Geld zu finden, um ein Äaus zu mieten, welches als Leim für die ar­ beitenden Mädchen dienen kann. Wie gern würde ich versuchen zu helfen, wenn der Verein nur von Stöcker- und Muckertum sich ganz ftei hält. Sollte ich vielleicht ein Protektorat übernehmen? Wie sehr nett ist der Kalender: „Der gute Kamerad." Wie haben mich die Stellen über unsern geliebten Kaiser gerührt 1 Vielen, vielen Dank. Die Rede von Fräulein Lange finde ich rührend und gar schön!

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 49

Über die Übernahme von der Privatkrankenpflege seitens des Viktoria-Lauses haben wir schon viel gesprochen und korrespondiert, es ist dringend nötig, daß das Publikum von diesem Dr. O. sich nicht betören läßt. Ich sehe morgen Fräulein Fuhrmann. Es ist sehr schwer, ohne eigenesLaus genug Pflegerinnen heranbilden zu können, um allen Anforderungen gerecht zu werden I

Lier könnte ich auch sehr gut einige Schwestern gebrauchen in dem so sehr armen Dorf Schönberg bei Kronberg. Das deutsche Lospital in London bittet um Viktoria-Schwestern und möchte gern seine Dia­ konissinnen entlassen! Dies refüsieren zu müssen auf immer, wäre mir ein großer Schmerz und ein Schade für unser Institut. In der Presse müßte angedeutet werden, daß wir dochPrivatpfleg« übernehmen; vor allen Dingen müßte aber die Stadt, d. h. unser verehrter Oberbürger­ meister*)**)gebeten werden, denBau unseresLauses zu beschleunigen, denn es ist uns bei den jetzigen Verhältnissen die Möglichkeit abgeschnit­ ten, mehr Schwestern auszubilden, und wir brauchen doppelt so viele Kräfte, als wir jetzt haben. Was nun die Biographie anbetrifft, welche mir so sehr am Äerzen liegt, kann ich nicht ans Werk des Sammelns und Sichtens gehen, weil ich ja mein Material alles in Sicherheit habe bringen müssen. Aber der Plan ist ganz der, den ich mir gedacht hatte, und mündlich können wir im Lerbst noch viel darüber reden. Vielen Dank auch für das Schriftstück, dies betteffend l Wie unendlich weh es mir getan hat, den Namen „Friedrichskron" abschaffen zu sehen, können Sie sich denken. Ich empfinde es als eine tiefe und nicht unabfichtliche Kränkung und bin in allen meinen Ge­ fühlen hierüber, wie über vieles, vieles ander« tief verletzt.Mein Leidens­ kelch ist bitter und voll zum Äberfließen.

Ich wünsche Ihrem Manne «ine gute Reise nach Konstantinopel, bedauere aber, daß er gerade zur heißesten Zeit hin muß. Leute wird ein Diner in London für das „Throat Hospital*•' gegeben, und hoffent­ lich bei dieser Gelegenheit dem armen Sir Morel Mackenzie auch eine kleine Freude bereitet. Er hat so schwer gelitten in dieser ganzen Zeit, und was mich am meisten drückt und quält, wegen uns, und weil er u nS brav gedient hat und dem teuren Kaiser geholfen, solange es ging. *) Max von Forckenbeck. **) In ^Neues Palais" bei Potsdam von Wilhelm n. umgetauft. (Lerausgeber.) 4 Ly schi nSka, Henriette Schrader H.

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Kapitel 2:

sein teures Leben uns [ju] erhalten. Das Diner wird im ^kotelMetropole" gegeben. Ich muß hier in großer Eile schließen. Ihre tief traurige , ^aj|cr,n „nd Königin Friedrich.

Dieselbe an dieselbe.

Den 5. Oktober 1889. Tausend Dank für Ihren Brief. Die Einlage von Pfleiderer Hal mich sehr gerührt und erfreut. Die Vorsicht erheischt, daß ich jeder publizistischen Tätigkeit so fern als möglich stehe l Wenn ich also die Freude haben soll, den Artikel zu lesen, ehe er nach England geht, so darf niemand außer Sie selbst und der Autor davon wissen, sonst könnte es viel Schaden tun, und man würde die englische Review ein für allemal als von mir inspiriert halten, und ich würde hier viel zu leiden haben. Bitte nehmen Sie Kenntnis von der Einlage, ich hatte an F. geschrieben, um zu fragen, wie ich es anstellen sollte, um die Frei­ sprechung der Äartungschen Zeitung, d. h. des Redakteurs, zu erlangen, da eine Beleidigung nicht vorliegt, und ich gegen dieBlätter, die mich wirklich beleidigt haben, nicht geschützt wurde, und sie nicht verfolgt wurden 1 Was rät Ihr Mann? Schicken Sie mir die Einlage zurück, die ich mir im strengsten Ver­ trauen hinzufüge. Was muß man nicht alles an Widerwärtigkeiten und

Widerlichem erleben! 1 Der Abend in der Philharmonie war wirklich schön! und ich war für den freundlichen Empfang sehr dankbar. ^re V., Kaiserin und Königin Friedrich. Dieselbe an dieselbe. Berlin, den 10. Oktober 1889.

Liebe Frau Schrader! Ich sende die Arbeit von Dr. S. zurück, ich habe sie aufmerksam und mit großer Freude gelesen, und ich finde sie gediegen, gründlich, leicht zu verstehen, in ruhigem, objektivem, würdevollem Ton gehalten; eine wertvolle geschichtliche Begründung unserer heutigen Zustände.*)

*) kirchlichen. (Herausgeber.)

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 51

Ich vermisse nur ein Aufzählen unserer Parteien liberaler Rich­ tung, vor allem den Namen Schwarz in Gotha. Dann auch einen kleinen Äinweis darauf, daß sich Kaiser Friedrich stets für den Protestantenverein interessierte, und bei seiner eigenen Pflichttreue und tiefen Frömmigkeit ein eifriger Beförderer der interkonfessionellen Duldsamkeit und des Friedens innerhalb der Kirche war. Er wollte freie Entwicklung, freie Forschung, aber enges Zusammengehen im Dienste des Volkes, der Kultur, in der Sorge für alle Bedürftigen. DenReaktionären war er entgegen und hoffte die preußi­ sche protestantische Kirche frei von jedem politischen Beigeschmack zu

sehen! Vielleicht wollte und konnte Schm, das nicht sagen, aber da er an einer Stelle die jetzige Kaiserin nennt, könnte vielleicht eine leise An­ deutung, ein kleiner Linweis auf diese Stellung Kaiser Friedrichs zu den Dingen nichts schaden; ich gebe es wenigstens anheim.

In aller Eile. Ihre V., Kaiserin Friedrich.

Dieselbe an dieselbe.

Athen. 6.November 1889. Liebe Frau Schrader I

Ich bin eigentlich recht außer mir über das kleine Buch von Gustav Freytag. Es enthält eine Menge von falschen Auffassungen und unrichtigen Dingen, von ,denen ich fürchte, daß sie uns sehr schaden und unsern Gegnern sehr nützen werden. Früher stand Freytag ganz auf unserm Standpunkt, aber in den letzten Jahren hat er ganz geschwenkt und ist zur herrschenden Partei der Gegenwart übergegangen.Wir haben ihn in den letzten 10 Jahren kaum einmal gesehen und standen in keinem Briefwechsel I Er ist (trotz Leirat usw.), der intime Freund von General Stosch und Lerrn von N. . . . geblieben, auch steht er sich mit dem Lerzog von Koburg ebenso gut als früher! Freytag ist ein sehr bedeutender Mensch und hat ein vortreffliches Lerz und ist uns wirklich attachiert, aber — wie es bei den Dichtern ist — das Arteil über Personen und Dinge fehlt manchmal, und so stellt er den Kaiser Friedrich als „ge­ altert", „ermattet", „unselbständig", „schwach" und „unentschlossen" dar! 4*

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Kapitel 2:

Hiervon ist kein wahres Wort! Er hat den Kaiser gar nicht gesehen zu der Seit, wo er von ihm sagt, er hätte keine Energie und Schaffensfreude. Das Buch ist sehr schön geschrieben, es kommt mir aber recht verkehtt vor und ist mir doch sehr unangenehm. Gern hötte ich von Ihnen, wie es von unsern Freunden beurteilt wird.Was Freytag über meine und meiner Schwester Alice Briefe nach England schreibt, ist geradezu lächerlich 1 Ebenso unwahr, daß das Hauptquartier verhindert war, aufzubrechen während des Krie­ ges, weil der Kaiser an mich schreiben wollte. Ich glaube, der Feld­ marschall GrafBlumenthal könnte dies widerlegen. Mit diesemBuch hat Freytag uns einen schlechten Dienst getan und dem Fürsten B. einen guten. Was er über die jetzige Regierung sagt, ist auch unrichtig, und so Hinwegzugleiten über alle Abscheulichkeiten von 1887 und 1888 und Anfang 1889 ist nicht recht, wenn man vom Kaiser spricht. Wie hat er gekämpft und gestritten, und wie hat man versucht, ihn zu verderben! Es ist vielleicht nicht an der Seit das hervorzuheben, dann ist es aber besser zu schweigen, als dies zu ignorieren, wenn man eine der besten Federn der Welt besitzt wie Freytag. Wie wird wohl das Buch im großen Publikum wirken? Was er auch über Morier sagt, ist auch nicht richtig, und ich teile gar nicht die Auffassung, daß Bismarck recht habe, ihn in Berlin nicht haben zu wollen, weil er uns zu gut kannte und in Deutschland zu gut Bescheid wußte. Ld. Ampthill kannte uns ebenso gut, stand uns ebenso nah, wußte in Deutschland recht gut ein und aus, und es hat doch niemanden gefährdet, sondern nur genützt. Doch ich habe nicht Seit zu mehr. An Freytag habe ich nicht geschrieben, er hat mich über dieses Buch, wie Sie wissen, niemals zu Rate gezogen. ^tc V., Kaiserin und Königin Friedrich.

Dieselbe an dieselbe.

Neapel. Grand Hotel. 7. Dezember 1889. Liebe Frau Schrader 1 Ich benutze die sichere Gelegenheit nach Berlin, um Ihnen ein paar Seilen zu senden. Innigen Dank für Ihre beidenBriefe mit den Ein­ lagen, die ich hier bei meiner Ankunft am 3. erhielt. Die Antwort Ihres vortrefflichenMannes auf diese entsetzliche Schrift von Freytag finde ich

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sehr gut; milde, gerecht, vorsichtig, taktvoll und im würdigen Tone geHallen. DieReserve, die dabei beobachtet ist, finde ich durchausamPlahe — besonders einer Schrift gegenüber, die es so ganz an der Zurück­ haltung fehlen läßt, die ein näheres Verhältnis zu der Person des Ge­ schilderten auferlegen sollte. Man sagt mir, die Freytagsche Schrift sei in der Wilhelmstraße vorgelegt worden und sei genehmigt worden in allen Stücken, ehe die Broschüre erschienen ist. Ich glaube wohl, denn das Buch hält ja die Fiktion auftecht, welche man zu verbreiten bestrebt war: Unser geliebter Kaiser zumRegieren nicht gemacht, und ich — eigentlich eine Spionin; mein Einfluß ein erdrückender, schädlicher. Was will man mehr? Das entschuldigt alles, was geschehen, und gibt der jungen Generation recht in allem — bestärkt sie in ihrer Auf­ fassung und in ihren Landlungen.

Es ist wirklich ein eigenesMißgeschick, diesen ewigen Verleumdungen entgegentreten zu müssen, dieses Verkanntwerden über das Grab hinaus 11 Das eigene gute Gewissen, das ist das einzige, was einem bleibt, darum will ich mich auch nicht mehr über diese Sache grämen. Ich habe einen Brief von der armen, lieben Frau Keyl, ach, die Arme tut mir so unsagbar leid! Trösten kann ich sie nicht, weiß ich doch selbst am besten, daß es keinen Trost gibt.Man muß sein Kreuz auf sich nehmen, wissend, daß man es erst im Grabe niederlegen kann, und ver­ suchen, für andere zu wirken und zu schaffen; das eigene Glück und Loffenistja abgeschlossen. Man wird eineandere, aber fester als je in allem waS man als daSRichtige erkannt hat. Vielen Dank für alle Ihre gutenWünsche zu meinem Geburtstage. Ich zehre noch an dem Abschied von meinem geliebten Kind«, der mir so unsagbar schwer wird; sie fehlt mir schrecklich.

Wie geht es der herzigen kleinenRickert?Welch ein traurigesWeihnachten für das arme Kind ohne die Mutter; grüßen Sie sie von mir, bitte. Was macht Fräulein Lange? Sind die Kurse gut besuchl? Doch nun leben Sie wohl, grüßen Sie Ihren Mann.

Wir bleiben zu Weihnachten und Neujahr ruhig hier, weil es still ist, und wir allen Einladungen aus demWege gehen können. DasReisen tut mir gut, aber der Schmerz ist und bleibt überall derselbe, und Italien ruft so viele teure, wehmütige Erinnerungen wach! Oft denke ich, wir

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Kapitel 2:

sind in SanRemo, und es würde alles wieder gut 1 Zu dem Fest nehmen Sie meine bestenWünsche entgegen, besonders auch für dasPestalozziFröbel-Äaus. Ihre Sie liebende V., Kaiserin Friedrich. Dieselbe an dieselbe.

[Berlin] d. 19.März 1890. Liebe Frau Schrader I Der gestrige Abend war vortrefflich arrangiert, und es ging alles vortrefflich; ich bin IhremManne so dankbar. Ich meine, es wäre nicht schlecht, wenn sich einmal des Jahres etwas in der Art wiederholen könnte, und dann Vorschläge gemacht würden und Fragen gestellt über so Verschiedenes in der Handhabung der Ferienkolonien. Ein permanentes Erholungshaus wäre sehr gut; in derNähe von Berlin müßte eins gekauft oder gemietet werden, aber im übrigen Deutschland könnte man sich leichter helfen, denn in den Bädern steht im Winter leider alles leer; mein Viktoria-Stift in Kreuznach z. B. müßte eigentlich immer bewohnt sein. Baden kann man nur von Mai bis September, aber erholen können die armen Kinder sich stets, und im Winter ließe sich das Äaus als Konvaleszenten-Äaus benutzen vielleicht? Die hübschenVeilchen schmücken mein Zimmer und erfreuen mich— aber ach, mit wieviel Wehmut [erinnern] sie an Charlottenburg und an die Tage, wo wir ihm stets die Veilchen brachten. Ich hoffe Sie in ein paar Tagen zu sehen. Ihre V-, Kaiserin Friedrich. Dieselbe an dieselbe. Berlin. 17. Dezember 1890. Teure Frau Schrader! Ich bin IhremManne unendlich dankbar für die so vortreffliche und klare Darstellung der Bestrebungen von Fräulein Vorwerk. Mir ist die Idee gekommen, ob nicht dieser Augenblick vielleicht ganz geeignet wäre, um herauszutreten mit der Frage der Mädchen­ schulen, der Lehrerinnen-Seminare, der Fortbildungsschulen (classes) und überhaupt der „Ladies’ Colleges“, da nun die Schulreform für

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 55 Männer so viel Aufmerksamkeit oder Zeit in Anspruch nimmt! Die Re­ form der weiblichen Bildung i. e. der Lebung derselben ist doch ebenso

wichtig. Ich weiß, daß wir Goßler und Schneider noch nicht für uns haben, aber ich bin gern bereit, irgendeinen Schritt zu unterstützen, welcher in derRichtung geschieht. Es müßten sich freilich alle die Frauen und Männer zusammentun, welche derselben Ansicht sind, sonst macht man keinen Eindruck, und unsere Stimme verhallt einfach.

Wie wäre es, wenn man die Petition wieder hervorholte, welche Fräulein Lange vor einiger Zeit an das Abgeordneten-Äaus richtete? Natürlich müßte das Vittoria-Lyzeum mit uns gehen, und vielleicht gerade als Beweis dienen, daß man gezwungen war, eine Stätte pri­ vatim zu schaffen, an welcher Frauen ihre Bildung vervollkommnen können, weil der Staat ihnen keine gibt. Will man denn auf die Volksschule heruntergehen, könnte man das alte Verlangen stellen, welches mir so lange vorschwebt, nämlich die untersten Klaffen der Volksschule an die Kindergärten zu geben, und die Pestalozzi-Fröbel-Idee ließe sich vielleicht fördern.

Was ich hier in der Eile schreibe, ist ja sehr unbestimmt und unreif, aber wenn Sie sich unter der Land mit einigen andern beredeten, könn­ ten wir wenigstens die Frage erwägen. Wenn einiges mit der Knaben­ bildung im argen liegt oder der Verbesserung bedarf, so ist es mit unserer Frauen- und Mädchenbildung erst recht der Fall. Warum kann nicht ein Anttag gestellt werden, es möchte auch hierüber eine besondere und außerordentliche Kommission zusammengerufen werden?Vielleicht ließe sich dasViktoria-Lyzeum in eine Staatsanstalt als erstes, deutsches „College“ für Frauen umwandeln? Wer soll aber bei der Landesvertretung das Geld fordern?

Ich fürchte, dasPreußische Kultusministerium, nämlich seine Räte, tragen einen zu langen Zopf dazu. Wenn ich von Kiel am 2. oder 3. Januar zurückkomme, können Sie mir vielleicht sagen, was Sie und Ihr Mann darüber denken. Ihre

V. Kaiserin Friedrich.

Die unterste Klaffe der Volksschule Frauenhänden zu überttagen wäre ein großer Gewinn fiir die armen Kinder und auch für die Lehrer.

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Kapitel 2:

Dieselbe an dieselbe. Lomburg v. d.Köhe. Königliches Schloß. 1891? 1892?*)

Ich soll Stolz und Freud« über den Besuch in England empfinden, da der Empfang fitr W. einem Triumphzug glich? Wie könnte ich wohl das I Tiefe Wehmut erfüllt mich, wenn es mir gelingt, jedes heftigere und bitterere Gefühl niederzukämpfen. Froh bin ich, daß England und Deutschland eine Annäherung suchen — ich habe gemeint, es sei natürlich, heilsam und vernünftig, nicht nur praktisch für die augenblickliche Lage der auswärtigen Politik, das ist eine wankende und veränderliche Sache! Was mein Vater und später mein Mann und alle unsere näheren Freunde wünschten, war ein gemeinsames Mitarbeiten beider Völker an der Entwicklung der Kultur und ein wechselseitiger Einfluß aufeinander, ein Austausch der Gedanken usw. Wie viel Gutes erhofften wir für beide Länder, zumal für Deutsch­ land von diesem Verhältnis der beiden Völker I Statt dessen mußten wir erleben, daß in Deutschland die Kulturaufgabe mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurde, und die äußere Machtstellung auf Kosten der inneren Kräftigung und Entwicklung ins Auge gefaßt wurde. Es wuchsen eine Menge böser Saaten empor, unter anderm, künstlich er­ zeugten giftigen Ankraut, ein Chauvinismus, der auf Kaß fremder Völker — besonders aber auf England beruhte; ein komisches Gemisch von Neid, Mißttauen, Furcht und Geringschätzung zugleich 1 Durch alle Tonarten ging dies Lied von dem Groll gegen England I! Freiheit könnte man allerdings in Deutschland nicht brauchen! Konstitution, Parlament, individuelle Selbständigkeit, Selfgovernment, Freihandel — waren Dinge, die bekämpft werden mußten und sollten! Sie waren es aber gerade, durch welche England reich und groß geworden ist — und das sollten die Deutschen nicht wissen und nicht hören! Den bitteren Schmerz hatte ich, meinen Sohn nur in der offiziellen Sttömung schwimmen zu sehen — daher das England seiner Eltern nur verkennen zu sehen. Jetzt huldigt ihm das offizielle England, und man weiß nichts mehr von seinem bitteren Schelten auf das Land, die Könige, die königliche Familie usw. Das England desReichtums, des Wasserspotts) der prachtvollen Marin«, des Loses und des jetzigen Ministeriums gefällt ihm sehr wohl.

*) Jedenfalls nach der Entlassung Fürst Bismarcks. (Herausgeber.)

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 57

das wahre, das Innere, das ernste England, seine Bedeutung, seine Kämpfe, seine Ziele kennt er nicht — ebensowenig wie er sein eigenes Deutschland kennt und die bessere Seele des deutschen Volkes. And die­ jenige, die er sieht, ist durch und durch verwirrt und korrumpiert worden durch dasBism.Regiment. Könnten die Reisen ihm die Augen öffnen, die großen Lücken in seinem Wissen ausfüllen, einige der Vorurteile mildern, in denen er so befangen ist, so würde ich mich gewiß über eine jede freuen! So aber trinkt er überall nur neuen Weihrauch, und das Selbstgefühl wächst mehr und mehr, und die Einsicht hingegen nicht. Das kann mich nur traurig machen, zumal wenn ich weiß, von wie unbedeutenden Men­ schen er umgeben wird, und wie wenigWahrheit an sein Ohr dringt. Immerhin bin ich froh für den Augenblick, wenn die Staaten England und Deutschland zusammenhallen, und vielleicht fällt hie und da für die „gute Sache" ein kleinerBrocken ab, und unbewußt wird der blinde Laß des deutschen Publikums gegen England und seine Institu­ tionen ein wenig gemildert. Auf mein eigenes Schicksal wirkt es aber nicht wohltätig ein. Mein Sohn glaubt, nur er — nicht aber seine Eltern — hätte eine „Entente cordiale“ herbeiführen können! Sie hätten den deutschen Interessen nur geschadet, er aber genützt. Ferner sei man in England gänzlich gleichgültig gegen di« Verfolgung (an der er hauptsächlich schuld war), die seine Eltern 1887—1888 zu erdulden hatten! und das nicht sehr rege Gewissen wird nun vollständig beruhigt. Lat man ihn damals kritisiert, so war nur seine Mutter daran schuld, die ihn verleumdet hatte, und die ihm alle seine Triumphe nicht gönnte. In England sei man jetzt vollständig davon überzeugt, daß alle Schuld an Mißverständnissen auf feiten seiner Eltern und nicht auf der seinigen gewesen wäre. Der Fürst Bismarck ist auch ein bequemer Sündenbock — zumal wenn jedermann W. einredet, was Anrechtes ge­ schehen sei, war überhaupt nur des Fürsten B. Schuld. Das Mißtrauen gegen die Eltern, gegen die liberale Pattei und gegen alle Freunde sitzt leider jetzt fester als je, und der Glaube an alle feindseligen Märchen, die ihm damals von so vielen Seiten eingegeben wurden, ist noch nicht erschüttett. Man darf und kann allen Klagen über die Folgen des erschütternden Schicksalsschlages, der uns getroffen hat, nicht Worte verleihen, sie bleiben in der vom heißen Schmerze bewegten Seele verborgen I Daß nicht einmal die Geschichte Sühne und Gerechtigkeit bringen sollte, das ist schwer zu glauben. In Liedern und Er-

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Kapitel 2:

Zahlungen wird vielleicht einst mein schweres Schicksal weiterleben, und aller Mütter Lerz bang erfüllen; denn wie stets und besonders hier in Preußen das Vorbild von oben wirkt, so wird ein Zug kalter Gering­ schätzung gegen die Eltern der Stempel dieser Zeit werden, und die Mütter werden vielleicht ihre Söhne sich ohne Dank und ohne Ehrfurcht abwenden sehen müssen! Weh tut es, das muß eine jede fühlen — aber das Ende des Dramas ist noch nicht da! Was können wir noch erleben 1 Das Glück umstrahlte Laupt ist nicht gefeit, und jeder Tag kann ein Memento bringen! Fast möchte man so etwas voraussehen, und (man) erbebt, wenn man an die Gefahren denkt, die uns umgeben. Es gibt aber einen eigenen Gott für die Kinder — und die Leichtsinnigen!! Man kann nur beten, daß Einsicht,Ruhe, Vorsicht und Voraussicht kommen mögen, ohne daß die Klugheit erst durch böse Erfahrungen erkauft zu werden braucht. Mir erscheint die Monarchie auf eine harte Probe ge­ stellt, und ich zittere vor einer schlimmen Wendung. Der leitende Staatsmann*) ist ein gerader, gewissenhafter, tüchtiger und vortrefflicher Mann — mein Sohn sieht ihn selten und wenig. Die Chefs der beiden Kabinetts sind außergewöhnlich unbedeutendeMänner — können darum weder helfen noch nützen, sondern nur zu allem „ja" sagen; in der Umgebung ist kein einziger Kopf, der von dem Kaliber ist, imponieren zu können, eine Stütze oder ein Äemmschuh zu sein. Zeder Einfluß wird abgeschüttelt, die als irgendwelche Gene empfunden wird. „Ich dulde keinen neben mir" in dem Munde eines sehr eiteln, sehr unreifen, unerfahrenen und eigensinnigen jungen Mannes ist ein schlimmes Wort I „Ein edler Geist zieht edle Menschen an." Es besteht aber keinVerkehr bei Los, der vertiefend, veredelnd und belehrend wirkt, und zu der schweren Aufgabe, so zu regieren, daß eine Monarchie sich selbst in modernen Zeiten und unter modernen Erfordernissen als ein Vorteil erweist, fehlt die Ausrüstung mit den Kenntnissen und Gesin­ nungen, die allein dazu befähigen. Die Ansichten und Gefühle eines Autokraten und eines preußischen Leutnants und eines preußischen Korpsstudenten reichen nicht aus. Die Art und Weise, in welcher man sich vom Fürsten B. trennte, war kein Glück und keine Heldentat. Richt von einem bösen und kor­ rumpierten System wollte man sich lossagen, dessen Prinzipien man erkannte und verurteilte, dessen ganzes unheilvolles Wirken und deren arge Mittel man endlich zu beseitigen hoffte; sondern man wollte nicht *) General von Caprivi. (Herausgeber.)

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mehr das persönliche, unbequeme Eingreifen eines mächtigen Ministers. Großvater und Vater fanden auch die Präponderanz dieses Mannes oft peinlich; der eine ertrug es, weil ihm alles recht war, was in seinen Augen konservativ und antiliberal war, und weil ihmB. auf das höchste imponierte, und er selbst bescheidenen Sinnes war 1 Der andere, weil er aus Liebe zu seinem Vaterlande die Wandlung auf besseren Bahnen, auf ruhigem, allmählichem und vorsichtigemWege erzielen wollte, nicht durch heftige und plötzliche Rucke, sondern Schritt für Schritt, logisch, eine schlimme Frucht nach der andern derB scheu Zeit beseitigen, wenn sie als schlecht von der Nation erkannt worden wäre. Dabei hätte er niemals gegen den Fürsten B. als historische Persönlichkeit mit einem großen Prestige umgeben, sich anders als ritterlich und rücksichtsvoll benommen, wenn er auch ost in ihm einen Gegner hätte erblicken müssen. Dieselbe an dieselbe.

-Berlin. Den 17. Februar 1892. Liebe Frau Schrader! Können Sie morgen um 5 noch einen Augenblick zu mir kommen? Bitte fragen Sie Ihren Mann, was er dazu sagt, wenn ich eine Peti­ tion an den Reichskanzler und den Gsn. Zedlitz richte zum Schutz der Sonntags-Äandwerkerschulen? Sie wissen ja, wie unser geliebter Kaiser denPrüfungen in diesen Schulen hier an verschiedenen Sonntagmorgen in den Frühjahrsmonaten in früheren Jahren beiwohnte, und welchen Wert er auf diese städtischen Anstalten legte. Sind also Dir. Jessens Schu­ len gefährdet, würde ich gern dafür eintreten und nehme das gern, auf mich. Ebenso würde ich für alles eintreten, was unsere Lehrerinnen und weibliche Bildungsanstalten schützt vor einer aufgezwungenen Be­ einträchtigung, wie das neue Schulgesetz für die Männer es befürchten läßt. Vielleicht überlegen Sie sich dies bis morgen. Für die Rathaus­ versammlung bin ich sehr, wenn es nicht besser gefunden wird, die Ver­ sammlung hier im Palais abzuhalten; das Rathaus ist in mancher Be­ ziehung besser . Dieselbe an dieselbe.

Tatoi. Den 30. Juli 1893. Meine liebe Frau Schrader! Soeben erhalte ich Ihren Brief vom 19. und danke vielmals und bestens dafür.

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Kapitel 2:

Wenn Sie im September nach dem Orient reisen, so möchte ich gar gern Sie auf dem Hinweg in Homburg sehen, wenn Ihr Hinweg Sie über Frankfurt führt. Ich hätte so manches zu sagen, was mündlich so viel besser geht als auf dem Papier. Man kann noch keinePläne machen, es ist zu früh, aber wahrschein­ lich wird mein Berliner Aufenthalt vom Anfang November bis gegen End« Dezember stattfinden. Wie werde ich es bedauern, daß Sie beide gerade dann abwesend sein werden. Den Bericht von Fräulein Schepel werde ich mit vielem Interesse lesen. Es freut mich sehr, daß die Ausstellung des Pestalozzi-FröbelHauses gelungen ist. Daß Sie die Schwester Elisabeth Phara lobend erwähnen, wird die Königin Olga gewiß sehr freuen. El. P. wird bald hier erwartet und wird die äußere Station (Chirurgische Abteilung) unter fich haben und, wie ich hoffe, recht Gutes leisten. Hier gibt es viel zu tun, und meine Tochter ist voller Eifer und des besten Willens. Aber es ist sehr schwer, denn das Geld ist gar zu knapp Ich gedenke mit den best en Wünschen des edeln Mannes, der nun seinen 70. Geburtstag* feiern wird! Daß eine solche Kraft, ein solcher Geist nicht die Stelle hat finden sollen, wo die vollste Entfaltung des Einflusses und der Tätigkeit möglich war, ist ein Anglück für Deutschland und uns alle!'Das Schicksal ist eine sehr blinde und kapriziöse Dame, versteht nicht zu verwenden, zu erhalten und hauszuhalten mit den besten Elementen, die wir haben! Die Philosophie ist ja da, um uns zu lehren, stillzuhalten, aber das Herz blutet dabei! Wenn man auch keine Illusion haben will noch mag, trennt man sich doch schwer von seinen Hoffnungen, und es geht doch unsern Gesinnungsgenossen und mir ebenso. Man möchte über so vieles „wehe!" sagen, daß es so kom­ men mußte, wehe — daß so viel Gutes, so viele Gedanken, Mühe und Arbeit und redliches Streben nach dem höchsten Ziel umsonst waren!

And doch nicht umsonst; denn wenn wir alle dahingestorben sein werden, war das Körnchen vielleicht doch nötig, welches zum allgemeinen „Werden" beigetragen worden ist; und Ideen sterben nicht! Für die besten unter ihnen scheint oft keine Zeit, kein Raum und kein Bedürfnis, so wenig scheinen sie zu gedeihen und Aufnahme zu finden. Aber darum arbeiten und wirken sie doch, und den einen traurigen Trost werden wir *) Ludwig Bamberger.

(Herausgeber.)

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 61

haben, daß man einmal sagen wird: „Ach, wäre es möglich gewesen, diese oder jene Ideen zu verwirklichen, wie viele Mißgriffe, wieviel Konfusion und Unglück wäre verhindert worden. Es wäre zu schön ge­ wesen I Es hat nicht sein sollen 1" Ich bin über die Lage der Dinge daheim doch sehr unglücklich, und mein Lerz ist voller Wehmut; aber man schweigt am besten, da man nicht helfen kann. Leben Sie wohl, und senden Sie mir bitte eine Zeile, um mir zu sagen, ob dieser Brief richtig in Ihre Lände kommt. Was hören Sie von Eberty? Was macht Emmy Rickert? Wir erwarten täglich das Ereignis. Es geht meinem geliebten Kinde gottlob gut trotz der schrecklichen Litze. Ihre V., Kaiserin Friedrich. Dieselbe an dieselbe.

Schloß Friedrichshof (Cronberg, Taunus). 3. Juli 1896. Liebe Frau Schrader I Tausend herzlichen Dank für Ihre Zeilen vom 15. Juni, dem Er­ innerungstag des bittersten Leides! Alles damals Erlebte scheint mir immer so nahe, wenn der Monat Juni wiederkehrt. Darum tunWorte der Teilnahme wie die Ihrigen so wohl I In Griechenland hatte ich viel Sorge und Angst, aber auch viel Freude. Das Frühjahr war dort unbeschreiblich schön, und Gott sei Dank sind die Nachrichten von meiner Tochter jetzt gut, und die kleine Lelena gedeiht nach Wunsch. Fräulein Fuhrmanns Tod war ein wahrer Schlag für mich, eine so tüchtige Oberin werden wir schwerlich wieder bekommen, und ihre schweren Leiden hat sie heldenmütig ertragen, und bis zuletzt war ihr Denken und Streben dem Viktoria-Laus gewidmet I Mir wird sie sehr fehlen. Frau Schwabes Tod ist mir auch nahe gegangen, auch sie ist nach vielen Richtungen unersetzlich. Wie hübsch ist der Nachruf, den Ihr Mann in der „Nation" hat erscheinen lassen; ich freute mich sehr darüber. Frau L. Leyl schrieb mir neulich, daß sich eine Aussicht eröffnet hat (wenn es auch noch ein Geheimnis ist), für das Pestalozzi-Fröbel-

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Kapitel 2.

Laus und die haushaltungsschul« durch die Hilfe einer reichen Wohl­ täterin ein besseres Gebäude zu bekommen; das wäre ja ganz herrlich! Die Nachricht ist eine so unerwartet erfreuliche, daß ich noch gar nicht wage, mich der sicheren Hoffnung auf Verwirklichung hinzugeben. Wie lange habe ich den Wunsch gehegt, ein besseres Laus für alle diese so wichtigen Bestrebungen erstehen zu sehen 1 hoffentlich werden Sie einen guten Sommer haben und Ihre Ge­ sundheit sich recht erholen. Ihre V., Kaiserin Friedrich. Dieselbe an dieselbe.

Rumpenheim. Den 7. Dezember 1897. Liebe Frau Schrader I Obgleich ich in einigen Tagen in Berlin sein werde und hoffe. Sie bald zu sehen, sende ich noch eine Zeile, um Ihnen herzlichsten Dank zu sagen für Ihren so freundlichen Brief zu meinem Geburtstage. Wie freue ich mich über die Aussichten für das Pestalozzi-Fröbel-Haus l Lange hat mich nicht etwas so sehr erfreut in einer Zeit, wo man aus Kummer und Angst und Sorge kaum herauskommt, und über so vieles den Kopf schütteln muß. Ich nehme heute von meinem Sohne Heinrich auf 2 Jahre Ab­ schied; das herz wird einem bang und schwer dabei Es war ein arges Jahr. Bitte grüßen Sie Ihren Mann, ich freue mich, auch ihn wiederzusehen. Mit erneutem Dank. Ihre V., Kaiserin Friedrich.

Kaiserin Friedrich an Karl Schrader.

Schloß Friedrichshof (Cronberg, Taunus). 28. August 1899. Verehrter Direktor Schrader! Meinem Telegramm von gestern muß ich einige Zeilen hinzufügen, um Ihnen zu wiederholen, was Sie sicherlich schon wissen, wie tief schmerzlich mich die Nachricht Ihres unersetzlichen Verlustes ergriffen hat 1 Sie wissen es, wie ich an Ihrer Frau hing, wie ich alle Eigenschaften des Herzens und des Geistes zu schätzen wußte, die sie in seltenemMaße besaß. Mit welcher Gründlichkeit, Geduld und Energie widmete sie sich

Beziehungen zu der Kronprinzessin, der späteren Kaiserin Friedrich. 63 der Sache, für welche auch ich die wärmste Sympathie und das wahrste Interesse hege. Wie viel hat sie geleistet, wieviel Gutes getan; ein reiches Leben, welches andern viel Glück gebracht hat, ist nun abgeschlossen, zu früh für alle, die sie kannten und liebten; zu früh aber vor allem für Sie, dem sie alles war, und der Sie jetzt einsam und verlassen stehen müssen in Ihrem Schmerz I Nehmen Sie nochmals den Ausdruck tiefster Teilnahme entgegen aus schmerzersahrenem Äerzen. Wie treu und rührend hat Ihre Frau mit mir getrauert, nie werde ich es vergessen, nie alle Zeichen der Ergebenheit, die mir stets so wohl­ getan haben I Wie wird sie mir fehlen I Ein treues und dankbares An­ denken werde ich stets bewahren, davon können Sie überzeugt sein! Die lange Krankheit, welche Sie mit Sorge erfüllen mußte, hatte Sie vielleicht aus den traurigen Ausgang vorbereitet; aber wenn einmal die furchtbare Stunde der Trennung kommt, und man das unwider­ rufliche Leid muß über sich ergehen lassen, um fortan ein vereinsamtes Dasein zu fiihren, ist der Schlag nicht gemildert. Was man fürchtete, voraussah, aber nicht zu glauben noch zu fassen imstande war, scheint so neu in seiner Grausamkeit 1 Sie haben noch viel Arbeit vor sich und werden sich darin mit Ihrer edeln Frau vereint fühlen und wissen, was nur Gutes gefördert und Nützliches geleistet wird im großen wie im kleinen, hätte sie gefreut und mit Stolz erfüllt! Möchte milder Trost und Friede Ihnen nahen und der Segen, der von Äenriettens Andenken ausgeht, Sie stärken und ausrechthalten in den Stunden schwerster Prüfung und Vereinsamung. Wenn ich nach Berlin komme, hoffe ich Ihnen müydlich wieder­ holen zu können, was leider die Feder schlecht und ungenügend ausdrückt.

Ihre V., verwitwete Kaiserin und Königin Friedrich.

KapitelZ.

Persönliches Leben und Schicksale. QQsy er Henriette Schrader in ihrer stürmischen Jugend, während der

unausgeglichenen Jahre näher stand, und dann nur von fern ihr Berliner Leben verfolgt hätte, würde sie in den 80 er und 90 er Jahren geistig kaum wieder gekannt haben. Die etwas zurückhaltende und doch warme Freundlichkeit ihres Empfanges, die vornehme Einfachheit ihres Auftretens in der Berliner Geselligkeit, die stillefchweigende Geduld, mit der sie denVorsitz eines Frauenkomitees führte, nur dann und wann ein Wort zur Aufklärung oder zur Zusammenfassung der Diskussion hinzufügend, waren damals die Merkmale ihrer abgeklärten Persön­ lichkeit. Wer das Glück hatte, mit ihr zu arbeiten, lernte sie von vielen Seiten kennen; oder wer als Gast die schlichte Wohnung im 3ten Stock der Steglitzer Straße betrat, und sie als die Wirtin kennenlernte, welche die Fäden des Haushaltes in der Land behielt und dann noch Kraft übrig hatte, an der geistigen Kost, welch« oft genug bedeutende Männer und Frauen ihr bieten konnten, teilzunehmen, konnte sich des leb­ haften Eindrucks desReichtums edler Lebensintereffen nicht erwehren, welche das Schraderfche Haus umfaßte. In einer öffentlichen Rede*) hat uns Dr. Arnold Breymann ein anschauliches Bild der Geselligkeit entworfen, der ich folgendes entnehme: „Die Jahre um 1888 waren wohl die lebhaftesten und regsten, die über das Schradersche Haus dahinzogen. Auch was das gesellige Leben anlangt. Parlamentarier, Volksfteunde, Gelehrte, Künstler, Weltreisende, Ausländer — beson­ ders Amerikaner und Engländer — Lernende und Suchende neben geistreichen und bedeutenden Persönlichkeiten gingen in der Steglitzer Straße 68 ein und aus. Dankbar erinnere ich mich der Sonntagnachmittage mit dem Kreuzfeuer anregender Gespräche, kluger Betrach­ tungen, kühner Entwürfe — besonders anziehend, wenn Karl Schrader *) Vereinszeitung Nr. 106, Jahrgang XXVII, September 1913, Artikel: Karl Schrader.

Karl Schrader 1881.

Persönliches Leben und Schicksale.

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Zeit genug hatte und zurBelebung der Debatte ein recht radikal klingen­ des Urteil in ost derb gefaßter Form dazwischen warf, wozu das lustige Leuchten seiner Augen nicht recht zu stimmen schien. And dann die pädagogischen Abende I Wenn ich mir diese ins Gedächtnis zurückrufe, so taucht unwillkürlich zugleich das Bild jener edeln Geselligkeit vor mir auf, das uns von der Renaissancezeit aus den Tagen der Vittoria Colonna überliefert ist. Was wurde da bei den Zusammenkünften, die nicht bloß der Erörterung von Erziehungsstagen, sondern auch religiöser und sozialer Probleme gewidmet waren, in steter Wechselrede bedeutenderMänner und Frauen zutage gefördert, einerlei ob praktisch oder un­ durchführbar, immer geistreich und zum Nachdenken anregend. Wie treffend hat Selene Lange in ihrem in der „Silfe" erschienenen Aufsatz Karl Schrader geschildert, wie er mit vergnügtem Gesicht unter den Streitenden sitzt und „die Gegensätze, ohne sie zu verwischen, in eine höhere Einheit zusammenzufaffen weiß." Wie war es möglich, daß Sentierte Schrader diesen scheinbar so verschiedenartigen Forderungen des Lebens gerecht werden konnte, woher diese Ausgeglichenheit und dieser innere Friede, dabei das steudige Ergreifen des Lebens, bis der Tod sie berührte?

Ich glaube, das Geheimnis ihrer Kraft lag in dem glücklichen Ehe­ leben, welches beide Gatten bis an ihr Lebensende miteinander führten, eine tiefe Übereinstimmung in allen Grundanschauungen des Lebens und ihre gegenseitige Unterstützung in demBestreben, danach zu leben. Aus der Einheit ihrer Lebensanschauung erwuchsen auch ihre vielseiti­ gen Interessen wie die Äste aus einem gemeinsamen Stamme und wur­

den auch durch sie zusammengehalten und vor Zersplitterung der Kräfte bewahrt. Sentierte und Karl Schrader haben uns eine seltene Art der Ehe dargelebt und auf das harmonischste zum Abschluß gebracht. Auszüge aus Tagebüchern sowie aus ihrer Korrespondenz sind hierfür der beste Beweis, wenn man sich auch sagen muß, daß das Beste ungeschrieben bleibt.

Es gibt leider noch viele unverheiratete und verheiratete Frauen, welche aus der Enttäuschung über ein persönliches Schicksal nach einem Beruf, nach einer Arbeit für die Allgemeinheit greifen.

Bei Sentierte war das nie der Fall; aber sie hat das unschätzbare Glück gehabt, ihre öffentliche Tätigkeit gefördert, durchleuchtet und durchLyjchinSka, Henriette Schrader H.

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Kapitel 3:

wärmt von der Liebe ihres Mannes zu wissen, so daß sie aus der Fülle und Reife ihres eigenen Lebens der Allgemeinheit doppelt zu geben vermochte.

Eine kinderlose Ehe macht eine solche Wechselwirkung zwischen Kaus und Beruf von Anfang an äußerlich möglich, aber sie war nicht der Grund, nicht die Triebfeder dazu in diesem Falle, die lag tiefer; näm­ lich in der Überzeugung, daß Mann und Frau, jedes seine Eigenart aus­

bilden soll (welche nicht mit ihrem Egoismus zu verwechseln ist) im Dienste der Kultur.

Ebenso hat Henriette die sozialen, politischen und kirchlichen Ar­ beiten ihresMannes mit ganzer Seele verfolgt.Nicht mitUnrecht mußte Dr. Arnold Breymann einem innern Drange folgend, in der schon er­ wähnten Rede über Karl Schrader sein Thema dahin erweitern, daß er schließlich von dem Ehepaar Schrader Abschied nahm mit folgenden Worten: „Und wenn wir jetzt in Liebe und Dankbarkeit seiner gedenken, so vereinigt unser Erinnern unwillkürlich seine Güte, Klarheit, Schaf­ fenslust und Ausdauer mit der Gefühlswärme, der Schwungkraft und dem Ideenreichtum seiner Gemahlin, und wir sehen sie beide alsEinheit vor uns in der wunderbaren Ergänzung ihrer Gaben und Kräfte...."

Eine Hauptaufgabe in ihrem Verhältnis zu der Kronprinzessin, späteren Kaiserin Friedrich, sah Lenriette Schrader darin, edle, selb­ ständig denkende und tatkräftige Frauen der hohen Frau zuzuführen, und es war ihr eine Herzensfreude, die Bekanntschaft mit Fräulein Helene Lange, mit Frau Luise Jessen und Frau Hedwig Äeyl (einer früheren Schülerin in Neu-Watzum) vermittelt zu haben. Mit Helene Lange stand Henriette Schrader seit dem Jahre 1877 vielfach in freundlichenBeziehungen; sie hatten auch imNovember 1887 die vielbesprochene Frauenpetition an das preußische Haus der Ab­ geordneten und an das Kultusministerium gemeinschaftlich unterzeich­ net, in welcher die Frauen eine größere Beteiligung an dem wissenschaft­ lichen Unterrichte in den mittleren und höheren Klassen der öffentlichen Mädchenschulen verlangten, sowie die nötigen Veranstaltungen, die Lehrerinnen dafür zu befähigen. Daß solche Forderungen vorerst mit einer „Rüge" beantwortet wurden, welche an Henriette Schrader adres­ siert war, gehört in die Geschichte der Frauenbewegung.

Persönliches Leben und Schicksale.

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Bei der aufrichtigen Liebe und Bewunderung, welche Sentierte Schrader für die jugendlich schlanke, tatkräftige Selene Lange hegte, wirkte es fast komisch, wie die beiden in freundschaftlichem Streit sich fast immer ereiferten. Ich war öfter ein stiller Beobachter solcher Szenen.

Der Grund lag wohl in den Differenzpunkten, welche Sentierte überhaupt von der Frauenbewegung trennte. Wer Sentierte Schraders Leben bis hierher verfolgt hat, wird zu­ geben, daß sie eine selten ursprüngliche Frauennatur war, daß sie an eigenster Person das ganze Weh der unverbrauchten, durch bürgerliche Verhältnisse niedergehaltenen Kraft ihres Geschlechts verspürt harte — allerdings ohne Entgleisung, dank derMutter und den Geschwistern. And doch konnte Sentierte nie so recht von Setzen Mitglied eines Frauen­ vereins, weder in Dresden (1848/49), noch in Schweinfurt (1851), noch in Braunschweig (1868), noch in Berlin werden. Woran lag das?

Ich glaube die Erklärung teilweise in Senriettens Naturanlage, teilweise in dem Wesen ihrer Arbeit und nicht zum wenigsten in den Tendenzen der Frauenvereine des 19. Jahrhunderts zu finden. Sen­ tierte redete eine Sprache und setzte den Frauen Ziele vor Augen, welche die Frauenvereine damals nirgends verstanden oder als einen untergeord­ neten Standpunkt übersahen. Die Frauenvereine sind eben Kampf­ maschinen, und für die Technik des Kampfes fehlte Sentierte absolut das Organ; sie hatte nicht einmal Anlage zur Agitation; für ihr ge­ liebtes Pestalozzi-Fröbel-Saus konnte sie keineReklame machen, und eine öffentliche Ausstellung mit Kinder- und Schülerinnenarbeiten zu beschicken, verursachte bei ihr einen solchen Widerwillen, daß ihr« Ge­ sundheit darunter litt.

„Das Bessere ist des Guten Feind", und indem die Frauenvereine das nächste Ziel fest ins Auge faßten und Ellenbogenraum für die Frauen zu erobern suchten und siegten, um es den Männern nachzu­ machen und sich ihnen gleichzustellen, suchte Sentierte die Frauen von der Schönheit eines kommenden Lebens zu erfüllen, in welchem männ­ liche und weibliche Eigenart im Familien- wie im Berufsleben sich er­ gänzen werden, und sie bereitete die Frauen durch tüchtige Arbeit darauf vor. Die letzten Ziele der Frauenemanzipation waren gewiß die ihrigen, aber die Kampfmethoden erschienen ihr ost gerade das zu verwischen, wofür sie ihr ganzes, langes Leben einsetzte — „das andere im Vergleich zum Manne." Senriettens Erziehung der Frauen war 5*

Kapitel 3:

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eben die ausgereifte Frucht eines ringenden, durch eine Seelenehe in wunderbarer Harmonie ausklingenden Lebens. Ebenfalls wurde Frau Luise Jessen durch Senriette SchradersVermittlung eine von der Kronprinzessin hochgeschätzte Ratgeberin in Fra.

gen der Volkshygiene. Die Familie des Direktors Otto Jessen*), eines in seinem Fache hochangesehenen Mannes, übersiedelte im Jahre 1881 von Samburg nach Berlin. Frau Luise Jessen wurde mit Senriette Schrader bekannt und wurde so in den Bannkreis ihrer damals weit ausgedehnten Tätigkeit für das Volkswohl gezogen. Frau Jessen trat auf Senriette Schraders dringenden Wunsch im Jahre 1882 in das Be­ zirkskomilee des Vereins für häusliche Gesundheitspflege und in das Komitee für Ferienkolonien, und sie wurde in allen Zweigen des Vereins eine außerordentlich tüchtige, leitende Kraft. Wie hoch Senriette Schra-

der diese Frau schätzte und verehrte, bezeugen die an sie gerichteten Briefe. Schritt für Schritt übernahm Luise Jessen in treuer Freundschaft die Arbeit auf, welche der ermüdenden Sand Senriette Schraders entfiel, bis sie nach Senriette Schraders eigenem und dem Tode der zweiten Vorsitzenden, Frau Auguste Friedemann, den Vorsitz der vielverzweigten Anstalten des Pestalozzi-Fröbel-Sauses I übernahm und bis zu ihrem eigenen Tode getreu ausfüllte. In der modernen Großstadt gruppiert sich die Geselligkeit leichter als in der kleinen Stadt um Zwecke, welche weite Kreise berühren; da­ gegen ist die Großstadt den intimeren Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Saus zu Saus nicht günstig. So hatte Setmette Schrader bei allem Verkehr in Berlin, bei all dem warmen Entgegenkommen, welches ihre Erziehungsideen zuletzt erfuhren, außer ihren Saus­ getroffen wenige Berliner Freunde oder Freundinnen, wenn die Be­ ziehungen nicht einer früheren Lebensepoche angehörten. Eine Ausnahme bildet die Freundschaft mit Frau Annette Rickert, überhaupt mit den Mitgliedern der Familie des bekannten Abgeordne­ ten undMitgliedes des Reichstages. In der schön ge legenenVilla Rickert bei Zoppot fand Senriette öfter die ost krankhaft ersehnte Ruhe, welche sie sich in Berlin kaum verschaffen konnte; dort wurde ihr Mann oder eine Freundin mit ihr wie Mitglieder der Familie ausgenommen; sie genoffen die zarteste Gastfteundschaft eines gebildeten Kreises, die darin besteht, einem Gaste bei aller Aufmerksamkeit seine individuelle Freiheit zu lassen.

*) Direktor einer städtischen technischen Sandwerkerschule in Berlin.

Persönliches Leben und Schicksale.

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So fühlte sich Lenriette Schrader immer wohl in dem Rickertschen Lause. Ms Ergebnis dieser schönen Ruhepausen haben die Leser dieses Buches eine Reihe der schönsten Briefe an Frau Rickert und ihre Famitte adressiert, welche die Art des Verkehrs zwischen Eltern und Kin­ dern und Henriette kennzeichnet. In dem Rickertschen Laus« floß aus ihrer Feder dasBruchstück über „dasWesen der Erziehung" — vielleicht das Schönste, wasLenriette darüber zuPapier gebracht hat, denn eS hat die Anmittelbarkeit ihres, mündlichen Vorttags festgehalten.*) Alle Freunde der Erziehung haben in der Erinnerung eine warme Dankes­ schuld dem Rickertschen Lause abzuttagen. Lenriette Schraders letzte Jahre.

SovielErfteuliches und Förderndes derVerein für Volkserziehung in den 90er Jahren erfahren hatte, so lastete auf den Gemütern der Mitarbeiter die Sorge um Lenriette Schraders Gesundheit. Ihr Lebe­ lang hatte sie mit mangelhafter Gesundheit zu kämpfen gehabt, und bis jetzt hatte ihre starke Willenskraft ihr zum Siege verholfen. Seit dem Jahre 1893 aber traten Symptome einer Nierenkrankheit auf, welche ernstlich zu größerer Ruhe in der Lebensführung mahnten. Aber das Schradersche Laus hatte zu lange als einMittelpunkt vielseitiger Kulturintereffen gedient, als daß diese Ruhe ohne einen Ortswechsel möglich gewesen wäre. Freilich war Karl Schrader bereit, auch seine Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter und seine soziale Tätigkeit in vielen Ver­ einen aufzugeben, aber dieses große Opfer wollte Lenriette unter keiner Bedingung von ihrem Manne annehmen und sich von ihm zeitweise trennen wollte sie auch nicht. So arbeitete sie weiter an ihrem lieben Pestalozzi-Fröbel-Lause, schrieb manche pädagogisch wertvolle Broschüre, und nur im Lerbst er­ laubte sie sich dann und wann eine Pause, wenn sie mit ihrem Manne eine längere Reise machen wollte. In den Jahren 1891 und 1896 war sie in Italien, 1890 auf einige Wochen und 1894 auf einige Monate in Konstantinopel und Kleinasien, wo ihrMann als Vorsitzender des Auf­ sichtsrates der türkischen und stellverttetender Vorsitzender der Bahnen in Kleinasien Geschäfte zu erledigen hatte. Diese Reise- und Ruhepausen mit ihrem Manne genoß sie aufs höchste, wie ihre Reisebriefe bezeugen. Kaum nach Berlin zurückgekehrt *) Siehe Brief an Karl Schrader 1884, 31. Juli.

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Kapitel 3:

nahm sie ihreVerwaltungs- und Lehrtätigkeit toiebcf auf, und wenn sie nicht mehr den Weg nach der Steinmetzstraße gehen oder fahren konnte, so ließ sie die Klasse zu sich ins Laus kommen. Vom Jahre 1896 an bis zum Sommer 1898 war sie emsig mit den Plänen für das neue Laus beschäftigt und weilte während einiger Som­ mermonate in Zehlendorf bei Berlin, wohin die Architekten gingen, denn sie hatten vonFrauWenhel die Anweisung bekommen, alles für das große Laus nachLeuriette Schraders Bestimmungen auszuführen. Leider sollte sie das Laus in Betrieb nicht mehr erleben. Noch einmal schleppte sie sich mühsam in den Rohbau, wo man die Farben für die Wände einer Reihe von Zimmern zu wählen hatte; sie wollte nichts Eintöniges, Uniformiertes, jedes Zimmer sollte ein eigenes Gepräge tragen. Das war das letztemal, daß sie das Pestalozzi-Fröbel-Laus betrat. Ein akuter Anfall ihres Leidens am 16. Juli 1898 nötigte sie, von Zehlendorf nach Berlin zurückzukehren, um in der Nähe ihrer Ärztin

Fräulein Dr. Tiburtius zu sein. Sie wurde auf einer Bahre in ihr eigenes Leim gebracht. Mehr als ein Jahr schweren Leidens ertrug sie mit wahrhaft christlicher Ergebung, dankbar für jede Landreichung, für jede Stunde ftei von Schmerzen, für jede Erquickung des Leibes und der Seele, die zahlreiche Verwandte, Freunde von nah und fern ihr

zukommen ließen. Wohl gab es innerhalb dieses schweren letzten Jahres Zeiten ver­ hältnismäßiger Befteiung von Leiden, und dann erwachte ihre alte Liebe zur Kunst; die schönsten Reproduktionen vonBöcklin und Rembrandt wurden am Fuße ihres Lagers ausgestellt, damit ihr Auge sich erfreute; Freunde schleppten Larmonium, Geige oder Zither in das anstoßende Gemach, und wie ost geriet sie in Entzücken über die lieblichen Töne einer Ländelschen Arie oder eines Präludiums vonBach, oder Tiroler Lieder mit Zitherbegleitung erheiterten ihre Stimmung. Auch erwachte ihre Lust zur Lehrtätigkeit und eine der „Nachtschwestern" (eine Vik­ toriaschwester), konnte berichten, sie habe eine „so wundervolle Nacht mit der Patientin verlebt", sie habe Goethe laut vorgelesen, die Kranke habe vom Bette aus ihr eine so schöne Erklärung des Gelesenen gegeben; nie in ihrem Leben hätte sie eine so schöne Literaturstunde gehabt. Eben­ falls konnte Lenriette Briefe pädagogischen Inhalts und Abhandlungen über religiös-philosophische Fragen während ihrer letzten Krankheit diktieren.

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Dicht nebeneinander wohnten bei ihr Leben und Tod; schon schien es den sorgenvollen Blicken der Pflegenden, als nahte der Todes­ engel; da flammte der Geist plötzlich auf, und mit Liebe ergriff sie die hohen Interessen ihres Lebens. Sie wollte gern leben und weiterschaffen, obgleich der Tod „sie nicht überraschen würde", wie sie immer sagte. „Leben wir, so leben wir dem Lerrn, sterben wir, so sterben wir dem Lerrn", so war es bei ihr. Man hatte eben „ein Gott geweihtes, von Gott erfülltes Leben" vor sich, auf moderner Weltanschauung ruhend, gepaart mit der Glut der Liebe für dasKeilige, das Schöne, dasWahre, nach welchem der Mensch ringen soll mit Furcht und Zittern. In Rücksicht auf die schwere Erkrankung der Vorsitzenden des Frauenkomitees hatte derVorstand von einer Feier des 25. Jubiläums des Vereins Abstand genommen; dennoch wollte man den Tag nicht klanglos vorübergehen lassen, und am 23. September 1898 wurde eine kunstvoll eingebundene und illuminierte Adresse in das Krankenzimmer eingereicht mit folgendem Motto:

„Den ehr' ich, der nach Idealen ringt. Den acht' ich, dem auch Wirkliches gelingt. Den aber lieb' ich, der nicht dies und jenes wählt. Der wahres Ideal der Wirklichkeit vermählt." Sämtliche Mitglieder des Vorstandes und des Frauenkomitees hat­ ten die Adresse unterzeichnet. Henriette Schrader war gerade zu der Zeit schwer krank, und so mußte die Adresse in Absätzen, an verschiedenen Tagen ihr vorsichtig vorgelesen werden. Da trat eine plötzliche Besserung ein, und sie konnte ihrem Manne folgende Antwort diktieren: „Durch die mir gestern zugestellte schöne Adresse haben Sie mir eine große Freude gemacht. Leider verhinderte meine schwere Krankheit, daß ich sie aus Ihren Händen entgegennahm, so kann ich Ihnen nicht meinen Dank sagen. Deshalb muß ich es in diesen von mir nur unter­ zeichneten Zeilen schreiben, wie glücklich ich mit Ihnen in der Arbeit für unser Pestalozzi-Fröbel-Haus gewesen bin. Gemeinsam haben wir es in voller Eintracht aufgebaut, uns jedes Fortschritts gefreut, und unsere Freundschaft und unsere Eingabe für die Sache der Volkserziehung ist dabei stets gewachsen und vertieft. Nun ist das in so langer Arbeit geschaffene Erziehungswerk durch die hochherzige Gab« unseres Mitglieds, Frau Wentzel-Keckmann auch äußerlich vollendet. Es gilt jetzt, das Erreichte festzuhalten und auf dem gewonnenen Boden weiterzubauen.

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Kapitel 3:

Gleich treu und einträchtig wie in den vergangenen 25 Jahren und mit doppelter Kraft muß jetzt gearbeitet werden. Lassen Sie uns stets eingedenk bleiben und sorgen, daß der Geist, der allein unsere Arbeit gesegnet hat, in allen Mitwirkenden erhalten bleibe, daß wenn wir dereinst nicht mehr sind, unser Werk bestehe, großer, schöner und immer mehr Segen bringend, zum Keile unseres Volkes. Das walte Gott.

Ihre treue Kenriette Schrader.

Im Frühjahr 1899 trat eine entschiedene Besserung ihres Zustandes wieder ein; die Freude aller Nahstehenden war groß, als die Patientin wieder aufstehen konnte und mit ihrem Manne einen Lust- und Szenen­ wechsel nach Schlachtensee plante. Schon die Wagenfahrt durch den Grünewald in das ftische Grün genoß sie in vollen Zügen, und im Kur­

haus „Kubertus" verlebte sie mit Mann und Schwester, Anna Brey, mann, heitere Wochen. Sie empfing Besuche, und alle Freunde hofften auf eine Verlängerung ihres wertvollen Lebens auf einige Jahre wenig­ stens; ja, sie selbst sprach von einer Kerbstreise nach Italien, nach dem für sie gelobten Lande der Kunst. Es kam doch anders. In der Nacht nach einem heiteren Abend am Whisttisch bekam sie einen Anfall ihres Leidens und sank allmählich in Bewußtlosigkeit, von der sie nicht wieder erwachte. Sie starb am 25. August abends 10^2 Ahr in Schlachtensee und wurde am 29. dess.M. auf dem alten Kirchhofe an her Oker in Wolfenbüttel beigesetzt, wo dieBreymannsche Familie ein Erbbegräbnis besitzt. Der Kreis der Trauernden, der an ihrer Bahre stand, war klein im Vergleich zu dem Kreise, der sich durch den Tod Kenriette Schraders betroffen und verarmt fühlte. Weit über Berlin, ja, weit über Deutsch­ lands Grenzen hinaus waren ihr Name und ihr« Wirksamkeit bekannt, geschätzt, geliebt; und wenn Ruhmeszeichen den Gatten hätten trösten können, so waren die Tageszeitungen und Zeitschriften des In- und Auslandes ihrer Ehre voll. Aber so empfänglich die beiden Gatten für die herzliche Zuneigung ihrer Mitmenschen waren, so wenig wohl fühlten sie sich alsMittelpunft öffentlicher Kuldigungen. So sollten keine Lobreden über Kenriette Schraders Grab gesprochen werden, denn „bescheiden wollte sie sterben", nur Mitglieder der Familie sollten nach augenblicklicher Kerzenseingabe

Persönliches Leben und Schicksale.

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ein Wort zu den Mittrauernden sagen. Das geschah von feiten ihres Bruders Karl und ihres Neffen Arnold Breymann, wie es wohl nur so nahen Angehörigen zuweilen möglich ist. DaKenriette aber sich oft im Leben mit ihremManne im Gegensatz zu den verknöcherten Formen der Kirche befand, und manche Leute sie für „irreligiös" hielten, hat sie in ihrem letzten Willen ausdrücklich gewünscht, daß bekannt werden werden sollte, daß sie gestorben ist „in dem lebendigen Glauben an einen persönlichen Gott, unsern allliebenden Vater, an den Jesus der Geschichte, der uns bewiesen hat, daß das Göttliche Mensch werden kann und an den heiligen Geist, der ausgeht von allem Lohen, Großen und Schönen, was je existierte." Bekennen wollte sie, daß sie gestorben ist „im Glauben an eine persönliche Unsterblichkeit, ohne den ich hätte verzweifeln müssen und ohne Glauben und Liebe achte ich dies Leben für nichts." Die Motte des Comenius liebte sie aus sich ost anzuwenden: „Ich danke Gott, daß ich ein Mensch der Sehnsucht bin", und wahrlich das Leben Lenriette Schraders war damit gekennzeichnet als ein restloses Stteben, dem, was ihr als das höchste Ideal erschien, wirkliche Gestalt zu geben.

Kapitel 4.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899. Lenriette Schrader an Marie Kellner (frühere Schülerin und später städtische Lehrerin in Wolfenbüttel). Berlin SW. Askanischer Platz 4, 5. Januar 1873. Wenn man glücklich sein, Frieden haben will, so muß man an etwas glauben, man muß etwas mit Begeisterung lieben und verstehen dafür zu arbeiten; und wenn wir wahrhaft lieben und arbeiten, so finden wir immer wieder Trost, Aufschwung und Freudigkeit, wenn wir auch eine mühselige Arbeit haben, sie nicht zur Vollkommenheit bringen können, wie wir möchten und von Menschen und Verhältnissen gestört werden. Dieses Glaubensgebiet umfaßt ein weites Feld; tief sittliche Na­ turen werden sich immer in den Grundzügen des Glaubens zusammen­ finden; aber die Form nach ihrer Wesenseigentümlichkeit gestalten. Die wahre Toleranz bedingt ein tiefes PsychologischesVerständnis derMenschenseele und eine Achtung vor der Individualität des andern; diese Achtung haben nur kindlich reine, naive oder tief durchgebildete Na­ turen; die Klatscherei und Näsoniererei beruht auf dem Mangel an Achtung vor der Eigentümlichkeit des andern und an dem daraus hervorgchenden Mangel an Diskretion; anstatt daß man das eigentlichst perscnliche Leben eines oder zweierMenschen heilig halten sollte, sucht man ee aufzuzerren und nach allen Seiten zu beleuchten. Später.Mein Leben ist so vielfach bewegt; ich komme so wenig zum Schreiben, und vor allem muß ich doch meine geliebteMutter mit Briefen bedenken, die ich soviel als möglich alles mit erleben lasse, was nich bewegt; sie hat ja so lange alles, alles mit mir geteilt, und ich weiß,

nie sie die schönenPlauderstündchen, die wir hatten, entbehrt. Adolf kam Christabend und blieb bis zum 28., dann kamen Annette rnd Mathilde ausNeu-Watzum; jetzt sind sie wieder fortgereist, und ich b n viel allein, da Karl so sehr in Anspruch genommen ist. Wie freue ich nich auf die Zeit, wenn Annette erst in Neu-Watzum entbehrt werden kenn und sie zu uns kommt.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Wie wunderbar reich und schön ist mein Leben, könnte ich nur recht viel davon erzählen. In der lehtenWoche haben wir inMusik geschwelgt; die H-moll-Meffe von Bach, ein Ioachimsches Quartett und zwei Kon­ zerte von Frau Schumann und Joachim gehört.

Joachim und seine Geige sind mein höchstes Entzücken, es ist Voll­ endung in seinem Spiele, die Kritik schweigt, still folgt man seinen Tönen und gibt sich gefangen; ich verdanke dieserMusik viel, zum erstenMale im Leben genieße ich sie voll und ungestört und bin Gott so dankbar für die Fähigkeit, alles Schöne fassen und aufnehmen zu können. And nun, wie teiltKarl alles mit mir; wir bilden, wir erheben uns gemeinsam in allem, was das Leben uns Schönes bietet. Die Kunst ist wahrlich ein Licht, das zum Göttlichen hinstrahlt.

Ich denke Marie, ich muß noch schreiben, was Du von mir für den Kindergatten wünschest, ich denke, ich muß noch viel tun; aber wie ich immer meine Person einsehen muß in meine Arbeit, so muß ich meine Person neu gestalten, es muß noch so mancher Arbeitsstaub hinweg, ich muß noch mehr vergessen lernen. Ich empfinde noch zu stark die Seligkeit der Zurückgezogenheit, des Anberührtseins von der Welt, als daß sie mich anzöge — und doch kann man nicht allein in der Einsamkeit leben, wenn man für andere wirken möchte; ich kann auch nicht ohne andere Verbindungen aufzunehmen, einenTeilArbeit für mich ganz allein nehmen; selbst um einen Leitfaden zu schreiben, gebrauche ichMaterial und Hilfsmittel, wozu wieder andere notwendig sind; nun, es wird sich schon entwickeln. Was die Kinder­ gärtnerin von hier betrifft, Fräulein **, so hat sie mir keinen sym­ pathischen Eindruck gemacht; aber ich höre, daß sie außerordentlich tüch­ tig ist. Die Zeit der wahren Kindergärtnerin ist noch nicht gekommen, sie ist selten zu finden, man muß sich bescheiden. Nun muß ich schließen, liebeMarie, schreibe mir ferner; jedes Brief­ chen von Dir ist mir eine Herzensfreude.

Es schlägt 3 Ahr, das ist die Stunde, wo Karl kommt, und wir essen; ach, wenn ich Dich hier haben könnte, es wäre so reizend. Heute gehe ich zu Frau Schumann. Eugenie meinte, ich sei ihnen allen soviel näher gerückt durch meine Leirat.

Tausend Grüße und die innigste Liebe für Dich von Deiner Henriette.

Kapitel 4:

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Henriette Schrader an Marie Kellner. Berlin SW. Februar 1873.

. ... Ich sollte Dich auszanken? An mein Herz möchte ich Dich drücken und Dich liebkosen, mein liebes, liebes Kind, ich wollte, ich hätte ein Kind wie Du l .... Alles, was Du mir von Deinem innern Leben sagst, ist so natürlich, so begreiflich .... Jedes natürliche Weib sehnt sich nach dem Mittelpuntte des Lebens für sie, nach einer selbst eigenen Familie; dieses Sehnen ist zu vereinigen mit dem wahren Stolze der Frau, denn nichts ist ihr heiliger als diese Sehnsucht, es ist ihr Lebens­ ideal, und keine unreine Land darf es antasten. AberMarie,es ist besser, allein zu bleiben mit dem Ideal im Herzen, als es in derWirklichkeit ver­ nichtet zu sehen, und darum denke ich immer wieder gern an meineMädchenzeit und danke Gott so innig, daß er mein Herz bewahtte, und es keinem andern gab als meinem Karl, mit dem das Leben immer schöner, immer inniger wird. Die Ehe, daß heißt die, welche von einem innersten Verständnis der Seelen herauswächst und nach und nach den ganzen Menschen ergreift, sie ist das menschliche Verhältnis, welches uns eine wirklich lebendige Ahnung von der ewigen Fortentwicklung der Geister gibt, von der göttlichenVollendung! Wie oft haben Karl und ich schon geglaubt, daß wir einander nicht lieber haben könnten, und dann wird unser Leben doch noch schöner, unser Lieben doch noch größer. Aber, Marie, wir vergöttern einander nicht; nichts ist da von Anterordnen, von Fügen usw., wir leben inein­ ander, wir nehmen wohl einander, wie wir sind; aber wir helfen ein­ ander, immer mehr zu werden; immer noch ist die tiefste Freundschaft der Kern unseres Lebens, aber verwebt und umstrahlt von der süßesten

innigsten Zättlichkeit.

Ich begreife wohl, wie tiefereNaturen viel schwerer glücklich werden in der Ehe, als oberflächliche. Sie sind so bedürftig des höchsten, ohne immer den Mut und di« Kraft zu besitzen, dafür zu arbeiten, und vom Kimmel fällt uns nur der Sttahl der Begeisterung fürs Höchste; es für die Erde lebensfähig zu machen, es mit Fleisch und Blut zu umkleiden, bleibt unserer Arbeit überlassen, und davon wendet sich mancher ab und verzehtt seine Kraft in immer neuem Verlangen, in immer neuer Täu­ schung

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Kenriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum.

Juli 1873.

. ... Ich habe Deinen lieben Brief erhalten — ach, er tat mir so not — wenn ich erfuhr an andern, wie das Glück zweierMenschen oft an einem Faden, dünn wie Spinnenweb hängt, wie die leidenschaft­ lichste Liebe sich verkehren kann in alles, was bitter und kummervoll ist — dann ergriff mein Äerz zuweilen ein Zittern, daß es noch den fürchter­ lichsten Tod sterben müßte. Weißt Du, Karl, wenn man den Verletzungen derWelt Stolz und Selbstgefühl entgegensetzt und oft gerade der eigene Wert steigt, je weniger man anerkannt und verstanden wird, so fühle ich mich einem geliebten Wesen gegenüber, wie Du bist, machtlos, wenn ich je erfiihre, was andere erfahren. Karl, wenn es möglich wäre, daß Du mich je weniger zärtlich und innig liebtest, so sage es mir. Aber dann schicke mich fort, bezahle ein Kostgeld für mich, so daß ich für meinen Unterhalt nicht zu sorgen brauche, so daß die Leute denken, ich wäre verrückt. Siehst Du, ich kann jetzt allerlei tun, was ich früher haßte, ich kann alles tun, um Dir eine Freude zu machen; ich werde nie wieder zu spät ein packen, ich kann auch englische Grammatik treiben, wenn es Dir Freude macht. Ich fühle tief im Kerzen, welche Gefahr für einen selbst, für das Glück der Ehe darin liegt, wenn man von Liebe getragen, innerlich bequem wird. Das fühle ich im Vollmaß des Glücks, in der herrlichen Gegenwart des Lebens, und ich werde dem nach leben; aber ich glaube, sänke Deine Liebe, ich wäre nicht imstande, eine Anstrengung zu machen, sie zu heben. Nichtwahr, Karl, das Geheimnis, der Schlüssel zu ewig ftischem Glücke, zu immer neu sproßenden Liebesblumen liegt im tiefen Ernst der Ehe, liegt im Erfüllen hoher Aufgaben; die Ehe ist so etwas Heiliges, und die Verschmelzung zweier Wesen zu einer höheren Person ist nicht eine süße Spielerei, sie ist eine Arbeit, aber eine köstliche Arbeit. Wir haben sie begonnen, wir wollen sie fortsetzen und beenden. Unser äußeres Leben soll nur ein« Folge des innern sein; wir wollen Gott um Rein­ heit bitten, d. h. um diese kindliche Abfichtslofigkeit des Äerzens; wir wollen nach der Schönheit unseres Geistes streben, die innig verschmolzen ist mit der Schönheit der Lieb«; ihre Wirkung auf die Welt haben wir nicht in der Land. Als ich der Mutter aus Deinem Briefe vorlas, traten ihr die Tränett in die Augen, und sie sagte: „Du hast einen lieben, vernünftigen

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Kapitel 4:

Mann, ich habe ganzes Vertrauen zu ihm l" Lind das hat sie, und das ist selten bei der Mutter. Aber, Karl, Du bist eine so große Ausnahme von den Männern, ich finde dies immer mehr. Die meisten Männer sind in bezug aufMenschlichkeit so wenig entwickelt, und dann verlangen die Frauen, von ihnen geleitet zu werden. Sie treten in die Ehe mit der Idee, einen geistigen Äerrn zu finden, und sie finden ein Wesen mit dem Hochmut des Herrn, aber nicht mit der geistigen Überlegenheit desselben, der ihm die Stellung des Herrschers sichert. Ich finde, man sollte Männer für die Ehe erziehen; jetzt ist es (Aus­ nahmen abgerechnet, zu denen ich uns zähle) meistens das Verdienst der Frau, wenn die Ehe eine zufriedene, glückliche ist

Henriette Schrader an ihren Mann. Bad Nauheim. Früh-Sommer 1873. Ja, Karl, seit ich bei Dir bin, ist eine so große Umwandlung in meinem innern Leben vor sich gegangen, ich stehe noch darin. Ich bin wohl eine produktive Natur — aber an Menschen, ich habe mit Mitteln gewirkt, die mir von der Natur gegeben und zum Teil in meiner Per­ sönlichkeit liegen. Fleißig bin ich nicht gewesen, das muß ich bekennen; aber ich habe mit denMitteln, die ich vonNatur besaß, die Begeisterung für das Schöne und Gute vermählt und die unerschütterliche Treue der Gedanken auf ein Ziel bewahrt. Mein Egoismus, mein starkes Gefühl nach eigenem Glück hat nnch einesteils verhindert, soviel für andere zu tun, als ich hätte tun können, wäre ich selbstloser gewesen; aber es hat mich vor dem Nonnentum und dieser Erzieherinnenzunft bewahrt, die sich eine abstrakte Moralität und eine gewisse Achtbarkeit aneignen, die sie zu einer Art stempelt, welche doch aus dem vollen, warmen Zu­ sammenhänge des Lebens scheidet, und die wiederum nicht das Leben in seiner Tiefe erfassen kann. Wenn ich nur begriffe, weshalb das Leben so schwer, so unendlich schwer ist; weshalb Millionen und Millionen mehr als Tiere, denn als Menschen, dahingingen, und so eigentlich nie zu der göttlichen Offenbarung gelangten, das wahre Menschentum in fick zu fühlen. Wenn ich nur begriffe, weshalb die Menschen so lieblos aneinander vorübergehen, und wenn sie miteinander reden, nur Zungen­ geräusch machen; während sie doch einander helfen könnten, die Tiefe des Lebens zu erforschen und sich den Kampf ums Dasein zu erleichtern! Karl, Du mußt mir helfen, des Lebens Llnvollkommenheit zu verstehen und doch festzuhalten an Idealen, Du mußt mir helfen, gerecht zu

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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fühlen und zu denken. Vielleicht werde ich selbständiger ohne Dich; aber jetzt bin ich es nicht; einmal angefangen mein Eigenleben dem Deinigen hinzugeben, ist es für sich unvollständiger, als es war. Wie ja immer der Eintritt in eine höhere Stufe zuerst scheinbar ein Linuntersteigen zeigt. Ich bin so abhängig von Dir, mein geliebter Karl, nur bei Dir ist meine

Leimat Karl Schrader an seine Frau.

Berlin SW. 31. Juli 1873. .... Eine ganze Woche hindurch werde ich recht fleißig sein müssen, denn ich muß alles aufbieten, um mit allen Arbeiten kurrent zu werden, und namentlich alle großen Sachen zu erledigen. Zum Lohne für meinen Fleiß darf ich dann nächsten Sonntag bei meiner lieben, lieben Frau sein. Weißt Du wohl, daß ich einen immer größeren Respekt vor Dir kriege. Du bist ein Mensch und speziell eine Frau mit allen, zum Teil stark entwickelten Schwächen, und Du siegst über sie, indem Du sie ver­ klärst. Du bist Krauserianerin weit mehr in derPraxis als in der Theorie und ich fühle, daß ich mir schreckliche Mühe geben muß, gut zu werden, wenn Du mir nicht bald über sein sollst. Du bist ein Beispiel dafür, wie viel richtiger und wahrer als die Überwindung, die Verklärung ist. Aber die Arbeit ist eine viel größere, denn man kann sich nicht mit einemRuck verklären, sondern nur allmählich; aber Verklärung ist eben eine innere, völlige ümwandlung, während die Überwindung immer die Schwäche, gewissernraßen als Bodensatz zurückläßt, der gelegentlich wieder auf­ gerührt werden kann. Leute kann ich nicht mehr schreiben, ich muß fleißig sein und will diesen Brief zum Potsdamer Bahnhof bringen, damit er richtig an­ kommt. Hoffentlich bekommt Dir das heute begonnene Badeleben gut; hier ist es eine tüchtige Litze, und ich fürchte, daß hier die wohltätigen Nauheimer Gewitter fehlen. Lebe wohl, liebe, liebe Frau. Dein Mann K. S.

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin SW. 6. August 1873. .... Also hat Dir das Paket Freude gemacht? Es war auch mit Liebe gepackt, und es enthielt für Geist und Körper Nahrung; für letz-

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Kapitel 4:

leren freilich sehr zarte. Wie die Gläser angekommen sind, schreibst Du nicht; ich glaube deshalb, daß sie gut beschaffen gewesen sind. Das Buch „Deutsche Liebe" habe ich aufMaxMüllersNamen hin gekauft; ich habe nur die ersten zwanzig oder dreißig Seiten flüchtig angesehen, ich fand es so gut geschrieben, und es schien mir so manches darin zu sein, was an unsere Liebe erinnerte. Darum schicke ich es Mr, Du mußt es diesmal mir erst geben, ehe Du es andern Leuten schickst.

Warum die Leute so dumm und schnöde über anderer Leute Liebe urteilen? Sehr natürlich ist das, denn im Grunde glaubt fast jeder, daß jeder so sei, wie er, der Arteilende selbst, und „die Leute" oder „tout le monde“ das ist eben eine Person, die alle gewöhn lichenEigenschasten hat, nicht einmal der Durchschnittsmensch, sondern einWesen nur mit solchenEigenschasten undMeinungen, wie sie jeder verstehen kann.Nun kann jeder körperliche Liebe verstehen, geistige fast keiner; lehtere entbehren, d. h. haben nicht viele und befinden fich gut dabei, und was die innige Verschmelzung beider ist, das wissen wohl manche, fie wissen oder wagen aber nicht, es zu sagen. And Liebe, die nicht Verwandtenliebe oder ähn­ liche ist, versteht man erst recht nicht; ja, man erklärt sie fitr unrecht.Was soll also die Welt sagen von Leuten, die sich innig lieb haben, aber ent­ weder überhaupt nicht heiraten wollen oder können, wie dies bei den beiden Personen der „Deutschen Liebe" der Fall gewesen sein würde.

Was Individualität ist, versteht die Menge nicht; ich glaube der geistige Anterschied zwischen den Menschen ist viel, viel größer als der körperliche, aber er wird viel weniger bemerkt, weil man sich nicht die Mühe nimmt, den Geist bei den Menschen zu erkennen. Das Traurige ist nur, daß so viele Menschen ihr Arteil über andere nicht durch eigenes Denken bestimmen, sondern nur nachplappern. Last Du außer Kleins gar keine Bekannten gefunden oder gemacht? Spinne Dich nur nicht zu sehr in Einsamkeit ein und vor allen Dingen, wenn Du merkst, daß die Kur zu viel wird, so sprich mit dem Badearzt, damit Dir nicht zu viele Bäder aufoktroyiert werden. Wie wird es denn mit Schwester Ännchen?

Ich werde wohl zum 2. September in Nürnberg zu einer großen Fahrplankonferenz sein müssen; ich versäume sie nicht gern und Du könntest ja mitgehen; ich hole Dich inNauheim ab, und wir bleiben dann einige Tage in Nürnberg. Wenn ich Dir zum Sonntage etwas mit­ bringen soll, so schreib« es mir rechtzeitig, morgen womöglich.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Jetzt habe ich heraus, wasDu gegen die Philosophie hast. Du willst und mußt nach Deiner Individualität alles, was Du lernen willst, ganz, d. h. in allen seinen Beziehungen zum Leben ersassen, so lange etwas sich Mr nicht in das Leben ganz einordnet, ist es Mr störend, wie ein Tisch, der nicht an der rechlen Stelle in der Stube steht. Wie Du den Tisch herausbringen mußt, wenn er nicht die rechte Stelle hat, so ist es auch mit neuen Ideen. So lange Dir nicht alles an ihnen klar ist, rückst Du an ihnen herum, oder stößt Du sie von Dir. Last Du sie aber an der rechten Stelle, so stehen sie eben so fest, wie Deine Möbel in der Stube. Nun liegt es in dem Wesen philosophischer Lehr- und Landbücher, daß sie nur die Ideen aus ihren Vordersätzen entwickeln; nicht sie in ihrer ganzen Stellung zu allen übrigen Jdeenkreisen zeigen, oder wenigstens findet sich das erst, wenn das ganze System durchgearbeitet ist. Darum jammerstDu nach redenden Philosophen, und darum verträgst DuMch mit Leonhardi, weil er in diesen Beziehungen Deinen Wünschen ent­ spricht. Labe ich recht? Ich muß schließen, Lerr Lührs geht eben zum Büro, und ich muß

ihm diktieren.

Lebe wohl, liebste, beste Frau.

Dein Mann.

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin SW. 11. August 1873.

. ... Es war recht traurig nach unserm gestrigem Zusammensein nun hier wieder in die öde, lieblose Welt zu kommen, wo keinMensch ein freundliches Wort zu mir spricht, und wo ich bloß eine Arbeitsmaschine bin, aber heute bin ich so beschäftigt, daß ich nicht viel daran denken kann. Wie geht es Dir, Frau? Bist Du heute ein klein bißchen tapferer? Ich denke. Du bist's; Du hast es doch gesehen, daß ich es nicht so gleich­ gültig nehme, wie es ausfieht, wenn Du fort bist; nein, ich entbehre Dich nicht weniger, alsDu mich, nur bin ich nicht so ängstlich wie Du, und ich dachte, ich wollte Dir nichts „vorjaulen", damit Du nicht noch trauriger über die Trennung würdest. Wenn ich gestern nur nicht so müde gewesen wäre I Aber wirklich, als wir am abend zu Lause kamen, da fühlte ich mich schon müde, und es war so schön, mich bei Dir auszuruhen, daß ich erst recht schläfrig wurde. Aber es war doch schön, einmal wieder beieinander zu sein, und sich lieb zu haben und zu küssen. Die natürlichen Küsse find doch noch besser als Lyschinila, Henriette Schrader II.

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Kapitel 4:

die papierenen 1 Ich glaube doch, daß ich nächsten Sonntag wieder

komme! Jetzt will ich den Brief zur Post tragen, ich habe nun bald fünf Stunden im Büro gesessen und muß einmal Lust schnappen; dann werde ich wieder stisch und kann mich bis zur Nacht überhalten. Übrigens brauchst Du Dich nicht zu ängstigen, es geht mir sehr gut,

nur ein bißchen Abspannung und auch wohl etwas Lunger, den ich vielleicht durch eine Tasse Chokolade besänftige, bis es etwas Ordent­ liches gibt. Lebe wohl, liebe Frau, Du hast mich gestern recht getröstet, und ich hoffe, daß Du auch getröstet bist, und daß wir beide den übrigen Teil der Trennung besser ertragen Henriette Schrader an ihrenMann. Bad-Nauheim. 11. August 1873. Ich bin aber viel ruhiger als vor Deinem Hiersein, zwar weine ich ein bißchen, aber es sind mehr süße Tränen des Glücks in der Erinnerung. Weißt Du, daß Du mit Schuld bist an meinem Kummer? Ach, ich ent­ behrte zu viel, Deine Briefe waren zu wenig Du selbst; Du kannst im persönlichen Zusammensein Deine Seele nicht mehr vor mir einwickeln; aber in derEntfernung da kannstDu es — aber, Karl, ich fühle es doch I Du hast es aus Liebe getan, Du wolltest mich nicht noch trauriger machen — aber, Karl, Du kennst mich noch immer noch nicht. Ach, laß, o ich flehe Dich, laß den Traum nicht unerfüllt, daß ein Verhältnis möglich ist, wo zwei Seelen in unbedingter Wahrheit ineinander fließen; laß kein Tittelchen über in Deinem Herzen, das ich nicht kenne, eS sei was es sei. And vergiß nie meine Vergangenheit; wie mir ein Mann einst im Scheine der Wahrheit und unter der Maske der Verstellung Lüge um Lüge gegeben.Mein Herz hat darum seinen Glauben an dieWahrhaftigkeit eines Menschen nicht verloren, aber es hat sich vielleicht nie wieder erholt von der tiefgreifenden, schmerzlichen Berührung, die es erlitten. Ach, ich weiß, es ist so traurig, daß ich so wenig Ruhe habe im Besitz meines Glückes, am traurigsten für mich selbst.Wenn man erst in späteren Jahren nach langen Leiden, vielen Kämpfen und tausendfachen Schmer­

zen ein Glück findet, so viel schöner und größer noch, als man es geträumt, so hat sich dieses Glück nicht mit uns eingelebt, ja es ist uns inMomenten, ich will nicht sagen stemd, aber überraschend, unglaublich, und wenn wir nicht den Geliebten in unseren Armen halten, scheint es unS litt-

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wiederbringlich verloren; alles Traurige, was wir erlebt an uns und an andern, steigt empor und webt dem geistigen Auge Schrecknisse vor, die das armeSerz zu Tode ängstigen. Sieh, Karl, tief in meinem Bildungs­ gänge liegt diese Unruhe meines Lerzens verborgen, und datum, Karl, schone mich, trenne uns nicht, wenn es nicht unumgänglich nötig ist, ich kann mich nicht stark machen, wo ich e- nicht bin. Sils mir aber auch, indem Du mich verstehst, und gieb mir immer Deine Seele, sie mag traurig sein oder fröhlich. Sieh, was habe ich denn zuerst bei Dir geliebt? Deinen Geist, und ich kannte von ihm nur bic Umrisse; vor unserer Ver­ heiratung fühlte ich mehr, als ich wußte, wer, was Du bist; ach, wie süß ist es, so immer mehr die Einzelheiten zu erkennen, so immer mehr das Bild sich vervollständigen zu sehen in all seinen Schönheiten. Karl, ich bin nicht blind gegen Dich, ich halte Dich nicht für vollkommen fertig; es würde mich gar nicht verwundern, wenn Du einmal größere Miß­ griffe machtest — Du bist mir kein Gott, den ich anbete — nein. Du bist mir aber ein liebes, schönes Menschenkind, mit einer Natur, die der wahren Löhe und Tiefe des Lebens sich zuwendet; ein Wesen bist Du, das ich grenzen- ja grenzenlos liebe, immer mehr, immer inniger. Sieh, ich habe Dir nie verhehlt, daß mir vieles schwer wurde zu ertragen, zu überwinden, was die Verhältnisse mit sich brachten, ja, Eigentümlichkeiten DeinerNatur mußte ich erst mit meinem Wesen ver­ schmelzen. Unser Leben war wahrlich keine Engelei; aber es war viel schöner, es bewies mir die Allmacht und Kraft der wahren Liebe, die Möglichkeit der Verklärung und Überwindung des Widerstrebenden. Ich habe Dir so oft, o so oft, weh getan, aber, Karl, reut Dich eine trübe Stunde? Ich glaube nicht. Denn hat sie Dir nicht die ganze Ent­ wicklung, die Kraft meiner Liebe offenbart? Aber, Karl, wie sehr ich ein Kind bin, ich bin andernteils wieder ein Weib, o bitte, bitte schone mich nie, zeige mir Deine Traurigkeit, Dein Unbehagen; ich werde mein eigenes Leid vergessen, um Dich zu trösten. Glaubst Du an mich, Karl, ganz, ganz? Glaubst Du an die heilige Kraft meiner Liebe? Ach, ich empfinde sie zum ersten Male, zum ersten Male begreife ich, was wahre Hingabe heißt, und wie Geben seliger ist als Nehmen, d. h. wie man selbst im Geben wieder wächst. Und es dämmert in mir ein großes Etwas auf vom Evangelium der Liebe, das Jesus predigte. Saft Du die Prote­ stantenbibel mitzubringen vergessen? ich finde sie nicht. Lieber Karl, es ringt sich in mir ein neues Leben zum Dasein; ich will fleißig sein im Lesen und Studieren, denn es Hilst mir, meine Gedanken richtig zu ver-



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wenden; aber daher kommen sie mir nicht, sie kommen mir stets aus dem Leben. Aber trotzdem hast Du ganz recht, daß ich fleißig sein muß, über­ haupt meinen Willen bilden; Du aber, mein Herz, entfessele Deine Natur ganz, ganz vor mir; stelle Dein Ich nicht immer in den Ämter* gründ, laß es wachsen, und wir werden in* und durcheinander den schönsten Ausgleich finden Ich denke jetzt soviel daran, was ich nocheinmal leisten kann? Denn, nicht wahr, es entspricht Deinen Wünschen, doch auch wohl meiner Vergangenheit, meinem Wesen und unsern Verhältnissen — da wir keine Kinder haben — daß wir noch für andere wirken, d. h. ich — Du tust es ja — aber glaube mir, die Entwicklung der Liebe in mir, wie die ist, die ich zu Dir fühle, und die so vieles in mir löst, umgestaltet und vollendet, ist auch eine Tat. Ich werde übrigens noch heute wieder anfangen zu arbeiten mit Auszügen, wie in Berlin. Den Aufsatz von Schliephake zu lesen, wurde mir leicht, und so las ich viel, dann kam mein elendiger Zustand mit dem Kopfweh; denke Dir, wenn ich an Krause oder dergleichen dachte, wurde ich übel, so waren meineNerven angegriffen, ich hatte wieder zuerst zuviel getan, und weshalb? Ich wollte ohne Dich leben, nicht nur dahin vege­ tieren; aber es wurde nur noch schlimmer. Kann ich auf eine bestimmte Arbeit mich vorbereiten? Ich weiß nicht, ich habe jetzt Angst vor den Vorträgen; ich bin in meiner alten Art nicht mehr so zu Äause, ich fühle, daß sie in gewisser Weise ober­ flächlich war, und dasNeue ist noch nicht mein eigen, wie es sein muß. Ich habe früher den Geist als Steigerung der Natur erfaßt; aber wohl, daß wenn Sinnliches durch Arbeit vergeistigt, qualitativ, sich von der Natur unterschied und nicht wieder zum Sinnlichen werden konnte. Ich fand darin eine Vermittlung zwischen Materialismus und Spiritualis­ mus, und von diesem Boden aus konstruierte ich weiter. Das einzig wirklich Neue, was ich in Krause finde, ist, daß Natur und Geist von vornherein qualitativ als Gegensätze angenommen werden, die aber einander durchdringen und bedingen — dies gibt nun folgerichtige Konsequenzen, und entweder kehre ich mit neuen Seiten der Anschau­ ung wieder zu meinem System zurück, oder ich muß mich in das Neue

hineinarbeiten. Was ich nun aber gern täte, wäre, meinenKursus im Verein über „Mutter und Koselieder" zu geben; aber, nicht wahr. Du bist nicht da­ für? Ach, lieber Karl, gib es auf, mich so sehr mir selbst zu überlassen.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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und mich nicht beeinflussen zu wollen, sei ohn« Sorge, meiner Natur tut es keinen Schaden, wenn Du stärker Deine Wünsch« betonst. Doch jetzt lebe wohl, ich muß jetzt spazieren gehen; ich habe nun heute zum ersten Male mir fest vorgenommen, dem Aufenthalt hier, der Kur, kein Widerstreben zu leisten; Du hast es gewünscht in dem Gedanken, daß es mir gut sei. Du sagtest mir gestern: „Sollen wir beide umsonst so viel ent­ behren?" Ich küsse Dich tausendmal; o ich kann jetzt Deine Seele küssen! Deine Frau.

Karl Schrader an seine Frau. Berlin SW. 12. August 1873. Leute morgen hast Du mir durch Deinen schon früh eingetroffenen Brief eine unerwartete, schöne Freude bereitet, und noch mehr habe ich mich über den Inhalt gefreut. Du bist wirklich eine gute, liebe Frau, wenn Du lieber auch meinen Kummer mit tragen als glauben magst, daß es mir ganz gut gehe. Aber Du bist, wie ich Dir ganz recht gebe, auch höchst verständig, wenn Du das willst, da Du mir doch nie glauben kannst, daß es mir leicht würde, ohne Dich zu sein. Gestern und heute bin ich freilich kaum zur Besinnung gekommen. Gestern abend aß ich erst um 9 Ahr in einem Restaurant in der Leipziger Straße zu Abend, und zu Laus gekommen, legte ich mich bald zur Ruhe, um bis heute morgen um 8 Ahr zu schlafen. Nun habe ich ausgeschlafen, allerdings hatte ich zuerst etwas Kopfschmerzen, die durch Arbeit noch verschlimmert wurde, nach einem guten Mittagessen bei Müller aber, dem alten Freunde, haben sie sich allmählich gegeben. Jetzt ist es 7V2 Ahr abends, und ich bin eben mit den nötigsten Arbeiten fertig und schreibe Dir nun noch einige eilige Zeilen. Morgen denke ich Dir auf so manches in Deinem Briefe mehr erwidern zu können, heute nur folgendes. Wir wollen und müssen eins sein im Denken und Landein, und darum wollen wir uns auch sagen, was wir fühlen, selbst wenn es für den andern nicht gerade angenehm ist. Aber Leid sollen Eheleute zu­ sammen tragen, und ist es Schlechtes, was sie denken, so kommen sie durch die Mitteilung an den andern am ersten zur Besserung. Da­ können beide, wenn sie sich ganz lieben — nicht lieben mit allen ihren Fehlern und Schwächen — aber trotz dieser und in der Absicht, gegen­ seitig an ihrer Besserung zu arbeiten. Solches Leben wird uns helfen,

das auszuführen, was wir wollen, zu wirken für die Menschen im besten Sinne, und was unzertrennlich daran ist, zu arbeiten an uns selbst.

Kapitel 4:

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Du wirst allerdings in Deinen Lebensansichten und Deinen Lehren noch manche Änderung erfahren — und ich nicht weniger. Dadurch,

daß Du jetzt mehr mit dem Verstände und mit Berücksichtigung der Arbeiten Anderer geordnet Deine Ideen durcharbeitest, aber ich glaube, der eigentliche Grundton bleibt derselbe und muß bleiben Daß Dich DeineVorträge diesenWinter befriedigen werden, glaube ich nicht; Du mußt so vieles an Deinen früheren Ideen anders begrün­ den, umgestalten usw., daß Du schwerlich mit allem fertig wirst, und daß Du nur mühselig das Nötige zusammenbringen, vielleicht nicht mit voller Überzeugung der Wichtigkeit sprechen würdest. Überlege Dir die Sache noch einmal. DieProtestantenbibel bringe ich Dir nächsten Sonn­ tag mit. Hoffentlich bist Du heute ganz erholt, liebe Frau und denkst nicht gar zu traurig, sondern in der Hoffnung baldigen Wiedersehens und Wiedervereinigung an

Deinen armen Mann.

Am 13. August.Meine Tageseinteilung ist jetzt gemacht. . . . . Nun auf Deinen Brief zu kommen, so bin ich recht betrübt, daß es Dir gar nicht gut gehen will in Nauheim. Wüßte man nur, ob der Geist oder der Körper die erste ürsache, ist und wenn letzteres, ob esNheumatismus oderNervenleiden ist.Morgen früh will ich zu Körte gehen, und wenn er da ist, mit ihm reden; er wird auch wissen, ob in Schlangenbad die Kur im September noch im Gange ist, und Berge wird er wohl auch kennen. Wie Du weißt, habe ich gegen Schlangenbad nichts, und es wird sich wohl einrichten lassen, daß ich Euch dorthin bringe, ehe ich nach Nürnberg gehe; allerdings würde ich erst am 30. morgens inNauheim ankommen können. Das zu bereden bleibt noch viel Zeit. Meine arme Henri, wir plagen uns tüchtig in diesem Sommer, und es mag sein, daß manches nicht nötig gewesen wäre, oder geschickter hätte an­ gefangen werden können; aber es ist nun einmal wie es ist, und wir müssen das beste daraus ziehen, namentlich für Deine Gesundheit. Dar­ um tue bitte, was Du kannst, um die Kur Dir nützlich zu machen, sei so tapfer, wie Du kannst und mache Dir keine unnötige Sorge um mich. Frau Henkel ist sehr nett, und wenn ich ihrer mehr bedürfte, so wäre sie gewiß gleich bereit und mir geht es gut, d. h. körperlich, und ich will eben so tapfer, wie ich Dir es rate, die Trennung, die ja nur noch kurze Zeit dauert, zu ertragen suchen. Lebe wohl, liebe Frau, viele, viele Küss« von Deinem Manne. Wie wird es mit der Wohnung für Schwester Ännchen?

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Kenriette Schrader an ihren Mann.

Bad Nauheim. 14. August 1873, morgens 8—9 Ahr. Guten Morgen, mein lieber Karl, ich habe eigentlich zum ersten Male hier gut geschlafen, meine Zahnschmerzen sind fort, mein Lerz ist stille, ich bin zwar angegriffen und müde; aber was ist ein« physische Müdigkeit gegen diese Angst und Anruhe der Seele? Gestern ging ich noch bei Regen aus; aber er hörte auf, und es wurde ein wunderschöner Abend. Wenn die Sonnenstrahlen so mild auf die vom Regen nasse Flur, auf die tropfenden Bäume scheinen, so weckt dies für mich immer ein Gefühl wie sanfte Versöhnung. Ich fandNauheim sogar schön, der Teich lag vor mir, auf dem nur Schwäne stille ihre Wege zogen. Der Johannisberg mit seiner Ruine ragte dar­ über hin, als wollte er alles, was unter ihm lag, beschützen — kurz, es war Friede! Anter einer alten, ausgehöhlten und vomRauch geschwärz­ ten Weide stand ein so wunderschöner, wilder Rosenstrauch, seine gra­ ziösen Zweige vertraulich gegen den alten Baum neigend; wie wunder­ schön war der Busch gerade da an der Stelle. Warum ist die Natur gefühllos, warum freut es sie nicht, wenn ich sie liebe, warum empfindet sie nicht, wenn ich sie liebkose? Dieses Gebundensein in ihr drückt mich ost so. „Sprich, sprich!" rufe ich ihr oft zu, und dann tönen mir Jesu Worte ins Ohr: „Ihr habt Augen und sehet nicht und Ohren und höret nicht!" Aber ich möchte hören und sehen das göttliche Gesetz in allem, ich möchte Gottes Liebe begreifen. Ich nehme sie so gewissermaßen an, ich glaube, ich fühle sie nicht einmal lebendig. Wenn ich Gott danken möchte für Dich, dann sehe ich andere Frauen ihre Lände ringen über den toten Gatten; Anvermählte still sich grämen, weil sie kein Leben kennen. Ein Glück, ein Friede, der nicht allen teilhaftig wird, ist für mich kein Beweis von Gottesliebe. Es ringt sich hier zumBewußtsein durch, daß ich eigentlich nichts wirklich glaube; sondern nur mit einer Kraft — ist es Verstand, ist es Wille — ich weiß es nicht — die Meinung festhalte, daß es einen persönlichen Gott, eine persönliche Ansterblichkeit gibt; aber der Tod ist mir fürchterlich, weil er mich von Dir scheidet. Ich habe ihn bei den Schwestern Schritt für Schritt kommen sehen, habe den Blick fest auf ihn gerichtet, habe die Züge erstarren, die Lippen stumm werden, die Lände erkalten gefiihlt. Da hat mir der Tod etwas im Äerzen zurückgelassen, er hat seine Land darauf gelegt, und so fühlt mein Lerz fast immer mit dem Glück

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Kapitel 4:

deS Lebens den qualvollen Schmerz des Todes. O, wer ihn überwände, ich möchte leben, ihn zu überwinden, nicht durch eine gemeine Nützlichkeitstheorie, wie Roquette, sondern im Geiste. Karl, sollte es nicht doch vom Aranfange her zwei unvermittelte Prinzipe gegeben haben, die beständig miteinander kämpfen?Man spricht von der wundervollen Ordnung der Natur; aber ist dieser Kampf ums Dasein in ihr wundervoll, diese Ansicherheil des Lebens? Gestern abend kam es mir vor, als böte eines dem andern sich willig dar, die Schnecke kroch so leise dahin und das Blatt sträubte sich nicht, daß sie es zernagte; die Mücke tanzte fröhlich im Sonnenstrahl und schien sich freiwillig der Spinne zum Opfer zu bringen. Doch das war nur Schein der milden Abendsonne, und diese Sttahlen, die wie ein Versöhnungslächeln schienen, ziehen sie nicht wieder dieWolken zusammen, die den tötenden Blitzstrahl bereiten, den vernichtenden Hagelschlag senden? And kämpft nicht jedes Geschöpf in Todesangst um sein Dasein? O, wo löst sich der Schein vom Sein, di« Täuschung von der Wahrheit? And konstruiert der Mensch nicht seinen Glauben, seine Weltanschauung aus der ihm eigentümlichen Dis­ position der Nervenzentren aus? Mir wurde es draußen wohler, dies Zittern der Seele, diese Angst des Herzens, die mich hier verfolgt, wich von mir; aber kaum ttat ich in das Zimmer, da kam sie doppelt über mich, und ich wußte nicht mehr, was ich anfangen sollte. Da setzte ich mich still ans Fenster und sagte: „O Gott, erlöse mich von dieser Qual, zeige mir Deine Wege, laß mich Deinen Willen tun, ich will in Demut Dir dienen" — und wie wunder­ bar — es wurde still, der dämonische Geist wich, und so ist es geblieben. Was soll ich davon denken? Karl, ich bin von der Oberfläche des Lebens hinabgestiegen; aber ich habe noch keine tiefinnerliche Lösung der Dinge gefunden. Ich be­ obachte mich sehr streng und finde, daß mein körperliches Befinden, die augenblickliche Lage, in der ich bin, sehr viel beittägt, wie ich über das Leben empfinde, und das gibt mir einen schlechten Trost. And sei dem, wie ihm sei; ich verstehe wohl, daß der Mensch tüchtig arbeiten soll; aber weshalb er sich so abquälen muß, weshalb das Leben so entsetzlich kompliziert, so furchtbar schwer ist, sieh, daS begreif« ich nie und nimmermehr, und darin kann ich keine Tat der Liebe GotteS sehen. ES wird mir nur begreiflich, wenn ich an zwei Prinzipe glaube, so daß Gott so gut zu ringen hat wie der Mensch und nur mit Hilfe der Men­ schen siegen kann; wär« eS so, dann könnte ich Gott lieben, könnte für

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ihn streiten, um ihm zum Siege zu verhelfen. Aber daß er so in stiller Seligkeit sitzt über all dem Jammer, nein, das will mir nicht in den Kopf, vor allem nicht in das Lerz. Mir ist, als hätte der Gute — Gott — die Welt harmonisch ge­ statten wollen; aber bei jedem Satz, den er tat, setzte der Böse den Gegen­ satz sowohl in der Schöpfung, unter den Menschen, wie im Menschen selbst. Schuf Gott die Rose und den Schmetterling, der König nahm, ohne die Blume zu zerstören, sie nur verschönte durch sein gaukelndes Dasein, so setzte derBöse einen Käfer, der dieRose zerfraß, eine Spinne, die den Schmetterling mordete. Schuf Gott den Menschen mit dem klaren Auge und göttlichen Lächeln der Vernunft, so setzte der Böse darüber sinnliches Verlangen, gemeine Gier, die im Schlamm der Sinn­ lichkeit die reine Seele umhüllen. Aber nun ruft Gott seine Geister, da er nur mit ihrer Lilfe siegt, und solch ein Kampf könnte mich begeistern; aber was soll ich da mich zerren unter der ewigen Seligkeit Gottes? Nein, dies kommt mir vor, als wenn er sich nur die Langeweile der Seligkeit vertteiben wollte, und da er eine Welt geschaffen hat, die ihre Widersprüche in sich frägt und im Kampfe aus einer Verwirrung, die sie löst, in die andere fällt, aus einer Schlinge in die andere und den Gott, der den armen Menschen ein so schweres Dasein schafft und trotzdem selig ist — den soll ich lieben? Ich kann ihn weder lieben noch ver­ stehen. Ich wollte, ich wäre ein Leide im Glauben, der Glaube war kräftig, natürlich; was ist unser? Eine graue Theorie, von des Gedankens Blässe angekränkelt! . . . .

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin SW. 15. August 1873. Leute ist es mir kümmerlich gegangen, d. h. es ist jetzt 7 Ahr abends und ich habe seit dem Kaffee nichts bekommen als meine Taffe Bouillon, und der Lunger ist mir in der Sitzung wieder vergangen; ich denke auch, er geduldet sich so lange, bis ich meinen Brief fertig geschrieben und zur Post befördert habe. Der Grund dieser Unregelmäßigkeit meines Lebens ist übrigen- nur, daß ich heute morgen bei einer größeren Arbeit mich verspätet hatte und keine Zeit zum Essen mehr fand. Über Dein Be­

finden sagt mir Dein Brief wenig; nach dem Schluffe geht es Dir besser; aber der Inhalt des Briefes läßt es mich nicht gerade annehmen; es geht durch Deine Befrachtungen ein trüber Ton, der zum Teil wohl auf körperliche Verstimmung zurückzuführen ist.Nun, ich hoffe in dieser

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Kapitel 4:

Beziehung manches von der Anwesenheit von Schwester Ännchen und demnächst von unsern weiteren Plänen, die ja auch wohl Frau Guerrieri paffen. Sonntag komme ich zu gewöhnlicher Zeit an und hoffe da meine liebe Frau munter und heiterer zu treffen. Bis wir uns sehen, kann ich auch wohl die Erzählung von dem Besuche des finnländischen Ehepaares Godenhjelms unterlassen, ich kann nur sagen, daß fie mir beide recht gut gefallen haben. Auch den Inhalt Deines Briefes besprechen wir am besten mündlich, nur einiges laß mich darauf erwidern. Die Weltordnung faßt Du auf als einen Kampf zweier Welten gegeneinander, jede geleitet von andern Prinzipien, jede die andere aus­ schließend oder nach deren Ausschluß strebend, und erst in diesem Aus­ schlüsse volle Befriedigung findend. Du siehst also nicht Äarmonie, son­ dern Disharmonie, oder noch bester, um im musikalischen Gleichnis zu bleiben, es werden zwei Stücke gespielt, jedes unabhängig voneinander, jedes suchend, das andere zu übertäuben. Ist es nicht so? Nun überlege Dir die Frage:Wie geht es zu, daß doch alles ordent­ lich zugeht — ich meine im großen und ganzen? Müßte nicht heillose Verwirrung herrschen, wenn Deine Meinung richtig wäre?Mir scheint, wenn Du Deine Ansicht aufrecht erhalten wolltest, so müßtest Du über dem guten und bösen Prinzip noch einen obersten Gott annehmen, der diese beiden zusammen kämpfen ließe — zum Vesten der Welt; der ihnen aber Schranken und Regeln des Streites vorschriebe. Wenn man aber dahin kommen müßte, warum denn nicht einen Schritt weitergehen? Ich meine, es gibt nichts absolut Böses, d. h. etwas was in allen Verbindungen und unter allen Ausständen böse ist, und wenn das richtig ist, bann fällt auch die Idee eines besonderen Reiches des Bösen. Was Dich quält, das ist die stete Reibung, die zwischen Menschen untereinander, in der Natur und zwischen dieser und den Menschen stattfindet; aber ist sie zu vermeiden? Wenn wir annehmen müssen, daß die Erde uns zur Entwicklung dienen soll, und wenn diese eben einsam nicht möglich ist, so folgt daraus diese mannigfache Berührung. Sie gibt uns erst die Kraft und den Stoff zur Bildung im weitesten Sinne, und sie kann nicht bloß eine angenehme sein, teils weil die Men­ schen unvollkommen sind, teils weil die bloß angenehme Berührung nicht den nötigen Effekt auf unsern Charakter üben würde. Ich glaube. Dir

wird der Zustand der Welt erträglicher erscheinen, wenn Du die ganze

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Menschheit als ein Subjekt auffaßt, das zur Vollkommenheit sich vorwärts ringt; nur als Ganzes kann es vorwärts kommen, und nur aus dem Fortschritt des Ganzen saugt der einzelne seine Kraft und erhält er seinen Fortschritt; aber es geht nicht ab ohne Stoßen und Drängen und mancher einzelne muß mit dem Leben zahlen. Es würde zu lang sein, hier auszuführen, daß wir im ganzen weiter gekommen sind; aber das wirst Du Dir vorstellen können, daß die Be­ rührungen derMenschen mit fortschreitenderVervollkommnung weniger

peinlich werden. So weit für heute, liebe Frau, übermorgen mehr. Protestanten­ bibel undFroschammer liegen fürDich bereit und kommen mit Henriette Schrader an Marie Kellner. Badenweiler. September 1873. Es ist wirklich recht traurig, liebeMarie, daß Du nicht bei Guerrieris bleiben und mit Frau G. vereint für die Kinder und für Italien wirken magst Frau Guerrieri möchte auch so gern mit der Erzieherin noch nach außen hin tätig sein. Ihr höchster Wunsch wäre, wenn es Dir ganz unmöglich ist zu bleiben, Annette zu haben; aber diese konnnt Ostern zu mir, und ohne sie kann ich in Berlin nicht tun, was ich tun möchte. So ist Frau G. recht sorgenvoll über die Zukunft ihrer Kinder. Aber ich begreife, wie sich beiDeinen religiösenAnschauungen kein einheit­ liches, mit Fröbelschen Anschauungen sich verschmelzen des Erziehungs­ prinzip bilden kann und Dir so jede Begeisterung fehlen muß, für ita­ lienische Kinder und Italien zu wirken. Für die Dogmatisch-Christlichen kann Pestalozzi-Fröbel eigentlich keinen Fortschritt in der Erziehung bringen; ja, ihre Grundanschauungen, wodurch sie die Geister mächtig bewegten, lassen sich gar nicht mit der kirchlichen Psychologie vereinen, wenn man eben logisch zuWerke gehen will. Das habe ich erst seit einiger Zeit so recht verstanden. Für die Orthodoxen bleibt Fröbel mit seinen Gaben nur immer ein Nühlichkeitsmann, der die Glieder der Kinder ein bißchen geschickter macht, und sie insoweit beschäftigt, daß sie zu weilen den Teufel in sich vergessen und artig sind ... Karl Schrader an seine Frau.

Heidelberg. 21. September 1873. Eben sind wir von einem Spaziergange zurückgekommen, welchen wir nach Tisch nach dem Wolfsbrunnen gemacht haben. Es ist dort und

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Kapitel 4:

auf dem Wege dahin recht nett, aber lange kein Badenweiler, selbst wenn ich davon absehe, daß es dort eine gewisse Person gibt, welche die be­ sondere Eigenschaft besitzt, alles fiir mich zu verschönen. Leute abend soll eine Zusammenkunft sein, ehe ich aber dahin gehe, muß ich Dir doch noch einmal schreiben, selbst auf die Gefahr hin, daß Du über das Straf­ porto wütend wirst, welches Du für meine Briefe bezahlen mußt, da ich keine Marken mehr habe. Am Ende bekomme ich sie unangenommen zurück I? Wenn ich auch von hier nicht viel, namentlich nicht das sagen kann, was Dich wohl am meisten interessiert, nämlich, wann wir fertig sind, so muß ich mich doch noch ein bißchen mit Dir unterhalten. Gestern abend um diese Zeit waren wir eben von unserm Spazier­ gange zurückgekehrt und erörterten die Frage, obMayonnaise oder nicht. Wir haben wirklich in Badenweiler in mancher Beziehung gelebt wie zwei vergnügte Kinder, aber Freude ist uns auch einmal recht notwendig gewesen. Auch sie gehört zur Gesundheit, und wir hatten davon lange Zeit hindurch zu wenig oder besser zu wenig auf einmal gehabt, als daß daß die Wirkung hätte stark genug sein können. Wir könnten freilich noch immer noch ein gut Teil gebrauchen, ehe es zuviel wird, denn unsere Vergangenheit hat uns eben nicht viel gegeben, und der Ernst des Le­ bens wird bald genug wieder an uns herantteten. Aber ich denke, wir haben doch einen guten Grund gelegt, und wenn wir auch demnächst nicht vergessen, Freude zu nehmen, wo wir sie finden können, ohne ande­ res zu schädigen, so können wir schon haushalten. And ich denke, das ist auch noch kein böses Zeichen, daß wir, um uns zu freuen, keiner großen Zurüstungen, sondern nur der Befteiung von Störungen und das Leben in schöner Gegend und mit uns allein oder mit guten Men­ schen bedürfen. Es gehört wirklich so wenig dazu, einen reinen, schönen Genuß zu haben, wenn man nur einfach ist und wirklich dasRechte will. Wir werden beide recht oft an die vielen und mannigfaltigen Freuden denken, die wir zusammen erlebt haben in Badenweiler, und was wir auch nicht für das Geringste, sondern für das Höchste zu rechnen haben, daß wir uns immer näher gekommen sind und — oder ist es bei Dir nicht der Fall, liebe Frau — uns immer noch lieber gewonnen haben. Auch darin gibt es ja, wie in allem Menschlichen, keine Grenze, und der Reiz liegt in der fortwährenden Vervollkommnung und dem Be­ wußtsein, daß an kein Absteigen, sondern noch an ein Aufsteigen zu denken ist. (Beiläufig bemerkt, scheint sich mir hieraus zu ergeben, daß

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subjektiv betrachtet, die Möglichkeit steter Vervollkommnung, stetigen Befferwerdens dem vorzuziehen ist der Erreichung der höchsten Stufe.) £lnb auch das habe ich gefühlt an unserm Verkehr namentlich mit Frau Guerrieri, daß wir, je fester wir jeder in unS selbst und in an­ dern stehen, desto geeigneter für die rechte Geselligkeit find. Ich hoffe, liebste Frau, daß Dir diese auch etwas mich ersetzt, und ich schätze es für ein großes Glück, daß Du gerade jetzt eine solche. Dich in jeder Weise ansprechende Gesellschaft genießt. Ich habe bis jetzt (mit Ausnahme einer gewissen Person) keine Frau kennen gelernt, welche mit so großer persönlicher Liebenswürdigkeit, Einfachheit und Reinheit ein so ernstes Streben verbände, wie Frau Guerrieri. Grüße fie herzlich von mir und suche sie noch möglichst zu bestimmen, mit uns in Kassel noch zusammen­ zutreffen. Studiert einstweilen fleißig Froschammer und Montgomery. Lebe wohl, liebste Frau, Zeit und Papier sind um, und ich will den Brief noch zur Post tragen; hoffentlich finde ich auch da Marken, daß ich Deinem Herzen den Kummer des Strafportos ersparen kann

Henriette Schrader an ihren Mann. Neu-Watzum. Mai 1874. Mit dem Gedanken an Dich schlief ich ein und habe so prachtvoll geschlafen ohne Unterbrechung bis halb acht Uhr. Mein erster Gedanke wärest Du, und die Atmosphäre, welche den Gedanken umgab und mei­ nem ganzen Wesen entstieg, war so wunderbar rein, klar und schön, daß ich mich wie von einem neuen Leben angehaucht fühle. Mein Karl, mein Mann, mein alles, ich bin noch nie im Leben so glücklich gewesen wie diese Tage, und es muß wohl dem Glück ein sehr realer Boden zugrunde liegen, denn die Tage sind mir nicht dahin­ geschwunden, sie leben weiter, und alle Töne ihrerHarmonie klingen fort. Lieber Karl, die einzig wirkliche Offenbarung des Lebens, die uns Glauben, lebendigen Glauben und Mut und Kraft verleiht, ist der Be­ sitz einer schönen Menschenseele und das immer innigere Verschmelzen mit ihr. Wer kann an den hohen Zwecken und an der wirklichen Schönheil des Lebens zweifeln, wenn er einen schönen Geist des Menschen

kennt? Die Schönheit ist ja da, der Zweck ist ja erfüllt, ein Ziel erreicht, das zu höheren Zielen der sicherste Wegweiser ist. Und die ganze Er­ ziehung hat ja nur zum Ziele, die wahre, in sich ernste und doch so lieblich« Schönheit des Lebens ans Licht zu fördern, und die Mittel dazu

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Kapitel 4:

zu suchen; die Faktoren zu kennen, mit denen wir zu rechnen haben, die Kräfte zu erforschen, die uns zu Gebote stehen; und der Drang nach Wahrheit, nach unbedingter Wahrheit weist uns den Weg. Ich habe sie Dir gegeben, Karl, Du kennst mein Wesen ungeschminkt. Du weißt noch nicht, was ich werden kann, aber Du mußt wissen, daß es Dein Geist war, der mir in der Zeit großer Trübsal Erlösung brachte, und wie ich, an ihm mich haltend, Mut fand, weiter zu leben An Marie Kellner.

Berlin SW. 6.November 1874. Deine so lang ersehnten Zeilen trafen mich im Bette, das ich auf Befehl meines Mannes bis Mittag hüten muß, da ich sehr erkältet bin. Wie verstehe ich Deine Stimmung so ganz, meine liebe, liebe Marie, wie finde ich alles so wahr und natürlich, was Du sagst. Ach, dasÄerz ist so begehrlich nach Glück, selbsteigenem Glück, und wenn es dasselbe nicht findet, so sucht es instinktiv Ersah oder Unempfindlichkeit, und dies sind gefahrvolle Zeiten für die menschliche Seele. Ich habe sie durch­ gemacht, und darum weiß ich es; aber ich war zu der Entscheidung gekommen, daß ich die Seite des Lebens, die sich nicht ganz ausleben konnte, nie in ihrer Unentwickeltheit mir verhüllen, nie die gewisse Ein­ seitigkeit des Lebens mir bemänteln, sondern immer klar sehen wollte, was mir fehlte, und daß ich den Schmerz ertragen wollte, wenn er kam; ja, ihn mit dem Lächeln der Wehmut ertragen zu können, das war mein Streben. Und so habe ich immer offen bekannt, daß ich mich viel lieber würde verheiratet haben, wenn ich denMann gefunden hätte, mit dem ich das Ideal der Ehe erreichen konnte, aber ohne ihn lieber allein bliebe, denn da bliebe mir doch das Ideal ungetrübt, und der Traum desÄerzens schön. Und nun strebte meine ganze Seele nach Verständnis des Lebens und danach, den Punkt zu finden, wo auch das kleinste Tun diesem Verständnis entspräche. Dies Streben ist rein, stark und treu in mir gewesen, aber mein Temperament, meine ganze Naturanlage war ihm einerseits nicht gün­ stig, und so konnte ich erst nach bitteren Täuschungen und schmerzlichen Erlebnissen zur Klarheit gelangen über alles, was ihm hinderlich war.

Aber wie Iphigenie dem Äimmel begeistert dankt für den Freund (lies einmal diesen Lymnus des Lerzens, dessen Geist mir gegenwärtig, dessen Worte aber dem Gedächtnis entschwunden), so fand auch mein

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Lerz so ganz unverdient, unerworben den Freund, fand ihn zu einer Zeit, wo mein ganzes Leben durch eine Krise ging, bei der Schloß­ geschichte

Sieh, Marie, ich halte zwei Dinge für notwendig, um sich selbst

und andern gerecht zu werden und eine organische Fortentwicklung des Lebens zu begründen: 1. die treue Erfüllung des uns Nächstliegenden

mit vollem Bewußtsein, wie viel oder wie wenig es uns bietet; 2. augen­

blickliches Ertragen ohne jegliche Resignation. Laß Dir kein Lerzblättchen Deines besseren Selbst und dessen Ansprüche ausreißen, keines; aber suche sie auch nicht selbst zu vernichten, weil sie augenblicklich schmer­ zen. Sieh, das Geheimnis der ewigen Jugend unseres Geistes liegt in

der Kraft, Schmerz leiden zu können, und der Wahrheit über unser Leben ins Auge zu blicken. Was ist das „Altjungferntum" anders als das Abgestorbensein des Lerzpunktes, so daß nun Schimmel und lauter

kleine Pilze verschiedener Art die Seele durchziehen? Oder, daß die

Kraft der Liebe, die nicht sich ausleben konnte, zum Dämon des Ehr­ geizes oder Herrschsucht oder Fanatismus wird? Lier Schimmel, dort Giftblumen erzeugt das Leben der Anverheirateten, wenn sie sich und die Macht der Natur nicht kennt und betrachtet, und wenn sie dem

falschen Stolze nicht entsagt, nicht Schmerz leiden zu wollen. Liebe Marie, wenn ich doch meine Kinder, wie Dich, Mary Ly-

schinska und Annette bei mir haben könnte Ich habe eine schwere Zeit gehabt, beständiges Kranksein im Lause, ewiges Reisen meines Mannes, was mich doch immer in eine gewisse

Angemütlichkeit verseht; dann Beginn meiner Stunden, die mir viel Arbeit geben, und dazu Eingewöhnung meiner Natur in das mir so verhaßte Gelärm des Toten in der Stadt ist schrecklich. Wenn der Sturm

tost und der Donner rollt, die Bäume krachen und der Regen strömt, so ist das doch immer eineMusik; aber diesRaffeln der schmutzigen, ge­

schmacklos angepinselten Droschken mit ihren brutalen Kutschern ist

schrecklich. O, wie sehne ich mich oft nach dem stillen Stübchen, wo ich so schöne Stunden mit meinem Manne, inmitten meiner geliebten Fa­ milie und derNatur verlebte; dort war mein Mann auch vorzugsweise Mensch, hier ist er Eisenbahner. Doch ich verstehe ihn so viel besser als

früher in seiner Auffassung der Arbeit und seines Lebens in der Stel­ lung, die er nun einmal hat, und die Bewunderung, die ich ihm auch

da zolle, hilft die traurigen Konsequenzen für unser Zusammenleben besser tragen. Mein Mann ist einer der Stillen im Lande, die keine Art

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Kapitel 4:

Maschinerie in Bewegung sehen, um zu wirken, welche doch immer mehr oder weniger dem Wagen des Quacksalbers gleichen, der mit Pomp seineWaren anpreist, eine Sache, die hier inBerlin genug anzutreffen ist. 3ch lerne auch die Vorteile meines Lebens, das sich viel auf mich selbst verweist, immer mehr schätzen; indem ich Freude am Studieren als solchem finde. Früher lebte ich aus der Land in den Mund, ich las nur, um zu lehren, und ich konnte mich erst schwer finden, mehr mit Büchern als einem belehrenden, erziehenden Kreise zu leben; jetzt finde ich es ein wundervolles Glück, wenn man mit Büchern fich vertraut machen und unabhängig von Menschen in fich selbst gestalten kann. Aber wie lang ist mein Brief geworden, und ich habe Dir noch nichts von Annett« und unserm Kindergarten geschrieben, doch das mußt Du selbst sehen und erleben; bitte mache einen festen Plan für Dein Kommen. Lebe wohl, mein liebes Kind, nicht wahr, ich darf auch ein bißchen Dein« Mutter sein? In warmer, inniger Liebe Deine Kenriette.

An Frau Luise Fröbel. Berlin SW. Dezember 1874.

Ich habe in dieser Zeit oft an Dich gedacht, wie richtig Du in Deinem Gemüte den Kindergarten festgehalten und vertreten hast. Fast alle haben die Schulmeisterei in den Kindergarten getragen, und dies ist hier in Berlin so weit gegangen, daß der Kindergarten zur Karikatur geworden. Ich studiere jetzt sehr eingehend Pestalozzi und sehe, wie er in der ersten Lälfte seines Wirkens so ganz eines war mit Fröbels Grund­ gedanken der Erziehung; aber später zu sehr auf die Schulmeisterei verfiel, und nun mit seiner Praxis geradezu seinen Prinzipien entgegen­ handelte, indem er die Mutter nicht mehr Mutter sein ließ, sondern fie zur Schulmeisterin stempelte. Fröbel hingegen eingehend aufPestalozzis Grundideen war viel glücklicher in der Wahl der Mittel; aber die Men­

schen haben fie losgerissen von den Prinzipien und machen Schulappa­ rate aus dem, was nur Benutzung fürs Leben sein soll. Die Reflexion verirrt fich so leicht, fie geht so leicht einseitige Wege, während das einfache Gemüt die Einheit der Ding« viel fester hält.

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Es freut mich so, liebe Luise, daß wir einander wieder nähertreten. Es ist ein schönes Zeichen der Reife, wenn man voneinander mehr und mehr den Kern des Wesens erfaßt, und die Eigentümlichkeiten des Wesens, die vielleicht nicht sympathisch von einem zum andern wirkten, mehr und mehr als unwesentlich dahirssallen. Liebe Luise, sehe nur ja die Aufzeichnung Deiner Erinnerungen fort, und laß uns versuchen, sie zur verausgabe zu verarbeiten; dann kommen wir auch an die Zeit, wo Fröbel in Dein Leben tritt, und da kannst nur Du gewisse Seiten erfassen und darstellen und auch vieles in Frau von Marenholtz' Darstellung berichtigen, ohne damit als Pole­ mik herauszutreten. Wie gerne möchte ich den Nachlaß mit ordnen, mit übernehmen; aber mir fehlen die Mittel. Mein kleines Vermögen steckt in der Anstalt Neu-Watzum, von dem Fortgänge derselben hängt überhaupt ab, ob ich etwas habe. Mein Mann hat zwar eine gute Einnahme; aber unser Laus mit zwei Mädchen und in unserer Stellung kostet viel. Auch ist mein Mann durchaus nicht sparsam, fast verschwenderisch, für sich selbst

so einfach als möglich, — aber für andere sehr, sehr freigiebig Sieh, so sind uns die Lände für größere Ausgaben gebunden. Ob wir im Frühjahr nach Lamburg kommen, kann mein Mann noch gar nicht sagen, seine Geschäfte sind so dringender Art, daß er sich nicht losmachen kann. S päter. Es ist schade, daß Du Deine Aufzeichnungen nicht kopiert hast, und ich das, was Du mir schicktest, nicht behalten kann. Man muß, um es zu beurteilen, das Ganze lesen Ich denke mir, wenn Du Dich ruhig hälft, nicht über Deine Kräfte gehst und ein stilles, be­ hagliches Leben führst. Du noch viele Jahre in schöner Stille und in Lerzensftieden verlebst. Lebe wohl für heute, eS grüßt Dich herzlich Deine L. S.

Lenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin SW. 19. Januar 1875. Dein Taschentuch habe ich trotz Regen, Wind und Dunkelheit gesehen und heute morgen schon Deinen lieben Gruß erhalten .... ich habe Dich durch und durch lieb, und dies« Liebe macht mich so glücklich, ich lerne so viel von Dir, und Du hast einen so guten, lieben Besen und LhschinsIa, Henriette Schrader II.


. Schrader.

Lenriette Schrader an Frau Stadtdirektor Baumgarten. Berlin W. 13. Juli 1878. Unsere Korrespondenz ist jetzt sehr lebhaft. Sie sind außer Annett« die einzige Verttaute meiner Pläne. Lesen Sie Einliegendes; natürlich für Ihren Lerrn Gemahl und auch für Ihren Schwager, wenn Sie wollen, ist alles mitgeschrieben. Wir kennen Ihrer aller Diskretion und Treue. Ich fing gestern an, an Lerrn von Normann, Kammerherrn der kronprinzlichen Familie, zu schreiben, aber der Brief wurde ganz un­ brauchbar, doch können Sie aus demselben sehen, wie ich von der Sache denke. Man kann die Anstalt einfach beginnen oder auch großartig; ich bin für ersteres. Nun würd« ich aber auch sehr viel fordern wie geben. Ich würde Annette geben als eine Lausmutter, und sie würde gehen. Dann dachte ich an Marie Kellner und Marie Schaper, wenn wir mit drei Käufern ansingen. Sollte aus der Sache etwas werden, sollte ich dauernd meine Land darin haben, so fange ich nur mit Menschen an, die ich kenne, deren Charatter mir eine Bürgschaft ist. Ich bin zu ungeschickt unter unlauter« Elementen, und diese Weiber, die da Parade mit ihren Taten machen, ich habe sie gründlich kennengelernt; sie find angeftessene Existenzen, angefteffen von Ehrgeiz, der bei den Männern sich »erträgt mit ihrer kernigen Natur, bei Frauen mir ein Ekel ist. Wenn etwas aus der Sache

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Kapitel 4:

wird, dann darf sie nicht allein in Lände von Berlinern ruhen. Es muß ein Kuratorium aus der deutschen Nation ernannt werden. Sie und die Ihren und DirektorMatthias müssen helfen. Glauben Sie mir, wenn wir die Kronprinzessin für Erziehung interessieren können, so tun wir damit ein Großes, sie ist aber ehrgeizig, sie ist gescheit, tatkräftig, eigenwillig; aber sie hat einen gesunden Kern. Denken Sie, ich habe ihr offen gesagt, daß man ihr vorwirft, sie kaufe alles in England; ich habe ihr gesagt, daß sie viele Feinde har. Sie bleibt mir doch treu, wie Sie sehen, sie kann eine unangenehme Wahrheit hören, und das zeigt Gesundheit. And, liebe Minna, soll unser Verhält­ nis von Dauer sein, so muß ich von vornherein mich ganz geben, wie ich bin, ohne alle Diplomatie, ohne alle diese höfische Glätte. Mein Mann ist ganz mit mir einverstanden, er handelt wie ich, wenn seine Form auch anderer Art ist. Er sagt mir: „Gehe ruhig Deinen Weg, will die Kronprinzessin wirklich etwas Gutes für die Erziehung tun, so gebraucht sie Dich, will sie es nicht, so kannst Du Deine Zeit besser anwenden." Sollte die angebahnte Sache ihrer Erfüllung näher treten, dann müssen wir uns einmal sprechen. Ach, die treuen, wirklich treuen Freunde müssen helfen. Sollte die Sache auch klein anfangen, sie bleibt nicht klein, die Kronprinzessin könnte das schon gar nicht vertragen. Sehen Sie, da müssen wir an treue Menschen denken. Ich denke auch an ein Lehrerinnenseminar und auch an eine Knabenanstalt in einem andern Orte und an ein Lehrerseminar. Dje Mütter, Frauen, Lehrer, Prediger müssen vereint wirken.Nicht wahr,Direktor Matthias ist durch und durch ein ehrenhafter Charakter? Ich habe schon einmal von ihm mit der Kron­ prinzessin gesprochen. Bleibt unser Verhältnis zwischen der Kronprin­ zessin und mir gut, wird sie Kaiserin, bekommt sie vielen Einfluß, dann werde ich ihr Menschen empfehlen, so z. B. würde sie dann sicher wün­ schen, Matthias käme einmal zu ihr, um ihr die Bedürfnisse des Volkes auseinanderzusehen. Sie sagte mir beim letzten Fortgehen: „Ich bin sehr gern bereit,Menschen zu sehen, die Sie mir bezeichnen". Jetzt ist die Sache noch nicht reif. Die zu gründende Anstalt allein ist es nicht, was mich beschäftigt, sondern daß die Kronprinzessin von tüchtigen Männern und Frauen stets die Wahrheit erfährt, daß vor allem ehrliche Charaktere ihr nahe kommen, wenn sie etwas unternimmt. Was Normann als seine persön»

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liche Ansicht gibt, ist natürlich die der Kronprinzessin und des Kron­ prinzen, aber sie mußte diese Form wählen, sie auszusprechen. Ich möchte doch so gerne ein Zeugnis von Ihrem Manne haben, wenn nur endlich mein Mann dazu käme, Ihren lieben Brief in bezug darauf zu beantworten, er sagte: „Ich will Baumgarten auf die im Zeugnisse erwähnten Punkte schreiben. Jetzt muß ich eine Druckschrift für die Anstalt ausarbeiten; ach, es wird mir so schwer; ich kann systematisch unterrichten, meine Kurse sind schon ein verzweigtes System; aber so systematisch schreiben — ich kann es nicht, mein Inneres ist zu beweglich, ich bin innerlich zu jung. Leben Sie wohl, meine teure, treue Freundin, gebe Gott, daß wir der Frau im Lande, die am höchsten stehen wird, die deutsche Treue wieder zu Ehren bringen. Bismarck hat uns äußerlich hochgehoben, innerlich dem Antergange nahe gebracht. Arbeiten wir, daß die bösen Elemente, die er mit dem Guten gab, vernichtet werden, und daß wir so von dem Guten profi­ tieren können. In treuer Liebe Ihre Ä. Schrader.

P. 8. Ich lege den Brief vom Prediger ein, die Pläne beziehen sich darauf, daß die Kronprinzessin einen Volkskindergarten und eine Ar­ beitsschule in Bornstedt anlegen will; sie hat schon ein neues Schulhaus und Arbeiterwohnungen bauen lassen. Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 25. Juli 1878.

Der Bries, den ich heute erhalten habe, ist besser als der, welcher gestern ankam. Du tust gewiß am besten, wenn Du das genießt, was Du Schönes inRudolstadt findest und Deiner Gesundheit lebst. Ich glaube. Du idealifierst viel zu sehr, wenn Du meinst, ich wolle nur meine Pflicht tun und wollte nichts von Dir für mich selbst. Gewiß will ich das ebensosehr, wie Du es von mir willst, nur in etwas anderer Weise.Nicht nur das möglichst große Maß augenblicklicherBefriedigung, sondern um dauernde Befriedigung ist es mir zu tun. Darum kann ich mich, wenn es mir auch schwer wird, etwas zu entbehren, doch im ganzen nur freuen und Dir helfen, wenn Du etwas möchtest, was für Deine Gesundheit oder Deine geistige Entwicklung von Wert ist, und darum

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Kapitel 4:

mag ich nicht, daß Du mir gegenüber solche Opfer ohne Not bringst, die Dich inVereinen oder andererRichtung schädigen würden. Darum habe ich nie Dienste untergeordneter Natur von Dir an­ nehmen wollen, und welche ich mir anderweit verschaffen konnt«; denn der wahre Dienst, den Du mir — und rein vom Standpunkte des Egois­ mus aus — leistest, ist die reichere und reinere Entwicklung Deiner selbst, damit wir zu immer einträchtigerem Wirken befähigt werden. Dann können wir denVorteil wirklich voll genießen, den wir fast vor der ganzen Welt voraus haben: daß wir als Mann und Frau zu gleichartigem Wirken für die Menschheit befähigt, uns gegenseitig ergänzend und eng verbunden sind. Dabei sind wir äußerlich so gestellt, daß wir an hervor­ ragender Stelle auch wirklich wirken können. Dazu uns fteti mehr zu befähigen, die äußerlich getrennten Wir­ kungssphären mehr zu verbinden, das muß unser Streben sein, und das wird uns auf die Dauer die höchste Bestnedigung und der persönlichen Liebe die höchste Verklärung und Dauer, von allen äußeren Dingen ab­ gesehen, geben

Henriette Schrader an Frau Stadtdirektor Baumgarten. Rudolstadt i.TH., 31. Juli und 2. August 1878.

Leute erhielt ich Ihren lieben Brief hier, wo ich seit Montag vor acht Tagen bin und bis übermorgen bleiben werde; dann nach Eisenach gehe, um mitPastor Herman Becker und einem andern Theologen einige Tage zusammen sein werde, um die religiöse Frage zu besprechen; sie brennt mir auf dem Herzen. Ach, liebe Minna, es gelüstet mich nicht nach Kampf auf diesem Gebiet; aber ich finde, der Mangel an Offenheit, die offenbare Lüge in dieser Beziehung hemmt die klare Geistesentwicklung. Sagen Sie, wie sollen wir den Religionsunterricht geben? Wie uns verhalten, wenn Kinder uns fragen, ob es wahr ist? In Berlin fühlt man alles Anbehag­ liche der Zeit doppelt, der Zwiespalt zwischenReligionsunterricht in der Schule und den Ansichten der Eltern wirken so zersetzend auf das Kinder­ gemüt; die Lehrer, welche Religionsunterricht geben und selbst nicht glauben, was sie lehren, nähren keine Idealität im Kinde; die Anbehag­ lichkeit desRedlichen, die Flachheit des Indifferenten, die Kälte des An­ gläubigen— Sie glauben nicht, wie daS alles die Gemüter in den Bann

tut — und ich ersehne deren Erlösung.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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And wir Frauen? Wie stehl es mit uns und der religiösen Atmo­ sphäre, die wir der Kindheit und der Jugend schaffen sollen? Die Kritik dringt so in alle Schichten, so daß der naive Standpunkt nicht festgehal­ ten werden kann, und so erscheint mir, wie ich die Sache betrachte, volle, ganze Klarheit in unserer Stellung zur Kirche eine Notwendig­

keit

Karl Schrader an seine Frau (welche am Sterbebett« ihres Bruders Adolf Breymann wachte).

Berlin W. 25. August 1878.

Das Leben geht seinen ereignislosen Gang weiter; das einzige Be­ merkenswerte sind Deine Briefe mitNachrichten von Adolf, welche wir jeden Morgen gespannt erwarten. Leute ist nur ein Brief gekommen, der, welcher an Albertine gesandt werden sollte und auch sogleich gesandt ist — mit ganz gutenNachrichten. Wenn ich den Brief richtig verstanden habe, so hat sich jetzt auch schon ein natürliches Bedürfnis nach Schlaf gefunden, und Adolf hätte auch ohne Chloral geschlafen; wenn man nur noch acht Tage weiter wäre 1

Dich muß ich ja wohl noch längere Zeit da lassen, und ich will es ganz gerne, so lange es Adolfs wegen nötig ist; ich möchte aber gar nicht, daß Du sogleich aus der Krankenpflege und aller Aufregung, di« Du gehabt hast, in eine angestrengte Tätigkeit hier kämest, und möchte, daß Du, wenn irgend möglich. Dich vorher noch irgendwo erholtest. Ich werde vor Ende derWoche schwerlich auf einige Tage von hier fortgehen können, es ist zuviel hier liegen geblieben, und ich muß auch die Arbeits­ schule in Ordnung bringen. Der Kultusminister hat uns eine Beihilfe von Mk. 400 zugesagt, und wir müssen vorwärts. Pflege mir nur den Adolf gut, daß ich mich freuen kann, wenn ich ihn wiedersehe .... Freuen wir uns, daß wir ihn transportiert und in Verhältnisse gebracht haben, in welchen er die Leilung ruhig erwarten kann, und in welchen Ihr ihn pflegen und behüten könnt. Das Leben hier ist ohne Dich und mit der steten Sorge um Adolf wenig erfreulich, indessen ist nichts daran zu ändern .... Die Nach­ richten lauten im Grunde nicht ungünstiger, als ich sie erwartet habe; dieRekonvaleszenz, wenn wir überhaupt von einer solchen schon sprechen dürfen, wird eine recht langsame sein. Ich fürchte sehr, daß er sich jetzt

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Kapitel 4:

viele, traurige Gedanken macht*) über die Versäumnis seiner Arbeit, über die Frage, ob er je seine vollen Kräfte wieder erlangen wird. Ich glaube, sobald und so milde als möglich müßte ihm der Gedanke nahe­ gelegt werden, daß dieser Winter für seine aktive künstlerische Arbeit verloten sei, und daß er daran denken müsse, die Zeit seiner intellektuellen Ausbildung, dem Studium der Kunstgeschichte und Philosophie dienst­ bar zu machen. Du wirst dazu imstande sein. Ja, meine liebe Frau, Du kannst, mußt und sollst alles und läßt mich hier allein sitzen 1 Aber das will ich einige Zeit noch geduldig er­ tragen zu Deiner Beruhigung und um Adolfs willen, solange es Deine eigene Gesundheit gestattet. Sobald aber die Zustände sich ändern, daß Deine Eigenart dort nicht gerade nötig ist, oder sobald Adolf für sich selbst mehr sorgen kann, mußt Du fort, sonst gehst Du einem schlechten Winter und vielleicht einer ernsten Krankheit entgegen. Schone Dich soviel es irgend gehen will; ich bin Anna und Adolf sehr dankbar, wenn sie daraus etwas halten, denn Du vergißt Dich nur zu leicht; namentlich sieh zu, daß Du täglich zum Spazierengehen kommst. Kann ich von hier aus gar nichts für Adolf tun? Soll ich vielleicht außer Schlei auch Sardellen und Anchovis schicken? Ich schicke alles, was Du willst. And weißt Du wohl, daß ich aus Deinem Betragen in den jetzigen Ereignissen gesehen habe, wieviel mehr Verstand und Einsicht auch für das Hauswesen wert sind, als bloße Hausfrauenroutine? Äenriette Schrader an ihrenBruderDr. med. ErichBreymann

Berlin W. 10.Dezember 1878. Mein lieber Erich I Du sprachest neulich den Wunsch aus, das Buch von Fröbel „Die Menschenerziehung" zu haben, wenn ich nicht irre, ist sie bei Bruder Karl, oder Albertine besitzt dasselbe, die sie Euch gewiß gerne leiht. Aber ich sage vorher, ich glaube kaum, daß sie Euch nützt. Es sind großartige und dabei so einfach natürliche Grundgedanken darin ausgesprochen, aber oft in schwulstiger, unklarer Form, so daß man schon tief in die Sache eingedrungen sein muß, um die praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen. *) Ein halbfertiges Siegesdenkmal für die Stadt Braunschweig. Die Haltung der Hauptfigur wollte er ändern, und der Gedanke verfolgte ihn in seinen Phantasten.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Weißt Du, die erste Erziehung ist so viel mehr indirekt als direkt. Was wir selbst sind, wie wir an uns arbeiten, wie wir zusammen leben, die ganze Atmosphäre unseres Lebens ist das wichtigste für ein kleines Kind. Die rechte Lauseinrichtung oder Lausordnung, der rechte Spiel­ raum, die rechte Spielzeit, die Spielmittel und Spielfreiheit, die Ein­ richtung der Kinderstube, die gute Gewöhnung der Gesundheit des Geistes und des Körpers angemessen, das richtige Ge- und Verbieten, die strenge und doch liebevolle Konsequenz, so daß das Kind von vorn­ herein sich fugen lernt unter der Autorität, die aber auch wirklich eine sittliche Autorität ist — das sind die wichtigsten Dinge für das kleine Kind; so einfach, so natürlich, wenn wir nicht egoistisch, launisch, bequem, leidenschaftlich wären — schwer, weil es sich darum handelt, uns vom Grunde aus zu veredeln. Lätte ich Kinder, so würden mein Mann und ich sicher öfter eine Morgenandacht halten, d. h. wir würden einander stärken, die Arbeit desTages int rechten Sinne zu vollbringen, und das Kind, sobald es ein Weilchen (die Andacht muß nur kurz sein) still seine Ländchen fallen kann, sollte dabei sein. Darüber, wie über Arbeit und Religion sind herrliche Stellen in der „Menschenerziehung". Das Beispiel ist die Lauptsache in der Erziehung, nicht die einzelne Landlung als solche, das Muster sein wollen; ich Haffe Musteranstalten, Musterväter und -mutter usw. Nein, dies Beispiel im Ringen und Kämpfen gegen unsern größten Feind — die inner« oder äußere Bequemlichkeit, den persönlichen oder Familienegoismus. Die Erziehung mit bestimmten Mitteln beginnt erst, wenn das Kind arbeitsbedürftig wird, daß wir hie und da recht zu Lilfe kommen. Ein rechtes Übel für Kinder, vielleicht ein notwendiges, sind Kinder-

ftauen und Kindermädchen überhaupt, und die besten sind noch die insoweit einfältigen, die das Kind vor äußeren Schaden bewahren. Schreibe mir doch bald einmal wieder, oder Du, liebes Lieschen, wie sich Gretchen entwickelt, und wenn Ihr „Die Menschenerziehung" lesen wollt, lest die herrlichen Stellen über Religion und Arbeit. Mit herzlichen Grüßen L. S.

Karl Schrader an sein« Frau. Berlin W. 17. und 19. Juli 1879. Ich erwarte von Dir bestimmt« Nachricht, ob Du nach Salzburg mit zu gehen gedenkst; wenn Du gemütlich Dich nicht gar zu ttostlos in »»schinria, Henriette Schrader H.

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Kapitel 4:

Schlangenbad fühlst, so tust Du gewiß besser, dort zu bleiben . . . . Wunderlich genug ist die Politik jetzt; alle nicht gerade interessierten Menschen sind unzufrieden, und die interessierten, d.h. die Leute, welche Schutzzölle erhalten haben, merken schon, daß sie nichts davon haben; aber die braven Nationalliberalen werden doch Bismarck helfen, die Privatbahnen zu kaufen. Lat er die noch, so hat er alles, was er will, und dann werden sie ihm schwer die Macht wieder aus den Länden winden können. Nun meinetwegen! Ich werde wohl Fräulein von Perpigna noch einen langen Brief über das monarchische Prinzip schreiben; ich sagte ihr, ich sei in dieser Zeit monarchischer geworden, sie erwiderte, sie sei republikanischer ge­ worden. Am 19. Juli. Leute nachmittag bin ich in Potsdam bei der Kron­ prinzessin gewesen, eingeladen von Fräulein von P. zu einer Bespre­ chung über verschiedene Wohltätigkeitspläne. Da ich annahm, daß auch von dem Vorsitze in unserm Vereine für häusliche Gesundheitspflege wieder die Rede sein würde, ging ich heute morgen zu Lerzog, zugleich um mich von ihm zu verabschieden. Alle bisher vorgeschlagenen Per­ sonen sind nicht geeignet, aber es waren neue Personen vorgeschlagen: Falk, Friedenthal, Sydow. Da alle diese Lerren nicht augenblicklich hier sind, oder noch nicht mit ihnen gesprochen werden kann, so kamen wir dahin zunächst, bis ein Präsident geschaffen ist, einen Vizepräsiden­ ten zu schaffen, welcher bis dahin die Geschäfte führt. Dieser muß ich sein, weil in der Tat niemand weiter da ist, ich habe mich aber entschieden dagegen gewehrt, etwas anderes zu sein, als ein reiner Stellvertreter. Mit diesen Ideen hat sich die Kronprinzessin befreundet; alle drei ge­ nannten Lerren sind ihr recht,Virchow hat sie aufgegeben. Nun von meinem Besuche in Potsdam. Als ich vorfuhr —Wagen und Bedienter waren am Bahnhöfe — wurde ich von einem mir bisher noch unbekannten Adjutanten, Kammerherrn oder dergl. in LusarenLlniform vor dem Schlosse empfangen, der mir sagte, die Frau Kroll­ prinzessin wünsche mich im Garten zu empfangen. Ich mußte draußen — unterhalten von dem Lerrn, einige Zeit warten, dann trat die Kron­ prinzessin heraus mit Frl. v. P. und den Kindern. Sie ging sofort in den Garten, und auf meine erste Begrüßung erkundigte sie sich sogleich nach Deinem Befinden, worüber ich ihr Auskunft gab. Dann aber ging sie gleich auf ein politisches Gespräch — Freihan­ del — über, welches uns fast eine Stunde in Anspruch nahm. Sie hatte

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wieder Bücher für mich bereit, die sie in den Garten holen ließ, sie hatte sie auf ihren Tisch gelegt, dabei auch gleich Packpapier und Bindfaden, damit ich die Bücher nicht unverpackt im Eisenbahnwagen haben, und die Bücher auffallen möchten. Alles wurde zusammen herunter gebracht; es waren Bücher über Freihandel vom Kobden-Klub usw., sie las mir daraus vor, und dann wurden sie eingepackt. Die Kronprinzessin sagte mir einiges, was darauf schließen ließ, daß sie sich etwas in acht nehmen zu müssen glaubt. Sie ist über die politischen Verhältnisse sehr betrübt und schien namentlich davon frappiert, daß ich ihr sagte, man werde jetzt den zum Schutzzoll getanen Schritt nicht mit einem Male, sondern nur allmählich wieder zurücktun können, weil man sonst wieder gewaltsam in die Entwicklung eingreifen werde. Am Schluffe kamen wir auch auf unsern Gesundheitsverein. Sie war sehr erfreut über den guten Stand der Dinge in der Ackerstraße und sehr betrübt über das viele Elend, das dort ist. In aller Eile bekam ich dann eine Tasse Tee in einem Gattenhause, wo die Töchter dicke Milch usw. hatten, und wurde dann wieder weg­ gefahren. Ich mußte aber versprechen, sofort nachRückkunft davon An­ zeige zu machen, da die Kronprinzessin mich sprechen möchte. Ich fürchte, daß ich die einzige Person bin, mit welcher sie über gewisse Dinge reden kann. Mir geht es ja sonst ganz gut; es drängt sich aber so viele Arbeit aller Art jetzt zusammen, daß ich gar nicht durchzukommen weiß Ä. Schrader an eine junge Freundin (ungenannt).

Berlin W. Ende der 70er Jahre. Mein liebes Fräulein I Ilm beim Schluffe Ihres lieben Briefes zu beginnen, so wüßte ich nicht, daß sie einen Formfehler mir gegenüber gemacht haben; ich bin auch nicht die Persönlichkeit, der eine reine Äußerlichkeit ins Auge fiele,

und die dafür ein Gedächtnis hätte. And nun wollten Sie wirklich Me­ dizin studieren? Ihre ganze Persönlichkeit, soweit ich sie kenne, scheint mir dafür zu bürgen, daß Sie, ttotz des noch eigentümlichen Weges, den Sie wandeln, nicht die weibliche Natur verleugnen; aber große Klippen haben Sie gewiß zu umschiffen. Es ist mir immer ein Zweifel gewesen, aber seit meiner Verheiratung ist es mir so sonnenklar geworden, daß die Natur nicht umsonst die Ge10*

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Kapitel 4:

schlechter verschieden schuf, und daß eine Verschiedenheit der Leiber auch Symbol ist für die Verschiedenheit der Geister. Ich sage nicht, daß diese oder jene Wissenschaft oder Kunst der Frau verschlossen bleiben soll, nein, gewiß nicht; aber die Art und Weise zu arbeiten, um sich Kenntnisse zu erwerben, und die Art und Weise, dieselben zu verwenden, wird immer eine andere sein müssen bei der Frau, als bei dem Manne, wenn sie nicht in die Eigenart ihres Seins zerstörend eingreifen will. Täuschen wir uns nicht, die Gleich­ heit des Studiums und der Ausübung des Berufs von Frauen und Männern führt nicht zu jener höheren Geistesgemeinschaft, in welcher der Verkehr der Geschlechter seine Verklärung finden soll; sondern sie begründet eine Kameradschaft, welche nur die natürlichen Verschieden­ heiten bestehen läßt ohne ihre Idealität. Wie z.B. der Geistesprozeß fiir Kunstschöpfungen ein ganz anderer ist als der, welcher zu wissenschaftlicher Forschung führt, und wie beide,

jede ganz an seine Art und Weise hingegeben, eine andere Seite der Welterkenntnis ins Geistesbewußtsein rufen, das dann beide zu har­ monischer Weltanschauung verschmilzt — so haben Mann und Weib verschiedene Aufgaben zu erfüllen in bezug auf die Welterfaffung, und jeder soll in seiner Weise das Tüchtigste leisten, nicht aber sich selber schwächend, ins Gebiet des andern übergreifen. Der Mann ist bestimmt, die Wissenschaft um ihrer selbst willen zu verfolgen, glaube ich, das Weib nicht, ihr muß sie immer Mittel zum Zweck bleiben, sie erzieherisch zu verwenden; sie kann und soll nie ein­ seitig ihre Kräfte zur Verfolgung einer Richtung konzentrieren, denn ihre Bestimmung ist, den Menschen als solchen liebend zu erfassen mit all seinen Bedürfnissen, und um dafür ein Verständnis zu gewinnen und Fähigkeiten, sie zu befriedigen, muß sie so vielseitig sein, und gerade daß sie es sein soll, wird sie verhindern, in der Wissenschaft und Kunst schöpferisch einzudringen. Daß sie schöpferisch sein kann, wird sie vor Oberflächlichkeit behüten, wenn der Ernst der Liebe für das Wohlsein anderer sie beseelt. Kein Mädchen, das nicht von vornherein erblich belastet ins Leben tritt, kann sagen, darf sagen: „Ich will nicht heiraten". Wenn die Seele des andern die unsere im tiefsten Innern berührt, und die Naturen sympathisch zu einander stimmen, dann erfüllt sich ein Geschick, dem wir nicht widerstehen dürfen, ohne uns zu versündigen; aber mit der stillen Eingabe an dasselbe begeben wir uns unter ein Gesetz derNatur, und

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ihm haben wir zu folgen als Gattin, Lausftau und Mutter, als solche haben wir unsere Person und Gedanken an eine Vielseitigkeit von Pflichterfüllung hingegeben, die, wenn wir ihr vorher nie lebten, schwer­ lich in rechter Weise zu erfüllen ist, und deren hohe Bedeutung wir ver­ stehen müssen, um fie mit der Anmut der Seele zu erfüllen, die dem ganzen Lause seinen Zauber verleiht. Nicht in der Kameradschaft zwischen Gatte und Gattin vollzieht sich die Verschmelzung der Geister, die jeder in voller Eigentümlichkeit bewahrt und doch gegenseitig sich so bereichert, und je tiefer man ein­ dringt in die Eigenartigkeit des männlichen Wesens, desto höher ent­ wickelt sich die Eigenartigkeit der eigenen Natur, und so vollzieht sich ein Zweifaches: Man nähert sich einander immer mehr und wird doch für einander immer reicher, immer neu. Wie nun die Ehe zweier Menschen diesen Prozeß vollzieht, so kann und soll die ganze Menschheit in bezug auf das Geistesleben den Zeu­ gungsprozeß vollziehen, indem männlicher und weiblicher Geist in der Arbeit für die Menschen sich gegenseitig unterstützen und verschmelzen.

An Mary Lyschinska.

Berlin W. Oktober 1879. Es kommt nach und nach über mich wie ein Frieden. Ich glaube, ich habe endlich die rechte Lilfe gefunden im Lause. Ich kann kein un­ geordnetes Lauswesen ertragen, und kann keine Zeit erübrigen, es regel­ mäßig zu leiten, was unsere Dienstboten bedürfen, wenn sie ordentlich sein sollen. Ich bin so dankbar im Lerzen für die Ruhe, di« mir wird, und es ist meine ernsteste Sorge, fie auch dankbar zu benutzen. Ja, unser Unterricht ist zum Teil nichts besseres als Stallfütterung, um Ochsen fett zu machen — und sie ist nur schlechter, denn von dieser Geistesfütterung werden die Geister mager. Aber wie schwer ist es, daß Idee und Ausführung, Prinzip und Form sich decken, das wird mir immer klarer; man braucht nur einmal die Geschichte des Lesenlernens zu studieren, um zu sehen, welch' eine Arbeit es ist, dasNatürliche und Einfache, den KindernNaturgemäße zu finden. Wir sagen den Kindern, eine Veilchen­ knospe ist ein BlÜtenwickelkind — ja wirMenschen sind wie sie, wir find

in uns selbst eingewickelt und verstehen uns selbst nicht, und halten nicht einmal so himmlssch still wie die Blumen, die fich naturgemäß entfalten, sondern wir machen bei unserer Entwicklung Lärm und Verrenkungen

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Kapitel 4:

und haben Arbeit, uns wieder einzurenken. Nur, wem Gott ein fried­ liches Alter bescheert, der wird still wie Blumen und entwickelt sich still und schaut durch diese Hüllen und Verrenkungen immer mehr das Naturgemäße in der menschlichen Entwicklung. Ja, Mary, Du hast so recht, wir sollen nicht nur belehren in dem Erzieherinnenkursus, wir sollen erheben und erbauen. Wir Frauen sollen gewiß auch denken lernen, aber die Verbindung unserer Verstandeskräste mit anderen Geisteskräften wiePhantasie und Gemüt ist eine andere wie beimMann, und woran wir denken lernen, ist nicht die Frage, sondern daß wir denken, denn wir sind Menschen

An die Schwägerin Elisabeth Breymann inWolfenhüttel. Berlin W., Steglitzer Str. 68. 28. Oktober 1879.

Hoffentlich seid Ihr nun auch längst eingewohnt und gemütlich in den neuen, oder vielmehr altenRäumen, welche Dir so lieb und vertraut sind. Wir haben in unserer neuen Wohnung das Gefühl, als wären wir schon lange hier, wie es wohl immer der Fall ist, wenn man sich ver­ bessert hat und sich behaglich fühlt Unser Arzt hat mich zum dritten oder vierten Male untersucht, und er sagt immer, es sei Enervation des Herzens, ganz ungefährlich, aber qualvoll .... Annette ist sehr befriedigt von ihrer Wirksamkeit, aber wir arbeiten uns auch immer mehr in die Höhe, und unsere Anstalt wird immer besser und vollkommener organisiert MeinMann steht auch vor demVerkaufseinerBahn, vielleicht kann sich die Sache schon Anfang nächsten Jahres vollziehen. Bis 1885 be­ kommt er sein volles Gehalt, dann 2000 Taler Pension jährlich. Ich glaube, wir werden trotzdem hier bleiben, meinMann hat schon ziemlich viele Verbindungen mit Zeitungen usw., er wird oft um Artikel gebeten, sie werden gut honoriert, und so denkt meinMann, was das Pekuniäre betrifft, daß wir die Sache recht ruhig ansehen können; im übrigen wird er schon zu tun bekommen. Falk sagte neulich zu mir, er habe noch nie so viel Arbeit vor sich gehabt wie jetzt; er sprach sich bei einem Besuche hier sehr offen über seinenRückttitt aus, und ich bin sehr gespannt, wie

er im Abgeordnetenhause reden wird. Hier ist immer große Erregung über die Tagesfragen — Stöcker, Iudenhehe, Eisenbahnverkauf, Puttkamer, Simultanschulen usw. bil­ den das Tagesgespräch; es ist wirklich Pflicht eines jeden Menschen, sich

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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über die schwebenden Tagesftagen eine Ansicht zu bilden, um sie endlich in richtiger Weise zum Austrag zu bringen. Wir Frauen können doch sehr viel indirekt für das Wohl des Ganzen beitragen, wenn wir unsere Männer und Brüder und Bekannte unterstützen, für das Rechte einzutreten — es ist doch gar nicht genug als Pflicht erkannt, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, und doch kommt dem einzelnen schließlich zu­ gute, was das Gemeinwohl hebt. Es ist wirklich schrecklich, daß die Wahlen so traurig ausgefallen sind und zeigen, wie wenig die Männer noch ihre politischen Pflichten fühlen und nicht weiter denken als den Tag und ihr eigen Laus. Ist denn der liebe Erich jetzt ein guter Bürger? Ihr müßt Euch wirklich wehren gegen Bernhard von Clairvaux*) und Lessings klare Denkungsart zu Ehren bringen. Braunschweig ist zum Gespött geworden, und ich begreifeÄerrn vonLeinemann nicht, daß er nicht geradezu Protest eingelegt hat. Aber zum Schluß noch tausend Dank für Dein reizendes Vergiß­ meinnicht und den lieben Brief, auch daß Du meine Alpenrosen so schön verwendet hast. Ich habe die lieben Vergißmeinnicht so lange als möglich erhalten und mich an ihrer stillen Sprache erfreut. Lebe wohl, mein liebes Lieschen, küsse Deinen Dicken recht herzlich von mir und auch Dein liebes Gretchen, und habe lieb Deine treue Schwester Äenriette.

An Mary Lyschinska. Berlins. 28.Dezember 1879. Du glaubst gar nicht, wie unsere traurigen politischen Verhältnisse auf mich drücken, wie sie mich lähmen. Der Liberalismus ist so flach, seine Religionslosigkeit, seine einseitig intellektuelle Richtung ist mir so antipathisch, läßt mich so unbefriedigt; der Zusammenhalt im Oppo­ nieren gegen gewisse Dinge, die mir selbst im kirchlichen Leben nicht paffen, ist noch kein Zusammenhalt von positivem Inhalt und Dasein, dem man sich anschließen kann. Ich entbehre so sehr kirchliche Gemein­ schaft. Ich möchte nach England kommen, und die „Unitarians" kennen lernen und vielleicht mich dort anschließen Ich muß diese Zeit so viel an Friedrich den Großen denken, wie tat­ kräftig stand er da im Leben, wie hat er mit eiserner Kraft, mit uner

*) Streit um die Aufstellung der Büste Bernhards oder Lessings in der Aula des Gymnasiums zn Wolfenbüttel.

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Kapitel 4:

schütterlichem Mute gestaltet — und doch wie traurig, wie einsam sein Alter Das Leben ist wunderbar schön; so lange man noch Lebensstoss vor sich hat, gestaltet man frisch darauf los, immer auf das, was noch werden soll, blickend, wenig ökonomisch mit Zeit und Kraft um­ gehend; und wenn der Schluß des Lebens nach und nach näher tritt, dann erblickt man erst, was man getan, die unvollkommenen, unvoll­ endeten oder verkrüppelten Gestalten, die unwiderruflich unsern Lebens­ weg bewölken; so wie wir sie schufen, wie wir sie erzogen, blicken sie uns traurig an; wir möchten sie sammeln und mit uns begraben — ach, das Leben ist so schwer Dies alles ist sehr, sehr traurig, und doch lebe ich zwei Leben — eins der persönlichen Liebe, und ich danke Gott dafür. Ich habe noch ein zweites Leben, dasWirken und Schaffen für einen Fortschritt in der Erziehung, und dieses Leben hängt mit denMeinungen und dem Glau­ ben zusammen. And wirklich, was soll man glauben? Ich fühle mich so isoliert in meinen Bestrebungen hier Unsere Anstalt ist jetzt was sie sein soll, aber wer interessiert sich dafür, wer bietet die Land zur Weiterentwicklung? Gerade mein Standpunkt in der Frauenfrage, in der Religion, in der Pädagogik isoliert uns — ich habe keine Partei hinter mir, wohl einen kleinen Kreis der Getreuen. Nach außen hin stehen wir nicht so großartig da, wie manche andere Anstalt; in den Frauenversammlungen und „Tagen" spielen wir keine große Rolle. Wir werden nicht viel be­ sprochen und gelobt, weil wir uns nicht eingekaust haben in diese Verficherungsgesellschast der Lobhudelei, und weil wir nicht fabrikmäßig arbeiten; aber im Innern haben wir etwas geschaffen, was unserm Streben entspricht And doch, wenn Amos Comenius, wenn Pestalozzi, wenn Fröbel große Männer waren, wenn ihr Leben und Wirken noch Bedeutung für di« Gegenwart haben, dann will auch ich etwas Großes, denn ich habe sie verstanden, und ich mache Ernst mit ihren Ideen in Beziehung auf Laus und Schule; mir sind sie nicht poetische Erregungen, mir sind sie Wahrheit und Wirklichkeit. Diese Männer zeigten, daß die Elementarerziehung nicht eine minderwertige, niedrige Stufe der späteren Er­ ziehung ist, sondern eine Wissenschaft, eine Kunst für sich, die Grund­ legung für das spätere Leben ist Der Instinkt allein erkennt in unsern komplizierten Lebensverhältniffen nicht mehr das Rechte, nützt vor allen Dingen die Zeit nicht aus, wie sie genützt werden sollte, um die

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Menschen zu stählen für den Kampf des Lebens, zu bilden für das Werk der Liebe. Kennst Du die Darwinsch« Lehre von der Anpassung der Natur des organischen Wesens? Doch schriftlich läßt sich in einem Briefe so schwer darauf eingehen. Daß wir die Zeit besser zu benutzen lernen müssen, zeigt stch in dem verkehrten Bestreben, die Kinder möglichst früh zu unterrichten, aber gerade das frühe Wecken der Erkenntniskräfte lähmt den Menschen für das Gestalten, für dasBeherrschen der Situation und der Dinge. Aber, wie gesagt, mit meinem wachsenden Verständnis der Welt und Menschen ist auch die Anruhe aus meiner Seele gewichen, mich den Menschen verständlich zu machen. Ich nehme die Sache historisch, es ist ein großes Beruhigungsmittel, sich in den Gang der Geschichte zu ver­ tiefen, aber in Einzelheiten, in Tatsachen, die auf ernster Forschung beruhen. Sie erklären die Geschichte der Gegenwart, und wiederumMit-

le be n derselben erklärt die Vergangenheit

Lenriette Schrader an Marie Kellner.

Berlin W. 5. Januar 1880.

Dein Brief, meine liebe Marie, ist mir viel im Kopfe herumgegan­ gen, und ich habe mich oft gefragt: Fordere ich eigentlich Annötiges von * * * (LauSstütze), verlange ich überhaupt Dinge, die unwesentlich sind? Ich sage aber mit vollem Bewußtsein: Nein. Im Gegenteil, * * * hat mir nur in voller Klarheit die Mängel der Erziehung, die Mängel des Lebens auch in der Sphäre gezeigt, der sie entstammt. Mein Be­ dürfnis nach Sauberkeit, Ordnung und Systematik ist nur das, was

unsere Zeit fordert, Erhaltung der Dinge, die richtige Zeit- und Kraft­ einteilung, durch welche dieLausftau soviel leistungsfähiger wird; die richtige Verbindung des Denkens und Wissens auf wirtschaftlichem Ge­ biete mit der Technik und Handhabung, die zu allen Dingen gehört; die Sorgfalt, welche man den Dingen zu rechter Zeit widmet, das Geschick, mit nicht zu großen Mitteln doch eine gewisse Ästhetik des Lebens her­ zustellen .... Ich arbeit« nun wieder mit Köchin und Lausmädchen, und ich glaube, ich habe Glück, wenigstens fühle ich mich befreit svon der „Stütze"). Laß Dir ein Beispiel geben: Ich weiß, daß man bei sorgfältiger Auswahl des Rindsieisches und sehr sorgfältiger Behandlung desselben

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Kapitel 4:

durch Klopfen und durch verschiedene Lihegrade beim Kochen, die man

einfach durch Abnehmen des Topfes und Aufsehen auf die Platte er­ reicht, oder vielmehr durch Kerausnehmen des Fleisches, welches gegessen werden soll, zu rechter Zeit — sehr schönes Suppenfleisch für 6 Groschen ä 1 Pfund hier erzielen kann. * * * bat das nie gekonnt, überhaupt konnte sie das nur gut kochen, was dieser feinen Sorgfalt nicht bedurfte. Sie fand aber das Suppenfleisch, das wir nicht essen mochten, gut genug . . Nun machte ich mit meiner Köchin den Versuch, weil sie große Lust hatte, eine ordentliche Köchin zu werden — siehe da, wir hatten das schönste Gericht. Ich habe ausgezeichnete Kochbücher, aus denen ich mir alles zusammengestellt habe für die Behandlung des Äerdes, der ver­ schiedenen Geschirre, des Fettes usw. Und da liegt die wahre Sparsam­ keit, da liegt der Wohlgeschmack, diese Feinheit der Dinge, die nichts kostet als zur rechten Zeit denken, einrichten und zusammenbringen. Ich habe das hier von einer Kochftau gelernt, die ein Muster der Leistung und Sparsamkeit war. Diese Frau stand tief unter * * * in Bildung. Nun schmähe ich nicht die Pastorenhäuser, aber ich habe einen Zorn auf die Gemütlichkeit, die durch Bequemlichkeit, Beschränktheit, Eigensinn und unästhetisches Wesen erkauft wird. Und * * * war nach dieser Seite in einer Weise bequem. Du würdest kaum glauben, wenn ich Dir er­ zählte wie. Sieh, Marie, der Kampf ums Dasein ist keine Phrase, unsere Zeit erfordert eine ganz andere Entwicklung der Kräfte als früher; aber ge­ rade durch diese Entwicklung der Kräfte kann wieder Muße gewonnen werden, die uns so notwendig ist, die der Erziehung das wesentliche Moment in der Familie bietet; die Nu he, in der das Kind gedeiht, die Stille in der es aufatmet, die Zeit, die man sich für seine kleinen Leiden und Freuden interessieren kann. Aber wir dürfen diese Gemütlichkeit nicht auf Kosten anderer Dinge erwerben. Sieh, diese Pastorenftauen und-Töchter (die gegenwärtige Gesellschaft ausgenommen), was können sie?Nur gerade das, was sie nach ihrem Schlendrian, nach ihrerManier machen, und wenn sie mit wenigem auskommen, so leben sie dafür auch jämmerlich, unästhetisch und kümmerlich. Und wenn sie eine Stelle suchen und kommen nicht in ein Laus, wo geradeso mit demReisigbesen rein gemacht, wo geradeso Kaffee geplanscht wird, wie sie es gewohnt waren, so stehen sie da, wissen sich nicht zu finden und verderben vieles durch ihr Ungeschick.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Eine gute Lausfrau und Mutter zu sein in unserer Zeit fordert eine Lebenstüchtigkeit, gegen die sich der alte Schlendrian noch sträubt, aber wir müssen ihm mit aller Kraft den Lals brechen. Wir müssen die einzelnen Richtungen, welche in der allseitigen Bildung (die die Frau zu ihrem natürlichen Berufe als Lausftau und Mutter bedarf) ein­ geschloffen liegen, zu Ämtern ausbilden, die der unverheirateten Frau eine unabhängige Stellung in der menschlichen Gesellschaft bieten. Da ist die Krankenpflegerin von Fach und Amt, die nur Geschick­ lichkeit undWiffen, welches auch dieMutter bis zu einem gewissen Grade gebraucht, weiter ausbilden muß; die Lehrerin, die Erzieherin, die Laus­ wirtin, die Putzmacherin, welches auch zur Kunst erhoben werden muß, die Kunstgärtnerin (Blumenpflege im Lause ist auch so wichtig). Daraus geht auch die kaufmännische Angestellte, die Geschäftsführerin, die Ver­ waltungsbeamtin in der Gemeindepflege hervor; dann das Kunst­ gewerbliche, alles Dinge, welche die wirklich tüchtige Familienmutter in ihren Anfängen treibt, die nur weiter zum Amte entwickelt werden, und die wieder allgemein verwertet werden, wenn die Beamtin zur Lausftau undMutter wird. Aber sieh —Mädchen wie * * * haben keinenBegriff von der Amts­ tüchtigkeit und Amtspflicht .... Annette ist ein Schatz, endlich ein­ mal ein Mensch, der Bedürfnis nach Tüchtigkeit hat und keine quaddrige Sentimentalität

Lenriette Schrader an Marie Kellner.

Berlin W. 24. Februar 1880.

.... Auf den Aufschwung, den meine Seele nahm, ist ein rechter Dämpfer gesetzt. Meine Komiteedamen, die soviel Verttauen in meine Stunden setzen, wünschen so unsern Kursus, der acht Schülerinnen zählt, zu einem wirklichen Seminar zu erweitern. And wir haben schon viele Vorarbeiten dazu gemacht, da sagte mir der Stadtsyndikus Eberty, dessen Frau mit im Komitee ist, und der uns sehr wohl will, daß er unter der Land mit den Schulfürsten hier ge­ sprochen hat und uns rät, die Sache ganz im stillen fortzuführen; sowie wir ein Programm drucken lassen, müssen wir Erlaubnis von der Stadt und dem Ministerium haben, und da ich kein Lehrerinnenexamen ge­ macht habe, würde mir kein Gott die Vorsteherinstelle bewilligen.

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Kapitel 4: überhaupt hätten wir schon lange ungesetzlich gehandelt, und es

könne mir, so wie den andern Damen jeden Tag die Erlaubnis zu unter­ richten entzogen werden, da jede Persönlichkeit, die in Preußen unterrichtet, ob Kinder oder Erwachsene, einen Erlaubnisschein haben muß. Das kleinste Ubelwollen gegen unsere Bestrebungen kann also jeden Tag meinWerk zerstören. Als ich in Gegenwart der Schwester eines hohen Schulrats, der einer der mächtigsten ist, äußerte, niemand von den Herren verstände ja etwas von der Fröbelschen Erziehungsweise, und ich könne sie eher ex­ aminieren als sie mich, lachte sie und sagte, ich möchte so etwas nicht laut sagen. Ich müsse, um Vorsteherin eines Kindergarten-Seminars zu sein, nicht nur ein Lehrerinnen-, sondern auch ein Schulvorsteherinexamen machen, Dinge lernen, die nichts mit der Kleinkindererziehung zu tun haben, und ein Examen ablegen. Ich glaubte Unterricht für Erwachsene sei frei, zumal Unterricht in einer Sache, die mit Stadt und Staat [ge* setzlichj nichts zu tun hat. Aber nein 1 Von allen Seiten ruft man mir zu: „Schreiben Sie 1" Hundertmal nehme ich den Anlauf — es geht nicht. Meine Kolleginnen sind reizend gegen mich, sie erbieten sich zu jedem Handlangerdienst, zum Abschreiben usw. Aber einmal habe ich kein Talent zu der Art des Schreibens, wie es dasPublikum bedarf, und dann kann ich mich nie konzentrieren. Heute haben wir eine Gesellschaft von zwölfPersonen mitHummerremolade und Lühnermayonnaise, Erbsen und Junge, Rehrücken und Trabanten, Eis, Obst usw. Meine Köchin kocht alles, aber ich muß

immer nachsehen und ihr alles zeigen, mit ihr im Kochbuche nachlesen... Und nun unsere schwankende Lage. Bismarck undMaybach zanken sich wegen der Anhalter Bahn. Maybach will nicht mehr kaufen, ihm ist angst geworden.Bismarck will die AnhalterBahn, um den süddeutschen Staaten zu Leibe zu gehen, er will alle Bahnen in die Gewalt bekommen als Reichsbahnen. Nun kommt es darauf an, wer Sieger bleibt — natürlich Bis­ marck. Es ist eine Nachsession des Abgeordneten-Hauses beanttagt, und gestern abend sagte man meinem Manne, jetzt solle die Sache mit Eile betrieben werden.Vielleicht sind wir im August vogelftei. Mein Mann hat Lust, Italien, Frankreich, England zu besuchen, sich vorerst auf Studien zu werfen. Diese acht Jahre hat er nur aus­ gegeben und im Praktischen gearbeitet. Bismarck wollte schon Anfang

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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desWinters für 4 % kaufen, mein Mann wehrte sich gegen diesenPreis, nicht gegen den Verkauf. Nun begann ein Spiel, um die Bahn auszu­ hungern, mein Mann hat zu kämpfen, und in einer wichtigen Sache hat er gesiegt. Man wollte der AnhalterBahn fiirWochen keinen Durchgang nach Wien auf Staatsbahnen gestatten; durch meinen Mann kam die Sache im Abgeordnetenhause zur Sprache, und soweit ist denn doch die Ge­ sellschaft noch nicht gesunken, daß man dem zustimmte. Maybach mußte seinen Befehl zurückziehen. Aber dieses eine Beispiel mag Dir zeigen, wie aufteibend die Tätigkeit meinesMannes ist. Last Du vom Reichsgesundheilsamt« hier gehört? Wir haben in dem Vortragenden Rate desselben. Geh. Rat Finkelnburg einen sehr lieben Freund. Dr. Struck, der Leibarzt Bismarcks, ist Direktor des Reichsgesundheitsamtes Unsere Beziehungen zum kronprinzlichen Lause sind die herzlich­

sten Die Stöcker und Genossen, die Iudenhetze, der Wellenschlag dieser Bewegung, die hier die Gemüter in Auftegung versetzt, stört dieWolsenbüttler nicht mehr? Viel, viel könnte ich Dir erzählen vom Leben meiner Seele, in dem klar und klarer die Schönheit des Lebens emporsteigt, und dieMittel sich finden, diese Schönheit zu erlangen. Die Erziehung zur geistigen Mütterlichkeit, die dasKleine groß er­ faßt im Zusammenhang« mit dem ganzen Leben; die die Entwicklung der Seele des Kindes schaut und mit keuscher Zurückhaltung ihr fich naht und doch mit inniger Liebe, welche wie Strahlen der Sonne entwickelnd wirkt, ohne fie direkt zu berühren mit ungeschickter Land; diese Mütter­ lichkeit, die ihre Macht erstreckt über den Familienkreis hinaus; die ernst macht mit derNächstenliebe, die der Gesellschaft Mutter ist und ihr hier mit Interesse, dott mit einer Gabe oder endlich mit Einsetzung der Per­ son, zu Helsen sucht, wo keine näheren Pflichten fordernd an sie herantteten. Diese Mütterlichkeit, die so die Seele pflegen kann, die sie in ihrer Metamorphose versteht, sie muß erzogen werden, sie muß ihre Mission beginnen. Aber, wenn der Staat so mächtig wird, wenn sich alles in Staatsbeamtentum entwickelt, dann wird die Frauenkraft in Fesseln geschlagen. Wie wir es im Kleinen haben, so müßte es im Großen sein: Beamtinnen für Volkserziehung, Armenpflege, die Kindergärtnerin, die Leiterin des Volkserziehungshauses, der Gesundheitspflege, wir

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Kapitel 4:

honorieren sie, sie stehen in der Mitte, und um sie scharen sich freiwillige Kräfte. Sieh, Marie, ich habe alles im Kleinen, praktisch ist die Idee gemacht. Aber ich bedürfte der Erweiterung, der Ausbildungsschule. Den Namen Kindergärtnerin möchte ich fallen lassen — diese Beamtinnen müssen die Ausbildung von Erzieherinnen haben, die die menschliche Natur zu kennen streben — (Nachweis aus der Geschichte, wie es die Jetztzeit fordert, Geschichte der Pädagogik, Nachweis wie die tüchtige Wirtschaftsführung zusammenhängt mit der Geisteserhebung des Volkes,Wirtschastslehre,Beschäftigungslehre). Der Kampf ums Dasein, der oft in erschreckender Weise geführt wird, erfordert eine Ausrüstung der Kräfte in ganz anderer Weise und einen Reichtum des Gemütes. Ach, könntest Du Annette sehen mit unsern sieben Elementarklassenkindern! Sie versteht dieWohnstubenkrastPestalozzis in die Schule zu tragen, und bis zum 10. Jahre vor allem muß dies sein. Ich schreibe Dir, indem ich den Tapezierer beaufsichtige, der noch bei den Gardinen beschäftigt ist. Ja,Marie, ich bin meiner Sache sicherer als je; aber sehe auch kla­ rer, wie wenig sie verstanden werden wird. Ihr Verständnis beruht zum großen Teil mit auf der Empfindung, und unser Intellektualismus hat fie verdrängt Äenriette Schrader an Frau Luise Fröbel. Berlin W. Mai 1880. Also ist nun die liebe Albertine Middendorf auch tot, ich habe nur eine gedruckte Anzeige bekommen und kein Wort weiter gehört .... Ich habe durch die vielen Todesfälle in meiner Familie, durch unseres Freundes Kuntz Tod vor einem Jahre so gelitten — es hat mir soviel Kraft genommen, nicht Liebeskrast, aber die Fähigkeit sie zu äußern. Ich konzenttiere mich immer mehr auf meine Arbeit und meine Familie, die mich umgibt; wenn ich mich nicht aufteiben soll, habe ich diese Ökonomie der Kräfte nötig. Aber glaube mir, ich behalte die, welche mir nah standen, treu im Kerzen, und fp gedenke ich Deiner ost Es sind schlechte Zeiten für das Verständnis von Fröbels Ideen — ich sage mit Absicht nicht der Kindergarten — denn es ist ein Anglück, daß man Fröbels Ideen mit dem Kindergarten identifiziert, der ja oft schrecklich ist. Aber um so wichtiger ist es, streng an den Grundideen festzuhalten, und sie in der Praxis gemäß zu gestalten. Ich glaube. Du

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würdest Dich freuen über unsere Anstalt; aber mit welcher Mühe habe ich fie geschaffen I Bisher gab ich allen Unterricht für die Schülerinnen allein mit Ausnahme von Singen und Geometrie. Jetzt habe ich aber einen Lehrer für Naturwissenschaften angestellt, der ausgezeichnet unterrichtet oder vielmehr doziert; überhaupt bin ich sehr dankbar für das Glück, tüchtige Lehrkräfte zu haben, meist von mir selbst gezogene Schülerinnen.Meine Annette istVorsteherin der ganzen Anstalt . . . . so ist unsere Anstalt ein harmonisches Ganze, wirklich ich liebe sie wie ein Kind, und sie ist mein Kind, welches ich mit meinen besten Kräften nähre. Mein Mann ist ja so ganz mit mir einverstanden in dieser Arbeit, wie er überhaupt auch tätig mit in dieselbe eingreift. So habe ich ein wunder­ schönes Leben, wenn ich mich in meinem Kreise abschließe Ich würde mich so sehr freuen, Direktor Jessen und Frau hier kennen zu lernen, ich sprach neulich mit Wehrenpfennigs über sie. Jessens werden es hier nicht leicht haben, fürchte ich, aber wer Mut und Ausdauer hat.. wer über Tüchtigkeit und Selbständigkeit gebietet, kann hier festen Fuß

fassen

Äenriette Schrader an ihren Mann. Berlin W. 27.Mai 1880. Ich bin ganz empört von der Pastoralkonferenz hier in Berlin. Mein Gott, das alles sollen wir uns gefallen lassen? Ich meine, daß diese Sorte agitiert und der Heuchelei den Boden bereitet? Und wie ist denn die Sache mit der Jakobi-Gemeinde gelöst? Sollte ich nicht einmal, zu den lieralen Pastoren gehen und vorschlagen, daß wir zusammen­ arbeiten wollen? Wenn man so die ganzeWahrheit des menschlichen Treibens kennen lernt, wird man so unsicher .... dieser Mangel an Gemeinsamkeit ist so drückend, dies Mißttauen, das ich jetzt habe, daß die Menschen Meinungen ändern nach Zwecken, daß man sich auf niemanden ver­ lassen kann, quält mich oft so. Ich weiß jetzt, daß die Gemütsbildung vor allen Dingen in Angriff genommen werden muß, ich weiß auch, wie es gemacht werden soll, ich kann es auch selbst. Ach, ich fühle mich so eins mit der Kindesnatur, ich sehne mich oft nach dem stillen Leben mit einem Kinde — oder nach einer kräftigen Agitation gegen dieses Geschmeiß von Äeuchelei. Wenn wir doch mehr Kilfe hätten von der freisinnigen Partei in der Kirche, aber wir gehören einer religiösen Richtung an, die hier in Deutschland ihre kirchliche Fassung und Form noch nicht gefunden

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Kapitel 4:

hat, und die meinerMeinung nach noch im Bilden begriffen ist. Und zu dieser Bildung werden die verschiedensten Faktoren beitragen. Der Protestantenverein ist einer derselben, aber längst nicht der einzige. Er ist viel zu negierend, einseitig intellektuell und viel zu wenig werkkräftig... Pastor Ziegler aus Liegnitz hat auf dem letzten Protestantentag offen die Mängel des Vereins hervorgehoben. Wieviel hat mir das wunder, volle Werk von Keim: „Jesu vonNazara" geholfen, meinen Frieden zu finden nach langen religiösen Kämpfen, die schon meine Jugend be­ wegten. Ich habe mich darin finden lernen, daß ich mit vielen andern darauf verzichten muß, einer Kirche wirklich innerlich anzugehören, wonach in mir das tiefste Bedürfnis lebt. Beim Suchen nach etwas anderen fiel mir mein grünes Buch in die Land — ich mußte darin lesen. Denke Dir, ich sehe den großen Fort­ schritt, den ich seitdem gemacht habe, ich war damals noch so befangen in unserm Zeitgeiste des Intellektuellen; aber die Laut oder Schale, die ich noch zu durchbrechen hatte, war schon dünn, und jetzt ist sie voll­ kommen durchbrochen. In Übereinstimmung mit der neuen, sich bilden­ den Weltanschauung, in Übereinstimmung mit der tiefsten Natur des Kindes und in Logik und Schönheit baut sich meine Beschäftigungs­ lehre auf. Ich habe einen neuen, grünen Zweig an Pestalozzis und Fröbels Lehre getrieben — es ist dieNachschaffung seines, noch bei ihm un­ entwickelten Gedankens. And doch findet dies so wenig Interesse, doch legt man dem so wenig Wichtigkeit bei, und doch ist es etwas, die kind­ liche Form für den größten Gedanken zu haben.Nein, lieber Karl, wenn wir nicht mehr Wirkung üben mit unsern vereinten Kräften, dann ist es nichts

Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 2. Juli 1880. Als ich heute morgen auf das Büro kam, erhielt ich eine mir nicht angenehme Kunde, die, daß ich am Sonntagabend von hier nach Baden-Baden zu einer wichtigen Konferenz muß .... Du wirst also schon den nächsten Brief (den ich hier Montag erhallen müßte) nach Baden-Baden adressieren, wo ich ihn Dienstagnachmittag vorzufinden hoffe. Meine Adresse ist Lolländischer Los .... In der Politik gibt es auch nichtsNeues.Natürlich wird das Kirchengesetz vom Lerrenhause genehmigt, Bismarck ist aber wütend, daß man ihm soviel gestrichen hat; di« Nationalliberalen zanken sich untereinander, die Freikonservativen

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haben sich blamiert, die Konservativen haben sich in einer Schwärze ge­ zeigt, die viele ihrer Anhänger stutzig machen wird; nur das Zentrum und der Fortschritt freuen sich. Letzterer gewinnt bei allen Nachwahlen neue Sitze, auch gegen die Nationalliberalen; es tritt ein, was ich vor einem halben Jahre Forkenbeck und Rickert gesagt habe: Weil sie sich nicht entschließen können, die Führung der liberalen Parteien zu über­ nehmen und offen mit der Sprache heraus zu gehen, treten andere, rück­ sichtslosere Elemente an ihre Stelle. Morgen werde ich etwas von den Ferienkolonien hören und von der Liebenswürdigkeit * * *s. Cs ist gräßlich, daß ich jetzt wieder fort und nun mich auch noch für die Konferenz präparieren muß. Wann soll ich meinen Bruder einladen? Zch bin sehr mißvergnügt; hoffentlich bist Du in Deinem schönen Iohannisbad desto vergnügter, und ich freue mich darüber. Grüße Annette vielmals. Lebe wohl, liebe Frau; zur kleinen Dämpfung Deiner Freude schicke ich eineRechnung von B., die ich bezahlen werde, wenn Du nichts dagegen hast. Biele Küsse von Deiner armen „Motte". Henriette Schrader an ihren Mann. Iohannisbad.

3. bis 5. Juli 1880.

Wenn ich hinauskomme in die Natur, die so schön und kräftig mir entgegentritt, wie hier, dann ist es, als strahlte meine Seele in tausend­ facher Richtung aus — als ergösse sie sich in dieselbe — nicht, daß eine Leere im Innern sich fühlbar machte; aber in ein gewisses, köstliches An­ bewußtsein versinken Gedanken und Sorgen ums tägliche Brot, d. h. um das Anordnen desselben, und ich werde selbst Natur; aber nur einige Tage währt dieser Zustand; dann strahlt dieNatur in mich zurück, und es entzündet sich im Mittelpunkte meiner Liebe zu Dir, dem ich all das Schöne verdank«, ein Licht, indem ich das Leben erneut bettachte, und das mir klarer als je vor Augen liegt. Könnte ich Dir nur alles wieder­ geben, wie es in mir ist, könntest Du nur die ursprüngliche Sprache meiner Seele lesen — könnte ich sie nur photographieren. Schiller sagt einmal: „Die Seele spricht nicht mehr, wenn sie spricht" .... Die Anmittelbarkeit des Gefühls geht verloren durch das Wort, durch die ganze Maschinerie, welch« in Bewegung gesetzt werden muß, um es zum Ausdruck zu bringen, durch alle die Medien, die es passieren muß, nicht nur von dem, der zu uns redet, sondern auch Lyschintka, Henriette Schrader II. 11

Kapitel 4.

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bei dem, der hört. Wie viel gehört dazu, daß all dieser Stoff der den Geist durchdringt, um ihn den andern zu vermitteln, dem Gedanken so dienstbar wird, daß er ihm entspricht; tote ost sagt man auch mitRecht r „Wenn ich nur das rechteWort finden könnte". Und wenn man einen andern ohneWorte versteht, wenn man Auge in Auge versenkt, Land in Land dasteht — Lerz am Lerzen ruht — ist es nicht minder der Stoff, der dem Geiste die Brücke baut -um Geiste? Und ist unser ganzes Leben nicht ein ewiges Übersetzen, Übertragen vom

Geistigen ins Stoffliche und umgekehrt — wie Fröbel sich ausdrückt: „Innerliches äußerlich machen" und „Äußerliches innerlich". Lieber, armer und doch großer Fröbel! Lieber — weil er so hingegeben war an seine Idee, sie so zärtlich liebte und pflegte, das Kleinste, was ihm ein Zuwachs schien, mit Entzücken betrachtete, wie die Mutter jedes Lärchen am Laupte ihres Kindes, das ihr neu erscheint, weil, ja weil er mütter­ lich fühlte für sein Werk und deshalb auch Mutterliebe und Muttertum so ganz verstand. Armer Fröbel, arm an Gewandtheit — wie hat er mit dem Stoffe, wie nach dem rechtenWorte und Ausdrucke dessen, was seine Seele so mächtig bewegte, gerungen, und wie ist er durch die Schwer­ fälligkeit seiner Sprache und Äußerungen so vielfach mißverstanden.

Großer Fröbel — ja, groß für die Zukunft, gerade er hat die Bedeutung des Stofflichen ftit den Geist des Menschen ganz verstanden; er ist so ganz eingetreten in die Fußtapfen des einzigen, herrlichen Pestalozzi, der den Schlüssel gefunden hat zu dem Verständnis der Kindesnatur. Lies nur die letzten Briefe in „Wie Gerttud ihre Kinder lehrt", über die Entwicklung der Liebe, des Glaubens, Verttauens, Gehorsams; lies im „Schwanengesange" über Elementarbildung.

AberLülle aufLülle ist zu erschließen zumVerständnis der mensch­ lichen Natur, und Fröbel ist der einzig Würdige, den Schlüssel zu emp­ fangen aus Pestalozzis Land und ihn zu gebrauchen, wo des ersteren Land versagte. Das Große, was wir Pestalozzi verdanken, ist durch Fröbel fort«

gesetzt.

Dasjenige, worüber man Pestalozzi preist, wodurch er im Munde der Schulmeister lebt, die Begründung des Anschauungsunterrichts, ist nicht sein Bedeutendes. Es hat uns gerade soviel Einseitiges und deshalb Verkehrtes gebracht, als Gutes; er hat uns auf die Bahn des einseitig

Intellektuellen gefiihrt.

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Nur der Pestalozzi mit seiner mütterlichen Liebe, der Pestalozzi als Erzieher der ersten Kindheit im Bunde mit Fröbel, kann uns erlösen von dem, wasPestalozzi, der Schulmeister, uns einesteils geschadet hat?

And worin besteht die Erlösung? Daß wir los werden von dem Widerstreit zwischenNatur und Geist im Menschen, die zwar beide ihre Selbständigkeit bis zu einem gewissen Grade besitzen, so daß der Geist nicht aus derNatur, die Natur nicht aus dem Geiste abgeleitet werden kann, sondern beide aus einer gemeinsamen Quelle, aus Gott. Für den Menschen kann keines ohne das andere existieren, weder der Geist ohne die Natur, noch die Natur ohne den Geist; die gehören zusammen als eins, die bestimmt find, einander zu ergänzen, zu erklären, zu vervoll­ ständigen, zu durchdringen zur schönsten Larmonie — ja, daß Mensch­ sein diese Durchdringung und Verschmelzung bedeutet. „Wenn der Mensch ins Leben tritt", sagt Pestalozzi, „ist er das vollendete.Tier, welches Sehnsucht hat Mensch zu werden durch Erziehung I" And in der ersten Kinderpflege muß der Körper für den Geist, und der Geist für den Körper erzogen, das Einzelwesen für die Gesamtheit erzogen werden, die Gesamtheit für den einzelnen einstehen. Großer Fröbel im Bunde mit Pestalozzi 1 Sie haben beide das Verständnis von dem Verhältnisse zwischen Körper und Geist in ihre Erziehungsweise ausgenommen; Pestalozzi hat die Konsequenzen fiir die erste Erziehung gezogen; Fröbel hat di« Anfänge zur Vollendung, die Keime zur Blüte gefördett; man muß Pestalozzi lesen und Fröbel sehen, d. h. die praktischen Mittel, die er von „Mutter und Koselieder" an schuf, um beider Grundideen zu reallfieren, und man wird ein Ganzes haben, das das Werk der Erziehung zur Freude erhebt. Die Last, welche Kinder den Eltern leider oft machen, zur Lust erhebt, natürlich nur für den, welcher die Arbeit liebt mit ihren notwendigen Begleitern der Erwägung manches Schweren, häufiger Entsagung momentaner Befriedigung. And darum glücklicher Fröbel, glücklicher Pestalozzi — Ihr habt gearbeitet für die Nachwelt, Ihr habt dafür gelebt, und das ist köstlich; Ihr habt damit den Boden zur Erneuerung deS Lebens gegeben, und das ist beneidenswett. Nach unserm bescheidenen Gabelfrühstück gingen wir in de» Wald, der unmittelbar amLäuschen ist. Ich setzt« mich unter «inen Baum und schrieb, das niedlich« Wittshaustöchterlein aber hing meine Längematte 11«

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Kapitel 4:

auf und lud mich ein, darin zu ruhen. Solch' eine himmlischeRuhe genoß ich noch nie, das war ein Duften, ein leisesRauschen und Summen um mich her, ein Nicken und Flüstern der Gräser und Blumen und ein leises Wandern und Picken einer Hühnerfamilie, unter deren Tritten die zarten Halme sich bogen, aber nicht knickten, und ebenso leise sich wieder aufrecht reckten. In dieses Stilleben um mich her tönte der mono­ tone Schlag eines Holzhackers, und kaum vernehmlich rauschte das Lebe» durch den Dampfwagcn tief unten durch das Tal, von blauen Bergen überragt. Trotzdem tausende von Mücken in Sonnenstrahlen tanzten, welche blitzend und goldig flutend durch die dunkeln Tannen­ wipfel drangen, so berührte mich keine — still, im tiefsten Frieden, un­ gestört von des Lebens Plagen lag ich da, und unwillkürlich zogen mir Bilder aus Goethes 2. Teile des Faust vor dem Geistesauge dahin, wo Selige in denÄimmel getragen werden, und das Surren undRauschen, das Summen und Flüstern, es wurde mir zur sanften, leisen Musik der Sphären, ich fühlt« mich fort und fort getragen, wie in neuen, reinen Regionen schwebend, und ich hörte einen Chor singend: Alles Vergäng­ liche, Ist nur ein Gleichnis, Das Unzulängliche, Ater wird's Ereignis."

Wie gesagt, nie in meinem Leben habe ich vorher einen solchen Naturgenuß gehabt; ich fühlte vollständige Erlösung — ich fühlte Him­ melfahrt ! Und als ich wieder von diesem Gefühl zum Gedanken mich konzentrierte, da dachte ich, daß die Himmelfahrt Jesu ein Gleichnis sei für die friedliche Auflösung des guten, irdisch vollendeten Menschen. Nach Tisch. Als wir nach 3 Uhr von Tisch kamen, fand ich Deine lieben Briefe, den von Freitag und den von Sonnabend vor, die mein Heimweh steigerten. Dich so gehetzt zu wissen, bald hier bald da — es ist schwer für mich, aber ich will mich dem Gefühle nicht hingeben, sondern tapfer sein, Kräfte sammeln und nach Kräften arbeiten; denn ich bin wirklich nicht so krank, um hier nur zu faulenzen. Die liebste Arbeit ist mir die. Dir zu schreiben, recht viel und aus tiefster Seele. Ach, möchten Dir meine Briefe gleich erquickenden Oasen sein in der Wüste des Hauses, wo Du durch Mottenpulver wandern mußt im Getriebe der Geschäfte 1 Ant­ worten kannst Du mir nicht, aber lesen in stiller Stunde, mein Herz, das kannst Du, nicht wahr? Und ich habe gar nicht mehr das Gefühl, als seien wir getrennt durch die Verschiedenartigkeit unserer Tätigkeiten — das ist, was ich

Auchüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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lerne, die Gestaltung des Lebensstoffes in den verschiedenen Formen zu begreifen. ünd so sage ich Dir mit zwar etwas vor Sehnsucht zitterndem, aber mutigem Kerzen lebewohl. Noch bist Du im „Mottenheim", aber heute abend, wenn ich mich in mein Fröbelsches *) Bett lege, dann saust Du 'gen Baden-Baden; reise glücklich, ach, schone und pflege Dich für Deine Frau, die ohne Dich ttotz allem Schönen einsam und allein ist.

Karl Schrader an seine Frau. Baden-Baden. 5. Juli 1880. Ich habe schon zwei Depeschen von Frankfurt heute an Dich ab­ geschickt, damit wenn etwa die eine nicht ankommen sollte, die zweite wenigstens zu Dir gelangt. Nun schreibe ich noch, obgleich ich vonwegen des Einmottens meiner höchst eigenen Person furchtbar wütend auf Dich war. Als ich nämlich gestern nacht meine Reise decken auseinandernahm, um mich zum Schlafen einzuwickeln, fliegt mir Motten­ pulver um den Kopf, in die Augen und die Nase, und ich mußte stundenlang pusten, husten und weinen, so daß mir schließlich Blut aus der Nase kam. So war ich richtig eingemottet; wenn es den Motten ebensowenig gefällt, wie es mir behagt hat, so kommt gewiß keine in die Decken. Übrigens war die Reise recht gut; das Wetter war kühl, das Koupee nicht voll, ich hatte bis Frankfurt nur einenReisegenossen — ab Frankfurt kamen einige Kollegen hinzu, unter ihnen Simon, der mehrere Tage in Leidelberg bei einem Verwandten gewesen war. Er erzählte, daß in Kreisen, in welchen er verkehrt hat — Universität — die Bismarck­ anbetung noch stark grassiere; man weiß sich freilich seine letzten Schritte nicht recht zu erklären, aber man glaube ihm dennoch folgen zu müssen. Nun, Kaiser ist er faktisch schon, warum sollte er nicht auch noch zur Gottähnlichkeit vorrücken? Baden ist doch ganz anders wie Iohannisbad; die Lust ist steilich heute ganz gut, weil Gewitter gewesen war; aber der ganze Zuschnitt würde Dir zu längerem Aufenthalte gar nicht behagen. Übrigens scheint

es noch ganz leer hier zu sein; von vornehmer Welt namentlich sieht man nicht viel. Seid Ihr noch immer recht vergnügt mit einander? Sei nur recht artig, sonst motte ich Dich auch einmal ein! *) nämlich hartes — siehe „Menschenerziehung" Seite 50, Ausgabe Wichard Lange.

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Kapitel 4: Karl Schrader an seine Fran.

Frankfurt «.Main. 7. Juli 1880. Eigentlich schreibe ich hier auf der Durchreise nur, um Dich auszuschelten. Ich hab« nicht einen einzigen Brief nach Baden bekommen, obwohl ich doch mindestens gestern einen hätte haben müssen. Lossen«, lich ist Dir nichts passiert, sondern es ist bloß eine kleine Bummelei von Dir oder der Post. Gestern oder richtiger heute nacht um 1 Ahr bin ich von Baden abgereist; jetzt fitz« ich hier in der Bahnhofsrestauration von 6—81/« Ahr morgens, und dann geht es weiter nach Laus, wo ich um 9 Ahr abends eintreffe. Ob ich wohl dort «inen Brief finde? Es ist doch sehr schön in Baden; die schönste Amgebung von Natur ist mit vieler Kunst benutzt, so daß die Anlagen mit dem von Natur Vorhandenen fich unvermerkt auf das Beste verbinde; dazu eine weiche,

warme Lust, die gerade in diesen Tagen frisch war Leute werde ich in unserm Restaurationswagen*) zum ersten Male dinieren. Man spricht sehr viel von ihm in der Eisenbahnwelt. Von Deiner Lebenseinrichtung in Johannisbad weiß ich noch gar nichts; ich habe ja Briefe bisher nur vom 5. gehabt .

Lenriette Schrader an ihren Mann. Iohannisbad. 8. Juli 1880. Leute ist Kaiserwetter, alles lacht im goldenen Sonnenschein und unter wolkenlosem Limmel; nur eins ist und bleibt hier traurig, ja, ist um so ttauriger bei dieser Sommerpracht — das sind die erstorenen Laubbäume. Sie tun mir so weh, ihr Johannistrieb ist nur kümmerlich, er er­ scheint wie ein mühsames Lächeln auf dem Antlitze, in dem daS gebro­ chen« Lerz seine unvertilgbaren Spuren zog. „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht, Es fiel auf die jungeBlätterpracht — Sie sind gestorben verdorben." Du glaubst nicht, wie weh mir dies tut.Mühsam nur tröste ich mich, daß ein neuer Frühling kommt, daß nicht jeder Frühling mit einer so harten, grausamen Land greift, wie in diesem Jahre. Ehe ich Dich kannte, lebte eine tiefe, ungestillte Sehnsucht in meinem Lerzen. Ich verstand die Schönheit der Liebe, ich empfand die Wahrheit

*) Karl Schraders Idee des ersten Speisewagens in Deutschland ließ er von einem unternehmungssteudigen jungen Manne ausführen, wozu er ihm durch Geld noch half.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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vom Köstlichen der Gemeinschaft zweier Seelen, wo Dichter undPhiloso pH zu mir redeten vom Glück der Liebe und Ehe. Dahinter ließ ihr

Wort in mir das Gefühl, daß es grausam sei, einLerz mit Empfindung und Verständnis für das Löchste im Leben auszustatten, ohne ihm die Erfüllung dessen zu geben, was man als das Höchste im Leben preist. Zwei Dinge trösteten mein schmerzlich bewegtes, zu Zeiten über die Ungerechtigkeit des Schicksals erbittertes Herz: DaS ein« war der Gedanke der Realifierung der Fröbelschen Idee — freilich damals nach der Seite der Schule hin —. Diese Organisation nach Prinzipien von unten auf, dies Getriebe, in dem ich jedesRad ge­ freut und in Bewegung gesetzt, jedes Fädchen gesponnen und gespannt hatte — ja, das war meine Liebe; deshalb strebte ich von Alt-Watzum fort, deshalb schloß ich mich an Anna Vorwerk, begann in Wolfenbüttel frei, ohne an dies von mir verfluchte Erwerben zu denken, zu bauen, während die Penfion mir Brot gab, und — Du weißt alles, und Du kannst glauben, mir wäre das Herz gebrochen, hättest Du es nicht ge­ nommen, hättest Du es nicht fortgetragen und in einen andern Boden verpflanzt. Freilich hat es auch da gelitten und konnte fich nicht gleich finden; aber das war gerechtes, natürliches Leiden, und es ist doch stark und brav, jung und ftisch, liebevoll und liebreich aus diesen Kämpfen hervorgegangen. Zn Wolfenbüttel hatte es gelitten unter dem Anrecht, und es wäre gestorben, verdorben. Mein lieber Karl, als ich Dich kennen lernte, das jüngste Mädchen kann nicht zarter, poetischer empfinden und lieben, als ich Dich liebte; ja, ich glaube, es war eigentlich Freundschaft in der zartesten, reinsten Art — und doch war es wohl Liebe, denn ich konnte nicht mehr ohne Dich leben, und der Gedanke, daß eine andere Dein Weib werden könnte, war mir unerträglich.Nur eins hätte mich da retten können: daß fie gut, groß, schön wie ein Engel war, daß ich ihr hätt« zu Füßen fallen, ihre Hände mit tausend Tränen hätte küssen und ihr sagen dürfen, wie ich Dich liebte, und daß fie das begriffen hätte, ohne mich zu bemitleiden... und daß Du mir geholfen hättest, gut und tüchtig zu werden, daß Du mir geholfen aus der Ferne in Briefen, das Leben zu verstehen und zu beherrschen, und daß Deinen Kindern etwas zugute gekommen wäre, von dem, was ich errungen. Aber so wär« es nicht gekommen, so wäre keine Frau gewesen, und so wärest auch Du nicht gewesen. Entweder packt Dich ein Gefühl bis in die innersten Tiefen, oder es gleitet, wie ein schönes Lächeln über Dein

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Kapitel 4:

Wesen; der Strom des Lebens und Wirkens ergreift Dich, und Dein

Lächeln schwindet mit dahin. Karl, Du weißt nicht, wie bezaubernd das Lächeln Deines Wesens ist, wie innig Du blicken kannst. Ach, Du weißt

nicht, wie ich davon gelebt habe, wenn wir einander sahen bis zum

Wiedersehen. O wie glückselig macht es mich, daß ich das alles, alles

wieder habe .... Ich weiß, was Vollendung ist, ich habe sie momen­ tan ergriffen, nein, sie ist mir geworden. Ich bin so angelegt mit Guten gut zu sein und kann mich so schlecht

mit den Anvollkommenheiten der Welt abfinden. Sind es nun Hallu­ zinationen, wenn man in sich mit und durch den andern diese Voll­ endung, diese Erlösung erfährt? oder ist es Offenbarung? Offenbarung

an der man unerschütterlich festhalten soll, an die man sich klammern muß mit aller Stärke, um nicht irre zu werden durch die Erscheinungen der verzerrten Lebensformen? so daß uns eine Stimme unaufhörlich zuruft: Es sind nur Entwicklungs-Äbergangssormen, das menschliche

Geschlecht muß sich selbst schaffen, selbst erlösen, und diese Eelbstschöpfung

geht durch Kampf, Schmerz, Elend und Jammer — einst liegt das alles

hinter uns, und alles kommt in seinerWeise zurVollendung. Da komme ich auf meinen zweiten Trost. Ich sagte mir, ist die Liebe

so köstlich, wie der Dichter singt und der Weise sagt, enthält sie eine Quintessenz die unsterblich lebt, so wird und muß sie jedem hier oder

einst zuteil werden — wenigstens ihre Segnungen. And dann sagte ich

mir ganz still: Warte nur, es kommt. Was ist ein Erdenleben, in einem Momente des Glücks löst sich alles, und selbst die Erinnerung an Schmerz

und Entbehren existiert nicht mehr. And ist die Lieb« zwischen Mann und Weib, ist das Wirken zweier Hälften der Menschheit in zwei Men­ schen ausgesprochen, wirklich dasWesentliche, was man ihnen zuschreibt, nun so kommt es Dir zugute.

Karl, hilf mir meine in »erste Natur zu bewahren, auszubilden und

darzuleben, laß mich nicht mir selbst Sand in die Augen streuen, leite mich in weltlichen Dingen, verhindere mich, jeden Stein am Wege auf-

zunehmen.Nicht wahr, ich bin aus richtigenWegen? Karl, es flutet wieder eine Vollendung über mich, wenn ich Deiner gedenke, wie einst und jetzt! Ansere Liebe ist nicht mehr das ängstlich

zarte Kind, von dem man fürchten konnte, daß es in unserm Klima nicht gedeiht, daß man mit ihm immer dem Frühling nachziehen müsse, um

es zu schützen, und daß vor lauter Sorge und Pflege man nicht dazu kommt, an andere zu denken. Ja, ich verlangte nicht nur, daß Du mir

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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nachgingest mit Deiner Liebe, sondern von derWelt beanspruchte ich ein Nachgehen, Verständnis des Angewöhnlichen in unserm Verhältnis; und als ich dies nicht fand, ja, inKreise kam, wo eigentlich nur „pralle Kaut" geschätzt wurde, und wo die Arbeit Dich mit Macht in andere Sphären riß, als die waren, in denen wir uns gefunden, da glaubte ich,

daß Du mich eigentlich nicht lieben könntest, weil ich nicht gefallen konnte. Vielleicht hätte ich dann meine Seele verkauft für ein Stück Fleisch, wenn Gott nicht mächttger wäre als der Teufel Ja, Karl, laß uns hier oder irgendwo zusammen sein, wo Du willst, und wo Du Dich behaglich fühlst. Ich habe einen Brief von Frau Leo, der mir viel zu denken gibt; wir müssen mit Aberlegung handeln . . . .

Deine treue

55.

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W.

10. und 11. Juli 1880

.... Ich kann den Brief von Frau Leo wohl einige Tage zurückbehalten. Sie hat in allen wesentlichen Dingen, was die Zukunft der Ferienkolonien betrifft, recht. Gewiß muß die Zahl der arbeitenden Kräfte größer sein, wenn die Sache in» nächsten Jahre wieder gemacht wird; »nan muß auch friiher anfangen. In diesem Jahre hätte es nicht viel anders gemacht werden können; in diesem Jahre konnte man auch nicht zu viele Personen mittaten lassen, sonst wäre man nicht fertig ge­ worden. Frau Leo übersieht auch wohl, daß diesesMal die arbeitenden Frauen in doppelter Eigenschaft als Bezirkskomitee und als Kolonie­ komitee beteiligt waren. Mir scheint das Beste, daß man: 1. das jetzige Komitee — vielleicht durch einige wenige Personen verstärkt — zusam­ men läßt, und dasselbe genaue Grundsätze noch im Laufe des Winters ausarbeitet. 2. Daß dieses Komitee künftig nur die generellen Angelegen­ heiten behält, d. h. Anschaffungen, Orts- und Lehrerwahl und Über­ sicht der Kinder. 3. Daß die Auswahl der Kinder den Bezirkskomitees des Vereins Überlassen wird, diese werden sich hoffentlich imWinter vermehren und nöttgenfalls für die Stadtteile, in welchen wir keine Komi­ tees haben, eigene, kleineNebenkomitees bilden. .... Ob ich Dich in Johannisbad besuchen kann, liebe Frau, kann ich noch gar nicht sagen .... Wenn ich nur wüßte, wie wir uns

im August einrichteten 1 Gewiß wäre es am besten für Deine Gesundheit, wenn Du in Iohannisbad bliebest .... Eine Schweizerreise, die wiv

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Kapitel 4:

ja, wenn Du nach Baden mitgehst, wohl machen würden, ist allerdings schöner, aber von Arbeiten ist dabei natürlich nicht die Red«. In Johannisbad würde ich keine Eisenbahnsachen machen, sondern mit Dir an Deinen Sachen und an Vorschlägen für die Organisation unseres Kindergartens, sowie an allgemein politischen Dingen arbeiten. Wenn dazu Bücher und Papiere in größerer Menge nötig sind, könnten sie als Fracht vorausgehen. Ich glaube, ein solches Zusammenarbeiten würde uns noch näher zusammenführen und vielleicht eine dauernde Grund­ lage gemeinsamen Wirkens im Leben geben. Dabei meine ich nicht, daß wir den ganzen Tag uns quälen sollten; vorzugsweise sollst Du Dich erholen, wenn man aber jeden Tag einige Stunden arbeitet, und wenn ich das Gedachte stenographierte, so würden wir doch viel zustande bringen, gewiß genug, um als Grundlage für Späteres zu dienen .... Du bist doch eine andere geworden, viel tapferer kleineren An­ annehmlichkeiten gegenüber, stetiger auf die Hauptziele des Lebens ge­ richtet, und darum genießt Du auch mehr, was Du hast, Liebe wie Natur. Du erhebst Dich mehr über dem Leben, wie es sich für Dich, Deinem innern Wesen nach ziemt. Du kannst noch viel leisten in der Welt, wenn Du Dir Deine Gesundheit erhälst; ich denke, wir werden nun ganz gut zusammen arbeiten; ich will es gern. Ieht scheinst Du nicht viel zu arbeiten, und das ist sehr gut; vielleicht ist es viel besser, daß Du dieses Leben die ganze Zeit bis zu Deiner Rückkehr hierher führst, und daß wir das Zusammensein dort mehr dazu benutzen, unser Leben nach derRückkehr vorzubereiten, als viel zu arbeiten. Liest Du dort Zeitungen ? Die nationalliberale Partei scheint nun doch den letzten Rest ihres guten Rufes verloren zu haben und mit ihr sogar die Führer; der Ruf nach neuen Leuten wird schon von allen Seiten erhoben; wenn sie nur da wären I d. h. Leute, die nicht bloß ein praktisches, nächstes Ziel energisch zu verfolgen wissen, sondern die der liberalen Überzeugung einen neuen Inhalt, neue Ideale und inneren Zusammenhang geben können. Ich fürchte, sie fehlen

Äenriette Schrader an ihren Mann. Iohannisbad. 11. Juli 1880.

Du scheinst mit Briefen von mir überflutet zu sein nach der langen Ebb«, ob Du sie wohl alle liest? Ich hab« eine Bitte, schicke einen von meinen Briefen an Schwester Anna, waS Du ihr schicken magst . . . .

AuHüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ich habe noch kein Wort von ihr gehört. Also gestern waren Schraders bei Dir? Gestern war bei mir ein heißer, schwüler Tag, nachmittag und nachtsGewitter, letzteres mit Lage!, es war grausig, und ich sehnte mich angstvoll zu Dir. Leute scheint es aber herrlich zu werden und di« neu-

lich verschobene Partie mit Lahns soll heute gemacht werden. Gestern morgen waren wir zu Lause, nachmittags um halb fünf Ahr machten wir einen Spaziergang mit Kahns, tarnten auf dem Schweizerhäuschen Kaffee und gingen gegen abend insReuschtal, der schönste Ort, den ich bis jetzt sah. Denke Dir, ich mag 3. lieber als Landro. In der großartigen Stille deS Ampezzotales in einer Pension zu sitzen mit so einem Laufen müßiger, klatschsüchtiger Menschen ist für mich ein unvermittelter, um angenehmer Gegensatz, und dann fühlte ich mich nur selten körperlich wohl, während ich mich hier wirklich auch physisch meines Lebens freuen kann. Wenn ich so aus dem Bade komme, so ist das ein göttliches Wohlsein, ja göttlich, weil man sich als ein StückNatur fühlt von göttlichem Odem belebt, Man war so eins mit dem bläulichen Wasser, man ist «ins mit dem Wachsen und Schwellen des üppigen Grüns auf den köstlichen Wiesen und schwebt doch über allem, man kann alles mit Bewußtsein lieben und genießen. Aber wie wenige Menschen kommen zu diesem intensiven Gefühle der Lebensschönheit des Daseins auf der Erde, und wie selten wird es den wenigen zuteil; ich hab« es ja früher nie gekannt. Wohl die Schönheit des Geisteslebens empfunden und durch dies be­ glückt; aber nie vorher die Larmonie, wie jetzt von Leib und Geist emp­ funden, und wie ist das eigentlich möglich in meinem Alter? Wenn ich doch so alt, so klar würde über das Dasein, daß ich darüber schreiben und andern damit helfen und nützen könnte I Wie kommt es, daß ich einen so frischen vom Alter unberührten Geist habe, wenn ich mich körperlich wohl fühle — ja, so unberührt, daß ich bei meinem Stteben mich immer wie im Anfänge fühle, und immer weit mehr die Empfindung habe, daß ich soviel lernen möchte, als daß ich weise und fertig wär« — vielleicht kommt es von der Erkenntnis meines Angefchicks im Leben. Aber wenn ich mich kräftig und harmonisch fühle, ist es auch besser, ja, und kannst Du, kann ich es glauben, daß das Gefühl, paffend angezogen zu sein, eine einfache Eleganz in der Erscheinung zu fühlen, daß das mich weit sicherer im Austreten macht. Sei Du nur ganz ruhig, wenn es nötig ist zu repräsentieren, wenn ich mich entschließe, ohne Sorge etwas mehr Geld auSzugeben, ich werd« es alles machen und können. Es kann der Mensch von seiner Selbst nicht scheiden — mein kindisches Stteben war

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Kapitel 4:

Vornehmheit; die Eitelleiten in Berlin, die leerköpfigen Weltdamen, der Tod und der Ernst des Lebens, auch Müdigkeit und Bequemlichkeit und Sorge um die Zukunft haben in Berlin meine Natur verändert oder verschoben. Sie kommt wieder herauf— und Du hast recht gehabt — wäre ich vom Anfang an Deinem Wunsche gefolgt bei meiner Gar­ derobe, ich hätte nicht nur viel Geisteskraft, sondern auch viel Geld ge­ spart; ja. Du hast recht, ich wollte Dinge verbinden, die sich nicht ver­ binden lassen. Jetzt habe ich mich so in den Stand gesetzt, wie es für mich in meiner Stellung passend ist. Ich habe nun auch Leute gefunden, die für mich arbeiten können, ich habe viel ausgegeben, habe aber, was ich brauche, und von jetzt an werde ich nicht nur gut auskommen, sondern noch genug für andere über haben. Ja, wenn ich mir alles, wie sich das so imMenschen entwickelt, verstände — es ist mir nicht nur meinetwillen, sondern um das Verständnis der menschlichen Natur interessant. Ich habe einen tiefenWunsch, eine heiße Sehnsucht, andern zu helfen. Gestern kamen Meyers Zerlina, Sohn und Frau zu uns, als wir mit Hahns Kaffee tranken. Er ist streng fortschrittlich. Wann schreibst Du von Deinem Kommen? Ich habe im Grund« immer Heimweh, aber der innige Wunsch für Dich zu leben, für Dich kräftig und heiter und mutig zu sein, hält mich empor. Wir wohnen hier ganz behaglich und seitdem wir nicht an der table d’hote essen, nicht so teuer. Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 13. Juli 1880. Heute habe ich gar keinen Brief von Dir bis jetzt (63/4 Ahr) erhalten; es wird wohl daran liegen, daß ich den Brief vom 4. d. M. gestern abend bekommen habe. Neues ist fteilich von hier nicht zu schreiben, abgesehen von einem allerdings für den Betroffenen recht traurigen Fall. Der Historiker Mommsen hat das Anglück gehabt, daß in seinem Arbeitszimmer ein Feuer ausgebrochen ist, welches fast seine ganze Bibliothek, darunter eigene und ftemde kostbare Bücher und Handschriften, seine Manu­ skripte usw. verbrannt hat, damit nicht allein ein großes Wertobjekt, sondern die Früchte langer Arbeit und die Vorbereitung kommender Tätigkeit. Politisch ist die Zeit der Anentschiedenheit; in der innern Politik macht man Versuche zu neuen Parteibildungen, nicht bloß auf liberaler Seite, sondern auch auf konservativer; die erste möchte zur-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Klarheit über die eigentlichen Ziele der liberalen Gesinnung kommen; die Konservativen möchten einen gemeinsamen Boden mit dem Zen­ trum finden. Aber der anfänglich fast allgemeineRuf nach der Trennung der wirklich liberalen Elemente der nationalliberalen Partei ist schon sehr schwach geworden; von dem rechten Flügel geschieht anscheinend alles, um den linken nicht loS zu lassen, und diesem fehlen die entschlossenen Führer. So wird es denn mit der Zersetzung der Parteien und derVernichtung der Führer weitergehen, bis in der Tat nur neue Leute helfen können, sehr zum Schaden einer ruhigen Entwicklung. Während alles so auseinanderfällt, baden, trinken und spazieren unsere hohen Politiker und tun, als ob sie das gar nichts anginge. Hier ist es ganz gutes Wetter, nicht gerade übermäßig heiß, aber

sonnig. Du meinst in der Politik und vielleicht auch im praktischen Leben käme es auf die Moral nicht an? Für jeden dauernden Erfolg gewiß, denn nur etwas innerlich Gutes hat Bestand, aber man muß nicht ver­ gessen: Erstens gibt es nicht viel Dinge, die allein böse sind, sie ent­ halten neben Bösem auch Gutes und das letztere mag das erstere, sei es von Anfang an, sei es in der Entwicklung überwältigen. Zweitens muß man die Zeit nicht zu kurz bemessen; namentlich in der Politik. And erleben wir nicht schon heute, daß Bisniarck durch die Fehler in ihm und in seinem Verhalten Deutschland und sich schweren Schaden zufügt? Der Fehlschluß, den man zu leicht macht, ist der, daß weil etwas mit schlechten Absichten oder auf schlechte Weise begonnen ist, es darum allein keinen Bestand haben könne. Dem subjektiv (d. h. dem in den handelnden Personen liegenden) Bösen kann doch ein objektiv Gutes beigemischt sein, das doch das Übergewicht bekommen kann und meistens

auch wird. Aber, wie in der physischenWelt, so auch in der moralischen, bleibt keine Arsache ohne Wirkung; die Zahl der in den verschiedenen Richtungen wirkenden Arsachen kann aber eine sehr große sein, so daß dieWirkung der einzelnen selten oder nie rein erkannt wird. Was Dein Lerzweh betrifft, so kommt es gewiß vom Baden. Da Du nun doch noch lang« dableibst und noch viel baden kannst, so halte ich es für das Beste, daß Du einmal längere Zeit (fünf, sechs Tage) ganz aussetzt, um Dich etwas zu beruhigen. Nach Riese*) zu gehen halte ich nicht fiir vereinbar mit der Absicht zu arbeiten, denn erstens gehen die

*) Gut des Schwagers P. W. Amsinck in Holstein.

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Kapitel 4:

Reisetage verloren, zweiten- die Zeit, sich am neuen Orte einzurichten, denn kommt es gar leicht so, daß es nicht mehr der Mühe wert scheint, ernstlich anzufangen. Laß uns nur in 3. bleiben. Grüße an Annette und Küsse für meine Frau.

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 21. und 22. Juli 1880. .... Zum rechten Nachdenken über unsere Arbeit bin ich heute noch nicht gekommen .... Als ersten Aufsatz — ich meine als den zuerst zu machenden dachte ich mir einen über Volk-erziehung, welcher als Lauptschäden die mangelnde Gemütsbildung und die lediglich ab. strakt intellektuelle Bildung bezeichnet, den Mangel an Religion aus dem Mangel an Gemütsbildung, die Anlust zur Arbeit aus dem fast ausschließlich rezeptiv vorttagendem Einpauken von Kenntnissen ab. leitet, und die Mittel zeigen müßte zur Besserung. Es müßte nicht pol«, misch sein und ein knappes, klares Bild der Mängel und zugleich der Mittel zur Abhilfe bieten. Darunter würde neben der Fröbel-Pesta. lozzischen Methode die Einfügung der Arbeit (Industrie im Kaufe) die erziehliche Unterstützung durch das Volkserziehungshaus und eine dieser Vorbildung angemessene Fortbildung erscheinen. Ich will ver­ suchen, eine Disposition morgen mit zu schicken, die aber natürlich noch nicht endgültig ist, und das überhaupt nicht werden kann, da vieles sich erst bei der Ausarbeitung ergiebt; aber es ist doch ein Faden, an dem Du Deine Gedanken aufhängen kannst. Später. Ich hab« noch immer keine Zeit gehabt, einen Plan für den ersten Aufsatz zu machen; Du überlegst Dir die Sache wohl auch und schreibst mir namentlich, was Du von Büchern nötig zu haben glaubst und vor, Deinen Schriften. Meiner Meinung nach sollten wir uns nicht mit viel gelehrtem Material plagen, sondern in derKauptsache uns mit dem begnügen, was wir im Kopfe haben. Ergänzungen sind immer noch vorzunehmen, wenn wir wieder zu Kans kommen. AberDir ist vielleicht ein Teil Deiner eigenen Ausarbeitungen nötig. Meine liebe Frau, ich habe mich sehr gefreut, Dich einen Tag einmal wieder gehabt und mich überzeugt zu haben, daß Dir der Aufent­ halt dort wirklich nützt, und daß Du ihn in jeder Beziehung auch geistig zu benutzen weißt. Wir wollen uns nun auch alles für unser Zusammen, sein möglichst gut einrichten

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Kenriette Schrader an ihren Mann.

Iohannisbad. 23. Juli 1880. Leute ist es schön, obgleich es regnet. DaS Kerzklopfen hat mich verlassen, und damit schließen sich die Abgründe und Tiefen deS Lebens, welchen die kranken Nerven mir immer öffnen und die Fähigkeit, Leid, Unvollkommenheit, Disharmonie und Zerrissenheit zu empfinden und bis auf den höchsten Grad steigern. Die Käst und Unruh«, welche mich

dann ergreift, noch jede Minute vor meinem Tode zu benutzen, die mich von Buch zu Gedanken, von Gedanken zur Feder treibt, hat fich gelegt. Ich denke ernst über solche Zustände nach und wie man ihnen be­ gegnen muß. Ich habe herausgefunden, daß ich einer praktischen Arbeit bedarf, die fich auf Dinge oder Persönlichkeiten hier beziehen; ich gebe deshalb Annette Stunde, Geschichte der Pädagogik .... Es tut mir leid, daß wir kein anderes Buch als Kellwald haben, zumal er mehr Ideen alSPofitives gibt und im Pofitiven viel zu viel Allgemeinheiten, während ich so bedürftig nach Tatsachen bin. Er spricht immer von „Ver­ fall, Blüte, Ausbreitung, Niedergang" — aber worin dies faktisch be­ steht, davon lernt man wenig. Ich erinnere mich noch mit großem In­ teresse, daß Du uns etwas vorgelesen hast über Sklavenzucht bei den Römern; es war ein Bries eines berühmten Römers über die Art und Weise, Sklaven zu halten Ich muß ost [bei dieser Gelegenheitj an Krauses Ausdruck von der „leiblich - geistigen Phantasie" denken. Der erste Geschichtsunterricht muß fich jeder Moralisierung und Charakterisierung enthalten, er muß Stoff zu Anschauungen geben, er muß die „leibliche Phantasie" versorgen, nachdem die Zeit der Mythe und Sage vorangegangen, die möglichst wenig charakterisiert durch äußere Merkmale sein sollte; deshalb sind die Schnorrschen Bilder für die ersten biblischen Geschichten herrlich. Ich habe mir vorgenommen, an Prof. * * zu schreiben, ihn um echt wissenschaftlichen Stoff über Ein­ zelheiten zu bitten. Du weißt gar nicht, welche Gedanken — oder vielmehr Schauungen in meiner Seele auftauchen, die ich noch nicht fassen kann, die sich nicht in die Erscheinung vor der sinnlichen Welt fassen lassen. Sie schweben oft bis an die Grenze und finken zurück, wenn ich sie über diefelbe führen will. Zch schaue die unendliche Wichtigkeit der Elementarbildung, die Wichtigkeit der indiretten Einwirkung der Erwachsenen, die Kerbei­ schaffung des Bildungsstoffes, dieser Vermählung von Autorität und

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Kapitel 4:

Passivität des Erwachsenen. And ich schaue dieNotwendigkeit, daß Er­ zieher und Erzieherin momentan Anvollkommenheilen dulden, daß sie das Ganze desMenschen erfassen können und Individualitäten duldend lieben können. Sieh den Frieden in derPflanzenwelt, sieh dasWalten undWeben im Innern der Natur, ich sehe darin ein Symbol der Erziehung. Was plappert man nicht von der individuellen Erziehung, und wie ist sie mög­ lich bei unserm Schulsystem, das die Kinder so früh unter die Schablone bringt, und wozu der Kindergarten auch noch beiträgt, wie er meist gehandhabt wird?RousseausRuf zurRückkehr zurNatur hat nicht nur eine Bedeutung als Polemik seiner Zeit — nein, darin liegt noch ein ganz anderer Sinn, den niemand so verstanden hat, wie Pestalozzi, und dem niemand so den Niegel vorgeschoben hat, wie er mit seiner Schul­ meisterei. Ach, weshalb glaubte Pestalozzi andern mehr als sich selbst — und doch wie leicht geschieht das, wenn man nicht in sich selbst vernarrt ist oder andere verachtet

Äenriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. 26. September 1880. Eben habe ich die Depesche fortgeschickt nachNürnberg und Deinen lieben Brief erhalten, den Du in München geschrieben, oder vielmehr

angefangen hast. Ich bin sehr gespannt aufDeinen Bericht von der„Sonnenblum«"*) Ich habe Dir gestern eine Karte nach Preßburg, vorgestern einen längeren Brief nach München geschrieben, über den Du hoffentlich Freude hast in bezug darauf, daß es mir gut geht. Auch ist unser« Anstalt wirk­ lich ein schönes, lebendiges, einheitliches Ganze, daß es nicht untergehen darf. Diele Besuche sind vorige Woche dagewesen, die sich alle sehr freuten. Ich habe doch wieder vier Schülerinnen ohne Kauf, darunter die Letztangemeldete ein sehr nettes Mädchen zu sein scheint. Fräulein Bertram prüft jetzt die jungen Mädchen, und es scheint ihr Freude zu machen, sie wird wärmer fiir die Sache. Es hat sich vieles in mir verein­ facht, geklärt, entwickelt; ich bin, glaube ich, Pestalozzis echte Schülerin, ich habe seinen mächtigen Gedanken erfaßt, ich fühle seine Pulse in mir schlagen, ich habe in vieler Beziehung seine Schwächen, und was er *) Eine Erziehungsanstalt.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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wollte, führe ich mit Fröbels Äilfe aus, aber Pestalozzi ist eigentlich mein Quell, aus dem ich trinke. Ich bin auch überzeugt, daß die Frau das nachschaffende Prinzip ist, halte das aber nicht für eine untergeordnete Stufe, insofern sie vielem Fleisch und Blut, Gestalt geben muß, wofür der Mann nur Ge­ danken hat. So bin ich fest überzeugt,Pestalozzi und Fröbel kann nur eine Frau ausfuhren, ihre Ideen kann nur eine Frau praktisch gestalten. Es ist der große Gedanke, die große Würde derMenschennatur, der Natur etwas abzuringen, und es vermittelst des Geistes bis zum ge­ wissen Grade zu gestalten ohne die physischen Bedingungen. So ist es mit dem Kindergarten, die Übertragung des Wesentlichen der Familien­

erziehung in die öffentliche Erziehung ein Werk, das zugleich die Frau erlöst vom Zwange der Natur und sie zurMutter der Gesellschaft macht. So bin ich endlich an dem Kernpunkte der Sache angelangt, ich kann Dir und jedem jetzt in wenig Worten die Bedeutung der Fröbelschen Erziehung für die Familien und öffentliche Erziehung sagen, und was noch besser ist — ich kann sie ausführen und begründen durch die Praxis — die ersehnte Umgestaltung der Frauenerziehung geht auch daraus vor. Mein System, welches Du mit in Ordnung brachtest, ist Ziel derFrauenbildung und der Schulunterricht wird in konzentrischen Kreisen immer den Stoff behandeln, der sie zurMutter der Gesellschaft erzieht. And so habe ich, wie ich glaube, das Große der Pestalozzi-Fröbelschen Sache erfaßt, das eigentlich Reformatorische. Ich habe lange Zeit gebraucht, um das Einfachste einfach zu sagen. Mephisto sagt einmal im zweiten Teile des Faust: „Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer". Gestern war ich den ganzen Tag in Anspruch genommen, daß ich kaum essen konnte: Examen morgens. Stunden nachmittags, Konferenz über Examen-Besuche, Aussprache mit Frau Leo und Fräulein *. Letzterer haben wir den Standpunkt klar gemacht, und es scheint ge­ holfen zu haben; man muß sich immer die Leute erst zurecht rüffeln und erziehen. Dann kam ein guter Fröbelianer, der mich sehr ermüdete; diese Konfusion l Nun bei ihm ist es noch ein liebevolles Chaos, er hat mit gewissen Fühlfäden ohne Augen die Sache ergriffen und hält sie fest. Ich bin sehr ftoh, meine kleine Oase in dem Berliner Leben und Treiben zu haben, wo ich still den Gedanken rein erhalten und zur Tat reifen lassen kann. 12 L y s ch i n s k a, Henriette Schrader II.

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Kapitel 4:

Lebe wohl, mein lieber Mann, Du hast herrliches Wetter und hoffentlich etwas Reisefreude. Genieße und lerne nur soviel Du kannst. Ich küsse Dich innig und denke Dein mit tteuer Liebe; es ist so ein Auf­ erstehen der schönsten Zeit meines Lebens in meinem Kerzen.

Deine

L.

Karl Schrader an seine Frau.

Nürnberg. 26. September 1880. Ich habe mich sehr gefreut, daß ich, als ich heute morgen nach 11 Ahr hier ankam. Deine Depesche schon vorfand, die mich über Dich beruhigte; ich habe Dir gleich den Empfang bescheinigt, und Du hast schon längst meine Depesche. Leute abend um 6 Ahr fahre ich nun nach Wien ab, wo ich morgen früh nach 6 Ahr bin. AmMorgen habe ich mich bei Groß zu einer Besprechung über die Eisenbahn-Ausstellung an­ gemeldet, und abends oder schon nachmittags fahre ich dann nach Preß­ burg, da finde ich hoffentlich einen oder mehrere Briefe von Dir. So­ lange bin ich, glaube ich, noch nie ohne Brief von Dir gewesen. Ich bin sehr begierig, von Dir zu hören, wie sich, vielleicht auch, ob sich ge­ wisse Dinge entwickelt haben. Manches von dem, was ich gesehen, habe ich Dir gestern schon geschrieben, anderes erzähl« ich Dir; ich will mir Mühe geben, alles zu behalten. Auch das letzte Werk von SchmidtSchnor-Zenberg bringe ich mit und zwar in zwei Exemplaren, einem geschentten und einem schon vorher gekauften. Es ist eine neue Spezies der Novelle, eine pädagogische Novelle, höchst ungeschickt vom künst­ lerischen Standpunkte aus; aber viel Gutes über Pädagogik, Philo­ sophie usw. enthaltend. Vielleicht schicke ich ein Exemplar der Kron­ prinzessin; sie liest es vielleicht in Wiesbaden. Leute morgen vorTisch bin ich imGermanischenMuseum gewesen, natürlich habe ich eben nur durchlaufen können und gesehen, was unge­ fähr da ist. Jetzt will ich noch einen Gang durchNürnberg machen, dann geht es wieder in das Coupe zu einer Nachtfahrt. Was tust Du inzwischen liebe Frau? Loffentlich grämst Du Dich nicht zu sehr über die West. Du solltest in den Anvollkommenheiten, welche sie Dir zeigt, nur eine um so stärkere Aufforderung finden, auf Deinem Wege zurBefferung derMenschen fortzuschreiten, denn je mehr ich von praktischen Einrichtungen für erziehliche Zwecke sehe, desto mehr sehe ich auch, daß Du allen vorauf bist in dem Verständnis des Grund-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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notwendigen und in der Ausführung desselben. Andere wissen besser, die Gedanken zu formulieren; Du verstehst sie nicht allein aus dem

Grunde, sondern weißt ihnen auch die Form zu geben, welche sie für die Ausführung bedürfen Darum muß ich und will ich Dir ernstlich helfen. Lebe wohl und sei gutenMutes und behalte recht lieb Deinen Mann.

Lenriette Schrader an ihren Mann. Berlin W. 27. und 28. September 1880.

Du bist ein so herzensguter, lieber Karl, Du schreibst mir so ost und so lieb, und ich sehne mich so nach DeinerRückkehr, obgleich mir di« Zeit in der Arbeit verstiegt. Mein gestriger Brief zeigt Dir, wie ich jetzt mein Schiff vor Anker gelegt, wie ich jetzt meine Arbeit eingerichtet habe in die Erziehungs­ faktoren, welche die menschliche Gesellschaft herstellt — und das ist ein Glück, daß diese innere Sicherheit kommt, denn von allen Seiten droht meinem Werke Zerstörung. L. scheint mit dem wahrscheinlichenKäufer *), einem Lerrn von der BerlinerBank, gutFreund zu sein und aus des ersteren flegelhaftem Betragen ahne ich nichts Gutes . . . . Wenn L. Vizewirt wird, dann geht es uns schlimm, und Wohnungs- ist Lebensstage.Wir bekommen es nie wieder so gut, wie wir es haben, abgesehen von dem Garten. Von ** verlautet nichts, nur sagte mir Frau Friedemann, die Sonnabend im Kindergarten war, ihr Mann habe gar keine Hoffnung, die Geldlieferung zu erhalten. Lieber Karl, eine Liebe tust Du mir noch oder läßt sie mich tun, das sehr ordentliche Anschreiben mit Auslagen und Einnahmen, was mit andern zu tun hat ... . Du mußt doch sagen, daß ich eine ganz andere geworden bin in bezug aus Geldangelegenheiten, ich hab« wirklich jede Kleinigkeit in der Beziehung abgestreift; willst Du nun deinerseits das übergroße ein­

schränken? Ich denke soviel darüber nach, wie ich Dich und mich dazir von manchem erlösen könnte — von der Vielgeschäftigkeit. Zch möchte mehr Zeit für Dich haben, denke nur, ich bin noch keinen Abend zum Zeitungs­ kleben für Dich gekommen. Gestern war S>. bis 6 ühr hier, Annette und # *) Des Laufes Steinmetz-Straße 16 in welche der Berliner Verein für Dolkserziehung seine Anstalt eingemietet hatt«.

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Kapitel 4.

ich begleiteten fte nad) dem Brandenburger Tor; auf dem Leimwege, und als ich dann zum Abendessen ein Glas Bier getrunken hatte, fiel ich vor Müdigkeit um. Die andern Tage war ich abends in Anspruch ge­ nommen. Ich möchte mich doch vom Verein für häusliche Gesundheits­ pflege losmachen .... Ich glaube, es ist in unserer Zeit auch eine besonders wichtige Sache, das, was man tut, gründlich zu tun. Ich bin keine Natur, die Massen bewältigt, einmal ist meine Gesundheit nicht danach; dann istDenken auch eine Arbeit, und endlich ist das Bedürfnis meiner Natur, das einzelne auszubauen, und ich möchte eine Sache gut machen und mich der Persönlichkeiten, mit denen ich bei der Arbeit zu tun habe, annehmen. Mit Dir ist es ganz anders; Du bist soviel leistungsfähiger als ich, soviel beweglicher, aber — denke auch einmal in sonst langweiligenReisestunden darüber nach, was Du wirklich bewältigen kannst. Die Politik scheint für Dich sehr wichtig. Du mußt von oben herab die Zügel mit­ halten und führen; ich sehe, wie alles auf gut Freund und Verbindung ankommt, und wer soviel Talent besitzt, wie Du, zum wahrhaften Lerrschen, zum Benutzen von Einfluß und Macht, der muß sie zu ge­ winnen suchen. Aber mache Dich frei von Dingen, die im Augenblick nicht gehen und allein auf Dir ruhen, wie z. B. der häusliche Gewerbe­ fleiß, laß Dich nicht in die Lumboldtakademie ein, und überlege Dir, was sonst an Dir herumbummelt.Natürlich muß Dich Deine Eisenbahn­ stellung zuerst heben, damit hängt aber Politik innig zusammen. Wir stehen jetzt schon sehr im Berliner Leben, viele Fäden sind uns in die Land gewoben — laß uns jetzt fest unsere Position fassen, mit unsern Verhältnissen und Kräften rechnen, ernst und gründlich. Am meine Gesundheit sorge Dich nicht, ich fühle mich wirklich recht wohl, der Lals wird besser, und übrigens geht es gut. Glaube nur, ich bin eine Katze in bezug auf Zähigkeit, ich sterbe nicht. Ich habe so das Bedürfnis eines ftischen, tüchtigen arbeitsreichen Lebens, aber nur mit Gotteswillen nicht so eine Vielgeschäftigkeit; so etwas ist mein Tod. Ich glaube auch nicht mehr an die Nützlichkeit von Reden, d. h. wenn ich durch Worte wirken will, so muß ich schreiben. Du könntest mir kein schöneres Geschenk von der Reise mitzurück­ bringen, als einen ernst durchdachten Arbeitsplan, aus dem die Rück­ sicht für mich gestrichen ist. Endlich, endlich soll ich wohl genug, gebüßt haben für den Anverstand der ersten Jahre unserer Ehe; da wolltest Du, was ich jetzt ersehne. Du hieltest mich für reif für etwas, wofür ich jetzt

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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erst reif bin. Du hast Dich nicht getäuscht in bezug auf meine Anlagen, wohl aber in bezug §uf Entwicklung derselben, und weil ich gereift bin, darum verstehe ich Dich in DeinerNatur, verstehe Dich täglich, stündlich besser. Die Schattenseiten Deiner Großartigkeit lichtet man nicht durch kleinliches Wesen — überhaupt der Mensch wird nicht veredelt durch Lerumzerren an einzelnen Punkten seines Wesens — nein, man muß hn ganz aufnehmen, liebevoll in die Seele, liebevoll in die Arme schlie­ ßen, mit vollem Verständnis ihn im Lerzen tragen, das Schöne in ihm pflegen. So durchglüht und durchleuchtet es schließlich die Schatten, die noch dunkel waren. O Karl, wenn Du nur wüßtest, wie so ganz anders meine Seele Dich liebt und versteht als früher.Nie habe ich Dich verloren; aber ich kannte Dich nicht, so wie ich Dich kennen lernte. Du wärest mir, was die ganze Entwicklung Deines Wesens sein kann, und Du bist mir jetzt das Schöne, was der Kern DeinesWesens in sich faßt; sieh und ohne Resignation (diese hasse ich in der Liebe), ich fühle mich von Tag zu Tage mehr in Dir, ich fühle die Ehe wachsen und sich ent­ wickeln. Nein, in bezug auf Dich kann, will ich nicht resignieren, und Dir zu Liebe kann ich noch vieles ablegen und vieles werden, und daran fühle ich die Macht und Größe und Fülle der ehlichen Liebe; aber denke, wenn Du oder ich gestorben wäre, ehe wir einander so erfaßten? über­ haupt denke ich oft, welche Gnade ein langes Leben für den Menschen ist, der unaufhörlich an seiner ^sittlichen) Bildung arbeitet, und dann muß ich an Adolfs Grab denken und weinen. Doch nun lebe wohl, es war so reizend gestern, unsere Korrespon­ denz per Telegramm und heute Dein lieber Brief und die Karte und so vieles darin. Ich bin sehr gespannt, wie sie in der „Sonnenblume" die Resultate erreichen; sage ich nicht immer, daß es ein Fluch ist, daß man immer so viel „zeigen" will? Leute gehen wir zum Kaffee zu Mariechen Koch. Lebe wohl, An­ nette und ich sind sehr gemütlich in Deiner Stube; komme bald wieder zu Deiner L.

28. September. Denke Dir, Karl, das Beste ist, wir fassen festen Boden im Volke. Annette hat gestern Eltern besucht und kam be­ friedigt nach Lause. Eine Portierfrau hat unsere Sammelliste bekom­

men und selbst etwas gegeben und das ganze Laus dazu gebracht, weil sie ein Kind im Kindergarten hat. Ein Schuster, Vater einer Schülerin,

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Kapitel 4:

hat 24 Mark gesammelt, weil er von seiner Tochter gehört hat, daß der Verein Geld braucht. Drei andere Frauen wollen ihre kleinen Mädchen ganz bei uns lassen, damit sie einmal Kinderpflegerinnen werden, und sie haben gesagt, daß die Mädchen so gern im Lause helfen, und dann sehnen sie sich so nach den Abendvorträgen, besonders auch nach mir. Ja, Karl, das muß ich wieder anfangen, das ist ein Erfolg, und in einer solchen Wirksamkeit muß man alle Stürme nach außen ruhig ertragen. Dein Brief gestern, in dem Du sagst, daß ich dasRechte habe, hat mich so beglückt. Zusammengenommen mit den Erfahrungen, die ich jeht mache in mir und an anderen, will ich — wollen wir alles daran sehen, die Sache aufrecht zu erhalten und zu fördern. Aber meine Stunde schlägt. Loffentlich bist Du in Preßburg und hast viele Briefe von mir. Lebe wohl, mein Lerz, es küßt Dich Dein treues anderes Lerz, L.

An Frau Luise Fröbel. Berlin W. 9. Oktober 1880.

3n P/i Jahren feiern wir Fröbels hundertjährigen Geburtstag, wenn wir doch einander näher wohnten, dann wollten wir zusammen eine Denkschrift verfassen. Wir müßten jeht damit be­ ginnen. Ich komm« nicht zu schriftstellerischer Arbeit, ich gebrauche dazu Ruhe, und mein Leben ist hier zu verschiedenartig in Anspruch genom­ men ; es ist zur Sammlung nicht gemacht. Im Sommer soll ich immer eine Kur gebrauchen gegen rheumatisches Leiden, im Winter geht die Anruhe wieder an, aber unsere Anstalt schreitet still und sicher fort, und ich habe, außer Annette, acht Lilfskräfte unter mir und einhundert Kinder, dazu acht Schülerinnen im Kursus, der immer noch nicht öffent­ lich ist, aber vielleicht zu Ostern wird. Einen großen Teil der Stunden für die Schülerinnen gebe ich selbst, und so kannst Du denken, daß ich viel zu tun habe An Mary Lyschinska.

Verlink. Februar 1881. ..... Ich würde es gar nicht Bescheidenheit, sondern Ko­ ketterie mit Bescheidenheit nennen, wenn ich mir in meinem Alter nicht bewußt wäre, worin meine Aufgabe besteht, und daß sie sehr wichtig ist. Es kommt alles darauf an, daß ich noch eine Zeit lebe und gesund bin, d. h. arbeitsfähig.

AuHüge aus Briefen und Tagebüchem von 1873—1899.

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Durch die Entwicklung unserer Elementarklaffen stellt sich die Auf­ gabe des Kindergartens erst recht klar, und daraus wieder die Aufgabe der Mutter und mütterlichen Erzieherin. Zurückhaltung üben, ein Kind mehr lieben als uns selbst, das ist wahrlich die Sache, auf der alles be­ ruht. Es schleichen sichso grobe Fehler in die Kindergarten-Methode ein, man spricht ewig von dem „entdeckten Entwicklungsgesetz" und einer ihm entsprechenden „Methode", aber Gesetz erfordert nicht immer Systematik, Symmetrie oder wie ich es nennen soll. Man kann sich auch nicht direkt auf den Beruf einer Erzieherin vorbereiten, denn gerade das Erfassen des Augenblicks und Gestalten desselben ist das Wirksame, und nicht immer ist die direkte Einwirkung auf das Kind das rechte, sondern das Schaffen des Bodens, in dem das Kind gedeihen kann; man soll zwar streben, vieles über das Kind zu wissen, aber man darf nicht alles bemerken, ja, man muß Unarten zur Zeit übersehen können. Man hat eben das große Problem zu lösen, das frische Zuströmen der Naturkraft in die Seele des Menschen nicht zu hemmen, und ihn doch zu erziehen zur christlichen Liebe, zum Menschen der Gesellschaft, der sich ein- und unterordnen kann, und ich glaube, ich kenne den Weg. Es löst sich bei mir so vieles in die einfachen Elemente. Unsere Arbeitsklasse, die sich zur Flickschule erweitert hat, zählt seit gestern elf Kinder, und zur Elementarklaffe sind vier Kinder aus dem Volke angemeldet; die Mütter haben aus dem ÄauShaltsgelde dafür gespart, da die Väter nichts geben mögen für „Mädchen" und die Ge­ meindeschule frei ist. Annette und ich haben süße, reine Freuden und küssen uns oft „imNamen des heiligen Fröbel", wie es in einem Theater­ stücke heißt, welches Komiteedamen verspottet. Wir haben nun eine Änderung der Statuten vor für unsern Kindergartenverein, um ihn

zum „Verein für Volkserziehung" zu erweitern. Ich muß schnell die Flickschule einrichten, damit Tatsachen sprechen. Da haben wir von acht­ jährigen kleinen Mädchen so hübsch gestopfte Strümpfe (vorbereitet durch das Flechten), und andere Flickarbeit; im pädagogischen Abend ist das Volkserziehungshaus beschlossen. Und nun muß ich DinerS essen und geben, um Geld zu gewinnen für unser neuesWerk, und dazu muß ich erst gestopfte Strümpfe und geflickte Lappen haben. Ich will aber den natürlichen TätigkeitSttieb der Kinder zu rechter Zeit fassen, nähren, bilden; die Mütter im Volke haben dazu kein Geschick, keine Zeit, keine Geduld.

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Kapitel 4:

Ich will die Arbeit adeln, ihr ein heiteres Gepräge geben, ihr Er­ zeugnis zur liebevollen, schönen Verwendung bringen; das bildet Ge­ müt und sittlichenWillen naturgemäß — aber durch Bällchen schwingen nach System und singen: „Ein Ganzes, zweiLalbe", usw. kommen wir nicht dahin; die gehören in die Schule. Im Kindergarten sollte das Spielgeseh scheinbare Willkür sein, wie ein jungfräulicher Wald sein — die Fröbelianer beschneiden ihn zum französischen Garten. Doch ich muß fort; ich habe um 12 Ahr Ge­ sundheitsvereinskomitee und um 5 Ahr großes Diner. Tausend Grüße, Deine Ä. An Fräulein Amalie Sohr. Bad Landeck i. Schlesien. 30. Juli 1881.

Ich habe hier mit meiner Freundin, Annette Schepel, ein köstlich ruhiges Fleckchen gefunden, und so viel ich bis jetzt urteilen kann, ist Landeck das gemütlichste Bad, welches ich kenne Diesen Brief schreibe ich auf dem Balkon unseres kleinen Nestes, das wir uns behaglich eingerichtet haben. Wohin ich komme, tue ich meinMöglichstes, ein wenig Behaglichkeit und Harmonie in der Zimmereinrichtung zu schaffen, sei es auch in bescheidenen Grenzen. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, hier nicht zu denken, sondern zu vegetieren und einmal wieder wie eine Pflanze im Boden derNatur zu wachsen und unmittelbar in mich aufzunehmen. Ich habe mich schwer losgerissen von meinen Mappen, Schriften, Büchern, von der Atmosphäre, die mein Leben und Arbeiten um mich webt; ich hatte es überwunden, den Sommer nicht in derNatur zu sein, aber mein geliebter Mann und meine teure Freundin drangen darauf, daß ich von Berlin fortging, denn die Sammlung und Ruhe, die ich mit Tränen ersehnte, wollte sich in Berlin doch nicht finden.kNun bin ich in diesem lieblichen Tale, dessen Reize sich schmeichelnd und liebkosend um das Herz legen, und hier erwacht das alte Verhältnis zurNatur wieder Wenn ich nur wüßte, wie es mit meinem Manne wird; kurz vor meiner Abreise kam wieder ein Kaufgebot vonMaybach.Natürlich gibt es da viele Kon­ ferenzen für meinenMann, und er konnte mir nicht sagen, wann und auf wie lange er zu mir kommen kann. Ebenso steht es mit seiner Stellung zurPolitik. In Braunschweig hat sich ein bitterer Parteikampf erhoben gegen die Sezessionisten. Sie nennen meinenMann einen Radikalen, einen Amstürzler und schreien: Wählt einen Kandidaten, der unterRu-

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dolf Bennigsens Fahne treu.und fest zu Bismarck, Kaiser und Reich hält. Braunschweig ist ein Sumpf, einig« Familien regieren dort, und die jüngeren Kräfte, die meinenMann aufstellen und die etwas gesunden Menschenverstand beweisen, dringen vielleicht nicht durch. MeinMann kann wenig oder gar nichts tun für seine Wahl, da er nie seine übernommenenPflichten bei derAnhalterBahn vernachlässigen wird, die jetzt wieder einem kritischen Moment entgegengeht, und so ist es sehr zweifelhaft, ob mein Mann nicht unterliegt in Braunschweig Ich möchte vor allem eins berühren, was mir auffiel in Ihrem letzten Briefe. Sie sagen: Sie müßten zugeben, daß sich „sehr viel Idealismus in der Fcobelschen Erziehungsweise fände, die aber manches Reale ge­ schaffen habe". Salten Sie denn auch Idealismus undRealismus für Gegensätze, die sich gegenseitig ausschließen? Muß ein Idealist ein unpraktischer Mensch sein? Ich meine, Idealismus undRealismus gehören zueinander, wie Geist und Leib. And wie der göttliche Geist den göttlichen Leib der Welt baute, so baut auch die Idee, das Ideal, das Arbild die wahre Praxis, die wahre Realität. Eine Idealität, die nicht zu realisieren ist, verdient nach meiner Anschauung nicht denRamen Idealität — sondern sie ist Phantasterei. Weil aber Fröbel nicht immer glücklich in der Wahl seiner Form war, so ist er doch deshalb kein Phantast! Ich möchte es fast beklagen, daß er die Kindergärten geschaffen und nicht lange genug gelebt hat, um den Kindergarten einzureihen in einen Erziehungsorganismus, der ein Ganzes bildet, wie unsere Anstalt in der Steinmetzstraße 16 schon zum Teil ist, zum Teil noch werden wird. Ein isolierter Kindergarten ist ein Anding, und ich harmoniere ge­ wöhnlich mehr mit den Leuten, welche die bestehenden Kindergärten an­ greifen, als mit denen, welche sie loben. Aber die Fröbelsche Erziehung erschöpft sich doch nicht im Kindergarten? Sie basiert auf der Pestalozzischen Anschauung vom menschlichen Wesen, daß man den Körper von vornherein als Material, nicht als Futteral des Geistes behandeln soll, und daß die ausübende Tätigkeit des Kindes gleicher Beachtung, gleicher Leitung bedarf, wie die aufnehmende; daß man den Gestaltungs­ stoff für das Kind zu ordnen hat, wie den Lernstoff. Dies ist gerade jetzt

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Kapitel 4:

um so nötiger, wo das Leben der Menschen, die Fabriken und die Am. gestaltung der Lauswirtschaft, das Anwachsen der großen Städte den Kindern und jungen Leuten immer mehr Boden entzieht. Sie sollen am Stoffe gestaltend wirken, die Glieder entwickeln, den Schöpfungs­ trieb vergeistigen; die Behandlung des Körperlichen in Rücksicht auf das Geistige ist von so unendlich hoher Bedeutung, daß ich nicht begreife, wie man sich dagegen die Augen verschließen kann. Wenn ich mit meiner Weltanschauung von der menschlichenRatur jetzt, ohne Fröbel und Pestalozzi gekannt zu haben, ihrem Geiste und ihren Schöpfungen näher trete, so würde ich mich vielleicht mitWiderwillen von den meisten Kindergärten abwenden, aber dieMethode Fröbels mit Entzücken begrüßen als die erste Äandhabe, die christliche Idee von der Vergöttlichung des Menschlichen und der all­ gemeinen Menschenliebe zu realisieren. Es ist eine ganz andere Frage, ob man Kindergärten billigt oder ob man die Fröbelschen Erziehungs­ ideen und deren praktische Ausführung akzeptiert. Fröbel hat auch für die Familienerziehung eine neue Grundlage gegeben insofern, daß die Eltern ihr Augenmerk richten auf den rechtenRaum und den rechten Stoff, an dem die Kinder ihre herauswirkende Tätigkeit üben, und daß die Eltern zu rechter Zeit und mit rechtem Maße die Lilfe leisten, ihr Kind in der Schaffensfreude zu erhalten. Doch das sind alles nur Bruchstücke, und es kann vielleicht wenig helfen, die Sache ins rechte Licht zu stellen. Ich muß sehen, ob mirMuße, Ruhe und Geschick zu Gebote stehen, ausführlich über die Sache zu schreiben. Mich kann es nicht im mindesten irre machen, wenn selbst geistreiche Leute wieLerrDaron von Stockmar und andere sich gegen Kindergärten erklären, im Gegenteil, ich täte wahrscheinlich an ihrer Stelle dasselbe, nur müssen sie nicht sagen, daß sie Fröbel, dessen Welt- und Lebens­ anschauungen kennen. Auch gegen diese können geistvolle Menschen eingenominen sein; kann ja der Materialist, wenn er konsequent sein will, die Grundidee des Christentums nicht akzeptieren und der orthodox Kirchliche nicht die wissenschaftliche Erfassung des Iesulebens und der Iesulehren. Aber niemand, der sichMühe gibt, sich in die zarten Anfänge des sich entwickelnden Kindesgeistes zu vertiefen, niemand, der den mikro­ skopischen Blick hat für die Zellen des Geisteslebens und damit Pesta­ lozzis und Fröbels Erfassung der kindlichenNatur vergleicht, kann gleichgültig bleiben.

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Es ist eine tiefe Philosophie in Pestalozzis und Fröbels Werken, freilich nicht für den Schöngeist, denn man hat viel Anschönes und Übet» flüssiges in der Form zu überwinden

Diese Fröbelschen Beschäftigungen (wenn sie nicht zur Karikatur werden sollen), bedürfen einer zarten Land, eines mütterlichen 55er* zens. EinMann konnte Schöpfer der Idee sein, nur eine Frau kann dem Kinde Fleisch und Blut geben, nur sie kann die rechte Form finden, denn sie ist nur in der weiblichen Empfindung zu erfassen; nur eine Frau kann das Eckig« und Schwulstige, was Fröbel selbst hat, das gerippen* hast Mathematische in seinen Beschäftigungen hinwegnehmen und die Anmut geben, die unzertrennlich ist vom kindlichen Wesen

Daß in Eisenach eine Fröbelsche Ausbildungsschule für Kinder­ gärtnerinnen besteht, wußte ich nicht, ich kenne aber die Kindergärtnerin Fräulein Trabert. Sie haben ganz recht, wenn Ihnen der Kindergarten dort gefällt; er ist zwar nicht, was er nach meiner Auffassung sein soll, ein alleinstehender Kindergarten ist immer mehr oder weniger ein Unding — aber die Kindergärtnerin ist noch eine Schülerin Fröbels, sie ist sehr einfachen Geistes, vielleicht beschränkt in mancher Beziehung; aber sehen Sie, da haben Sie den Beweis, wie Fröbels direkte Einwir­ kung erfolgreich war. Fräulein Trabert hat ihrLerz getränkt an Fröbels Eingabe und Begeisterung, es ist ein Etwas in ihr entzündet, dieses Un­ mittelbare, Mütterliche, und dieser sichere Kontakt mit der kindlichen Natur. Aber diese alten, direkten Schülerinnen sterben aus, und da sie nicht in der Erkenntnis ergreifen, was sie im Gemüte erfaßten und festhielten, so stirbt mit ihnen auch der Einfluß Fröbels auf die Kinderwelt. Was Gemeingut der Gesellschaft werden soll, muß als Gedanke begründet und klargestellt werden, und die einzig richtige, immer frische Praxis muß sich stets aus der Idee erneuern.

Aber meine Freundin hier ist böse mit mir, daß ich so viel schreibe; in der Tat bin ich durch eine Badekur immer erregt und Schreiben macht mein 55erz zittern. Lassen Sie mich hören, wie es Ihnen geht. Ich erwarte meinen Mann Donnerstag, mit meinen besten Wünschen für Sie, bin ich

Ihre ergebene 55. Schrader.

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Kapitel 4:

Lenriette Schrader an ihren Mann.

Bad-Landeck i. Schlesien. 1. August 1881.

.... Von hier weiß ich nichts zu sagen, wir leben unser stilles, friedliches Leben, ganz nach Wunsch dahin. Wir scheinen in ein sehr ordentliches Laus gekommen zu sein, die Leute tun artig ihre Pflicht, alles, was man genießt, ist ordentlich, z. B. haben wir köstlich frische Eier; aber es ist sehr bürgerlich, die Zimmer klein, ohne jede Eleganz . . ich würde sehr gern hier bleiben, wenn ich wüßte, daß Du Dich hier wohlfühlteft, aber ich ziehe auch gern um, wenn Du willst .... Landeck, oder wenigstens hier im Lause ist wirklich ein Ort, wo man sich ausruhen, besinnen kann Was meine Arbeit betrifft, bin ich innerlich sehr beruhigt über die­ selbe .... Die Pestalozzi-Fröbel-Läuser sind die Form, um die P.-F.-Methode auszuführen, um ein Stück Familienleben in die öffent­ liche Erziehung zu verpflanzen; aber nun kommt es aus den Geist an. Dieser Geist erzeugt sich aus einer innigen Verschmelzung der Jesu­ idee und des Iesulebens mit den Errungenschaften der Naturwissen­ schaft. Es kommt alles darauf an, von vornherein die sinn­ liche Natur des Menschen richtig zu ersassen; Pestalozzi und Fröbel haben dies so klar geschaut; aber die einseitige, materialistische Anschauung oder die dualistische und der fast gänzliche Mangel an Gesellschastsgewissen steht der Erkenntnis und Betätigung in bezug auf die neue Erziehung entgegen. Ich habe wenig Loffnung für die Ver­ breitung der Pestalozzi-Fröbel-Läuser, es strebt alles nach einseitig intellektueller Bildung Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 2. August 1881.

.... Ich fürchte, daß es mir nicht möglich wird bis morgen abend hier ganz frei zu werden; ich telegraphiere Dir morgen mittag, wie es mit mir steht; gewiß denke ich aber Donnerstag abend zu reisen. Mache Dir keine Sorge um dieWohnung, und wenn es Dir in dem Lause und den Zimmern, welche Du jetzt hast, gut zu sein scheint, so laß uns ja darin bleiben. Ich möchte nur einen Tisch zum Schreiben haben, mehr verlange ich nicht. Leider werde ich nicht frei von Arbeit sein; ich muß noch mancherlei in Sachen unserer Verstaatlichung vorbereiten, und

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ich fürchte, daß mich auch die Wahlangelegenheiten ♦) noch beschäftigen werden. In Braunschweig wird weiter geredet und gezankt, und immer wieder hört man dieselben unklaren Phrasen. Durch das viele Reden kommt aber eins klar heraus; nicht zwischen nationalliberal und sezessionistisch, sondern zwischen rechts, rechts, rechts nationalliberal und liberal ist der Streit. * * * hat einen Brief geschrieben, in welchem nichts steht, und nun halten ihn anscheinend viele Leute für liberal. Meinetwegen. Gestern abend war ich noch lange mit Falk zusammen. Von ihm habe ich gehört, daß Bennigsen ablehnt einen gemeinsamen, liberalen Wahlaufruf zu unterzeichnen, während die Fortschrittspartei, auch Richter sich dazu bereit erklärt habe. F. sprach gestern geradezu aus, daß B. sich so verhalte, um Minister zu werden; ob das richtig ist? Sind eigentlich Bambergs noch da? Wenn so, so grüße sie herzlich. Viele Grüße an Annette

An M. Lyschinska.

Bad-Landeck. 14. August 1881. .... Ich werde folgende Punkte bearbeiten, und ich dachte. Du solltest sie auch aufnehmen: 1. Die Leute, welche sagen, das Familienleben sei der günstigste Boden für die Kleinkindererziehung, haben ganz recht; aber im allge­ meinen wissen die Leute nicht, weshalb sie recht haben, noch viel weniger wissen sie das Erziehungsmaterial, welches das Familienleben, der Familienhaushalt bietet, zu benutzen. 2. Was ist die Familie in der heutigen, zivilisierten Gesellschaft, was hat sie zu tun? (Siehe Schäffle „Bau und Leben des sozialen Körpers", vieles von ihm ist zu benutzen.) 3. In der richtigen Laushaltskunst (und richtig Laushalten ist eine Kunst, die noch längst nicht genug geübt wird) liegen die wichtigsten Erziehungsmomente für das Kind gegeben. Dem Kinde Teil zu geben, je nach seinen Kräften, an der häuslichen Arbeit ist unsere Aufgabe. 4. Unser Leben ist nichts anderes als ein Umsetzungsprozeß, ein Individualisierungsprozeß des Stoffes. Der Stoff, der uns im eigenen Körper gegeben ist, zu bilden in Rücksicht auf

*) Karl Schrader wurde als Reichstagskandidat in Braunschweig in diesem Jahre zum ersten Male aufgestellt.

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Kapitel 4:

geistige Interessen ist die neue Erziehung von Pestalozzi und Fröbel, und dazu bietet keine Veranstaltung der Welt so reiches Material, wie die Laushaltungskunst, welche inRücksicht aufPerfönlichkeilen geführt wird, denen wir ein edles Dasein schaffen wollen, denn gerade in der edeln Familie tritt die Individualisierung des Stoffes am schönsten hervor und liegt vor allen Dingen in der Land der Frau. 5. Nun lies Pestalozzi, was er über das Familienleben sagt: „Das häusliche", d. h. örtliche Verhältnis des Zusammenlebens vonWeib und Kind ist an sich weder sittlich noch unsittlich. Es bietet seinerNatur nach denen, die ihn ergreifen können, Stoff zur sittlichen Bildung dar, aber derMensch im häuslichen Leben ist frei, diesen Stoff sittlich zu ergreifen, oder nicht. Das häusliche Leben ist nur insofern bildend, als die Per­ sonen, durch die ein Laus gegründet, selbst häuslich gebildet sind . . . Sind sie unsittlich, unterliegen sie dem tierischen Sinn unseres sinnlichen Verderbens, so unterliegt auch das Laus demselben und hört auf ein menschlich bildendes Laus zu sein .... In welcher Form eS auch dastehe, .... ob imWohlstande oder in der Armut .... das Laus wird kein, die edlen Kräfte der Menschennatur erhebendes und bildendes Laus."*) 6. Das ist aber die große Würde desMenschen, daß derMensch nicht örtlich an den Stoff gebunden ist, sondern bis zum gewissen Grade den Stoff, wo er ihn findet, geistig gestalten kann. Die Kunst beweist dies, was wir eigentlich unter Kunst verstehen. So kann das wahre, edle Weib bis zu einem gewissen Grade die Bedeutung des Familienlebens schaffen, und Annette wird es tun in dem Pestalozzi-Fröbel-Lause. And auf dieser geistigen Freiheit des Menschen beruht die Möglichkeit, ein Stück Familienleben in die öffentliche Erziehung zu verpflanzen. And daß die Kinder dort an den Arbeiten, den Freuden und Sor­ gen des Laushaltes teilnehmen, das ist die Grundlage der neuen Er­ ziehung. Pestalozzi-Fröbel-Läuser bedürfen wir fürReiche und Arme. Die Reichen haben noch weniger Gelegenheit, ihre Kinder dienen zu lehren: „Dienen lerne beizeiten der Mensch (das Weib) nach seiner Be­ stimmung; denn durch dienen allein gelangt er endlich zum Lerrschen", das ist das wahrsteWort, was Goethe gesprochen. Wir haben diesesPrinzip in unserm Kindergarten, dieKinder tun a n, oder für den Gegenstand selbst, das Nötige, oder durch ihn für andere. Jetzt will man alles von früh an, viel zu früh, vermittelst der Er-

*) „An die Unschuld" ... Band XII Seite 239.

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kenntnis zwingen; was die Erkenntnis erst leisten wird, wenn der Stoff bezwungen ist — das machen sich dieMenschen nicht klar. Also, ob Kindergarten oder Pestalozzi-Fröbel-Läuser oder nicht, das ist nicht die erste Frage, sondern die erste Frage ist: Übung der Glieder- und Sinnentätigkeit, also Übung am Stofflichen, Körper­

lichen, nicht in erster Linie zu Erkenntniszwecken, sondern einfach um den Stoff zu beherrschen in Rücksicht auf den Geist, auf die Liebe; denn was das Kind darstellt, schafft, hängt wieder mit andern zusammen, es schafft in schönen Verhältnissen, und die Triebe, welch« gerade in der Muskelbewegung ihren Ausdruck finden, werden unwillkürlich veredelt, es wird der fittliche Wille vorbereitet und dem Erkenntnisleben eine wirkliche Grundlage gegeben. Mit dieser neuen Erziehung hängt eine ganz neue Art und Weise der Bildung der Erzieherinnen zusammen. Nicht dasWissen einzelner Tatsachen macht die Erzieherin, sondern das Verständnis des Ent­ wicklungsgesetzes in derNatur und Geschichte, und die technische Fertig­ keit in haushälterischen, gewerblichen und künstlerischen Dingen, Gärt­ nerei usw., sowie der lebendige Verkehr mit Kindern unter einer wahr­ haft mütterlichen Erzieherin. Die technischen Fertigkeiten beziehen sich nur auf die Anfänge, die Kinder sollen sich ihr Spielmaterial selbst schaffen lernen. Locke sagt schon, man sollte nie Spielzeug kaufen; das führt die Kinder in Kunst und Gewerbe ein, die Großen schaffen für die Kleineren, dieNeichen für die Armen. Ich werde meinen ganzen Kursus umwerfen, wie, das schreibe ich später. Wenn wir dem Volke Freude an der Arbeit geben, so lösen wir den Fluch, mit dem wir aus dem Paradiese getrieben worden sind: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Himmelreich komme" — ja, weil derReiche gewöhnlich faul ist.

Der Arme hat aber noch den Fluch der Arbeit, weil er nicht weiß, wie er arbeiten soll; er arbeitet zu unvollkommen und zu unschön, und darum ist es ihm eine Last. Natürlich muß noch ein Ausgleich geschaffen

werden, der Arme arbeitet zu einseitig hier, wie derReiche da. Die Jugend muß dienen, ob reich oder arm, vornehm oder gering. Es steht uns eine große Umgestaltung in der Erziehung bevor; ich erlebe sie nicht. Du vielleicht. Lalte nur fest an der bewegenden Grundidee; aber suche sie mundgerecht zu machen, wechsele großes Geld in kleine Münze

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Kapitel 4: An A. Sohr.

August 1881. Ich freue mich sehr, daß Sie nun an eine neue Arbeit gehen werden, die das Gebiet*) betritt, auf dem ich so recht eigentlich mich zu L»ause fühle, auf dem ich jahrelang gearbeitet habe nach den verschiedenen Richtungen hin. Es ist das Gebiet der Volkserziehung in bezug auf die weibliche Jugend und Ausbildung erwachsener junger Mädchen zu Er­ zieherinnen auf dem Grunde entwickelter und gebildeter Lausmütterlichkeit. Erzieherinnenbildung und Kindheirs- und Iugendbildung sind un­ zertrennlich miteinander verbunden, die Erziehung ist nur in der Theorie eine Wissenschaft, aber in der Ausübung eine Kunst, und die Kunst erlernt sich durch Tun. Wenn von Fröbel dieRede ist, so denkt man meist an ihn als Schöp­ fer der Kindergärten, während diese Anstalten, wie sie jetzt meist organi­ siert sind und wie sie so zusammenhangslos mit andern Erziehungsfaktoren dastehen, kaum von wesentlichem Nutzen sind für die menschliche Gesellschaft und wenig oder gar nicht zurRealisierung dessen beitragen, was Fröbel eigentlich wollte. Von der zweiten Schöpfung, welche Fröbel uns hinterlassen hat, seiner Ausbildungsschule für mütterliche Erzieherinnen, ist fast nie die Rede In der Steinmetz-Straße 16 ist eben eine solche Mütterschule voll ausgebildet in der Anlage ............. Es würde von größtemNutzen sein, unsere Anstalt mit mehr Geld­ mitteln zu unterstützen, um folgende neue Einrichtungen zu machen: 1. Den Spielsaal zu vergrößern, damit die Kinder auch im Winter mit Sand, Lolz, Steinen und dergl. ein fache m Material abwechselnd frei spielen können. Es ist derNatur des Kindes angemessen, daß es sich selbst sein Spielzeug häufig wählen kann, nicht soviel sitzt im Kinder­ garten. Die Fröbelschen Beschäftigungsmittel sind mehr Arbeits- als Spielmaterial für die Kinder; die Bewegungsspiele mehr Turnübungen

unter gefälliger Form, als eigentliche Spiele. 2. Aufnahme einiger Waisenmädchen von 2x/2—8 Jahren, um damit die Schülerinnen des Kursus vollständig zu wirklich praktischen *) A. Sohr gründete eine Zeitschrift: „Die Frau im gemeinnützigen Leben", worin das Pestalozzi-Fröbel-Laus beschrieben wurde.

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Stützen der Lausfrau auszubilden, was sich so schon mit der Kinder-

pflege vereinen läßt. Anmerkung. Die Waisenkinder würden nach dem achten Jahre die Gemeindeschule besuchen, und daneben in der Anstalt eine gute Er­ ziehung erhalten auf Grundlage hauswirtschastlicher Tätigkeit. Auf diesem Wege würden wir die Aufgabe vollenden können, ein Stück Familienleben in die öffentliche Erziehung zu verpflanzen, welche zum Zwecke hat, Mädchen aller Stände zur wahren Lausmütterlichkeit zu erziehen. Somit fördert man das Familienleben durch Erziehung, wozu in den Familien nicht immer Gelegenheit ist. Fröbel ist großartig und neu, d. h. aufPestalozzi ruhend in seinen Grundgedanken; aber in der Ausfiihrung des einzelnen zu doktrinär, zu tüftelnd. Ich habe mich eben an das erstere bei ihm gehalten; mit Lilfe Pestalozzis und mit Goethes Schrift: „Die Metamorphose der Pflanze" glaube ich eingedrungen zu sein in die Grundanschauungen Fröbels; von diesen aus habe ich, unbekümmert um Fröbels Einzel­ praxis, aus der Theorie eine Praxis entwickelt und glaube als echte Schülerin Fröbels zu handeln . .

An A.Sohr. Landeck in Schlesien. 23. August 1881.

.... Seit dem 15. ist unsere Anstalt wieder im Gange, und da wir gerade jetzt die Einrichtung des Laushaltes meiner Freundin in der Steinmetz-Straße 16 vorhaben, so gab es viel zu schreiben. Wir hatten zwar einen ausführlichen Plan gemacht und wollten eigentlich bis zum September warten; aber es machte sich so besser, jetzt anzufangen. Ich werde Ihnen einige Stellen aus den Briefen meiner Freundin, Annette Schepel, abschreiben: „Ich will morgen unsere Küche zurecht machen; mehrere Mädchen begleiten mich jedesmal beim Einkäufen, sie sollen wissen, was die Einrichtung eines Laushaltes kostet, wie man gut ein­ kaust usw. Dann trage« sie alles in das nach Deiner Angabe gemachte Inventarbuch ein, das sie unter meiner Aufsicht fuhren. Mathilde (die Aufseherin der häuslichen Beschäftigungen) habe ich das Kochbuch ge­ geben, sie muß über das, was wir gerade vornehmen, nachlesen, es sind für sie noch manche guteWinke darin; ich nehme dann alles mit ihr durch. Cs macht sich sehr gut mit den häuslichen Beschäftigungen, ich lasse die Mädchen alles tun, was vorkommt, z.B. hat A. T. dasPaket für Euch Lyschinska, Henriette Schrader II.

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Kapitel 4:

mit gemacht, es ist erstaunlich, wie wenig geschickt dieMädchen im ganzen sind, und wie wichtig ist es für eine Erzieherin, daß sie die Vorkommnisse des Lebens beherrschen kann" „Die Speisung der armen Kinder mit dem Aufwaschen und allem, was dazu gehört, ist eine Arbeit, die durchdacht und gut organisiert werden muß, da die Kinder helfen; aber es macht sich ganz gut. Auch die jungen Mädchen müssen ordentlich decken zum Frühstück um 1 Ahr; sie bleiben nun, wie Du es angeordnet hast, den Tag hier, bis sie mit ihren Arbeiten fertig sind; sie fügen sich sehr nett in alles und schicken Dir herzliche Grüße. Wie dankbar bin ich Dir, daß Du mich zu allem so angeleitet hast, so daß ich mit Freuden alle diese Dinge mit den jungen Mädchen tue"

Sehen Sie aus diesenNotizen, liebes Fräulein Sohr, wie alles im Gange ist, und welchen Schatz ich an meiner Freundin habe, ja, hätte ich sechs bis zehn solche Schülerinnen, wir kämen ein Stück weiter .... Eben habe ich noch einen Brief von Annette, sie schreibt: „Alle sind nett, vergnügt, gehorsam, sie finden sich in alles, was ich anordne, so ist alles in gutem Gange, Waschen und alle häuslichen Beschäftigungen haben gut angefangen" Karl Schrader an seine Frau.

Braunschweig. 16. und 17. Oktober 1881. (Nachts 11 Ahr.) Du hast mich recht schlecht behandelt; weder Brief noch Depesche habe ich heute von Dir erhalten, während ich Dir gestern und heute telegraphiert und heute auch noch geschrieben habe. Ich will aber feurige Kohlen auf Dein Laupt sammeln, indem ich Dir wenigstens kurz meine Erlebnisse von gestern und heute schreibe. Ich habe also glücklich fünf Wahlreden hinter mir, gestern, wie ich schon mitgeteilt, Meerdorf, Wendezelle und Oelper, heute Kremlingen und Sickte. Es ist eine Arbeit, die Seelenruhe, guteNerven und Kennt­

nis der Braunschweiger voraussetzt, dazu die Fähigkeit, ungemessene Quantitäten Tabakqualm ohne Schaden zu verdauen, und in alle kleinen Anbequemlichkeiten sich mit gutem Äumor zu finden. Gottlob habe ich diese Kandidateneigenschasten und befinde mich vollständig wohl und munter, auch ganz guter Dinge. Es ist ja freilich gräßlich, immer im wesentlichen dasselbe sagen zu müssen. Es ist wunderbar, wie wenig die Leute hier von allen den Dingen berührt sind, welche uns in Berlin be­ schäftigen; die Reaktion steht ihnen nicht nah genug, die Frage des

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Staatssozialismus ebenfalls nicht; sie haben nur Interesse für die prak­ tischen Fragen; Zölle, Steuern, Tabakmonopol und Schule und Kirche; bei letzterer steht ihnen aber die Gefahr auch noch nicht nahe genüg zu ernstlichem Interesse. In vieler Beziehung ist das Bauern-Publikum schlimm; es ist sehr schwer anscheinend anzuregen; man kriegt wenigBeifall aus ihnen heraus und kann sich auch nicht so recht auf sie verlassen; aber es ist wenigstens ohne Voreingenommenheit und steht den meisten Fragen ziemlich kühl gegenüber, weil es ihm sehr gut geht.Wenn man dies in Anschlag bringt, so ist der Erfolg der fünf bis jetzt gemachten Reisen gut. Die Leute sind alle mit mir zufrieden gewesen, obwohl ich ganz tapfer gegen Getreidezölle geredet und ihnen auseinandergesetzt habe, daß sie sie gar nicht nötig hätten. Privatim haben sie mir das an vielen Orten zugestanden, öffentlich hat niemand opponiert. Sogar die Landjäger, die heute zur Überwachung der Versammlung da waren, interessieren sich für meine Wahl und versichern mich nicht allein des besten Erfolges, sondern einer sagte mir auch, daß der Kreisdirektor meineWahl begünstige, nicht aber der Kreisrat Vogler. Ich habe viele Leute gefunden, die mit der bisherigen Vertretung Braunschweigs imReichstage unzufrieden sind, viele auch, die mit einer gewissen Begeisterung für meine Person eintreten. Die Braunschweiger Leute sind sehr tätig, bereisen alle Dörfer und betreiben meine Kandida­ tur sehr energisch. Über ein Dutzend Leute — die alle so oder so auf den

Dörfern bekannt und befreundet oder verschwägert sind, gehen mit, reden mit den Leuten und bergt mehr. Sängt der Erfolg von ihrer Tätigkeit ab, so siegen wir. 17. Oktober morgens. Eben habe ich Deine Kart« erhalten; ich hätte gern mehr von Dir gehört, aber ich bin doch zufrieden, daß das Wenige, was ich höre, gut ist. Mir geht es gut, ich bin etwas verschleimt vom vielem Tabaksqualm, aber das wird sich wieder geben. Morgen (Dienstag) fahre ich nach Walkenried, wo ich den Abend rede, dann am Mittwoch nach Hasselfelde, wo ich 8 Ahr abends rede, und Donnerstag denke ich wieder in Berlin einzutreffen. Sonnabend und Sonntag muß ich wieder hier sein, vielleicht auch noch Montag hier sprechen. Gestern mittag bin ich bei Ramdohr gewesen, die Frau ist sehr nett und hübsch; natürlich läßt sie Dich vielmals grüßen. Lebe wohl, liebe Frau, grüße Annette, und denke an Deinen armen Mann, der heute abend in Querum redet, den Tag über aber einmal Ruhe hat .

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Kapitel 4: Lenriette Schrader an A. Sohr.

Berlin W. 19.November 1881. .... Leider kann ich Ihnen von mir nicht viel gutes melden; ich habe vielleicht zu friit) angefangen zu arbeiten. Jetzt fühle ich mich noch immer kraftlos, vielleicht reise ich auf acht Tage aufs Land, ich sehne mich nach frischer Luft, und wenn ich Menschen sehe, werde ich see­ krank. So bin ich still zu Kauft und sammle von Stunde zu Stunde, wo ich Unterricht gebe, oder Geschäfte habe, Kraft, um diese zu ver­ richten. Meinen Mann sehe ich kaum, seine Gewissenhaftigkeit läßt ihn doppelt strupulös die Eisenbahnsachen besorgen, und dabei die vielen neuenPflichten.*) Aber ich fühle, ich weiß, er ist an seinem Platze, sein ganzes Wesen drückt dies aus; denn, obgleich mein Mann frei ist von jeder Eitelkeit und Ehrgeiz, so ist es natürlich, daß ein gewisserVollgenuß derBeftiedigung über denMenschen kommt, wenn er da steht, wohin er gehört — und mein Mann gehört ins große Leben, ich weiß das; Kräfte, die bisher nur im Innern Leben und Bewegung hatten, werden sich nach außenhin entfalten, und mehrt sich die Arbeit, so mehrt sich auch Schaffenskraft.

Wäre meinMann nicht meinMann, so könnte ich ihn beneiden um seine wunderbare Larmonie des Körpers und Geistes, um dies herrliche, köstliche Gleichgewicht der Seele.

Jede Faser des Körpers ist bei ihm gesund — o dreimal unberufen l Bis spät in die Nacht kann er sich denkend beschäftigen; aber sowie er sich zurRuhe legt — schläft er so ruhig und still. Die Wahlangelegenheit hat ihm nicht eineMinute Schlaf gekostet — die körperliche Konstitution trägt viel dazu bei, aber auch dies Unpersönliche in meines Mannes Natur; für ihn ist das Leben Entwicklung, Geschichte, und meinMann fühlt sich nur im Dienste derselben.

Aber verzeihen Sie, daß ich so rede — doch mein ganzes Äerz ist so voll von ihm, dem Mittelpunkte meines Lebens, und ich fühle, daß ich Fröbel und alles hingeben könnt«, wenn es nötig wäre, ihm zu helfen, daß alles, alles, was in meines Mannes Seele liegt, auch der Welt zugute kommt. Ich fühle mich so in die Politik gezogen, ich möchte so *) Karl Schrader war Reichstagsabgeordneter geworden für Braun­ schweig.

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gern für meinenMann arbeiten, daß ich mich oft zwingen muß, mich für mein Werk zu konzentrieren. Ich darf es aber kaum sagen, mein Mann will nicht mein Leben aufsaugen, sagt er, es habe für sich selbst seine Bedeutung. „Labe mich nur zärtlich lieb", fügt er hinzu, „werde wieder kräftig und gesund, und Du tust alles für mich, mir Kraft und Freudig­ keit zu geben". Neulich mußte ich mir beim Kongreß der Ferienkolonien die hohe Freude versagen, unsere vielgeliebte Kronprinzessin zu sehen. Ich hatte den Verhandlungen beigewohnt, mußt« aber nach Laus« fahren, so schlecht war mir zu Mute. Aus der Mitte der Damen ließ die Kron­ prinzessin sich meine Freundin, Annette Schepel, kommen und sagte ihr, sie freue sich schon auf unsere Weihnachtsfeier, sie liebe unsere Anstalt

sehr usw. Leute abend um 8 Ahr soll ich ins Palais kommen. Könnten wir der herrlichen Frau und dem geliebten Kronprinzen eine Stütze sein, mein Mann setzt alles für dies Lerrscherpaar ein, wenn es not tut. Aber das Beste, was er jetzt tun kann, ist Vorsicht, ruhige Amsicht. Mein Mann sagt: „Erst habe ich zu lernen, die ganze Situation zu erfassen,

die Geister zu erforschen und stille zu sein". Mein Mann dantt bestens für Ihre Wünsche, er hätte Lerrn von Stockmar gern wieder besucht; aber er findet keine Möglichkeit; auch ich würde meinen Besuch bei Frau v. St. gemacht haben, wenn es mir besser ginge

Karl Schrader an seine Frau. Berlin’W. 5. Dezember 1881.

(Abends 10 Ahr.) Ich schreibe Dir noch aus der Kommissions­ sitzung, um Dich zu bitten, mir doch morgen bestimmt anzuzeigen, wann Du hier ankommst, damit ich Dich abholen und für Dich alles einrichten

kann.

Leute habe ich zum ersten Male im Reichstage gesprochen, und ich glaube, ich habe die Aufgabe, die ich mir gesetzt habe, die aber auch ziemlich einfach war, in einer kurzenRede leidlich erledigt. Ich bin den ganzen Tag nicht zu Lause gewesen; aber etwas be­ sonderes wird nicht vorgekommen sein, da ich angegeben habe, daß ich im Reichstage zu finden sei, aber nicht ausgesucht bin. Von Dir weiß ich also noch immer nichts

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Kapitel 4: Kenriette Schrader an ihre Geschwister.

Berlin W. Am 1.Weihnachtstage 1881. Meine lieben, lieben Geschwister! „So Ihr nicht werdet wie die Kindlein, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen" — aber wenn wir sind wie dieselben, so sind wir mitten darin; und ich fühle mich Kind in voller, warmer Weihnachts­ freude und bin im Himmelreich irdisch schöner Glückseligkeit. Dazu kommen die gutenNachrichten von Dir, mein geliebter Erich, auch Du kannst Weihnachtsfreude genießen, und es fließt so des Lebens Schönheit über mich hin, oder vielmehr sie flutet insLerz und strömt aus dem Kerzen. Je älter ich werde, je mächtiger wächst die Natur, diese ursprüngliche Lebenskraft und Lebensfrische und -steude, die Fähigkeit das Leben als Glück und Gut zu empfinden, und dem Leben zu ent­ sprechen. Ich habe dieses Jahr mit wahrem Vergnügen Weihnachts­ besorgungen gemacht, und wenn Annette und ich keinen Platz fanden zum Sitzen in der Pferdebahn, dann standen wir vorn, und wir waren so vergnügt und hatten das Gefühl, als trieben wir mit unserer Kraft den Wagen mit seinen Insassen dahin; das Gewühl und der Lärm, der mich sonst oft ärgerte, hatte etwas berauschendes,das Klingeln und Rufen und Tosen und Rasseln wirkte so prickelnd wie Champagner, und ich hätte gerne einmal „Iuchl" gerufen, wie die Burschen auf der Bauern­ hochzeit, welche die Flasche schwenkten und in die Luft warfen — weißt Du noch, Anna, als wir bei Kraumens zur Kochzeit waren und ein Bursche sagte: „Schmeckt sei bei Arstensuppe", und wenn sie dann juch­

ten und sprangen? Und dann gingen Annette und ich in einen Berliner Keller, wo es kein Tischtuch gibt und frühstückten da Iauersche Würste mit Bier und hinterher Käse, wir saßen da unter ehrlichen Männern und Weibern im Tabakqualm, und es gefiel uns so gut; denn alles ist so vorzüglich, sauber und anständig, und diese Obsturität hatte so was Anheimelndes. Wir nehmen uns auch vor, vierter Klasse auf unsern Koffern zu fahren. Ich erzähste Annette von meinen Iugendaffereien .... So saßen wir hinter unsern Bierkrügen und wanderten dann weiter. Ein anderesBild: Gersons Teppichhaus. Diese köstlichen Stoffe, die jetzt modern find, in den satten Farben, Sammet, Seide und golddurchwirtt, fie schmei­ cheln dem Auge, und Sinne und ich habe manches davon erhalten; doch davon später. Schon lange wünschte ich das Bild: „Aurora" von Guido

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Reni in Farbendruck (nicht Oeldruck).Wir suchten verschiedenes in den Kunsthandlungen einen andern Tag schon, als ich mit Karl ging, und fragten auch nach dem Bilde. Es war vergriffen und teuer, so kämpfte ich meinen Lerzenswunsch nieder und tröstete mich, daß es auch hübsch sei,Weihnachten ein Opfer zu bringen für ander«; denn wir haben dieses Jahr viel, viel Geld für unser Kind, die Anstalt, in der SteinmehStraße gegeben. And gestern abend, als Karl und Annette mich in dieWeihnachtsstube im Pestalozzi-Fröbel-Lause riefen, wo in der sonstigen Elementar, klasse, ein Zimmer neben Annettes Stube alles so reizend weihnachtlich war — was erblicken meine Augen? Das Bild, das herrlich« Bild! And Morgenröte der Liebe, des Glücks ergoß sich über mein Lerz. Kennt Ihr dies köstliche Meisterstück? Alles ist Grazie, alles Poesie, die Gestalten, die den Sonnenwagen umgeben, sind wie aus Morgenröte geschaffen und doch so kräftig schön, wie die erwachende grüne Erde vom Finger der Aurora geweckt.Nein, seit langer Zeit habe ich nicht eine solche Freude gehabt, als über diese Gabe. And wie glückstrahlend war mein Mann; das jüngste Liebespaar kann nicht seliger sein als wir. Aurora, Aurora. Dein göttliches Walten für Erde und Menschen lernte ich erst gestern verstehen, und mit diesem Verständnis erschloß sich

ein neuer Blick in die poesievolle Religion der Alten — ach, und sie seht man inWiderstreit mit dem Christentum? Solche Christen sind arm, und diePfaffen erziehen Iammerbasen oderLeuchler. Am 2>Weihnachtstage. Gestern waren wir echte Berliner, wir aßen bei Dressel Anter den Linden, fuhren nach Lause, ein bischen zu schlafen, und dann wieder fort ins Theater. Leute ist Annettes Geburtstag, Annette, Miß Sime aus Galashiels und Fräulein Lelene Lange essen hier, und wir werden einen recht gemütlichen, erquicklichen Tag haben. Lelene Lange ist uns allen so lieb; sie ist so wahr und tüchtig, daß es eine Freude ist, mit ihr zu verkehren. Übermorgen haben wir Diner, Eisenbahndirektor Simmsons, die Frau ist eine Tochter vom Prediger Ionas, den» Freunde Schleiermachers,

und beide sind so liebe, gescheute Leute; unsere guten Leos, die lieben Löwes. Rospatts hatten auch zugesagt, aber plötzlich ist sein Vater ge­ storben. Rospatts sind unsere sehr guten Freunde, sie gibt in der An­ stall Singstunde, und die Mädchen leisten Vortteffliches. Dann kommen Annette undMißSime und noch zwei Lerren, und fürRospatts treten Althausens ein. Wir essen: Lühnerbouillon mit Fallei, Lummersalat

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Kapitel 4:

mit Kaviar garniert, ausgeknöchelte Ente gefüllt und geschmort mit Champignons, Kastanien mit Aufschnitt (von Deinem Idealfleisch, liebe Anna), Blumenkohl mit Krebssauce und gebackene Seezunge, gemachten Wildschweinsbraten undRehkeule, Salate, Kompott, zweier­ lei Blancmangers, Chokolade, Obst. Emilie hat alles allein gekocht, nach­ dem ich ihr die Einteilung gegeben, wie sie sich einrichten sollte; sie kocht mit wahrer Andacht, und es war ausgezeichnet. Ich bin wirklich sehr stolz auf meine Resultate, sie konnte nichts, als sie kam. Ich habe so vieles behalten von der guten Mutter, die so schmackhaft kochte, wie ich es nicht wieder gefunden, und Schwester Ledwig hatte ganz recht, wenn sie sagte: „Man schmeckt die Liebe darin". Ihr seht, liebe Schwestern, wie ich Eure köstlichen Gaben verwendet habe Diese Nacht bleibt Annette hier, und dann haben wir ein Plauder­ stündchen des Morgens Nun ist das schöne Weihnachtsfest dahin.

An A. Sohr. Berlins. 5., 17. Januar 1882.

Die Anstalt in der Steinmetzstraße gedeiht unter der Leitung meiner Freundin (Annette Hamminck-Schepel) herrlich; das Gedeihen läßt sich aber nicht durch Resultate erkennen, die man unter das Maß und auf die Wage bringen kann, sie lassen sich nur von Person zu Person empfinden. Ich mache immer mehr die Erfahrung, daß eine Maffenerziehung, bei der die Methode alles erzwingen soll, ein Anglück für uns ist, be­ sonders für die Entwicklung des weiblichen Geschlechts; wir müssen zu­ rück zu der persönlichen Einwirkung des einzelnen auf den einzelnen, kurz, auf die Familienerziehung. Aber dieser schreckliche Hang der Menschen zurBequemlichkeit treibt die Mütter und Väter, die Mühen der Erziehung von sich abzuwälzen, sie „Anstalten" aufzubürden, und in diesen wird das Handwerk immer überwiegender. Ich verachte dieses Schematische und Positive in unsern Schulen nicht, aber es ist zu viel. So können aber solche Anstalten, welche den Geist des Familien­ lebens aufnehmen (d. h. Pflege der persönlichen Beziehungen und Ein­ wirkungen in unserer Zeit), neue Säfte erzeugen im Erziehung-wesen, welches wirklich auch anfängt, an Bleichsucht zu leiden. Die Menschen wollen alles mitBüchern und wissenschaftlicherBelehrung zwingen, und

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man vergißt ganz, daß im praktischen Leben und Arbeiten Bildungs­ momente liegen, die gar keinBücherlernen geben kann, und durch letzteres wird auch der Egoismus gepflegt. So kann ich denn von unserm Standpunkte aus mit großer Be­ friedigung zurückblicken aus die Entwicklung unserer Anstalt; aber auch in Rücksicht auf Zahl und Maß liefert sie erfreuliche Resultate. Doch Sie kommen und werden sehen und fühlen, daß es uns ge­ lingt, ein Stück Familienleben in die öffentliche Erziehung zu tragen. Auch ist das Komitee für Krankenpflegerinnen (Viktoria-Kranken­ pflegerinnen) gebildet und in der Organisation begriffen. Die Kron­ prinzessin hat den Vorsitz, Frau Lelmholz ist ihre Vertreterin, zu dem Komitee gehören außer den Genannten: Frau Schulrat Cauer, Frau von Krause, FrauProfeffor Leyden, Lerr Georg von Bunsen, General­ arzt Dr. Wegner, Syndikus Eberly. Die Auffindung von Krankenpflegerinnen macht große Schwierig­ keiten. Fest engagiert ist noch keine Wenn nicht einerseits die Gesundheits- und Krankenpflege so innig zusammenhinge mit der Erziehung, so würde ich mich, nachdem ich die Vermittlung zwischen der Kronprinzessin und den andern übernommen hatte, aus diesem Komitee zurückgezogen haben. 17. Januar. Meine eigentlichste Neigung geht dahin, mich in Gatten, Laus und Steinmetzstraße abzuschließen, aber meinMann sagt, ich soll die Fäden, die mir in die Land gelegt sind, pflegen und — wie gesagt — es hängt ja alles zusammen, wobei ich beteiligt bin ... . Ich schrieb Ihnen wohl, daß ich in der Steinmehstraße auf meine Kosten eine Badestube machen ließ für die Anstalt und den GesundheitSverein. Es werden jede Woche über 50 Kinder gebadet

An Luise Fröbel. Berlin W. 22. Januar 1882. es ist meine aufrichtige Überzeugung, daß Fröbel Dir viel verdankt in den Jahren, wo Du um ihn wärest; er hat es mir selbst ausgesprochen, wie wohl Du es ihm machtest im Lause, und ich habe es gesehen und erfahren, als ich bei Euch war in Mariental. Auch ist es ebenso meine wahre Überzeugung, daß Du die Idee der

Kindergärten tiefer erfaßt hast in Deinem Gemüte als die Männer, sie müssen alles hart anfaffen und schulmeisterlich behandeln. Du hast das

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Kapitel 4:

nie gewollt; Du fühltest klar, wie es sein sollte. Du mußt es nun nicht schmerzlich empfinden, wenn ich ebenso offen sage, daß Dir die Gabe fehlte. Dein so richtiges Empfinden in Worten klar wiederzugeben, daß Du Dir dadurch nicht die Geltung verschaffen konntest bei andern, die Du bei Fröbel hattest; ihm war Dein Innerstes enthüllt, und das hat ihn beglückt; er schaute in Deine liebe Seele, wie Du seine Idee der Kindheitspflege aufgefaßt hattest. Wärest Du von Jugend auf geschult, wäre Dein Verstandesleben entwickelt gewesen wie Dein Gemütsleben, hättest Du einen großen Schah von positiven Kenntnissen zu Gebote gehabt, so hättest Du Dich besser wehren können gegen so manches, was Dich zurückdrängte — und dann, liebe Luise, wärest Du zu empfindlich. Das Kochgefühl eines großen Mannes Gattin zu sein, das ganz berech­ tigte Bewußtsein, ihm etwas, ja, viel zu sein — und das bist Du ge­ wesen — hat Dich zuweilen andern gegenüber, die sich mehr an andere Dinge halten als die, welche Deine Stärken waren, und die es Fröbel gegenüber waren, nicht in die rechte Stellung gebracht. Wir beide konn­ ten uns ja eine Zeitlang auch nicht vertragen — ich meine Du und ich — natürlich hatte ich auch Schuld, und zwar ein gutes Teil, denn einWesen, das so unruhigen Geistes war, suchend und unvollendet, stößt hart an in der Umgebung

Ich schrieb Dir wohl im letzten Briefe, daß ich mich vorwiegend der Volkserziehung widme, aber auch der gesundheitlichen. Jetzt arbeiten wir an der Aufgabe, ein Keim für Krankenpflege­ rinnen zu gründen, die von einem Verein besoldet werden, und dann nur arme Kranke pflegen. Die Kronprinzessin steht selbsttätig an der Spitze; gestern vor acht Tagen waren wir bei ihr eingeladen zur Sitzung; sie präsidierte, und nach der Sitzung kam der Kronprinz, und wir tranken Tee, es war sehr nett und gemütlich. Ich bin fast jede Woche einige Stunden bei der Kronprinzessin, und ost ist der Kronprinz da. Beide haben ein so warmes Kerz für das Volk, sie haben sich zu ihrer silbernen Kochzeit 1883 alle Geschenke verbeten, aber sie möchten einen Fonds

haben für Volkspflege und Volkserziehung. Unsere Weihnachtsfeier in der Anstalt war sehr hübsch; die Kron-

Prinzessin mit ihren Töchtern und Kofdamen waren dort und ganz reizend. Ein kleines Mädchen, welches ihr nahe stand, nahm sie auf den Arm und gab es dann ihrer ältesten Tochter, und dergleichen liebevolles Eingehen ist immer bei ihr

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An A. Sohr. ‘Berlin W. 14. März 1882. Zwischen dem Trubel, in dem ich durch so manche kleine Ereignisse, wie Logierbesuch usw. lebe, habe ich mich an dem Vortrage des Herrn B. von Stockmar über Washington erquickt. Ich habe mich so an dem Seelenbild erfreut, das der Autor uns enthüllt, und mit dem Schluß­ worte stimme ich so ganz überein, daß Mittelmäßigkeit in der rein intel­ lektuellen Begabung unterstützt von den sittlichen Eigenschaften der Ge­ müts- und Willenskraft, daßÄarmonie derKräfte große Wirkungen hervorbringen kann. Dieser Gedanke ist so tröstlich, und er weist uns auf den Wert und die Wichtigkeit der Erziehung hin insofern, daß wir mit aller Kraft arbeiten sollen, dem Kinde Gelegenheit zur Gemüts- und Willensbildung zu geben — und daß wir auch das Feld frei zu machen haben von der Überschüttung mit sogenannten positiven Kenntnissen und verfrühten Angriffen auf das Begriffsvermögen. Ich bin eigentlich recht traurig über unsere Zustände auf politi­ schem, wie auf erziehlichem Gebiete; ich fürchte, wir entwickeln uns in einer Richtung, daß nur großes Unheil uns die Augen öffnet, und erst Äilfe kommt nach vielem Elend.

Eine Dame sagte mir neulich: „Frau Schrader, Sie mühen sich ver­ gebens ab mit Ihrer Anstalt; solange Sie in ihr wirken, wird sie blühen; aber die Menschen verstehen nicht die Bedeutung der Grundprinzipien Ihrer Arbeit, Sie sollten sich mehrRuhe gönnen und schreiben." Ich weiß ja, daß eine oder einige Anstalten gar keine Bedeutung haben für das große Ganze, ich weiß, daß der Boden für das, was ich erarbeite und erstrebe, jetzt nicht günstig ist, und vielleicht in nächster Zeit nur ungünstiger wird. Vielleicht hat die Dame recht, ich sollte meine Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln; aber ich müßte einen großen Teil meiner praktischen Tätigkeit, müßte meine geselligen Beziehungen anfgeben, um Ruhe zu gewinnen

An Luise Fröbel.

Berlin W. 13. April 1882. Meine liebe Luise I Unsere Fröbelfeier war heute auf besonderen Wunsch der Frau Kronprinzessin, weil sie am 21. nicht mehr hier ist, und wir auch nicht mit der öffentlichen konkurrieren wollten.

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Kapitel 4:

Der Kronprinz kam auch, und er bat mich, neben ihm Platz zu nehmen, und sprach mir so liebevoll von Fröbel. Auch der Kronprinz hat ein so feines Verständnis für Fröbels Bedeutung, wie ich es früher gar nicht dachte. Dies muß Dir eine Genugtuung sein, daß das kronprinzliche Paar Fröbel diese Anerkennung zollt, gerade wo Preußen Fröbel das tiefste Anrecht getan. Liebe Luise, von allen Seiten sind mir heute warme Glückwünsche gespendet über die schöne Feier, eben sind die letzten Töne verklungen, und Du bist die erste, der ich ein Wort sage. Es würde meine größte Freude sein, wenn ich beitragen könnte, auch Dir den Lebensabend noch zu verschönern, und nie habe ich es aus dem Auge verloren; aber was ich für Dich tun möchte, dazu ist noch nicht ganz die Zeit gekommen ... S päter. Ich hatte mich gefreut. Dir recht ausführlich zu schreiben, aber nun ist die Aufgabe an mich ergangen, heute abend im Lehrerinnen­ verein über Fröbel zu sprechen; ich spreche sonst nie öffentlich, aber heute kann ich es nicht ablehnen. Dann haben wir Sonntag eine heitere Feier vor, einige sechzigPersonen werden bei uns zu Abend sein, FrauRechtsanwalt Friedemann hat ein kleines Stück gedichtet,Mittelpunkt desselben ist die Bekehrung eines Lehrers durch eine Kindergärtnerin (Wichard Lange und Alwine). Morgen ist öffentliche Fröbelfeier vom Fröbelverein. Am letzten Sonnabend war ich zu der Kronprinzessin eingeladen, sie empfing mich mit Kuß und Amarmung und sprach in einer Weise über Fröbel, so daß ich hoffen darf, die Zukunft von Fröbels Werk ist gesichett Sieh, liebe Luise, ich habe mich still verhalten, bin weder zu Ver­ sammlungen gereist, noch habe ich geredet noch geschrieben. Aber ich habe viel gearbeitet, und eine glückliche Verkettung der Verhältnisse, vor allem mein herrlicher Mann, haben mir geholfen, Einfluß zu ge­ winnen an höchster Stelle, weil ich eine Anstalt geschaffen mit treuen, hingebenden Kräften, die Fröbels Ideen, so hoffe ich, weiter entwickelt hat, als die meisten Kindergätten. Das lege ich alles, alles nieder zu Fröbels Geiste, der uns in diesen Tagen besonders nahe ist, und innig flehe ich zu Gottes Geiste, daß er mir weiter helfe. Dich schließe ich in warmer Liebe und Erinnerung an mein Lerz

und bin in steter Treue

Deine Äenriette.

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An die Schwestern.

Berlin W. 15. 24. April 1882.

................... Ich muß Euch noch sagen, daß ich sehr beglückt von meinemBesuche bei der Kronprinzessin bin, sie hat sich warm über unsere Fröbelfeier zum hundertjährigen Geburtstage ausgesprochen und ge­ sagt: „Der Staat muß Mittel für Kindergärten geben, und Kinder­ gärtnerinnen müssen so gut gestellt werden wie Lehrerinnen; nicht daß

der Staat die Sach« in die Land nehmen soll, nein, das muß in den Länden von Frauen bleiben, aber Mittel muß er geben." And, geliebte Schwestern, daß der Kronprinz gegenwärtig und so vergnügt und heiter und befriedigt war, daS ist eine wichtige Sache. Ja, ja, eS kann sich mein Traum noch realisieren, daß ich Obergöttin der Kindergärtnerei werdend. H-vielleicht Inspektrize derBerliner Kindergärten, und daß wir hier einen Zentralpunkt für die Fröbelsche Erziehung bilden. Wenn ich eine wirkliche tüchtig« AuSbildungSschule gegründet, so daß ich meine Arbeit in einen sicheren Boden gesenkt habe, dann kann ich sagen, ich habe nicht umsonst gelebt. AIS mir nach der Feier von allen Seiten so viele Glückwünsche ent­ gegengebracht wurden, alS man mir sagte, jetzt sähe man, daß ich Großes geschaffen, wurde mir ganz eigen, ganz traurig zuMute; denn war unsere Anstalt schlechter, wenn die Feier nicht gut auSfiel? Da sah ich erst, an welchemAbgrund« ich gewandelt hatte mit der Feier — vernichtet war ich in den Augen der Welt, hätten wir FiaSko gemacht. Gott sei Dank, daß ich vorher daran nicht dachte, sonst wäre ich um der Anstalt willen in eine fiebrige Aufregung geraten, wie wohl alles auSfallen würde. Aber heute abend ist eS wieder still im Lerzen, nicht um persön­ lichen Ruhm, nicht um die Eitelkeit der Welt ist es — nein, diese Feier

hatte eine Bedeutung fiir das soziale Leben, indem das künftige Kaiser­ paar Fröbel die Anerkennung zollte. Morgen über acht Tage haben wir pädagogischen Abend, eS wird eine Nachfeier für Fröbel werden, es wird ein kleines Stück aufgeführt, welches Frau Friedemann gedichtet; ich glaube, eS wird sehr nett. Am 24. Unsere große Fröbelfeier im AnhalterBahnhofe und unsere gesellige Feier hier im Lause waren beide schön im wahren Sinne des Wottes. Erst wurde das kleine reizende Theaterstück aufgeführt, von Frau Friedemann gedichtet, das Ihr auch einmal spielen könnt, und nachher habe ich geredet. Ich weiß nicht, es ist, als sei etwas in mir frei

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Kapitel 4:

geworden. Man hatte Tränen in den Augen, und solch inniger Dank über meine Reden ist mir noch nie zuteil geworden! und ich fühle noch einmal jugendliche Begeisterung! Dieses Leben in seinem Kerne ist mein eigentliches Leben, und ich bin still und ruhig — ich habe große Erfolge gehabt — wie man so sagt, aber es läßt mich ganz still, ganz still; aber, daß ich immer mehr Einfluß gewinne, daß ich hoffen darf, eine Saat ge­ sät zu haben für die Zukunft, das ist die Erstillung eines Sttebens, welches mir mein Lebenlang im Lerzen wohnte, ohne daß ich es gleich ganz verstand. Ich bin ordentlich beruhigt, daß ich einen täglichen Kum­ mer habe, sonst wäre ich angst vor der Schönheitsfülle meines Daseins! Ich habe rasend viel zu tun, eine hübsche Anzahl neuer Schülerin­ nen, Vorbereitungen zurReise nach Karlsbad und laufende Arbeit. Es wird mir entsetzlich schwer, mich loszureißen

Tagebuch. 24. April 1882. Ich möchte ein Buch schreiben, das den Titel trägt: Labe Geduld, und in diesem Buche würde ich die Entwicklung meines Lebens schildern. Ich hatte keine Geduld, ich forderte damals voin Leben ein Leben, wie es mir jetzt zuteil geworden ist, und diese An­ geduld hat mir und andern manches Leid gebracht And nun ist doch gekommen, was ich forderte und mir so spät erschien 1 Ich habe ihn, den ich suchte, ohne zu wissen, daß er existierte, ohne ihn zu kennen! Meines Äerzenssehnsucht war Liebe zu einemManne zu empfinden, wie er ist, von ihm geliebt zu sein, mit ihm ein Dasein zu führen, wie es mir geworden. In wenig Tagen sind es zehn Jahre, daß er mein, ja ganz mein ist; aber nicht gleich wußte ich, was ich besaß, die ersten Tage sind für eine im Grunde ernste Ehe, in der zwei in sich selbständige Na­

turen sich verschnielzen, gewiß nicht die glücklichsten, wenigstens scheint es mir so, als wäre ich jetzt viel, viel glücklicher, als früher; ob ich das nach zehn Jahren, wenn ich noch leben sollte, wieder sage? Ach hätte ich nur gewußt, daß ein Mann so eigenartig schön im Innern, so voll Liebe für mich, mein werden sollte; wenn ich hätte schauen können, wie sich mit ihm mein Leben sich so reich entwickeln und gestalten sollt« — wie würde ich das, was mir geboten wurde, anders erfaßt und schön genossen, wie würde ich geruht haben in manchen Augenblicken meines Lebens.

„Wer hat, dem wird gegeben" — wer das Gute und Schöne, was das Leben bietet, erfassen, halten, umgestalten kann, dem setzt sich

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Gabe an Gabe an den Punkt des Lebens, den er sein nennt, weil er ihn erkennt in seinem Segen — und wie viele Segenspunkte barg mein Leben, unendlich viele! Aber sie waren mir nicht verloren — nur hätte ich sie ganz anders noch genießen können. Jetzt ist keine Käst, keine An­ geduld, keine Unruhe mehr in mir;ich habe, ich lebe im vollen Bewußt­ sein meinesBesihes, und dasBewußtsein ist gleich einem Spiegel, in dem mein Lebenslicht und Glück tausendfältig zurückstrahlt — ja „wer hat, dem wird gegeben".

An M.Kellner. Karlsbad i.Böhmen. 5.Mai 1882. Kurz vor meiner Abreise erhielt ich Deinen lieben, ttaurigenBrief,

ach, ich kann Dich so ganz, ganz verstehen und kann Dir darum nichts zum Troste sagen, es ist nur künstliche Überreizung oder Todesmüdig­ keit, wenn man vor der Zeit Friedensmomente hat — es ist Täuschung, wenn man meint, irgend etwas könne uns trösten, helfen. Nein, das Losreißen geliebter Personen durch den Tod ist ein wirkliches Zerreißen unserer Natur und unseres Wesens, und ich begreife vollständig, wie man dann verbluten, verdorren, verderben kann. Du wirst es nicht, ich auch nicht, in mir ist eine zweite Welt neben dem persönlichen, und sie macht ihreRechte geltend mitMacht, sie drängt mich über Gräber auf neue Bahnen, und mein Schicksal hat sie mir geebnet durch die Liebe und Lilfe meines herrlichen, so innig und zärt­ lich geliebten Mannes. Eine neue Welt ist mir erbaut dadurch, daß er mich fortnahm aus der alten. Aber wem wird ein solches Glück zuteil, wem werden solche Erleichterungen, wie sie mir geworden sind? Siehe, Marie, darum achte und liebe ich meine Schwester Anna doppelt, die ihr Kreuz in Neu-Watzum auf sich genommen hat. Ich glaube, wäre ich in den alten Verhältnissen geblieben unter Tod und Treulosigkeit, wie ich sie von Anna Vorwerk erfahren, eine Treulosig­ keit, die mir immer größer erscheint, je mehr ich doch der Welt beweise, daß ich wohl imstande bin, meine Ideen zu verwirklichen, wäre ich dort geblieben, ich wäre gestorben oder verdorben. So hat mich ein wunderbar gnädiges Geschick gerettet von einem Abgrunde, den ich jetzt klar erkenne. Aber wenn uns etwas gesund machen kann vom Schmerze, so ist es das Verfolgen einer Idee, das Interesse im andern als in uns selbst — oder täusche ich mich — ist es meinesMannes Liebe und sein Besitz, die allein mir helfen?

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Kapitel 4:

Die Selbsttäuschungen sind so groß, daß ich sehr vorsichtig ge­ worden bin in meinen Annahmen. Ach, Marie, keine Mutter mehr zu haben, ist eine überaus schmerzliche Erfahrung, man mag so alt sein, wie man will, solange man eine Mutter hat, solange bleibt etwas vom Kinderherzen, vom Kinderparadies in uns; erst wenn sie gestorben, ist es aus damit, und das erfährst Du nun. Du liebe, arme Marie! Wenn Du doch öfter mit Anna verkehren könntest, ich finde, die Menschen in gleicher Lage können einander am meisten sein. And unsere Mütter hatten einander lieb, ich weiß noch, wie oft meine Mutter erzählte von der Deinen .... Ach, liebe Marie, wir wollen unsere Erinnerungen an die alten Zeiten recht pflegen, die in uns leben, recht festhalten . . . . Der Gegensatz von meinem Berliner und hiesigen Leben ist groß. Dort konnte ich mich, besonders in den letzten Wochen, kaum auf mich selbst besinnen, hier ist es still; ich kenne keine Menschenseele hier, ich lese auch die Kurliste nicht, ich will gar nicht wissen, ob jemand hier ist, den ich kenne, ich fürchte immer, daß jemand den Zauber der Einsamkeit und Stille durchbricht, in dem ich gefangen bin. Ich habe ein Mädchen mit hier, was eine große Annehmlichkeit ist ... . Wir sind in einem sehr netten Lause, und mein Zimmer hat eine köstliche Lage, Garten, Fluß, Berg, Wald sind unmittelbar am Lause, und so bin ich mitten in den Wald hineingezaubert — und dieser Frühling in Karlsbad ist so schön, wie ich lange, lange keinen erlebte. So fühle ich mich denn mehrNatur alsMensch, ich fließe so hinein in den Zauber derNatur, ich empfinde mich im All und fühle mich im Knospen undWerden und diesWerden in mir. And dazu der Luxus des Schweigens — ich kann stille sein, nie­ mand tvill etwas von mir, ich flute dahin in derMenschenmenge, die sich hier schon gesammelt hat und habe mit niemanden etwas zu tun. Ich denke auch eigentlich nichts. Ich lasse mir das Essen holen und gehe nur einsame Pfade; dann kommen die Briefe von meinem Manne und die Zeitungen. Ich habe ein Buch, der Roland von Berlin von Willibad Alexis, welches von alten Zeiten redet, dann schreibe ich, und mein Tag

ist so ausgefiillt, daß er mir nie lang erscheint.,Nur wenn der erwartete Brief von meinem Manne nicht kommt, dann fange ich an zu leben; ein Leben mit Leimweh und Schmerzen; aber ich bin auch jetzt schon ruhiger, da die Posten so unregelmäßig zu gehen scheinen; denn bis jetzt ist noch von jedem Tage Nachricht gekommen, wenn auch etwas ver­ spätet hie und da.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Lebe wohl, liebe gute Marie, schreibe mir bald wieder. Es grüßt und küßt Dich innig,

Derne treue

Lennette.

Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 5., 7., 11.Mai 1882. Gestern habe ich Dir nur eine Karte schreiben können, weil ich den ganzen Tag durch Reichstag und Parteitag in Anspruch genommen war; mein Vetter Bar mußte auch mit machen. Deinen Brief habe ich gerade noch zu meiner großen Freude erhalten, ehe ich fortging und daraus gesehen, daß Du Dich, soweit es gehen will, jetzt in Karlsbad ganz behaglich fühlst. Der Doktor erwartet aber noch eine Krisis? Was ist das? Werde nur nicht trübselig, wenn es Dir nicht gut geht, und hoffentlich machst Du eine etwaige Krisis noch ab, solange ich hier bin, denn, wenn ich auf meiner elenden Gotthardfahrt bin, höre ich von Dir nur unregelmäßig, während ich hoffe. Dir ziemlich ostNachricht geben zu können. Denn wahrscheinlich muß ich zur Eröffnung der Gotthardbahn reisen; es wird großer Wert darauf gelegt, daß die geschäfts­ führende Direktion dabei, und zwar durch mich vertreten ist. Wenn mög­ lich, suche ich es zu verhindern, ich fürchte aber, daß es nicht geht. Auf der Rückreise von der Schweiz würde ich dann nach Karlsbad kommen, um Dich abzuholen. Also gestern war großer Parteitag, der ganz gut verlaufen ist; die Nationalzeitung wird Dir Reden und Beschlüsse wohl ziemlich ebenso früh bringen, als Du diesen Brief erhältst. Bar, der doch den Sachen sehr unbefangen gegenübersteht, war auch ganz befriedigt. In einer Ver­ sammlung, in der daSProgramm festgestellt wurde, hatte ich eine eigen­ tümliche Genugtuung. In früheren Beratungen war ein Satz des Pro­ gramms, der über das Verhältnis von Kirche und Schule handelt, sehr angegriffen und hatte schließlich eine etwas andereRedaktion gefunden. Mir erschien auch diese nicht gut, ich machte also abends noch eine andere und schickte sie gestern früh brieflich Lasker, der die Redaktion des Pro­ gramms zu besorgen hatte. In der Versammlung gestern mittag (6.) trägt Lasker beide Redaktionen vor, bezeichnet meine, als von einem Kollegen Platen ausgegangen, zieht sie selbst der früheren vor. All« find einig, daß sie viel besser, al- die frühere ist, sie wird mit großem Beifall angenommen und schließlich zeigt sich, daß ich der Autor bin, und LaSker in der Eile — ohne jede Absicht — sich geirrt hat. LyschinSka, Henriette Schrader H.

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Kapitel 4:

Die Zeit geht hier schrecklich langweilig dahin; zu Lause gibt es keine liebe Frau, und di« Welt ist ledern. In der Politik ist ein trostloser Stillstand; niemand hat rechte Lust zu den Dingen, selbst die Vorlagen der Regierung verraten nur zu deutlich, daß denen, welche sie aus­ arbeiten, der Ernst fehlt. Liederliche, unbrauchbare Vorlagen, in der Versammlung eine Vertretung der Regierung, welche nur Bekanntes wiederholt, Redensarten macht und schlecht informiert ist; jede Klarheit in der Gesamtleitung der innernPolitik fehlt, und nun Bismarck wieder einmal krank ist, wissen die kleinen Minister gar nicht, was sie machen sollen. Die Nationalliberalen bleiben ewig die Alten; sie haben immer Angst vor der Konsequenz ihrer eigenen Ansichten. Anser Programm hat einen sehr guten Effekt gehabt; endlich sieht man einmal eine klare und verständige Äußerung einer politischen Partei über ihre Stellung zu den Tagesfragen; namentlich aber wird es uns in der Reihe der Liberalen selbst viele Freunde gewinnen und hoffentlich dazu beitragen, die neuen Politiker mindestens uns zuführen. Für die Wahlen kann es uns von großerBedeutung sein

Also kommen die Leute zu Dir? Ganz ohne menschlichen Verkehr geht es doch auf die Dauer nicht, vielleicht gefällt Dir auch Frau Löper. Leute war * * * bei mir, um mit mir über Ferienkolonien zu sprechen . . So gehen die Dinge ihren Gang weiter, langweilig und geschästsvoll und wenig erfreulich. Ich möchte sehr gern bei meiner Frau in Karlsbad sitzen, oder daß sie hier wäre, aber es ist nun einmal nichts. Gottlob, daß nun bald die Lälste der Zeit hin ist ... . Leute abend gehe ich zu einer vorbereitenden Versammlung für die Kronprinzensammlung zur silbernen Lochzeit

Karl Schrader an seine Frau.

Luzern. 21.Mai 1882. Leute bin ich ohne Nachricht von Dir, morgen bestelle ich mir ein Telegramm hierher, um von Dir zu hören. Meine Fahrt nach Karlsbad wird wahrscheinlich am 24. nachts 11 Ahr angetreten werden, und ich komme dann entweder nach 10 Ahr morgens oder 5.34 Min. am 26. in Karlsbad an. Darüber gebe ich Dir noch nähere Nachricht.

All-züge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Leute habe ich mich den Tag über ganz gemütlich in Basel herum» getrieben; Basel ist eine sehr nette, sehr wohlhabende Stadt, hat aber für den flüchtigen Beschauer nicht vielBesonderes. Nachmittags 5.30 fuhren wir mit Exttazug nach Luzern bei gutem Wetter. Die Eisenbahnfahrt ist sehr interessant, man sieht die um den Vierwaldstätter See sich gruppierenden Lochgebirge schon lange vor Ankunft in Luzern; sie waren so gefällig, sich ganz unverhüllt und klar zu zeigen. Auf der ganzen Fahrt wurden wir an den Bahnhöfen von jubelnden Menschenhaufen begrüßt, Luzern war festlich geschmückt. Für

unsere Unterkunft dort war gesorgt, und ich fand nach einiger Kon­ fusion ein recht gutes Zimmer. Morgen früh wird eine Fahrt nach dem Rigi wahrscheinlich ge­ macht, und nachmittags ist feierlicher Empfang der Gäste durch die Schweizer Behörden und dann Bankett. Übermorgen ist die eigentliche

Gotthardfahrt bis Mailand. Die Schweiz ist schön und jetzt im Frühling, wo sie noch in voller Frische ist, doppelt schön; aber der Menschentrubel, in dem man ist, nimmt ihr den Zauber; ich möchte lieber mit meiner Frau hier sein, und alle die verfluchten Diners sollte der Teufel holen. Leute habe ich in der Gesellschaft nur Tee gettunken, und nach einem kleinen Spaziergange mich in mein Zimmer zurückgezogen, um an Dich zu schreiben und zu telegraphieren, damit Brief und Telegramm morgen früh abgehen. Wie mag es Dir jetzt in Karlsbad ergehen? Zch glaube. Du schwärmst jetzt mit Freunden und Freundinnen umher, und ich kann nur von hier nach Lause fahren. Du hast mich gewiß nicht nötig? Oder soll ich lieber kommen? Dann haben wir noch fünf Tage für Karlsbad, da wollen wir recht gemütlich zusammen leben

Lenriette Schrader an Frau Marie Löper-Lousselle. Berlin W. Anfang Juni 1882. 3hr lieber Brief ist wie einRuf aus meiner Jugendzeit*) — so war ich wie Sie in diesemBrief«, so bin ich im Grunde noch; aber grausames Leid und ein« strenge Schule Berliner Lebens mit kalter Kritik und Unbarmherzigkeit am besten, was ich geben konnte — haben mich merk­ würdig verwandelt. Ich bin brauchbarer für die Welt geworden, viel brauchbarer; und daß ich mein Lerz behalten habe, danke ich dem *) Eine enthusiastische Freundschaftserklärung nach kurzer Bekannt­ schaft in einem Badeort.

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Kapitel 4:

wunderbarsten Geschick — ich besitze meinen Mann und einige Menschen ganz; aber ganz, und was das sagen will, versteht nur der, der lange gelebt und die Menschen kennen gelernt hat. Liebe und Freundschaft, sie kommen vom Limmel, und doch müssen sie erworben werden auf Erden; und ich glaube, ich darf sagen, die Meinen und ich, wir haben einander erworben. O lassen Sie sich nicht erkalten, nicht täuschen, wenn ich nicht mehr bin wie Sie, es könnte sein, ich erschiene Ihnen hart oder kalt, die Leute sagen es mir oft oder sagen es andern über mich. Ich habe nur Selbst­ erhaltungstrieb gehabt, die .Leidenschaft meines Lerzens besonders für Freundschaft hätte mich sonst zum Verbluten gefühtt. Ich habe ein Doppelleben, Fröbel hat mir etwas auferlegt, und ich habe ein sehr starkes, individuelles Leben.Werden Sie enttäuscht sein, wenn ich Ihnen

sage, daß ich gar nicht leide, keine Kinder zu haben? Ich hatte einmal Sehnsucht, schmerzliche Sehnsucht einen Knaben zu besitzen, ganz, ganz wie mein Mann, wie ich ihn mir denke als Kind, ich glaubte, ich müßte ersticken an der Fülle meiner Liebe ohne diesen Knaben, diesen blonden, still heiteren Knaben — aber mein Mann hat mich geheilt von dieser Sehnsucht — Gott, wie viel haben wir einander zu sagen, Sie und ich, wieviel habe ich in mich verschlossen vonNatur Sprechen Sie nicht mit mir von mir, nicht was ich bin, oder nicht bin; ich bin ein ringender, strebender Mensch, der auftichtig spricht: „nicht, daß ich es ergriffen hätte, aber ich jage ihm nach, daß ich es er­ greifen möchte". Laßt uns sprechen von einem hohen Ziele, dem wir gemeinsam zustreben — und sprechen Sie von sich, ach ich kann Ihre seufzende, ringende Seele verstehen; Sie können mir verttauen, denn ich habe gelitten in der mannigfachsten Weise. Wir werden mit unsern Freunden eine kleine, stille Gemeinde bilden, einander lieben, tragen und ergänzen. Ich bin gar nichts Besonderes, bitte, bitte glauben Sie dies mein Wort, es ist so schmerzlich zu enttäuschen. Wir wollen arbeiten zusammen für das „höhere Dritte", das über unS steht; die glühendste Liebe und Freundschaft findet nur darin ihren Schutz gegen Vergäng­ lichkeit, darin ihre letzte Verklärung, darin ihren Gottesfrieden. Ja, ftagen Sie mich, laßt unS ringen gemeinsam nach Klarheit. Ich nehme Ihre Seele sanft und warm und innig an mein Äerz Am 14. Juni. In meiner Jugendzeit las ich einmal ein Wott von Jean Paul: „Kränkliche Kinder werden mit ihrem eigenen „Ich" fett gemacht". Das Wott hat mächtig auf mich gewirkt, so war es bei mir!

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Wenn mir in meinem Elternhause meine Fehler, die in natürlichen Anlagen begründet waren, vorgehalten wurden, wie die Sündhaftigkeit der menschlichenNatur, so hat es gar keinen Eindruck auf mich gemacht. Ich fing früh an zu räsonnieren. Ich sagte mir: „Weshalb schafft Gott den Menschen so, nun kann er zusehen, wie er mit ihnen fertig wird". Daß Adam gesündigt, als es nicht nötig war, erweckt« nur meinen Zorn und Laß gegen Adam, weil ich darunter leiden mußte, und wenn mir geant­ wortet wurde: „Du hättest es geradeso gemacht an Adams Stelle", so meinte ich, das sei gar nicht ausgemacht, das könne man nie wissen, eS wäre ganz darauf angekommen, wie mir der liebe Gott alles vorgestellt; wenn man wieder auf die Schwäche der menschlichen Natur zurückkam,

dann war ich wieder mit dem Schöpfer da, der fie so gemacht. — Aber das Anregen der göttlichen Kraft in mir, die,mich zum höhe­ ren bringen konnte, als ich war — das wirkte auf mich. Wie, weshalb die menschliche Natur so geworden — das konnt« ich dahin gestellt sein lassen, aber die Möglichkeit des Werdens war der Angriffspunkt für meine Seele.

19. Juni. Diese „Ich".Fütterung finde ich sehr viel in sogenannten „Verhältnissen" von Freundschaft — so ein stillschweigendes Übereinkommen, fich gegenseitig den Heiligenschein zu putzen, oder einen solchen mit streichelnden Händen aufzusetzen. Ich finde in solchen ünterhaltungen mit „ttänenfeuchten Augen" und „melancholisch spöttischem Lächeln" sehr viel Salongalanterie, Salonparfiim geistiger Art, ja, Koketterie, .... Für solche Art Verhältnisse, die auf gegenseitiger Schönfärberei beruhen, auf dem Ästhettfieren und Verzätteln des so

starken Individualismus habe ich gar keine Sympathie. Kennen Sie Schleiermachers Monologen? Dies Buch war meine Iugendbibel; ich habe das Gefährliche eingesogen, was in den Blättern liegt, ehe man versteht, sie im historischem Zusammenhang« zu nehmen mit demRingen nach den Rechten der Individualität; ich habe aber auch den tief sitt­ lichen Ernst in mich ausgenommen, der Schleiermacher und seine Werke kennzeichnet. JederMensch, der sich Christ fühlt in tteffter Bedeutung desWottes, muß seine Mission erkennen und mit Hilfe des göttlichen, christlichen Geistes vollbringen, und wenn er sie erkannt hat, und sie erfüllen toiß, muß er ihr dienen; ob Sie äußerlich Arme, Krüppel und Lahme pfle­ gen. ich innerlich lahmeNaturen (und Gott weiß, was ich mit ihnen zu

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tun habe), ist gleich; wir dienen, wenn wir das wahrhaft Beste in den „Armen" fördern, oder nach besten Kräften zu fördern suchen.

Und wem Äerrschernatur gegeben und er herrscht (d, h. er stellt Menschen und Dinge an den rechten Platz zu rechter Arbeit, und tut es stetig und treu), er d i e n t, nur die Form ist anders, als wenn man sich anstellen läßt; dasWesen ist gleich. Es ist lächerlich, Kindern täglich selbst die Nahrung zu bereiten, selbst die Köpfe zu waschen, selbst alles zu reinigen, wenn man begabt ist, so und so viele andercPersönlichkeitcn zu erziehen, die nachher in rechter Weise Kinder pflegen; aber man muß stets geschickt und bereit sein als dienendes Glied, wie man das zu nennen pflegt, einzutreten, wo es fehlt, wo das Beispiel zuerst nötig ist; es ist eine Koketterie mit der Natur, wenn man eine — ich sage sogenannte „untergeordnete" bescheidene Stellung einnimmt, während man beanlagt ist, auf einen größeren Kreis zu wirken. Man soll das tun, wovon man überzeugt ist, daß man am besten seine Kräfte verwertet und inLarmonie mit den uns von Gott gegebenen oder fteiwillig übernommenen Verhältnissen und Pflichten, oder man soll sie zu lösen suchen nach bestem Gewissen. Ja, ich halte es für eine Pflicht, sich nicht selbst aufzureiben, man soll suchen zur Ruhe zu kommen, man soll mit seinen Gaben, Ver­ hältnissen und dem Leben Abrechnung halten. Ich halte eine stete Karmonie in der menschlichen Natur für unmöglich, solange der Mensch sich noch entwickelt: „Es irrt der Mensch, solang er strebt" — bei Gott,

das tut er. Das Gleichgewicht der Kräfte in unserer Seele wird immer von Zeit zu Zeit aufgehoben — ich weiß es am besten — aber immer strebt die kräftige Seele wieder zum neuen Gleichgewicht auf höherer Stufe; die Perioden der Schwankungen und Störungen dauern nach Ent­ wicklung und Umständen länger oder kürzer, aber Ruhe muß kommen, sonst verzehrt die Natur sich selbst. Ich leide auch unter dem zeitweisen Aufhören des Gleichgewichtes natürlich und sehr, denn ich bin ein ringender Mensch, .... aber ich suche das „Ich"-Fett, wenn es sich bei mir angesetzt hat, wieder zu verwerten als Dünger für neues Erd­ reich. Nicht wahr, gräßlichll! Ja, ich mag gräßlich sein für gewisse Ästhetisierung!

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An A. Sohr. Laus Neu-Watzum. Wolfenbüttel, 7. August 1882.

Laben Sie wohl Zeiten im Leben gehabt, in denen Sie so in An­ spruch genommen waren, daß Sie sich die Ohren und Augen zuhalten mußten, um nur nichts zu hören, nichts zu sehen, was nicht absolut nötig war zu den Dingen, die Sie zu bewältigen hatten? So war es letzthin mit mir — und endlich bin ich in den Lasen der Ruhe ringelaufen mit meinem Manne — aber Frau Schwabe*) wartet auf uns! Nachdem ich von Berlin aus alle Ortschaften, die ich auf meiner Karte Ihnen genannt, besucht, hatte, die Lalbkolonien noch in Berlin sowie Sitzungen in unsernVereinen; dazu zog meinMann in ein anderes Zimmer in unserer Wohnung, und einmal eine Einrichtung angerührt, so zieht dies eine Menge Veränderungen nach sich — ich hatte Tapezierer usw. und mußte eine Menge Dispositionen treffen, ehe ich ebreiste. Nun bin ich hier für den Monat August mit meinem Manne und meiner Freundin, welche schon vorher abgereist war. Frau Schwabe ist entzückt von IhremBuche, aber es war ihr aus­ gefallen, daß mein Mann und ich nicht darin genannt sind, während Miß Archer, die positiv nichts für die Sache gearbeitet hat, darin figu­ riert, und so ängstigte sie sich, daß Sie vielleicht nicht für uns eingenom­ men seien. Ich lachte recht herzlich über ihre Sorge und sagte ihr, wie lieb wir Sie haben, wie hoch wir Sie verehren, und daß es gerade ein Beweis sei, wie gut Sie uns verstehen, daß Sie gar nicht fürchteten. Miß Archer zu nennen und uns nicht. Frau Schwabe rief erleichterten Lerzens: „Gottlob!" And nun wird Sie Ihnen schreiben und danken; sie sagt: „In demWerke istLerz und Feuer!" Frau Schwabe ist noch hier in Deutschland. Es grüßt Sie herzlichst Ihre L. Schrader. An A. Sohr.

Laus Neu-Watzum, 16. August 1882.

Zum erstenMale seit den schrecklichen Leidenstagen**), die ich hier erlebt, bin ich wieder auf längere Zeit hier, und es war wohl voraus*) Eine bekannte Phtlantropin, welche man scherzhaft mit dem Namen „die Furie der Barmherzigkeit" betitelte, um ihre Energie zu charakterisieren. **) Leiden und Sterben des Künstlerbruders, Adolf Breymann, am 1ten September 1878.

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Kapitel 4:

zusehen, daß die Erinnerung mich überwältigte und verbunden mit einer Erkältung mich krank machte. Seit mehreren Tagen lieg« ich zu Bett, doch heute fühle ich mich Wohler, und wenn auch im Bette, schreibe ich Ihnen

Sie verstehen, teure Freundin, daß es zwei verschiedene Dinge find, Ideen zu haben, und die richtigen, praktischen Formen zu finden, dies« Ideen vollständig zu decken.

Ich behaupte nun offen und ehrlich, daß Fröbel selbst, wenn ich mich so ausdrücken darf, in der Form seiner Ideen, wie fie im Kinder­ garten ausgeführt werden sollen, nicht weiter gekommen ist, als bis zur Kristallisation. Als er noch lebte, als er noch selbst mit den Kindern wirkt«, deckte seine wunderbarePersönlichkeit, seine ganz eigenartige Stellung zu den Kindern, die Lärten, Ecken und mathematischen Formen der von ihm ausgehenden Praxis. Die Fülle seiner Liebe zu den Kleinen, die Tiefe seines Verständnisses ihrerNatur und Bedürfnisse gaben seiner Praxis einen Zauber, der mit dem Scheiden seiner Persönlichkeit erlosch, so daß sowohl die Kindergärten wie auch seine Schriften, die Praxis betreffend,

ganz mit Recht viele Angriffe erfahren haben, da sie häufig in vollem Widersprüche zu seinen Ideen stehen. Lesen Sie z. B. einmal seine» Aufsatz: „Wie Lina Lesen und Schreiben lernte" und anderes, so bieten sie zahlreiche Angriffspunfte und ruhen doch auf großartigen Ideen, die Fröbel nur nicht zum Ausdruck bringen konnte Ich sage aufrichtig, ich glaube, daß es mir gelungen ist, von der Kristallisation der Form zum organischen Leben derselben durchzu­ dringen und zur Einfachheit und Natürlichkeit andererseits zurückzukehren. Auch habe ich mich mehr an der Idee im großen ganzen gehalten, als an den Kindergarten als Anstalt und auf deren Verbreitung, auf welche in ihrer jetzigen Form und Gestalt und Isoliertheit ich gar keinen

großen Wert lege. Es liegen schon in Pestalozzi, ja in Amos Comenius undRouffeau dieselben Grundgedanken, wie Fröbel fie aufstellt; aber letzterer hat die praktische Landhabe geboten, diesen Ideen Gestalt und Form in der Er­ ziehung zu geben; daß dieser erste Versuch nicht vollendet in der Form sein konnte, ist natürlich. Auch ist Fröbel nicht dabei stehen geblieben, nur die Gedanken seiner Vorgänger auszunehmen, er hat fie auch als Gedanken weftergebildet und kombiniert, neu beftuchtet .

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Sehen Sie, wenn Fröbel die Menschen zur Gotteinigung, zur Lebenskunst erziehen wollte, so wollte er den Bildungsstoff aus dem Leben nehmen. Deshalb müssen die Fröbelschen Anstalten einen Lebensmittelpunkt haben; Laushalt, Familienleben, wie wir es jeht in der Steinmetzstraße 16 haben. Die Kinder helfen Fräulein Annettes Gatten bebauen, ihr Laus bestellen, die täglichen Verrichtungen des Laushaltes werden benutzt als Erziehungsmittel. Die erste Stufe dieser Erziehungshäuser für Übung in der Lebens»

tunst ist der Kindergatten; wir haben ihn und schon den zweiten begon­ nen, und mein ganzes Stteben ist darauf gerichtet, vorerst die Mädchen bis zurKonfirmation zu behalten, um sie neben der Schule in der Lebens­ schule (die im allgemeinen in der Form der Lausmütterlichkeit geübt wird) zu bilden. Eine Kochschule, Nähschule, wohin die Mädchen viel­ leicht später ein Jahr gehen, entwickelt nicht so schnell die Eigenschaften, Fähigkeiten und Geschicklichkeiten, welche die Familienmütter brauchen, die Schulen auch nicht, und die Familien in den unteren Volksschichten, die mit . er Not des Lebens zu kämpfen haben, geben auch keine An­ leitung oder nicht genug, und es ist eine brennende Frage für das soziale Leben, gute Lausmütter zu erziehen; den Leuten, besonders den Mäd­ chen, die erwerben sollen, erst die allgemeine Grundlage zu geben, die das Menschliche — bei den Mädchen das Menschlich-Weibliche ausprägt.

Fröbel gibt ganz und gar den Stoff, den Boden zur Erziehung der Lausmütterlichkeil, oder vielmehr er weist darauf hin: An möglichst edeln Lebensverhältnissen fürs Leben gebildet werden, indem das Kind von früh an seinen Kräften gemäß mit an der Bildung dieser Verhältnisse schafft — das ist Fröbelsche Erziehung. Würfel, Spiele, Papierfalten usw. sind aber keine vollstän­ digen Lebensverhältnisse — sie sind nur Zutaten — eine Seite Vor­ bereitung auf die Schule — aber Laus und Los, wo Sorge für Men­ schen, Tiere und Pflanzen die Anstalt beschäftigt, und vor allem eine Anstalt, wie die unftige, die in Verbindung mit dem Gesundheitsverein steht, wo wir gesundheitliche Küche für die Kinder haben, wo sie ge­ speist werden, wo die lebendige Wechselwirkung zwischen einem persön­ lichen, Fräulein Annettes Laushalle und dem Gemeindeleben statt­ findet — da ist Lebensstoff, da ist Lebensschule, eine Familienschule.

*) Siehe „Mutter- und Koselieder", „Auftuf an die Frauen" 1840.

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Kapitel 4:

Man wird Ihnen vielleicht von anderer Seite sagen: Wir haben auch Tiere und Pflanzen, ja, aber es ist nur Gegenstand von Lehrstunden; wo ist die Verwendung? und ich leg« darauf so großen Wert, daß die Zivilisation, welche den Kindergarten geschaffen, die einfachste Natur hervorbringt; daß das Kind wohl frei spielt und sich bewegt in demRaume, den man ihm gibt; aber daß, wenn es arbeitet, wenn man seine Hilfeleistung heranzieht, dies nicht spielerisch geschieht, sondern einem wirklichen Zwecke dient. Die meisten Kindergärten spielen zu reflektierend und arbeiten zu spielerisch — das liegt in der Einrichtung, in dem Stoff, den die Kinder zu bewältigen haben; es liegt aber auch darin, daß die Kindergärtnerinnen viel mehr Lehrerinnen als hausmütterlich sind. Da komme ich auf einen andern Punkt, welcher mich von den an­ dern Fröbelianern unterscheidet, nämlich die Organisation des Kursus für die Kindergärtnerin; ich kann aber jedes, was ich tue, nachweisen als Konsequenz aus Fröbels Grundgedanken, welche er in seinen Schriften niedergelegt hat. Teure Freundin, die konsequente Durchführung der PestalozziFröbelschen Idee wird langsam aber sicher eine Umgestaltung unserer Erziehungsweise Hervorrufen; sie wird die Bücher, die Beschäftigung mit diesen in ihre gehörigen Grenzen weisen, und das Leben mehr als Bildungsstoff in den Vordergrund bringen; aber nicht wie früher, son­ dern kunstvoll (nicht gekünstelt), geordnet als Erziehungsstoff zur Cha­ rakterbildung, in der Gewissen und Herz eine bedeutendeRolle spielen. Don allem, was ich Ihnen heute geschrieben, können Sie Gebrauch

machen, wenn Sie es für nötig erachten

An A. Sohr. Ende August 1882. .... Und nun Frau von Marenholh. Ich würde die Frau an Ihrer Stelle jedenfalls aufsuchen. Frau von Marenholh ist ein sehr bedeutender Geist, schöpferisch in Gedanken, und in ihrer Art und Weise aufopfernd und hingebend für die Fröbelsche Idee. Sie war die einzige, welche bei Fröbels Tode die Sache hoch­

hielt, sie konnte es auch; sie war eine gereifte Dame zwischen vierzig und fünfzig Jahren, war in gewisser Weise unabhängig und von altem Adel und hoher Stellung, was ihr einesteils Kampf bracht« mit dem Vor-

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urteil ihrer Gesellschaft, andernteils ihr aber hier und im Ausland« die Türen der Salons öffnete. So verehre ich die Frau immer noch, obgleich es nach jahrelangem Verkehr zwischen uns zum Bruche kam. Sie ist nämlich im Reiche der Fröbelschen Sache von einer ganz unerträglichen Herrschsucht beseelt und will absolut die einzige sein, die Fröbel verstanden hat; nur sie besitzt den Schlüssel zu den Mysterien seines Geistes. Ich bin ihr gegen­ über viel zu unabhängig. Natürlich verstand ich Fröbel nicht so tief wie sie, als ich bei ihm studierte, ich war ein junges Mädchen, sie konnte meine Mutter sein; ich hatte ein persönliches Leben vor mir, hatte Hoffnungen, Wünsche für mein Kerz; sie hatte nach einem elenden ehlichen Leben abgeschlossen mit der Welt persönlichen Lebens, als sie Fröbel kennen lernte. Was mir wie ein aufgehender Stern am Firmamente war, war ihr ein Rettungsanker im schrecklichen Schiffbruch des Lebens. Ich be­ durfte der Zeit und ganz ungestörter Entwicklung in bezug auf die Fröbelsche Idee; denn — ich spreche ganz objektiv von mir — ich war berufen, eine neue Blüte zu zeitigen am Baume der Fröbelschen Er­ ziehung

An M. Lyschinska.

Neu-Watzum, 31. August 1882. .... Du willst — und ich billige das ganz in Harmonie mit Dei­ nen persönlichen Verhältnissen — Du willst, solange es möglich ist, ordentlich bezahlt werden und selbständig sein. Ich finde das durchaus richtig. So ttaurig es ist, daß unsere Zeit so materiell ist, so sehr freut es mich, daß die Deutschen auch mehr und mehr aus ihrem Schwärm­ dusel kommen. Kat etwa Schiller so Schönes geschaffen, weil er hungern mußte? Nein, im Gegenteil, er würde länger gelebt. Schöneres, Größeres ge­ leistet haben, wenn er nicht so elendiglich hätte leben müssen. And daß Goethe so universell war, so Großartiges geleistet hat nach den verschiedenstenRichtungen, das verdankt er seinem Genie nicht allein, son­ dern auch seinem guten Essen und Trinken, seiner Behaglichkeit des Da­ seins. Nein, mein Ideal des Lebens ist, daß man den nötigen Erwerb­ sinn hat, und ttotzdem nie das eigentliche Ziel aus dem Auge verliert, und daß, wenn ein Entweder oder eintritt, man auch sein Kreuz auf sich nehmen und sich ans Kreuz schlagen lassen kann. Wieviel könnten wir noch tun durch unsere Erziehung, demMenschen den Kampf ums Dasein

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zu erleichtern und ihn gerade dadurch zu höherer Idealität zu entwickeln, z.B. wenn wir die Zeit in derMädchenerziehung anwenden würden, sie in der Periode, in welcher sie so große Lust haben, gerade das tun ließen, was sie beglückt; durchschnittlich haben jüngere Mädchen so viel Lust zu häuslichen. Näh- und Schneiderarbeiten usw. Sage einmal, mutet man einem dreizehn-,vierzehnjährigenMädchen mehr zu, wenn es eine Laube, einenLut macht, oder wenn es Lessings Laokoon verstehen soll und drgl. ? Man stellt an seine geistigen Fähigkeiten enorme Ansprüche und läßt die übrigen brach liegen. Wir sind aber alle diese Dinge so gewohnt, daß uns ganz abnorme Sachen gar nicht auffallen — aber zur Sache, wenn ein Mädchen kochen, schneidern, puhmachen usw. versteht, dann kann sie sich immer selbst helfen; sie kann enorm viel sparen, und wenn sie nicht alles selbst tut, so kann sie die Leute und ihre Arbeit beurteilen. Ja, sie kann sich auf verschiedene Weise ihren Unterhalt erwerben; sie kann bei unwürdiger Behandlung oder Stellung den Leuten alles vor die Füße werfen; und das muß man können. Ich habe ein ganz großes Mitleid mit Menschen, die ums tägliche Brot sich etwas gefallen lassen müssen. Deshalb soll derMensch nicht nur nach einemNotpfennig in barem Gelde trachten, sondern nach einem Not­ behelf an Leistungen; man muß nicht nur eins können, was Brot gibt; oder vielmehr nicht nur eine Form der Anwendung der Kräfte verstehen. Bon Tag zu Tag wird es mir klarer, wie wir dem Zerfall des Familienlebens entgegensteuern, wenn wir nicht die Lauswirtschaft als Kunst aufnehmen und behandeln, und die Grundhandgriffe und Be­ griffe bis zum vierzehnten Jahre die Mädchen lehren; die einzelnen Richtungen der Laushaltungs- und Erziehungskunst lassen sich zum Fach ausbilden: Krankenpflege,Näh- und Schneiderarbeit, Kochkunst, Gartenbau, Blumenzucht, Lehrerinbildung usw. Die Frau hat es nun absolut mit dem rein Menschlichen zu tun, und wenn ihre Fachbildung nicht darauf ruht, so ist es für sie und andere ein Elend. Gestern nachmittag war es sehr gemütlich, Bruder Karl und Luischen führten eine so anregende, schöne Unterhaltung; Luischen sprach sich auch ganz offen aus und macht« aus die Gefahren aufmerksam, wel­ che mit der „Volksbeglückung" leicht Zusammenhängen; ich war ganz ihrer Meinung. Arnold war selig — „Tante Anna," sagte er beim Ab­ schied, „diesen schönen Geburtstag werde ich nie vergessen 1" And Arnold hat oft etwas in der Stimme wie Adolf; mir war wunderbar zu Sinn,

ganz wunderbar!

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Lenriette Schrader an ihren Mann.

LausNeu-Watzum, 31. August 1882. Gestern habe ich Deine Karte, heute Deinen Brief erhallen. Ich dachte so viel an Dich, ich vermißte Dich so gestern am Familientage, ich fühlte mich so vereinsamt. Es geht mir sehr gut. Wie ist es Dir persönlich und politisch ergangen? Bruder Karl hat mir von den politischen Ansichten der Okeraner erzählt, sie find aber kindisch! Sie denken, Ihr seid verkappte Republikaner, nur schlauere Amstürzler als die Fortschrittspartei, welche sie als die roten Republi­ kaner ansehen! Was soll man dazu sagen? Sieh, lieber Kars, ich bin so viel ruhiger geworden; ich werde nicht mehr so ängstlich sein, etwas zu vollenden, ich habe ja Kinder,Mary und Annette. Ich verstehe sie immer besser und besser auch zu nehmen. Ich

habe Dir doch ganz ordentliche Menschen mit in die Ehe gebracht, und was Du an Vollendung des Charakters mehr besitzest als ich, das gebe ich durch meine lieben Kinder. And ich danke es der frohen Reinheit Deiner Natur, daß Du sie lieben kannst in treuer, wirklich brüderlicher Freundschaft. Nein Karl, waS ich für Anruhe in unser Leben gebracht, das war die Angeduld meiner Seele für meine Arbeit — ich lasse meinen Kindern über zu vollenden, was ich begann; aber, wenn sie sterben, wie Adolf starb? Das ist der Wurm, der nicht sterben will, die Grausamkeit derNatur, die ich empfinde, das Abbrechen eines unvollendeten Lebens, das allen Kampf und Schmerz des Ringens durchgekostet hat und am Ziele totgeschlagen wird ... mein armer, armer Adolf! Komm nur bald wieder, daß ich Dein Leben fühle, und lebe wohl, lebe wohl, ich küsse Dich innig.

Deine treue L. An A. Sohr.

Neu-Watzum, 3.September 1882.

.................... Sie müssen durch Ihr« Schriften vermitteln, welch ein« bedeutende Frau unsere teure Frau Kronprinzessin ist. Es ist empörend, wie man sie verkennt; die Kronprinzessin ist zu schüchtern mit demBesten, was sie hat — könnten wir ihr nur helfen, sich königlich zu erheben über diese elenden, kleinen Seelen. Aber sehen Sie, im Grunde haben edle Naturen immer etwas von Schüchternheit; sie überwinden das erst ge-

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wohnlich im höheren Alter, denn edleNaturen haben eine hohe Achtung vor dem Menschen von Laus aus, und dieser ost unbewußte Respekt bindet manches in der Seele vor der Gesellschaft, wie sie gewöhnlich ist. Die Seele sammelt einen kleinen Kreis Vertrauter um sich, einen Kern des innern LebenS, und auf ihn sich stützend, erhebt sie ihren Flug. Ich habe diese Erfahrung an mir teuren Menschen mehr als einmal gemacht. Bedeutende Menschen sind ja immer ihrer Zeit voraus, vereinen sie mit der Bedeutung ein zartes Gewissen und Gemüt und Edelsinn, so währt es lange, ehe sie sich bewußt werden, daß sie der Menge voraneilten; sie wollten sich gern in der Gesellschaft zurechtfinden, sie erwarten ihres­ gleichen, und sie finden sie nicht, denn sie kommen nicht zuerst auf den Gedanken, daß sie über der Menge stehen Ich will natürlich nicht die Menschenverachtung hiermit befürworten, denn sie ist der Keim der großen Unmoralität im politischen Leben. Aber Menschenerkennt­ nis, Menschenbehandlung müssen die lernen, die auf das große Ganze wirken wollen, und sie müssen Verachtung lernen gewisser Urteile, und vor allem Verachtung in bezug aufBeifall gewisserMenschen; sie müssen stellenweise Vereinsamung ertragen können. Von der ersten Zeit an, als ich mit unserer Kronprinzessin in Be­ rührung kam, erschien es mir doch eine wichtige Aufgabe, dieser Frau treu zur Seite zu stehen, ihr zu helfen, und ich bin heute derselben Mei­ nung, kenne aber mehr als stüher die Schwierigkeiten und weiß, daß es nicht allein getan ist mit einem liebevollen Lerzen, daß mehr dazu ge­ hört. Der Boden, auf dem Fürsten wandeln, die Atmosphäre, die sie einatmen, sind eigenartig. Unsere Kronprinzessin ist noch jung, jünger im Geist als an Jahren; darin liegt das Schöne und zugleich ein Etwas, was ihr selbst Schwierigkeiten bringt. Dazu ihre entsetzlich schwere Lage

und ihr Temperament. Aber, wenn sie nur die rechten Freunde findet, und wenn sie festhält, so habe ich die kühnsten Hoffnungen für das, was sie wirken kann. Sie können als Schriftstellerin, verehrte Freundin, viel tun, dem Publikum die geistige Bedeutung unserer Kronprinzessin zu vermitteln (wie Sie schon angefangen haben, es zu tun). Sie schreiben wirklich gut, warm und praktisch Sie können als Schriftstellerin so viel tun, die Kronprinzessin in ihrer Stellung als Protektorin und Schöpferin des wahrhaft Reformatorischen nach verschiedenen Richtungen zu be­ festigen. Wenn ich diesen Ausdruck „befestigen" gebrauche, so ist das keine Andeutung des Mißtrauens gegen die hohe Frau, sondern nur

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gegen die Kabalen eines Loses und einer Partei, die so abscheulich find und doch eine gewaltige Macht ausüben, gerade weil fie fich an die Schwächen der Menschen wenden. Sie können als Schriftstellerin der hohen Frau Menschen zuführen, die das aufrichtige Bestreben haben,

dem naturgemäßen Fortschritt Vorschub zu leisten. Was Sie schreiben werden, wird historisches Material, deshalb schonen Sie fich, seien Sie gut und artig, und so hochinteressant Ihre jetzigen Studien find, versenken Sie fich nicht zu tief in fie An M. Löper-Louselle.

Berlins. 28.November 1882. ............. Pestalozzi und Fröbel waren beide große Psychologen, wenn sie auch keinerlei psychologische Systeme aufgestellt haben .... Fröbel hat ganz besondere Forschungen über die Bedeutung des Tätigkeitstriebes im Kinde angestellt und sich mit der richtigen Pfiege desselben beschäftigt. Ich gebe aber Pfarrer Bion ganz recht, daß seine Theorie und Praxis nicht ganz stimmen. Die Bedeutung des Spiels hat Fröbel schon gekennzeichnet in der „Menschenerziehung"; seiner praktischenBehandlung desselben kann ich nicht ganz zustimmen. Unsere

Einwirkung auf des Kindes Spiel muß mehr eine indirekte als direkte sein. Wir haben zu sorgen: 1. Für den rechten Spielraum, 2. für Spiel­ mittel, 3. für Spielzeit, 4. für Spielfreiheit, 5. für Spielteilnahme. Der letzte Punkt ist der streitige. Die Grenzen sind so zart, und in dem Kinder­ garten wird den Kindern eine falsche Teilnahme zuteil; sie wird ihnen aufgedrängt. Der Tätigkeitstrieb teilt sich in Spiel- und Arbeitstriebe. Beim Spiel ist die Tätigkeit als solche Hauptzweck, der Inhalt des Spieles ist ein subjektiver, bei der Arbeit kommt schon das Resultat der Tätigkeit in Betracht, das Kind folgt einerNötigung von außen oder von innen, die sich auf den Tätigkeitszweck bezieht, der Inhalt der Arbeit ist ein objektiver. Nun fallen beim Kinde die Formen von Spiel und Arbeit häufig zusammen, die Erscheinungen sind ähnlich, die Grenzen sehr fein, und die Trennung kann in gewissen Stadien nur in der Theorie gemacht werden

— gerade wie die Einteilung der Geistesvermögen, die man in der Psy­ chologie macht, während in derWirklichkeit diese Trennung nicht besteht. Dennoch ist die Theorie von großer Bedeutung, weil man dadurch mit Sicherheit vorgehen kann bei der Pflege des Tätigkeitstriebes in

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bezug auf Darreichung von Stoff und Gewährung von Teilnahme. Fröbel selbst hat die Grenzen in der praktischen Behandlung der Kinder zwischen Spiel und Arbeit zu sehr verwischt, daher die Reflexion im Spiel und oft spielerische Arbeit — er wollte das nicht. Fröbel stand so sehr unter dem Einfluß der romantischen Schule; Novalis hatte in Fröbels Jugend einen bedeutenden Einfluß gehabt und Schelling durch sein Werk: „Bruno, die Weltseele". Fröbel hatte keine stetige wissenschaftliche Bildung genossen, er muß immer als Autodidatt bettachtet werden; er hatte eine leidenschaftliche Seele, eine leb­ hafte Phantasie und hat viele Dinge mehr im Gemüt und in der Phan­ tasie erfaßt, ohne sie kritisch durchzuarbeiten. Durch Schellings Einfluß bekam das Symbol für ihn eine große Bedeutung, aber Fröbel ging ins Kleinliche, ins Deuteln und Tüfteln; der Subjektivismus, durch Fichte angeregt, gelangte in Fröbel zu großer Blüte, und doch gab es im Hell­ dunkel der Fröbelschen Seele wieder Gedanken von blitzender Klarheit, und er dokumentierte ost seine bedeutende Anlage zum scharfen Denker. Fröbel ist in mancher Äinsicht eine monströse Natur — die auch wieder einfach sein konnte bis zur Nacktheit — oder wie ich mich sonst ausdrücken soll. Gerade weil Fröbels großartiges Denken nie losgelöst werden konnte von Wunderlichkeiten seiner Seele, so ist es von großer Wichtigkeit, die Formen, unter denen er seine Ideen gibt, einmal ganz beiseite zu lassen, einfach seine Gedanken aufzunehmen und die ihnen entsprechende Form zu suchen Nun noch ein Wott über eine Fröbelschriststellerin * * *. Sie ist talentvoll, oder vielmehr sie besitzt eine gewisse Geschicklichkeit — aber ihre Schriftstellerei ist mir im tiefsten Grunde zuwider. Aus ihren Schriften habe ich nur Proben gelesen, aber das Fräulein besingt und bereimt jedes mögliche Gefühl, jede mögliche Anschauung der Kinder 1 Sehen Sie, Fröbel wollte ja vor allem dem Kinde Zeit, Raum, Stoff und hie und da der Mutter zatte Anleitung geben, das Kind zur Selbsttätigkeit zu führen — darum war das Material, welches er uns gab, so einfach; wenige Flechtblätter, wenige Liedchen usw. Nun aber wuchern die Bücher, die Lieder, die Muster wie Ankraut empor und er­ drücken des Kindes Seele. Gegen das frühe Einprägen von positiven Kenntnissen eifern die Fröbelianer, und sie geben Schlimmeres; sie fühlen, sie sentimentaüfieren, sie denken dem Kinde alles vor, es ist ein Gel; sie überlassen ihm nur einen gewissen Mechanismus .... .Wo ist die keusche Ehrfurcht vor der kindlichen Natur?

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An A. Sohr. Berlin W. 10.Dezember 1882.

Bei meiner Vorbereitung auf meine heutige Stunde, Geschichte der Pädagogik, wo ich Fichte im Zusammenhang« mit Fröbel durchnehme — lese ich einen Aufsah von Fichte Sohn über National­ erziehung und Fröbel. Es heißt unter anderem darin: „Man muß Fröbel nicht so betrachten, als wenn man alle seine Vorschläge, Anweisungen und Vorschriften zu befolgen hätte — diese verlieren sich nicht selten ins Kleinliche, Sonderbare, Bizarre oder Ge­ schmacklose. DieseÄußerlichkeiten, welche von seinen Anhängern geradezu

aufgegriffen und gepflegt worden sind, haben anderseits die große Be­ deutung seines pädagogischen Prinzipes verdunkelt, wenigstens nicht zu allgemeiner Anerkennung kommen lassen.

Man muß statt solcher Außenwerke des tiefer liegenden Grund» gedankens sich bemächtigen, der höchst vielseitiger und verschiedenartiger Ausbildung fähig ist " Später sagt er: „FröbelsMittel zur Er­ ziehung lassen sich insgesamt auf ein höchstes Gesetz aller Erziehung zu­ rückführen. Fröbel nannte es wohl zu allgemein und zu sehr an die Formeln einer damals herrschenden Philosophie erinnernd, „das Gesetz der Vermittlung der Gegensätze". Klarer und bezeichnender für die eigentliche. Leistung Fröbels wäre vielleicht zu sagen: Das Gesetz der stetigen, sprunglosen Entwicklung des Kindesbewußtseins aus den eige­ nen Anlagen "

Ich (£>. S.) finde durchaus nicht, daß Fichtes Satz den Fröbelschen deckt. Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem Gesetz der Gegensätze und Vermittlung machen: Nicht nur hat es darin seine Bedeutung für die Erziehung, daß wir das Kind für z. B. Freiheit und Gebundenheit usw. erziehen, sondern daß wir anerkennen, daß der Mensch sich durch Lervortreten entgegengesetzter Richtungen entwickelt, und man dem Rechnung tragen soll. Z. B. das Knabenalter vorwiegend körperliche Entwicklung, Freiheit, Angebundenheit, äußeres Leben. Jüngling, in­ neres Gebundensein an ernste Studien, Träume, Ideale, Vorwiegen der Phantasie usw. Man würde einesteils nachsichtiger sein gegen manche Ausschweifungen, andernteils so viel« verhüten

Lyscht nSka, Henriette Schrader H.

15

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Kapitel 4: An A. Sohr. Berlins. 15. Dezember 1882

............. Ob ich das Viktoria-Lyzeum übernehmen möchte? So können nur Menschen fragen, die keine Ahnung haben, was ich bin und was vom V.-L. verlangt wird .... Also sollten Sie wieder gefragt werden, so sagen Sie, daß es wohl das Unpassendste sei, was geschehen könne, wenn man uns zusammenbringen wollte. Ich kenne jetzt aber eine Persönlichkeit, die ich für geeignet halte wie keine, nämlich Fräulein Helene Lange, Vorsteherin der Klaffe zur Ausbildung von Lehrerinnen bei Fräulein Krain. Ich begreife nicht, wie ich nicht eher an sie gedacht habe .... Ja, wenn die Sache in die Land dieser wissenschaftlichen, gebildeten, charakterfesten, reinen Seele käme, die ebenso schlicht im Auftreten, wie sie wahr und edel von Geist ist — dann würde ich eine große Freude haben. Sie und Fräulein Lange sind Frauen, deren Gediegenheit der Bildung mir Respekt einflößt, deren Studium und Leistungen den Stempel hohen sittlichen Ernstes tragen, die eine Atmosphäre erzeugen, in der ich mich wohl fühle. Wären Sie jünger und kräftiger, dann würde ich sagen. Sie und Fräulein Lange sollten Ihr Dasein für eine Anstalt wie das V.-L. einsetzen. Die Anstalt entspricht einem brennenden Bedürfnisse in Berlin, und wenn sie wird, wasMiß Archer aus ihr machen wollte, was sie mir in verttaulicher Stunde mitteilte (damals sprach sie nicht von Gymnafialbildung), wäre es wohl der Mühe wert, für die Sache ein Leben einzusetzen; ein Leben von einem gediegenen Geiste. Aber zu einer Gestaltung der Sache, wie sie mir vorschwebt, ge­ hören junge, frische, aufstrebende Kräfte, nicht Menschen, wie Sie und ich, die schon ganz und gar den Schwerpunkt ihrerWirksamkeit gefunden

haben. Sie sind Schriftstellerin, wie spät Sie auch den Beweis geliefert haben. Ich bin — ja, wie soll ich es bezeichnen — ich bin Mutter und Lausftau und erziehe Kinder und Töchter der Gemeinde und helfe, eine neue Elementarerziehung begründen, durch welche einst die Kinder aller Stände gehen müssen und werden. Wir haben jetzt im Kursus sehr wohlhabende Mädchen, welche ein­ fach einen gewissen Abschluß der allgemeinen weiblichen Bildung nach der Schulzeit bei «ns suchen. Sie kochen, waschen, pflegen Kinder, und

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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studieren. Wir haben Kant, Fichte u. a. besprochen in derenWirkung auf das erziehliche Leben; ich arbeite Tag und Nacht, das Problem zu lSsen, den Zusammenhang der sogenannten kleinen Dinge nachzuweisen mit den höchsten Gedanken und ernsten Forschungen der Wissenschaft. Ich habe ein Buch von Noir6 „DasWerkzeug und seine Bedeutung

filr die Entwicklungsgeschichte der Menschheit". Ich habe darin Herrüche Dinge gefunden über die Bedeutung der Land und deren Bildung, und Kant steht wieder da mit seinen tiefsinnigen Gedanken über diesen Punkt. Jetzt studiere ich Schelling von Fischer, um mir ganz klar zu werden überSchellings Einfluß aufFröbel und, was ich lerne, verarbeite ich still und gründlich in mir und gebe das neugeborene Resultat den Schülerinnen der ersten Klaffe in einfachster, faßlicher Form. Mehr und mehr gelingt mir, was ich erstrebe, und ich fühle mich so glücklich undbefriedigt, aber auch vollkommen abgeschlossen in den Meinen und in meiner Arbeit: Erziehung zur modernen Lausmütterlichkeit für das weibliche Geschlecht und Elementarerziehung für die Kindheit. So, mein liebes Fräulein Sohr, habe ich mein Leben gegründet, bin mit den Meinen und meinem Pestalozzi-Fröbel-Lause verwachsen mit tausend Wurzeln und Fäden und gewinne immer mehr Boden für

dieselben Leben Sie wohl, es geht mir besser, weil ich ganz zurückgezogen lebe. An A. Sohr.

Berlin W. 17. Dezember 1882. Das Leben wird hier um so unbequemer, weil man immer vorsichtiger sein muß. Viel tun, seine Sache verstehen, wenig reden und verstehen, nicht alles zu hören, Hilst einen durch Gestern waren mein Mann und ich von V« nach 8 bis nach 10 Ahr bei Kronprinzens. Er kam um 9 Ahr, der liebe herrliche Mensch — er sprach den Wunsch aus, am 22. abends zu der Bescheerung *) mit zu kommen. Teures Fräulein, dieses Fürstenpaar bedarf treuer, stiller Freunde

*) Im Kindergarten des Pestalozzt-Fröbel-Lauses.

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Kapitel 4:

Die Kronprinzessin hat mir Bücher vonMarieRebe geschickt, eines derselben möchte sie besprochen haben: „Kauswirtschast und Kranken­ pflege fürs Volk" Ich habe eine höchst interessante und, wie ich glaube, wissenschaft­ liche Broschüre: „Die Frauenftage im Mittelalter" von Specht, welche zeigt, daß die Sache immer da war, nur gewachsen ist, und „die blaue Blume" der Romantik scheint unsere Bekannte auch mehr vom Kören­ sagen zu kennen, als daß sie sie auf dem Boden gesucht hat, in dem sie wirklich wurzelt Später. Mein Brief ist liegen geblieben gestern, und so will ich Ihnen noch ein Wort über die Feier sagen (für die verstorbene Borste herin des Viktoria-Lyzeums, Miß Archer). Ich war tief ergriffen, obgleich L. nicht „schön" redet und an der Form manches auszusehen war. Daß der Inhalt aber gediegen war, davon liefert die Wirkung den Beweis. Vor dieser Feier waren meine Erinnerungen gemischterNatur; mein Kerz neigte sich ihr zu und fühlte sich doch in der Kingabe gehemmt. L. hat diesen Zustand des Wider­ streites gehoben und mich befreit von dem Mangel des Schönen in meinen Gedanken. Er war ihr gerecht, er erklätte ihre Schwächen aus ihrer Anlage und Entwicklung, und wie sie von ihr selbst dahingesunken sind, als sie die unvollkommene Erde verließ, so sind sie dahin gesunken in der Erinnerung. Frei und schön kann ich ihr „holdseliges" Kerz lieben, ungehemmt kann ich aufschauen zu ihrer „Lichtgestalt", und nichts tut dem eigenen Kerzen wohler, als sich einem andern Kerzen zu ergeben. Noch wurde mir eine schöne Freude zuteil, ich saß bei Frau B. von Stockmar und fand sie wohlaussehend, weich und herzlich An Frau Stadtdirektor Baumgarten.

B erlin W. 1. Februar 1883. Ist es nicht traurig im Leben, daß den reinsten, schönsten Verhält­ nissen ost die Mittel versagen, sie zu pflegen? Wie verstehen wir einander, wie lieb haben wir einander, und wie wenig haben wir voneinander! Ich habe mich so sehr über Ihren Gruß zum neuen Jahr gefreut und erwidere ihn von ganzem Kerzen, und ich wünsche so für uns beide, daß uns das neu begonnene Jahr einander näher führen möge. Auch von Marie Kellner hatte ich einen Brief; aber es kommt mir vor, als träte sie meinen Bestrebungen, meinen Interessen ferner als

Auchüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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früher, und es schien mir so, als ich im letzten Serbste mit ihr zusammen war. Ich hingegen geh« immer mehr in denselben auf. Ich bat meine Schwester Anna, Ihnen etwas zu schicken über einen Teil meiner Tätig­ keit; es war eine Vorlage für die Kommission, welche eingesetzt war, die Tätigkeit der Krankenpflegerinnen zu den Bezirkskomitees des Gesundheitsvereins zu regeln, und da diese Serien wenig von unserer Arbeit wußten, so machte ich die Vorlage. Ich muß noch einiges zur Erklärung hinzufügen. In der Steinmetzstraße 16 ist die zweite Etage ausgebaut und ein­ gerichtet von dazu geschenktem Gelde für sechs Pflegerinnen und deren Vorsteherin, Fräulein Fuhrmann. Letztere ist schon hier und scheint eine trefflich« und tüchtige Persönlichkeit zu sein; nächstenMonat treten zwei Pflegerinnen ein, die in Kiel unter Esmarch ausgebildet sind; zwei hier aus Bethanien und später zwei aus der Charite. Der Äbelstand bei

unserm Unternehmen ist noch, daß kein Sospital eingerichtet ist für einen einjährigen Kursus, und die meisten Krankenpflegerinnen aus un­ gebildeten Kreisen kommen; so streben wir denn nach einer Ausbil­ dungsschule für gebildete Krankenpflegerinnen; jetzt haben wir hie und da Pflegerinnen untergebracht zur Ausbildung, wo die Chefs in Kran­ kenhäusern freundlich mit ihrer Silfe entgegenkommen. Im Komitee für Ferienkolonien habe ich erreicht, daß wir für Mädchen ein stehendes Saus für den Sommer haben inPförten bei Sommerfeld. Dort werden nun von Juni bis Oktober Rekonvaleszente geschickt, es werden Ein­ richtungen getroffen, daß die Mädchen ihren Kräften gemäß arbeiten — ich bin sehr gegen diese gewöhnliche Art der Ferienkolonien, hoffe aber von der neuen Einrichtung großen Segen für Körper und Geist. So arbeite und wirke ich nach verschiedenen Seiten hin, weil ich in diesen Bestrebungen nur verschiedene Zweige eines Stammes sehe: Volkserziehung, Körper- und Geistespflege. Slnfer Kindergarten ist nun zum Pestalozzi-Fröbel-Saus ge­ worden. Nun, meine liebe Minna, habe ich mich Ihnen wieder etwas nahe gebracht, und ich hoffe, ich bin Ihnen nicht fremd geworden mit meinem Wesen. Grüßen Sie Ihren verehrten Mann und Marie Kellner. In unwandelbarer Treue Ihre Sentierte..

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Kapitel 4:

Tagebuch. 1883. 3.April. Wie kindisch war ich noch im höheren reifen Alter; ich glaube, vor fünf oder sechs Jahren, als ich zuerst mit der KronPrinzessin bekannt wurde, wie erwuchsen mir die Schwingen, und wie bauschte meine Seele aus vom Gase des Enthusiasmus. Ich war überrascht von dem Liebreiz ihrer Erscheinung, den ich nicht erwartet hatte, von der Natürlichkeit ihres Wesens, von dem mir zugewendeten Vertrauen. Noch immer steckte in mir ein Stück Pfarrer­ tochter vom Lande, ein Stück von deren Vater, der Fürsten ansah als von Gottesgnaden — und wie unabhängig ich mich auch dem Vater gegenüber gebärdet hatte, wie republikanisch ich geschwatzt — im Blute war mir doch diese Untertanentreue und die Anlage zum Verehren der Fürstlichkeit. Und nun war ich im Fürstenschlofs«, sprach mit einer wirklichen Prinzessin, nachdem mein Sinn so ost in der Kindheit von Königinnen und Prinzen geträumt; nachdem ich einst ganz bitterlich geweint, daß ich keinePrinzessin sei. Ja, ja, es war noch einRest vonKinderträumen und Iugendromantik und Ehrfurcht vor den gekrönten Läuptern in mir, und was so im Blute steckte, das wurde auch durch Philosophie in Gedanken gefaßt: Die Fürsten haben wir uns gewählt als die Repräsentanten unserer Nation, als die Spitzen und Vertreter des Besten, was wir be­ sitzen. Sie müssen mit einem gewissen Schimmer umgeben sein, und vor ihnen ist das Knie zu beugen, wie vor dem Besten, was wir besitzen. And wie sie stehen auf der Köhe und wirken und schaffen mit Gedanken für ihr Volk, so muß der getreue Untertan die Land bieten zur Reali­ sation ihrerPläne für dasWohl desVolkes. Mir wurde diese Land gereicht von oben; ich glaubte mich berufen zu einer großen Mission, ich glaubte, ich würde einst mit Macht begabt, den Fortschritt zu fördern. Dazu kam mein Sinn fürs Schöne, fürs Besondere, für das Exklusive. So las ich wieder Märchen, wie in der Kindheit, meine Phantasie war erfüllt von Königinnen, nur waren Buch und Bilder und Sprache aus anderm Stoff, von anderer Art als dem Märchenbuch der Kindheit. So fühlte ich mich gehoben, fühlte mich als Auserwählte, und mit Enthusiasmus kniete ich vor dem Trone einer liebreizenden Prinzessin voll Bedeutung des Geistes. Jahre sind vergangen, seitdem ich zuerst das Knie vor ihr gebeugt. Soweit mir bekannt, hat sich in der Stellung zu der hohen Frau nichts

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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geändert, weder was Karl noch mich betrifft; wir find ihr nur — so scheint es — vertrauter und lieber geworden. Aber in mir hat fich eine starke Wandlung vollzogen; mein ge­ sunde-, bürgerliches Blut ist frei geworden von Beimischungen derRomantik; Dunst undNebel find gewichen, und mit nüchternem Verstände sehe ichMenschen undVerhältniffe sich entwickeln und bewegen. Am 7. April. Gestern abend war Karl eingeladen zu * * * ,wo er noch andere Lerren traf, welche mit ihm über die Verwendung des Fonds, welcher zu der silbernen Lochzeit gesammelt ist, sprechen wollten, er blieb lange, es war über 1 Ahr, als er kam, noch länger haben wir gesprochen 21. April. Das waren ereignisvolle Tage. Man muß alles lernen, wenigstens ich muß alles lernen: Das Leben in der großen Stadt, das Leben in Vereinen mit seinem Getriebe, das Leben mit fürstlichen Perstnlichkeiten oder vielmehr mit den daraus erwachsenden Verhältnissen zu andern, die nicht leicht zu beherrschen sind; aber ich hoffe, ich bin keine ungelehrige Schülerin und werde den Einfluß, der mir zu werden scheint, nur zum Guten wenden, wenn er fich überhaupt befestigt. Ich baue nicht auf ihn, sondern nur auf meine eigene Leistungsfähigkeit und die Liebe und Lilfe meiner Geliebten, Getreuen Leute ist Fröbels Geburtstag. Ich hatte nicht auf das Datum ge­

achtet, bis ich es über einen Brief an di« Kronprinzessin schrieb, welcher eine Skizze einschloß, die Reformation der weiblichen Erziehung be­ treffend, dieReformation durch die Einführung der Arbeitskunst in die Erziehung zur Ergänzung der Anterrichtskunst und zu harmonischer Wechselwirkung beider; kurz dieReformation der weiblichen Erziehung auf Grundlage des neuen, vonFröbel gegebenenPrinzipes. Dies schrieb ich für die Kronprinzessin, welche mir Zuschriften an sie über weibliche Bildung gegeben hatte zur Beurteilung. Lieber seliger Oheim, welch' schönes Angebinde zu Deinem Geburtstage — wenn die Kronprinzessin Sympathie empfände für meinWort, das ich ihr sandte, und wenn diese Sympathie zu Taten führte, die Du segnetest aus lichten Löhen. Ich glaube, ich bin reif, Macht in die Lände zu bekommen, Einfluß zu gewinnen auf das Erziehungswesen der weiblichen Jugend. Ich glaube, mein ganzes Wesen würde zu neuer, schöner stillen Entfaltung kommen, wenn mir Macht gegeben würde zum Wirken ins Große. Ich würde mit größter Sicherheit mich bewegen, mit friedlicher Ruhe meine Pfade wandeln, ich habe gelernt, über mich weg zu sehen, habe gelernt zu

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Kapitel 4:

hören und zu beobachten und mich für mich selbst zu behalten. Ich glaube, meine Natur ist für Machtstellung angelegt, nicht für eine solche, zu der man auf die Schultern anderer emporsteigt, die man sich mit Äilf« anderer erschwindelt; nein, für den Besitz einer Macht, die aus der eigenen Kraft und dem eigenen, sittlichen Willen erwächst, die man keiner Protektion, keinem Schmeichelwort verdankt; sondern der Tat­ sache, daß die Person oder Verhältnisse, welche uns Macht verleihen, unserer bedürfen. An M. Lyschinska.

Berlin W. ll.Mai 1883. Ich hoffe sehnlichst auf einenBrief von Dir. Ich lese das letzte kleine Büchelchen von Ellice Lopkins*) mit großem Interesse, ja, mit Lerzklopfen; denn immer dachte ich, kommt jetzt, jetzt der rechte Vorschlag? Aber nein, immer Buch, Wort, Belehrung, nur ein kleiner Schim­ mer von dem,wasNot tut zuletzt :,.Asmall hörne for girlsout ofService“. And ich sehe immer Pestalozzi flehend seine Lände falten und rufen: „Gebt dem Kinde Vater- und Muttersinn!" und ich sehe seine inneren Schauungen, wie er weiß, daß es unserer hohenNatur entspricht, daß wir Vater- und Muttersinn geben können ohne physisch Vater und Mutter zu sein. And Fröbel schreitet dann ernst und festen Schrittes daher und weist auf seinen Kindergarten. Last Du je Fröbels Auftuf in 1840 gelesen zur Gründung seines Kindergartens und 1843 seinen Rechenschaftsbericht? Sieh, alles, alles, was unser Pestalozzi-FröbelLaus anstrebt, gibt er in den Grundzügen, nur fehlen ihm die Mittel an Geld und Menschen; er realisierte, was er konnte, und dies Stück­ werk nehmen seineNachfolger für das Ganze I And ist es nicht sonderbar, daß ich das Ganze im Geiste trug und zu schaffen begann, ehe ich Fröbels Programm wirklich kannte? Das ist mir eine neue Geistesvereinigung mit ihm geworden. Liebe M., der erweiterte Kindergarten, wie Fröbel ihn bezeichnet, ist unser PestalozziFröbel-Laus. Du findest denPlan in dem Bande von Fröbels Werken, „Pädagogik des Kindergartens". Wichtiger ist fast noch sein Bericht

von 1843. In dieser Anstalt wird geleistet: *) Eine bekannte englische Frau, Dichterin und Arbeiterin auf sozialem Gebiete in Brighton.

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1. Die körperliche Arbeit. Die Arbeit für andere ist nicht Zeichen der Armut, der Dienstbarkeit und Abhängigkeit, auch nicht ein Mittel zur äußeren Nützlichkeit, sondern wesentliches Erziehungsmittel für Kindheit und Jugend aller Stände, und dadurch nimmt Fröbel der sogenannten niedrigen Arbeit den letztenRest des Sklaventums ... An dieselbe, 22. Mai. Vorgestern habe ich Deinen lieben Brief erhallen. Ich glaube nicht, daß Karl im Juli schon frei ist, wir werden wohl erst im August nach England kommen und gleich an die See gehen, auch soll ich durchaus hier in Deutschland Karlsbader Brunnen trinken. Vielen Dank für Deine Bemühungen, es ist wohl besser, wir gehen zuerst in ein Kotel. Weißt Du, ich bin die vornehmen Leute müde, ich halte nichts mehr von großen Namen, oder ist das in London anders? Ich möchte am liebsten mit einfachen, ernsten Leuten zu tun haben. Ich kann mich so gar nicht protegieren lassen, kann gar nicht schmeicheln; würde es Dir leid tun, wenn ich keine Empfehlungen von der Kronprinzesfin hätte? Ich sagte ihr, daß ich zu müde sei, um Leute in London zu sehen und gleich an die See gehen würde, und so hat sie nur meinem Manne Empfehlungen gegeben; aber sie wünschte dringend, mein Mann möchte im Juli nach London gehen. Ich finde es eine entsetzliche Sitte bei Euch, daß di« Leute die Fremden besuchen, man ist ja dadurch ganz unfrei. Ich fürchte, ich mache Dir nicht viel Freude in England, liebeM., wirst Du nicht enttäuscht sein, wenn keine Equipagen der vor­ nehmen Leute für mich kommen? Ich glaube, ich bin viel hochmütiger geworden als früher, weil ich viel klarer sehe; ich gehe ungern um mit Leuten, die mich nicht als ihres Gleichen ansehen, und ich möchte wirklich nichts mit Euren vornehmen Leuten zu tun haben .... Nun, wir sehen uns im August, dann find wir still zusammen an einem altmodischen Orte, dann leben wir drei, mein Mann, Du und ich zusammen. Du gibst uns englische Stunde, und wir bereiten uns auf London vor.

Deine

&>. S.

An Frau Direktor Luise Jessen. London W. 23. Juli 1883. Chichester Street Upper Westboume Terrace.

Meine liebe Frau Jessen I Mit rechter Sehnsucht sehe ich einem Briefe von Ihnen entgegen. Möchten Sie mir so gute Nachrichten geben, als wir von uns geben

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Kapitel 4:

können. Ich glaube, nichts auf der Welt könnte mir so gut tun, wie das Leben hier; ich habe mich seit Jahren nicht so wohl gefühlt und genieße alles, was uns hier geboten wird mit vollen Zügen. Dabei ist unser Leben hier durchaus behaglich; trotz vielem, was wir hören und sehen, gibt es Zeit zur Sammlung undRuhe.Nicht dasNichtstun ist es, was erfrischt, sondern das Andere, was man tut.

Wir sehen meist Leute jetzt, die bald abreisen, und die uns viele Freundlichkeit erweisen und Empfehlungen jeder Art verschaffen. In acht Tagen wird London leer sein von diesen Freunden unsererseits, dann werden wir Anstalten besuchen, die nicht Ferien haben, werden fleißig die englische Sprache und Schriften studieren über Dinge, die uns interessieren, und im September oder Oktober besuchen wir Schulen. Wir haben so viel Stoff, daß wir denken, die ganze Zeit in London zu bleiben, um uns nicht zu zersplittern; indeß wissen wir es noch nicht. Wir wohnen hier ruhig und sehr angenehm; die Lust in der Nähe von Regent'S Park ist sehr gut, und Spaziergänge in diesen herrlichen Schöpfungen versetzen uns in den Frieden und die Stille, wie sie das Landleben bietet; für mich haben diese Parks einen unbeschreiblichen Zauber, sowie andererseits die Großartigkeit des Lebens und Treibens der City. And zwischen all dem Neuen und Fremden tauchen soviel« liebe bekannte Gesichter auf, eine ganze Anzahl früherer Schülerinnen versammeln sich um uns, dazu ist meine Schwester Anna hier, Lerr von Bunsen traf mit uns zusammen, Fräulein von Perpigna besuchte uns usw. Diese Verschmelzung von Altem undNeuem verleiht dem Aufent­ halt einen seltenen Zauber. Liebe, schöne Erinnerungen wurden auf­ gefrischt, neue Bande werden angeknüpft, und durch alles zieht sich der köstliche Lauch geistiger und körperlicher Erfrischung. Aber wie Altes und Neues meine Seele hinnimmt und beschäftigt, so verschmilzt auch Nahes und Fernes, und ich denke viel an Sie, an Ihr Laus und an unsere gemeinsame Arbeit .... Bitte lassen Sie sich alles sagen, auch über die Angezogenheiten der Kinder, und ob esWaisenkinder sind.

Laben Sie von Octavia Lill gehört und von ihrem herrlichen Werke? Freitag werde ich sie kennen lernen. Jetzt lese ich viel über

Indien; Miß Bishop's Kusine, Miß Manning, ist Schriftführerin der Gesellschaft für weibliche Erziehung in Indien. „Der Frauen Zustand ist beklagenswert", die Gesellschaft beschäftigt sich im Augenblicke mit Aussendung von Krankenpflegerinnen und weiblichen Ärzten für

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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indische Frauen, deren Männer nur für die Söhne Ärzte bezahlen; aber nicht fiir Frauen undMädchen. Leute besuche ich eine Anstalt, „Boys Lome" genannt, und um 10 Ahr abends gehen wir in eine Gesellschaft; bisher waren wir nur einmal spät aus, sonst immer zu Lunch oder Diner oder zum ersten Frühstück t/210 Ahr des morgens; letzteres ist die Mode in der diplo­ matischen Welt. Diese Art der Zusammenkünfte ist höchst angenehm, nicht anstrengend und höchst gemütlich. Wir grüßen beide herzlich. L. S. An Frau Direktor Jessen.

London W. 31. Juli 1883.

Meine liebe Freundin I Sie erlauben mir wohl. Sie so zu nennen, denn dasWort floß mir nämlich unlvillkürlich aus der Feder, und ich fühle mich, trotz unserer kurzen Bekanntschaft, so zu Ihnen hingezogen und hoffe, daß auch Sie mich lieb haben und mir trauen, und daß wir miteinander arbeiten werden. Wie freue ich mich für Sie, daß Ihnen neue Freuden bevorstehen, und ich hoffe und wünsche, daß die Sorgen, welche damit verbunden find, nur kleine sein mögen im Vergleich zu dem Glücke, das Ihrer lieben Tochter und Ihrer wartet. Freilich werden Sie nun mehr abgezogen werden von unserer gemeinsamen Arbeit; aber es wäre ganz unnatürlich von mir, wollte ich das beklagen unter diesen Amständen. So nehmen Sie meine innigsten Glückwünsche und seien Sie meiner herzlichsten Teil­ nahme gewiß. Freilich ist es schlimm (für die Arbeit im häuslichen Gesundheits -verein und bei den Ferienkolonien), daß ich auch so lange abwesend sein werde von der Arbeit, und ich muß wünschen, daß es recht lange sein werde, denn der Stoff, der fich mir bietet, ist so überreich, und ich kann unendlich viel Nutzen daraus ziehen für meine Arbeit zu Lause. Nicht im Kopieren von Dingen, die ich hier sehe; aber im Verarbeiten derselben zum geistigen Extrakt, der das allgemein Menschliche enthält, welches für alleNationen paßt. Löchst interessant ist es mir, zufällig zu den hiesigen Ferienkolonien gekommen zu sein. Bei Oetavia Lill traf ich eine Dame*), welche viel *) Miß Margaret Tillard.

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Kapitel 4:

mit Ferienkolonien zu tun hat, und bei ihr war ich heute zum Tee. Lier haben einzelne Persönlichkeiten angefangen, Kinder aufs Land zu schicken, jetzt fühlen sie das Bedürfnis, sich untereinander in Verbindung zu setzen, und im Lerbst ist bei der erwähnten Dame ein Meeting, um ein Komitee für Ferienkolonien zu gründen; wir sind dazu eingeladen, und ich bin aufgefordert „toread a paper“ bei der Gelegenheit. Diese Aufforderung ist mir höchst wichtig, weil sie mir Gelegenheit gibt, man­ ches zu sagen. In Girton College, der englischen Frauenuniversität, war es höchst interessant, wir wurden so zuvorkommend empfangen und bekamen die eingehendste Auskunft über alles — und diese Schöpfung ist so eigen­ artig englisch, daß eine solche Anstalt in Deutschland gar nicht existieren könnte, so oft man auch schon den Wunsch aussprach. Gleiches zu grün­ den. Cambridge, zu welcher Universität Girton College gehört, ist aber eine Art, die mich geradezu bezaubert hat, diese Großartigkeit in alter­ tümlichen Bauwerken gepaart mit gleicher Großartigkeit der Anlagen in der Natur habe ich nie zuvor gesehen; die ganze Vornehmheit der englischen Nation tritt uns in Cambridge entgegen. Ich suchte mir auch Eingang in die Küche eines College zu verschaffen und habe da Ein­ richtungen gesehen, die ganz der Großartigkeit der Gebäude undNatur entsprechen. Tags darauf war ich in einer Infant school in Stepney, London unter der Londoner School Board; im einzelnen erzähle ich Ihnen später von allem. Aber der Kontrast zwischen den Einrichtungen für körperliche Entwicklung der students of Cambridge Colleges und die für die arbeitende Bevölkerung bis zum 7. Jahre war frappant. Die armen Kleinen haben nicht ein Fleckchen Erde, wo sie graben könnten, keinen Laufen Sand, wo sie gestalten könnten, der Los, wie das Gebäude, alles alles grau, kalt, hart wie Stein, ja nur Stein. Später. Ich komme wenig zum Schreiben und will diese Zeilen nur schließen, da wir morgen nach Frogmore*) gehen. Die Kronprinzes­ sin hat uns die Erlaubnis vermittelt, das Mausoleum dort zu besuchen, wo meines seligen Bruders Engel stehen. Ich fürchte mich vor dem Tage, und doch zieht es mich dahin.Mit Ihren Ideen über Ferienkolonien bin ich ganz einverstanden, bitte schreiben Sie mir nur alles, auch das Un--

*) Begräbnisstätte S. K. L. d. Prinz Gemahls Albert, angrenzend an Windsor Park.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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angenehme, und wenn ich von hier helfen kann, so sagen Sie es mir nur. Ich hoffe, wenn auch nicht bald, doch später recht gestärkt zurückzu­ kommen und heiterer und widerstandsfähiger gegen alle diese Kleinigleiten, die mich oft weit mehr als nötig, irritierten. London ist ein Ort, wo der Blick sich erweitert, die Seele gekräftigt wird für gute Werke und Arbeit an der Kultur der menschlichen Ge­ sellschaft, hier ist viel gesunde Energie und jene Rücksichtslosigkeit, Kleinigkeiten gegenüber, ohne welche man nicht weiter kommt in der Welt. Ich hoffe recht davon zu profitieren. Mit herzlichen Grüßen, auch an Frau Leo, wenn Sie sie sehen. Ihre getreue

, 30. c.

An Frau Direktor Jessen.

London W. August 1883. Ich freue mich immer so sehr, wenn Sie mir einen Einblick gestatten in Ihr eigenes und häusliches Leben. Sie wissen, wie warm es mein Äerz berührt, und wie glücklich es mich macht, in Ihnen eine Frau ge­ funden zu haben, welche so ganz den Kern des Lebens erfaßt hat und festhält und pflegt, aus dem sich das soziale Leben erneuern muß — die edle, deutsche Familie — und die doch der zweiten Anforderung gerecht wird, die Wechselwirkung zwischen Familie und sozialem Leben lebendig zu erhalten und in derselben tätig zu sein versteht. Es ist dies eben eine neue Seite der modernen Zeit, daß die Familie einerseits kernfest in sich, und doch andererseits nicht mehr so abgeschlossen in sich darstehen dürfe, als sie früher sein konnte. Ja, ich glaube, daß gerade wir deutschen Frauen in dieser Be­ ziehung eine große Mission zu erfüllen haben, und sie erfüllen werden. Doch davon ein andermal. Mein Mann wird, wenn es irgend möglich ist, Sie besuchen*) und Ihnen manches näher erklären, was ich hier nur andeuten kann. Wie ich wohl gesagt habe, finde ich nichts glücklicher, als wenn wir von Zeit zu Zeit einmal unsere 3öeimat verlassen, uns einmal frei von täglichen Pflichten und Verantwortungen in dem fremden Lande bewegen; es ruht einesteils aus, und es klärt andernteils das Auge für die Verhält*) Durch plötzliche Einberufung des Reichstages mußte K. Schrader von England nach Berlin auf einige Tage reisen.

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nisse in der Leimat, und ich suhle täglich mehr, wie sich dieser Prozeß in mir vollzieht, und somit mein Aufenthall ein recht segensreicher für mich wird, wie ich hoffe. Mehr als je wird mir aber klar, welch« große Bedeutung Fröbel, auf Pestalozzi und Amos Comenius ruhend, in der nächsten Zukunst gewinnen wird, nicht nur für Anterricht und Erziehung der Kinder, sondern vor allem für die Bildung der weiblichen Jugend, wenn eben die Ideen dieses Dreigestirns zusammen verwoben und praktisch aus­ geführt werden. Amos Comenius und Pestalozzi beide in ganz ver­ schiedener Weise haben schon bestimmt auf die wahre Emanzipation der Frauen hingewiesen, und Fröbel hat den Anfang gemacht, die Sache praktisch ins Werk zu sehen, indem er die erste Erzieherinnenschule gründete, die wir überhaupt besitzen. Wir haben Lehrerinnenbildungs­ anstalten; aber wir hatten, bis Fröbel kam, kein« Erzieherinnenschulen. Wie Fröbels ganze Idee so unvollkommen von ihm selbst zum Aus­ druck gekommen ist, ja, ich möchte sagen, wie sie nicht über den Embryo hinaus kam — so war auch seine Kindergärtnerinnen-Bildungsanstalt nicht anders. Ich war seine Schülerin und kann es beurteilen — und seine Nachfolger bildeten sie nicht dem eigentlichen Grundgedanken nach aus, sondern machten daraus eine Lehrerinnenbildungsanstalt dritten, vierten Grades; sowie sie den Kindergarten zur Schule machten, wäh­ rend Luise Fröbel nicht in letzteren Fehler verfiel; leider war sie nicht kräftig genug im Geiste, um ihre Praxis theoretisch zu vertreten. Es ist mir hier so ganz klar geworden, welche große, wichtige Arbeit es ist, die von den großen Männern geahnt« und geplante Frauen­

bildung immer mehr praktisch zu machen. Wir haben die Anfänge dazu in der Steinmetzstraße; aber nur die Anfänge, und ich habe mich entschloffen, meine Kraft auf diese Anstall zu konzentrieren: Die Frau zu erziehen zur geistigen Mütterlichkeit — zur Mutter im sozialen Leben, so gut wie früher das eigene Laus. Ihre Stellung wird je nach Alter, Gaben, Stand und Verhältnissen eine verschiedene sein; aber sie muß nach und nach — und das werde ich nicht mehr erleben — gerade in der Gemeinde eine ganz andere Wirksamkeit entfalten, teils steiwillig, teils als besoldete Beamtin. Auch im Verein für häusliche Gesundheitspflege liegen wichtige Keime für die Entwicklung der wahren Frauenemanzipation, und da­ rum will ich die Fühlung mit ihm nicht verlieren; aber ich werde keine leitende Stellung mehr in ihm einnehmen. Dies vertraue ich Ihnen an.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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weil ich es Ihnen schuldig bin zu sagen, da Sie gewissermaßen auf meine wesentlich« 55tlfe nach meiner Rückkehr rechnen. Ich werde aus keinem Komitee austreten, denn man kann nicht wissen, wie Personen und Verhältnisse wechseln, und ob es nicht vielleicht einmal für meine spezielle Arbeit in der Steinmetzstraße gut ist, die Verbindung nicht ab» zubrechen. Oder vielleicht könnte noch einmal meine Person wichtig sein für den Gesundheitsverein und seine verschiedenen Zweige, ohn« daß ich soviel Detailarbeit hineinsetze, wie bisher — kurz, ich bleib« darin; aber, da ich vorerst nach meinerRückkehr wenig oder gar nichts leisten werde, so muß ich Ihnen dieses ehrlich sagen. Wenn ich obiges ausspreche, so meine ich nicht, daß ich Ihnen nicht helfen will mitRat und Tat; aber ich kann nicht wieder die Initiative ergreifen. Sie verstehen mich — ich verliere gar nicht das Interesse an der Sache, ich bin immer für Sie privatim, und wenn es nötig ist, in der Sitzung zu haben; aber ich setze nicht mehr so mein ganzes Lerz ein, den Dingen eine Richtung zu geben, welche ich für die rechte halte. Ich finde z. B. diese Ferienkolonien usw. noch so furchtbar äußerlich, ich fühle so klar, wie großes mit der Zeit geleistet werden könnte im Ge­ sundheitsverein und gewiß auch geleistet wird; aber für den Augenblick sind verschiedene Elemente, die in Schranken zu halten und zu bekämp­ fen, um dem Tieferen die Bahn offen zu halten, so viel Kraft meinerseits erfordert hat, daß ich mich aufrieb, oder sie dem Werke entzog, das doch mein erstgeborenes, mein eigentliches Kind ist An eine ungenannte Freundin in Berlin.

London W. 14. August 1883. Leute haben wir einen interessanten Morgen gehabt, wir waren in einer Sitzung eines Lokalkomitees für Armenpflege, von einem weib­ lichen Mitgliede, Miß Tillard, eingeführt. Lausbesitzer und Lausbefitzerinnen wählen „guardians of the Poor“ (Armenvormünder), und unter diesen find auch Frauen; Frauen wählen, also können sie auch gewählt werden, sie haben keine höhere Instanz über sich, wie die Armen­ vorsteher in Berlin, sondern sie bilden die Armenverwaltung. Seit längerer Zeit hat sich ein großer Teil der Privatvereine und Privat­ wohltätigkeit mit der öffentlichen Armenpflege vereinigt, und jeden Dienstag von 11 bis 2 Uhr ist eine solche Sitzung. Dieses vereinigte Komitee existiert in jedem Bezirk von London, also öffentliche Armenpfleger- oder -Pflegerinnen treffen sich da in

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einem Lause mit Bevollmächtigten der Privatvereine, ein Herr und eine Dame, welche abwechselnd als Ehrensekretärin den Dienst ver­ sehen und den Vorsitz führen. Das System, wie Arme sich melden, ist fast ganz wie bei uns im Gesundheitsvereine, nur werden die Nachforschungen viel eingehender gemacht, die Entscheidung hängt nicht von einerPerson ab — darüber später. Wir saßen von 11 bis 2 Ahr; der Ferien wegen waren wenig Leute da: Vorsitzender, ein aus Indien zurückgekehrter General, eine herrliche Erscheinung, zwei Prediger, ein Armenvormund und eine Ehrensekre tärin — wie einfach, wie gemütlich und wie würdig verlief die Sache. Es war keineRede der Bevormundung der Frauen, es wurde eine An­ zahl Fälle besprochen, unter denen manches interessant war; z.B. wenn die armen Leute an einer Stelle Londons keine Arbeit finden, so wird dafür gesorgt, daß sie in einen andern Bezirk ziehen; eine große Rolle wird der armen Frau gegeben, die sie nach und nach abbezahlen muß, aber sie bekommt dieRolle nur unter der Bedingung, daß sie dahin zieht wo Mangel an einerRolle ist, damit sie ihren Nachbarinnen nicht etwa das Brot nimmt. Die Bezirkskomitees stehen alle miteinander in Ver­ bindung, so daß die „rollende Familie" dem Komitee der Gegend, wo sie hinzieht, unterstellt wird, um zu wissen, wie es ihnen geht. Unser Komitee steht auch mit Personen und Komitees in Verbindung, welche Ferienkolonien, Nekonvaleszentenheime haben; überhaupt hat unser Komitee eigentlich nur die Vernlittlung übernommen mit den ver­ schiedensten Wohlfahrtseinrichtungen in den verschiedensten Bezirken Londons. Mit den viel größeren Rechten, welche man hier den Frauen ein­ räumt, fühlen sie auch viel größere Verpflichtungen, und England besitzt einen großen Schatz in einer verhältnismäßig großen Anzahl reicher oder wohlhabender, unverheirateter Frauen, die eine schöne, unabhängige Position haben, und die ihre Zeit und Kraft guten Werken leihen. Es spielte heute in der Sitzung niemand „eineRolle", es war kein Schwatzen und Schreien durcheinander; aber auch keine steife parla^ mentarische Ordnung; die Leute wenden ihre gesellschaftliche Bildung auch im Vereine an, jeder läßt den andern ausreden und ist stille, wenn ein anderer spricht. „Time is money", sie schweifen nicht ab; wirklich diese einfache Weise, die Dinge zu behandeln, gefällt mir so. Auch sprechen die Männer und Frauen über Dinge, die sich nicht umgehen

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ließen und nicht gerade angenehm waren, aber so einfach und natürlich. Wirklich, diese gänzliche Angebundenheit und doch vollständige Ruhe und Ordnung, die nicht auf äußerenRegeln, sondern auf sehr stark ent­ wickeltem Anstandsgefühl ruhte, imponiert mir sehr. Verschiedene Personen mit Anliegen waren vorgefordert, um vor dem Komitee vernommen zu werden, und die Art und Weise, wie der General aus Indien mit ihnen sprach, war ausgezeichnet. Ein junger Mann, der mit 20 Jahren geheiratet und dessen Frau zwei Kinder in die Ehe gebracht (ich glaube von ihm) hatte, bekam eine kräftigePredigt, so kürz, so passend, und man sah, sie machte Eindruck. Eine Frau, die mit ihren Kindern nach Amerika auswandern wollte und Kilfe brauchte, bestand ein sehr geschicktes Verhör. Sie lassen aber keine Frau stehen, ob sie in Lumpen kommt oder nicht; der Vorsitzende bietet ihr einen Stuhl an. Eine Mutter kam mit ihrem kleinen Mädchen, sich für die Ferien­ kolonie zu bedanken: „Nun Kleine", sagte die Sekretärin, „nun spare jeden Pfennig, daß Du das Reisegeld für nächstes Jahr zusammen­ bringst, denn Du möchtest doch wieder fort, nicht wahr?" Das Kind lachte mit dem ganzen Gesicht und nickte usw.

Kenriette Schrader an ihren Mann. London W. 27. August 1883. Abends nachDeiner Abreise. Ja, das Zuhausekommen, wenn der Geliebte fehlt, ist schwer; es ist alles öde und still, und ich fürchtete, die Tür nach Deiner Stube aufzumachen . . . Du sitzt nun mit Deinem Matrosenkamerad auf der Eisenbahn, und wenn ich mich zu Bett lege, steigst Du auf das Schiff, und wenn ich schlafe, schwankst Du auf dem gräßlichen Meere, und erst Donnerstag kannst Du meinen Brief haben nun, ich hoffe mit glücklicher Zuversicht, Dich bald wieder zu haben und dann, dann ist alles vergessen, und wir werden die schönste Zeit unseres Aufenthaltes hier noch erleben. Gute Nacht, es ist jetzt halb 11 Ahr, undMary sagt. Du seiest schon zwanzig Minuten auf dem Schiffe. 28. Ich bin hinüber geschlüpft früh morgens, um meine Schreiberei zu holen und Dir einen guten Morgen zu sagen. Ich schlief unruhig, dann träumte ich, daß ich imReichstage war, wo Bismarck eine donnerndeRede hielt und Euch alle in den Staub warf, und daß Du ihm einen Brief schriebest, worin Du Abbitte tatest. Dieser Brief machte auch die Runde imReichstage und kam in meine Land — ich war so wütend, Lvlchinika, Henriette Schrader n.

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Kapitel 4:

daß ich glaubte zu schreien und erwachte, und dann schlug unsere alt­ modische Ahr mit ihren Schnörkeleien beim Schlagen sieben, und ich

fühlte mich erleichtert und froh, daß Du kein Schmeichler, keinBedienter

wärest, der seine Seele nie in Larven stecken wird, den letzten Rest von Sklaventracht. And ich bin ordentlich froh und glaube, daß Du glücklich gelandet bist und bald in Berlin sein wirst. And bald bist Du wieder bei

mir in dem alten, grünen England und in unserm lieben, stillen, pruddeligen Lodings, wo es doch so lieb ist. Es ist doch so schön mit dem Liebsten,

was man besitzt, fortzufliegen und sich in der Fremde in ein Rest zu setzen. Ich liebe dasReisen jetzt so sehr, und es gab eine Zeit, wo ich es haßte. And ich denke. Du fährst so im heiteren, stillen Sinnen und

bewegst Deinen Kopf hin und her mit „Km—hm" oder „so ist es". Du

hast doch mehr Freudigkeit am Wirken, als Du denkst, und wenn nicht, so küsse ich Deine Seele warm, warm für das Leben!

Ja, Karl, wie verschieden sind wir doch — Du hättest an Indiffe-

rentismus zugrunde gehen, ich hätte mich vernichten können in Erregung.

Ich habe wieder so viel Vertrauen, daß wir einander ausgleichen, und

daß die Wärme unserer Liebe den Verschmelzungsprozeß vollziehen wird. Ich habe wieder Glauben, und ohne Glauben kann ich nicht

existieren. Ich sehne mich immer nach einer Kirche, und ich muß sie finden, ich bedarf ihrer; ach, Karl, würdest Du wohl einmal mit mir ver­

suchen, in die Kirche zu gehen? Denke Dir, was ich nicht mit Dir teilen kann, verliert zum Teil seine Schönheit für mich. Ich war so schrecklich traurig, daß Du nicht mit bei Spurgeon wärest 1 Ob Du auch wohl alle Deine Sachen hast: Fahrkarte,Regenschirin

und Buch? Mary war sehr niedlich gestern, als Du fort wärest, gerade

wie sie als Kind war, sie fühlt sich, glaube ich, für mich verantwortlich,

sie sorgt, daß mein Fuß nicht an einen Stein stoße 1 Wie reich bin ich doch, wie gut geht es mir, und ich freue mich so auf die zweite Kälfte

unseres Kierseins. Weißt Du, daß ich nie in der Jugend eigentlich Lebensfreude,

eigentliches Lebensgefühl hatte; ich konnte sehr genießen, mich an et­ was freuen, es mußte etwas Bestimmtes sein, um das Gefühl der Freude

hervorzurufen. Jetzt habe ich so oft das Gefühl des Lebens an und für sich, ich fasse und empfinde das Leben an sich als ein Gut — ich kann

ein Tier, eine Pflanze begreifen, aber mein Lebensgefühl ist schön, ist menschlich. And wann steigt es in mir auf?Wenn ich mich eins fühle mit

Dir.

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Sieh, dies Lebensgefühl, sich mit allem eins zu fühlen, ist das Para­ dies der Kindheit, und ich möchte es ihr erhalten lange, lange, und darum bin ich so gegen das frühe Bewußtwerden der Umgebung. Aber Du hattest gewiß recht von Deinem Standpuntte — die Kinder gewisser Klaffen sind nicht im Paradiese, sie sind schon hinausgetrieben, sie ge­ nießen nicht dieGesundheit der Kindheit, und da ist doch Deine Idee das richtige, nur vergiß nicht zu sagen weshalb. Last Du je einen Zusammenhang DeinerNatur mit derNatur ge­ fühlt? Ich habe es ost empfunden; ja, es war so stark in mir als junges Mädchen, daß ich auch den Zusammenhang mit der Erde empfand, wenn ich im Grase unter Bäumen lag — ich ging unter, ich wußte nicht mehr, wo die Grenze war zwischen mir und derErde und allem, was sie hervorgebracht. Dann fühlte ich in meinem Lerzen ihre Schöpferkraft pulsieren und den Geist Gottes in allem und in mir selbst, und wenn ich erwachte aus diesem Traume, wenn sich die Bande wieder loslösten, die der Erdgeist um meinen Leib und meine Seele schlug, wenn ich meinen Atem fühlte, den das leiseRauschen der Bäume aufgesogen hatte; wenn ich wieder fühlte, daß mein Laar und das Gras, auf dem es ruhte, nicht ein und dasselbe war, dann sprang ich wohl auf, umarmte den Baum, der seine Zweige über mich hielt und Tränen entströmten meinem Auge — sieh, Karl, diesen Pantheismus erlebte ich, ohne eine Ahnung zu haben, daß es eine große Gefühls- und Gedankenströmung gab in der Welt, in den Lerzen und Köpfen der Menschen, die zusammengefaßt, den Namen wagen. Darum versteh« ich Goethe in seinen Worten zu Gretchen, darum verstehe ich so, was Goethe glaubte; ja, wirklich, wenn einer die Weltseele empfunden hat, so war ich es, wenn ich den Baum an mein Lerz drückte bis zum Schmerze. Was liebte ich da — die Seele Gottes, die emporstieg in ihm, und die ihn steigen machte in meiner Seele, und meine Seele suchte Verschmelzung mit der göttlichen Seele. Denke Dir mich als junges Mädchen mit der glühenden Sehnsucht im Lerzen, mit diesem mächtigenNaturgefithl, mit diesem heißen Drange zu lieben — was wäre aus mir geworden, hätte ich nicht meine Mutter gehabt, meine stille treue, herrliche Mutter, die mich zwar nicht zu leiten verstand, die aber doch ein Leitstern für mich wurde, weil ich sie lieben und verehren konnte, und so liebte ich sie mit aller Leidenschaft meiner jungen , noch so bewegten Seele voll Unruhe und Widersprüche. Du haft mich ost genug eine Dichternatur genannt, ich habe etwas davon; aber nicht genug, um Dichterin zu sein; denn von früh an stand ein 16*

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Kapitel 4:

anderes in meiner Natur auf die Frage nach dem „Warum", und nur einem Goethe ward es gegeben, daß Grübeln dem Dichten keinen Eintrag tat, und das Dichten nicht die Schärfe und die Konsequenz des Denkens störte. Es kam eine Zeit, wo ich ein Wesen war, so ganz „von des GedankensBlässe angekränkelt", und Bücher konnten mir gar nicht helfen, nur Menschen, und von Menschen wärest Du der erste, der wirklich in der Gedankenwelt Gewalt über mich hatte. Meiner Mutter Einfluß auf mich hat nie aufgehört, aber ich war immer die Selbständigere, oder wie ich es sagen soll; ich habe andere Menschen geliebt, meine SchwesterMarie, ach, wie geliebt; glaubte auch einenMann zu lieben, usw. Aber mit niemanden habe ich es ausgehalten, niemand mit mir, d. h. ich suchte, was ich nicht fand, und ich sehnte mich so zu finden. Ich lernte nur vom Leben und vonMenschen und forderte, verlangte viel vom Leben, von denMenschen. Die Arbeit unter ihnen wurde mein Buch, bis Du kämest; endlich, endlich kämest Du — o Karl, kannst Du wohl meiner Seele nachfühlen? And kannst Du begreifen, daß sie noch so jung, so unvollendet ist? And willst, willst Du ihr helfen zur höheren Vollendung? 29. August. Winchester, Royal-Lotel. Da sitze ich nun auf dem erhöhten Sitz im Erker, zu dem man aus unserm Schlafzimmer durch einige Stufen hinauffteigt, drei große Fenster geben uns einen Weitblick über die Dächer von Winchester auf St. Giles Lüget, wo in alten Zeiten der größte Markt Englands war, zu dem die Handelnden von Genua, Antwerpen, Lüttich usw. kamen. Er stellt jetzt denPark von Winchester dar mit einem großenRosenplatz und Schaukeln fiu Nun weiß ich, daß Du glücklich in Berlin ankamest, das erste Ziel meiner Frage Sehnsucht, nun kommt das zweite: Wann kommst Du wieder?Wie sieht es mit derPolitik, mit demReichstage aus? Ja, hier hört und erfährt man nichts, und die deutschen Zeitungen habe ich nicht, sie helfen mir auch nicht viel, sie sind zu alt, wenn sie hier ankommen. Zch muß mich in Geduld fassen. Nach dem Frühstück. Wir haben ein kleines Gespräch mit der Wirtin gehabt, sie fragte, ob ich zufrieden sei; eine würdige Matrone, einfach bürgerlich, aber gebildet. Es heimelt einen so an, daß die Wirtin fich selbst um die Gäste bekümmert; die Frau scheint reich, der ganze Zu­ schnitt des Hotels macht den Eindruck eines wohlgeleiteten Privathauses; Diener und Mädchen scheinen direkt unter der Herrin zu stehen; alles ist

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sauber, ruhig und durchaus wohl geleitet — wie angenehm ist das — wie scheußlich dagegen sind Aktienhotels. Mein lieber Karl, seitdem ich Deine Depeschen, Briefe und Karte habe, ist eine Ruhe über mich gekommen, die mich meine Reise so recht genießen läßt, und es entzückt mich, was ich genieße, und dabei die guten Bücher, die uns unterrichten und Mary, die heute aufgelebt ist, inter­ essiert sich für alles und sie ist selbst so gut unterrichtet.

Es ist doch schön, so viel Geld zu haben, daß man reisen kann — ich reise jetzt so gerne, aber ich muß über Mary lachen, sie will alles hübsch und gut haben, und wenn ich sage, „Mary, das könnten wir billiger einrichten", dann sagt sie: „Dein Mann würde das gar nicht wollen, er hat mich zum Schatzmeister gemacht, und ich weiß, wie er das will, und so bekümmere Dich um nichts und mache Gebrauch von mir und genieße alles, ohne Dir Sorge zu machen !"Nun, ich will es auch, es ist so schön, das Leben zu genießen, und wenn Du erst sicher wieder hier bist, dann wird meine Freude vollkommen sein I

Sage dem Mädchen, sie soll noch meinen Muff und meinen Sammethut mit Dir schicken Später. Dank, tausend Dank für Deinen guten Morgen vom festen Lande, nun will ich auch ruhig und still sein, ich hatte Dein Tele­ gramm um 9 Ahr. Ich denke nur an Dich und an meinen Vortrag.

Das Leben und die Arbeit sind meine Schule gewesen, und Du wärest meine Erlösung, und Dir und dem Leben will ich dienen.

Ich bin wirklich ganz Weib, und es gibt nach einer Seite eine Unterordnung des Weibes unter den Mann, sie muß da sein, aber in aller Würde. Ich werde noch den richtigen Ausdruck dafür finden. Das Weib ist das Nachschaffende, sieh, ich bin es in den Ideen von Pestalozzi und Fröbel; die Frau ist nicht wie der Mann schöpferisch, sondern wie die Frau schöpferisch Ist es etwa keine Schöpfung dem Lebenskeime Form und Gestalt zu geben? Wenn die Menschen nur begriffen, daß im Geiste die Gesetze sich ähnlich vollziehen, wie im Körper, dann würden sie die Bedeutung der Ehe besser begreifen, die Ehe des männlichen und weiblichen Geistes in der Gesellschaft, und die Notwendigkeit der Verschiedenartigkeit und der Gleichwertigkeit der Aufgaben; wenn nur gewisse Dinge erlöst würden vom Banne undFluche der Niedrigkeit in der Anschauung dev Menschen. Ich will Dir etwas von meinem Vortrage schreiben:

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Kapitel 4:

Wer sind unsere Armen und Bedürftigen? Alle die, denen die wesentlichen Güter des Lebens mangeln, und die sie sich nicht aus eigenen Mitteln verschaffen können. And was sind die wesentlichen Güter des Lebens? Alles, was zur Gesundheit des Leibes und des Geistes und der harmonischen Verschmelzung beider notwendig ist. And was ist denn notwendig? Ein gesunderWohnort, gesundeNahrung und Kleidung und die rechten Bildungsmittel für dasLerz, den Willen, den Verstand. Wenn dem so ist, so haben wir viele Arme und Bedürftige unter uns, so waren, so sind wir alle oft arm und bedürftig. And was ist der Grund unserer Armut und Bedürftigkeit unter unS, die bei dem einem hier, bei dem andern dort sich zeigt, oder verborgen liegt? Läufiger Verschwendung und Nichtachtung dessen, was uns gegeben wird, als ursprünglicher Mangel, ursprüngliche Entblößung. O es gibt keine be­ sondere Kaste der Armen und Bedürftigen, wir gehören alle zu ihnen, es sind nur verschiedene Grade, Färbungen und Zweige der Armut und Bedürftigkeit, der eine fleht um Brot, der andere um Verständnis und Liebe. Dem einen fehlt Genußfähigkeit mitten im Luxus, dem andern fehlt nur das äußere Mittel, um in Freuden aufzujauchzen. Ein bunter Flicken, den der Reichen gelangweiltes Kind verächtlich fortwirst, greift das arme, nackte kleine Wesen auf der Sttaße gierig auf, verbirgt sich mit ihm in dem feuchten Winkel seiner vielleicht ekeln Wohnung und summt in stiller Glückseligkeit sein Wiegenlied der Puppe, zu der es den bunten Lappen gestaltet — arm oder reich, wo ist die Grenze ? Es gibt keine, wir gehören alle zu den Bedürftigen, so oder so, oder waren doch zu irgend einer Zeit einmal arm und bedürftig. And nur wenn wir dies fühlen, wenn wir nicht vergessen und stets im Bewußtsein behalten, daß wir einmal alle des Wohltuns anderer bedürftig waren, wenn wir die Zugehörigkeit zu den Armen fühlen, lebendig fühlen, nur dann können wir wirklich wohltun. Ist es denn so­ viel erniedrigender, für Brot des Leibes zu danken als für Brot der Seele? Sind wir nicht alle einander viel schuldig, steifen wir uns so sehr auf den Vorzug, mehr Brot zu haben als der andere? And gerade, weil wir dies tun, weil wir immer die Grenze ziehen zwischen uns und den „Armen", weil wir im Banne der Aristokratie des Geldes, des Geistes oder Standes stehen, darum bringt unser Armenwesen, unsere Wohl­ tätigkeit, wie wir gewisses Landein bezeichnen, verhältnismäßig so wenig Frucht, darum ist es so kalt, so geschäftsmäßig oder fanatisch. Wie dieWärme so nötig ist, den chemischen Lösungsprozeß zu befördern.

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der bei jedem organischen Wachstum sich vollziehen muß, so die Liebe, aber die Liebe, die Wärme gibt, kommt nicht aus dem Gefühl der Höhe, der Protektion, sie kommt aus dem Gefühl des Gemeinsamen, des Gefühls, daß wir nehmen, wo wir geben, und das Nehmen wird immer größer, je weniger Gewicht wir auf unser Geben legen, je weniger wir es als etwas Besonderes ansehen, das wir tun, als eine Gabe, die wir reichen. Nein, mit dem vollen, ganzen Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Armen müssen wir unter sie treten, einfach mit dem Gefühl an dem Gesetz der Ausgleichung zu arbeiten, da wir alle direkt oder in­ direkt mit schuldig sind an allem, was den Frieden der Gesellschaft stört, und ein kurzerRückblick auf die Geschichte der Armen und Armenpflege wird dies zeigen.

An die Geschwister. Coldeast. Southhampton. 4. bis 6. September 1883. Was ist das für ein Leben voll wechselnder Eindrücke, hier komme ich mir wie verzaubert vor, es ist hier wieder so ganz anders wie bei Sir Julian Goldsmid; hier ist mehr ein modernes Landhaus, dort war ein Schloß zum Teil im altertümlichen Stil, großartige Repräsen­ tation, hier mehr weiche, elegante Behaglichkeit mit dieser eigentüm­ lichen englischen Einfachheit bei allem Luxus; das schönste finde ich hier die Fremdenzimmer. Bei Sir 3. G. liegt das großartige Schloß auf einem Berge (d. h. englische Berge), mit alten dunklen Zedern um­ geben, und hier liegt das Landhaus, welches ich ein fürstliches Lust­ schlößchen nennen möchte, in der Ebene, in einem Park, der die ganze wilde ungestörte Natur eines Heidelandes einschließt, so daß, wenn man aus der Kultur der nächsten Umgebung des Kaufes — freilich auch eine breite Strecke hinauskommt, man sich plötzlich in die für mich poetische Stille des Heidelandes versetzt fühlt. Um das Haus diese köstlichenRosen, die altenBäume, diese Gruppen von Lorbeer undRhododendron, hoch, voll und buschig und doch weich abgerundet, dazwischen die heiteren Blumenbeete und von dem oberen Stocke aus, wo ich wohne, der Blick

auf die Insel Wight und das silberglänzende Meer, das sie umspült — alles grün, grün waldig. Und nun diese Stille, nnd heute morgen dieser Sonnenschein, der herniederflutet und die balsamische Lust vom krästigendenLauche der See durchzogen — und das alles genieße, fühle ich von dem Zimmer aus, welches so behaglich und steundlich und ein-

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fach und vornehm ist — so glänzend sauber und bequem, alles, was man bedarf und nichts zuviel, und die Betten! Zum ersten Male habe ich wieder gelegen und geschlafen, wie in Deutschland, und das Lein­ zeug fein, blendend und so diskret gestickt, daß es nicht prahlt. Weißt Du, Anna, daß es mir die größte Freude machen könnte, mich etwas englisch einzurichten? Der Toilettentisch etwa wie Karls Schreibtisch, nur ganz zierlich mit vielen Schubladen, daß man alles bei der Land hat und statt des Aufsatzes ein mächtiger Toilettenspiegel, zu beiden Seiten Laubenstöcke. Dann ein Ideal-Kleiderschrank zum Aufhängen der Röcke, zum Legen der Taillen und eine besondere Vorrichtung für die Lute: Zwei Türen zu beiden Seiten, in der Mitte ein Spiegel von oben bis unten usw. Gestern abend, als ich zum Schlafen hinauf kam, war ein warmes Bad bereitet, und dabei sieht und hört man keinen Menschen, die Fußtritte verhallen auf den dicken, weichen Teppichen, die übrigens nicht festgenagelt sind, sondern mehr als ein Fußbreit vom Boden ringsum unbedeckt lassen. Aber es ist jetzt 8 Ahr morgens, um 9 Ahr wird gefrühstückt, ich muß mich anziehen Mary ist nach Salisbury gereist, sie will bis zum 15. auf dem Lande bleiben, sie will einmal sehen, ob von Tooveys noch jemand lebt, vielleicht fahren wir auch dahin Später. Glaube nur nicht, liebe Anna, daß ich die schweren Tage, die der August und September 1878 brachten, vergessen habe, o nein, aber ich habe sie fest in mich verschlossen, was mich bewegte, denn es ist immer so schwer, so verwundend, daß ich zu mir sagen muß, ich will nicht daran kranken. Die Engel in Frogmore haben wir noch nicht gesehen, — ach Gott, welche Zukunft stand Adolf bevor! — Doch stille —. Gestern führte mich Mrs. Montefiore im ganzen Lause umher, Küche, Vorratsraum üsw. Die Einrichtungen sind so, daß es kaum mög­ lich ist, daß ein Mädchen oder ein Diener sich beschmutzt, es wird auch nie etwas schmutzig, aber die Dame des Laufes ist auch eine vorzügliche Lausfrau, und obgleich sie keinen Finger rührt, so weiß sie jede Kleinig­ keit, und besonders weiß sie alles von ihren Leuten, sie hat ihnen eine sehr würdige Laushälterin gesetzt, die wie eine Mutter für die Diene­ rinnen sorgt, welche unten sind; zwei Kammerfrauen stehen direkt unter Mrs. und Miß M. In dem Zimmer der Diener, die unter einer Art Lofmeister stehen, darf nie ein Dienstmädchen eintreten, es kommt eine alte Frau aus dem Dorfe, welche dort alles besorgt. So etwas von Schulung der Dienstboten ist mir noch nicht begegnet, alles wird be--

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dacht,und nie wird man gestörtes wird einem nichts aufgedrängt; aber man ist wie von einer Vorsehung umgeben. Ich habe aber manches gesehen, was wir, was Du, liebe Anna, sehr gut in Deine Küche ein­ führen kannst, was gar nicht kostspielig, nur praktisch ist; bitte, bitte, liebe Anna, richte die kleine Küche ein; ich habe reizende Ideen für Dich, ganz deutsch; ich werde ganz neugeboren durch diese Reise und gedenke nun, noch etwas Tüchtiges zu leisten. Ich werde den vorgeschrittenen Schülerinnen wie Emily Last und einigen andern alle vierzehn Tage zwei Stunden extra geben, und dazu noch einige andere Damen nehmen und meine englischen Erlebnisse ver­ werten: Was England mir zu denken gab in bezug auf Volks- und Frauenerziehung. Da werde ich einen Vortrag, auf mehrere Stunden verteilt, halten: 1. Die Frauen-Aniversität Girton College, Cambridge und das Pestalozzi-Fröbel-Saus in Berlin. 2. Die englische Frau in der öffentlichen Schul- und Armenverwaltung. 3. Das religiöse Leben in England und der Glaube, den Jesus hatte, d. h. über den letzten Vor­ trag bin ich mir nicht ganz klar, ich mache hier Vorarbeiten, d. h. in London An Frau Direktor Jessen.

London W. 20. September 1883. Selben Sie gestern nicht ein Zupfen und Zerren an Ihrer Seele gefühlt? Ich dachte so lebhaft an Sie, wünschte so von ganzem Serzen, daß Sie mit uns waren in einer Kochschule für zwölfjährige Mädchen aus dem Volke; die Lehrerin war so ausgezeichnet, daß ich sie eine Künstlerin in ihrem Fache nennen möchte.Mit 20 oder 24 Volksschulen für Mädchen ist jedesmal eine Kochschule verbunden, und ein Seminar für Kochlehrerinnen soll auch vorhanden sein, was ich auch natürlich noch besuchen werde. Die Kochschule bestand aus drei Räumen, Küche, Garderobe und Zubehör. Die Kochgeräte waren einfach, wie sie in eine gute, bürgerliche Küche gehören, zwei Serbe mit Kohlen geheizt, neben dem Küchen­ schranke eine lange Anrichte mit Schubladen zu vergleichen mit einem Börte, welches die Geräte trug. In angemessener Entfernung von diesem Anrichte-Schrank ein langer Küchentisch, welcher das geräumige Zimmer in zwei Teile teilte; jenseits des Küchentisches erhoben sich drei Reihen Bänke amphitheatralisch erhöht, ganz schulmäßig eingerichtet. Ich lege eine zwar sehr unvollkommene Zeichnung ein.

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Als wir eintraten, eine Stunde nach Anfang, saßen sechzehn Mäd­ chen auf den Bänken. Die Lehrerin stand vor dem Küchentisch oder viel­ mehr vor dem Gasherde, der zur Demonstration in der Mitte vor dem Tische angebracht war. Auf der Schultafel war aufgeschriebeu, was zu dem zu kochenden Gerichte verwendet wurde, genau die Quantität an­ gegeben und der Preis. Es wurden einfache, gute Speisen bereitet, wie sie bei dem Volke beliebt sind. Die Lehrerin war dabei, denMädchen die Zubereitung zu zeigen — sie schauten an — dann diktierte sie ganz langsam und einfach, was sie tat. Sie machte darauf auf wichtige Kleinigkeiten aufmerksam, die nicht geschrieben, aber besprochen wurden. Nachdem sie damit fertig war, examinierte sie kurz, und nun wurden zwölf Mädchen gerufen, sie wuschen sich die Lände, zogen einen Kittel an, und zwei und zwei bereiteten die besprochenen Mehlspeisen, die vier übrigen hatten abzuschreiben und auswendig zu lernen. Die Lehrerin gab so vortrefflichen Anschauungsunterricht im Kochen mit so einfachen, praktischen Erklärungen und Besprechungen, daß die Kinder ihre Sache prächtig machten — freilich kochten sie nicht zum ersten Male. Dabei war eine Ruhe, eine Ordnung und doch ein Eifer. Aber die Lehrerin hatte ihre Augen überall und ihre Land nur, wo es dringend notwendig war, sie führte die Mädchen mit einem Blicke zum Rechten, die Organisation war meisterhaft, kein Mädchen stand müßig. Als die Sache beendet war, reinigten dieMädchen die Anrichte und Bretter, mit denen sie zu tun hatten; leider wurde das Abwaschen einer Frau überlassen. Die Kinder falteten auf das sorgsamste ihre Kittel, fehlen sich wieder auf die Bänke und bekamen ihre Aufgabe in den kleinen, selbst verfaßten Kochbuche, dessen Abschrift sie nach dem Diktate sauber und sorgfältig von der Lehrerin nachgesehen, gemacht hatten. Dann standen sie alle auf, machten ihren Knix und wünschten der Lehrerin: „GutenMorgen". Ich sah in Salisbury eine Kochschule, wo aber nur praktisch gelehrt wurde, auch ganz reizend; aber im kleineren Maßstabe. Die Lehrerin hatte immer zwei Stunden für eine Klasse und immer sechzehn bis achtzehn Mädchen. Die Kinder kauften meistens das Essen selbst für ihre Eltern, sie waren stolz und glücklich, davon nach Lause zu trogen, und auch die Lehrerinnen in der Schule kauften, und Kinder, die über Mittag in der Schule blieben, oder nachmittags nach der Schule essen. Es wurden keine großen Portionen gekocht und »er«

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schiedene Sachen; alles wurde nicht an einem Morgen gezeigt, was die Mädchen gekocht hatten» nur, glaube ich, ein bis zwei Gerichte. Es scheint mir dies alles vorzüglich organisiert; ich werde mich noch mehr danach erkundigen. In Salisbury stand die Kochschule nur mit der Ge­ meindeschule in Verbindung und zu gleicher Zeit mit einem Bezirks­ verein von Damen, welche dort für Kranke und Rekonvaleszente kochen ließ, es wurde immer den Tag vorher angemeldet, was nicht feststand zur Verteilung. Als wir dort waren, wurde Beeftea gemacht,Reis mit Milch, Kartoffelbrei und ein Braten, alles für Rekonvaleszente. Die Mädchen waren auch aus der Gemeindeschule und lernten in Ver­ bindung mit dem Kochen Laushaltungskunde in der Schule. In Salis­ bury war ich auch in einem Lehrerinnen-Seminar, das ganz vorzüglich eingerichtet war, die Lehrerinnen mußten auch kochen lernen. O wie nötig wäre das unsern Lehrerinnen; ich habe bei den Ferienkolonien bei den meisten die traurigsten Erfahrungen gemacht, daß sie unordentlich und ganz unpraktisch sind. Was sagen Sie zu meinen Erfahrungen? Es beglückt mich und betrübt mich, daß ich ausgefiihrt sehe, was ich so­ lange in der Seele trug; aber ausgeführt sehe in einem andern Lande als das meinige. Laben Sie Loffnung, daß wir in der Steinmetzstraße einen Anfang machen könnten?

Schreiben Sie mir Ihre Ansicht hierüber, ich bitte Sie.

Mit Grüßen für Sie, wie für die lieben Ihrigen von meinem Manne und mir. Ihre L. S. Tagebuch.

September 1883. Ich beschäftige mich viel mit unserer teuren Kronprinzessin und überzeuge mich immer mehr, wie sehr sie richtiger, ergebener Freunde bedarf. Die Frau Kronprinzessin müßte sich vielmehr zeigen, müßte trotz Antipathien sich doch nicht zurückziehen, sondern von ihrem Protektorate Gebrauch machen, in offener aber huldvoller Weise ihren Einfluß geltend machen. Mir liegt ja alles daran, die hohe Freundin populär im Volke und in der gebildeten — nicht sogenannten — Gesellschaft zu sehen. Die Kronprinzessin hat so mächtige Feipde; aber der wahrhaft gebildete Mittelstand und die bessere Volksklasse sind eine mächtige Stütze, und es liegt im Deutschen soviel Bedürfnis nach einem edeln Fürstenhause,

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es ist der Instinkt in ihm, die Vertretung des Besten zu se.hen, was wir erstreben, was wir sind. Die wahrhaft konstitutionelleMonarchie ist dem Deutschen innerstes Bedürfnis, und unsere Kronprinzessin ist eine wahrhaft konstitutionelle Fürstin. And wenn der konstitutionelle Fürst sich stützt auf sein Volk, verstehe ich das so, daß er in ihm das Beste, was er besitzt, fördert und pflegt und seiner naturgemäßen Entwicklung nachgeht, wie er seine eigene, die seiner Kinder pflegen soll.Wenn er das tut, hat er nichts zu fürchten in Deutschland, denn der Deutsche will nichts anderes im Grunde. Gerade er ist autoritätsbedürftig, er will den Herrscher und deutschen Kaiser. Deutsche Kaiserin zu sein, ist eine schöne Aufgabe; aber freilich ein Schweres ist dabei: Das Aufgeben der starken Sub­ jektivität, wenn ein Fürst, eine Fürstin diese besitzt, das Gefühl stündlich zu betätigen, daß man nicht sich selbst gehört, daß man einem großen Reiche sich hingeben muß, daß man sich immer möglichst klar und ver­ ständlich zeigen muß, daß man die liebenswürdige Form, die dem edeln Inhalte entspricht, bis ins einzelne ausbilden und betätigen muß; daß man sich nicht gehenlassen darf, außer im aller intimsten Kreise — und wo ist dieser oft für den Fürsten? Das — ja, das ist eine schwere Auf­ gabe, besonders für eine starke, mächtige Natur — in einer solchen liegt soviel Kraft, soviel Stoff; aber auch soviel zu verarbeiten. Gibt es einen Menschen, der unserer teuren Kron Prinzessin hier hilfreich zur Seite steht? der sie liebt um des Reichtums willen ihrer schönen Natur, ganz abge­ sehen von ihrer Stellung; aber der auch ihre Aufgabe klar vor sich sieht, und dem sie einRecht einräumen würde, ihrFreund oderFreundin zu sein in der höchstenBedeutung desWortes; der mit ihr arbeitete fürs Volk? Sie müßte sich dieser Person gegenüber ganz gehen lassen, ihr oft beschwertes Äerz entlasten dürfen, alles, was sie sagte, müßte dort wie im Grabe ruhen; aber es müßte auch der ganze Mut der Auftichtigkeit in dieser treuen Seele wohnen; sie müßte lebendige Fühlung haben mit der Welt, und sie müßte raten, helfen, die Popularität zu gewinnen, die ihr auch einst zugute kommt bei den Regierungsgeschäften, welche die Fiirstin teilen wird und teilen soll. And ich hatte mir immer gedacht, * * * fei berufen, diese Freundin zu sein. Sie ist warm und ideal, um große Gedanken zu hegen, die die Fürstin realisieren soll, sie ist diskret und unabhängig, sie kann jede Stellung in der Gesellschaft einnehmen, die sie will und kann sich zurückziehen, wenn sie will. Sie hat auch die Zeit, denn Zeit gehört auch dazu; vor allem hat sie den fesselnden Geist.

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Sehr wichtig sind auch die Beziehungen zwischen England und Deutschland. Eine englische Freundin erzählt mir, wie wenig in England Deutschlands Politik in ihren verschiedenen Richtungen bekannt sei, und Deutschland in seinem Größenwahnsinn tut ja leider alles mögliche, um England zu beleidigen. Von großer Wichtigkeit scheint mir auch, unsere Aufmerksamkeit auf Brüssel zu richten, dort ist eine mächtige Bewegung für Volkserzie­ hung, natürlich zuerst in bezug auf die Volksschule und Kindergärten, letztere nur betrachtet vom Standpunkte und als Vorstufe zur Schule; aber es ist das schon wertvoll. Der Bürgermeister von Brüssel, Mons. Buls, hat meinen Mann und mich einmal besucht in Berlin und sorgt immer sehr freundlich dafür, daß Personen, welche ich empfehle, einen Einblick in die dortigen Schulverhältniffe tun; deren Bewegung er hauptsächlich veranlaßt hat. Ich habe Mons. Vuls geschrieben und ge­ raten, der Kronprinzessin einige Berichte zu schicken. Die Kronprinzessin kann eine Mission für uns haben in Berlin und in Deutschland in Rücksicht auf die Entwicklung und Bildung vieler Seiten unseres sozialen Lebens. Es ist gar nicht zu leugnen, daß eine weit größere Bewegung unter die Gemüter gekommen ist, für das Volk zu sorgen seit der Gründung des häuslichen Gesundheitsvereines, seit den Ferienkolonien usw. Es sind dies greifbare Dinge. Die Einwirkung und Betätigung der Frau Kronprinzessin ist von großer Tragweite in dieser Bewegung; aber wir müssen auch sorgen, daß Parteiungen ver­ hütet werden, oder vielmehr, wir könnten noch viel nachhaltiger wirken, wenn verschiedene Bestrebungen und Vereine sich mehr in die Lände arbeiteten. Ein wesentliches Mittel dazu wäre, wenn die Frau Kronprinzessin öfter Zirkel von Frauen und Männern um sich vereinte, welche an An­

stalten oder Vereinen unter dem Protektorat der Kronprinzessin stehen. Ich habe ja letzten Winter das Glück genossen, fast jeden Sonn­ abend von der Kronprinzessin empfangen zu sein, unvergeßliche Stun­ den mit ihr verlebt; aber würde es nicht den Zwecken, welche die Kron­ prinzessin zu erreichen wünscht, sehr förderlich sein, wenn diese Sonn­ abende öfter in obigerWeise benutzt würden? Ich selbst bringe bei diesem Vorschläge das größte Opfer, aber ich schlage den Einfluß der Frau Kronprinzessin auf die öffentlichen Angelegenheiten so hoch an.

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Kapitel 4: In der Krone muß sich das männliche und das weibliche Prinzip

vereinen, wie in der Ehe und Familie zur Erziehung. Unsere Kronprinzessin erscheint mir als eine ganz hervorragende Persönlichkeit unter den Fürstinnen. VollVerständnis für die politischen Fragen tritt sie vollständig als Mutter der Nation auf in ihren Land­ lungen, pflegt die Kultur und versteht die Forderungen der Volks­ erziehung fiir unsere Zeit in Lärmonie zu bringen mit den Forderungen der politischen und wirtschaftlichen Seiten des Lebens. Bei vollständi­ gem klaren Erfassen der männlichen Seite der Krone vertritt sie in der Tat und handelnd die weibliche Seite. Die gebildete, freie Bürgerin ihr gegenüber muß sich innerlich alsMensch demMenschen gegenüber fühlen.

September 1883. „O wie gebunden ist des Weibes Glück!" sagt Goethe, ich möchte sagen, wie gebunden ist desWeibes Kraft! — wenn sie eine Deutsche ist — wie gebunden ist die Kraft, die über des Laufes Grenzen hinüber reicht. „Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen ist Pflicht und Trost" — Ja, für die deutsche Frau ist es wirklich ein Trost, wenn Gatte, Kinder, fordernd an sie herantteten, und ihre Pflicht sie heißt, des Geistes Kräfte aufzubrauchen im Dienste der Familie. Aber, wenn man keinen fordernden Gatten und keine Kinder hat, und wenn der Gatte auf der Löhe der Kultur steht, und seines Weibes Leben als für sich etwas Bedeutendes ansieht in bezug auf ihre Wirksamkeit im sozialen Leben und sie nicht aufbrauchen will für seine Person und seinen Beruf? O für die deutsche Frau ist es fast barbarisch, wenn nicht der Gatte über sie gebietet. Ja, das eitle, ehrgeizige organisatorisch angelegte Weib, oder die Schriftstellerin, sie findenRaum in unserer Gesellschaft; auch die Klein­ magd der Männer im sozialen Leben, die sich zufrieden geben mit den Brocken, den ihr der Magistrat in der Armenverwaltung oder Waisen­ pflege hinwirst — nein, das kann ich nicht.MeinemManne könnte ich dienen, für sein Glück mich hingeben, in seiner Geisteskraft meine Geisteskraft aufziehen lassen — weil ich ihn liebe — liebe im heiligsten Sinne des Wortes, weil er edel, klug, hilfreich und gut ist — weil mein Dienst an ihn der Dienst des Guten wäre — aber denMLnnern will ich nicht dienen, ihre Kleinmagd will ich nicht sein in dem vollen Be­ wußtsein meiner Ebenbürtigkeit und vollen Selbständigkeit meines Wesens in Gedanken und Tat.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Ein eitles, agitatorisches, ehrgeiziges Weib bin ich auch nicht, eine Schriftstellerin ebensowenig, mein Mann will mich nicht für sich; für das was ich leisten kann: Die mütterliche Erzieherin zu bilden fitrKaus und Gemeinde, fürVolkserziehung zu arbeiten ist keinBoden und kein Geld, um ihn zu kaufen — was bleibt mir übrig? Ach, fast der Wunsch, nur „einen rauhen Gatten" zu besitzen, um den Trost zu haben, ihm zu gehorchen.

An Frau Direktor Jessen. London W. 9. Oktober 1883. Ich danke Ihnen recht sehr fiir Ihre beiden Briefe und besonders für Ihre Mitteilungen aus Ihrem persönlichen Leben, sie tun meinem Kerzen so wohl, sie sind so erquicklich, während das Vereinsleben mir jämmerlicher und kleinlicher als je erscheint. Sie, liebe Frau Jessen sind mir immer ein Trostpuntt, wenn ich an Berlin denke und unser Wirken dott Hier lerne ich soviel, habe so seltenes Glück, inmitten eines aus­ gezeichneten Frauenkreises mich zu bewegen, von ihnen soviel ausge­ suchte Freundlichkeit, ja Herzlichkeit zu erfahren, daß ich wirklich be­ reichert heimzukehren hoffe und erlöst von Empfindlichkeit für die Stiche

des kleinen Angeziefers kleinlicher Gesinnung im Vereinsleben. Wie in London alle Verhältnisse des öffentlichen Lebens den Stem­ pel der Großzügigkeit tragen, so ist auch das Vorgehen der englischen Frauen großartig. Freilich kann man das in Deutschland der äußeren Weise nach nicht nachmachen, weil uns die Bedingungen fehlen; aber man kann sich die Gesinnung aneignen, die groß ist und die überall hin­ paßt. Es ist «norm, was England in den letzten Jahren für Fortschritte gemacht hat in der Entwicklung geistiger Bildung und besonders durch den Einfluß der Frauen, die Großes leisten an Arbeit für Frauen-, Volkserziehung und Armenpflege. Wenn die Engländer nur nicht in dasselbe Fahrwasser geraten, in dem wir rudern; eine viel zu große Überschätzung des frühen Wissens im Vergleich zu der praktischen und eigentlichen Erziehung überhaupt — so wird England das größte Volk der Welt werden in der Erziehungsfrage, bei der mächtigen Naturkrast

und der Möglichkeit freier Bewegung. Hätte ich Söhne und Töchter, und könnte ich es irgendwie ermöglichen, sie müßten, wenn sie erwachsen und reif wären, eine Zeitlang in England leben. Wir Deutschen scheuen uns so vor dem freien, kräftigen Leben, das natürlich feine Rohheiten

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Kapitel 4:

hat; wir scheuen uns so vor der Unvollkommenheit und Anschönheit der Entwicklungsform, und so lassen wir lieber keine volle Entwicklung zu, damit nur die groben Formen nicht erscheinen. And doch ist Unvoll­ kommenheit nicht Sünde, sondern eine notwendige Erscheinungsform, wenn man zum Vollkommenen strebt in Kraft, Ehrlichkeit und Treue. Meine liebe Frau Jessen, ich wüßte nichts auf der Welt, was mich so hätte beglücken können, als dieser Aufenthalt in England; er ist meine „finishing school'V ich bedurfte des tiefen Eingehens in ein neues

Leben, um das, was in mir gebunden lag, zur Entfaltung zu bringen. Ich komme mit größeren Gesichtspunkten heim, als ich ging, hoffentlich mit größerer Energie für öffentliches Wirken und auch — was dazu absolut notwendig ist, mit größerer Ruhe und Gefühllosigkeit gegen gewisse Dinge. Ob ich mich noch am Gesundheitskomitee in der Steinmehstraße beteilige, wird zum großen Teile davon abhängen, wie ich mich mit Ihnen verständige, und wie Sie sich zu der Sache zu stellen wünschen. Wenn ich auch fest entschlossen bin, mich weit weniger stören zu lassen durch Erbärmlichkeiten und Mangel an Noblesse des Charak­ ters, so bin ich ebenso entschlossen, der Sache nicht unnütz eine Faser Kraft zu opfern. Ich habe hier gesehen, daß dem Geiste nach möglich ist auszuführen in der Armenpflege usw., was ich als Ideal irnÄerzen trug, wenn auch die Form der Ausführung, die Kombination der Dinge bei uns eine andere sein muß als hier; aber das wirklich Gute paßt dem Geiste nach für jedes Land, und ich habe noch einenPunkt derWirksamkeit in Berlin, von dem aus vieles sich entfalten läßt, was gerade für Berlin eineNotwendigkeit ist. Kommen im Gesundheitsverein Elemente oben auf, die das eigentlich Erzieherische nicht pflegen, sondern nur für sich und ben äußern Erfolg arbeiten, und sind diese Elemente nur durch beständigen Kampf niederzuhalten, so lasse ich die ganze Sache laufen, denn die Zeit, und vor allem die Kraft, die ich dort im Kampfe einsehen muß, kann ich an anderer Stelle rein zur Produktion verwenden. Ich habe, Gott sei Dank, einen gesunden Kern im Pestalozzi-Fröbel-Äause in der Steinmehstraße und ziehe mir immer mehr verständnisvolle Kilfen heran; auch knüpfe ich hier soviele Fäden mit meinemBerufsleben, die ich sicher nicht wieder fallen lasse. Wenn im ganzen Berlin nicht geneigt ist, Englands Bedeutung für uns anzuerkennen, so tue ich es, und ich lasse gern das reine, frische, naturkräftige Blut, das noch in England pulsiert, in meine

Adern strömen und werde es mir durch nichts rauben lassen.

AuS-üge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Aber so weiß ich auch, was England von uns nehmen muß zu seiner Ergänzung und Vollendung, und vielleicht bin ich nicht ganz un* tauglich dafür, englischen Frauen einen Teil der Dankbarkeit durch die Tat abzutragen, welche ich im Kerzen suhle für alles, was sie mir ge­ boten. Mein Mann denkt ganz wie ich; aber er wird jedenfalls im Ge­ sundheitsverein seine Stellung wieder einnehmen und behaupten. Ich werde Ihnen so viel erzählen, so viel mit Ihnen zu besprechen haben, daß sie hoffentlich ein bißchen Zeit für mich ansammeln; ich freue mich so, daß Ihr lieberMann auch gern in London war, und sich wohl­ tätig berührt fühlte von dem Leben hier. Wir gehen nach Oxford, Bir­ mingham und Cambridge, ich werde Miß M. in Girton College auf­ suchen, eine Freundin von ihr hat mich hier aufgesucht. Die Kron­ prinzessin wünscht, daß wir noch einmal nach Cambridge gehen, Newnham Kall zu sehen. Dann haben wir die Bekanntschaft von Postminister Fawcett*) gemacht; er ließ uns die ganz große Zentralpost und den Telegraphenbetrieb hier zeigen, und hat uns auf Ende d.M. nach Cam­ bridge eingeladen, wo er an der Aniversität liest. Er und seine Frau sind sehr bedeutende Nationalökonomen.

Mit den herzlichsten Grüßen Ihre getreue K. S. An M. Lyschinska.

Köln (Bahnhof). November 1883.

Du wirst denken, daß wir Berlin nah sind, aber dem ist nicht so, wir kommen erst morgen früh zwischen 7 und 8 Ahr an. Ich bin noch mit rechterWut auf England von England geschieden. Wir hatten ein scheußliches Schiff, ich war entsetzlich seekrank, und sie hatten so viel Pakete an Bord, daß das Einladen in Dover und Aus­ laden in Calais so viel Zeit in Anspruch nahm, daß wir den Anschluß an den belgischen Zug verfehlten und in Lille von 2 Ahr in der Nacht bis 6 Ahr liegen blieben und mit dem nächsten Bummelzug nach Köln fuhren, wo wir seit 4 Ahr sind, und von wo wir um 8 Ahr abfahren werden.

*) Ein erblindeter Mann, welcher zu gleicher Zett als Postminister, Aniversttätsprofeffor, Schriftsteller und Mitglied des Unterhauses Lervorragendes leistete. Lyschin-ka, Henriette Schrader II-

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Kapitel 4:

Ich habe wohl nie eine so scheußliche Reise gemacht, scheußliche Wagen vollgestopft von Reisenden, und dieses langsame Fahren und ewige Anhalten, so daß ich dasVorspiel der Seekrankheit nie los wurde. Die Belgier warten nie mit ihrem Zuge, sie sind überhaupt ein wider­ wärtiges Volk, sie haben weder die Vornehmheit der Engländer, noch die Grazie der Franzosen, noch das Sympathische der Deutschen; kurz, durch ihre Rücksichtslosigkeit sind wir sitzen geblieben, und die geizigen Franzosen fahren nicht den Fernzügen nach, wie es in Deutschland ge­ schieht — nein, was das Verkehrswesen anbelangt, ist doch kein Land so weit vorgeschritten, wie Deutschland, überhaupt ich freue mich,

wieder in Deutschland zu sein, und vor allem scheint meinMann behag­ lich zu sein; Du hättest nur sehen sollen, mit welchem Appetit er heute gegessen hat. Nun, I have given Germany a good scolding osten enough, aber nun bin ich ihr wieder gut, so recht vonÄerzen gut. Ich war ganz stolz auf unsere stattlichen Bahnbeamten, die so frisch gewaschen aussehen, so wohlgenährt, mit ihren schönen Bärten und roten Wangen; überhaupt kommt es mir so rein, so aufgeräumt vor nach London. Als ich neulich nach Croydon fuhr, war ich eigentlich entsetzt über die Aus­ dehnung und Scheußlichkeit der Vorstädte Londons; es ist, als fiihle man ein gieriges, zitterndes Wühlen in der Erde nach Verdienst und Geld. Ich werde nie verlieren, was ich gewonnen habe in England, und ich werde mich immer unter dem Zauber des frischen, freien Lebens fühlen, aber gerade auf der Fahrt nach Croydon hatte ich das Gefühl eines Fiebernden in Deinem Lande. Wie warm, wie behaglich ist man hier in den Wartesälen, freilich fehlt etwas frische Lust, aber man ist ganz warm, nicht halb gebraten, halb gefroren, wie bei Eurem Feuer, das mehr poetisch als praktisch ist. And hier ist alles zur Bequemlichkeit desReisenden eingerichtet; nachdem wir uns ganz umgekleidet, bestellte ich ein Diner im Speisesaal: Suppe, Fisch, Lasenbraten mit Bohnen und gebratenen Kartoffeln, Omelett aux fines herbes und wirklichen Kaffee für meinen Mann; ich trank zuerst Bier und nachher noch Wein mit meinemManne, und wir stießen an und tranken auf unsere Gesund­ heit in Deutschland. Karl hat schon wieder rote Backen, das Essen war ausgezeichnet und von allem nur einePortion, so daß wir alles aufaßen.

Ich plaudere so mit Dir, mein Kind, als wärest Du noch bei uns, und es sind gleich 24 Stunden, seitdem wir uns trennten. Der Abschied wurde mir so schrecklich schwer

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An A. Sohr. Berlin W, Steglitzer Straße 68. 10. Januar 1884.

Ich schreibe Ihnen heute nur, umLhnen zu danken, daß Sie freund­ lich liebevoll an uns denken .... Die Kronprinzessin begünstigt meinen Plan sehr, eine Laushaltungsschule mit demPestalozzi-Fröbel-Lause zu verbinden; in einem eigenhändigen Schreiben*) drückte sie ihre warme Sympathie dafür aus, und sie schickte 600 Mark, die sie zu wohltätigen Zwecken geschenkt bekommen. Ich habe schon viel Geld fitr den Zweck aber auch viel Arbeit. Mein Mann hat so viel mit den Krankenpflegerinnen zu tun; er, Lerr Ohlshausen und Lerr vom Rath find gewählt, in Verhandlungen mit dem städtischen Krankenhause zu treten, daß dort unsere Kranken­ pflegerinnen Fuß fassen. Kurz, es ist ein reges, bewegtes Leben in den Vereinen. Eine Dame, die ich in London kennen lernte, ist hier, unsere Anstalt zu studieren, und da sie nur kurze Zeit bleibt, so drängt sich vieles zusammen. So bin ich von Morgen bis Abend beschäftigt, zumal wir wieder mehr an der Geselligkeit teilnehmen als früher. Finden Sie darin die Erklärung unserer knappen Korrespondenz

Bis jetzt waren wir jede Woche bei unserer hohen Freundin, ich glaube, es ist sehr gut für dasVereinsleben, daß meinMann wieder hier ist, er ist so sachlich und objektiv. Es scheint jetzt alles in Larmonie sich zu vollziehen. Die Aufgaben, welche zu lösen sind, sind so groß, daß wirklich keine Zeit und Kraft für Zank übrig bleibt. Ich habe recht ruhiges, ja kaltes Blut bekommen und werde nie wieder mein Lerz an einen Plan hängen; sondern Menschen wie Dinge ansehen und gebrauchen. Natürlich steht inmitten dieses Lebens, still und unberührt, der Freundekreis, dem ich traue, glaube, den ich liebe An M. LyschinSka. Berlin W. 21. Januar 1884.

Ich bin doch wieder mit ganzer Seele in meiner Arbeit, und ich finde im Pestalozzi-Fröbel-Lause so wertvolle Keime zu dem, was ein Erziehungshaus sein soll, die mir erst recht zum Bewußtsein gekommen sind, feit ich in England war. *) Siehe Sette 12.

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Kapitel 4:

Ich glaube doch, daß Deutschland vorangeht in der grundlegenden Erziehung, in der Realisierung geistiger Mütterlichkeit, angeschloffen die Lausmütterlichkeit; aber was wir haben, muß sich mehr mit dem öffent­ lichen Leben verbinden, mit der Energie und technischen Tüchtigkeit der englischen Frau; wir müssen einander helfen und ergänzen. Bitte lies über „die Idee der Elementarbildung" von Pestalozzi Band 17*, Seite 176, mit dem unteren Absatz beginnt das für uns wichtige. Es ist so klar, so einfach geschrieben, es sollte übersetzt werden Bitte sage Carry Bishop, daß ich mit Emily Last die englischen Schulbücher durchspreche, und sie mit unserer Methode vergleiche; wir fangen mit dem A,B, C-Buche an, das sollte sie auch mit ihren Schüle­ rinnen tun. Euer Bestes liegt in den Büchern, manche sind reizend. Soeben erhalte ich von einem Mitglieds der Birmingham Schul­ behörde Kinderarbeiten aus den dortigen Schulen mit einem sehr netten Briefe von Miß Kendrick. Auch Deinen Brief erhielt ich; als ich ihn gelesen hatte, hatte ich erst recht tausend Fragen zu tun. Nun liegt dasMeer zwischen uns, das schreckliche Meer An A. Sohr.

Berlin W. 21.März 1884. Das Leben mit seinen vielfachen Ansprüchen und Arbeiten läßt mich so wenig zum persönlichen Dasein kommen, daß ich Ihnen lange nicht geschrieben habe. Inzwischen hat sich vieles zugettagen, besonders in der politischen Welt. Sie werden von der Vereinigung der Sezessionisten und Fort­ schrittspartei gehött haben, natürlich; aber der innere Zusammenhang, die innere Bedeutung der Sache und Stellung zum ganzen ist nur wenigen bekannt. Lier im Lause waren die Versammlungen der Ver­ trauten, und die Sache wurde mit solcher Diskretion behandelt, daß die Welt keine Ahnung hatte von dem, was sich vollzog, bis es eine voll­ endet« Tatsache war. Die Wirkung derselben ist nun eine sehr verschiedene in verschiede­ nen Teilen des Reiches, ebenso in den Gesellschastsschichten und dem *) Seyffarchs Ausgabe von Pestalozzis Werken, Brandenburger Aus­ gabe 1873, der Supplementband.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Parteileben der Berliner Gesellschaft. In Braunschweig z.B., wo man immer den Nationalliberalen sehr nahe stand, hat die Sache großen Schrecken verursacht, und der Name Eugen Richter wirkt so ängstigend auf die Gemüter, daß viele dort sich von der Gemeinschaft mit meinem Manne zurückziehen, weil er den unerhörten politischen Fehltritt in ihren Augen begangen hat, mit diesem enfant terrible in Gemeinschaft zu treten, während gerade E.R. — wie es scheint — in der Sache ein großes Opfer gebracht hat, denn um seine Alleinherrschaft ist es unter Männern wie Stauffenberg usw. geschehen. Vielleicht war auch Fusion seinerseits mehr Folge des Selbsterhaltungstriebes als der Selbsthin­ gabe; denn man hört allerlei, daß er nicht mehr so sicher stand in seiner eigenen Partei, weil Lähnel doch im stillen Ringen mit ihm um die Führerschaft der Fortschrittspartei war. Es ist jetzt großes Klagen in Braunschweig von meines Mannes Freunden, und es heißt, es sei sehr zweifelhaft, ob man ihn durchbringen, ja aufstellen kann. Mein Mann ist ganz ruhig und still, er arbeitet immer aufopfernd und fleißig für das, was der Moment bringt und sagt: Abwarten.

Nun kommt viel darauf an, daß die Partei Zeit gewinnt, sich zu zeigen, und daß nicht jetzt schnell derReichstag aufgelöst wird, was mög­ licherweise die heutige Session mit sich bringt. Indeß scheint Windhorst

auch Interesse daran zu haben, daß die Lage des Reichstages nicht verändert werde, da bei der Zusammensetzung der Parteien dem Zentrum die Entscheidung bei der Abstimmung zufällt. Gestern war ich imReichstage bei der ersten Verhandlung über das Sozialistengesetz. Windhorst will es einer Commission überweisen, die deutsch-freisinnige Partei auch. Wenn Sie diesenBrief erhalten, werden Ihnen die Zeitungen sagen, was geschehen ist, es hängt viel davon für die neue Partei ab, daß das Gesetz zur Kommissionsberatung kommt. Bismarck hielt eine lange, wenig schneidige Rede gestern, Putt» kamer war äußerst schwach, Bebel vorzüglich,Windhorst glänzend. Die Regierung hatte sich nämlich verrechnet, sie war präpariert, die neue Partei anzugreifen, hatte erwartet, sie würde herauskommen; aber sie hatte die Taktik, zu schweigen. DieNationalliberalen haben ihre Bereit­ willigkeit erklärt, das Sozialistengesetz zu verlängern, Bismarck kokettiert wieder mit ihnen, und sie hoffen durch die Lage aer Dinge, mit ihm gehen zu können und sich zu stärken.

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Kapitel 4:

Windhorst hat Bismarck harte und ernste Worte gesagt; wenn er schließlich zustimmt zur Verlängerung des Gesetzes, so kostet es dem Reichskanzler viel. Nun steht es bei dem ganzen Kampfe um die Herrschaft des ge­ bildeten Bürgerstandes mit dem Junkertum — wohl verstanden nicht mit der gebildeten Aristokratie, von der freilich Preußen nicht viel aufzuweisen hat. Das Junkertum charakterisiert sich durch Frömmelei, Beschränktheit, Abwesenheit jeder Idealität, durch Treiben von Interessenpolitik und Herrschsucht auch über die Krone — und nun handelt es sich um die große Frage: Wird der Kronprinz sich auf das Bürgertum stützen — wird er zu einer Entscheidung kommen? Ich wünsche mir oft einMann zu sein, um in den Kampf gegen das Junkertum antreten zu können, in dem ich den Hemmschuh des wahren Idealismus sehe, nach allen Seiten hin. Diese Junker — sie krochen vor Napoleon L, Stein hat sich mit ihnen herumgeschlagen — Sie wissen das alles und besser als ich, wie das Junkertum immer da gebuhlt hat, wo es seinen eigenen, jämmerlichen Vorteil suchte. Jetzt ist es wieder geschäftig und lebendig und sucht sich zu befestigen, und nicht nur das Junkertum von Geburt, nein, das von Gesinnung, das bürgerliche Strebertum, welches noch elender sich benimmt, weil es sich protegieren läßt vom geborenen Junker — o da gäbe es viel zu erzählen von unsern gesellschaftlichen Verhältnissen und eigentümlichen Verbindungen — ach, was weh tut —Männer der Wissenschaft und Kunst gehören viele dem Junkertum an, deren große Weisheit und Genialität des Wesens sie nicht schützt vor der Borniertheit, Beschränktheit und Jämmerlichkeit auf dem Gebiete des sittlich-religiösen Lebens. Wenn ich vomKampfe desBürgertums mit dem Junkertum spreche, so meine ich nicht einBürgertum, wie unter LouisPhilippe, einBürgertum der Geldspekulation und Geldaristokratie, sondern den wirklich freien Bürger wie Rickert, Schrader, Eberty usw. tim dieses freie Bürgertum zu stärken und zu heben, können die Frauen unendlich viel beitragen, wenn sie lernen, sich mit wenig Mitteln zu behelfen, selbst einzutreten in den Kampf um das tägliche Brot, wenn es sein muß; wenn sie die Bedeutung des freien Bürgertums verstehen, sich dafür begeistern und tüchtig machen für dasselbe einzutteten; wenn sie frei von der Schwäche oder Eitelkeit bleiben, in gewisse Gesellschaftskreise zu treten, deren Zu­ tritt den Bürgerlichen gewöhnlich ein Etwas kostet, und wäre es nur ein

AuS-üge aus Briesen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Landkuß, der nicht vom Kerzen kommt; oder die Linnahme eines protegierenden Lächelns. Liebes Fräulein Sohr, Sie haben mir einmal gesagt, daß man mich in manchen Kreisen für schroff und wenig liebenswürdig halte — glauben Sie mir, ich bin das vonNatur nicht, aber der Abscheu, mich prote­ gieren zu lassen, oderLob mit Lob einzuhandeln, ist so tief in mir, daß es unter den jetzigen Verhältnissen wirklich nicht immer möglich ist, dabei liebenswürdig zu sein. Dazu kommt meine vielseitige Arbeit, die Kraft absorbiert; zur Liebenswürdigkeit gehören auch Zeit und Kraft. Ich muß Ihnen lebewohl sagen für heute. 9 getreue Si. S. Tagebuch. 28. April 1884. Das Getriebe unserer politischen Parteien und unserer Politik überhaupt ist sehr verwickelt und schwer zu verstehen, eben weil der Leiter der Dinge so viel von persönlicher Leidenschaft, der Leidenschaft derLerrschsucht getrieben wird. Der Atemzug eines freien, wohl situierten Mannes ist ihm verhaßt, er will herrschen, die Fäden zurechtlegen, daß sie in seiner Land zusammenlaufen, und er das Reich wie im Marionettentheater am Draht regieren kann. 9. Mai. Ich las in den Zeitungen, daß man damit umgeht,Monopole in bezug auf Dynamit in den verschiedenen Ländern zu errichten und spreche meine Freude und dieLoffnung darüber aus, daß Karl dafür stimmen würde, wenn die Sache vor den Reichstag kommt. „Die Geschichte spielt schon lange", äußerte Karl, „und sie sollen dies Monopol haben, aber es liegt ihnen gar nichts daran vorerst, es ist ihnen recht, wenn Attentate geschehen, welche ihnen die Landhabe zur Knutenherrschast bieten. Du mußt nur nicht denken, daß es der jetzigen Regierung mit irgend etwas ernst ist, nicht im geringsten. Man kommt zu ganz falschen Kombinationen, wenn man annimmt, die Regierung kümmere sich wirklich um das Wohl und Wehe ihrer Untertanen — das ist ihr ganz gleich —, sie will nur Macht, Unterdrückung aller Selb­ ständigkeit und Zentralisierung der Gewalt in einer Land. Was das für moralischeWirkungen hat, welche Folgen für die Zukunft derMonarchie daraus entstehen, das ist ihnen alles gleich. Kaiser,Reich, Völk kümmert sie wenig, das ganze Ziel aller Machinationen heißt: „Absolutismus in Bismarcks Land", und „die Abfälle für seine Kreaturen", fügte ich hinzu.

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Kapitel 4: An A. Sohr.

Berlin W. 22.Mai 1884. Das Leben fließt so rasch, daß ich immer noch nicht dazu gekommen bin, Ihnen zu schreiben, obgleich ich Ihnen die Fortsetzung einesBriefes schulde; aber ich kann sie nicht mehr schreiben, meine Gedanken sind in einer anderen Richtung. Sie werden es vielleicht verwunderlich finden, daß meinMann und ich trotz der unerquicklichen Zustände, recht vergnügt und wohl sind, aber so verwirrt das äußere politische Leben mit seinen sich kreuzenden Interessen ist, so klärt sich unser inneres Leben und die Stellung zu dem Getriebe immer mehr. Ich lese viel Geschichte, und das tut mir unendlich wohl: „Wir haben unsre Sach' auf nichts ge­ stellt!", d. h. wir wollen nichts als Wahrheit suchen und vertreten. Nichts für sich selbst wollen, als im engsten Kreise friedlich leben, un­ abhängig, wenn auch so einfach, die Dinge vom historischen Stand­ punkte betrachten und kräftig einsetzen an der Stelle, wo wir unser Arbeitsfeld sehen, das ist doch die einzige Grundlage zum heiteren Lebensgenuß, das ist was Schiller meint, wenn er sagt, „Das Spiel des Lebens sieht sich heiler an. Wenn man den sichern Schatz im Kerzen trägt". Freilich verkenne ich keinen Augenblick, daß wir sehr vom Glück begünstigt sind, was ich früher nicht so ganz einsah, sondern eine große Kärte des Schicksals für meinenMann in der Verstaatlichung der Eisen­ bahnen fand. Gift gegen Maybach und Bismarck im Kerzen trug. Blieb mein Mann im Eisenbahnwesen, so war ihm eine äußerlich bedeutende Stellung sicher, d. h. wenn eben Privateisenbahnen bestehen blieben. Der Verein für Eisenbahnen hatte in meinem Manne eine schöpferisch treibende Kraft, und er trug sich mit weitergehenden Plänen für die Bildung der Gesellschaft. Doch die freie Bewegung freier Männer wurde gehemmt und alle Keime organischen Lebens, die mein Mann gelegt und gepflegt, wurden von oben her zertreten. Der Bankerott des jetzigen Eisenbahnsystems, welches an Lows Goldmacherei erinnert, kann und wird nicht ausbleiben; aber vielleicht bricht er zu einer Zeit aus, in der meinMann nicht mehr jugendfrisch und disponiert sein wird zu helfen, die Karre aus dem Drecke zu ziehen. Die Geschichte hat mich gelehrt und getröstet, und sie Hilst ein Stück Welt nach dem andern ab­ zustreifen — denn was ist Ansehen der Person, Geld,Macht gegen Ein­ heit des inneren Lebens und Friedens desLerzens — dies allein ist der

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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wahre Lebenspunkt — alles andere ist Zu gäbe. Man muß die Bedeutung von Jesu Leben und Lehren erleben, um zu begreifen, daß von seinem Erscheinen ein Wendepunkt in der Weltgeschichte ausgehl. Ich bin nicht ohne Empfänglichkeit für das Weltliche; Macht, Ehre, Reichtum weiß ich wohl zu würdigen, und vielleicht gerade weil ich ganz realistisch nach dieser Seite veranlagt bin, erhöht es die Lebensfreudigkeit in mir, immer ungestörter dem idealen Momente zu leben, das doch immer das Über­

gewicht hat in meinerNatur. Ja, vom Glücke sind wir unendlich begünstigt, weil wir frei sind. Ich tueBlicke in das Leben von Staatsbeamten, die mich schaudern machen, wenn ich denke, mein Mann wäre Vater von einer zahlreichen Familie ohne Vermögen, wenn ich denke, er wäre Staatsbeamter — aber ehe die Frau nicht zurEinfachheit und zur wirklichen Arbeit erzogen wird, ehe sie nicht versteht, welche Bedeutung es hat, ein Charakter zu sein, ehe sie nicht die ganze Tragweite fürs sittliche Leben in der Ge­ sellschaft erkennt, wenn ihr Mann innerlich frei ist, und wie viel von ihr abhängt, daß er es sein kann, eher werden wir nicht aus dem Elende der Interessenpolitik herauskommen. In der heutigenNummer der Nationalzeitung ist ein vortrefflicher Artikel (Limmelfahrtstag), Leitartikel über dieNationalliberalen.Nun, liebes Fräulein Sohr, ich könnte Ihnen Bogen schreiben, und es würde mich sehr interessieren, mit Ihnen alles zu besprechen. Wie leid tut es mir, daß ich Sie nicht einladen kann, bei uns zu logieren. Wir haben kein Fremdenzimmer mehr wie früher zur Disposition, es wird benutzt von einem Sekretär, welcher jeden Tag kommt und nach Diktat meines Mannes stenographiert, oder sonst für ihn arbeitet. Auch ich habe Schreibhilfe für Ferienkolonien undPestalozzi-Fröbel-Kaus und dergl.; nächstens schicke ich Ihnen Berichte, es ist alles im guten Gange und Werden. Ich glaube, es trägt viel zu meiner Gesundheit bei, daß ich Schreibhilfe habe, so kann ich meine besten Kräfte schonen. Wir haben ein hübschesBüro für denVerein für häusliche Gesundheitspflege; da arbeite ich oft nachmittags mit der Sekretärin, und das macht sich prächtig. Am abend der Abreise der Kronprinzessin ließ sie mich kommen, und wir haben wohl zwei Stunden ernste Dinge geredet. Ich weiß, daß man sehr geschäftig ist, uns zu verdächtigen, und die politische Stellung, welche mein Mann einnimmt, mahnt doch wohl zur Vorsicht von oben. Ich glaube, der Kronprinz ist in der schwierigsten Lage von der Welt. Unser Verhältnis zu Kronprinzens kann nur von Dauer sein, wenn es

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Kapitel 4:

ein vollständig innerlich freies von unserer Seite ist.Wir sagen nicht: Wir wollen so und handeln, weil wir den Einfluß bei Kronprinzens für wichtig schätzen, und wir ihn nicht gewinnen könnten, wenn wir nicht so oder so handelten, nicht so oder so Taktik üben. Nein, streben nach Wahrheit und edler Freiheit, Würdigung hi­ storischer Entwicklung, Schonung, Umsicht, wohin sie gehört, aber nicht ein Haarbreit Konzessionen an irgend jemand oder an irgend etwas machen, was die ehrliche Meinung des .Herzens oder des Kopfes auch nur in ein leises Schwanken brächte.

Tagebuch.

Mai 23. 1884. Die große Vergötterung des Reichskanzlers fließt zum großen Teil aus der Quelle des Philistertums: Aus der Bequem­ lichkeit. Selten hat es wohl eine gelungenere Kombination gegeben als die von Bismarcks Charakter- und Verstandeseigenschaften und Glücks­ umständen, wodurch er den Deutschen das gab, was der Traum und das Streben langer Jahre war: Deutsche Einheit, deutsche Macht. Das heißt, den meisten seiner Zeitgenossen, besonders dem jungen Nachwuchs, der nichts getan hat, um die Machtstellung Deutschlands zu verdienen, war es ein Geschenk. Aber wie einerseits BismarcksNatur war, ohne Skrupel und Rücksicht den Moment zu benutzen, zu nehmen und zu tun, was ihm gefiel und seinen Zwecken entsprach, so blieb, nach­ dem die Tat geschehen, der Charakter, welcher sie vollbrachte, mit seiner Tatkraft und Eroberungslust derselbe und kehrte sich nach innen, als die Grenzen gezogen und abgeschlossen waren, und die gewaltige Kraft für Eroberungen nach außen auf sich selbst zurückgeworfen. Diese Kraft ist eine rohe, keiner Zügelung, keiner Veredlung fähig, denn es fehlt ihr jedes ideale Moment. So wirkte sie zerstörend nach innen, wie sie aufbauend nach außen geschaffen. Für die Benutzung des Geschenkes war die deutsche Nation nicht reif — nicht einmal für die Annahme — denn sie ergriff das Unheil­ volle, was der Kanzler bot, mit demselben Enthusiasmus wie die hohe Gabe, und so war von vornherein die unselige Saat gestreut, die jetzt üppig aufzuschießen beginnt und uns in den Kampf zieht um deutsche Einheit, deutsche Macht und deutsche Freiheit, und in diesem Kampfe werden wir erst reif werden für diese Güter.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Henriette Schrader an ihren Mann.

3 oppot, Villa Rickert. 20. Juli 1884. Ich habe rechtes Heimweh nach Dir, obgleich es mir gut geht. Dazu bin ich dumm, der ganze Aufenthalt hier, dasWehen der wundervollen Lust, das Rauschen der Bäume um mich her hat etwas Einschläferndes, und Du möchtest liebe Briefe haben? Bitte komme bald, daß ich wieder wach werde. Zuweilen ist etwas Traumhaftes um mich her, und der Traum ist zuweilen ängstlich ohne bestimmte Bilder....................... • Frau Rickert erzählte mir vonBogumil Goltz, den sie gekannt, und gab mir sein Buch von „dem Menschen", oder wie es heißt. Es ist etwas Geniales in demselben .... und dieser Mann, der seinen Geist Hoch­ empor hebt über das Zeitliche und im Glauben an Ansterblichkeit schwelgt, fürchtete sich vor dem Alter? Als wir uns verheiratet hatten und in Kreise kamen, in denen nur Jugend, Schönheit, Salongeist, Reichtum und Einfluß galten, habe ich mich aufgelehnt gegen mein Aussehen, daß ich mich Dir gegenüber ge­ altert fand, und meine Zeit und Kraft daran gesetzt, dies zu ändern. Ich schäme mich dessen jetzt in tiefster Seele, denn ich war noch nicht einmal geschickt in Toilettenkünsten und wiederum zu rechtlich sparsam, um ihnen alles zu opfern. Seit ich aber ernste Arbeit gefunden, denke ich fast gar nicht mehr daran, und ich kenne keine Furcht vor dem Alter außer — daß seine Schwächen kommen könnten, ehe ich gesagt habe, was in mir lebt, und was der Welt auszusprechen, mir so unsäglich schwer wird. Ich merke nur an einem das Altwerden, das ist meine größere Stille unter den Menschen, die nicht eine der Seiten meinesWesens berühren, die innerlich so lebendig in mir find. Früher band ich mit jedem an, und es hieß immer: „Wenn irgend etwas in einem Menschen steckt, Hen­ riette holt es heraus": aber ich glaube, dies war mein Lebens-, mein Wissensdurst, Menschen und Leben kennen zu lernen, ohne daß ich mir dessen selbst bewußt war. Jetzt hat das Suchen sich mehr nach innen gewandt, und ich bin still nach außen. Aber wenn ich bei Dir bin, oder überhaupt im Kreise von Menschen, die mir nicht stemd sind, wenn ich für mich selbst bin, da fühl« ich kein Altwerden, im Gegenteil, ich fühle mich so jung, ja, fast kindisch jung, denn ich habe noch soviel vor im Innern, ich möchte noch soviel lernen, begreifen, leisten, ich fühle mich im Anfänge. Aber ich möchte etwas vollenden, ehe ich sterbe, ich möchte

andern etwas geben, was ich mit Schmerzen gesucht — willst Du mir helfen?

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Kapitel 4:

Ich sehne mich, einst einen seligen Tod zu sterben, wie meine Mut­ ter; ja, Karl, sie war eine bedeutende Frau; sie war ganz Mutier, soweit sie gebot über Kräfte, waren sie einem gewidmet, ihren Kindern 1 Ich kann nicht von dem Gedanken, vielmehr vom Gefühle los­ kommen, daß dem Menschen zu wenig Lilfe wird bei seinem Streben; daß die Grausamkeiten derNatur zu groß sind im Verhältnis zum Be­ dürfnis des Geistes. Sieh, ich empfinde nie ein Lebenszeichen von der Unsterblichkeit meinerMutter; was ich empfinde von ihr, schöpfe ich aus der Vergangenheit und der Erinnerung — wo ist jetzt der Geist, und wie ist er — dieser Geist heiliger Mutterliebe, die ihre Land durchlebte? Und ihr das Magische gab, welches Trost, Beruhigung, einschmeichelnde Seligkeit und Kraft zugleich dem Kinde ihres Lerzens bot? Ohne meine Mutter hätte ich Pestalozzi nie verstanden, denn auf ihm ruht eigentlich die ganze, neue Erziehung; in ihm ist doch die Be­ deutung des Sinnlichen erlösender Gedanke geworden. Was gäbe ich um einen fühlbaren Lauch meines Muttergeistes, aber nichts, nichts dergleichen wird mir zuteil, keine Stimme, keine Be­ rührung irgend einer Faser meines Wesens empfinde ich je, und ich mag eigentlich gar nicht die Gräber und an Gräbern sitzen und weinen; meine geschäftige Phantasie kriecht gleich unter die Blumendecke und sieht das Grauen der Zerstörung; meine Phantasie ist oft schrecklich, fürchterlich und kann mir Todesqualen bereiten. Warum werden nicht alle Menschen verbrannt, ich hoffe, es kommt einst so, und es wird etwas erfunden, was nicht an einer so harten, nüchternen Maschinerie hängt, wie der jetzige Verbrennungsprozeß, sondern es wird ein Brennpunkt gefunden, ein Konzentrationspunkt der Glut, welche die sterblichen

Reste unserer Toten vor unsern Augen im Momente verzehrt, und uns erlöst von den entsetzlichen Bildern des Verfalls. Nein, es ist fast un­ erträglich, daß der Leib unserer Geliebten, der uns heilig ist, dem wir die ganze Zärtlichkeit unseres Lerzens geben, Gegenstand des Grauens werden kann, die Kultur sollte das verhüten. Sage mir, Karl, hast Du niemals unter der Grausamkeit derNatur gelitten? Ich habe furchtbar gelitten und leide auch noch; ich bin über­ haupt mit einer Leidensfähigkeit begabt, die fast etwas Tragisches hat und andersteils auch wieder mit einer Genußfähigkeit, die mich den Limmel empfinden, läßt. Wenn wir uns hochhalten wollen in dieser trostlosen Zeit ^derReichstagswahlen), so muß unsere Liebe nie latent sein; wir müssen auch fromm und fleißig sein, d. h. letzteres bist Du viel

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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zu viel, das säge ich nur zu mir; ich kann nur arbeiten unter einem Impulse, und oft ist das Feld der Tätigkeit so nüchtern, und das Leben erscheint so öde, daß ich mich lieber in albernen Romanen betrinke, als etwas Reelles tue. Aber, Karl, Du mußt verschiedenes von Dir abschütteln; wenn man für so viele zu kochen und zu brauen hat, wird das Bier zu dünn. Nein, Du fütterst auch zu viele durch Deine Gefälligkeit, o bitte tue das nicht. Deinen Artikel habe ich noch nicht ordentlich lesen können, nur gesehen, daß der Schluß viel besser war. Wie sieht es mit den häuslichen Angelegenheiten aus? Äier ist das Wetter für mich schön, wir machten gestern eine herrliche Fahrt. Nun lebe wohl, und komme bald zu Deiner andern Kälfte.

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin ^V. 22. Juli 1884. Vielen Dank für Deinen lieben Brief. Es ist ganz gut, wenn Du einmal einige Zeit mehr vegetierst als menschlich lebst; das gibt Dir am ersten Kraft. Ich bin heute morgen mit einem hiesigen Vertteter von Senking in der Steinmehstraße gewesen, um das Lokal zu besichtigen für die Kochschule. Dann war der Baumeister bei mir, mit welchem ich die Sache auch besprochen habe. Wegen der Wegnahme der Wand sind keine Bedenken, die Schornsteinfrage ist noch nicht klar. Nun aber muß die Entscheidung bald kommen, wann die verschiedenenBauten gemacht werden sollen. Das ist alles von Geschäften. Es ist ja richtig, daß sehr vieles an mir hängt, aber es ist nur so schwer, es los zu schütteln. So vieles, was Du für Gefälligkeit ansiehst, ist ja nur mein Geschäft, ich meine mein politisches. Wenn ich für die „Nation" oder das „Reichsblatt" oder einige unserer Korrespondenzen schreibe, so geschieht das ja nicht auS Liebenswürdigkeit für denRedakteur, sondern um entweder eine bestimmte Ansicht zu vertteten, oder das Blatt im Interesse der Pattei zu fördern. Außerdem lernt man immer dabei, indem man schreiben lernt, oder auch die Gegenstände näher studiett, über die man schreibt.Ähnlich geht es mit andern Dingen. Das Leiden, welches mich wie die ganze politische Welt bedrückt, ist, daß viel zu viele Fragen auf einmal aufgeworfen find. Mich, der ich nicht

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Kapitel 4:

eine Reihe von Jahren mitten in der Politik gestanden habe und an allen Ecken und Enden zu lernen habe, trifft das natürlich ganz be­ sonders. Du sprichst ja vom Altwerden jetzt viel ruhiger als früher. Warum soll man sich davor fürchten, solange man seine gesunden Sinne und Verstand und leidliche Gesundheit behält. Man muß ja auf manches verzichten, kann aber auch entbehren, und wenn die Schnellkraft im Vergleich zur Jugend geringer wird, so ist doch die Konzentration größer und die Leistungsfähigkeit nicht geringer. Man muß nur die Veränderung, die mit dem Wesen vor sich geht, ruhig akzeptieren, und aus dem neuen Wesen das Beste machen, das davon ausnutzen, was gut ist. Auch im Verkehr mit Menschen sollte man vielleicht weniger raten, aber doch eigentlich freier sein. Man steht doch über so vielen Menschen und Dingen, wenn man älter geworden ist, und könnte ihnen viel eher etwas geben. Die Jugend nimmt, aber ist nicht geben seliger als nehmen? Man muß nur recht geben, d. h. nicht mit dem Gefühl, daß man dasWeggegebene viel lieber behalten hätte. Aber die „Grausamkeit derNatur" werden wir uns schwerlich ver­

ständigen. Grausam ist nur das, was unnötig ist in derNatur, wie über­ haupt; in der Welt ist aber nichts Annötiges. And macht der Mensch nicht aus allen Ereignissen erst das, was sie für ihn sind? An sich sind sie ihm nichts, erst seine Art sie auf sich zu beziehen, machen sie zu etwas für ihn. And das ist die Herrschaft des Menschen über die Welt, daß er sich geistig über sie stellen kann. Er kann sie lieben, verachten, Haffen, wie er will, die Welt hat keine Macht über ihn, außer soweit er sie selbst einräumt. Natürlich ist ja diese absolute Freiheit gegenüber derWelt keinem Menschen möglich, aber er sollte sie erstreben. Er kann sie aber nur er­ langen, soweit es überhaupt möglich ist, wenn er die unabänderlichen Gesetze der Welt anerkennt und im einzelnen Falle sich ihnen unter­ wirft. Das heißt nicht gleichgültig sein, die tiefste Trauer ist damit ver­ träglich, aber es ist nicht Widerstand, der immer aufs neue erbittert und reizt. Wie man es nun nennen mag, Anterwerfung unter die Gesetze der Welt oder den Willen Gottes tut nichts zur Sache; aber ohne diese Anterwerfung geht es nun einmal nicht, und sie ist schwer, wenn sie nicht auf der Überzeugung beruht, nicht bloß, daß sie notwendig, son­

dern auch daß die Gesetze, denen man sich beugt, gut find. Das zu

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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glauben erreicht man freilich nur, wenn man sich entweder auf den kindsich religiösen Glauben stellt, der gar nicht fragt, oder wenn man sich klar macht, wie unbedeutend alle Einzelereignisse in- dem großen Welt­ ganzen find. Dieses ist die Hauptsache, das Einzelwesen ist nur ein Teil von ihm und hat ihm gegenüber keine Berechtigung, soweit es sich nicht durch eigene geistige Kraft erwirbt. And hat der Mensch durch seinen Geist nicht ungemeinen Einfluß selbst auf die Wirkungen der Natur­ gesetze; und kann nicht ein Gedanke das Größte wirken? 3a, wirkt überhaupt etwas als der Gedanke? And kann nicht derMensch sich über die Welt stellen? Du stehst immer im Kampfe gegen di« Weltordnung im ganzen. Sie reizt Dich zum Ärger und Zorn, und die Fehler des einzelnen Men­

schen werden Dir so verdrießlich, weil Du daraus nur immer neue Beweis« für die Schlechtigkeit derWelt abnimmst. Da bin ich unversehens in allerhand Philosophie gekommen, die Dir für Dein vegetatives Kurleben vielleicht nicht einmal gut ist; Du überlegst aber vielleicht solche Fragen dann ruhiger, wenn Du, wie in Zoppot, ganz außer ihnen stehst. Weißt Du, daß Du mir noch gar nichts darüber geschrieben hast, wie Du lebst, wie es Dir geht, usw. usw. Zch habe keine rechte Idee von Dir in Zoppot. Soll ich denn bald kommen? Sobald ich irgend kann, gewiß, jetzt geht es aber noch nicht. Weißt Du von Rickerts Plänen im ersten Teil August ?Will er auf Reden reisen ? Einsam ist es hier und trostlos, aber es muß einmal durchgemacht werden; ich sehe auch ein, daß ich hier bleiben mußte; denn ich wüßte nicht, wie sonst so manche Dinge jetzt ihren Gang gehen sollten. Lebe wohl, liebe Frau, stärke und erhole Dich recht für Deinen Dich sehr liebendenMann.

Henriette Schrader an ihren Mann. Zoppot,VillaRickert. 22. Juli 1884.

.... Gestern abend saß Rickert gemütlich bei uns, Frau Rickert war bei ihren Eltern. Er sprach wieder von Deinem Radikalismus und Deiner Erbitterung gegen Bismarck, Deiner Anterschätzung des Genies „und", fuhr er fort, „da ist auch ein Punkt der Verwandtschaft zwischen mir und Bennigsen; ich kann nicht von der Bewunderung des Genies lassen". Auf meine Erwiderung, daß wohl die Kraft und der Wille Bs.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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glauben erreicht man freilich nur, wenn man sich entweder auf den kindsich religiösen Glauben stellt, der gar nicht fragt, oder wenn man sich klar macht, wie unbedeutend alle Einzelereignisse in- dem großen Welt­ ganzen find. Dieses ist die Hauptsache, das Einzelwesen ist nur ein Teil von ihm und hat ihm gegenüber keine Berechtigung, soweit es sich nicht durch eigene geistige Kraft erwirbt. And hat der Mensch durch seinen Geist nicht ungemeinen Einfluß selbst auf die Wirkungen der Natur­ gesetze; und kann nicht ein Gedanke das Größte wirken? 3a, wirkt überhaupt etwas als der Gedanke? And kann nicht derMensch sich über die Welt stellen? Du stehst immer im Kampfe gegen di« Weltordnung im ganzen. Sie reizt Dich zum Ärger und Zorn, und die Fehler des einzelnen Men­

schen werden Dir so verdrießlich, weil Du daraus nur immer neue Beweis« für die Schlechtigkeit derWelt abnimmst. Da bin ich unversehens in allerhand Philosophie gekommen, die Dir für Dein vegetatives Kurleben vielleicht nicht einmal gut ist; Du überlegst aber vielleicht solche Fragen dann ruhiger, wenn Du, wie in Zoppot, ganz außer ihnen stehst. Weißt Du, daß Du mir noch gar nichts darüber geschrieben hast, wie Du lebst, wie es Dir geht, usw. usw. Zch habe keine rechte Idee von Dir in Zoppot. Soll ich denn bald kommen? Sobald ich irgend kann, gewiß, jetzt geht es aber noch nicht. Weißt Du von Rickerts Plänen im ersten Teil August ?Will er auf Reden reisen ? Einsam ist es hier und trostlos, aber es muß einmal durchgemacht werden; ich sehe auch ein, daß ich hier bleiben mußte; denn ich wüßte nicht, wie sonst so manche Dinge jetzt ihren Gang gehen sollten. Lebe wohl, liebe Frau, stärke und erhole Dich recht für Deinen Dich sehr liebendenMann.

Henriette Schrader an ihren Mann. Zoppot,VillaRickert. 22. Juli 1884.

.... Gestern abend saß Rickert gemütlich bei uns, Frau Rickert war bei ihren Eltern. Er sprach wieder von Deinem Radikalismus und Deiner Erbitterung gegen Bismarck, Deiner Anterschätzung des Genies „und", fuhr er fort, „da ist auch ein Punkt der Verwandtschaft zwischen mir und Bennigsen; ich kann nicht von der Bewunderung des Genies lassen". Auf meine Erwiderung, daß wohl die Kraft und der Wille Bs.

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Kapitel 4:

etwas Imponierendes habe, daß ich aber rohe Kraft nie bewundern könne, da erwiderte er: „Bitte sehr, ein Mann, der die Mäßigung besaß, vorWien und Paris Lalt zu machen, besitzt mehr als rohe Kraft". Lind, Karl, Rickert ist gar nicht ohne Noblesse, gar nicht ohne Feinheit des Gefühls; aber Rickert vernachlässigt die Bildung des Menschen auf

andern Gebieten als dem der Politik sehr, und doch liegt gerade der höchste, sittliche Wert der politischen Arbeit wieder im Zusammenhänge dieser Arbeit mit dem rein Menschlichen. Sieh, lieber Karl, darum bitte ich Dich immer, laß die Fasern Deiner Seele, die für die Kunst usw. so große Empfänglichkeit haben, nicht verkümmern, es ist eine falsche Öko­

nomie, die Ihr sPolitikerj treibt, glaube es mir. Ich will Dich nicht von der Arbeit, die auf Dir liegt, abziehen, im Gegenteil, ich will sie vervollkommnen. Du mußt neben Deinem feinen, verständnisvollen, klaren Geiste Deine Phantasie nähren. Du mußt Dein Selbst nicht so gleichgültig behandeln. Du liebst mich. Du hast es gesagt, und ich fühle es mehr wie je in den letzten stillen Tagen unseres Zusammenseins; tue mir etwas zuliebe in meinerWeise, auf meinenWegen, ich will Dir auch Gleiches mit Gleichem vergelten, gewiß mein lieber Karl. Laß mich den Tropfen Ehrgeiz in Dein Wesen flößen, der das Salz, das Gewürz ist, laß mich die Eigenliebe in Dir pflegen, die eine Notwendigkeit ist zur Selbsterhaltung; laß uns da austauschen, ich will wirklich gefälliger werden, wenn Du es etwas weniger bist, ich will etwas aufgeben von einem starken Triebe der Selbsterhaltung, wenn Du den Deinen mehr pflegst; wenn ich milder, hingebender, gefälliger für andere werde, willst Du es auch für Dich nehmen, und willst Du auch Deine Seele nähren mit dem, was ich andern um Deinetwillen gebe ?

Karl Schrader an seine Frau. Berlins. 23. Juli 1884. Leute bekommst Du einmal auf Deinen langen einen kurzen Brief. Wenn Rickert Bismarcks Genie bewundert, so hat er recht; er ist ein gewaltiger Mensch, aber Rickert und die meisten Nationalliberalen haben darüber eine Zeitlang das kühle Urteil verloren. Ich tadele sie nicht darum. Sie sahen Bismarck plötzlich als einen ganz andern Men­ schen seit 1866 an, das war er aber nicht geworden, sondern er war nur durch die Ereignisse von 1866—1870 über sich selbst hinausgehoben und fand sich dann ganz allmählich in sein altes Wesen zurück. Ich schreibe

Rickert nur einen kurzen Zettel. Ehrgeizig soll ich werden? Ja, aber was

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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soll ich erstreben? Alle Dinge, die ich erstreben könnte, find schwer zu haben und bedürfen vieler, vielleicht unnütz aufgewendeter Arbeit. Poli­ tik ist keine leichte Sache; fie verlangt viel Wissen und Können, und da­ meiste davon muß ich erst lernen. And ich bin wirklich in einer unglücklichenPeriode — für einen Anfänger — in die Politik hineingekommen. Der zu beherrschende Stoff ist so groß, der Kampf so schwer, daß es wirklich schwer ist, vorwärts zu kommen. Aber wir wollen sehen Henriette Schrader an ihren Mann. Zoppot, VillaRickert. 30. und 31. Juli 1884. Ich lese Goethe.Wie nimmt er alles vom Standpunkte des Gan­ zen und Höchsten; seine Einleitung zur Farbenlehre usw. Jetzt ist die

Welt in lauter Einzelheiten zersplittert. Goethe hat mir den Unterschied zwischen Deiner und meinerNatur erklärt. Er spricht über das Weimarer Theater und spricht in dieser Ab­ handlung über Shakespeare; darin kommt vor: „Die größten Qualen sowie die meisten, welchen der Mensch ausgesetzt werden kann, entsprin­ gen aus den fast einem jeden innewohnenden Mißverhältnissen zwischen Sollen und Vollbringen, und diese sind es, die ihn auf seinem LebenSgange so oft in Verlegenheit setzen. Die höchste Verlegenheit unauflöslich oder unaufgelöst, bringt uns die ttagischenMomente dar." Du sagst mir, daß Du «ine einfache Natur seiest. Die Schönheit dieser Einfachheit liegt darin, daß Wollen und Vollbringen bei Dir in Harmonie find. Bei mir nicht. Es liegt eine Hilfsbedürftigkeit in meiner Natur, die außer meiner Mutter, glaube ich, kein Mensch verstanden hat, und an die auch Du nicht glaubst, wenigstens nicht in demMaße,

wie fie vorhanden ist — sonst hättest Du, statt Vorwürfen — oder wie ich es nennen soll — Mitleiden, tiefes, tiefesMitleiden, und Du bist der einzige Mensch, dessen Mitleiden ich erttagen könnte, ja, nach dessen tiefem Mitleiden ich mich sehne, dessen Mitleiden mir helfen könnte. Meine Mutter verstand die Hilfsbedürstigkeit meinerNatur, aber sie konnte mir nicht helfen, wie Du könntest. Ja, in ihrer Todes­ stunde sagte meine Mutter zu mir: „Grüße Deinen liebenMann, ich weiß Dich in guten Länden, hättest Du Deinen Mann nicht, so wäre ich nicht ruhig gestorben; ich glaube. Du hättest am meisten darunter gelitten. Deine Mutter nicht mehr zu haben." Dies Mitleiden, daS ich von Dir erflehe, erteilte mir im gewissen Sinne die Absolution auf meine Beichte, die ich so ost vorDir abgelegt; Lyschtneka, Henriette Schrader n.

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Kapitel 4:

aber nur dies Mit-Lei den kann mir den Frieden der Absolution geben, nicht die Predigt und enthielte sie tausend Wahrheiten, Klar­ heiten und hohe Gedanken.

Nachmittags. Nun brauche ich vorerst kein Mitleiden, aber recht warme Mitfreude, daß wir uns Wiedersehen — ja, Wiedersehen! Aber Du kommst, Du kommst; wenn auch Barth noch nicht da ist; wenn auch Besuch sich meldet, und wenn er auch krank würde. Du kommst. Du kommst I Mary kommt vorerst nicht, sie reist nach Thüringen.

Lebe wohl und komme,

D. $i.

An denselben. Zoppot, VillaRickert. 31. Juli 1884. Die Gedanken über Erziehung, von denen ich sagte, daß sie sich in mir losgerungen haben unter Schmerzen, blieb ich Dir schuldig. Es waren die, daß man jedes Kind mit dem tiefsten Mitleiden zu betrachten hat, überhaupt jeden Menschen; nur aus einem wirklichen Mitleiden heraus kann sich die rechte Stellung desMenschen zumMenschen finden. Ist nicht Schopenhauer von diesem Gedanken ausgegangen? oder bei ihm stehen geblieben? Angekommen bei diesem Gefühl, gibt es aber zweiWege, der, welcher zur Lebensvernichtung, und der, der zur Lebens­ steigerung führt. Ich möchte so gern Schopenhauer lesen, er kann mir nicht gefährlich werden, denn er kann mir nach dieser Seite hin nichts neues sagen. Der Mensch hat entweder ein offenes Kerz für die Mensch­ heit, oder er hat keins; letzterer ist ungestörter in seinem Dasein auf einer mehr tierischen Stufe, denn für das Tier gibt es kein Tierreich. Öffnet

sich aber das Lerz für das Weh des andern, dann hält cs mit Macht Einzug, daß es in alle Kammern eindringt und Lust, Licht, Lebens­ sonnenschein daraus verdrängt. Das Weh erscheint, in Vergleich zu unserer Kraft es zu lindern, so gewaltig, daß diese Kraft gelähmt wird, und der Pessimismus ist da. Ich glaube, es gehört zur Tugend der Gottesfürchtigkeit, nicht hinaus zu wollen über unsere Kraft, nicht so weit sehend und so tief fühlend zu sein; letzteres gehört auch zu dem Prometheusbeginnen und wird bestraft mitPrometheusqualen. Die Stellung, welche die verschiedenen Lebensalter zu der Kinder­ erziehung einnehmen, ist auch eine verschiedene — nur das reife, höhere Alter kann diesMitleid fühlen, von dem ich sprach. Wollten wir jungen Leuten diesen Zustand begreiflich machen, oder gar in ihnen erwecken.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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so würden wir eben kein Mitleid mit ihnen haben, sondern mit größter Grausamkeit ihre knospenden Kerzen entblättern. Menn man von Erziehung spricht, d. h. von der Erziehung eines Kindes, so richtet sich der Blick gewöhnlich auf ein Wesen, mit dem man nun zu hantieren hat, und unter Erziehung denkt man sich auch zu leicht ein fortwährendes Kontieren mit den Menschen. Daher haben gerade stille, gesunde Naturen einen Widerwillen gegen Erziehung, vor allem gegen die Fröbelsche Erziehung, denn was meist für sie ausgegeben wird, ist ein ewiges Kontieren, ein Knistern mit Papier, ein Klappern mit Klötzen, wirklich viel Lärm um nichts. Die wahre Erziehung hat es aber vielmehr mit den Dingen [bet Umgebung des kleinen Kindes) zu tun, als mit dem Menschen; die Er­ ziehung ist den Sinnen viel weniger vernehmbar als der Seele, sie ist vielmehr ein Inneres als einÄußeres, einWirkendes als Gewirktes.

Die wahre Erziehung ist so still, sie kehrt zuerst in uns selbst ein, sie beginnt mit Gebet, d. h. mit demKinwenden unserer Seele zu Gott, zu dem Köchsten, was durchs Gebet in unsere Seele strömt, um dann das Kleinste zu schaffen.Wie sich das weiße Licht in tausend Strahlen bricht — so schafft die Erziehung unter dem mannigfachsten Farbenspiel, wie Scherz und Ernst, Schweigen und Reden, Bauen und Einrichten, Schmücken und Ordnen, Lächeln und Seßfzer, Kören und Sehen — ein Nachgehen und Ergreifen. Wo der Gang der Zivilisation mit dem Aufbauen zugleich zerstört — da baut die Erziehung auf; wo die schöpferische Natur zurücktritt, da schafft die Erziehung; wo dem Kinde die Gefahr der öde wird, da bringt die Erziehung die nötige Fülle; wo der Überfluß sich häuft und mit Erstickung droht, da nimmt die Er­ ziehung leise hinweg, um Verwesung zu verhüten. And dabei ist sie dem zu Erziehenden so wenig direkt sichtbar, wie das Gesetz, das schöpferisch wirkt. Sie drängt sich nicht dem Zöglinge auf — aber sie ist da, und wenn er geängstigt sucht nach etwas, so Hilst sie ihm finden, und wenn er fragt, so bleibt er nicht ohne Antwort, und wenn er sich weinend an ein Kerz werfen will, so findet er eins, und nicht nur ein Stein und Kärte und ewiges Schweigen, wie dieNatur für mich hatte. Die Erziehung muß sein wie das Gesetz derNatur, klar, bestimmt, konsequent, und wie dieNatur in der Form beweglich, mannigfaltig und bunt — aber ohne ihre Grausamkeit; diese löst sich allein im Menschen­ herzen, das Mitleid hat. Wie wenig habe ich gelernt, weil es mir nicht geboten wurde in der Beziehung zum Köchsten, und wieviel hätte ich 18*

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Kapitel 4:

lernen können, und dadurch der Tragik vorbeugen im Mißverhältnisse zwischen Wollen und Vollbringen. Nichts sollen wir dem Kinde bieten ohne Beziehung zumSöchsten; aber diese Beziehung wird nicht immer durchs Wort ausgedrückt, viel weniger durch den Gedanken; sie erscheint ost nur im Lächeln. Wie der Gedanke zur rechten Zeit gegeben die Unsterblichkeit der Seele nährt, so wirkt er lötend, wenn man ihn direkt bringt in zu früher Stunde; aber unsere nüchterne Zeit hantiert nur mit Gedanken oder Gedankenschemen, sie hat die Engel der Kindheit verloren, die Poesie, das Symbol, welches den Gedanken einhüllt in das zarteste Gewand der Sinnlichkeit, bis die Seele gereift ist, daß sie ohne zarte Sülle das Anfaffen verträgt. Freilich, wer nicht versteht, fühlt, ahnt, glaubt, aus welchem Bedürfnis die Mythe geboren ist; wer nicht mit den Sitten auf dem Felde knieen kann, und 'gen Simmel schauen, wenn die Engel fingen: „Ehre sei Gott in der Söhe, Frieden auf Erden und dem Men­ schen ein Wohlgefallen", der kann und soll auch diese Wundermähre nicht erzählen, und wer es wagt, sie zu erklären — der kommt mir vor wie einer, welcher die Farben abkratzen will von einem Bilde, zu sehen, ob der Geist darunter sitzt. Später. Lieber Karl, kaufe mir noch einige Bücher, wenn wir wieder zusammen in Berlin find. Bücher? Ja, z.B.Rahels Schriften; ich muß das Betrinken mit Gattenlaubengeschichten usw. aufgeben, aber darf mich dann auch nicht so ermüden (bei dem Brunnentrinken). Sier fühle ich mich körperlich viel besser, wünsche mir so viele moralische Kraft, alle Morgen vor dem Frühstück eine Stunde spazieren zu gehen ....

Tagebuch.

7. August 1884. Bismarck liegt gar nichts an der Entwicklung des vierten Standes; er will die Macht der herrschenden Klassen be­ festigen und die Macht des Staates, an dessen Spitze er steht. Seine Sozialpolitik ist darauf berechnet, den vierten Stand abzufinden, damit er eben nicht zur Macht gelangt.

8. August 1884. Ein tiefer Wunsch meiner Seele wird mir wohl unerfüllt bleiben: Zch möchte mit einem Naturwiffenschaster (nicht mit einem vorwitzigen Lehrling) Goethes naturwiffenschastüche Forschun­ gen lesen, sie haben einen Zauber für mich, dem ich aber nicht nachgeben darf, weil ich so manches in mir aufnehmen würde, was in der einzelnen

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Tatsache nicht ganz richtig ist, und mich zu falschen Bildern führen würde. Aber Goethes ganze Art und Weise zu forschen, die Natur zu betrachten, in sich aufzunehmen und zu bearbeiten ist einzig schön und würdig. Ich trete Goethe immer näher, d. h. ich erfasse verschiedene Richtungen in ihm. Ich wünsche mir recht viel Zeit zum Lesen; wie spät ist der Boden in mir bereitet fiir das stille Aufnehmen. Lenriette Schrader an ihren Mann.

Zoppot, Villa Rickert. 28. August 1884. Daß ich Dich nicht finde, wenn ich wiederkomme, ist zwar recht schmerzlich; aber es wäre unzeitgemäße Sentimentalität, darüber zu klagen. Ihr seid im Kriege*) und ich muß froh sein, daß es nicht um Kopf und Kerz, Arm und Bein gilt, und daß sie Dir nichts antun und nehmen können, was Dich von meinem Lerzen risse, denn duellieren wirst Du Dich hoffentlich nicht. Ich mache mir auch nichts aus Brand­ reden, vielmehr aus der stillen, klaren Einsicht und Äberzeugungsgabe.

Aber um eins möchte ich Dich bitten. Deine Natur nicht einseitig aus Büchern und dieser Parlamentsgesellschaft zu nähren. Du mußt Deine Phantasie auch pflegen, Deine Naturwärme nicht ausgehen lassen, bitte höre auf mich Es tut mir nur leid, daß ich nicht genau weiß, wie Du zu dem Kulturkampf stehst, ich habe, dieser Frage gegenüber, mich nie sym­ pathisch berührt gefühlt und die Heldentat Falks nie bewundert. Du wirst nun endlich einsehen, daß die Leute sehr ordinär sind, und daß Bismarck doch der klügste ist, der immer nur auf die Jämmerlich­ keiten der Menschen zählt. Solch' eine Arbeit, solche Opfer, wie Du sie jetzt bringst, sie werden ihre Rückwirkung, fürchte ich, nicht versagen, wenn die Niederlage noch das ihrige tut, den Geist zu drücken; aber ich bedauere keinen Augenblick, daß Du so handelst, es war die Konsequenz eines ehrlichen Charatters, eines überzeugungstteuen Mannes. Nun wollen wir auch allen Nutzen ziehen aus den gemachten Er­

fahrungen und das Schwerste zu lernen suchen, was idealen Naturen das Schwerste zu lernen ist — mit den Jämmerlichkeiten der Menschen zu rechnen, nie auf ihre Konsequenz, nie auf ihre Ausdauer oder Opfer­ freudigkeit zu bauen. Nein, Karl, erst muß einen der volle, ganze Men­ schenekel erfassen, ehe man fähig wird, wirklich mit vollständiger Ruhe und Selbstlosigkeit für das jämmerliche Geschlecht zu arbeiten. *) Durch die politischen Verhältnisse im Reichstage.

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Kapitel 4:

Von Stöcker könnt Ihr nur lernen; in seine Versammlungen hättet Ihr nur gehen sollen;N. kann davon erzählen, da ist niemand seiner Schlauheit gewachsen — und doch fühlen die Leute, daß nicht alles richtig ist; es bedürfte einesMannes, wie Du bist, um in der Stöckerschen Versammlung den Elenden zu enttarnn

Henriette Schrader an Frau Annette Rickert. Berlin W. Anfang September 1884. Es bleibt mir noch ein wenig Zeit vor meiner Fahrt nach Eharlottenburg. Mary und Annette schlafen noch, mein Mann wandert diktierend in seinem Zimmer, und ich bin ganz, ganz bei Ihnen. Wie hatte ich gewünscht zur Zeit hier zu sein, um nicht gleich in Arbeit und Stürzerei zu kommen, damit die Harmonie meines Daseins, bei Ihnen schon eingeleitet, in stillerRuhe ausklingen konnte. Es sollte nicht sein, aber ich habe doch einen großen Gewinn aus der Qual meiner Seele gezogen, welche die letzteWoche mir bereitete — ich habe die ganze Zartheit und Schönheit Ihrer Menschenliebe kennen gelernt; zu der tiefen, hochachtungsvollenFreundschast, welche ich lange fürSie empfand, hat sich eine zärtliche Liebe entwickelt, die fast niemand mehr in mir er­ weckt, außer Kindheit und Jugend. Liebe Frau Rickert, bewahren Sie mir Ihre Liebe, ich bitte Sie darum. Außer in meinem Hause war meine innerste Seele immer ein­ sam inBerlin, wenn ich auch mancherPersönlichkeit herzliche Zuneigung schenkte, und solche von ihr empfing — aber ich hatte nie ein Haus, nie diesen gegenseitigen Verkehr, in dem man aufeinander rechnen und bauen kann, so daß man Freud und Leid mit einander durchlebt. And wie ich Sie und Emmy zärtlich liebe, so habe ich für Ihre ganze Familie ein so warmes, aufrichtiges Interesse, und ich hoffe, Sie geben mir Ge­ legenheit, es zu betätigen, das ist mein Herzenswunsch Ich fand alles hier sin Berlin) so voll gestopft, so ohn. Luft snach dem Land­ leben in Zoppot), alle Zimmer schienen mir zusammengeschnürt, meine Schlafstube eng wie ein Sarg — kurz, ich glaube, hätte ich die See er­ reichen können mit ihrer kühlenTiefe, ich hätte mich hineingestürzt; aber mein Mann würde mich gehalten haben, wie er mich denn auch an sein Herz nahm, dessen Tiefe doch schöner ist als die der See, und in der eine Wärme lebt, die, wenn er sie über mich ergießt, mir neues Leben gibt, anstatt den Tod. And so ist alles, alles wieder gut; ich fühle mich im

AuHüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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tiefsten Kerzen glücklich, ich fühle Kraft nachzuholen, ich habe alles in Ordnung im Innern, und wie ich Ihnen sagte, dah ich nur aus dem tiefsten Ernste heiter sein kann, so bin ich es auch ganz, und ich wollte nur, wir könnten unser Kaus nach Zoppot hintragen, dann müßten Sie alle, alle heute bei uns sein, und wir wollten uns des Lebens so recht erfreuen. Später. Nun bin ich wieder hier, es war sehr nett bei der Prin­ zessin Christian, trotzdem sie eine Stunde vergeblich auf mich gewartet hatte, weil die Depesche falsch war, worüber der Kerr Leutenant und andere zanken werden. Dann waren wir noch bei Kedwig Key! (Mary und Annette fuhren mit mir und gingen zum Mausoleum) An Fräulein Emily Rickert (Tochter von FrauRickert).

Berlin W. Mitte September 1884.

Welch' eine schöne Überraschung, meine liebe Emily, Deinen Brief

beim Frühstück zu erhalten. Sein Inhalt hat mich sehr erfreut und amü­ siert. Es hat mich wirklich sehr interessiert, einmal zu erfahren, wie Dein Bruder und Kerr Keibel denken; aber es ist merkwürdig, so logisch ihre Ansichten erscheinen und gewiß vielen dadurch imponieren, so haben sie nur dazu beigetragen, meinen Glauben wieder so recht zu erwärmen und mich von ihm durchdringen zu lassen. Wir leben in einer Zeit des Überganges ich begreife voll­ kommen die Abneigung, ja die Erbitterung gegen die jetzt herrschende Kirche, gegen den in ihr herrschenden Materialismus, gegen Götzen­ dienerei und Lüge! And auftichtige Ansichten, wie die der jungen Leute, sind mir tausendmal lieber, als Pfaffentrug und Pfaffenschein­ heiligkeit. Wir gehen eben einer neuen Zeit entgegen, in der alte Formen gesprengt und abgetan werden, und um dies zu erreichen, ist vielleicht einRadikalismus nötig, wie er in den besprochenen Ansichten derKerren zutage tritt. Aber es lebt in unserm Geiste noch etwas anderes, als das Licht der Intelligenz, das ist die stille Glut und Wärme des Gemütes, und durch die Anmittelbarkeit derEmpfindung werden uns ebenso Offenbarungen, wie durch das Zergliedernde des Verstandes. Aber eine Seite unseres Wesens muß die andere korrigieren und vervollständigen. Das Gemüt ohne den Verstand würde sich verirren in haltlose Schwärmereien, ja, in Aberglauben; der Verstand ohne das Ge-

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Kapitel 4:

müt aber führt zur Kält« in seinen Konsequenzen, die schließlich alles vernichtet, von dem wir doch eigentlich leben, und ich habe ost erfahren, lldß die Skeptiker gerade die Schönheit des Lebens in derWirkung dessen empfinden, deffenDasein fie verneinen, oder imRaisonnement des Ver­ standes unterschätzen. So wenig geschickt fich Lotze ausdrückt, so ist doch der Standpunkt, den er vertritt, der Standpunkt der Zukunst, wenigstens liefert er einen Beittag zu demselben, um Gemüts- und Verstandes­ leben zu versöhnen, dem Glauben seine Rechte einzuräumen neben dem Wissen. Ich weiß, liebe Emmy, durch manch verttautes Gespräch mit Dir in stiller Stunde, daß Du Dich ernst interessierst für alle diese Fragen, und ich hoffe. Du wirst Dir dieses Interesse bewahren, ohne Dich irgend­ wie mit den Dingen zu quälen. Es ist schon eingerichtet in unsererNatur, daß zwischen dem Gebiete des Verstandes und Gemütes noch ein drittes liegt — das des Handelns, und daß auf diesem Gebiete immer reicher Stoff gegeben ist zu bewältigen. Ich habe es immer bewähtt gefunden, daß unser Handeln der beste Läuterungsprozeß ist für unser Denken und Empfinden, und daß wir eine Fülle von Arbeit haben, wenn wir streben, erst einmal so viel zu verwirklichen, wie uns aufgegangen ist im Gefühl oder in der Erkennt­ nis in bezug auf dasRechte und Schöne, und wer zur Harmonie gelangt zwischenGeben undNehmen, und in dieserHarmonie dieSchönheit,welche das Leben bietet, genießt, wer aus dieserHarmonie das Leben selbst an und für sich als etwas Köstliches empfindet, in dem ist auch die Anlage zur Harmonie des Denkens und Fühlens gegeben, und es wird sich seine Zeit in ihm weiter entwickeln, wenn es das Leben fordert. Ja, meine liebe Emily, Du brauchst nicht traurig zu sein, daß Du Dein Leben nicht in der Kunst konzentrierst, wie Fräulein Keibel und Fräulein Ludka usw. Die Kunst ist nur ein Symbol fürs Leben, und wie unentbehrlich sie uns sei zum höheren Leben, sie schafft doch wieder aus ihm. Dir ist eine schöne Gabe verliehen für das Leben, bilde sie nach und nach zur Kunst aus. Ich habe bei Euch wieder so recht erfahren,

welch' ein wichtiges Lebenselement die Gaststeundschast ist — wie not­ wendig es ist, daß die Frauen nicht alle aufgehen in äußerer Geschäftig­ keit für das äußere Leben; wie herrlich es ist, wenn man Zeit hat für den einzelnen Menschen. Ich unterschätze keineswegs die Bestrebungen für bessere Einrichtungen in der Gesellschaft, im Gegenteil. Ich verehre auch die Kunst, ich preise auch die wahren Jünger und Jüngerinnen glücklich.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Jedes Ding wohin es gehört; aber im großen und ganzen gehören wir Frauen der Pflege einzelnerMenschen, schöner Verhältnisse, und welch' ein Segen bietet ein gastliches Laus dem ermatteten Arbeiter, dem strebenden Geiste in der Atmosphäre wahrer Gastlichkeit, die den innern Menschen aufnimmt; da löst sich so mancher Streit, da beruhigen sich die Wellen des innern Lebens. Lind Emmy, diese Gastlichkeit findet man im Kerzen, sieh, ich habe sie im Kerzen DeinerMutter gefunden. Bilde die schöne Anlage in Dir aus, das Leben zu gestalten, durchs Leben Schönes zu geben. Du weißt. Dir ist ein reiches Feld gegeben. Du weißt, was ich meine. Dies ist eigentlich kein Brief, was man ge­ wöhnlich unter einem Briefe versteht, es ist eben eine Fortsetzung unserer schönen stillen Stunden, und ich kann nicht plötzlich Fäden abschneiden, die sich mir aus der Seele spinnen. Wie freue ich mich auf Eure Rückkehr Vielleicht interessiert esLerrnK., inRücksicht auf unsere Gespräch«, einmal den Aufsatz zu lesen, den ich Dir gab. Ich küsse Dich von ganzem Kerzen, mein liebes Kind, und bin und bleibe Deine treue mütterliche Freundin K. S.

An Frau Annette Rickert.

Berlin W. 14. Oktober 1884. Keule kann ich mir die große Freude bereiten, Ihnen zu schreiben, unmittelbar nachdem ich Ihren lieben, traurigen Brief empfangen habe Mir erscheint das alles so ganz fremd und fast unmöglich, daß Sie nicht kommen und den Mittelpunkt Ihres Kaufes bilden, denn, liebe Frau Rickert, was sollen ohne diesen Mann und Kinder an­ fangen? Sie haben vielleicht kein klares Bewußtsein von dem großen Einflüsse, den sie üben. Auf Sie paßt das SchillerscheWort: „DasWeib wirtt, wo es erscheint". Run weiß ich gar nicht, wo Franz ist? Keinz hat sich hier nicht blicken lassen. Sie müssen ihm das ja nicht vorwerfen — ich habe gar nichts Weiches, Schmeichelndes für die Männer im all­ gemeinen, und das wollen die meisten, und somit ist ihnen in meiner Nähe nicht so sehr behaglich; denn das wahre, aufrichtige Interesse und die Treue der Freundschaft, die ich bieten kann, ist altmodiger Natur. Ich muß hierbei erwähnen, daß ich mit wahrem Kochgenuß Lettners

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Kapitel 4:

Literaturgeschichte lese, und zwar sein Kapitel über Rousseau, weil ich mich auf meine Stunden vorbereite. In diesem Kapitel ist fast wörtlich die Diskussion zwischen mir und Äeinz zu finden; was er vorbrachte, sagten wirklich die Enzyklopädisten, und mein Standpunkt wurde vom Pfarrer von Savoyen vertreten und auch von Lettner. Der Stteit zwischen den verschiedenen Geistestätigkeiten, und welche die Über­

macht erhalten soll, ist ein sehr alter, und doch kann die Wahrheit nur erscheinen durch das harmonische Zusammenwirken der verschiedenen Richtungen — die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft geht aber durch Einseitigkeiten. Als durch die scholastische Philosophie die Verstandestätigkeit nur Spitzfindigkeiten hervorbrachte, kamen ehrwürdige Geister eines Tauler, Suso usw. und führten die Menschen wieder zur Vertiefung des Gemütslebens — nach derReformation und dem nach­ folgenden Gezänk der Theologen, das aller Liebe bar wurde, erschienen ein Franke und Spener. Es geschieht nichtsNeues unter der Sonne, die Grundelemente bleiben, um die es sich handelt; aber sie werden immer neu komponiert, und somit ist doch eine Fortentwicklung zu verzeichnen. Wenn sich unsere jungen Leute nur vertiefen wollten in die Geschichte, so würden sie sich und ihren Standpunkt verstehen und nicht so über­ stolz auf ihre Aufklärung und ihre Weisheit blicken. Wir haben doch manche Züge von dem Zustande vor der französischen Revolution zu verzeichnen. Mir ist in der köstlichen Stille bei Ihnen — wie ich glaube — der Schlußpunkt meiner Lebensanschauung gekommen, die zusammenfällt mit meinen Erziehungsbestrebungen; ich habe — glaube ich — den ein heitlichenMittelpunkt gefunden, die Zelle, aus der sich alles, was ich zu sagen habe, entwickelt. Wir machen uns die ganze Bedeutung der Fa­ milie und ihres Erziehungsapparates noch nicht klar — die Familie hat ihre Geschichte — wie alles; sie ist der Schlußpunkt derNatur, der An­ fangspunkt der Kultur, und weil die Familie von der Entwicklung der Kultur so beeinflußt wird, ihreResultate in sich aufnimmt, und mit dem Zuge derNatur auf das wunderbarste verschmilzt, so hat auch die Fa­ milie ihre Wissenschaft und ihre Kunst. Sie ist der Ausgangspunkt aller Erziehungswissenschaft und Erziehungskunst. Wir müssen überhaupt auch in der Geschichte die Elemente der geistigen Entwicklung zu erkennen suchen, und die äußeren Tatsachen um diese gruppieren, oder vielleicht deren Stellung zu den leitenden Ideen der Entwicklung suchen, sonst

können wir den Stoff nicht mehr bewältigen.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Die Seelen unserer Kinder werden ja überhaupt jetzt von Stoff, massen erdrückt, und deshalb kann die eigentliche Bildung, die Formung des Geistes nicht vor sich gehen. Vielleicht drücke ich mich noch unklar aus — meine innere Ent­ wicklung geht immer von Anschauungen aus — ich sehe erst Zustände und Vorgänge innerlich, und dann erst werden sie zu Gedanken, die ihren Ausdruck suchen, um sich andern verständlich zu machen; vielleicht bin ich noch nicht soweit. Es ist aber eine große Beruhigung über mich gekommen in diesem immer klaren Schauen der historischen Entwicklung, ich habe einen un­ erschütterlichen Mittelpunkt gewonnen, oder vielmehr gewisse Grund­ züge, den Aufzug, und alles, was ich höre, lese, erfahre, webt sich als Einschlag hinein, und so ist mir ein Lebensgenuß aufgegangen, den ich bis dahin nicht gekannt — nichts mehr bleibt vereinzelt. So sehne ich mich immer nach Ruhe, um etwas Gutes zu lesen, um mich auf meine Stunden vorzubereiten, wie sie mir genügen. Ich habe augenblicklich die Vorbereitung des Kindes für das Lesen und Schreiben durch die Beherrschung der Sprache und in der Anterrichtslehre das Sprech-Schreib-Lesen; liebe Frau Rickert, wie wichtig ist es, wie der Mensch lernt. Ich habe ein vortreffliches Buch über die Ent­ stehung der Sprache in der menschlichen Gesellschaft, in welchein der Nachweis geliefert wird, daß die Sprache sich mit der Arbeit und dem Gebrauch der Land und deren Entwicklung gebildet hat — ich lyuß Ihnen aus diesem Buche vorlesen, Mar Müllers und andere For­ schungen liegen dem Werke zu Grunde. Ich war recht dumm, Leinz nicht auf das Gebiet der Sprachentwicklung zu bringen — aber in Zoppot arbeitete so vieles in mir — und in solcher Zeit sinkt so vieles unter, was aber wieder erscheint, wenn der Entwicklungsprozeß zu einem gewissen Abschluß gekommen ist. Aber wohin bin ich geraten? FrauLeyl und ich hatten besprochen, Emmy die Buchführung für die Kochschule zu übertragen und manche Kommissionen, soweit ihre Zeit und Kraft reicht. Frau Leyl wollte gern Emmy selbst in verschie­

denen Dingen unterweisen, auch in der Buchführung, aber Sie wissen, es ist mein Prinzip, die nächsten Pflichten zuerst zu erfüllen, und ich bitte dringend dies immer in bezug aufE. im Auge zu behalten. Morgen geht mein Unterricht wieder an, auf den ich mich vorberei­ ten muß; so bleiben wieder tausend Dinge unausgesprochen, die ich Ihnen auf Ihren lieben Brief hätte antworten mögen

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Kapitel 4:

Henriette Schrader an ihren Mann. Berlins. 25. und26. Oktober 1884.

Nun, mein lieber Karl, das sind wirklich schwere Tage für Dich unk» auch fiir mich — hier ohne alle nähere Nachricht zu sein, und die ekel­ erregenden Angriffe auf Dich und Deine Partei zu lesen — es gehört etwas dazu, dies ruhig zu ertragen, doch ich tue es, denn ich will kein Stückchen Kraft unnütz verbrauchen. Ich weiß jetzt kaum, was ich wünschen soll für Dich. Nach allem, was man erfährt, steht es doch noch recht traurig um die deutscheNation. Was hilft denn die Arbeit im Reichstage? Nein, überlaßt das Reich dem Satan der Lüge und der Perfidie, damit es in fich uneins wird; schont Euch für andere Tage, arbeitet erst an der Bildung des Volkes. Karl, wir müssen schreiben. Wie kannst Du einer Masse Ideen bei­ bringen, wozu alle Vorbedingungen in den Seelen fehlen? entweder der gesunde Menschenverstand, den nehmen uns die Schulen; oder ein herz auf dem rechten Flecke, das verzerren die Pfaffen oder di« Auf­ klärer; oder eine wissenschaftliche Durchbildung des Geistes auf wirt­ schaftlichem und historischem Gebiete, das verhindert der Bismarck­ kultus. Wir müssen für eine große Umgestaltung unseres Bildungs­ wesens arbeiten, vorerst schriftstellerisch. hältst Du noch eineRede in Braunschweig ? O Karl, sprich einmal mit der Leidenschaft des Herzens — Du hast sie, sie liegt tief— aber um der Wenigen willen im Lande Braunschweig, die ehrlich zu Dir Hallen. Sprich ein warmes Wort über den Protestantismus auf dem Gebiete der Kirche undPolitik. Ich wußte aber wohl, daß Dein Zusammengehen mit den Katho­ liken gefahrbringend war; aber es schadet ja nichts, wenn es recht und kein Wahlmanöver war, als solches scheint es verfehlt; ich wollte nur. Du hieltest ein« tiefer gehendeRede. hoffentlich traust Du niemand mehr. Nein, Karl, der jämmer­ liche Eigennutz derMenschen, sei es auf dem Gebiete der Eitelkeit, mate­ riellen Vorteils, Ansehen, Ehre, ist so groß, wie ich es doch nicht gedacht habe. Unsere Siege über Frankreich haben uns geradeso korrumpiert, wie unsere Niederlagen von dort her. Das sittlich« Verderben wird nicht aufzuhalten sein; aber dennoch glaube ich an «inen Fortschritt, und deshalb möchte ich mit vorarbeiten an den neuen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, welche sich aus den Trümmern der alten erheben

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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wird; wir müssen neue Erziehungsmittel schaffen. Sprich, Karl, sprich noch vom Standpuntte des Sittlichen, ich möchte reden mit der braun­ schweigischen Landeszeitung in der Land! Lebe wohl, geliebter Mann. Später. Ich kann nur wiederholen, daß ich ganz ruhig geworden bin — steigt die Gemeinheit bis zu einem Grade, so berühtt sie einen nicht mehr. Aber was werden die Folgen sein für Deine Geistesentwicklung? Wie werde ich Dich wieder haben? Wie man sich ttennt, weiß man, wie man sich wiederfindet nicht. Nun, ich glaube, auf mich hat dies Stück Geschichte nur einen entwickelnden Einfluß, einen stählenden. Ist nicht Bennigsen doch ein kluger Mann, daß er sich in diesem Gewirr nicht verbraucht? Karl, ich glaube, es ist nötig, daß Du so oder so Zeit findest zur Vertiefung in ernste Studien. Muß nicht Dein Geist nach dieser jahre­ langen Last und Arbeitslast einmal untertauchen? Du bist noch nicht verbraucht. Nun, mein geliebter Mann, ich fühle mich so ganz Dein! Deine Depesche erhielt ich, und nun klopft mein Lerz dem Sonntagmorgen entgegen, endlich, endlich, werde ich einmal an der Quelle wieder trinken.

Deine Frau.

In Liebe

Am 26. Unsere Köchin hat Klara gefragt, was Du denn eigentlich in Braunschweig wolltest, sie hatte einige Wahlzettel vor der Tür ge­ sunken: „Ach ja, mein Vater kriegt auch so vieleWahlzettel, daß er ganz ärgerlich wird, und der Landrat tut nur fteundlich, weil mein Vater ihm den Willen tun soll; nach den Wahlen sieht er ihn kaum an." Das ist ein Stück Küchenpolitik. An Frau Direktor Luise Jessen.

Berlin

29. Oktober 1884.

Meine liebe Frau Jessen! Ich habe beinahe vierzehn Tage während meines Mannes AbWesenheit mit einem Sekretär die politischen Sachen besorgt, und so einen tiefen Einblick in die Dinge getan. Leider hat mich das in eine Stimmung gebracht, die wie eine geistige Krankheit ist, d. h. wie wenn man sich den Magen verdorben hat und Ekel an jeder Speise empfindet — so empfinde ich Ekel vor der menschlichen Gesellschaft. ES setzt sich bei mir immer mehr der Gedanke fest, daß sowohl mein Mann wie ich uns

Kapitel 4:

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zurückziehen und schreiben sollten. Es fehlt so durchaus an dem rechten Bildungsmaterial für die Heranwachsende Jugend, sowohl der männ­ lichen, wie der weiblichen.

Der weiblichen fehlen Leitfäden für den Erziehungskursus, der männlichen Einführung in die Sozialpolitik. Könnten wir beides tun — im praktischen Leben arbeiten und schreiben, so wäre das schön; aber ich kann es nicht. Für das Pestalozzi-Fröbel-Laus fehlen die Mittel; zehn Jahre habe ich gearbeitet mit Annette, kein Opfer war uns zu groß — die innern Resultate zeigen uns, daß wir auf dem rechten Wege waren; die äußeren, daß eigentlich niemand die Bedeutung der Arbeit versteht. Nun glaube ich, daß es für die Ausbreitung der Sache (an die ich fest glaube als an einen Punkt, der mit helfen wird, erlösend zu wirken) wichtiger ist, daß ich den Menschen etwas Schriftliches gebe, als daß ich ihr meine tägliche Arbeit widme, die verhältnismäßig so wenig wirkt, da meine Schülerinnen zum Teil ganz unentwickelte Mädchen sind. Noch ist meines Mannes Wahl unentschieden; aber es steht nicht gut, und ich nehme seine Niederlage für sicher an; sollte sie erfolgen, so würde ich alles daran setzen, soweit eine Frau das tun darf, daß wir von Berlin fortgehen; ich sage Ihnen dies, damit Sie meine Zurückhaltung ver­ stehen. Ich will mich für nichts engagieren und Fäden, die ich gelöst, nicht wieder knüpfen. Ich habe Sie aber zu lieb, um Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Mein Mann ist wirklich ein großer Charakter, er arbeitet, bringt jedes Opfer für seine Überzeugung und hängt gar nicht am Erfolge. Als gestern abend schlechte Nachrichten aus seinem Wahlkreise ein­ liefen, sagte er: „Nun, ich habe das Meinige getan, wenn es nicht sein soll, so gibt es andere Arbeit". Dann gingen wir zuBett, und während ich schlaflos da lag, schlief er ruhig und sanft wie ein Kind, und heute morgen ist er ftisch und fleißig 1 And ihn nennen sie einenRevolutionär, einen Papisten, einen ver­ blendeten Schleppenträger von EugenRichter usw. Der Tod des Herzogs griff sehr unheilbringend in den Wahlkampf

von meinem Manne ein, es kam die Clique zur Herrschaft, die meinen Mann haßte, weil er nicht ihr Schleppenträger ist.

Leben Sie wohl. Ihre

L. S.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Tagebuch.

November 2. 1884. Welche schwere Zeit habe ich durchgemacht, wie hat Menschenekel meine Seele erfüllt, Zorn, Schmerz, und dann wiederMut und Erhebung. Aber ich bin jetzt niedergeschlagen, nicht über den Stand der Dinge, sondern über meines Mannes Natur gegenüber dem Stand der Dinge. Er wird sich verbrauchen und verbrauchen lassen. Er hat etwas von Egmonts Sorglosigkeit, nur kommt sie aus einer andern Quelle. Bei Egmont, d. h. Goethes Egmont, ist es Bedürfnis nach Lebensgenuß, welches ihn abzieht von der Sorge in seinem Beruf; bei Karl ist es un­ endlicher Fleiß die Dinge zu ergründen, Gefälligkeit für andere und ein

kindlich reiner Sinn. Diese unberührten Naturen, die heiteren Sinnes alles einsetzen für Wahrheit undRecht und über dem Schmutze schweben, sie gehören nicht in diese Zeit, in welcher sich nur schlaue Berechnung, ein in alle Lebensverhältniffe und Lebenskanäle Kriechen, das Miß­ trauen gepaart mit kräftigem Egoismus und Kombinationsgabe be­ haupten.

November 11. 1884. Die Vorgänge bei den Wahlen haben uns in die Tiefen der menschlichen Gesellschaft schauen lassen, und wir nehmen mit Schrecken wahr, wie es denn eigentlich steht. Ein ehrlicher, hoher und reiner Charakter gilt nichts mehr im öffentlichen Leben, ebensowenig eine aufNachdenken, historischer Forschung und Erfahrung im gegenwärtigen Leben klare, ruhige Auffassung der Dinge und un­ erschrockene Vertretung derselben — die kleinlichsten Leidenschaften sind erregt, die unklarsten, verzerrtesten Vorstellungen wogen durcheinander. Nur drei Parteien stehen fest: Das Zentrum, die Sozialdemo­ kratie und die Deutsch-Freisinnigen, d. h. die letzteren stehen nur fest in ihrer Ansicht, aber nicht, noch nicht fest im Boden der Nation, sie ist noch nicht reif. Das Zentrum hat bestimmte Ziele und treue Leeresfolge; die Sozialdemokraten wissen, daß sie etwas nicht wollen — die jetzige Staatsverfaffung, die jetzige Stellung des vierten Standes, aber das positive Ziel ist eingehüllt in ein unbestimmtes etwas, gerade deshalb folgen ihnen die Massen mit mächtigem Zuge in vollständiger Organi­ sation, in geschlossenenReihen und mit großem Opfermute; gerade weil sie noch auf dem Boden kämpfen, auf dem sie stehen wollen, weil sie noch ins Anrecht gesetzt sind durch Ausnahmegesetze, darum richten sich die Willensbestrebungen auf ein Ziel, darum fließen sie ineinander und

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Kapitel 4:

bilden einen Willen. Laben sie durch ihr Vordringen den Platz erreicht, kommen sie zur ruhigen Besinnung, beginnt nun die Arbeit derNiederlaffung, der Organisation, dann wird die Partei uneins und zwar in zersetzender Weise — es müßte sonst ein Genie unter ihnen erstehen, um sie unter seinenWillen mit eiserner Kraft zu beugen. Jetzt gilt jeder Partei und jedem Parteigenossen als das nächste Ziel, die möglichst zahlreiche Vertretung imReichstage, und sie kämpfen um die Sitze mit einer wohl noch nie dagewesenen Erbitterung und von vielen Seiten mit unerhörter Schamlosigkeit in bezug auf die Wahl der Mittel. Fast in jedem Wahlkreise standen einander drei, ja zuweilen vier Parteien gegenüber, und die Parteien, die sich in einemWahlkreise aufs höchste anfeinden, schließen in andern Wahlkreisen wieder Bündnisse; aber ebenso werden sie wieder gelöst, wenn in der Entwicklung der Dinge dieMöglichkeiten für einePartei sich ändern, und das Fallenlassen eines Bundesgenossen, die Verbrüderung mit dem bis zu dem Augenblicke bekämpften Feinde vorteilhafter erscheint. Anter dem Scheine und Vorwande nur Männer in den Reichstag zu bringen, welchen im öffentlichen und Berufsleben nichts vorzuwerfen ist, wird mit der Sonde in der Vergangenheit jedes einzelnen gewühlt und mit Iubelgeschrei irgend etwas ans Licht gefördert, das dem Be­ treffenden einen Makel anhängt oder einen Flecken auf ihn wirst, ganz unbesehen, ob die Sache, die man hervorholt, wirklich zu dem Angeklag­ ten gehört oder nicht, und das geschieht ost in letzter Stunde vor der Wahl, so daß der an den Pranger Gestellte sich nicht mehr davon los­ machen kann; oder Verdächttgungen seines politischen Charakters wer­ den auf ihn gehäuft, wo man gar keinen geschickten Schachzug gegen die moralische Seite tun kann; Verdächtigungen, welche die, welche sie in die Welt schleudern, selber nicht glauben, ja, mit ftivolem Lächeln sich die Lände reiben über den Scharfsinn und die Erfindung, die wirken werden. Das Archiv fiir politische Tagesliteratur wird hoffentlich eine Sammlung von Flugblättern, Proklamattonen und Auftufen aus den verschiedensten Wahlkreisen anlegen — freilich ein trauriges Geschäft — denn es überliefert unsernNachkommen Zeugnisse fittlicher Verkommen­ heit und Zerfahrenheit; aber die Wahrheit darf man nicht versenken. And während sich solches vollzieht im Leben der Männer, was tun die Frauen der Kämpfenden? Die meisten wissen nicht, um was es sich handelt. Sie find ver­ stimmt, wenn di« Wirkungen der Kämpfe bis in ihren Bereich dringen

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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als Ungemütlichkeit,Mehrausgaben und dergl. Sie schelten aufdiePolitik, sie schelten ihre Männer, daß sie Politik treiben oder, wenn man dies nicht wagt, herrscht dochMißmut und Verstimmung. Andere nehmen Teil, insoweit es ihr Ehrgefühl, ihre Eitelkeit be­ rührt, sie nehmenPartei für denMann, weil er ihrMann ist und hassen jeden, der denselben unliebsam zu berühren wagt. Glücklich schätzen sich diejenigen, welche weder durch den Gatten noch Bruder noch Vater mit den „unerquicklichen Dingen" zu tun haben; sie malen, singen, hören Vorlesungen und tanzen und halten sich Augen und Ohren zu, um nur nichts von den häßlichen Dingen zu hören und zu sehen. Es geht sie ja nichts an! Nein, vielleicht geht sie momentan der Krieg nichts an, d. h. sie werden noch nicht direkt von ihm berührt, aber sie leben mit derMännerwelt, deren großer Teil direkt oder indirekt am Kampfe beteiligt, und welche der Unsittlichkeit, Schamlosigkeit und Feigheit teilhaftig geworden ist, welche der Streit aus dem innern ans Licht gefördert hat, und das geht sie viel an, sehr viel. Die Dinge, welche geschehen, sind Symptome, die auf ungesundes Blut in der Gesellschaft schließen lassen; Erzeugnisse, welche eine Boden­ beschaffenheit voraussetzen, die teils auf trostlose Äärte und Unfrucht­ barkeit oder beginnende Fäulnis auf dem Gebiete sittlich-religiösen Le­ bens zeigt, und das geht uns Frauen viel, o sehr viel an. Und diese Zustände sind im Gefolge glorreicher Siege auf den Schlachtfeldern, Gefolge hochentwickelter Wissenschaften, rastlosen Ler­ nens, Schulzwanges, Schulen aller Art für Klein und Groß, voni Morgen bis zum Abend. Begriffsverwirrung herrscht in den Köpfen, Trägheit des Geistes bei alle den erlernten Kenntnissen; Gewissen­ losigkeit trotz aller Aufklärung über die Pflichten. Und ein solches Wirrsal auf politischem Gebiete entsteht unter der glorreichen Regierung des Reichskanzlers, welcher „abgöttische Verehrung" genießen sollte.

Lenriette Schrader an ihren Mann. Neu-Watzum. AnfangMärz 1885. Du schläfst noch ruhig, denn es ist noch nicht 8 Uhr, ich bin schon lange wach und jetzt schon fertig angezogen. Ich habe mich auch um VilO Uhr zu Bett gelegt, und Schwester Anna hat mich in den Schlaf gelesen. L y \ dj i n «t a, Henriette Schrader TI.

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Bruder Erich war gestern abend bei uns, und ich hab« mich seiner Liebe und Treue recht erfreut; er ist des Bruder Karls größte Stühe in der traurigen Zeit gewesen.*) Später. Ich habe mit Anna in ihrer kleinen Geschäftsstube Kaffee getrunken — in allen Zimmern duften Hyazinthen und Veilchen, und AnnasBlattpflanzen find ganz herrlich. Es ist mir hier nie fremd, wenn ich hier bin, mein Inneres knüpft gleich wieder an die Vergangenheit an. Als ich gestern auf meiner altenStube war, meinen Schreibpultsah und aus dem Fenster blickte, war es mir, als hätte ich eben dort an Dich ge­ schrieben, als hörte ich Deinen Tritt und fühlte geradeso, wie vor langen Jahren 1 Ich glaube ein Frauengemüt bedarf der Muße, sie bedarf der Zeit, um ein inneres Leben zu führen, die Taten und Arbeiten des Tages und der Außenwelt innerlich fortzuspinnen. Kätte sie dieses Bedürfnis nicht, so könnte sie nie eine gute Mutter sein. Für das erste Kindesalter und noch für das spätere ist es so wichtig, die feinen Seelenfäden der Kinder ans Licht zu ziehen, und das tut man nur, wenn man Zeit hat und selbst innerlich lebt. Immer klarer wird mir mein Leben der Kind­ heit, was mir da fehlte, was mir da Wohltat. Es fehlte mir die rechte An­ leitung zur Arbeit; die in mir wohnende Tatkraft fand nicht den rechten Stoff, und sie würde verderbenbringend sich gegen mich gekehrt haben, hätte die Mutter nicht Interesse gehabt für mein Fühlen und Denken. Wenn sie mit dem Strumpftorbe da saß und stopfte, so dursten wir immer zu ihr kommen mit all unsern Angelegenheiten, und sie stopfte fleißig weiter; aber sie hatte das rechteWort zu rechter Zeit. Ehe die Menschen nicht auf das Entstehen des Charakters ihre Blicke lenken, ehe sie nicht wissen, daß ein stilles, innerliches Dasein not­ wendig ist für die Entwicklung des Kindes, «her wird die grundlegende Erziehung nicht in ihreRechte steten. Früher gaben die Verhältnisse diesen Mittelpunkt für die Kinder — jetzt muß man ihn mit Bewußtsein schaffen. Nein, Karl, es müssen nicht alle Gefühle, alles innere Leben in sichtbare Taten umgesetzt werden; es müssen nicht nur Fruchtbäume und Kornfelder, sondern auch Blumen undRanken und Grün auf derWelt sein, und derMensch lebt nicht von Brot allein. Lätten wir Kinder, so würde das, was so tief in meiner

*) Die Schwägerin erkrankte an einem schweren Nervenleiden und mußte eine Letlanstalt aufsuchen.

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Seele lebt, seinen Mittelpunkt gefunden haben, aber ich habe eine ttau» rige Mahnung erhalten, daß diese unverbrauchte Kraft sich nicht wider mich kehtt. Last Du nicht schwer darunter gelitten, daß Dir ein verständnisvolles Mutterherz fehlte mit seiner zartfühlenden, nachgehenden ,Liebe? Dein trübes Kinderschicksal ttaf nun zum Glück auf eine kraft­ volle Widerstandsfähigkeit An Anna Breymann.

Berlins. 17. Mär-1885. Mein Mann war so glücklich, mich gesund und im Lerzen ruhig wieder zu haben, daß er Dir telegraphieren und — ich glaube sogar schreiben wollte, so wirst Du Deine Sorge los sein, ehe dieser Brief bei Dir ankommt. Ach, meine liebe Anna, wie eigentümlich ist es doch, daß man beim größten Schmerze doch wieder tiefen Frieden im Lerzen haben kann. Diese über uns verhängte Prüfung der letzten Wochen hat eine mächtige Wirkung auf mich gehabt und zwar nach der Seite hin, daß ich den Lebensstoff, der mir gegeben ist zur Bearbeitung, noch ganz anders benutzen werde, als bisher — kein Körnchen Glück und Lebensfteude, welches ich finde, soll mir mehr verloren gehen; nicht, um mich genuß­ süchtig darin abzuschließen, sondern um daran zu erstarken und mir die friedvolle, heitere Anschauung des Lebens zu erhalten, vermöge welcher man den Kampf des Lebens leichter besteht, als wenn man zuviel grübelt, und die Dinge zuviel auf fich selbst bezieht. Nur wenn man das Leben kräftig, friedvoll und klar erfaßt und zu beherrschen sucht, kann man andern etwas sein, und wenn man das Gute, welches man im Leben besitzt, einsaugt, wie der Baum den Sonnenstrahl, dann kann man auch wiederWärme und Licht abgeben und verbreiten. And daß auch Du auf diesem Wege bist, geliebte Anna, das macht mich so glücklich, immer sehe ich doch Dein liebes Gesicht, welches mir noch nie so reizend erschien, wie diesmal, immer höre ich Deine Stimme und sehe Dich so geschäftig hin und her eilen, für alle denkend und sor­ gend, und vor allem in der verflossenen Woche für mich; eS ist so süß, die liebende Schwesterhand zu fühlen, so beruhigend, daß Du uns allen eine Leimat bewahrst, ein Stückchen Erde, das wir unser nennen, einen Lalt und Mittelpuntt für die zerstreuten Mitglieder der einen Familie. Nur mußt Du noch ein Stück Ängstlichkeit um mich aufgeben, ich bin kein Baby mehr und auch noch keins geworden durch After-schwäche. Mir haben die Tage bei Dir so wohl getan ttotz Kummer und Leid. 19*

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Kapitel 4:

Unb so wünsche ich Dir so recht von Kerzen Glück zu Deinem Ge­ burtstage, liebe, liebe Anna, ich wünsche Dir bett Frieben Gottes, ber höher ist als alle menschliche Vernunft — Du verstehst wohl, wie ich bas meine. Meine Reise ging recht gut vonstatten, freilich ist bas Börßum eins Schandfleck ber Eisenbahnverwaltung, unb ich glaube, wenn es nicht gutes Wetter ist, sollte man über Braunschweig fahren; bei Schnee, Sturm unbRegen kann man sich in Börßum wohl eine Krankheit holen. Ich fuhr mit einem labbrigen, krabbigen Braut- ober Ehepaar unb mit gesetzten Eheleuten, tue Frau ber letzteren war im Schlosse in Pension gewesen vor sieben Jahren, sie meinte, Fräulein Vorwerk sei boch bewunberungswert; sie sprach sehr braunschweigisch unb wünschte zu wissen, wer ich sei; aber ich offenbarte mich nicht. Als wir in Berlin ankamen, sah ich sie lange hinter mir her sehen, währenb ich Annette unb Karl suchte. Wir fanben uns balb unb freuten uns innig, einanber reichet zu haben. Annette hielt einen köstlichen Strauß italienischer Blumen, bie Karl besorgt hatte, in ber Kand, unb Karl hatte sich mit Kuchen bepackt. Kier angekommen, rissen sichPortier unb Frau um meinen Koffer unb stiegen schon triumphierenb bie Treppe hinan, als L. unbM. erschienen, unb als Klara auch noch kam, ba würbe ich wirklich ganz heiß von betit Geschwirre. Annette blieb bieNacht hier, unb wir plauberten noch bis Mitternacht, unb manche heiße Träne fiel in unser Glück, bas wir brei empfanben, wieber beieinanber zu sein. Ach, ich empfinbe ebenso schwer unb tief bie Trauer um unser Leib, als bie Freube um unser Glück, unb oft wanbern meine Gebanken, meine innern Augen nach Oker, wo ein so schöner Lebensstoff nun brach liegt. Anna, wir können viel tun innerlich unb äußerlich zu helfen, Bruber Karl ist unserer Liebe so zugänglich. Wie sehr habe ich mich auch gefreut an Erich unb seinen Kinbern, beide sinb mir sympathisch, Gretchen unb Kans sind recht verschieben, unb doch haben beider Eigentümlichkeiten soviel Reiz für mich, unb auch ber Kleinste hat ein liebes Gesichtchen. Ich entbehre recht viel, daß ich der Geschwister Kinder nicht öfter um mich haben kann, ich glaube, wir würden uns sehr gut miteinander ver­ tragen. Ich brauche immer etwas Zeit, mich mit Kindern einzuleben, ich beobachte gern still; aber ich weiß mit diesen Kindern würde ich in ein schönes, inniges Verhältnis kommen; ich möchte ihnen etwasNettes schenken, aber kein unnützes Kram, und Tante Anna, gib Kans nicht gleich Kuchen, wenn er kommt. Ich möchte auch der Kinder wegen ein-

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mal wieder längere Zeit zu Dir kommen, weil sie mir solche Freud« machen und auch mit Liesbeth längere Zeit verkehren; ich kenne sie eigentlich so wenig, und es wäre so schön, wenn wir uns näher ständen, auch um des lieben, guten Erichs willen. Grüße ihn recht herzlich, er kann alles in diesem Briefe lesen.

1. April 1885. Lier ist alles toll mit Bismarckfeier; ich rühre keinen Fuß danach. Sonst ist es recht schön bei uns, Karl zu Lause fleißig, aber doch dann und wann uns vorlesend; ich den Kopf voll Arbeit, die mich interessiert, nichts nach der Welt fragend, innerlich und äußerlich unabhängig, gesund und kräftig, was will man noch mehr? Ich habe mit der Welt Abrechnung gehalten, lasse mir Leid und Sorgen nicht näher kommen, als es gilt zu helfen; ich lerne doch Lebensweisheit von meinem Manne und bedauere nur, daß ich das Leben nicht von vorn anfangen kann mit meinen Erfahrungen und meiner inneren Bildung; ich hätte schon denMut und die Lust dazu .......

Tagebuch.

4. April 1885. Anser Frauenleben ist viel zu subjektiv und viel zu einseitig auf persönliche oft kleinlich persönliche Verhältnisse konzen­ triert. Für große Umwandlungen gibt es aber nur große Mittel, breit«, tiefe und weite Grundlagen. Kunst und Natur und Liebestätigkeit für andere angeknüpft an die natürlichen Neigungen der Kinder, ohne viel Anspruch zu machen an die Überwindung der eigenenNatur, können denMenschen abziehen von sich selbst. Aber wie treibt man Kunst? Am die Eitelkeit zu befriedigen, oder sie zum Gewerbe zu machen; wie führt man die Kinder in die Natur?

nicht etwa um in derNatur zu trinken, an ihrem vollen, ganzen Leben, sie zu erfassen und sich anzueigncn in allmählicher Beherrschung ihrer Kräfte; nein, durch Buch, Gerippe und Schema, durch Zerzupfen und Zerreißen, das ist der Anfang und das Ende I And durch dies Treiben wird alle Zeit und Kraft der Jugend aufgezehrt, es bleibt nichts mehr übrig für das heitere, kraftvolle Gesamtleben des Daseins, und was nun?

4. Juli 1885. Rickert und Richter sind Antipoden. Rickert ist eine positive, schöpferische Natur, welcher etwas vor sich bringen muß, um das Gleichgewicht seiner Natur nicht zu verlieren. Richter paßt gerade

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Kapitel 4:

in die Position, in welcher er steht — er ist der Geist, der stets verneint, der eine scharfe, geschickte, wenn auch oft grobe Klinge führt. Die Pfluge schar würde er nicht leiten können; auS dem Standpunkte der Opposition vertrieben, wird er finken,Rickert steigen.

Lenriette Schrader an ihren Mann. Zoppot,Villa Rickert. 8. Juli l885.

Annette und ich sind nach einer recht gutenReise glücklich hier an­ gekommen, und ich habe mit wirklicher Freude denRickertschen Boden wieder betreten. Es ist merkwürdig, wie heimatlich mir hier alles ist, wie ganz zu meinem Wesen gehörig; der Hauptgrund davon ist Frau Rickerts edle, wahre Natur. And Du, mein Lieber, kannst in baumloser Kitze am Schreibtische schwelgen, ohne Essig und Wermut — oder geht es Dir vielleicht mit mir, wie einer Mutter, welche das Kind am liebsten hat, welches ihr die meiste Sorge macht? Sollte es Deiner so elastischenNatur vielleicht gut tun, ein bißchen vom Schwersinn Deiner Frau gedrückt zu werden? FrauRickert versteht so ganz meinen Kummer über das Abschlagen der Bäume und das Wachsen der Mauern, die uns nun bald von allen Seiten einschließen werden.

Später. FrauRickert hat den großen Wunsch, wir mochten nach dem Frühstück etwas zusammen lesen; sie ist nach Danzig mit demWagen gefahren und wird meinenBrunnen und auch ein hübsches, ernstesBuch mitbringen. Was sagst Du zu den Dingen in der politischen Welt? Wenn Du nur ein bißchen mehr Zeit hättest, daß Du Pestalozzi stu­ dieren und für die „Nation" bearbeiten könntest, zuerst vom politischen Standpunkte aus; derMann wird unserRetter für die Zukunft werden, d. h. mit seinen Grundideen; er ist so großartig gerade auch in dem Punkte, daß er die Zunft der Schulmeister angreist. Später. Nach einem heißen Spaziergange haben wir auf dem „Ausguck" im Garten gefrühstückt und später in „Eckermanns Gesprächen mit Goethe" gelesen; sie bringen viel Schönes, und das gemeinschaft­ liche Lesen ist sehr erquicklich. Frau Rickert hat eine große Frische der Natur und viel geistiges Zntereffe und ruhig« Konzenttation; je mehr ich die Menschen kennen lern«, je mehr bewundere ich Frau Rickert.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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LerrRickert ist ganz ärgerlich, daß Braunschweig nicht in Preußen aufgeht; ich kann nicht von dem Gefühle loskommen, daß Ihr keine rechte Kenntnis der Dinge habt — ich glaube, daß Fürsten und alles, waS mit ihnen zusammenhängt, von einer Anaufrichtigkeit sind, die ihnen zur zweiten Natur- wird, oder eigentlich ihre angeborene Natur ist, und sie lachen Menschen, Vie Dich und mich, aus. Entweder bin ich entsetzlich dumm, oder das Leben der Fürsten, und was mit ihnen zu­ sammenhängt, ist so künstlich aufgebaut, daß sie die Wege derNatur und der einfachen Sittlichkeit gar nicht mehr verstehen. Labe ich nicht wieder recht gehabt mit Stöcker? And Du meintest, Bennigsen würde sich zu­ grunde richten durch Eintritt in das Ministerium? Glaube das doch nicht. Me Menschen sind so im Niedergänge begriffen, sie hängen so an Genüssen und Bedürfnissen und Ästhetik, daß sie sich alles gefallen lassen, um nur nicht gestört zu werden, und die Zahl derjenigen, welche wirklich darbt, ist verhältnismäßig viel zu klein, um etwas gegen die Besitzenden unternehmen zu können, die durch die Militärmacht geschützt find. Ich werde täglich in der Ansicht bestärkt, daß Deutschland in Ge­ fahr ist unterzugehen, weil seine sittliche Kraft in erschreckender Weise im Abnehmen ist. Ob es sich erheben wird, weiß ich nicht, jedenfalls aber wird es nicht vor Ende dieses oder Anfang d«S 20. Jahrhunderts sein. Durch eine Verbindung des Kronprinzen mit Bismarck wird Eure Partei entsetzlich zusammenschrumpfen in ihrem Anhänge; das hindert ja die Partei selbst nicht zu bestehen und zu arbeiten — es kämpft eine kräftige Natur bis zum letzten Atemzuge um ihr Leben; aber Eure Arbeit wird nur Bedeutung haben für eine ferne Zeit, oder für andere Völker. Denke nicht, daß ich besonders melancholisch bin, nein, ich wehre mich kräftig gegen Erschlaffung durch den Pessimismus; aber ich sehe überall die Abnahme moralischer Kraft, moralischen Ernstes; derMensch hat nach keiner Seite hin mehr Aufschwung, wo es nicht Verbesserung seiner materiellen Lage gilt. Prattische Tüchtigkeit fiir äußeres Werk, verbunden mit Lug und Trug und Frivolität, hat die Herrschaft. Leute Mittag sind Gäste zu Tische. Lebe wohl, mein lieber Karl, gewiß kannst Du auf mich rechnen in jeder Lage des Lebens, und ich werde lieber Lunger und Kummer ertragen, als nur ein Titelchen auf­ geben von dem, was wir für Wahrheit und Sittlichkeit halten; aber Glauben an den Sieg solcher Dinge in nächster Zeit, oder auch nur in nicht allzuferner Zeit, habe ich nicht. Ich küsse Dich von Lerzen.

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Kapitel 4: Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 8. Juli 1885.

Ich hatte gedacht. Du würdest mir gestern abend noch eine Karte geschrieben haben, um mirNachricht von Eurer Ankunft zu geben, aber ich habe vergeblich gewartet, hoffentlich seid Ihr gut angekommen und befindet Euch wohl. Ich bin heute morgen bei Goldschmidt gewesen, um die Brauerei zu besichtigen und einen Frühschoppen zu genießen; es war eine ziem­ lich zahlreiche Gesellschaft, Spielhagens, Friedemanns, Frau Levysohn usw. heute ist etwas Geld für die Kochschule eingelaufen, sonst ist gar nichts passiert; auch ich hatte keine Briefe, alles ist still. Klara*) hat heute mittag nichts vergessen, und anscheinend geht alles gut. Die Mäd­ chen plätten. heute nachmittag war Barth lange bei mir; es ist eine Freude zu sehen, wie mutig und frisch Barth ist; er hat auch ganz recht, er mehr als mancher andere, denn er wird die Früchte unserer jetzigen Tätigkeit noch sehen. Auf Deinen ersten Brief bin ich sehr neugierig; ich glaube, die Änderung der Szene wird Dich mit einem Schlage von alle den kleinen

Kümmernissen befteien, die Dich hier bedrückten, und die Dir den freien Blick und die Tatkraft für größere Dinge rauben. Es ist so ungeheuer viel Arbeit in der Welt und so viele Möglichkeit etwas in ihr zu nützen, daß es unrecht ist, sich die dazu nötige Kraft nicht zu erhalten. Du speziell kannst so viel tun, wenn Du nur etwas fteudiger und hoffnungs­ voller in dieWelt siehst. Wie findet sich Annette in die Dinge in Zoppot? Seid Ihr schon am Meeresstrande spazieren gegangen? Schreibe mir doch, wie es Rickert geht. Wenn es nur zu erreichen wäre, daß er sich vollkommene Ruhe gönnte. Es ist mehr wert, daß er kräftig und frisch ist, als daß wir bei den Landtagswahlen einige Sitze mehr haben. Dar­ auf kommt herzlich wenig an, viel mehr aber darauf, daß wir für den Kampf in den Parlamenten auf Rickerts Kraft zählen können. Sage ihm das auch nur von Dir aus. Morgen ftüh werde ich doch einenBrief von Dir haben? Ruhe und erhole Dich recht, daß ich Dich als ein mutiges Wesen wieder finde; dann bin ich auch sehr nett *) Klara Auerswald war im vorigen Jahre als Stütze in das Schradersche Äaus eingetreten; sie ist als geschätztes Mitglied der Familie viele Jahre dort geblieben.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 10. Juli 1885.

. . . Es freut mich sehr, aus Deinem heute angekommenen Briefe zu sehen, daß es Dir gut geht und Du Dich dort behaglich fühlst. Schreibe mir doch einmal, wie Ihr Euch räumlich eingerichtet habt, und wie es werden würde, wenn ich käme. Ist dennRaum für uns alle, zumal dann auch Heinrich dort ist? Ich dachte so in den letzten Tagen dieses Monats zu kommen und dann so lange zu bleiben, bis wir hierher gehen und weiter in den Harz. Paßt es Rickerts? Ich würde dann un­ gefähr acht Tage dort sein. Hier ist heute nichts passiert; ich bin heute gar nicht aus dem Hause gegangen, sondern habe ruhig gelesen und wieder einige Artikel ver­ faßt. Es ist eine gute Übung, in wenigen Zeilen ein Thema verständlich und ausreichend zu behandeln. Für Dich wäre es die rechte Schreib­ schule. Gestern abend haben Bunsen, Leo, Schlottmann und ich bei Bunsen Sitzung des Vorstandes des Gesundheitsvereines gehabt über die Pflegerinnen, welche der Rosentaler Vorstand verlangt. Es ist be­ schlossen, ihnen vom 1. August an eine, vom 1. Oktober an zwei Pflege­ rinnen in der Weise zu bewilligen, daß ihr Gehalt aus der Vereinskasse gezahlt wird, während für das übrige das Bezirkskomitee aufkommen muß. Diesen Modus halte ich auch für andere Fälle für richtig, da dadurch einerseits die Vereinskasse nicht übermäßig belastet, andernrcils dem Vezirkskomitee gezeigt wird, daß die Pflegerinnen ihnen vom Verein gestellt werden. Fräulein Wegner ist mit dem Kontrakt mit der Kochschule im übrigen einverstanden, will aber dasRecht der Entlassung eines Dienst­ mädchens ohne vorherigenVeschluß des Komitees in der Hand behalten. Man wird ihr schließlich diese Forderung erfüllen müssen. Grüße Rickert und sage ihn«, daß ich ja auch gar keine Erwartung bezüglich eines Systemwechsels bei dem Tronwechsel gehabt habe und auch heute nichts weiter erwarte, als daß auf die Länge Bismarcks Po­ sition schwächer werden wird, teils, weil seine Taten böse Früchte tragen, teils, weil, wenn er nicht mehr den alten Erfolg hat, er auch oben eine schwächere Stütze haben wird. Für unsere Politik sind wir nach wie vor auf uns selbst angewiesen. Es ist ja möglich, daß Bismarcks Glück ihn noch nicht verläßt. In der braunschweigischen Sache hat er es wieder

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Kapitel 4:

gehabt; der Lerzog von Cumberland und der Lerzog von Cambridge sind beide töricht gewesen, die Braunschweiger so dumm und feige, dah sie alles mit sich machen lassen. Sie werden nun unter demNamen eines Regenten einen faktisch jederzeit von Preußen absehbaren Pre­ mierminister in der Gestalt des FürstenReuß, jetzt Botschafter in Wien, erhalten. Da er und seine Frau ganz nette Menschen sein sollen, so wer­ den sie den Braunschweigern mindestens anfangs gefallen. Aber in der andern Angelegenheit spielt die Natur eine große Rolle; Bismarck kann die gegenwärtige Stellung nicht lange mehr per­ sönlich ausfüllen, und sie wird schwieriger werden, weil die Verhältnisse sich gegen ihn wenden werden, und gegen die kann alle Stütz«, die er oben finden mag, nichts helfen. Aber es kann sein, daß er nicht allein fällt, oder daß er eine recht schlimme Erbschaft einem Fürsten überläßt, den er zu sehr engagiert hat, als daß er sich von ihr lossagen könnte. Du weißt, daß ich nichts mehr fürchtete, als daß uns wieder einmal etwas geschenkt würde; die Anklarheil, welche die von Dir angedeutete Ent­ wicklung bringen wird, kann nicht lange dauern, und wenn Bennigsen Lust hat, sich mit hinein zu stecken, so mag er es tun. Er wird daran zu­ grunde gehen. Es ist möglich, liebe Frau, daß uns nicht bloß arbeitsreiche, sondern auch recht schwere Zeiten noch bevorstehen; ich rechne darauf, an Dir eine treue Gefährtin zu finden, wie ich das immer angenommen habe. Jene kleinen Kümmernisse, die Dich quälen, werden in solcher Lage sicher zurücktreten, ich hoffe auch. Du wirst sie ohne das immer mehr überwinden. Ich weiß ja, wie sehr Du mich liebst, und wie schwer Du manchmal mit Dir selbst zu kämpfen hast. Vielleicht habe ich den falschen Weg eingeschlagen, wenn ich Dich zu überzeugen suchte, daß Du besser tätest. Dich gewissen Stimmungen nicht hinzugeben, aber ich habe es in der redlichen Meinung getan. Dir damit zu helfen. Lebe wohl, grüße alle herzlich und genieße Deinen Aufenthalt dort recht. Ich sitze indessen in der Litze, ohne daß ich schwitze, aber ich denke um so mehr an meine liebe Frau Karl Schrader an'seine Frau. Berlin W. 14. Juli 1885. Leute morgen habe ich Deine beiden Briefe zusammen erhalten. Du plagst Dich-jetzt sehr mit unserer politischen Zukunft und bist sehr pessimistisch. Ich bin es nicht, und zwar deshalb, weil ich weiß, daß sich

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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im Volke immer viel entwickelt, was lange zurückgehalten, plötzlich mit großer Gewalt hervorbricht, wenn die Zeitumstände es zur Reife ge­ bracht haben. Was ein Fürst, was ein einzelner Mann wollen und können, ist daneben unbedeutend. Wir machen jetzt freilich eine Krisis durch; wir sind urplötzlich ein großes Volk geworden, und haben unge­ heuere Aufgaben auf uns, diejenigen dieses neuen Zustandes und die­ jenigen, welche ohnehin in der Entwicklung der Weltlage, namentlich der sozialen, liegen. Bismarck hat den großen Fehler gemacht, uns alle diese Aufgaben mit einemMale zu lösen zu geben, und dadurch sind wir nervös und abgespannt geworden; wir können die Arbeit nicht leisten. Aber ich halte uns für kräftig genug, die Krisis zu überwinden. Ich bin neulich abends mit Forkenbeck, Barth und Goldschmidt bei Bunsen zum Tee gewesen. Der erste erzählte sehr viel von seinen und seiner Partei früheren Beziehungen zu Bismarck. Er hat — das sehe ich selbst aus solchen Erzählungen— die Nationalliberalen immer nur be­ nutzt und mit ihnen Komödie gespielt. Solltest Du nicht einmal einen kleinen Aufsatz, nur eine oder zwei Spalten höchstens, für das Reichsblatt über irgend eine Erziehungs­ frage, z.B. die Notwendigkeit, die Kinder früh zum Laushallen anzu­ leiten, schreiben? Das machte Dir gar keine Mühe, und Du würdest Freude daran haben. Denke, Du sprächest darüber zu den Müttern in einer Versammlung, wie wir sie in der Steinmetzstraße hatten. Mache den Aufsatz einmal mit Frau Rickett. Wir wollen jede Woche so etwas Soziales in das Reichsblatt geben. Oder willst Du nicht einmal einen Spaziergang mit den Kindern im Walde beschreiben? Das Publikum ist dankbar, und Du kannst Dich etwas abseits vom größeren Publikum an ihm üben. Ricketts Aufsatz ist heute an die liberale Korrespondenz gegeben; er mußte etwas geändert werden, weil inzwischen ein Artikel über den Gegenstand in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung er­ schienen war. In einer kommendenNummer der „Nation"*) wird wahr­ scheinlich ein Aufsatz von mir sein; außerdem schreibe ich täglich einen oder mehrere kleine Artikel für die liberal« Korrespondenz. Bartsch wird sehr betrübt sein, wenn ich weg bin, denn ich habe ihm sehr geholfen. Leute morgen waren Bunsen und Eberty bei mir, um über den Kongreß der Ferienkolonien, derMitte September in Bremen sein soll, zu beraten und über den Bazar. Für den letzteren ist das in Ordnung, was geschehen kann. Die Kronprinzessin hat durch Seckendorf ihr Ein-

*) 18. Juli 1885. Nr. 42 der „Nation".

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Kapitel 4:

Verständnis erklärt, unter der Hand ist die Zustimmung des Magistrats und der Stadtverordneten gesichert. Jetzt soll vom Gesundheitsverein und Verein für Volkserziehung der Antrag an den Stadtmagistrat um Überlassung der Räume im Rathause gerichtet werden. Dadurch wird zugleich gesichert, daß andere'Dereine nicht beteiligt werden, natürlich müssen wir die Kochschule und das Viktoriahaus mit rechnen, das erstere zum Verein für Volkserziehung, das andere zum Gesundheitsverein zählen. Bunsen war sehr für die Sache eingenommen. Von Heinrich Rickert habe ich keine weitere Nachricht, ich hole ihn also morgen ab, das weitere wird sich finden; ich telegraphiere Dir morgen, wann wir von hier abreisen. Vermutlich ist dies der letzte Brief, den ich an Dich schreibe, oder doch der vorletzte, hoffentlich finde ich Dich munter und vergnügt, wenn ich komme

henrietteSchrader an die Schwägerin Elisabeth Breymann. Grund i.Larze. 23. August 1885. Liebe Elisabeth I Endlich habe ich doch einmal von Euch direkt gehört und endlich Antwort bekommen auf meine wiederholten Fragen Wenn Erich durchaus nicht kommen will, dann komme Du allein mit Deinem jüngsten Sprößling. Wartung findest Du für ihn. Du könntest sogar der Lösung der Frauenfrage einen großen Dienst leisten, da wir Säuglinge suchen für unsere Schülerinnen, an denen sie Be­ handlung derselben lernen, so könnte der kleine Erich als Lehrobjekt eine große Rolle spielen, da leider das Staatsinstitut für Ammenbeschaffung, von dem die Zeitungen reden, noch nicht ins Leben getreten ist; wir würden sonst um Staatshilfe nach dieser Richtung hin einkom­ men, daß wir die Kinder bekommen, ohne welche Ammen doch nun ein­ mal nicht zu beschaffen sind. Wir leben hier recht vergnügt mit Schwester Annchen, leider reist sie morge n fort, was mir sehr leid tut An Emily Rickert. Grund i.harz. 21. August 1885. .... Ich habe meinen Mann geweckt; bei Euch war er so ehr­ geizig, immer früher unten zu sein als ich, hyw aber bewundert ihn niemand, und so zeigt er die Tugend des Frühaufstehens nicht.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Aber welch' eine Sturmflut vonBesuch dringt aufVillaRickert ein! Siehst Du wohl, liebe Emmy, wären wir eher fortgegangen, dann würden die Geister sich verteilt haben, gewiß haben sie sehnsüchtig auf unsere Abreise gewartet und „die Schradersche" nebstMann verwünscht — nun aber Ihr sagtet, daß Ihr uns noch gern behieltet, und so blieben wir gerne und haben das schöne Dasein bei Euch von ganzem Kerzen genossen. Vielleicht war es auch mit Keimweh nach Euch, was mir den Montag so trübselig machte; mein Mann war von Berlins Gedanken­ blässe angekränkelt — denke Dir, Brömel verfolgt meinen Mann bis in den tiefsten, tiefsten — nicht Traum, sondern — Karz! Auf morgen hat er meinen Mann zum Rendezvous beschieden, nun wird gewiß 9E auch kommen. Ich fand meine Schwester nicht in Börßum, wie ver­ abredet war, und auch keine Nachricht von ihr. Mein Mann und ich nahmen uns allerlei übel; er dachte, ich wolle nur meine Schwester oder Euch haben, ich dachte, und er sagte, und ich sagte und er dachte, und zuletzt schwiegen wir alle beide still und saßen am Fenster und schauten in den strömenden Regen. Am andernMorgen lachten wir über unsere schlechte Laune, und wir waren sehr vergnügt, was wir auch heute sind. In Goslar habe ich besonders viel an Dich und Deinen Bruder gedacht; ich stellte mir Deine und meine Karzreise im nächsten Frühjahr vor, und wie Dir meine heimatlichen Berge gefallen würden. Ich habe sie wieder so sehr lieb gewonnen, sie waren mir verleidet durch einen Aufenthalt in Karzburg, wo ich von Bekannten fast zerrissen wurde. Wenn man älter ist, sollte man gar nicht soviel in kleinem Gelde von seiner Zeit und Kraft verschwenden; in der Jugend ist es etwas anderes, da gebraucht man Lebensstoff; aber in reifen Jahren, wenn die Seele sich vollgesogen hat am Leben, da sehnt man sich nachRuhe und Stille, alles innerlich zu verarbeiten, oder nur mit solchen Menschen zu ver­ kehren, die einem wirklich etwas sind, und denen man etwas geben kann, dies flüchtige Berühren und Sprechen über nichts, was ebensogut unter­ bleiben kann, ermüdet mehr als wirkliche Arbeit. Lier haben wir noch kein bekanntes Gesicht gesehen, noch keinen Namen gehört, der uns erschrecken könnte. Morgens frühstücken wir auf unserm Zimmer und arbeiten fleißig bis 1 Ahr, dann essen wir table d’höte und nachmittags verbringen wir draußen, und ttotzdem man das Wetter schlecht nennt, finden wir es schön, denn wir haben immer sonnige Stunden, welche uns die vielfachen Schönheiten von Grunds Umgebung im freundlichen Lichte zeigen; wir entdecken immer neue,

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Kapitel 4:

reizvolle Wege und atmen die kräftige Harzlust ein.Nach dem Spazier­ gange lege ich mich ein wenig aufs Sofa, mein Mann liest mir etwas vor, und abends trinken wir Tee auf unserm Zimmer. Meine Schwester lebt unser Leben mit, sie schreibt hier viele Briefe. Ost aber muß ich meine Gedanken mit Macht auf meine Arbeit ziehen, denn sie streifen so gerne weit fort an die schöne, blaue See zu meinen lieben, lieben Rickerts, und ich verfolge Euer Leben, wie es sich den Tag über ent­ wickelt. Aber ich wollte noch sagen, weshalb ich mich in Goslar so be­ sonders mit Deinem Bruder Heinrich beschäftigte. Ich hätte so gern mit ihm räsonniett über die Wandgemälde in dem alten Kaiserhaus«, durch die sich Wislizenus verewigt. Es wäre mir sehr lieb, wenn ich durch Deinen Bruder erfahren könnte, wie dieselben von wirklichen Kunst­ kennern beurteilt worden; ich lasse mich gern über meinen Standpunkt belehren, wenn ich ihn wohl auch nicht verlassen werde. Ich finde das Mittelbild wahrhaft empörend, aber interessant in bezug auf den Ein­ blick in den Standpunkt der Menschen, wie sie über die Aufrichtung des deutschen Reiches denken. Ich dachte, es würde so interessant für Deinen Bruder sein, Danzig und Goslar zu vergleichen, nicht abwä­ gend, welche Altertümer die interessantesten seien, sondern die Eigen­ tümlichkeiten derselben hervorzuheben, und auf die Quellen hinzu­ weisen, aus denen ihre Originalität gebildet ist. Wenig würden Deinem Bruder die Rathausgemälde von Wohlgemut zusagen, da sie nicht modern sind, aber ich sehe sie mit warmem Interesse und finde vieles reizend in derNaivität, aus der sie geschaffen sind. Ich kann nicht ver­ stehen, wie ein Jünger Schopenhauers nicht ein tiefgehendes, liebendes Interesse hat für diese Erscheinungen wie Wohlgemuts Bilder, da doch der Wille im Menschen lange unwillkürlich in einem gewissen Dunkel schöpferisch wirkte, ehe er durch Motive bestimmt beeinflußt wurde. Laß Dir das von Deinem Bruder erklären und sage ihm mit einem herzlichen Gruße von mir, daß ich wahrhaft durste nach einem großenWerke von Schopenhauer, mag er sein, wie er will nach manchen Richtungen hin, vielleicht ganz verrückt, mag er hie und da auf Bahnen wandeln, auf denen ich nie folge — aber jedenfalls hat er so tiefgehende, höchst wichtige Untersuchungen über das Triebleben in derNatur gemacht, die mich aufs höchste interessieren, er bricht die jetzt überall herrschend«, ein­ seitig entwickelte Herrschaft des Intellektualismus, und Fröbel tut das Gleiche in der Erziehung; aber beide werden in dem, was sie eigentlich

wollten, noch nicht verstanden. Wenn ich erst mehr in Schopenhauer

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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gelesen habe, werde ich kurz niederschreiben, wie ich ihn verstehe, und wenn es Dich interessiert, mit Mr darüber sprechen. Wenn Schopen­ hauer nur in bezug auf die Untersuchung über den Willen in derNatur hält, was er in dem kleinen Werke verspricht, dann wird durch ihn der Fröbelschen Praxis ein ganz mächtiges, festes Fundament gegeben. Aber, liebe Emmy, ich schreibe Mr ein ganzes Buch, ich habe so das Bedürfnis mit Dir, mit Euch zu reden, und ich freue mich schon auf unser Wiedersehen in Berlin. Als ich Deiner Mutter schrieb, war ich ganz hingenommen von dem Wiedersehen meines alten Lärzes, vom Wiederfinden seiner Schönheiten und dem überfluten alter, schöner

Kindheitserinnerungen. Jetzt ist es wieder still in meiner Seele, und Zoppot, Villa Rickert mit denen, die sie umschließt, spiegeln sich klar in meiner Seele, und ich möchte mich in die Erinnerung der alten Zeit versenken, ich hatte noch soviel zu sagen, zu erzählen. Eben ist die Berliner Post angekommen, ein großer Beutel voll Zeitungen, Richters neues Blatt unter andern — mein Mann ist in Papier begraben und streicht an. Annette hat sich über Deinen „warmherzigen" Brief gefreut. Ja, ich muß schließen . In treuer Liebe Deine L. S.

An Luise Fröbel. Grund i.Äarze. 29. August 1885. Ich will nicht von diesem herrlichen Otte scheiden, ohne Dir noch einen Gruß zu senden aus Deinen heimatlichen Bergen. Wieviel habe ich Deiner gedacht, besonders als wir neulich durch Osterode fuhren; wie vieles zog da durch meinen Sinn, und wie gern hätte ich Dich bei mir gehabt. Dich vieles zu fragen, über vieles mit Dir zu reden. Ich habe einen köstlichen Sommer verlebt, erst sechs Wochen in Zoppot bei den liebenRicketts und dann noch vierzehn Tage hier ganz allein mit meinem Manne Da ich meine Badekur abgemacht hatte, konnte ich hier fleißig ar­ beiten, denn den ganzen Tag möchte ich nicht in den Bergen umher­ streifen. Frau Jessen hat mir einige Male geschrieben und mir Grüße von Mr durch ihre Kinder geschickt. Wie ist es Dir ergangen, liebe Luise, in diesem Sommer? Ich wollte, ich könnte von Berlin fort, so gern ich dott bin, so interessant das Leben dott ist; aber mich zieht es mächtig

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Kapitel 4:

Wir freuen uns, LerrRickert bald zu sehen, grüßen Sie ihn und Emmy,

alle von Ihrer getreuen

Karl Schrader an seine Frau.

Danzig. 29. und 30. September 1885.

Meine glückliche Ankunft*) habe ich Dir schon telegraphisch ge­ meldet. Meine Postkarte von gestern abend wirst Du auch schon erhalten

haben. Von hier weiß ich nicht viel zu schreiben, babe auch nicht viel Zeit, da ich mich auf Reden nach der bei vier Rednern notwendigen Ver­ teilung des Stoffes präparieren muß.Rickert war schon da und hesuchte mich, als ich beim Ankleiden war .... Er scheint denn auch in der päpstlichen Vermittlung einen Meisterstreich Bismarcks zu sehen. Wenn wir Bismarck so behandeln, so können wir uns freilich nicht wundern, wenn er uns überlegen ist.Wo er eine Schwäche zeigt, sind wir flugs bei der Kand, sie für Superklugheit zu erklären und — was das Schlimmste ist — das hilft ihn, sich wieder heraus zu ziehen. Diese alten Rational­ liberalen sind unverbesserlich! Man soll Bismarck nicht kleinlich und gehässig angreifen, aber auch nicht sich vor ihm fürchten Am 30. Vielen Dank für Deinen lieben Brief. Du bist wirklich eine vielgeplagte Frau, ich freue mich sehr, daß Du nun bald einige Seit mehr Ruhe hast. Ich plage mich auch. Gestern abend haben wir eine lange Ver­ sammlung gehabt, die natürlich, da unter Freunden, gut »erlief. Ich habe eine ziemlich langweilige Rede gehalten, ein Bericht ist es immer etwas, weil man keinen Punkt ausführlich behandeln und von allen

Seiten beleuchten kann. Rickert hat hauptsächlich über und gegen Bennigsen gesprochen; das war das Thema, das er sich vorbehalten hatte. Es wird ihm immer noch schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß Bennigsen viel weniger ist, als er geglaubt hat. Käme er nur auch einmal dahin, Bis­ marck ohne die übliche Bewunderung übermenschlicher Klugheit an­ zusehen. Solange die Leute nicht begreifen, daß Bismarck kein weit­ sichtiger, sondern ein kurzsichtiger Politiker ist, dessen Stärke eben in der *) Karl Schrader war bei den Reichstagswahlen in Braunschweig durchgefallen, und wurde aufgefordert für Danzig sich aufstellen zu lassen.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Rücksichtslosigkeit liegt, mit welcher er alles dem augenblicklichen Vor­ teile opfert, solange wird er siegreich bleiben. Es geht nun einmal nicht, einen solchen Mann zu halbieren, ihn halb als Gott, halb als Teufel oder Dummkopf hinzustellen; selbst wenn er so wäre, glaubte es die große Menge nicht. Leute habe ich mich auf die Abendrede präpariert; mir ist die Sache nicht angenehm, da sie leicht zu einer Verfeindung mit der Sozial­

demokratie führen kann; ich tue natürlich mein Möglichstes, das zu ver­ meiden. Morgen gehe ich nach Zoppot, entweder des morgens, wenn ich nicht eine in Aussicht genommene Konferenz mit der Kaufmannschaft über Unfallversicherung habe, oder nachmittags. Abends fahre ich dann mit Rickert nach Berlin zu meiner Frau. Ich gebe Dir nochNachricht, obRickert bei uns ißt, dann natürlich spätestens um 2 oder 3 Ahr. Bleibe nur gutenMutes, liebe Frau. Mir geht es gut; ich bin fteilich gestern abend auch erst gegen 1 Ahr zu Bette gekommen, habe aber ganz gut ausgeschlafen

Henriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. 30. September 1885. Bielen Dank für Deinen Brief, die Hauptsache ist mir ja, daß Du wohl bist und Dir sonst nichts begegnet, was unangenehm oder trübe ist, und Dein lieber Brief beruhigt mich darüber. Fräulein Berttam kündigt Annette an, daß sie dem Mädchenheim nicht mehr das Essen geben wollen, über solche Dinge müssen doch die Komitees der Koch­ schule und desMädchenheims erst befragt werden. Sonst habe ich nichts erlebt; ich arbeite nur widerwärtige Dinge: Repetieren, Examenarbeiten nachsehen; heut« ist nun der Schluß. Die Mädchen sind noch so unentwickelt auch in moralischer Beziehung, daß sie einer tüchtigen Schulmeisterin bedürfen, die jeden Tag ihre Hefte nachsieht, die sich auf nichts verläßt, auch wenn sie ftagt, ob sie alles verstanden haben, und sie antworten mit: „Io" I Sie sind vollständige Kinder, unentwickelt und unwissend bis auf sehr wenig Ausnahmen. Will ich meine Pflichten gegen die Mädchen erfüllen, so muß ich meine Stunden viel elementarer geben, und meine Zeit ganz anders verwen­ den; ich muß vegetieren, viel nachsehen und korrigieren.

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Kapitel 4:

In mir drängt alles, was meinen Beruf betrifft, auf den einen Punkt, zu studieren, mich zu konzentrieren, mich zu vertiefen, um mein Testament für die neue Erziehung zu hinterlassen. Ich weiß jetzt ganz genau, daß ich für die Wirksamkeit der Welt verloren bin, wenn ich nicht jetzt schreibe, ich wollte die Ruhe dazu erzwingen, und dennoch stellen sich mir Lindernisse entgegen. Meine Seele hat sich aber beruhigt, be­ ruhigt aus Liebe zu Dir, der Du der Mittelpunkt meines persönlichen Daseins bist

Qln Frau Luise Fröbel. Berlin W. 2. Oktober 1885.

. ... Ich bin ganz betrübt über Deine Nachricht, daß Fröbels Bibliothek verbrannt ist — das ist ein entsetzlicher Verlust, darin hat er gewiß viel angestrichen und vermerkt. Du wolltest mir die Liste der Bücher Fröbels schicken Wie freue ich mich DeinesWohlergehens, mir geht es auch gut, und viele werden mich beneiden, aber die politischen und sozialen Verhältnisse find so drückender Natur und greifen so tief in unser Leben ein, daß dieser Druck nicht spurlos an mir vorübergeht. Fern von Berlin empfindet man den Druck nicht so schwer. Mein Mann ist hoffnungs­ voller als ich in bezug aufWandel der Dinge, er setzt Geld — viel zu viel Geld unsern Verhältnissen nach — Kraft, Zeit, ja, feine ganze Person für seine Sache ein, und er hat ganz recht von seinem Standpunkte, denn er hat Glauben an Wirkungen seiner und- seiner Partei Arbeit. Ich verzweifele auch nicht, nur wird die Wandlung erst spät kommen, lange nach unserm Tode, und ich bin der Meinung, daß die Opfer, welche mein Mann [bet Politikj bringt, an anderer Stelle eingesetzt, mehr innerlich nützen würden; aber natürlich füge ich mich der besseren Einficht. Mein Mann ist eben von Danzig zurückgekehrt mit feinem FreundeRickert, welcher bei uns zuMittag essen wird. Leute nachmittag habe ich eine Versammlung*), ich lege Dir die betteffenden Papiere bei. Trotz meines Sttäubens bin ich selbst von meinemManne in die Sache gezogen — so werde ich nieRuhe haben in Berlin, ich wollte, wir könnten auswärts wohnen

*) Vorbereitungen zu einem Bazar im Berliner Rathause, siehe Sette 13.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An A. Sohr.

Berlins. 10. Oktober 1885. Sie mahnen mich wiederum zur Vorsicht .... Ich weiß nicht, ob ich überhaupt unvorsichtig bin, oder dafür gelte, aber ich glaube, ich muß verbraucht werden, wie ich bin; die Klatschgeschichten am Lose über mich Ihnen gegenüber zeigen mir, daß man so rein sein kann, wie Sonnenlicht, die Leute saugen sich die Dinge aus den Fingern. Ich finde solche Sachen wirken aber sehr befreiend, man bekommt nur ein erhöhtes Selbstgefühl, aber auch eine größere Rücksichtslosigkeit. Ich will von dem köstlichen Gute, welches mir Gott verliehen hat in unserer gänzlichen Unabhängigkeit, vollen Gebrauch machen und vollen Genuß haben — ich meine dies nicht im bösen Sinn«, daß ich rücksichtslos wehe tun inöchte — sondern nur, daß ich mitMenschen hoch oder niedrig ver­ kehre oder Beziehungen pflege, die wissen, daß ich es ehrlich und gut mit ihnen meine, gern für den wahren Fortschritt arbeite, und keine Schleichwege gehe — kurz, die mich respektieren, und die Schwächen, welche ich (wie jeder Mensch) besitze, um deswillen, was ich ihnen Gutes biete, gerne mit in den Kauf nehmen, wie ich die ihren. Man käme ja sonst zu gar nichts Später. Liebes Fräulein Sohr, ich liebe die Frau Kronprinzessin sehr, das wissen Sie; aber ich würde mich nicht eine Minute wundern, wenn es ihrer Umgebung gelänge, mich ihres Verttauens zu berauben, und ich würde keinen Schritt tun, dies zu verhindern .... Die Menschen wissen gar nicht, waS Großes und Schönes in der Kronprinzessin ist, und daß der Verkehr mit ihrerP e r so n eine Freud« ist. Übrigens hängt mein Frieden nicht davon ab; mein Mann und ich haben hier keinerlei Anhang, keine Familienverbindungen, aber wir haben gemeinnützige Bestrebungen geliebt und geübt ohne alle Be­ ziehungen nach oben und werden auch ohne diese unsere Freude daran haben. Man muß hier tapfer durch dick und dünn gehen und Lumor haben — auch lassen meinMann und ich uns nicht in unserm häuslichen Glücke stören An Marie Löper-Kousselle.

Berlin IV. 15. Ottober 1885. Beim Ausräumen meiner Papiere fand ich Einliegendes: Antrag zur Einrichtung einer Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen aus dem Jahre 1878.

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Kapitel 4:

Ich legte oder trug denselben unserm Frauenkomitee vor, und wir haben jetzt durchschnittlich zwanzig bis dreißig Schülerinnen. Zwar schreitet die Realisation meiner Ideen langsam vor aus fol­ genden Gründen: 1. Fehlt den Mädchen die rechte Vorbildung, sowohl in gesundheit­ licher, wie sittlicher, intellektueller und praktischer Äinsicht. Die heutige Erziehung macht dieMädchen egoistisch, bequem und unpraktisch, nervös und unfähig zu ausdauernder Arbeit. Es wird soviel unverdauter Stoff auf ihre Geistesfähigkeiten gepackt, daß dieselben brach liegen in bezug auf selbständiges Denken.

2. herrscht noch wenig Verständnis, welche Bedeutung die haus­ wirtschaftliche Tätigkeit für die Erziehung hat, für die innige Art der Verbindung von Leib und Geist, und wie wir nur dann gesunde, har­ monisch entwickelte Menschen haben können, wenn von vornherein Geistiges durch Leibliches und umgekehrt gepflegt wird — kurz, daß man in solcher Kleinkinderpflege nicht eine der sogenannten wissenschaftlichen Lehrerin untergeordnete Stellung sieht. 3. weil letzteres noch der Fall ist, so drängen dieKindergärtnerinnenSeminare dahin, auf das positive Wissen in allen mögnchen Zweigen einen zu großen Wert zu legen; sie behandeln die Kindergärtnerei als Unterricht und bilden ttotzdem nur Lehrerinnen dritten und vierten Ranges. Statt dessen müßte die Bildung der jungen Mädchen auf ein ganz anderes Feld basiert werden, auf das der Erziehung, bei dem eine Menge anderer Faktoren als der Unterricht kommen. Der Elementar­ unterricht braucht deshalb nicht ausgeschlossen zu werden, aber er muß in einem ganz andern Zusammenhang mit dem Leben stehen als jetzt, nach Pestalozzis Anschauung: „Nicht Kunst, nicht Buch, das Leben selbst ist das Fundament aller Erziehung und alles Unterrichts". Es hat mich damals von Dir geschmerzt, daß Du auf die Zillersche Schule in Leipzig hingewiesen als mit denFröbelschen Ideen verwandt, während sie wohl einigeÄußerlichkeiten von derselben hat, aber imPrin-

zip diametral verschieden ist. Weshalb sagtest Du kein Wott von unserer Elementarklasse, in welcher nun wirklich die logische Fortentwicklung der Fundamentalsätze des Kindergartens gegeben ist? Es erscheint Dir gewiß als recht hochmütig, wenn ich Dir offen qusspreche, daß ich immer mehr zu der Überzeugung gelange, daß Ihr alle

nicht wißt, worauf es ankommt. Ich wüßte es auch nicht, wenn ich es

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nicht von Pestalozzi gelernt — er ist der größte Genius — hast Du seine Werke, 18 Bände? Kennst Du z. B. seine politischen Schriften? Freilich ist es keine Kleinigkeit, sich durchzuarbeiten; aber der Gewinn ist groß. Er führt allen wahren Fortschritt zurück auf die Ausbildung der „Wohnstuben­ kraft" — nicht nur von der Seite des Gefühls, nein auch von der des Intellekts. In einer seiner politischen Schriften spricht er von derNot wendigkeit eines Lehrbuchs der Erziehung der Frauen — die Anforde­ rungen, die er an ein solches stellt, sind groß, er sieht, daß ihm die Hilfskräfte und Hilfsmittel fehlen — ja, wir haben sie heute noch nicht.

Sein Buch der Mütter verwirft er, vieles, was die Leute als seine Größe preisen in bezug auf Schulwesen, negiert er selbst und nennt es eiteln Tand, er sei der Versuchung unterlegen,Resultate zu produzieren, welche die Welt geblendet haben. Ich bin ganz seine Schülerin, ich glaube, ich verstehe ihn ganz, und ich nehme auch willig dasMartyrium auf mich, das er litt, weil er sehr gut wußte, daß er noch ganz was an­ deres wollte, als die Welt von ihm verstand. Als z. B. sein „Lienhard und Gertrud" soviel Aufsehen machte und ihm zu Ohren kam, da dran­ gen Schmerzenstränen aus seiner Seele, weiter aus dem Lob erfuhr, daß das nicht verstanden war, was er mit diesem Buche wollte. Aber es ist so natürlich, und seit ich mich ganz eingelebt habe in Pestalozzi, seit ich den Geist der Zeit und seine Wandlung verstehe, bin ich erlöst von Last und Unruhe und Suchen nach Hilfe. In mir selbst ordnen und klären sich die Dinge in einem Grade, so daß ich bald imstande sein werde, sie zu schreiben. Ja, ich wollte Dich fragen, ob Du den kleinen Aufsatz brauchen kannst, wenn ich ihn fertig mache. Du brauchst ihn nicht zurück zu schicken, wenn Du ihn willst. Du brauchst mir nur zu schreiben, welcher Art der Schluß sein soll.WillstDu ihn nicht, bitte so sende ibn mir wieder . . . .

Kannst Du mirMittel undWege angeben, wie ich in denBesih des Buches von FrauNiederer kommen kann, aus dem Du so schöne Aus­ züge gabst? Oder könnte ich es einmal geliehen bekommen? Mein Buch­ händler kann eS mir nicht verschaffen. Aast Du überhaupt Quellen über die Frauen des Pestalozzischen Kreises? Ich finde immer Bruchstücke in Pestalozzi über die weibliche Erziehungsanstalt in Yverdon, aber nie etwas Zusammenhängendes. Ich würde Dir so dankbar sein, wenn Du mich aufWerke über Frauenbildung im allgemeinen (historisch) und den

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Kapitel 4:

Frauenkreis bei Pestalozzi im besonderen aufmerksam machtest; ich kann nicht genug davon bekommen. Lebe wohl, liebeMarie. Deine getreue Ä. S.

An Frau Annette Rickert.

BerlinW. Oktober 1885.

.... Was die Menschen gewöhnlich „Religion" nennen, sind die religiösen Vorstellungen der Kirche, die aus Lehrsätzen hervorgegangen, und Festhalten an Überlieferung eines gewissen Kultus, und in dem Sinne bin ich auch mit der Kirche fertig; aber nicht mit der Kirche über» Haupt, auch nicht mit einem Abbrechen der jetzigen, sondern ich möchte eine allmähliche Erweiterung derselben. Das Großartigste, was mir auf diesem Gebiete entgegen getreten ist, hat ein berühmter Theologe,Robertson, begonnen, den ich als solchen für weit bedeutender halte, als Kingsley. Leider ist er so früh gestorben, seine Glut des Glaubens an eine Fortentwicklung der Kirche war so groß, der Widerstand gegen seine Arbeit so hart und sein Weib so ver­ ständnislos — daß er daran starb. Er begann eine große Arbeit einmal, historisch« Forschungen über das Christentum, und dann wollte er be­ weisen, daß der Glaube, den Jesus im Lerzen trug und bekannte, zu sondern sei von dem Plunder und Beiwerk; er wollte zeigen, wie tief dieser Glaube mit der Psychologie der menschlichen Seele und daraus hervorgehenden Bedürfnissen in Einklang sei Die aus Religionsgeschichte hervorgehenden, mit der Psychologie der menschlichen Natur (diese Psychologie kann auch einerseits nur mit Äilfc der Geschichte des Menschen festgestellt werden) übereinstimmen­ den, religiösen Vorstellungen würden von der neuen Kirche gepflegt — aber ohne Zwang — der Kultus gibt das Symbol, die poetische Seite des Gedankens. Z. B. die Taufe als Aufnahme des Kindes in eine strebende Gemeinschaft, die ein wahres Interesse an dem neuen jungen Leben nimmt. Die Kunst, die wahre einfache, schöne Kunst unterstützt das Symbol, sie stimmt zur Andacht, zur Erhebung, zum „höheren Dritten" über uns, sie taucht uns unter in das Mysterium der Liebe, und wie der Apostel sagt: „Nicht daß ich es ergriffen hätte, aber ich jage ihm nach, daß ich es ergreife, und — „wenn ich mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht" usw. And aus dieser religiösen Ge-

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meinschaft gingen dann die Arbeiten im sozialen Leben hervor, deren Wahlspruch ist: „Es soll allen geholfen werden", d. h. alle, alle müssen so an Körper und Geist gekräftigt und die sozialen Verhältnisse müssen so gestaltet werden, daß jedem die wesentlichen Güter des Lebens zu­ teil werden können. In der Form, wie diese zu haben sind, wird immer ein Unterschied sein und bleiben; aber je mehr man das Wesentliche ver­ steht und schätzt, desto geringer wird man das Anwesentliche achten —. Wenn ich gute, gesunde Kleidung habe, so ist es ganz gleich, ob sie von einfachem Stoff oder von Sammet und Seide ist usw. Nun denken Sie sich ein Vereinsleben in Verbindung mit reli­ giöser Erhebung, was könnte durch diese Einheitlichkeit des Gefühls, des Gedankens und Schaffens geleistet werden — wie könnte der Traurige getröstet, der Gebeugte aufgerichtet werden 1 Sie sagen vielleicht, jeder einzelne muß in sich diese Larmonie er­ streben, von außen kann ihm das nicht gegeben werden — fertig ge­ geben nicht, aber geholfen kann ihm werden, unendlich viel geholfen werden. Ich vermisse das gemeinsame, religiöse Leben mehr, als ich aus­

sprechen kann. Kaben Sie einmal etwas gelesen über die Natur der Menschen? Äaben S>e erfahren, welcheWirkung dieMaffen aufeinander ausüben? Leider kennen wir nur die schlimme Seite; aber die Wirkung derMassen könnte auch nach der edeln Seite benutzt werden, und dazu gebrauchen wir die Kirche. Denken Sie sich einen großen Chor, welcher in herrlichen Gesängen die helfende Liebe preist, daß es wie ein Brausen des heiligen Geistes unsere Seele durchzieht. — Ist es nicht tiefe Psychologie, wenn Jesus, freilich bildlich, sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versam­ melt sind, da will ich mitten unter Euch sein"? Macht die Gemeinsamkeit nicht stark? Ich habe es so tief erfahren, aber in dem eben ausgesproche­ nen Gedanken fühle ich mich sehr vereinsamt, und eine große Summe von latenter Kraft kommt gar nicht zur Geltung, weil mir die Gemein­ samkeit simÄöchstenj fehlt. —Diese schrecklichen „Frommen" haben doch viel vor den Freisinnigen voraus in der Wirkung auf die Massen, sie nehmen die Phantasie in Anspruch, die in enger Verbindung mit dem Gemüte steht; unsere Partei ist zu kalt, zu verständig, zu wissenschaft­ lich oder zu rein praktisch. Weshalb können wir denn nicht auch einen Punkt in derMenschenseele fassen, der da ist und hungert und durstet? Warum können wir

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Kapitel 4:

nicht aus einem reinenBorne nach unserer Seite schöpfen, während die „Frommen" aus niedrigen und ungesunden Quellen trinken? Doch ich habe Sie gewiß gelangweilt. Beklagen Sie mich nicht, daß ich in Berlin bin. Ich lerne von meinem Manne. Früher kam mir unser Garten vor wie zu einem Zellengefängnis gehörend, jetzt kann ich mich an der wunderbaren Schönheit des einzelnen erfreuen, und ich sitze stundenlang allein am Abend auf dem Balkon. Kennen Sie das Buch: Piciola, die Freude des Gefangenen an einerBlume? An Mary Lyschinska (diktierterBrief).

Berlins. 3. Dezember 1885. . . . Ich wollte Dir eigentlich selbst schreiben; aber zu meiner Er­ müdung hat sich noch eine Erkältung gesellt, daß ich in Decken eingehüllt, auf dem Sofa liegen muß. Am Sonntag besuchte uns Mr. Matthew Arnold*), leider traf er nur meinenMann; die Frau Kronprinzessin hatte ihn aufgefordert, uns und die Steinmetzstraße zu besuchen. Am Dienstage kam er in den Kin­ dergarten, aber alles war so ungünstig wie nur möglich. Verschiedene Leute hatten von seiner Anwesenheit erfahren und kamen in die Anstalt, ihn dort zu begrüßen; natürlich waren es frühere Bekannte von ihm, die von ihrem eigenen Leben erzählten und ihn nach seinen Erlebnissen fragten. Der arme Mann war in einer peinlichen Lage, er interessierte sich wirklich für die Fröbelschen Ideen, die ihm „absolut neu" seien, wie er sagte. Er meinte, die Sache, wie wir sie auffaffen und treiben, sei etwas ganz anderes, als was man in England tue; er schien die Kinder­ gärtnerei dort gründlich zu verachten und nannte sie „Spielerei". Die Kronprinzessin hatte ihm meine Schriften gegeben, aber er schien sie nicht studiert zu haben; weil sie vom Kindergarten handelten, war es ihm wahrscheinlich nicht derMühe wert. Ich sagte ihm, daß es sich um große Prinzipienfragen handele bei der Sache, daß man sie nur beurteilen könne, wenn man sich in das Studium der Psychologie der Kindesseele versenke. Ich erklärte ihm, daß ich vieles in England bewundere, aber die Kleinkinderschulen nicht der kindlichen Natur entsprechend fände; ich könne nicht begreifen, wie man in einem Lande der tiefen und schönen Poesie die Poesie der Kindheit nicht verstehe, und den Armen keinen *) Damals Reg.-ISchulinspektor, und einer der ersten Dichter des 19. Jahrhunderts in England.

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Anteil daran gönne. Seine Antwort war immer: „Das ist mir alles neu, ich habe niemals daran gedacht, daß man von dem Kindergarten etwas lernen könne". Die wenigen Worte, welche ich mit ihm sprechen konnte, zeigten mir, daß er niemals darüber nachgedacht hatte, was eigentlich Lesen und Schreiben für ein Kind bedeutet, überhaupt war er in bezug uuf die Kleinkinderschulen ganz in der altenRoutine und schien sich sehr zu wundern, daß bei uns die Kinder von vier Jahren nicht lesen lernen. Als ich ihm sagte, die Ärzte seien dagegen, erwiderte er mir: „O das ist

mir interessant, das ist mir neu". Hätte ich mich nur länger mit ihm unterhalten können, so glaube ich, hätte ich ihm ein Interesse für die Erziehungsfrage in bezug auf kleine Kinder abgewinnen können, aber ein so kurzes und immer ge­ störtes Zusammensein hat etwas ungemein Peinliches, wenn ein so reicher, wichtiger Stoff vorliegt, der sich nicht mit einigenWorten abtun läßt.

Als er fort ging, sagte er mir: „Ich danke Ihnen für alles, und ich werde jetzt Ihre Schriften lesen, die Sache ist mir absolut neu. Wenn ich

länger Schulinspettor bliebe, würde ich die Sache von Grund auf stu­ dieren, aber ich habe die Absicht, meine Demission einzureichen". Sein Aufenthalt in Berlin schien überhaupt ein recht ungünstiger zu sein; Herr von Bunsen, welcher mit ihm befreundet ist, lebt in diesem Winter in Italien, er ist so gar nicht an die rechten Leute gekommen; er war von der englischen Gesandtschaft verwiesen an einige Schulmeister. Auf Herrn Arnylds Bitte, ihn mit einigen Professoren in Beziehung zu bringen, hat man ihm geantwortet: „Bismarck liebe es nicht, wenn Sie mit solchen Leuten verkehren." So war sein Aufenthalt hier gar nicht dazu angetan, ihn in die bessere Seite des geistigen Berliner Lebens ein­ zuführen und ihm den rechten Aufschluß über den Stand der Dinge auf dem Felde der Erziehung zu geben. Nehme ich dazu an, daß er doch wohl von sehr großem Selbstgefühl durchdrungen ist, so muß ich fürchten, daß der oberflächliche Blick, welchen er in das Pestalozzi-Fröbel-Kaus getan hat, nicht dazu beittagen wird, ihm die Bedeutung der Sache nahe zu bringen. Noch muß ich bemerken, daß wir auch überMundella*) sprachen, ich sagte ihm, daß er nichts von Kindergärten verstehe und daß ich es überhaupt für ein Anglück halte, wenn Männer Einrichtungen träfen

in bezug auf öffentliche Kleinkindererziehung. Er schien mir darin recht zu geben. *) Englischer Llnterrichtsminister zu der Zeit.

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Kapitel 4:

Bis jetzt habe ich nur günstiges gehört über meine kleinen Lefte *), das erste Urteil über dieselben sprach mir die Frau Kronprinzessin aus; als sie am Sonntag in den Bazar kam, trat sie gleich auf mich zu und reichte mir die Land und sagte: „Ich habe Ihre Broschüren gestern abend gelesen und finde sie reizend; sie sind schon nach England ge­ schickt". An wen? Das weiß ich nicht

An Charitas Bischoff (frühere Schülerin). (Diktierter Brief.) Berlin W. 3. Dezember 1885. Meine liebe Charitas! Du wirst schon an der Landschrift sehen, daß ich Dir nicht selbst schreibe, aber ich bin so ermüdet, besonders körperlich, daß ich mir durch­ aus etwas Ruhe gönnen muß. Ich habe ein Gefühl, als hätte ich eine weite, ermüdende Reise gemacht und wäre eben wieder zu Lause ange­ langt, wo ich mich wieder einleben soll. Dieser Bazar hat eine grenzenlose Arbeit und Mühe gemacht, hat so viel Zeit in Anspruch genommen von einer Menge Personen, daß, wenn das pekuniäreResultat dem Aufwande von Kräften und Mitteln entsprechen soll, eine große Summe **) herauskommen müßte. Es ist wirklich merkwürdig, daß die Menschen nicht einfach Geld zu guten Zwecken geben, sondern meistens Aufregungen haben müssen, um die Land zu öffnen, oder verlangen, daß ihrer Eitelkeit oder ihrem Ehrgeiz geschmei­ chelt werde. Diele von den Persönlichkeiten, welche am Bazar tätig waren, wissen kaum von den Vereinen und deren Zwecken, für welche der große Schwindel angestellt wurde. Indeß war auch recht viel Schönes bei der Sache — ich war so glücklich, in einer Verkaufsgruppe mitzu­ wirken, in welcher ich nur mit lieben, verständnisvollen Bekannten zu tun hatte; zwei junge Mädchen, Kindergärtnerinnen, verkauften unter meiner Leitung Arbeiten aus dem Pestalozzi-Fröbel-Lause und aus Leyls Jugendheim; wir hatten unter andern einen herrlichen Weihnachtsbaum mit Glühlampen erleuchtet und mit lauter Kindergartensachen angeputzt. Wir verkauften den Baum gleich am ersten Tage für 75 Mark an einen Lerrn, welcher denselben zum Weihnachtsgeschenk machte. Überhaupt haben wir aus unserer Abteilung Kindergarten, *) Erste Broschüre: Der Volkskindergarten. Zweite Broschüre: Der Monatsgegenstand im Pestalozzi-Fröbel-Lause. **) Stehe Seite 13.

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«eiche der Gruppe Landarbeit einverleibt war, eine verhältnismäßig große Einnahme gehabt. Die ganze Einrichtung des Bazars war im Festsaale desRathauses und ebenso geschmackvoll als prächtig. Die kronprinzlichen Lerrschaften kamen täglich zweimal, und ich glaube, jede einzelne Person, welche gern beachtet sein wollte von den hohen Lerrschaften, ist durch deren Liebens­ würdigkeit vollständig befriedigt, und auch manche bescheidene Persön­ lichkeit hatte sich einesWortes zu erfreuen, so daß die ganze Bazar-Gesellschast begeistert ist von der Leutseligkeit der kronprinzlichen Familie. Ich fand ganz besonders die Kronprinzessin bezaubernd; sie war ebenso einfach natürlich und herzlich als vornehm, was für eine Fürstin von großer Bedeutung ist; sie hat durch ihr ganzes Auftreten viele Vorurteile überwunden, die im Publikum gegen sie herrschen, und das ist eine nicht zu unterschätzende Frucht des Bazars. Es ist wirklich von großer Wich­

tigkeit, daß diese Frau, sowohl in ihrer geistigen Größe, wie in ihrer Lerzenswärm« in bezug auf die Wohlfahrt des Volkes verstanden, und mit allen Kräften in ihren vortrefflichen Absichten unterstützt wird. Über acht Tage bin ich fast den ganzen Tag imRathause gewesen,

nur einen Abend erlöste mich die Kronprinzessin selbst von meinem Amte, indem sie mich zu sich einlud, und ich bei ihr eine schöne Zeit zubrachte. Am Dienstag abend wurde der Bazar mit einer Festlichkeit, an welcher die kronprinzliche Familie noch teilnahm, geschloffen. Gestern mußte ich mich noch einmal aufraffen, um Stunden zu geben in derSteinmetzstraße und um 6 Ahr zu einem Diner im Lause des Lerrn, der den Christbaum von uns gekauft hat. Nun, liebe Charitas, danke Dir noch tausendmal für Deine Sen­ dungen. Du erhältst heut« alles zurück bis auf die Bücher von Pollack, welche ich gern noch studieren möchte. Ich bin seit einigen Wochen kaum zu einer geistigen Arbeit gekommen, außer daß ich die Broschüre und Prospekte verfaßte. Mir ist vom Buchhändler Springer Hierselbst das Anerbieten ge­ macht, ein größeresWerk fürKindergärtnerei von mir verfaßt,zumBesten des Pestalozzi-Fröbel-Lauses zu verlegen. Ich werde auch meine ganze Arbeit demselben schenken, obgleich ich recht wenig Zeit undRuhe habe, eine größere Sach« zu verfassen. Ich schicke Dir auch die Abschrift aus einem Leste „Kindergartenlehre", bitte Dich aber, den Inhalt nur für Dich persönlich zu benutzen, eben weil ich die größere Arbeit vor hab«.

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Kapitel 4:

Wie gefallen Dir meine kleinen Seste? Willst Du sie vielleicht ins Dänische übersetzen? Es tut mir so leid, daß Du so wenig zuverlässige Unterstützung in Deiner Wirtschaft augenblicklich hast; so sehr ich dafür bin, daß die Sausfrau selbst leitet und öfter mit dem Dienstpersonal arbeitet, so halte ich es doch für höchst wünschenswert, besonders wenn die Kinder heranwachsen, daß die Mutter derselben sich nicht mehr so zu ermüden braucht mit häuslichen Geschäften, wie es bei Dir noch der Fall ist. Alles, was ich für Dich auf demSerzen habe, schreibe ich nächstens selbst. Auch mein Mann, welcher herzlich grüßen läßt, wird Deines Mannes lieben Brief so bald als möglich beantworten. Er ist jetzt mit Reichstagsangelegenheiten und Vereinsgeschäften so überhäuft, daß unser häusliches Leben sehr darunter leidet; es gibt Tage, an denen mein Mann seine Mahlzeiten in der Stadt nehmen muß, weil ein Geschäft das andere ablöst und er nicht so viel Zeit gewinnen kann, zum Essen nach Sause zu kommen. Gewöhnlich hat er auch noch abends Fraktions-- oder Kouunissionssitzungen und kehrt dann oft kurz vor, ja auch nachMitternacht heim. Das sind Opfer, die wir mit vielen andern dem Vaterlande bringen; ob sie etwas helfen werden, das ist eine Frage, deren Beant­ wortung in der Zukunft liegt. Nun lebe wohl, liebe Charitas, sei mit Mann und Kindern herzlich gegrüßt von Deiner treuen Sennehe. An Mary Lyschinska (diktierterBrief). Berlin W. 18. Dezember 1885.

. . . Seitdem ich Dir den letzten diktierten Brief schickte, bin ich ernstlich unwohl gewesen. Der Doktor fürchtete, daß ich eine Lungenent­ zündung bekommen würde, und er hat mich mit größter Vorsicht und Sorgfalt behandelt. Es ist glücklich vorübergegangen, wenigstens hoffe ich es. Seit gestern bin ich außerBett, und ich denke, ich werde mich bald erholen. Ich muß Dich bitten, einliegenden Brief an Miß Manning zu schicken oder womöglich selbst hinzugehen. Ich lasse Miß Manning*) und Miß Jones**) vielmals für ihre Briefe danken, sowie letzterer fiir ihre

*) Hon. Secretary of the National, Indian Association London. **) Übersetzerin von Lotzes „Mikrokosmus" mit Miß Samilton zuammen. Verlag von T. Clarke Edinburgh.

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Bücher. Sobald ich nur irgend kann, schreibe ich selbst an die Damen. Ich lasse Miß Jones bitten, mir einen Brief an die Frau Kronprinzessin zu schicken, mit welchem ich die Bücher überreichen kann. Die Frau KronPrinzessin wird sich sicherlich sehr darüber freuen. Ich habe sie vor meiner Krankheit oft gesehen, und sie hat sich täglich nach meinem Befinden er­ kundigen lassen. Nächsten Dienstag ist Kinderbescherung im Kinder­ garten, wozu sie ihr Erscheinen zugesagt hat, ich darf leider bei der Feier nicht sein, weil der Doktor für meine noch angegriffene Lunge fürchtet.

Deine Nachrichten vom School Board haben mich sehr interessiert, leider sind die Kämpfe ttaurigerNatur, aber es ist überall dasselbe unter verschiedener Form. Ich habe vor meinem Anwohlfein eingehend mit der Frau Kronprinzessin darüber mich unterhalten, daß es ein Anglück sei, wenn Männer über Kleinkindererziehung und weibliche Bildung die Lauptbestimmungen machen; Frauen sind freilich auch oft sehr ver­ nagelt in dieser Beziehung, aber doch wohl eher derWahrheit zugänglich in bezug auf die erwähnten Punkte, als die Männer. Sie würden es be­ sonders dann sein, wenn sie die Stellung und die Macht hätten, Be­ stimmungen zu treffen. Ohne diese Macht und Stellung mögen sie den Männern nicht entgegentteten, welche letztere besitzen. Sollten wir nicht Hoffnung darauf setzen, daß durch die Übersetzung von Lotze in manchen

Köpfen der Weg gebahnt wird zu einem besseren Verständnis der Psy­ chologie? Ihr Engländer habt doch große Denker gehabt — aber frei­ lich mehr negierender Art — Skeptiker, Sensualisten. Es ist sonderbar. Eure gebildete Gesellschaft ist gar nicht philosophisch angelegt, auf dem Wege tiefen Nachdenkens werdet Ihr so schwer zu einer andern Auf­ fassung der Elementarerziehung kommen, als sie jetzt herrscht, wahr­ scheinlich nur durch revolutionäre Bewegungen. Später. Ansere Kinderbescherung soll ganz reizend gewesen sein. Kronprinzens und die Prinzessinnen waren da, und sie fühlten sich ganz gemütlich in unserm Kreise. Eine Miß Roberts von5 Queens’sgate Place S.W. London war mit einer Empfehlung von Isabella Sime

hier, sie hat ein sehr gutes Buch: „Der Kanzler von Tyrol" von Her­ mann Schmidt ins Englische übersetzt, und ihr Buchhändler hat sie aufgefordert, über die Kronprinzessin zu schreiben. Wir haben ver­ mittelt, daß sie bei der hohen Frau Einlaß bekommt. Miß Roberts kennt niemand von unsern Bekannten in London außer Miß Tillard.

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Kapitel 4: An Frau Marie Köckert in Genf. Berlin W. 3. Januar 1886. Meine liebe Marie I

Sie müssen denken, daß ich ganz verwandelt bin, weil ich Ihnen gar nicht schreibe. And doch, sobald wir nur eine Stunde beisammen wären, würden die Jahre, welche bei einer Trennung sich zwischen zwei Menschen auftürmen, verschwinden, und wir würden einander wieder haben, wie wir uns einst fanden und besaßen. Die Sache liegt bei mir sehr einfach. Das innere und äußere Leben stellt so viele und verschiedenartige Anforderungen an mich, daß ich ihnen kaum genügen kann und ich ge­ brauche ein Quantum Ruhe, um mich nicht aufzureiben. Ich bin in meinem Innern immer etwas schwankend und unentschieden, und das raubt mir die Kraft — schwankend und unentschieden, nach welcher Seite hin ich den Schwerpunkt meiner Tätigkeit legen soll. Ich habe schon längere Zeit ein starkes Bedürfnis nach Ruhe zum Studieren und Schreiben, aber unter jetzigen Verhältnissen komme ich nicht dazu, und so lange ich praktisch arbeite, muß ich auch in der Gesellschaft bleiben, denn man gebrauchtMenschen und ihr Geld zu Vereinszwecken, und letzteres wird weit mehr der Person, als der Sache, gegeben. Ich leide an zu vielen Interessen, und Berlin ist ein gefährlicher Ort, der zur Zer­ splitterung drängt; so bleiben mir nicht Mittel genug, das Andenken an schöne Zeiten der Vergangenheit in einer Weise zu pflegen, daß sichtbare Zeichen daraus hervorgehen; aber unverloren und unvergessen bleibt in meiner Seele, was einmal Eingang in ihr fand. Ich finde es doch sehr interessant, älter zu werden, es hat doch jede Epoche ihren großen Zauber; ich besitze ein großes Talent für das Alter. Sich im Leben zu bewegen ohne Aufregung und Anruhe, aber voll In­ teresse für jede Erscheinung, der Entwicklung des großen Ganzen und so manches einzelnen folgend in bezug auf Menschen und Verhältnisse, das ist sehr genußreich. Ich habe zeitweise sehr gelitten unter den Verhältnissen und dcr Stellung der politischen Partei, welcher mein Mann angehött; aber ich bin bei der letzteren in einer guten Schule; die Dinge vom historischen Standpunkte zu bewachten, ist auch das einzige, wodurch man zurRuhe kommt. Seit mein Mann seinen Eisenbahndienst quittiert hat und Miiglied desReichstages geworden ist, bewegen wir uns mehr in politischen

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Kreisen, als früher, der bedeutende Männer und auch einige tüchtig« Frauen in sich schließen; aber im allgemeinen find die Menschen von großer Beschränktheit im Arteil, und Selbständigkeit des Gedankens

findet man selten inRücksicht auf das Leben und di« Lebensfragen. Wir haben bedeutende Fachmänner, aber was allgemeine Geistes­ bildung betrifft, Idealität und Schwung des Geistes, so fieht es ziemlich traurig bei uns aus, und das wird immer mehr zunehmen. Doch das ist ein langes Kapitel! Ich glaube aber, ich könnte ganz ohne Geselligkeit leben, wenn meinMann mehr Zeit hätte, und wir zusammen auf dem Lande wohn­ ten und miteinander studieren und schreiben würden; ich ersehne dies mir als Schlußpunkt meines Daseins. So aus der Stille und Einsamkeit heraus doch noch eineWirkung zu üben auf gewisse Kreise undMenschen durch schriftstellerische Tätigkeit, denke ich mir herrlich, eigentlich das Schönste, aber vielleicht bin ich in einer Täuschung begriffen, da ich früher den Schwerpunkt meiner Arbeit im Organisieren, Leiten und Lehren fand, und vielleicht dazu am meisten Talent besitze. Am 7. Wenn Sie meine Arbeit im öffentlichen Leben überblicken, so können Sie kaum einen Fortschritt bemerken oder besondere Lei­ stungen aufzählen, und doch finde ich in mir selbst eine große Entwicklung der Dinge, die ich vertrat und vertrete. Mit jugendlicher Begeisterung habe ich in so echt deutscher Weise die Ideen der Frauen- und Kindererziehung, wie sie Fröbel uns aus­ sprach, ergriffen, und ich glaubte, man brauch« nur Begeisterung und guten Willen, um auszufithren, was das Äerz bewegte, und man würde den Boden, die Mittel undLilfe, deren man bedarf, finden. Aber das war eine große Täuschung. Wie man überhaupt im reife­ ren Alter inne wird, daß das Gute zu tun, Ideale zu verwirklichen so viel schwerer ist, als man denkt. Das Interesse für das Vereinsleben hat wohl zugenommen unter den Frauen; aber nicht zu gleicher Zeit das Interesse für die grund­ legende Erziehung und Vertiefung der Sache. Die äußeren Erfolge in der Politik haben den Menschen bei uns so erfolgssüchtig gemacht, daß man für Arbeit an Dingen, derenResultat« nicht sofort mit Länden zu greifen sind, wenig Sinn hat — aber gerade für solche Arbeit trete ich ein. Die Schwierigkeiten, welche sich mir bei derselben bieten, haben dazu gedient, die Ideen, welche mich bewegten, in feste Formen zu Ltzschtnska, Henriette Schrader n.

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Kapitel 4:

bringen und sie gewissermaßen einzureihen in die historische Entwicklung der Erziehungsideen überhaupt. Was ich will und nach verschiedenen Richtungen beleuchtet und durchgearbeitet habe, wird erst in eine andere Zeit passen, wenn Deutschland bittere Erfahrungen gemacht hat, und sich wieder besinnt auf seine eigentliche Mission, der Träger des Idealis­ mus zu sein; aber wir bedurften einer Zeit der krassesten Realität, um vom wahren Idealismus die Phantasterei zu sondern und den süßen Dusel der Romantik hinter uns zu lassen; also unterwerfe ich mich mit vollemBewußtsein und Ergebung der Zucht, in welcher der deutsche Geist gehalten wird. Es ist nur schlimm, daß so wenige die wahre Be­ deutung unserer Zeit verstehen und gerade die Einseitigkeiten und Aus­ geburten, welche solch ein Läuterungsprozeß mit sich bringt, für das Erstrebenswerte und einzigRichtige halten. So stürzt dieMenge kopflos auf einer Bahn weiter, welche sie aber schweren Prüfungen zuführen wird. Wann diese Zeit kommen wird? Das hängt von gewissen Anlässen ab, die früher oder später eintreten werden. 19.März. Wenn wir uns doch einmal wiedersehen könntenI . . < Ich danke Ihnen herzlich für Ihre lieben Zeilen, die mir sagen, daß Sie viele Freude haben, und jetzt kann ich auch so aus warmem Äerzen mich Es. Glück freuen. Sie sehen, wie lange ich schon beabsichtigte, Ihnen Nachricht von mir zu geben; aber es war ein böser Winter für mich. Ich litt sehr an Lungenkatarrh, ähnlich wie in Genf— ich weiß nicht, ob Sie sich dessen erinnern — und kaum wagte ich mich einmal wieder hinaus, so kamen Rückfälle, so daß ich jetzt meine Stnnden aussetzen muß, weil ich das Sprechen nicht vertrage; aber im April nehme ich alles wieder auf und freue mich — solch eine kleine Pause in der Arbeit und die Zurück­ gezogenheit von derWelt tun mir eigentlich sehr gut

An M. Lyschinska.

Berlin W. 14.Februar 1886 Ich wollte eben bei Dir anfragen, ob Du von den Sozialisten tot geschlagen oder von der Schulbehörde tot gerechnet seiest, da erhclte ichDeine Karte, und so lebst Du wenigstens, und solange man lebt, kenn man das Schönste vom Leben erwarten. Ich lebe auch noch, aber ich habe einen sehr schlechten Winter gehabt .... So ist mein Leben so unsicher, und dazu wachsen meine Arbeiten und Beziehungen, und ,u-

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weilen fühle ich mich so bedrückt. Wäre ich nur immer wohl, dann würde ich trotz vieler Arbeit und Komplikationen der Verhältnisse mich doch recht amüsieren über das Leben; es ist sehr interessant, und ich finde eS der Mühe wert, einmal aufzutauchen aus dem Arbrei der Menschen­ masse, einmal Augen zu bekommen und eine Nase — es wird mir recht leid tun, das Dasein hier zu verlassen eines Tages. Man muß aber erst vieles durchmachen, ehe man zu der Objektivität kommt, die etwas Be­ hagliches hat. Mein Gott, wie hat meine arme Seele gezappelt und geweint und gerungen, ein Bild verwirklicht zu sehen vom Leben, daß irgend jemand — Gott oder Teufel — in dieselbe geprägt hat, mit dem sie austauchte aus dem Anbewußten; wie haben diese Seelenfinger mit gekratzt und gemanscht und gehämmert, um dem Stück Leben die Form und Gestalt zu geben, die dem Innern vorschwebte; wie sind die Seelenbeine ge­ laufen, gekrochen, um Menschenbilder zu suchen und Äilfe zu finden für ein Werk, das zu vollenden die eigene Seele nicht Kraft genug hatte. Aber immer paßten die Stücke nicht aneinander, oder in der Kauptstelle blieb ein Loch, und die Kaut, die ich dabei zu Markte trug, war viel zu verletzlich und schmerzte zu leicht. Jetzt habe ich ein dickes Fell, ich lache über das meiste, worüber ich ftüher weinte. Ich habe es mir innerlich bequemer gemacht, es ist so eine Art Leichtsinn über mich gekommen, der mir sehr wohltut. Doch Scherz beiseite, liebeM., ich glaube, ich bin viel historischer geworden. Ich habe mein Ideal nicht verloren, aber ich sehe, wie unendlich langsam der Entwicklungsprozeß sich in der menschlichen Gesellschaft vollzieht, und nie auf direktem Wege. Ich habe ein Buch gelesen: „Beittag zur Geschichte der Familie", es ist einesteils schrecklich, welche Wunden sich die menschliche Gesell­ schaft schlägt, andernteils rührend, wie der gute Geist ringt, zappelt, versucht und tappt, um sich zu entfalten und seine rechte Form zu suchen. And wie viel und wie wenig ist der einzelne Mensch, wenn er geboren wird mit Ideen und dem Drange, sie zu verwirklichen; nie kann er dies direkt, denn er ist immer ein Stück derMaffe, die er nicht ignorieren kann. So muß er durch viele Kanäle kriechen und mit vielerlei Faktoren rech­ nen, und die Gestaltung seiner Arbeit hat er nicht in der Land. Aber mächtiger, als er selbst, ist wiederum ein Gesetz, welches fort« wirkt in andern, und verknüpft und verarbeitet und herauswirkt, was wir gesät — und darum nur immer den Stempel des Geistes, der unS treibt, jeder Handlung aufgedrückt I Ich glaube, meine Aufgabe liegt 21*

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Kapitel 4:

darin, die Grundgedanken Pestalozzis und Fröbels zu be­ freien aus einem Wust vonMethode, und sie den einseitigen Verstan­ desmenschen, die alles in ihren Dienst stellen und zur Schablone häm­ mern wollen, zu entreißen. Das Gemüt ist eine Macht für sich im Menschen, es ist nicht eine untere Stufe desVerstandes; die Zeit der Aufklärung, welche nötig war, hat jetzt eine Spitze erreicht, welche sich umbiegt und sich gegen ihr eigenes Werk richtet, wenn diesem nicht das glückliche Gegengewicht wird; viel­ leicht liegt aber zwischen unserer harten, kalten Periode und dem wärme­ ren Pulsieren einer andern Lebensseite eine dunkle Zeit des Austmhrs in der menschlichen Gesellschaft, der viele und vieles vernichtet, was jetzt lebt und sich bewegt. Man hat immer die englische Freiheit gerühmt, welche Ausbrüche Unzufriedener hinderte—was habt Ihr in England jetzt ? Wahrlich liegen Eure Angelegenheiten wohl anders als unsere, aber liegen sie besser? Ihr habt furchtbar schwere Konflikte und Kombinationen. Da habe ich so ein Arbeitsstündchen mit Dir verplaudert. E. Last könnte mir wohl eine Beschreibung der Generalversamm­ lung der Fröbel-Society geben, und was und worüber die Elementar­ lehrerinnen geredet haben. Ich bin ganz zufrieden, daß Mundella nicht den Vorsitz hatte. Lier ist nichts besonderes passiert, wenn nicht jede Verhandlung int Reichstage etwas besonderes ist, insofern, daß Bismarcks Unzulänglich­ keit, ja, sein Ansinn in der innern Politik immer mehr zutage tritt, und in diesem Verfall seiner Pläne die Anbeter Bismarcks immer lauter schreien, um ihr eigenes Gewissen zu übertäuben . . . Nun kommt das Sozialistengesetz — es soll um fünf Jahre verlängert werden. Die Deutsch-Freisinnigen halten solch' einen Ausnahmezustand für sehr gefährlich — aber wenn sie es bewirken, daß das Gesetz außer Kraft gesetzt wird, so wird man von oben alles aufbieten, Anruhen durch Sozialdemokraten zu veranlassen, kurz, den Schein hervorzurufen und begünstigen, daß die Auflösung des Gesetzes Anheil bringt, um so Steine auf die Deutsch-Freisinnigen zu werfen. Jetzt liebe M. lebe wohl, mein Mann ist Gott sei Dank, bei ange­ strengtester Arbeit Nacht und Tag wohl, und wenn ich wohl bin, heiter und vergnügt. In der Steinmetzstraße geht alles gut weiter, große Freude haben wir an einer Schwedin, Fräulein Fröding

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Henriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum. 9. 12. Juli 1886. Noch nie hat Neu-Watzum einen so wohltuenden Eindruck auf uns gemacht, wie diesmal. Ich bin so müde von den eingekerkerten, geschnie­ gelten und stilvollen Gärten Berlins, daß mir die etwas freie Entwick­ lung im hiesigen Garten — der Ranken, Büsche und Bäume hier, wie wirkliches Leben vorkommt, und das andere in Berlin wie Theaterspiel. Das Laus und dessen Einrichtung sieht sehr ordentlich und wohlhabend aus, der neueKuhstall ist ganz stattlich, und die gewisse ländliche Grund­ lage, welche geblieben, erhöht denReiz für mich, zumal manch' kostbares Stück Möbel durch hübsche Zusammenstellung in den Zimmern wieder Schritt hält mit dem wachsenden Bedürfnis nach Schönheit in unserer Zeit. So hat die alte und die neue Zeit einen Bund geschlossen, der je­ manden, wie ich, die das Gute zweier Generationen zu verschmelzen sucht, recht anheimelt. Unsere Tagesordnung will ich Dir nun mitteilen: Um 6 Uhr stehen wir auf, und im Garten wandernd, trinke ich meinen Brunnen; nach dem letzten Glase gehen wir ganz ins Frei«, und um 9 Uhr trinken wir Tee. Während unserer Abwesenheit bringt Luise*) alles in Ordnung, und der Frühstückstisch winkt uns einladend auf der neu restaurierten Diele, auf einem runden Tische. Nach demFrühstück lege ich mich aufs Sofa, und Annette liest mir vor, dann schreiben wirBriefe oder arbeiten etwas, und gegen 1 Uhr essen Annette und ich auf der Diele, und nach Tisch wollen wir ein bißchen duseln und uns dann etwas vorlesen, wenn wir nichtsBesonderes zu schreiben haben. Um 4Uhr trinkt Annette mit Anna und sechs hiergebliebenen, recht netten jungenMädchen Kaffee, ich gehe mit oder bleibe hier, wie es mir paßt und gefällt. Gegen abend gehen wir noch eine Stunde spazieren, um 1/28 Uhr essen wir Abendbrot und zwischen 9—10 Uhr gehen wir zuBette. Leute regnet es den ganzen Tag mit kleinen Zwischenräumen; aber ich sitze am offenen Fenster am Sekre­ tär der Mutter — Du kennst ihn— und ich trinke Lust. Schwester Anna scheint sich aufrichtig zu freuen, uns hier zu haben, sie sieht so wohl und wohlhabend aus, hat alles mit so viel Liebe für uns eingerichtet, daß es das Lerz warm berührt, und da ich nun einmal fortinußte von Berlin, da ich nun einmal nicht mit Dir sein soll — so will *) Lausmädchen.

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Kapitel 4:

ich mich auch mit vollem Bewußtsein in die Schönheiten versenken und sie genießen, die das hiesige Leben bietet; ich will sie trinken, damit sie in mein Fleisch und Blut übergehen und Dir, Dir zugute kommen als heitere Stimmung und Lebenslust und Freude, die einem neu gestärkten Körper und Geiste entsteigt. Wie schön ist doch der Gedanke, und so sehe ich schließlich meine Sehnsucht durch, mit Dir alles zu teilen — es kommt nur auf die Form an. Resignieren in der Liebe muß man nicht, das macht öde und nimmt die Elastizität; aber man muß beweglich sein in der Form, sich seine Äer zenswünsche zu erfüllen; nein, nein, nicht aufgeben, was das Beste und Süßeste im Innern ist. Der eine entwickelt sich so, der andere so, ich muß das Streben behalten, um dem leben zu können — was mir ein so tiefes Bedürfnis ist — mit Dir, mit Dir alles zu teilen l Annette ist sehr befriedigt hier; als wir heute morgen um 1!27 Ahr aufstanden und die kühle würzige Luft ins Fenster drang, wir so mitten ins Tannengrün sahen und alles still war bis auf Vogelgesang — da tanzten wir ganz vergnügt in dürftigster Toilette und freuten uns solcher Freiheit. EineRanke von Wein, die sich keck emanzipiert hatte, von der sittsamen Art ans Laus gebunden zu sein, schien sehr sympathisch von unserem Gebühren berührt und nickte uns ganz verständnisinnig zu. Annette empfindet es auch so angenehm, von Luisens Geschäftigkeit zu profitieren, und letztere bewegt sich mit großer Würde und sorglicher Liebenswürdigkeit um uns her. Übrigens fühle ich mich wohl und gar

nicht zum Faulsein geneigt; aber der Brunnen wird es mir wohl antun. Annette will doch lieber mit mir aufstehen und spazieren gehen; wir wanderten heute den Weg durchs Äolz nach Braunschweig zu, tinte von der großen Straße. And wie wir genießen, was ist, so acht minder, was nicht ist. ..... Wie fängt man es an, die einfache Lebenskunst beizubringen, daß man sie ergreife und behalte von dem vielen Guten, das sich in der Welt bewegt, um es zu verarbeiten zu schönem, reinen Menschentum I Könnte, ach könnte ich doch dazu noch etwas beitragen, könnte ich kräftig, heiter und beglückend und glücklich mein Leben voll­ enden ! Neulich auf der Reise hierher hatten wir einen sehr gesprächigen, ältlichen Lerrn von B. im Kupee, der Deinen alten Freund Äausmann verehrt, die gute, alte Zeit lobt, und eineReise durch die Schweiz macht von Berlin bis Basel und zurück über Konstanz mit einem Rundreise­ billet II. Klasse für 92 Mark, auf 45 Tage gültig. Sein wohltuendes

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Schwätzchen taute sogar eine protzig aussehende Gutsbesitzersfrau aus Ostpreußen auf, welche mit ihrem Iunkerchen reiste. Sie schien aber nicht won Bismarcks Gedanken angekränkelt, sie sagte, daß ihr Mann die Er­ fahrung gemacht, daß die Zölle der Landwirtschaft nur Schaden bräch-

ttn und die Klagen der Landwirte mit darauf beruhen, daß sie zu viel Luxus treiben, wozu sie noch einige Belege lieferte. Nun, mein Lieber, für heute lebe wohl, grüße Klara und laß es Dir sehr gut schmecken bei Barths.

Vor allem habe mich lieb, lieb, lieb! Deine

55. An denselben.

Neu-Watzum. 10. Juli 1886. Ich möchte so gerne arbeiten, die Faulenzerei in den Ferien mag sich gar nicht mehr. Ich bin so bedürftig, meine Gedanken auf etwas Reelles zu richten. Aber mein Frachtkoffer mit Büchern (es sind nur wenige, die ich nötig habe, um mich auf meine Stunden zu präparieren), ist noch nicht angekommen. Ich will heute auf die Lausbibliothek gehen und sehen, ob ich nicht ein vernünftiges Buch finde, um so mehr, da ich sonst inVersuchung komme, den Inhalt der Schubladen im Sekretär der Mutter zu durchsuchen, und ich dann versinke in alte Erinnerungen, die mich melancholisch machen, und ich habe keine Zeit mehr übrig zum Verträumen. Also heute mußt Du wieder nach Köpenick? Anna hat einen schwe­ ren Fall gehabt, sie ist die Treppe herunter gefallen und hat ein ganz dickes Auge davon bekommen. Sie hat uns so herzlich gebeten, beim Kaffee bei den jungenMädchen zu sitzen, das haben wir auch gern getan und werden es tun, bis Marie Schaper wiederkommt. Ich finde die jungenMädchen so nett und interessiert für alles; ich bin nicht so men­ schenscheu wie früher; ich denke mehr daran, andern eine Freude zu

machen, und ich habe wirklich nicht daran geglaubt, daß man andern mit seiner Gegenwart eine Freude machen könnte. 11. Juli. Leute ist durch ein gemütliches Sonntagsschwätzchen mit Anna unsere Tagesordnung unterbrochen — und dann zuckt es mir immer in den Fingern, die Schubfächer des alten Sekretärs aufzu­ ziehen und in der Vergangenheit zu kramen; ich sollte das eigentlich lassen.

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Kapitel 4:

Wie sehr leid tut es mir, daß die Kochschule Dir so vielMühe macht; aber es ist doch gut, daß der Schwamm in dem Lause entdeckt wurde. Lerr 55. hat Annette so bange gemacht, daß in fünf Jahren, wenn er nicht mehr da sein würde — das Laus einstürzt. Frage ihn auf sein Ge­ wissen und laß einmal das Laus gründlich untersuchen. Ich finde die Reden von ihm wirklich nicht nett, besonders wenn er händereibend hin­ zufügt: „Nun bin ich nicht mehr da!" In der Bibliothek fand ich oben eine Geschichte Friedrich Wil­ helms III. von Bischof Eylert, ist etwas daran? Leute sehe ich meine Forschungen fort, ich kann nicht mehr von der Luft leben, wie früher. Leute speisen wir am großen Tische, sonst essen Annette und ich auf der Diele allein, und Luise bedient; dort trinken wir auch morgens und abends Tee. 12. Juli. In strömendem Regen sind wir spazieren gegangen. Gestern nachmittag hatte ich eine herrliche Fahrt mit Erich bis an den Fuß der Asse, er hatte in Denkte zu tun. Als ich heim kam, fand ich einen Lerrn mit Anna und den übrigen am Kaffeetisch, -den ich für einen be­ haglichen katholischen Priester hielt; er war kein katholischer, sondern ein evangelischer Pastor. Erich macht jetzt viele Erfahrungen in Unfallund Krankenkassen; ich habe ihn gebeten, Fälle für Dich zu sammeln

Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 18. Juli 1886. ..... Über die Frage, ob wir in Wolfenbüttel bleiben oder in die Schweiz reisen, erwarte ich von Dir noch weiteres; ich richte mich aber darauf ein, pünktlich, wenn es irgend geht, dorthin zu kommen, ob wir reisen oder dortbleiben. Unser Unglück ist, daß zu vielerlei Dinge in Berlin auf uns ein­ stürmen, so daß wir kaum je zurRuhe und Sammlung kommen. Unsere Interessen und Beziehungen sind so vielartig, und die Welt kennt uns zu gut, als daß wir je hoffen dürften, anders zu leben, so lange wir in diesem Getriebe überhaupt siud. Wollen wir Ruhe haben, so müssen wir heraus — oder uns mit aller Rücksichtslosigkeit auf eins, aber dann auch wirklich nur auf eins, konzentrieren. Ich freue mich, daß Du dortRuhe und Gesundheit findest, und daß Deine Kur Dir nicht unbequem wird; wenn ich dahin komme, wollen wir die Reize des Landes und Lebens so

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viel deren zu haben sind, vergnügt zusammen genießen. Wie wir im Winter leben werden, müssen wir überlegen. Sollten wir nicht so stehen, baß wir den Leuten sagen könnten: „Wir haben so viel zu tun, daß wir uns auf regelmäßigen, geselligen Verkehr nicht einlaffen können, wir wollen aber gut freund bleiben, irgend eine bequeme Form desVerkehrS finden und erwarten, daß unsere Freunde, wenn wir sie zu unS bitten, zu uns kommen!" Du irrst, wenn Du meinst, ich sei sonderlich resigniert; das bin ich gar nicht, wenn wenigstens darunter verstanden werden soll, daß ich auf irgend etwas verzichte. Ich nehme immer, was ich' haben kann und werde mich nicht scheuen zuzugreifen, wenn es greifbar ist. Aber ich täusche mich nicht, weder über mich, noch über die Zustände, und will deshalb im Augenblicke nur das, was gerade erreichbar ist. Ich bin nicht resigniert,sondern geduldig. Ganz ehrlich halte ichDich und wasDu tust, für wichtiger, als das, was ich bin und vermag. In anderer Zeit und einer archeren Entwicklung, ich meine, wenn ich jung nach Preußen und in die Politik in unabhängiger Stellung gekommen wäre, hätte ich vielleicht mehr au- mir machen können; wie die Dinge liegen, habe ich nicht viel Chance im politischen Leben, eine wirklich große Rolle zu spielen. Aber ich kann manches Gute, nicht bloß in Berlin, sondern selbst darüber hinaus wirken, und damit bin ich ganz zufrieden. Wenn Du zu glauben scheinst, daß wir in unserer Tätigkeit zu sehr von einander getrennt wären, und wenn Du meinst. Du hülfest mir nicht durch Dein Tun für Deine — ich meine für die von Dir speziell vcrsolgteRichtung — so irrst Du darin. Beides gehört zusammen, und wir find einander viel mehr Stütze, als der Fall zu sein scheint, und können es noch vielmehr werden, ohne daß Du Deine Arbeit aufzugeben brauchst. Wenn Du noch etwas ruhiger wirst und manchmal hinter Deinen eige­ nen Forderungen zurückbleibst, statt Dir zu viel zuzumuten, so wirst Du nicht bloß für Dich mehr leisten, sondern auch mir helfen können. Diese letzte Zeit werde ich auch viel zu tun haben, aber ich hoffe, rechtzeitig mit allem fertig zu werden, damit ich bald zu meiner lieben Frau reisen kann. Wereschagin hat mir übrigens beim Sehen genau denselben Ein­ druck gemacht wie nach Deiner Beschreibung. Bewunderungswerte Richtigkeit der Beobachtung, die ihn die Dinge immer so malen läßt, wie sie wirklich erscheinen, nicht im Atelier, sondern im Leben, bewunde­ rungswerte Wiedergabe des Gesehenen, aber gar keine Fähigkeit, einen

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Kapitel 4:

höheren Gedanken oder Einheitlichkeit in ein Bild zu bringen, wenn sie nicht notwendig im Stoffe liegt. Es ist in ihm eine gewisse Naivität, die sich um gar nichts kümmert, und eineWahrheitsliebe, die nichts verhüllt. Aber ihn ergreift sein Gegenstand nie so, daß er ihn wirklich aus sich selbst heraus reproduzierte Lenriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum. 20. Juli 1886. Büchtemanns Tod betrübt mich tief. Armer, lieber Karl, wirst Du die immer schwerer werdende Bürde tragen können, und was kann ich tun, sie Dir zu erleichtern? Möchtest Du wirklich, daß wir jeden geselligen Verkehr aufgeben, glaubst Du eine Erleichterung für Dich und für mich darin zu finden? Dann würde ich Luise und Anna gehen lassen und ein Mädchen für alles zu Klara nehmen; wir würden dann so essen, wie Du früher gegessen hast und hätten allerdings mehr Ruhe und brauchten weniger Geld. Ich möchte wohl mit Dir Kingsley lesen, er interessiert mich so sehr; ich sehe in ihm ein mächtiges, sittliches Streben, und wenn ich mich auch nie zu seinen religiösen Formen bekennen kann, so ist sein Suchen nach dem Rechten und das Aussprechen darüber mit seiner Frau mir so sympathisch. Ob wir beim Verfolgen unserer Arbeit uns nicht zu sehr­ schieben lassen von den Verhältnissen? Solltest Du nicht doch gemein­ schaftlich mit mir öfter stille Einkehr halten? Laben wir eigentlich unsern geistigen Sonntag, geistig unser Abendmahl und unsere Beichte? Diese Dinge in der Kirche sind wohl Symbole, aber es liegen ihnen ewige Geistesgesetze zugrunde. Könnten doch Deine und meine Natur sich so verschmelzen, daß jedem sein rechtes Teil wird. Du bist der personifizierte Imperativ, ich habe etwas von einer Seele, die zur Weltflucht neigt und in Kontemplation sich versenken kann. Später. Wie kann der Verleger S. behaupten, ich habe ihm ver­ sprochen, etwas über die Kronprinzessin zu schreiben — durch die Land­ schriften kam die Rede darauf, und ich sagte ganz im allgemeinen: Viel­ leicht wäre es gut, wenn einmal etwas über die Wirksamkeit der Kron­ prinzessin erschiene, und vielleicht könnten mein Mann und ich dazu die Land bieten; versprochen habe ich ihm nichts, und ich werde ihn bald aus seinem Irrtum reißen. Der christliche Sozialismus interessiert mich so sehr; Du hast wohl manches in Kingsley gefunden? Das Buch ist nicht ohne Einfluß auf

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mich. Ernst machen mit den Konsequenzen des Christentums, vor allem erst die Grundgesetze desselben ans Tageslicht ziehen — es ist das Ent­ gegengesetzte vom Darwinismus. Kingsley kam nicht auf dieses Grund­ gesetz auf geistigem Gebiete, fand nicht das Wort dafür und hielt sich deshalb krampfhaft, ja, wirklich krampfhaft an das Dogma, das absolut nicht zu halten ist. So ein Kingsley fehlt uns, solch' ein Prediger, nur den heutigen Tagen, den Deutschen angemessen, die längst nicht mehr so viel Ehrfurcht in religiösen Fragen besitzen, wie die Engländer. Natürlich kann man Kingsley nicht nachmachen, aber sollte man nicht die Frauen dasWort, d. h. das Gesetz Gottes predigen lassen mit aller Begeisterung und Poesie des Aerzens? Tragen sie nicht das Kind unter ihrem Aerzen; nähren sie es nicht mit ihrem Blute — durch das Blut muß das Leben des Geistes erneuert werden, denn aus dem Blute strömt es. Ich habe höchst interessante Dinge über die Blutverwandtschaft und deren Bedeutung in Lippert*) gefunden. Denke Dir, das Buch über Kingley greift so tief in mein Inneres, daß ich einmal einen Tag aus­ setzen muß. Mehr als alles interessiert mich seine Stellung zu den Ar­ beitern, sein Aandeln und Lehren; ich muß mich mit seinen Schriften, diesen Punkt betreffend, bekannt machen, auch mit Maurice, nur muß man sich gewiß hüten, eine Sache von einem Volke direkt auf ein anderes übertragen zu wollen.

Der christliche Sozialismus beginnt, wo zwei Menschen in diesem Sinne beisammen sind, und es gibt eigentlich nur zwei Leiden auf der Welt — der vorzeitige Tod und das Widerstreben der Menschen gegen den christlichen Sozialismus. Wie viel könnten die Menschen tun, ein­ ander glücklich zu machen durch Eingehen auf ihre innerste Natur und das warme Wohlwollen des Aerzens, es ist enorm, und wie viel leichter wird es einem selbst I Aber man muß die Menschen objektiv, historisch be­ trachten können, nicht nur in bezug auf uns selbst, freilich kann man das auch nicht in der Jugend, aber mehr, weit mehr als jetzt kann ein Grund dazu gelegt werden, daß wir mehr wie früher, als jetzt, diese christliche Liebe gewinnen; sie muß den Menschen nur in Schönheit und göttlicher Aeiterkeit nahe treten und wahrlich der zu früheBruch zwischen Neigung und Pflicht muß verhindert werden. Glaubst Du, ich werde sagen können, klar, faßlich, was ich für die Erziehung meine? Wir müssen mit der Schönheit des Lebens die Er*) Zur Geschichte der Familie.

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ziehung beginnen, nicht mit dem Elend; mit Jesu stillstrahlendem Leben^ nicht mit dem Kreuzestode. Nicht will ich den Ernst verbannen, im Gegenteil, aber der Ernst muß für das Kind ein lieblicher sein. Aber Du hast ja keineNuhe, dies alles nachzulesen und bald kommst Du, und ich kann Dir alles sagen. Welch ein Segen Gottes liegt auf meinem Leben, ich bin noch nie, nie so dankbar gewesen für mein Leben, wie in dieser Zeit! Karl Schrader an seine Frau.

Berlin W. 21. Juli 1886. Kingsley habe ich nur in einer Stunde durchblättert, um zu sehen, ob ich etwas für meinen besonderen 3n>ed, Christian Socialism darin fände, was ich noch nicht wüßte. Er ist ein sehr bedeutenderMann gewesen, aber der bedeutendere war doch noch Maurice. Diese beiden Leute, namentlich letzterer, müssen einen außerordentlich tiefen Einfluß auf die Heranwachsenden Theologen und auf die ganze englische Jugend gehabt haben, und manches, was Dir jetzt an dieser zusagt, ist auf jene Männer zurückzuführen, die geistig hochgebildet, mitten im Leben ste­ hend, große und frommeNaturen waren, und die ihnen nahekommenden in der vielfachsten Weise zu packen und sestzuhalten wußten. Vor allem waren sie tapfere und ehrliche Leute, die ihre Überzeu­ gung auch in der Kirche vertraten. (Kingsley ist verfolgt, Maurice noch mehr, aber sie haben beide schließlich gesiegt.) Später. Den Artikel über den christlichen Sozialismus hoffe ich in diesen Tagen fertig zu machen, ich werde Dir dann einige Bücher über die Sache mitbringen, die Dich interessieren werden. Kingsley und seine Freunde haben bis auf den heutigen Tag noch, teils durch ihre früheren Leistungen, teils durch die noch heute in ihrem Sinne wirkenden Kampf­ genossen großen Einfluß auf die Arbeiterverhältniffe, daß die Leute dort so vernünftig sind, ist zu einem großen Teile ihr Verdienst. Mit Köpenick steht es gar nicht, d. h. nichts kommt im Augenblicke vorwärts. Die Bauerlaubnis ist aus einem nichtigen Grunde versagt, und es ist jetzt eine Beschwerde im Gange. Wir verlieren damit eine sehrkostbare Zeit, aber es ist nichts dagegen zu machen. Übrigens gewinnt

die Idee*) Boden, ein Artikel, den ich darüber für das Reichsblatt ge*) Die Berliner Baugenossenschaft nach Schulze - Delitzschen Prinzipien gegründet von Karl Schrader.

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schrieben hatte, ist in Berliner und andere Zeitungen übergegangen und hat manche Leute mit der Sache bekannt gemacht. Gestern besuchte ich eine Ferienkolonie, die am Friedrichshain, und ging nachher zu Goldschmidt hinüber, der jetzt dort in einem sehr netten Sause wohnt; er hielt mich den Abend fest. Einige Serien und Damen waren dort, um die Brauerei zu besichtigen; eine der Damen istMitglied eines spiritistischen Klubs, der sich experimental psychologische Gesell­ schaft, oder so etwas nennt. Salb machte sich die Dame über ihre eigene Gesellschaft lustig, aber halb schien sie auch an die vierte Dimension usw. zu glauben. DieseWoche fahre ich wahrscheinlich einmal nach Kunheim. Du hast ihn und seine Frau bei Senochs gesehen; er hat dort eine große Fabrik und soll für die Baugenossenschaft gewonnen werden, namentlich aber mit mir zu seinem Freunde, dem Amtsvorsteher gehen, der uns die Bau­ erlaubnis verweigert hat und diesem mit zur Vernunft reden. Was S. betrifft, so werde ich ihm schreiben, daß Du jetzt den Auf­ satz über die Kronprinzessin nicht machen könntest, überhaupt auch nicht eher, als bis Du mit ihr darüber gesprochen hättest. Also wegen der Schweiz willst Du nicht eher einen Entschluß gefaßt haben, als bis ich da bin? Meinethalben, dann muß ich mich ä deux mains einrichten. Später. Kommt denn Mary gern nach Neu-Watzum? Für ihr Buch ist es gewiß gut, daß sie die Dinge mit Dir besprechen kann; ob für ihre Erholung, bezweifele ich; aber vielleicht nützt ihr geistig und gemütlich der Verkehr mit Dir, wie sie ihn inNeu-Watzum haben kann, mehr, als aus einer Reise. Sier ist gar nichts los; ich habe gestern zwei Artikel überWohnungsftagen für die „Nation" und für das Berliner Tageblatt abgeschlossen. Morgen muß der christliche Sozialismus fertig werden, so daß ich mit gutem Gewissen und ohne Arbeit fortreisen kann. Ich bringe also nicht viele Bücher mit, Pestalozzi aber doch wohl; auch ein englischesWörterbuch und Alton Locke von Kingsley. Lebe wohl, bald sind wir nun wieder beisammen.

Karl Schrader an seine Frau. Berlin W. 21. Juli 1886. Du hast gut sagen: „Schwamm darüber", nämlich über alle Berliner Sorgen, ich sitze noch ganz darin und ich kann statt „Schwamm dar-

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über" sagen: „Schwamm darin", nämlich in der Kochschule. Übrigens ist es nicht so schlimm mit dieser Sache; sie wird allerdings etwas mehr kosten, als zuletzt angenommen war, und die Hauseigentümer werden sich wohl nicht entschlagen können, einen Teil der Kosten zu übernehmen, da die Sache nicht ausschließlich an der Kochschule trägt. Gestern nach­ mittag bin ich noch einmal mit Frl.Bertram dagewesen und habe nachher noch mit ihr ein Gespräch über die Kochschule gehabt, durch welches sie wohl etwas über manches noch aufgeklärt ist; heute geht sie nach Ostpreußen. Ich freue mich , daß Du dort, von Sorgen frei, das, was du Gutes findest, genießest, und nirgends gibt es wohl (wenigstens hoffe ich es) so viele Erbsen und so weiche wie dort. (Lier sind sie schon hart, wie ich heute mittag erfahren habe.) Also schon um 6 Ahr steht Ihr auf? And den Tag über schläfst Du gar nicht? Ist das nicht ein bißchen zu viel? Anannehmlichkeiten schweben gar nicht über uns hier, es -geht viel­ mehr alles seinen Weg. Gestern habe ich in Köpenick, wie ich Dir schrieb, Baugenossenschafts-Generalversammlung gehalten, heute mittag wieder Sitzung über Arbeiterwohnungen mit Gneist, Eberty, Rospatt usw. Die Baugenossenschaft macht mir noch manche Arbeit; ich muß die Be­ hörde (Landrat, Amtsvorsteher) für uns gewinnen. Regulative machen und nächsten Lerbst und Winter, wenn wir erst das Laus aus der Erde haben, gilt es agitieren. Bis jetzt ist die Sache recht klein, aber der Kern ist gut. Den andern Teil der Arbeiter-Wohnungsfrage habe ich jetzt, glaube ich, auch in richtigen Gang gebracht; man wird Anlehnung an die bestehende, gemeinnützige Baugenossenschaft suchen, die ich im voraus dazu präpariert habe. Beide Dinge können eine große Bedeutung für Berlin und darüber hinaus erlangen. Gelingt es, so ist damit wieder der Beweis geführt, daß heute mit einer richtigen Idee viel erreicht werden kann. Dem Prinzen vonRassau schreibe ich auch diese Tage; ich habe ge­ wartet, weil ich nicht recht klar war; jetzt weiß ich, was geschehen muß. Der zu begründende Verband*) muß sich zum besonderen Ziel die Ver­ besserung der Äospitalpflege machen und von vornherein die Ärzte dafür

gewinnen, daß sie beitreten. Das kann auch der Kronprinzessin paffen, und es kann wirklich etwas Großes erreicht werden. Das Viktoriahaus würde Mittelpunkt des ganzen, und natürlich hätte nicht bloß die Lospi*) Viktoria-Schwestern.

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talpflege, sondern auch die häusliche Krankenpflege den Vorteil davon, da die Zahl der ausgebildeten Pflegerinnen sehr wachsen würde. Ich habe noch einen langen Brief wegen derBerlinerBaugenoffenschast zu schreiben, der heute fort muß, also lebe wohl für heute. Grüße alle, namentlich Schwester Anna, die so gut gegen Dich ist, aber etwas leichtfertig, daß sie so die Treppe herunterfällt. Es hätte wirklich recht schlimm werden können. War es denn die Treppe zur Diele?

Lenriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum. 23. Juli 1886.

Wir haben Litze und Gewitter, Regen, der nur heiße Dünste pro­ duziert; aber mein römisches Dampfbad gestern, welches wir auf dem Wege nahmen, ist mir ganz gut bekommen, und es geht mir sehr gut bis auf die Leiserkeit. Was sollen wir bei diesem Wetter in der Schweiz? Ich bin aber so ganz disponiert, meine Pflicht zu tun in bezug auf unsere Reise, wenn Du sie für notwendig hälft; ja, wenn Du Bedürfnis nach der Schweiz hättest, o welchen Schwung würde es mir geben, wie würde ich zu allem bereit sein! Wenn ich nun alle Jahre Karlsbader ttinken muß — so kann es keinen passenderen Ort geben als hier, wenn ich allem Verkehr entsage oder nur den einen oder den andern abends empfange. Ich fühle übrigens meine Kräfte wachsen, ich bin nicht mehr so totmüde, wie im Anfänge beim Aufstehen. O Karl, leidende Menschen müssen ganz anders beurteilt werden als gesunde; diese entsetzliche Reizbarkeit einer­ seits und das Gefühl der Kraftlosigkeit andererseits, wer dies nicht kennt, soll Gott auf den Knieen danken. Mit Wehmut denke ich an meine Jugend zurück, in der ich kaum je das Gefühl der Gesundheit gekannt. Dein heutiger Brief hat mich eigentlich still traurig gemacht, aber beruhigt; es ist so erhebend. Dich frei zu wissen vonjedem Ehrgeiz. Was sind große Männer ? Die Größe wird jetzt immer nur gemessen an beson­ ders sichtbaren Zeichen, fteilich gebraucht die Masse auch solche; aber wie oft sind solche Zeichen ein übertünchter Maulwurfshaufen. Es gibt Geister, die eben, weil sie Geister sind, unsichtbar wirken, weil an ihnen nicht die Schlacken menschlicher Schwächen hasten. Sieh, so bist Du, rein von den Fehlern des Ehrgeizes, der Eitelkeit, der Labsucht, wirst Du nur dann die Dir gebührende Stelle im Leben einnehmen, wenn sie direkt aus Deinem Tun und Wirken hervorgeht.

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Hättest Du Ehrgeiz, hättest Du das grobe irdische Element zu Deinen Gaben, so ständest Du schon längst an einem andern Platze; aber dann wärest Du eben nicht der stille, reine Geist. Du machst Ernst mit dem Christentume, welches fordert: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes!" And wer Ernst macht, trägt auch dessen Konsequenzen. Ich bin viel lebhafter in meinen Gefühlen und Begehrungen als Du, aber die Erkenntnis desRechten beeinflußt sie wunderbar. Ich begehrte innerlich mit Lebhaftigkeit die Stellung für Dich und mich im Leben, die uns gebühtt; aber jedes unreine Mittel, sie zu er­ langen, war mir von jeher unmöglich. And wenn ich je versuchte, mit weltlicher Diplomatie zu handeln, so bin ich immer durchgefallen. Du hast mir gezeigt, wie meine Mission auf dem Gebiete der Erziehung eine tief innerliche ist, die nicht als Heilsarmee mit Pauken und Trompeten verkündet werden kann, und ich bin nach und nach so stille in mir ge­ worden. Ich fühle aber hier, wie wohltuend auch diese Stille für andere ist; ich bin nicht mehr wie früher so voll Zündstoff; ich kann nicht mehr wie früher jeden Menschen in jedem Momente erfassen und begreifen, ich ge­ brauche zu allem mehr Zeit; aber ich glaube, es zündet sich immer mehr und mehr die stille Leuchte in meiner Seele an, die, wenn diese Flamme die rechte Nahrung erhält, zugleich leuchtet und wärmt und nicht er­ lischt. Für meineMission sind alle diese inneren und äußeren Erfahrungen von unbezahlbaremWette — wennich überhaupt eine habe. Ich mußte diese Erfahrungen machen, um denMenschen, das menschliche Leben zu verstehen, die Eigentümlichkeit der weiblichen Natur ist wirklich in mir als Typus ausgeprägt; Gott hat sie mir verliehen mit allen ihren Schwächen und auch Gebrechen der jetzigen Zeit — aber es ist noch et­ was darüber. Sieh, Karl, es kommt darauf an, die Grundfäden im Ver­ ständnis des Menschen zu erfassen, sie festzuhalten. Das Gesetzmäßige in der Entfaltung des Menschen ist das Bleibende; aber es tritt in tausend wechselnden Formen in die Erscheinung; wir sind noch immer schwankend in der Anschauung der Grundtypen. Wenn ich nur wohl bleibe, mitDir im innern Einklang« stehe, wenn ich eine gewisse Ruhe, wenn auch erst später erlang«, daß die Gedanken still auf- und niedersteigen können, und ich sie auf dem Papiere fesseln und so ein kleines Teilchen beittagen kann zur Erlösung meines Ge­ schlechtes — dann, Karl, werde ich einen köstüchen Lebensabend haben.

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Es kommt so vieles in mir zurRuhe, ich werde so viel unabhängiger von der Welt und Dingen, die mich früher hin- und herzerrten. Es ist, als könnte ich die ganze göttliche Schönheit, welche das Leben birgt, noch er­ fassen und genießen und andere zum Genusse helfen. Ich kann nur im­ mer so viel geben, als ich verstehe, und es steigen oft so gute Engel mit göttlicher Klarheit in mir auf und nieder ............

Äenriette Schrader an ihren Mann. Neu-Watzum. 28. Juli 1886. Ich habe wohl doch die Brunnenkrankheit, die ich zu umgehen hoffte, ich schreibe Dir gerade, wie es ist, damit Du ganz ruhig sein kannst. S päter. Das war eine interessante Sendung von Dir, ich liebe den jungen Montefiore sehr und nehme wirklich innigsten Anteil an seinem Leben, so ergreift mich der Schritt, den er getan, für Menschen seiner Art gewiß der wichtigste im Leben, wirklich im Äerzen. Mich berührt Dein Brief sehr tief. Mir ist zumute, wie einer Knospe sein muß, könnte sie bewußt empfinden vor dem Aufbrechen; aber da­ zwischen ist Angst gemischt, und welchen Wechselfällen ist nicht jede Knospe, auch die des Geisteslebens preisgegeben? Ich könnte jetzt alles, jedes tun, um gesund zu werden und zu bleiben. Was sich an Lebenserrungenschaften in mir entwickelt, ist nicht mein eigen, daß ich Gewalt darüber hätte; ich kann es nicht machen, ge­

liebter Karl, und es ängstigt mich, es könnte mir entfliehen so oder so, ehe ich es ausgesprochen in dieser oder jener Form. Freilich, was wahr ist, geht nicht unter; wir sind nur ein Gefäß, und mit seinem Zerbrechen verfließt der Inhalt nicht, wenn er ein würdiger ist. Aber es ist wohl natürlich, -aß man selbst den Inhalt ausgießen möchte, dessen Entstehung und Gestaltung durch so viel Mühsal errungen wird. Was wird Dein und mein Leben noch werden in Gemeinsamkeit, wenn wir auch die Gestaltung unseres äußeren Lebens unter „das höhere Dritte" stellen? Dir ist schon so vieles Natur, was die Konsequenz des großen christlichen Gesetzes verlangt; mir nicht, deshalb ist in Deiner Seele nicht diese oft schmerzliche Bedürftigkeit nach dem „höheren Drit­ ten", und der bewußten Unterordnung unter dasselbe. Dieser mächtige Zug in Kingsley nach dieser Äingabe ist mir so sympathisch — kurz, das religiöse Moment, das bewußt religiöse, welches ein Zustand im Gemüte bedingt. 22 L y s ch t n s r a, Henriette Schrader II.

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Kapitel 4:

Pestalozzi nimmt eine mächtige Stelle ein unter den christlichen Sozialisten; ich will es Dir beweisen. O Karl, wenn Du wüßtest, welch' ein blühendes Leben in mir erwacht durch den Gedanken an lebendigere Gemeinschaft mit Dir. Ich bin so viel abhängiger als Du von gewissen Bedingungen, aber werden sie erfüllt, so wird diese Abhängigkeit zu einer Macht, welche der Natur Fülle und Frische gibt l Denke ja nicht, daß ich meine, ich müsse immer an Deinen Rock­ schößen hängen — nein, nein — aber ich glaube jetzt. Du wirst mich ver­ stehen: Finden Ehegatten sich in Gott (wie ich Gott verstehe), im Be­ wußtsein und Gefühl, treffen sie zusammen in dem innersten Keim und Lebenspunkte des geistigen Daseins — so entsteht dadurch die größte Freiheit der Bewegung, die größte Mannigfaltigkeit der Form der Be­ teiligung. Lieber Pestalozzi, wirst Du uns auch helfen? Wir können nicht ge­ nug trinken an Menschen, aus deren Lerzen der Born der Liebe quillt. Wenn ich einig mit Dir und mit dem höchsten, was ich ahne, bin — dann hoffe ich mit Würde, wenn auch mit Tränen Abschied zu neh­ men von dieser schönen Erde. Äenriette Schrader an ihren Mann.

Neu-Watzum. 30. Juli 1886. .... Ich bin, glaube ich, mehr ein „Pflanzenmensch" als ein „Menschenmensch", der ich sein sollte. Ich bedarf zu meiner Entwicklung einmal jetzt der Sammlung undRuhe; aber ich glaube, nur für eine Zeit. Es ist schrecklich, von mir so viel zu schreiben, und was mir nötig ist usw., ich würde nicht daran denken, wäre ich nur Deine Frau; aber Du hast mir wieder und wieder gesagt, daß ich noch eine andere Mission zu er­ füllen habe, und es ist mir so vieles neu in mir hier geworden in Ge­ danken, Anschauungen und Empfindungen in bezug auf eine solche Mission, daß ich fast wieder an dieselbe glaube, und dabei eine Verant­ wortung fühle, die mich bei Komplikationen des Lebens ängstigen kann. Aber ich fühle jetzt das Rechte. Laß uns die Schweiz definitiv aus­ geben, hier so lange wie möglich bleiben, und dann vierzehn Tage oder so nach Andreasberg gehen. Mary reist mit dahin. Aber natürlich tue ich das nur, wenn es Dir von Äerzen recht ist; Du stehst mir höher als jede andere Mission. Ich habe mich ernstlich geprüft; ich bin nur, was ich sein kann, wenn ich mit Dir in Harmonie lebe, von Dir die Achtung fühle, die doch der Grund und Boden all' der Liebe ist, deren ich bedarf.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Laß uns diesesParlamentsjahr so weiter leben und bis zu dem Ab­ schlüsse desselben im reinen sein. Verlangt das Leben, das ja augenblick­

lich einem Kriegszustände zu vergleichen ist, noch in den abnormenVerhältnissen zu leben, so wollen wir es mit Bewußtsein tun; aber dann verzichte ich aufjedenVerkehr mit der Gesellschaft, richte unser Leben im Lause einfach, ganz einfach ein, und so soll es schon gehen in Berlin.

Ich werde mit Schwester Anna ernstlich sprechen, daß ich hier den Som­

mer zwei Monate so leben kann, wie jetzt, ob sie hier ist oder nicht; ich kann ja später Klara mitnehmen, die kochen kann. Wollen wir eineReise

machen, Anstalten oder Kunst oderNatur genießen, so machen wir eine solche zu diesem Zwecke, dann versteht es sich von selbst, daß man An­

ruhe mit in den Kauf nimmt. Karlsbader werde ich wohl alle Jahre trinken müssen, glaubst Du? Erich findet die Kur klein. Ob Du nun wohl zufrieden bist?

Ich fürchte mich nun gar nicht mehr vor dem Leben in Berlin; überhaupt habe ich Mut und Freudigkeit, mein einziger lieber Karl — ach, mein Sterben sollte eine Limmelfahrt sein!

Es gibt, es gibt ein Leben, in dem man sprechen kann: „Tod, wo ist Dein Stachel, Grab, wo ist Dein Sieg?" Glaubst Du nicht, Gelieb­

ter, daß Du und ich uns im christlichen Sozialismus zusammentreffen?

Wer weiß, ob ich nicht noch einmal zu den Arbeiterinnen rede? Aber wenn es geschieht, dann geht es aus einer inneren Notwendigkeit her­ vor, dann kenne ich keine Angst, keine Scheu, dann rede ich nicht mehr

aus mir selbst; aber ich muß werden, muß nichts wollen als gut wer­ den, meine elementare Kraft geht ihre Wege.

Schilt nicht auf meinenZorn, wenn er sich auch öfter auf ihm nicht würdige Gegenstände wirft, er ist ein Stück der Kraft, deren ich bedarf.

Mein Weg war lang, durch tausend Amwege mühselig — aber darin

liegt ein Stück Erkenntnis des Lebens, das andern zugute kommt. Die Erfahrungen, Errungenschaften aus meinem Leben und das Gelesene finden sich hier in Ruhe organisch zusammen. Das Buch von

Kingsley hat in meiner Entwicklung eine große Bedeutung. Last Du

seine Reden an die Arbeiter über Kunst gelesen? Wie er das Porträt eines Dogen den Leuten nahebringt? Ich habe eine neue Idee bekom­

men für den Unterricht; Pestalozzis Bild gibt mir alles an die Land

über ihn zu reden in meiner Weise, wie Kingsley über den Dogen in seiner: Der christliche Sozialismus, angewandt auf die Erziehung. Der

christliche Sozialismus bezieht sich auch auf die verschiedenen Alters22*

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Kapitel 4:

stufen und Geschlechter. Ist nicht das Kind durch Jesus befreit aus der Knechtschaft, wie der Sklave und das Weib? Aber dieser Sozialismus, wenn er den Frauen vom Standpunkte der Erziehung gepredigt wird, muß sich mit den historischen und naturwissenschaftlichen Errungen­ schaften der Jetztzeit verbinden; feste Punkte, bestimmte Laken muß man den Leuten geben, wenn sie ihre Gedanken und Gefühlsfäden an­ hängen und fortspinnen sollen. IedeSache, die wir bekämpfen wollen, müssen wir durchPositives überwinden, z.B. wollen wir den einseitigen Intellektualismus bekämpfen, so dürfen wir ihm nicht das Gemüt ent­ gegensetzen, sondern es als fehlende Ergänzung an die Seite des herrschenden knüpfen. Ich kann schriftlich nicht alles beschreiben, was sich in mir bildet; aber ich werde es Dir sagen. Vorerst arbeite ich auf meine Mütter­ vorträge, die ich wieder aufnehme, dann aber auch denke ich an die Volksmütter unseres Kindergartens, mit denen ich früher zu tun hatte. Nun muß ich erst wieder zu mir selbst kommen; hatte ich meine Naivi­ tät verloren, weil ich meine Blindheit verlor — so gewinne ich sie wieder, indem ich ganz sehend werde, aber ich kann so etwas nicht machen, es muß kommen ..... Viel schreiben kann ich nicht mehr, und Du kommst nun bald — kommst Du Dienstag? Ich möchte Dich so gerne einholen. Gott sei Dank, daß wir nun hier bleiben, daß es nun nicht gleich wieder an ein Ausreißen aus dem Erdboden geht, in dem manWurzeln geschlagen und die rechteNahrung findet, die zum Gedeihen wirkt. Die Beschäftigung der Gärtner hier hat so etwas Wohltuendes, dieser stille, tägliche Fleiß, das frische Gemüse so sorgfältig verpackt, mit kühlen Blättern zugedeckt; ach, bringe ihnen nur nicht eine größere Ver­ wertung ihrer Arbeit bei, wenn sie zufrieden sind; dann packt sie der Spekulationsteufel, die Lust an realer Tätigkeit geht verloren, die Leute kommen mir alle vor wie Schatzgräber, die alles umwühlen, selbst den Grund ihres Laufes, um Geld zu finden, so daß es einstürzt. Über diesen Punkt muß ich noch mit Dir sprechen, was diese Speku­

lationswut betrifft. Lier empfindet man den Segen des Austausches der Kräfte, in Berlin, wie aufReisen berührt der Kampf ums Dasein so widerwärtig, indem jeder sein Fortkommen auf denNuin des andern baut, seinen Besitz erwirbt durch Beraubung. Kaum steht ein Lotel, das etwas prosperiert, gleich kommt ein anderes daneben mit noch höheren, künstlich ausgeklügelten Bequem-

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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lichkeiten, um das erste zu vernichten, die Übervorteilung derReisenden

usw., es ist scheußlich! Ich will mich gar nicht von dem Kampfe zu­ rückziehen, aber nur einmal zur Besinnung kommen, und das tue ich hier. Leben die Menschen nicht wie Bären und Wölfe miteinander, muß man nicht immer auf der Kut sein? And Du armer, einsamer, gequälter Mann, freust Du Dich denn auf Deine Frau? Ich glaube. Du hast Arsache dazu, ich bin innerlich so reich geworden, es ist mir so viel Glück aufgegangen, das doch alles nur Wert hat in Gedanken an Dich. Lebe wohl, ich küsse Dich innig; D. L. An Frau A. Rickert.

Reu-Watzum. 20. August 1886.

Welch' unerwartete und große Freude hat mir Ihr lieber Brief bereitet — ein so lieber langer Brief! Ich danke Ihnen warm und herzlich dafür, Ihre Liebe, Ihr Ver­ trauen zu mir ist mir ein wahrhaft schönes Geschenk des Kimmels, ich wollte, ich könnte bei Ihnen sein und Sie warm und liebevoll küssen, ich habe für einige Menschen ein solches Zärtlichkeitsgefühl, und Sie ge­ hören zu diesen; aber oft kommt es mir zudringlich vor, wenn ich mei­ nem Kerzen darin freien Lauf lasse, doch heute nach Ihrem lieben Briefe kann ich es nicht verschließen, wie warm ich fühle. Dürste ich doch Ihr Kaar streicheln und es küssen! O liebe Frau Rickert, lachen Sie mich nicht aus, und lassen Sie niemand über diese Zeilen lachen — ich fühle mich so glücklich, wenn ich so warm und zärtlich empfinde wie für Sie. Ich kann mich so ganz in Ihr trübes Empfinden hineindenken bei den Leiden Ihrer Eltern, ich habe die meinen auch so geliebt und war mit meiner Mutter so ganz besonders innig verwachsen. Das Trennen, komme es rasch oder langsam, ist ein hartes, bitteres, tief einschneidendes Weh, niemand kann es einem abnehmen, niemand kann uns darüber trösten, wir müssen das alles in uns selbst verarbeiten und verklären. Wir sind hier hängen geblieben und werden hier bleiben bis zum 5. oder 6. September, aber meinMann ist seit den« 3. August auch hier. Ich habe mich mit meinen Geschwistern so schön eingelebt, ich habe eine warme Liebe zu deren Kindern, und ich lerne diese wieder kennen, so daß ich meinen Mann bat, mich hier zu lassen. Aber wie oft ich mich trotz­ dem nach Ihnen, und was zu Ihnen gehört in Zoppot, sehne, kann ich nicht sagen.

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Kapitel 4:

Wirklich, liebe FrauRickert, es quält mich so oft bei Ihnen zu sein, wenn ich denke, wie schön es bei Ihnen ist, und wie viele Sie lieben und Sie dort genießen möchten. Dann habe ich immer einen „Schwanz"*), und das Serumreifen ist so schrecklich, und ich kann doch nicht so lange bei Ihnen bleiben!

So sind die Komplikationen des Lebens oft so groß, daß sie uns manche, schöne, süße Freude nicht zur Blüte kommen lassen. Ob ich nicht überhaupt noch an der Vielseitigkeit meiner Interessen und Liebe zu­ grunde gehe? Alles bedarf der Zeit, der Kraft — selbst liebe Menschen, wenn man sie lange nicht sieht und nicht mit Ihnen lebt, entschwinden bis zu einem gewissen Grade dem innern Leben. Ich habe hier nicht nur meine Geschwister, sondern auch mehrere treue Freunde — ja, was habe ich doch entbehrt, daß ich dem einen oder dem andern nicht schrieb, und doch konnte ich es nicht! Uni) dabei meine Tätigkeit für einen weiteren Kreis.

Immer klarer geht es mir aus, wo der Schwerpunkt des wahren Fortschritts liegt — in der Erneuerung des Familienlebens auf Grund­ lage wahrer Religiosität und in harmonischer Wechselwirkung mit Wis­ senschaft, Kunst und sozialem Leben; da ist der Hebel, der im Mittel­ punkte alles Daseins liegt. Ich bin durchaus nicht gegen die Gründung von Anstalten usw., im Gegenteil, sie helfen nach vielerRichtung, aber ich möchte denRest meines Lebens immer ausschließlicher dem innersten Punkte widmen. Manches habe ich hier gedacht, gelesen, geplant; ich fühle mich im ganzen durchaus nicht kraftlos, aber eins drückt mich — die Komplikation der Verhältnisse, und ich habe oft schmerzliche Sehn­ sucht nach Sammlung und Vertiefung! Wie viel möchte ich Ihnen noch schreiben, ich hatte gerade einen stillenMoment, als Ihr lieber Brief kam, und da konnte ich nicht wider­ stehen, Ihnen gleich ein Wort zu sagen Marys Augen glänz­ ten bei Ihrem Gruße — ja, ich muß mich von Ihnen losreißen, liebe FrauRickert. Herzliche Grüße an Ihre Kinder, ich würde so gern mit Seinricb lesen und streiten. Ihre treue _________ Henriette Schrader.

*) Freunde, welche Henriette zu sich lud, weil sie sie nur in den Ferien sehen konnte.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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An M' Lyschinska. Neu-Watzum. 28. August 1886. Mein inniggeliebtes Kind, nun bist Du von mir gegangen nach stillen, schönen Tagen und Stunden, die wir zusammen verlebt — noch nie hat mir ein Zusammensein mit Dir so wohlgetan, wie diesmal, und ich fühle von neuem, wie unauflöslich und innig wir zusammen ver­ bunden sind, füreinander und für eine höhere Sache. Laß den Glauben nur nicht sinken — nein, halte ihn hoch; es ist, wie gesagt, unendlich viel schwerer, als man in her Anschuld der Jugend denkt, das Schöne, was im Leben der Menschen verborgen liegt, allseitig ans Licht zu fördern, und es geht unendlich viel langsamer als man möchte, aber unzweifel­ haft ist der Fortschritt da im großen ganzen Ich glaube, es ist von großer Wichtigkeit für unsere Sache, daß ich mich verheiratet habe und dadurch in eine ganz neue, mir früher un­ bekannte Welt verseht wurde. Im Streben der Menschen nach dem höchsten und heiligsten mußte eine Zeit kommen, in der die Ehelosigkeit als eine höhere Stufe (katholische Kirche) andern gegenüber angesehen wurde, es mußte so sein; denn die geschlechtliche Frage ist eine sehr schwer lösbare ich begreife, wie man durch Negation die Sache ab­ schnitt — und doch ist in ihr wieder die Vollendung des Menschen in seiner sinnlich-geistigen Schönheit zu finden. Ich würde sehr gern mit einer weiblichen Ärztin, die eine edle Frau ist, über diesen Punkt reden.

Es kann so enorm viel getan werden in der Erziehung durch Vergeisti­ gung des Schöpfungstriebes, rechte, mit Geist verbundene körperliche Ermüdung und durch reine, innige, zärtliche persönliche Verhältnisse be­ sonders älterer Persönlichkeiten jüngeren gegenüber. Besonders sollten Mütter mit Heranwachsenden Kindern zärtlich sein — diese edle, warme und innige Zärtlichkeit einer Mutter, getragen von geistigem Verständ­ nis und weitergehenden Interessen, kannWunder wirken bei dem Sohn. Aber heraus, heraus aus ihrer Engherzigkeit und übergroßen Subjektivi­ tät muß das Frauen-, das Familienleben treten, das ist das Wichtigste unserer Zeit! Ich habe eben eine traurige Nachricht erhalten von A., daß die Schwedin, welche mir gestern drei Zeilen schrieb, so leidend ist, daß sie wahrscheinlich nach Schweden zurückkehren muß Es ist auch ein großer Verlust für unsere Sache, wenn sie unfähig zur Arbeit würde.

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Kapitel 4:

Später. Ich habeM. Schaper längere Zeit hier gehabt, und es ist gleich Mittagszeit, wir warten nur noch auf Schwester Anna. Ich habe mein blaues Kleid an und will mich in den Garten setzen und in dem Buche von Acland „The Education of the Citizen" lesen. Lebe wohl, mein warmgeliebtes Kind, wenn dieser Brief in Deinen Künden ist, ist dieReise überstanden und Du bist wenigstens bei Dir zu Lause.

An A. Rickert. Berlin W. Kerbst 1886.

. ... Ich bin inReu-Watzum ganz fleißig gewesen, ich habe einen offenen Brief an die beteiligten Mütter geschrieben über die Fortsetzung der im Frühjahr begonnenen Vorttäge, dessen Lauptthema ist — die Fortbildung der mütterlichen Erzieherin — mit Kinweis auf die Vor­ bildung derselben. Ebenso habe ich die Bearbeitung eines Aufsatzes von Pestalozzi be­ gonnen, welcher nachweist, wie die Bildung des Kindes in der Familie beschaffen sein muß, damit es sich zum kräftigen Staatsbürger entwickle. Pestalozzi kennt keine Trennung der Privatmoral von der öffentlichen Moral, keine absolute Scheidewand zwischen Familien und öffentlichen Interessen usw. Dieses Schriftstück enthält köstliche Dinge und Dr. Theo­ dor Barths Aufsatz *) sagt in seiner Sprache, in seiner Art der Anschau­ ung dasselbe wie Pestalozzi, wenn auch in ganz anderer Verknüpfung, wie sie die Verhältnisse der Gegenwart bieten. Dr. Barth sieht in der Übertragung der Privatmoral auf das öffentliche Leben die eigentliche Kultur, und wie Dr. Barth und seine Freunde ja alles einsetzen für die Übertragung, so müssen wir Frauen unsere Kraft konzentrieren auf die Stärkung derPrivatmoral, damit unsereMänner mehr und ausgiebige­ ren Stoff vorfinden als jetzt. Aber soll die Moral unserer Kinder aus­ reichen für den Kampf im öffentlichen Leben, so muß das öffentliche Leben auch bei der Familienerziehung berücksichtigt werden, und die Mütter müssen so mitwissen und begreifen, um was es sich handelt in der menschlichen Gesellschaft. Der persönliche Egoismus darf nicht in Familienegoismus ausarten; er muß nach und nach verschmolzen wer­ den mit den Interessen für andere. Somit soll die Familie in lebendigen Wechselverkehr treten mit den öffentlichen Interessen.

*) „Zwischen zwei Welten" siehe „Die Nation" Sept. 11. 1886.

Auszüge aus Briefen und Tagebüchern von 1873—1899.

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Liebe Frau Rickert, was bieten unsere Schulen den jungen Mäd­ chen für Kost, und wie wenig stärken sie junge Mädchen ihre Tatkraft, indem sie vor der Ehe etwas Zeit erübrigen für die vielen, die wild und hülflos heranwachsen? .....

An M. Lyschinska.

Berlin W. 19. Oktober 1886. . ... ich hatte mich so sehe gesehnt nach einem Lebenszeichen von Dir . . . Du hast bei allem, was Du schreibst, die Kritik vor Augen, und das macht Dich unsicher. Kannst Du Dich nicht einmal mit Kühnheit dar­ über emporschwingen? Auch mußt Du mehr in die Quellen Dich ver­ senken, in Fröbels und Pestalozzis Werke Dich versenken und aus ihnen schaffen I Ach, wie gut könnte ich jetzt schreiben, aber Berlin wird mich ver­ nichten IWenn ich Dir sagen sollte, wie das Leben und dieBesuche über mich fluten und mich überfluten — es ist zum Weinen 1 Wir haben auch so viele Schülerinnen und so verschiedener Art, daß ich meine Stunden teilen mußte, und deswegen nun wieder mehr zu tun bekomme, so wie ja die Schülerinnen, besonders die Ausländerinnen mich sehr in An­ spruch nehmen. Annette ist ganz abgearbeitet, sie hat auch zu wenig reelle Lülfe. Mildred Bowers ist aber sehr tüchtig für ihre Arbeit.

Leute abend wirdMariechen Amsinck*) zu uns kommen. Ich hatte so viel Logierbesuch, daß ich meine Köchin nachts bei ihren Eltern schlafen ließ und das Mädchenzimmer noch einrichtete. 21.November. Leute finde ich einen Augenblick Zeit, diesenBrief fortzusetzen. Ich habe oft ein Gefühl wie Gehirnerweichung, weil ich mich so ganz treiben lasse, wohin die Verhältnisse mich führen. Ich freue mich so sehr,Mariechen hier zu haben, aber ein Mensch, den man liebt, der einen interessiert, umwurzelt uns und nimmt uns hin; so sitze ich oft stundenlang mit ihr und stopfe Wäsche. Aber diese Erfahrung ist mir wichtig und interessant. In der Last des Lebens bildet sich kein Gemüt, kein wahres Verhältnis, jchließen sich dieLerzen füreinander nicht auf. DieMutter des Laufes muß einenRuhepunkt bilden, einenBoden, auf dem so manch' überschüssige Geisteskraft sich ablagern kann.

*) ihre Nichte, Tochter ihrer Schwester Albertine.

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Kapitel 4:

Folgen wir dem jetzigen Zuge nach öffentlicher Arbeit im Frauenleben, so gehen wir einer Zersplitterung des Daseins entgegen, welche dasBeste in uns vernichtet und zu einem kaltenMechanismus derWeltbeherrschung führt, wie wir jetzt schon den Mechanismus der Welterfas­ sung huldigen. Aber ich glaube allerdings, daß wir noch eine geraume Zeit um die Stellung der Frau werden ringen müssen, denn sie muß dem Manne gleichwertig dastehen, und für die Menge muß das auch im öffentlichen Leben sein. Aber nach diesem Wettlauf, nach dieser Anruhe undVielgeschästigkeit wird sich das Weib besinnen, sie wird still stehen und fragen: Wo ist mein Platz ? And sie wird das Heiligtum der Familie erkennen und den köstlichen Segen der Zurückgezogenheit und Stille, der Hingabe an die volle Ausbildung der Persönlichkeit schätzen. Auch die, welche nicht in die Ehe tritt, wird die Familienmutter in der Gemeinde vertreten und für die Einsamkeit des Herzens einen Ausgleich finden in derVertretung der Interessen desWeibes im öffent­ lichen Leben. Sieh, Mary, so ist mein Leben mit Mariechen hülfreich, ich wachse in derselben, es entwirren sich die Fäden des Lebens immer mehr, und klar liegt dessen Entwicklung vor wir; aber Muße, dies zu formulieren für die Welt, die wird mir nicht. Aber vielleicht kannst Du nach meinem Tode manches aus meinenBriefen zusammenstellen, was derWelt nützt. Ich beschäftige mich sehr viel mit meinem Tode, und oft steigt der sehr müssige Wunsch in mir aus, ich möchte dreißig Jahre alt sein. Ich hoffe, es wird mir Zeit gegeben, des Lebens so müde zu sein, daß ich gerne von .ihm scheide; jetzt würde der Tod mich nicht überraschen, nicht schrecken; aber er würde mich nur resigniert finden, mich einer hartenNotwendigkeit beugend. Schwester Anna ist noch hier, wir sind sehr gemütlich zusammen­ gewesen

An M. Lyschinska.

Berlin W. 16. bis 23. Dezember 1886. Ich fange heute an. Dir einen Weihnachtsbrief zu schreiben, ob­ gleich ich gar nicht weihnachtlich gestimmt bin. Ich war neulich mit Mariechen Amsinck im Reichstage, und ich hörte Menschen, welche Ver­ treter der herrschenden Klasse sind — o es ist schrecklich, so machtlos zu

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sein, gegenüber dieser Anmaßung und Dummheit. Was soll ich sagen, es ist erschreckend, wie die Beschränktheit der Menschen wächst in so rapidemMaße und mit ihr die Frivolität, die Dinge zu behandeln. Da­ bei diese gespannten Zustände überall, dies Barbarentum der Russen und zwischen alledem unser neunzigjähriger Kaiser, in gewisser Weise verehrungswürdig. 23. Dezember. Ob ich den Brief an Dich zur Post bekomme? Diese Weihnachtsunruhe mit Paketen um uns her — Fräulein Lange nennt Weihnachtsfeiern unsererZeit einen mit einer Sauce von christlicher Liebe übergossenen Tauschhandel; ja, so ist es, aber manche Leute stehen sich schlecht dabei und tragen die Ankosten. Immer steht ein Bild vor meiner Seele, wie ich Weihnachtsabend verleben möchte: Auf dem Lande, in tiefer Einsamkeit, wo es wirklich Arme gibt, die redlich leben und streben, an die man das ganze Jahr gedacht. And nun wandert man am heiligen Abend, in glitzernder Frost­ nacht mit Gaben der Liebe umher und findet reinliche Stuben und ge­ waschene und gekämmte Kinder unter einem Bäumchen mit wenig Lich­ tern, die sich aber wiederspiegeln im Glanz der Augen, und himmlische Sette verbreiten in den reinen Lerzen, die noch unschuldige Weihnachts­ freude empfinden können, unberührt von Gier, Berechnung und Neid. And man legt dann ein Stück zur Wärme oder zum einfachen Schmuck oder Kräftigung des Lebens unter den grünen Zweig. Ein Ländedruck, ein kurzes Wort des Austausches über den Stand der Dinge und ein herzliches Lebewohl und Vergelt's Gott erfüllt und schließt den kurzen Besuch. So macht man die Runde; einsam und verstreut liegen die Lütten, in die man einkehrt, und zwischen dem eigenen bescheidenen Leim und denWohnungen derMenschen steht derWald, den man durch­ schreitet, ein Tannenwald voll Kristallgefunkel; da schimmert das heimi­ sche Licht; wie Orgelklang ertönt es vom Spiel des Larmoniums, der Knecht führt das Pferd in den Stall nach demRitt nach der Post, den er täglich unternimmt. Der am Vorabend unter heiterem Geplauder ge­ meinsam geschmückte Christbaum wird angezündet, die längst schon be­ schafften Gaben sind aufgebaut. Diener und Lerrschaft, der einsame Küster und die Predigerwitwe mit ihrem Sohne hören denRuf und er­ scheinen , und alle vereint genießen das Liebesmahl, das amNachmittag still bereitet war. Aberall Ordnung und Stille im Lause, im fernsten Winkel, in jeder Truhe Sauberkeit und Weihnachtsduft, beschafft und hervorgezaubert in derVorfreude auf den Tag desLerrn, den festlich zu

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Kapitel 4:

begehen, die Lerzen sich sehnen. And nun das Vertiefen in die Offen­ barung vom Gesetz der Liebe, von dem Einssein in Denken und Landein, inWort und Tat, von Leib und Seele, von Form und Inhalt, vom Glauben und Wissen, von Fühlen und Denken. Das ist das wahre Abendmahl zur Feier der Geburt des großen Verkündigers des Gesetzes der Erlösung — der Erlösung von uns selbst, ohne den Verlust unseres Selbst; das ist die Stärkung zur Arbeit, auf der auch das Laus in der Christnacht erbaut ist, und die von ihm ausgeht in engeren oder weiteren Kreisen. O Mary, wo, wo ist ein Fleck dieses Iesufriedens und dieser Möglichkeit, sich zu vertiefen? Ich sehne mich so oft nach Dir. Loffentlich kommt dieser Brief noch zur Weihnachtszeit in Deine Lände

An Frau A. Rickert. Berlin W. 15. Januar 1887.

Trotzdem Sie mit Ihrem Lerzen in Ihrer Umgebung warm und innig beschäftigt sind, so werden Sie doch oft an uns hier und an dieVorgänge im politischen Leben gedacht haben, welche uns so tief,auch unser persönliches Leben berühren. Durch die große Güte Ihres Mannes war es mir gelungen, den so hoch interessantenVerhandlungen am Donners­ tage imReichstage beizuwohnen. Lätte es einer weiteren Überzeugung bedurft, daß unsere Männer im vollen Rechte stehen und handeln, so hätten die Vorgänge des 13. Januar voll und ganz davon überzeugen müssen. Erst war ich recht mißgestimmt, daß Lerr Rickert nicht sprechen konnte wegen Leiserkeit, aber nachher war ich froh, daß Richter die großeRede hielt, weil er so gehaßt ist, und einen so billig erkauften Vor­ wand für lauwarme und urteilslose Leute bietet, sich von der Deutsch­ freisinnigen Partei abzuwenden wegen Richters . . . .Wesen. Er hat so vorzüglich gesprochen Aber wer kann es wissen, ist das Volk, sind die sogenannten Gebildeten reif genug, um unsernMännern zu folgen? Oder müssen sie durch die Steinwürfe schlimmer Krisen aus ihrer Trägheit und aus ihrem Strebertum aufgerüttelt und zur Besin­ nung gebracht werden? Aber wie dem auch sei, die Deutsch-Freisinnigen konnten nicht anders handeln, als sie getan, und nun muß man die weitere Entwicklung erwarten. Daß übrigens alles aufgeboten wird, die Deutsch-Freisinnigen in ihrer Aktion zu hemmen, davon bin ich fest

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überzeugt, und mich soll wundern, wie man es zustande bringt. Bis­ marcks Erscheinen im Reichstage erschreckte mich. Ich fand ihn so gespensterhaft, und er erscheint mir in mehr als einer Beziehung als sein eigenes Gespenst Als ich das letzte Mal bei der Kronprinzessin war, fragte sie: „Was macht mein Liebling unter Ihren Schülerinnen?" And auf meinen ftagendenBlick nannte sie Emmy. Sie erzählte mir von demNachmittage inParez, und wie lieb es von E. sei, ihr die selbstgepflückten Wasserrosen zu geben: „FräuleinRickert ist gewiß eine tüchtige Kindergärtnerin?" fragte sie weiter. Ich freute mich, dies bejahen zu können; wir sprachen noch manches Wort über E. und Ausbildung von Schülerinnen, sie er­ kundigte sich nach Verschiedenem, E. betreffend, und es tat ihr so sehr leid zu hören, daß E. nicht so wohl wie sonst gewesen sei. Mit wahrer Teilnahme hörte sie von dem Tode Ihrer Mutter — ich finde immer, daß die Kronprinzessin viel menschliches Interesse an andern nimmt...

Tagebuch. 20. Januar 1887. .... Alle persönlichen Gedanken und täg­ lichen Sorgen treten zurück hinter dem einen: Die politische Situation unseres Vaterlandes. Die Deutsch-Freisinnigen haben den Kampf aus­ genommen gegen den Absolutismus — aber ob der Punkt, wo sie ihre Streitmacht einsetzten, nicht eine zu gefährliche Situation bietet? Als ich den großen historischen Moment am 13. im Reichstage mit erlebte, Richters große Rede, die eine sittliche Tat war, mit hörte, und dagegen desReichskanzlers Gebühren beobachtete, so war es mir, als ob ich einen Blick tat in diese „Kombination von Brutalität und Künstelei" (wie ein italienischesBlatt sagt), da war mir kein Zweifel, daß die Deutsch-Frei­ sinnigen die einzigen Vertreter des moralischen Standpunktes in der Politik waren, und mit erhobener Stimmung kehrte ich heim.

Aber bald drängte sich in meinen Kampfesmut ein Zweifel, ob mein Mann und seine Genossen pädagogisch gehandelt, und dieser Zweifel wird mit jedem Tage quälender. Wie würde eine Mutter einem furchtbar eigensinnigen Kinde gegen­ über handeln — oder ich will lieber sagen eine Erzieherin gegenüber ihrem Zöglinge? Wie eine einsichtsvolle Frau einem Tyrannen, der als Ehegatten ihr Leben beeinflußt?

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Muß man nicht oft und wiederholt nachgeben und Unrecht leiden, bis man endlich den Punkt findet, wo man mit Erfolg einsehen kann? Ich habe mit Schmerzen gelernt, daß es nicht immer zutrifft, daß der grade Weg der beste ist — und das ist überhaupt das Schwere in der Welt — das ist aber dasPädagogische, und diesePädagogie findet auch in der Politik ihre Anwendung.

Die Deutsch-Freisinnigen müssen weit mehr als jetzt Völkerpsycho­ logie studieren. Bismarck hat die Deutsch-Freisinnigen dahin gebracht, wo er sie haben wollte; er hat einen genialen Blick für die Schwächen derMenschen. AnserePartei hat denBruch angeknüpft an einenPunkt, welcher das Volk aus die Gegenpartei zieht; nur denkenden, politisch reifen Menschen war es möglich, die Situation zu begreifen. Am 22. Januar. Wie bin ich traurig — mein Mann, mein ge­ liebter Mann ist fort nach Danzig, dort steht es wie in Braunschweig und in Lalle usw. Es vollzieht sich innerhalb der Freisinnigen Partei eine Sezession: Eine Zahl-der Deutsch-Freisinnigen sucht einen Kom­ promiß mit den Nationalliberalen, und sie suchen einen Deutsch-Freisinnigen aus ihrer Mitte aufzustellen, der sich auf das Septennat ver­ pflichtet; es vollziehen sich Verbindungen, welche doch zu einer Mittel­ partei führen können.

Manchem Nationalliberalen war es nicht mehr geheuer in seinem Kreise, der auf abschüssiger Bahn sich befand, mancher Deutsch-Freisinnige war mißvergnügt über die Fusion; jetzt vollzieht sich die Schei­ dung, ein Teil der Nationalliberalen geht mit den Konservativen, wie das Bündnis zeigt. Mein Mann sagt, daß der Kleinbürger und Arbeiter, soweit er nicht Sozialdemokrat ist, die Situation am besten begreife; Karl ist mit großer Stimmenmehrheit in Danzig als Kandidat proklamiert, aber wie am 21. Februar die Dinge stehen? Ich kann ein Gefühl nicht unter­ drücken, als fehle auch selbst in den Wahlarbeiten bei uns der ganze sitt­ liche Ernst —ich meine nicht das Pathos — nein, der Ernst, den ich meine, äußert sich einfach; aber der ernste Mann, wie er nach meinem Dafürhalten sein sollte, muß dem berechnenden Feldherrn gleichen, der die Situation nach allen Seiten hin prüft und kennt, und seine Truppen danach aufstellt und dirigiert, unter diesen müssen dann auch die kühnen Führer sein, die freilich im Zusammenhänge mit dem Generalfeldmar­ schall hie und da kühn einspringen.

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Was wollen die Deutsch-Freisinnigen als Gesetz aufführen, da Bismarck am Montag erklärt hat: „Ich will kein Monopol — nur im Falle eines unglücklichen Krieges, und dieser kommt, wenn das Septennat nicht durchgeht. Ich denke nicht daran, das geheime Wahlrecht aufzuheben, denn ich bin der Vater von diesem Kinde." Sollen sie sagen: „DerReichskanzler lügt, glaubt ihm nicht"? Das wäre eine leichte Rede aber ohne Wirkung. Nein, sie müssen alle die kleinen Wahlmanöver aufgeben, die Sache im Grunde aufsaffen, nachweisen, daß Bismarck ein Junker ist, und die Bedeutung diesesWortes im ganzen Llmfange klar machen. Sie müssen zeigen, daß es sich gar nicht um die Punkte allein handelt, sondern um einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem Reichskanzler und der wahren Kultur und ihren Vertretern. Solche Gegensätze stoßen zusammen, und der Punkt, an dem der Kampf ausgenommen wird, ist nur insofern nicht gleichgültig, weil sich nach ihm die Beurteilung der kämpfenden Parteien und deren Kampf­ berechtigung bildet. DerKampf kann, darf nicht ausbleiben, so lange noch ein Funken Idealismus (nicht Phantasterei) im Volke lebt und anderseits die Brutalität sich in einer Person verkörpert wie Bismarck, und in ihrer ganz abnormenMachtstellung eine machtvolle Wirkung auf die Gesellschaft ausübt. Die Partei, welche den Fortschritt der wahren Kultur vertritt, kann, wird vielleicht unterliegen in diesemRingen mit dem Machtkoloß, aber die sie treibende Idee wird in dem Kampfe vieles, was latent in den Geistern liegt, frei machen; vieles an- und aufregen, was später zur Fortentwicklung drängt. Mit der möglichen Niederlage der wahren Fortschrittspartei tritt wahrscheinlich für den Moment — ein historischer Moment kann Jahre umfassen — die Stagnation ein. Wenn derBann dann gebrochen wird, werden die früher entwickelten Kräfte frei, schneller geht die Erstarkung des sittlichen Lebens, und vielleicht stehen die Seelen entschlafener Kämpfer in den Überlebenden wieder auf. So verarbeitet die Geschichte

das Tun der Menschen ineinander; nicht jeder kann sich abheben als be­ sondere Gestalt vom Grunde des Gewebes, aber Gott sieht insLerz und weiß, wer reines Lerzens ist. D u bist es. 27. Januar. Es scheint etwasBewegung in die Geister zu kommen, verschiedene Redner gehen auf den Kernpunkt zurück, sprechen über die Gefahr für die Verfassung durch den personifizierten Absolutismus in

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Kapitel 4:

Bismarck; so ist es recht. Ich hoffe, meinMann wird da ein Bedeutendes leisten. Alles muß getan werden, um ihm Ruhe zu verschaffen; wie schwer wird es mir jetzt, nicht sein Sekretär, nicht ein Werkzeug in seiner Land zu sein. O Ihr Weiber, die Ihr Berufe haben wollt, gerade wie die Männer, Ihr müßt das Gelübde der Ehelosigkeit ablegen — die Ehe findet gerade ihre schönste Erfüllung in der Verschmelzung der Verschie­ denartigkeit, nicht in der Kameradschaft. Bismarck liebäugelt mit dm Papste und plant vielleicht einen Landet mit ihm, um das Zentrum für das Septennat zu fangen. Am 30. Januar. Mein Geist wird ganz gefangen genommen von dem politischen Kriege; ich kann ein Schwanken der Stimmung nicht unterdrücken, zuweilen erscheint es mir ein taktischer Fehler zu sein, daß die Deutsch-Freisinnigen Bismarck den Willen getan, das Septennat zu verweigern; die Richtersche Zeitung hat immer denselben Peitschen ­ knall: Monopole, Wahlrecht usw., diese Leherei kommt mir so künstlich gemacht vor, als wenn man sich in eineWut redet, um den innern Zwei­ fel zu beschwichtigen. Es fehlt manchmal das Thermometer der heiligen Überzeugung, und dieser Kneg kommt mir dann vor, wie ein heilloser

Spektakel unnützer Buben auf beiden Seiten, welche die besseren Ele­ mente hier- oder dorthin mit fortreißen. Komme ich zu diesemPunkte, dann fühle ich mich innerlich gequält. Da tat sich etwas auf in mir: Der einzig haltbare Grund, gegen das Septennat zu stimmen, liegt tiefer; er hängt mit derArbeiterbewegung und der Sozialdemokratie zusammen. Letztere ist keine nur momentane Erscheinung, keine nur vorübergehende Anart einer Volksklasse, die sich mit ein paar Ohrfeigen und Stubenarrest beseitigen läßt; sie ist in einer historischen Entwicklung des vierten Standes begründet. Das Sozia­ listengesetz ist einer der größten politischen Fehler, welcher begangen werden konnte, indem es unreifen, einander widerstrebenden Geistern in der sozialistischen Partei einen gemeinschaftlichen Feind gab, gegen welchen anzukämpfen, alle unter einen Lut bringt. Ohne das Sozia­ listengesetz würden Kämpfe in den eigenen Reihen ausgebrochen sein, und diese hätten dem modernen, wahrhaft gebildeten Politiker, welcher das Berechtigte in der Arbeiterbewegung zu verstehen vermag, Ge­ legenheit gegeben, diesem Streben mit Vertrauen entgegen zu kommen und anderseits den extremen Anforderungen, die in ihren Konsequenzen zur Vernichtung einer Seite der menschlichen Natur führen, entgegen­ zutreten. Es würde sich ein Scheidungsprozeß in der Arbeiterpartei voll-

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zogen hahen, die reifen Elemente würden das wahre Wohl des Volks verstehende Führer erhalten haben, die Entwicklung in bezug auf die Stellung der Arbeiter hätte einen natürlichen Lauf genommen — die Revolution war besiegt, oder vielmehr ihr wird vorgebeugt. Das Sozialistengesetz und vor allem die vulgäre Handhabung desselben setzt die Regierung den Arbeitern gegenüber ins Anrecht. Sie legt der Partei Beschränkungen, Opfer und Disziplin auf, welche einer­ seits die Willenskräfte stärkt, anderseits die Leidenschaft entfacht, die List und Verschlagenheit großzieht, und dies alles im hohen Grade auf die Kindheit und Jugend in ihrem Kreise vererbt. Auf diese Weise und durch unsere Äeeresorganisation dringt die Sozialdemokratie immer weiter ins Militär, und auch durch junge, gebildete Leute, welche sich in immer größerer Zahl sozialdemokratischen Ideen zuneigen, erwachsen ihnen auch sozialdemokratische, militärische Führer. Organisation, Gehorsam, Unterordnung unter das Parteiintereffe lernen die Leute in ausgiebi­ gem Maße, und wenn der Moment gekommen ist, die Unterdrücker er­ folgreich zu bekämpfen, so wird solche Schulung ihre Resultate zeigen. Noch haben umsichtige, das moderne Leben verstehende Politiker die Hoffnung nicht aufgegeben, das Vertrauen der besseren Zahl der Arbeiter zu gewinnen. Sie werden die schwere Verantwortung auf sich nehmen, gegen das Gesetz zu stimmen und dasselbe, wenn es in ihrer Macht liegt, zu Falle zu bringen. Vielleicht wird es aber zu spät sein, und sie werden unter den Folgen einer heroischen und sittlichen Tat be­ graben, aber in den Seelen der Edeln, welche die Geschichte der Zukunft mit erleben und die Geschichte unserer Gegenwart mit Verständnis schreiben, wieder auferstehen. Entwicklungskrisen, wie wir sie durch­ zumachen haben, fordern oftVorpostengefechte und dieNiederlage derer, welche dabei ihre Pflicht taten. Mein Mann findet Vorstehendes ganz richtig, nur noch unvoll­ ständig, wie ich mir selbst schon gesagt hatte.

An M. Lyschinska.

Berlin W. 28. Januar. 2. u. 9. Februar 1887. Das war einmal ein fröhlicher Gruß, den ich gestern von meinem lieben Vögelchen erhielt Wie kommt es denn, daß bei Euch auch ein solcher Niedergang der idealen Interessen ist, da Ihr doch keinen Bismarck habt? Da Ihr Euch frei bewegen könnt in politischer BeSqlchinil a, Henriette Schrader ll.

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Kapitel 4:

ziehung und nicht dem Drucke unterworfen seid, welcher hier die Cha­ rakterstärke wesentlich schädigt? Ich kann kaum etwas anderes denken als Politik augenblicklich; es ist eine große Erregung in Berlin, und der Kampf schneidet in das gesellschaftliche Leben, ja, in freundschaftliche Beziehungen nach manchen Richtungen hin zerstörend ein. Ich muß sagen, ich selbst gehöre zu denen, die sich getrennt fühlen von anders Denkenden, denn es handelt sich ja nicht um persönliche Meinungen und Ansichten, sondern um Stellungnahme zu Wahrheit und Sittlichkeit gegenüber Lüge und Brutalität. Das Septennat ist kein eigentliches Streitobjekt für Bismarck; es gibt nur denNamen her für den Kampf; dieser handelt sich um die Macht des Junkertums gegenüber dem freien Staatsbürger, um den Absolutismus gegen dieVerfaffung, der Brutali­ tät gegen die Kultur. Die Deutsch - Freisinnigen vertreten das freie Bürgertum, die verfassungsmäßigen Rechte, die wahre Kultur. Bis­ marck personifiziert in sich die andere Seite. Wo solche Richtungen einander gegenüberstehen, muß es zu Zusammenstößen kommen, es ist nicht anders möglich. Der Punkt, wo der Anprall geschieht, gibt den Namen her. DaßBismarck seine empörenden Ausfälle gegen den unabhängigen Teil der Reichstagsvertreter gerade an das Septennat knüpfte, daß er dieses benutzte, um denReichstag zu beschimpfen, war klug genug, denn er baut feinen Sieg auf die Schwächen der Menschen, und er kennt die Deutschen in ihren politischen Schwächen; er weiß, welch' ein Gemisch vonRomantik, Sentimentalität,Neigung zur Bequemlichkeit und zum Autoritätsglauben in ihnen lebt, und daß gewisse Zauberformeln, die er seinen Götzendienern an den Kopf wirst, bei ihnen verfangen. And dennoch mußten die Deutsch-Freisinnigen den Kampf auf­ nehmen an dieser Stelle, wo er provoziert war, trotzdem sie ganz klar

erschauten, wie exponiert sie gerade an diesemPunkte waren. Sie haben den Kampf nicht ausgenommen in dem Bewußtsein zu siegen, im Ge­ genteil, sie sehen ziemlich schwarz in bezug auf diesen Punkt; aber sie haben ihn ausgenommen in der Überzeugung, daß ein kritikloses „Ja­

sagen" dem Reichskanzler gegenüber die Menschen immer mehr ein­ schläfert und Bismarck die Macht gibt, dem Reichstage die Verfassung so allmählich aus den Äänden zu winden. Die Menschen müssen noch aufgerüttelt werden, ihre Ehre, ihre Rechte zu wahren, zum politischen Bewußtsein zu bringen, ihr politisches Gewissen zu bilden und zu schärfen.

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Wahrscheinlich unterliegen die Deutsch-Freisinnigen, nicht, weil sie nicht innerlich Sympathien genug haben, aber weil die Regierung eine so kolossale Macht in der Land hält und in einer Weise davon Gebrauch machen wird, welche vielen Menschen die Lände bindet, wenn sie nicht brvt- und heimatlos werden wollen. Ist es nicht eigentümlich, daß die sogenannten Gebildeten in großen Laufen fahnenflüchtig werden? und daß der kleine Mann, der Arbeiter, soweit sie nicht Sozialdemokraten sind, weit klarer die Situation er­ fassen, als die höheren Stände? Überall zeigt sich diese Tatsache, sie halten fest. Mein Mann hat in Danzig manchen von seiner Partei verloren, der den höheren Schichten angehört, aber um so mehr gewonnen in den unteren Klassen; ich schicke Dir eine Zeitung von Danzig. Eure * kolossale Unwissenheit über unsere Angelegenheiten zeigt sich aber jetzt einmal wieder im grellen Lichte, nein, Mary, Ihr solltet Euch doch wahrhaftig schämen I Wenn Dir etwas unklar ist in unsern Ver­ hältnissen und Du Aufklärung wünschst, so schreibe mir nur, ich ant­ worte Dir darauf Du hast keinen Begriff, wie die Deutsch-Freisinnigen angegriffen werden, es soll mich gar nicht^wundern, wenn noch das Ausnahmegesetz über sie verhängt wird, wie über die Sozialdemokraten. Bis jetzt be­ finden wir uns ganz wohl, und Du mußt nicht denken, daß wir uns ärgern oder aufgeregt sind. Natürlich erwachte bei uns bei der ersten Auflösung desReichstages der ganze Zorn, die tief sittliche Empörung, aber diese weicht dem Ernste der Situation gemäß einer ruhigen, ge­ schlossenen Stimmung, in der man auf alles gefaßt ist. Nicht Zorn, nicht Erregung, nichtMißmut hat meinen Mann und seine Freunde in den Kampf getrieben; sie wußten, was sie taten, sie kannten alle Gefahren, sie nehmen die Sache historisch, und das gibt Charakteren, wie meinem Manne, diese liebenswürdige Ruhe und auch diese Kraft und Klarheit, die zur Kühnheit sich entfaltet, wo es nötig ist. Sieh, liebe Mary, es ist mit die schönste Zeit in meinem Eheleben, die ich jetzt durchmache. Bei meinem Bedürfnis, mir eine selbständige Ansicht zu ver­ schaffen, habe ich ernst und viel über die Sache nachgedacht, um die es sich jetzt handelt, und ich weiß ganz genau, daß die Partei nicht anders handeln konnte. Nachdem der Lärm sich etwas verzieht, der entstand durch den Entrüstungsschrei der Knappen Bismarcks, durch das Löllengeraffel von

*) Gemeint ist die englische Bevölkerung und die englische Presse. 23*

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letzteren angestellt, erwachen viele aus ihrer Betäubung und fragen ganz unbefangen: „Wie hängt das alles zusammen? Weshalb ergriff die Regierung nicht rasch die Bewilligung für drei Jahre, wenn der Feind so nah war?" und an dem Faden, der mit dem Austauchen dieser so natürlichen Frage zusammenhängt, entwickeln sich eine ganze Reihe anderer, die die Leute in Erstaunen setzen, weil diese Fragen nicht eher getan wurden. Das Zentralwahllomitee der Deutsch-Freisinnigen kann sich gar nicht helfen in bezug auf Verlangen nachRednern und Kandi­ daten, welches immer lebhafter auftritt an kleinen Otten. 3m Augenblick« ist Bismarck beschäftigt, das Zentrum zu zer­ schlagen mit Lilfe desPapstes. Wen rustBismarck nicht zu Lilfe, wenn es sich darum handelt, seinen persönlichen Willen durchzusetzen. Der Papst ist jetzt an derReihe, die Götter Griechenlands werden folgen und Cerberus, der Köllenhund, wird sicher schon auf die Deutsch-Freisin­ nigen dressiert und im letzten Augenblick losgelassen. Wohin find wir ge­ kommen? Deutschland hat seine Mission verlassen, Träger des Idealis­ mus zu sein Rein, es ist kaum zu glauben, wie blödsinnig die sogenannten Gebildeten sich benehmen Ja, diese politische Bombe ist mir recht störend in meine Arbeiten gefallen ich sollte mich nicht so stören lassen, ich weiß es wohl; aber,Mary, das Liebste, was ich auf derWelt besitze, ist mit tausend Fäden in diesen Konsiikt verwebt; er, der reine Charakter, der ohne Ehrgeiz und Eitelkeit ein treuer Ar­ beiter im Reiche desLerrn ist — ja, das ist er — er ist unter denen, die man Vaterlandsverräter und Königsräuber schift l Ich freue mich, daß ich so ganze, volle Entrüstung empfinden kann, daß mein ganzes Wesen ergriffen ist von diesem Kampfe, und daß ich mich bereit fühle, alles zu opfern, was nötig ist, um fest und unbeirrt zu stehen. Wir glauben bis jetzt nicht an den Krieg, aber steilich spielt Bismarck in einer Weise mit dem Feuer, die gefährlich ist. Er will den Krieg nicht, nur den Kriegs­ lärm als Agitationsmittel gegen die Deutsch-Freisinnigen; durch Kriegsaustegung ist das Leben des Kaisers gefährdet, und der Kronprinz tritt

als Leerführer in eine ganz neue Stellung. Seit der Auflösung des Reichstages habe ich die Kronprinzessin nicht gesehen, auch keinerlei Lebenszeichen von ihr empfangen, was sonst ost geschieht. Freilich stürmt jetzt vieles auf sie ein, alle diese Festlich­ keiten *), Geburt des vierten Prinzen usw., aber eS kann auch recht gut *) Vorbereitungen zur Feier des 90. Geburtstages Kaiser Wilhelms.

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möglich sein, daß die politischen Vorgänge mitspielen und trennend zwischen «ns treten. Von was anderem zu reden: Eben habe ich die Notizen Deines Vortragesim LondonerFröbel-Verein gelesen und finde fie ausgezeich­ net. Tropfen zu Tropfen muß kommen, den Stein auszuhöhlen und die Erde fruchtbar zu machen. Wenn Du nur rascher und kühner wärest in literarischer Tätigkeit, dann könntest Dü fie alle auslachen — aber ich habe kein Recht, Dich zu meistern, komme ich doch selbst zu nichts in dieser Beziehung. Freilich habe ich ein Laus, einen Mann und ein sehr bewegtes Leben, in jetziger Zeit doppelt bewegt .......................... Henriette Schrader an ihren Mann.

Berlin W. 11. Februar 1887. Eben habe ich mit wahrer Erhebung Deine vortreffliche Rede in Eberswalde gelesen; sei doch nicht immer so bescheiden und nenne Deine Reden nicht langweilig, sonst sehen Dich die Lumpensammler für einen Lump an. Ich finde, Althaus hat es sehr geschickt gemacht fich einzufiihren, und Eure Reden ergänzen sich sehr. Ich schicke diese Reden fort an: Leege, Wolfenbüttel; Sante, Schöppenstedt; Rohr, Helmstedt; Al­ bertinen (Schwester); Karl (Breymann), Oker; Mary (London). Frau Schwabe schreibt aus Rom einen sehr herzlichen Brief an Dich und bittet Dich tolerant zu sein und Dich bei Fräulein SohrS Sache zu beteiligen. Sie schreibt sehr nett, aber ich werde ihr erwidern, daß in dem jetzigen Kriegszustände die von ihr geforderte Toleranz eben Waschlapperei sein würde. Sonst ist nichts passiert bis jetzt mittags 1 Ahr. InBayern haben fie bei Kühlemanns Versammlung eine köstliche Komödie aufgefühtt. Ich denke noch immer daran, als ich Dich zum ersten Male öffentlich reden hörte, wie vergeistigt Du aussahest — Du wärest Gabriel — ich wollte. Du wärest Gabriel mit dem Schwerte l Mache Dir nur keine Sorge um mich, wenn Du durchfällst und nachher noch einmal — es kann pas­ sieren. Erst sind solche Gedanken widerwärtig; aber man muß ihnen fest und kühn in die Augen blicken, dann verändern sie ihre Gestalt, sie ver­ lieren jeden Stachel persönlichen Schmerzes und verwandeln sich einfach in historische Tatsachen, die man hinnehmen muß, wie sie in der Ent­ wicklung der Dinge begründet liegen. Ich habe viel, viel von Dir gelernt — freilich spät, aber nicht zu spät, nicht wahr?

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Kapitel 4:

Ich freue mich, wenn alles still und ruhig ist während Deiner Ab Wesenheit, ich bleibe dann so ganz in Deiner Atmosphäre, und das ist mir das Liebste. Wenn ich Dich nur erst wieder habe nach all' den An­ strengungen, die Dir bevorstehen. Gott sei Dank, daß Du ein so ruhiger« Charakter bist. Innerlich ist diese Zeit für unsere Ehe schön, nicht wahr'* Ich habe mich mit ganzer Selbständigkeit zu Deiner Ansicht und Über-, zeugung entwickelt, und das ist, was ich so überaus wohltuend empfinde;. Lebe wohl für jetzt

Karl Schrader an seine Frau.

Danzig, Hotel Berlin. 16. Februar 1887.

Meine beiden Briefe an Dich waren nicht viel wert; am Montag, war ich damit beschäftigt, mich für den Abend vorzubereiten, und gestern mußte ich meine Rede weiter schreiben. Es ist wirklich eine Plage, daß man dazu genötigt ist, nicht allein, daß es viel Arbeit macht, es ist auch nie gut; ich wenigstens kann die Schlagworte und dergl., die ich münd­ lich gebraucht habe, nicht gut niederschreiben. Die Versammlung war übrigens wirklich zu aller Zufriedenheit verlaufen, und unsrige hiesigen Freunde haben die besten Hoffnungen. Die Situation der Gegner ist auch wirklich lächerlich: ein Kandidat, von welchem niemand erwartet, daß er etwas leisten werde, der gar nicht öffentlich auftritt, deffenFreunde sich damit begnügen, Inserate in die Zeitungen zu schicken. Dies hatte ich angefangen, ehe ich Deinen Brief erhielt; ich bekam ihn während eines längeren Besuches Deine Mitteilungen be­ weisen mir, daß gewisse Leute jetzt sehr lebhaft daran denken, sich die Beute zu sichern, und daß sie fürchten, wir, ich meine unsere Partei, könnten ihnen das Spiel verderben. Darum müssen wir, und namentlich die wenigen Personen, welche persönlichen Einfluß an maßgebender Stelle üben können, beseitigt werden .... Äbrigens weißt Du, daß

mich diese Dinge, soweit sie meine Person berühren, völlig kühl lassen. Ich habe es bisher so gehalten, daß ich offen meineMeinung gesagt habe — und werde es auch künftig tun in der ehrlichen Absicht, denen zu dienen, welchen ich sie sage. Wollen sie dieselbe nicht mehr hören, so ist es ihr Schade. Kann ich dem Staate einmal in anderer Stellung mehr als im Reichstage dienen, so bin ich dazu bereit, ohne es meinetwegen zu wünschen; ich werde aber am wenigsten deshalb meine Ansichten auf­ geben oder auch nur zurückhalten.

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Diese Zeitungsschreiberei ist so natürlich wie möglich; sie liegt durch, aus in den Verhältnissen; alle Teile legen Wert darauf, die Meinung des künftigen Herrschers für sich zu verwerten, und jede kleinsteNotiz wird auf das eifrigste benutzt. Das ist nicht zu hindern, so unangenehm es auch ist. Du weißt ja, daß ich eine Änderung unserer Zustände nicht von

oben herunter erwarte; sie ist nur möglich durch eine kräftige Bewegung aus dem Volle heraus, so stark, daß sie sich Berücksichtigung erzwingt. Natürlich erwarte ich sie noch nicht jetzt; was sich regt, ist nur ein Zeichen, daß dieMöglichkeit einersolchenBewegungvorhanden ist; aber sie kann, wenn sie gut gepflegt, unerwartet schnell stark werden. Jene Macher,

welche sich jetzt an die Spitze zu drängen suchen, fürchten die so kommende Strömung, und sie möchten ein Vermittlungs- und ein Vertuschungs­ system schaffen. Die Erfahrungen der neuen Aera (1858) haben sie nicht gewitzigt; sie werden zwischen den beidenRichtungen, der feudalen und liberalen, haltlos sein und schwerlich — wenn sie an dasRuder kommen — es lange behalten. Wir aber müssen immer mehr eine ganz bestimmte, nicht in Kleinig­ keiten sich verzettelnde, sondern eine großartige, alle Seiten des Kultur­ lebens umfassende Staats- und Sozialpolitik treiben, welche die den­ kenden, ehrlichen Leute an uns wieder heranzieht und ihnen zeigt, daß sie allein bei uns etwas finden, worauf ein Fortschritt der Zivilisation und desWohlstandes zu bauen ist. Diese Arbeit ist auch die Deinige mit, und Dein Gebiet ist nicht das Unwichtigere. Weil ich das weiß und schätze, habe ich auch immer gewünscht, daß Du ihm treu bleiben und Dich nicht in untergeordneter Arbeit für mich erschöpfen mögest. Wir müssen neben­ einander arbeiten und uns dadurch helfen, aberLilfsarbeiter des andern soll keiner von uns sein, weil er dadurch in seiner eigentlichen Arbeit be­ schränkt wird. Das ist ein langer sachlicher Brief schon, aber ich muß noch einiges hinzufügen. Meine hiesigen Erlebnisse sind keine bedeutenden; gestern habe ich meine Rede geschrieben, dann Besuche gemacht Morgen und übermorgen und Sonnabend habe ich abends wieder zu

reden Nun noch herzlichen Dank für Dich, meine liebe Frau; es ist die größte Ermutigung für mich, daß ich mich mit Dir völlig eins weiß, int> daß wir immer mehr uns auch für das öffentliche Leben verstehen. Sei auch nur ganz ruhigen Mutes; der Sieg, wenn auch vielleicht nicht der augenblickliche, bleibt denjenigen, welche wissen, was sie wollen, und rs mit Ruh« und Stetigkeit verfolgen

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Kapitel 4: Karl Schrader an seine Frau.

Danzig. 17. Februar 1887.

Gleich heute morgen will ich, wie ich auch gestern schon getan habe. Dir schreiben, damit ich nachmittags nicht unerwartet gestört werde. Ich lebe hier sehr ruhig. Gestern abend war ich zu Laus, las meine Zeitungen usw., heute nachmittag esse ich hier bei Stoddarts, heute abend rede ich in Neufahrwasser. Es geht mir gut, und ich bin guten Mutes. Die Zukunft liegt auch mir viel mehr am Kerzen, als die Gegen­ wart. Wenn N. fragt, was hinter uns stehe, so kann man ihm erwidern: im Grunde schon heute die große Menge desVolkes, d. h. des kleinerenMittelstandes und der Arbeiter, soweit solche noch nicht sozialdemo­ kratisch sind, und aus den höheren Klassen ein allerdings kleiner, aber geistig bedeutender Teil. Wenn dies noch nicht den entsprechenden Aus­ druck findet, so ist die Arsache teils die rücksichtslose Wahlbeeinflussung, teils die Persönlichkeit Bismarcks, teils gewisse Interessen. Der erste Grund trifft die unteren Klaffen, die beiden andern wesentlich die höhe­ ren. Sie, die beiden ersten, sind, wenn man eben will, leicht zu beseitigen. Bismarck wird ohnehin in kurzem so an körperlicher und geistiger Kraft verlieren, daß er den Platz nicht mehr behaupten kann. Die große An­ klarheit und Anselbständigkeit in den gebildeten Klaffen wird sie auch einer neuen kräftigen Beeinflussung zugängig machen; ich meine, nicht einer gewaltsamen, wie jetzt, sondern dadurch, daß eine etwas groß­ zügige Politik konsequent verfolgt wird. Diese muß aber so sein, daß sie zugleich eine feste Stütze in den tieferen Schichten findet, und durch diese einen starken Einfluß auf die höheren Klaffen übt. Eine solchePolitik anzuzeigen und vorzubereiten ist unsere Aufgabe. Gibt uns eine künftige Regierung nur wirkliche Freiheit der Wahl, so wollen wir für eine solche Politik schon die Abgeordneten schaffen. Daß sie R. recht wohl ansprechen würde, bezweifele ich nicht. Freie Bewegung auf wirt­ schaftlichem Gebiete, Entwicklung der Arbeiter usw. zu größerer wirt­ schaftlichen und sozialen Selbständigkeit und Reife, Wahrung der vor­ handenen, polittschen Rechte und des Ansehens des Reichstages, dabei stärkere Betonung derRechte des Reichs gegenüber den Einzelstaaten, in diesen und ins besondere in Preußen, Fürsorge für Kunst und Wissenschaft usw., religiöse Freiheit, Entwicklung der Schule. Dabei keine Versuche, die Stellung des Kaisers und Königs von Preußen

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herabzudrücken, im Gegenteil, diejenige des Kaisers zu erhöhen. Das scheint mir ein paffendes, für Jahrzehnte sehr reiche Arbeit gebendes, viele geistige Kräfte fesselndes, der großenMenge desVolkes genehmes, undschließlich allen Teilen mit Ausnahme einigerBevorzugten nützendes Programm zu sein. Die wirkliche Schwierigkeit, namentlich für die erste Zeit, liegt darin, die genügende Zahl tüchtiger und vertrauenswerter Männer zu finden, welche die Leitung der Staatsgeschäfte übernehmen. Darin liegt die Chance für Leute wie Bennigsen. Ob Du meine EberswalderRede weiter verteilen sollst? Ich habe nichts dagegen; was die Danziger betrifft, die übrigens viel kürzer wiedergegeben und speziell auf Danzig zugeschnitten ist, magst Du er­ messen; wahrscheinlich ist aber nicht viel davon zu haben die Arbeiter wollen nichts von Boehm wissen, weil er gegen seine eigenen Arbeiter rücksichtlos sein soll; die Kriegsangst macht hier nicht viel mehr aus. Baumgartens Brief ist sehr gut; den Weserkreis sieht er zu günstig an, weil er nicht weiß, wie dort von den Behörden gearbeitet wird; sein Vetter wird es schwer haben. Daß ihm seine Welfische Erklärung ge­ schadet habe, ist mir dort wenigstens nicht bekannt geworden. Übrigens hast Du die Landeszeitung falsch verstanden; ich bin nicht

in einen falschen Zug in Börssum gestiegen, sondern in den für mich richtigen, d. h. nachLolzminden fahrenden; die Zeitung will nur höhnen, sie will andeuten, daß ich in meinen, d. h. den Wolfenbüttler Wahlkreis, hätte fahren müssen. Vielleicht könnte ich nach der Wahl einmal in Wolfenbüttel reden? Sei nur auch gutenMutes; wenn wir unterliegen, so ist es für eine gute Sache und nach ehrlichem Kampfe; aber wirklich hat eine weitere Verminderung unserer Zahl keine so große Bedeutung, wenn wir sonst nur fest und zusammen halten, wie ich das hoffe. Für eine neue Politik wäre dieser Reichstag doch nicht geeignet geworden. Dazu bedarf es noch einerWahl. Lebe wohl, liebe Frau; nun ist es nicht mehr so lange, daß ich wieder bei Dir bin ....... . An Marie Kellner.

Berlin W. 19. Februar 1887. Bis jetzt hat mein Mann noch guten Mut; daß er inWolfenbüttelÄelmstedt siegt, daran glauben wir nicht, aber ich kann mir das Ver­ gnügen nicht versagen. Dir noch vor der Wahl auszusprechen, daß der

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Kapitel 4:

Name meines Mannes vielen guten Wolfenbüttlern recht unbequem, und er nun auch der Ehre teilhaftig wird, von dieser Art Menschen gründlich gehaßt zu werden. Komme es, wie es wolle,Arbeit finden wir überall, und den Glauben an unsere gute Sache verlieren wir nicht. Im Gegenteil, es wird nur fester, wir kämpfen für das christliche Element in der Politik! Wenn nran die erste Feuer- und Schmerzenstaufe der Verleum­ dung, des Kampfes mit Engherzigkeit und Anverstand überwunden hat, dann bekommt man eine Kornhaut oder den verwundbarenPunkt durchs Lindenblatt gedeckt, unter der das Leben frisch pulsiert und der Organis­ mus sich einer guten Gesundheit erfreut. Ich bin jetzt in meinem eigensten Elemente — was mir früher den Kampf verleidete, kam aus der Quelle einer gewissen Kochachtung vor den Menschen, die mich das Bedürfnis fühlen ließ, mich mit ihnen zu verständigen, in Karmonie mit ihnen zu wirken, jeder in seiner Sphäre, an seinem Platze — es hat schwer ge­ halten, mich von der Sehnsucht, die zum Bedürfnis nach solchen schönen Zuständen ward, zu erlösen. Jetzt bin ich frei, und wie eine neue Jugend kommt es über mich in dieser Freiheit. Ich war im Grunde eine sehr bescheidene, demütige Natur — so wenig die Menschen das glauben mögen, ja, Marie, ich war es; fast bei jedemMenschen war es mir derMühe wert,Verständi­ gung mit ihm zu suchen, und Verkennung und Mißgunst schmerzten mich tief; ich fühlte mich so gern unter denMenschen, ich stellte mich nicht über sie, und so erlitt ich viel Quetschungen und Stöße undVerwun dungen. Ich beklage diesen Durchgangsprozeß zu einem unabhängigen Dasein nicht, aber ich danke Gott von Kerzen, der mir geholfen hat, mir letzteres zu erringen. Jesus hat mich zuerst freigegeben vom Dogmenzwange, von dieser

lähmenden Kirchenlehre, diesem Materialismus und Mechanismus der Erlösung durch sein Blut im kirchlichen Sinne, von diesem Zweifel an der unbedingten Koheit Gottes, von diesem qualvollen Widerspruch -wischen solchem Kirchenglauben und dem Wissen und Denken. Nach

dieser Freimachung ist mir dasMenschwerden des Göttlichen in strahlen­ der Glorie aufgegangen, und ich habe zu Jesu Füßen gesessen und bin unter seinem Kreuze gestanden, an dem er litt um derWahrheit willen — Jesu Tod war die Konsequenz seines Lebens, seiner Lehre — und was hat man aus dieser ebenso einfachen als großartigen Tatsache ge­ macht?

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Und frei, frei sein von den Fesseln des Materialismus im Kirchen­ glauben schließt tausend Lör- und Sehorgane der innern Natur auf, irnd sie vernimmt nur dasRauschen des heiligen Geistes, wie sie sich int Menschenherzen weben, Menschenschicksale durchziehen, und sie spürt ihnen nach. Das freigewordene Auge sieht in der Lilie des Feldes, in dem Sterne am Firmamente den christlichen, den Gottesgedanken und vernimmt die tausendfache Sprache aus GottesMund!

Und dieser Freiwerdung von der Knechtschaft der Kirche, d. h. der jetzigen, zieht eine Befteiung der andern Art nach sich; von und mit derselben erwächst einReichtum von Lebensformen für das eigene Sein. Daß auch unreine Elemente in unserer Partei sich finden, entspricht einemNatur- und Geistesgesetz; begleitete sogar einen Jesus sein Judas Ischariot. Jesus wußte auch, daß der Friede nicht kommt ohne Kampf, und so ist es! Und es ist etwas Erhebendes um diesen Kampf, soviel Trübes auch aus der Tiefe der menschlichenNatur ans Licht austaucht; soviel Komik fich in den Ernst der Situation flicht. Nein, ist es zu glau­ ben, die Landeszeitung im Herzogtums Braunschweig ruft Jungfrauen und Frauen auf, ihre Männer zur rechten Wahlurne zu führen, weil sonst ihnen der Krieg den Gatten, den Sohn, den Verlobten von der Seite reißen wird! Was hat der Krieg mit diesen Wahlen zu tun, was das Septennat überhaupt mit einem nahenden Kriege? Es ist doch wunderlich, was man den Leuten bieten darf an Ungereimtheiten, und es ist stark, wie die Regierung auf die Borniertheit und Dummgläubig­ keit der Menschen zählen darf. Beschränktheit, Bequemlichkeit, Wohllebigkeit und Strebertum imBunde machen es einer brutalenRegierung leicht, derNation den Fuß auf denNacken zu setzen.Wohl nie ist ein so frivoles Spiel getrieben mit der wachsenden Friedensliebe der Völker,

als in diesem Wahlkampfe, und wenn wir Krieg bekommen, so wäre Bismarck wert, daß ihn die erste Kugel träfe — und wenn er davor geschützt ist — so wird sich vielleicht eine andere für ihn finden, die er jetzt selbst sich schmiedet. Gestern war ein Beamter hier, der meinen Mann sprechen wollte, zufällig kam ich in Gespräch mit ihm — welch einen Laß gegen die Re­ gierung sprach er aus, was erzählte er von Wahlbeeinfluffungen, und welches Bild entwarf er mir von der rastlosen, emsigen Tätigkeit der Sozialdemokraten unter dem Boden der Gesellschaft, welche Sympathie zollte er diesen jetzt so mißhandelten Leuten.

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Ich halte es für dasWichtigste vonNiederlagen, innern Vorteil zu ziehen. Politik zu treiben in jetziger Zeit ist keine geringe Kunst, bei Gott eine schwere, und jeder muß erst sein Lehrgeld zahlen. War die Fusion nicht ein Fehler? Nein, sagt Karl, aber der Fehler war der, daß die Leute, welche die Fusion anregten, später nicht ihre Schuldigkeit taten Richter gegenüber, damit er mehr und mehr aus seiner Stellung als Vorsitzender der Parteileitung gedrängt wurde. In der Übernahme einer Sache liegt nicht immer ein Fehler, wenn diese Übernahme miß­ liche Folgen hat, sondern in der Behandlung des Übernommenen. . . .

Tagebuch. 2.März 1887. In der „Nation" vom 19. Februar schreibt Ä.Ianitschek aus Florenz über die Frauenfrage im Renaissance-Zeitalter, uttb man sollte denken, nach allem, was er sagte, daß er wirklich stir die wahre Würde und Bedeutung der Frauen eintritt, bis wir ihm aufmerksam lauschend, dann plötzlich am Schluß wieder den Pferdefuß hervorlugen sehen, welchen der Schriftsteller (wahrscheinlich ihm ganz unbewußt^ unter demMantel der Frauenwürde, mit dem er sich bekleidet, trägt. So heißt es am Schluffe: „Die Schranken zu überschreiten, welche nicht der Geist, aber die Natur dem Weibe gezogen, versuchte jenes Zeitalter nicht. Auch dieFrau, die alle ihre Anlagen auf das höchste entwickelt, blieb ganz weiblich, indem sie auf den Beifall desMannes niemals verzichten mochte . . . . Das letzte Ziel aller ihrer Eroberungs- und Erwerbspolitik blieb doch.

derMann." Ehe der Lochmut derMänner nicht einen gründlichen Stoß erhält, der wie weit ihn auch einer abzustreifen scheint — immer in dieser oder jener Gestalt, ost in wunderbarerNaivität wieder hervortritt, eher wird der Frau die Bahn nicht frei, auf der sie zu wandeln berufen ist, auf der sie sich vollständig entfalten und jenen wahren Liebreiz gewinnen kann, welcher aus dem innersten Kerne der Menschenwürde entspringt. Aber wir selbst müssen diese Bahn erobern und zwar durch denMut denMännern zu mißfallen. Wie die Bequemlichkeit der Menschen, vor allen den Deutschen der Hemmschuh großer Entwicklung nach so mancher Seite hin ist — so auch in bezug auf die wahre Frauenemanzipation. Die Männer sind im ganzen noch viel zu unentwickelt und ungebildet, um die moderne wahre

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Weiblichkeit ertragen zu können — sie ist ihm zu unbequem. Daß die Geschlechter verschiedene Domänen ihrer Wirksamkeit haben, liegt einfach in der Anordnung der Natur, die eben zwei verschiedengeartele Menschenwesen schuf. Daß man die Frau unter den Mann stellte, hat seinen Grund im Zeitalter der Herrschaft roher, physischer Kraft; dann auch in der Verirrung der Kirche, welche versuchte, sich von der Natur und ihren Gesetzen zu lösen, und in der modernen Zeit der Überschätzung

der Verstandesseite im Menschen und dessen einseitiger Entwicklung. Meiner Überzeugung nach ist der Mann von vornherein mehr als die

Frau angelegt zum abstrakten Denken, zur starken Konzentration der Verstandeskräste, wie es nach einer Seite die Wissenschaft fordert. Aber ist diese Seite „höher" als die des Gemütslebens? als die Fähigkeit, dem Geiste das Fleisch und Blut zu geben — das Medium zu pflegen und zu gestalten, ohne welches ein Geist mit dem andern auf dieser Welt gar nicht verkehren kann? Ist diese Seite etwa „höher" als die Anlage, das Kleine mit feiner, zarter Land zu gestalten, und besitzt die Frau etwa deshalb wenigerVerstand als derMann überhaupt? Kant selbst bezweifelt dies; aber er spricht der Frau eine andere Art von Verstand zu als dem Manne; er meint, der Verstand gehe eine andere Art von Verbindungen ein mit den übrigen Seelenkrästen, als der des Mannes. Die große Domäne der Frau in der Erziehung, der Beherrschung des Wirtschaftlichen im engeren und weiteren Sinne, im kleineren und größeren Kreise — diese allgemeine Bestimmung ihres Geschlechts — ist es etwas Untergeordnetes gegenüber der Arbeit desMannes? Es scheint nur so, weil ihre Arbeit noch nicht mit dem Aufwande von Verstand und Wissen unterstützt wird, deren sie bedarf, da liegt die Täuschung; diese Durchdringung von Wissen und Geschicklichkeit fehlt ihr. Erziehungswissenschaft mit Einschluß der körperlichen Pflege und deren Boden, die hauswirtschastliche Tätigkeit, ist Lebenswiffenschaft. Erziehungskunst — Lebenskunst, beide zu verstehen und zu üben, ver­ langt einen logisch gebildeten Verstand, ein nicht geringes Quantum

wissenschaftlicher Kenntnisse, und die Frau ist so gut fähig auf ihrem Gebiete wie der Mann auf dem seinen, das Höchste an geistiger Bedeutung zu leisten.Nur sind die Verbindungen vonWiffen und Können bei der Frau anders als wie beimManne

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Kapitel 4:

An Anna Breymann. Berlins. 17. März 1887.

.... Last Du jetzt eine paffende Persönlichkeit für Deine hauswirtschaftliche Tätigkeit, so schicke sie jetzt hierher, das System zu er­ lernen, ich biete Dir unser Äaus für sie an .... Die Kronprinzessin hat Charakter genug, um sich nicht stören zu lassen in ihrer Arbeit mit mir für Volkserziehung. Politik ist natürlich ausgeschlossen. Ich wurde vomKofmarschallamt zur Konfirmation ein­ geladen und jedem andern Gaste gleich behandelt. Ich muß sagen, es stärkt mein Vertrauen zum kronprinzlichen Paare, daß sie entschlossen scheinen, sich in Beziehung zu Werken, die nichts mit Politik zu tun haben, nicht stören zu lassen und deren Vertreter festhalten, trotzdem wir dieNiederlage erlitten haben und Schrader, Forkenbeck *), Stauffenberg usw. zu den bestgehaßten Männern bei Bismarck gehören. Last Du gehört, daß Forkenbeck nicht zu Kaisers Geburtstag eingeladen ist? während der 2. Bürgermeister eine Einladung bekam und — hinging! Es wird erzählt, daß alle Deutsch-Freisinnigen auf einer Liste stehen und dem Kaiser als Landesverräter geschildert sind. Auch soll dem Kronprinzen diese Liste zugeschickt sein mit dem Befehl, jede Beziehung mit diesen Leuten abzubrechen. Es soll Bismarck gelungen sein, den Kaiser gegen die Leute auf der Liste persönlich aufzubringen; etwas Wahres muß daran sein, denn die Sache mit Forkenbeck ist eine Be­ leidigung, wie sie nicht größer gedacht werden kann. Als die Kron­ prinzessin mit ihrer Schwester (Prinzessin Christian) im Kindergarten war, wurde mir vorher geschrieben, sie wünsche keinerlei Veranstaltung, hoffe aber, daß ich dort sei. Unter solchen Umstünden ist es doch treu, daß sie an der Arbeit mit Leuten hält, die in die Acht erklärt wurden. Auch hat sie meinemMann als stellvertretendenVorsitzenden und Georg von Bunsen (der auch zur Partei gehört) als Vorsitzenden des Gesund­ heitsvereins bestätigt, was gewiß nicht liebenswürdig ausgenommen ist, denn es soll über alles berichtet werden. Am letzten Mittwoch hatte ich eine Abschiedsandienz, da das kronprinzliche Paar übermorgen nach Ems reist; sie trug mir allerlei Wünsche vor in bezug auf die Vereine und entließ mich mit herzlichem Lebewohl. Du glaubst gar nicht, welche Spannung herrscht zu erfahren, wie Kronprinzens stehen, und wie *) seit 1878 Oberbürgermeister von Berlin, welcher wegen seiner liberalen Gesinnung dem Fürsten Bismarck nicht genehm war.

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jedes Wort über sie zur Lawine wird; ich habe keinen Grund zur Geheiimniskrämerei und sage, wenn ich gefragt werde: „Die Kronprinzessin läßt ihre Arbeit für das Volk nicht fallen mit mir, und etwas anderes habe ich nicht zu sagen". Nun, geliebte Anna, lebe wohl An Frau A. Rickert.

Berlins. 11. Juli 1887. Ich muß Ihnen vor unserer Abreise*) schreiben, und da wir morgen und übermorgen Besuch erwarten und Annette Freitag abreist und wir Sonnabend, so will ich schnell ein stilles Stündchen heute ausnützen, indem Ä. auch bei ihrer Korrespondenz sitzt. Es ist so reizend, wenn Annette hier sitzt, und wenn es kühl ist und wir hinten in unserer „Sommerwohnung" sitzen, bilden wir uns ein, daß wir zusammen im Bade sind und einander ganz gehören, was ich umsomehr genieße, da mein Mann hier ist (wenn auch in Arbeiten ver­ sunken), doch bei uns ist, und ich kein Leimweh nach ihm habe, keine Briefunruhe usw. Annette kam sehr angegriffen her am Sonnabendabend es geht ihr aber schon besser. Diese liebe Annette, was hat sie wieder geleistet in dem letzten Vierteljahr, was könnte ich ohne sie in der mir so am Herzen liegenden Sache tun, und wie vervollständigt sie mein per­ sönliches Leben Neulich abend folgten wir einer Einladung von Goldschmidt, unter andern war Virchow dort, er unterhielt mich ganz vorzüglich. Ich er« innette ihn an sein früheres Interesse für Kindergarten und Frauen­ bildung. „Ja", sagte der Professor, „das war die Zeit, in der man noch naiv war und sich einbildete, auf die Schulerziehung einen Einfluß zu gewinnen, es kommt mir jetzt ganz komisch vor, daß man so etwas ge­ träumt hat." Dann sprach er über Modesucht in der Wissenschaft; wie er schon dreimal aus derMode gekommen sei. Er erklätte mir prachtvoll einfach den Prozeß der Eisbildung durch die Maschine und die Macht

der Kohle, wie wir sie in der Brauerei sehen usw. Es wecken oft wenige Worte in mir viele Gedanken, und wie mir Virchow so einfach und klar die Gewalt der Naturkräfte unter dem Menschengeiste zeigte — da sah ich klarer als je, wie dies« Macht des Geistes am eigenen Leibe zur Gel*) nach dem Engadin.

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Kapitel 4:

tung kommen muß, und welches großartige Menschengeschlecht entstehen könnte. Wäre ich nur zwanzig Jahre jünger, es ist als reifte jetzt vieles in mir, was mich zur Sicherheit und Klarheit führt in den Erziehungs­ fragen und Erziehungsarbeiten — oder könnte ich wenigstens schriftlich zusammenfassen, was mich Pestalozzi, Fröbel und das Leben gelehtt haben; aber diese beständige Anruhe in unserm Leben lassen mich nicht zu der Sammlung kommen, die mir nötig ist; ich habe zu vielerlei In­ teressen und Beziehungen, ich muß absterben für anderes, und nur eins verarbeiten lassen. Ich meine nicht, daß nicht andere die Entwicklung der PestalozziFröbelschen Ideen sortsetzen werden, aber man sucht zu seiner Selbst­ befriedigung einen gewissen Abschluß ....... Ich kann so gut verstehen, wenn Marie Löper ausruft: „Ich glaube, ich tauge nur noch zum Arbeiten I" Es ist dies aus der Emp­ findung dahin geschwundener Jugend und eines großen Teils des Lebensstoffes, der einst vor uns lag und nun hinter uns liegt. Was ist aus diesem und jenem Menschen, aus diesem und jenem Verhältnis ge­ worden, das wir in der Entwicklung kannten. Der Jugendreiz liegt hauptsächlich im Werden und Erwarten. Aber über der Jugend, die vergänglich ist, gibt es eine ewige Jugend, und fie wächst gerade aus der Arbeit, die uns in einer Epoche des Lebens gewissermaßen aufrecht erhält, wieder hervor. Sie erstreckt sich über uns selbst und andere und läßt uns die Sterblichkeit der Dinge vergessen — oder verklärt sie uns wieder zum Werden und Erwarten — ob dieser Zustand auch im Men­ schen entsteht, der nicht an eine persönliche Fortexistenz der Seele glaubt? Ich kann mir keinerlei, auch nicht die leiseste Vorstellung über das Wie machen, habe auch nicht das geringste Bedürfnis dazu, aber es ist ein nicht zu ertötendes Etwas in mir, das mich festhalten läßt an den Glauben der persönlichen Ansterblichkeit. Was rede ich Ihnen dann vor, liebe Frau Rickert, und so in fliegender Eile und unter Claras Fragen, die hier arbeitet, ich muß schnell schließen .

Tagebuch.

Juli 1887. Ich habe an Pestalozzis Wiege gestanden, sie mit mei­ nem Finger berührt und sie lange betrachtet. In ihr schlummerte das Kind Heinrich Pestalozzi, ich sah es im Geiste, schaute dessen Entwicklung und Schicksale und eine tiefeRührung ergriff mein Äerz.

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Ist dies ein Zeichen deutscher Sentimentalität? Mag es sein, ich

schäme mich derselben nicht. Am 12. Januar 1746 legte man das Kind­

lein in dieWiege, am 17. Februar 1827 bettele man den Greis in seinen Sarg — aber Kind war er geblieben im schönsten Sinne des Wortes, Kind im Glauben und in der Liebe, aus denen sein Tun für die Kinder­

welt quoll, und wieviel Tränen auch sein Auge geweint, er hat doch das Himmelreich geschaut, von dem Jesus spricht: „Wenn Ihr nicht werdet,

wie die Kindlein, so werdet Ihr nicht in dasLimmelreich kommen". Pestalozzi war ein Kind Jesu geworden. Ich kenne keinen Geist aus

derWelt, keinen Geist derMit- undVorwelt, der uns Frauen für unsern erzieherischen Beruf mehr geben könnte als Pestalozzi, wenn wir uns in

seine Liebe, in seinen Glauben und sein Schauen hineinleben, denn

zarter und tiefer hat nie eine Mutter ihr Kind geliebt als Pestalozzi die Kindheit; wärmer, ja feuriger hat niemand an die Menschenwürde ge­

glaubt als er, und an die Möglichkeit dasMenschenleben schön und herr­ lich zu gestalten; klarer hat niemand die Keimpunkte des menschlichen

Geistes und dessen Entwicklung geschaut als er, und die unendliche

Wichtigkeit begriffen, welche die Pflege des ersten Kindeslebens betrifft, und dieNotwendigkeit, dasWeib für dieselbe zu bilden.

Ich begehe keine Angerechtigkeit gegen Fröbel und andere päda­ gogische Geister, wenn ich das ausspreche, es liegt keine Anterschätzung der Wissenschaft und ihrer Erforschung des menschlichen Wesens darin.

Fröbel steht hoch bei mir, er und die wissenschaftlichen Forschungen müssen, was Pestalozzi gab, ergänzen, unterstützen. Aber Pestalozzis

Art undWeise hat etwas dem weiblichen Wesen so Verwandtes. Seine

Unmittelbarkeit, seine Wärme, Begeisterung, Lingabe, sein in tiefster Bedeutung dichterisches Schaffen berühren die weibliche Natur auch

unmittelbar; sie erzeugen in den edelsten Anlagen ihres Geistes Leben, Bewegung, Wachstum und Blüte. Es ist überhaupt von der höchsten

Wichtigkeit, die Anmittelbarkeit des Weibes zu pflegen; gerade diese Seite, durch welche man das Leben noch in ganz anderer Weise erfaßt als durch den Verstand und das Denken, darf uns nicht verloren gehen, wenn wir nicht einen wesentlichen Teil der Lebensauffassung einbüßen sollen. Vor allem bedarf die mütterliche Erzieherin, die Bildnerin des

Elementaren im Menschen, des Anmittelbaren, des höher Instinktiven

für ihren Beruf, was fteilich durch Wissen und Denken ergänzt werden muß; aber immer auf dem Grunde des Gemütslebens, welches durch

sein Ahnen oft dem zerlegenden Verstände vorgreist, und durch die LyIchinila, Henriette Schrader II.

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Kapitel 4:

einenden Kräfte der Liebe und des Glaubens zusammenhält, was der Verstand in seinen Operationen oft schmerzlich trennt. Am unsere Schülerinnen auf das Selbststudium Pestalozzis vorzubereiten ist es nötig, daß wir sie selbst in seinen Geist «inführen. Ich werde dazu verschiedenes ausPs. Schriften zusammenstellen und später unten bezeichnen. Wir, die wir P. schon in uns ausgenommen, die wir ihn lieben, verehren und verstehen, müssen mit ihnen in seinen Schriften lesen, ent­ weder anknüpfend an Vorkommnisse aus dem wirklichen Leben, oder solche mit seinen Worten in Verbindung bringen. Aber nachdem wir so den Grund gelegt haben zu der Vereinigung des Pestalozzischen Geistes mit dem ihrigen, ist es auch notwendig, auf diesem Grunde der unmittelbaren Erfassung seines Wesens ein geordnetes Wissen, was er uns gab, für unsern erzieherischen Beruf zu erzielen. Die Resultate seiner Erforschung der menschlichenNatur sind in verschiedenen Schrif­ ten zerstreut, und wir müssen sie zusammenstellen und möglichst systema­ tisch ordnen. Ich werde diesen Versuch in möglichst einfacher Weise machen inRücksicht aus unsere Schülerinnen. Er hat wirklich den Grund gelegt zu einer neuen Erziehungsepoche, und nur durch ihn erscheint auch Fröbel in seiner ganzen Bedeutung. Pestalozzi weist unS darauf hin, daß kein großes Seil für die Erziehung zu hoffen ist von einer einzelnen Wissenschaft, einer einzelnen Methode des Lehrens oder Behandelns des Einzelnen, so bedeutungsvoll dies auch sein kann im Zusammen­ hänge mit dem, was er „das Fundament aller Erziehung" nennt. Spe­ zialitäten sind es nicht, welche die Erneuerung der Erziehung schaffen, sondern die „Wohnstubenkrast"

An Marie Kellner.

Parpan über Chur. Graubünden. Schweiz. 30. Juli 1887. Sieh, liebe Marie, die vollständige Auftichtigkeit zwischen zwei Menschen von Liebe, Verständnis und Sympathie getragen, wirkt so segensreich; ich lerne von Dir, nehme so manches in mich auf. Aber wie kannst Du denken, Marie, ich wollte die Kirche abschaffen? Nein, alles, alles will ich beibehalten, Abendmahl, Trauung, Taufe, Konfirmation; aber befreit von dem Götzendienst. Könnte ich Dich doch einmal längere Zeit sprechen. Wäre ich Prediger, ich würde den Glauben predigen, den Jesus hatte; kennst Du ihn?

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Er glaubte an ein liebendes Grundprinzip aller Dinge — an Gott — er glaubte an die Möglichkeit der Vervollkommnung der menschlichen Natur; er stellte das Entwicklungsgesetz auf, daß wir als Menschen den unserm tierischen Körper angeborenen Egoismus bis auf die gebotene Grenze zurückdrängen und die Interessen der andern in uns aufnehmen sollen, d. h. wir sollen streben im Lerzen, Verstände und Willen die göttlichen Gesetze zu erkennen und die Verhältnisse des Lebens: Essen, Trinken, Kleider, Schuhe usw. bis zu den feinsten Geistesregungen mit diesen Gesetzen in Einklang zu bringen. Wir können es vermöge der göttlichen Vernunft in uns; aber nicht einer, nein, ein Zusammen­ wirken aller macht es möglich, und die Menschen in diesen Interessen zu fördern, ihnen Äilfe zu bringen, selbst wenn wir sie hassen, das ist Feindesliebe. Du und ich, wir sind in Menschenliebe verbunden, gettagen von natürlicher Sympathie, welche dieser Menschen — dieser Christusliebe den höchsten Zauber gibt, sieh, das ist das Höchste, was das Leben bieten kann. !lnd solche Liebe strahlt in den verschiedensten Far­ ben: Gatten-, Geschwister-, Kinder-, Elternliebe usw. Aber die natür­ liche Liebe ohne Christusliebe, ohne den Ernst der göttlichen Interessen, ach, sie ist ein Naturprodukt und denNaturgesetzen des Entstehens und Vergehens, des Festhaltens und Lösens, des Aufblühens und Ver­ welkens unterworfen, wie Goethe dies in den Wahlverwandtschaften zeichnet, ohne es vielleicht selbst ganz zu verstehen. Nur Christusliebe ist ewig, nur Christusliebe erlöst, nur Christusliebe besiegt Tod, Hölle, Teu­ fel; aber sie ist nicht ein langen an seinem Kreuze, nicht ein Götzen­ dienst seiner Person; sie ist ein Erfassen seines Geistes, seines Schauens in die Tiefen und Höhen, seines Erfassens des einigen Lebens von Natur — Mensch — und Gott; sein sich Ergreifenlassen vom heiligen Geiste, sein Dienen derMenschheit, nicht um feinet-, nein, um der Ein­ heit willen von Gott undMensch, worin er inbegriffen ist. O Marie, wandeln wir mit seinem Verständnis der Natur und Gottes, beten wir an, was er anbetete, glauben wir, was er glaubte,

an diese ewige Fottentwicklung des menschlichen Wesens; glauben wir, was er glaubte von der menschlichen Natur, und vollziehen wir die Wiedergebutt itndSeifte. Wird ein Kind nicht wiedergeboren in der Famllie, von den Eltern, wenn sie verstehen, die göttlichen Gesetze auszuprägen in der Art und Weise des Lebens? Wie der Baum im Erd­ reich wurzelt, aus ihm und der Atmosphäre seine gesunde oder ungesunde Nahrung zieht, so das Kind im Leben von der Familie. Ob unser Körper 24*

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Kapitel 4:

ein Tempel Gottes werde oder nicht, das hängt von demWi e des Essens, Trinkens, Kleidens, Schlafens ab; von der Durchdringung der Erkenntnis und der Liebe bei jeder Landreichung; von der Erziehung des Fleisches in Harmonie mit der göttlichen Vernunft in uns. Aber dazu gehört Freiheit, Einheitlichkeit der Anschauung, Er­ greifen der höchsten Menschlichkeit in Jesu, die ihre Einheitlichkeit in Gott und Natur gefunden in seiner Zeit, in seinem Voll, in seiner In­ dividualität, und die nun in der millionenfachen Mannigfaltigkeit der Individualitäten geboren werden muß. Wie Gott uns zeigt, daß auch die Mannigfaltigkeit der Erscheinung unendlich ist, wie die Blumen seines Feldes, Waldes, seiner Berge! Knieen wir mit Jesu in Geth­ semane, im Kampfe mit ihm, mit ihm Marie! Sieh, das wollte ich predigen, wäre ich ein Prediger im Amte; die Menschen wollte ich losreißen aus diesem verquälten Götzendienste der Kirche. Ich wollte ihnen die großartige Psychologie der Bergpredigt entwickeln, ihnen die Eigenartigkeit so mancher Erscheinungen und Aus­ sprüche in der Bibel im Zusammenhänge mit der Geschichte enthüllen; ihnen das Bild malen von Korinth, wie es Beyschlag tut, wohin Pau­ lus seine Wirksamkeit führte. Wahrheit, Wahrheit, Marie, danach hat meine Seele geschrieen I And die Taufe? Ich wollte der Gemeinde ans Äerz legen, welch eine Mahnung jedes neue Kindlein ist, und jede Taufrede sollte eine Er­ ziehungsrede sein; eingesenkt mit heiligen Gesängen sollte das Kindlein werden in Jesu Geist, getragen von der Gemeinde. And wie heilig ist die Ehe in der Christusliebe; das Abendmahl, welch tiefsinniges Symbol — doch ich muß aufhören, mein Äerz klopft, die Höhenluft ergreift noch meine Nerven und mein Blut. Lebe wohl, liebe Marie, Deine getreue Senriette.

An Anna Breymann.

Berlins. 17. September 1887. Gestern abend spät sind wir wieder heimgekehrt, nachdem wir von Zürich bis Berlin 28—30 Stunden in einer Tour gefahren sind. Es ist mir aber prachtvoll bekommen; doch ist mir alles noch so wunderbir, wieder soviele Räume zur Verfügung und dienstbare Geister zu Halen und reine Kleider und ordentliche Sachen, ohne daß man jeden Stich

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selbst machen muß und jedes Stück ersparen und fortlegen muß, daß man alles beisammen behält. Berlin sehe ich noch nicht; die schönsten Visionen ziehen noch vor meinen Augen, der blaue Comer See mit seinen üppigen Äsern, die blühenden, voll Lebensfreude, in glänzender Farbenpracht strotzenden Gärten der Reichen mit rieselnden Bächen, kühlen, versteckten Teichen und Wasser verstäubenden Springbrunnen; die Marmorpaläste von Oleanderbäumen umblüht, und wo dunkelrote Rosen sich an den grau­ blättrigen Ölbäumen hinaufschlingen, und wo Aloes und Zypressen

stehen ernst und dunkel zwischen all' dem Licht und der Farbenpracht, sind dann wieder erheben sich vor meinem Geiste die ernsten, stillen Berge mit ihrem ewigen Schnee himmelhoch über die grünen Matten, wo Edelweiß blüht, das wir selbst gepflückt. Ach, ich bin so reich, so reich heimgekehrt, Anna, Du mußt hinaus, nur da still zu sitzen in der ernsten oder üppigen Schönheit, sich umwehen zu lassen von dem reinen Gottesodem, das allein macht uns zu einem andern Menschen. Ich hatte vergessen, wie gut dasReisen tut, sonst hätte ich nicht so lange gewartet

An M. Lyschinska.

Berlin^'. 20. September 1887.

Am 16. September sind wir heimgekehrt, erneut an Leib und Seele und mit den schönsten Erinnerungen von derWelt; aber die Wir­ kung der Berliner Luft ist immer eine so nachteilige für mich, daß ich jedesmal nach längerer Abwesenheit von Berlin hier krank geworden bin. Diesmal hat es mich insofern recht hart betroffen, daß ich meinen rechten Arm nicht gebrauchen kann infolge von heftigem, nervösen Muskel-Rheumatismus. Klara ist seit Sonnabend wieder hier, und so habe ich jemanden, dem ich diktieren kann. Ich hätte Dir eine Menge zu sagen, aber ich will mich auf das nötigste beschränken, da ich noch eine Menge Dinge zu erledigen habe. MeinMann und ich haben große Lust, uns einmal in Zürich niederzulaffen, wenn wir nicht mehr in Berlin sein wollen oder können. Ich habe in der Beustschen Schule doch ganz vorzügliche Dinge gesunden in bezug auf Geometrie, Planimetrie, Rechnen und bergt, alles was zu diesen Fächern gehört, ist ganz vorzüglich entwickelt und

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Kapitel 4:

durchgeführt, ebenso Heimatkunde und Geographie. Aber von der Ein­ heitlichkeit in bezug auf Anterricht und Erziehung, wie Fröbel und Pestalozzi dieselbe wollen, habe ich nichts gefunden. Verstandesbildung und Wissen ist ihr Evangelium, wie dies überhaupt jetzt im Vorder­ gründe bei Lehrern und Erziehern steht. Was nun Frau von Marenholtz' Standpunkt betrifft, so wünsche ich, daß Du den Unterschied zwischen uns beiden klar*) hervorhebst. Frau von Marenholtz ist mir viel zu doktrinär, die Kindergärten nach ihrer Anterweisung sind viel zu viel Schule, die Arbeiten der Kinder sind vor­ wiegend verstandesmäßig aus mathematischer Grundlage; das berühmte Schöpfungsgesetz, welches die Kinder bei den Fröbelschen Gaben an­ wenden, ist im Grunde ein Mechanismus, das wahrhaft künstlerische Schaffen, dessen Keime schon in dem Kinde gepflegt werden sollen, und bei denen die freie Phantasie die Lauptrolle spielt, wird durch vorzeitige Reflexionen zurückgedrängt. Ich könnte noch viele Einzelheiten auffiihren und kritisieren, aber ich habe jetzt keine Zeit dazu. Ihr neues Landbuch böte eine Gelegenheit zu einer eingehenden Kritik ihres Stand­ punktes. Vor allen Dingen ist bei Frau von Marenholtz eine sehr große Lücke; sie selbst hat oft einen richtigen Ausspruch Fröbels wiederholt, daß die Beschäftigungen der menschlichen Gesellschaft auf ihre primitiven Anfänge zurückgeführt werden müßten, und daß man den Kindern den rechten Stoff und die rechte Gelegenheit bieten müsse, die primitiven Anfänge zu üben. Nun ist das wirtschaftliche Leben bis zu einer Stufe entwickelt, daß es sehr viel Verstand, Kombinationsgabe, praktische Tüchtigkeit, aber auch verbunden mit allen diesen Faktoren vieler Liebe bedarf, um das gesellschaftliche Leben anders und besser zu gestalten als jetzt, wo der Kampf ums Dasein immer heftiger entbrannt ist, und der Egoismus des einzelnen immer krasser zutage tritt. So ist auch das wirtschaftliche Leben auf seine primitiven Anfänge zurückzuführen und dem Kinde dienstbar zu machen, so daß es in demselben tätig sein kann. Die hauswirtschaftliche Seite des Familienlebens, wenn dieselbe Mittel zu höheren Zwecken der Menschenbildung ist, wie sie sein sollte, schließt die verschiedenen Seiten des wirtschaftlichen und gesellschaft­ lichen Lebens überhaupt in sich. Die Beschäftigung mit der ersteren be­ reitet das Kind nun praktisch vor auf das volkswirtschaftliche und bringt *) Seitdem geschehen, siehe Landbuch der Frauenbewegung, III. Teil, Artikel: Kindergarten. Verlag Moeser, Berlin.

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das Kind in natürliche Beziehung mit derNatur, der Industrie und den meisten menschlichen Verhältnissen. Wenn nun Frau von Marenholtz sagt, der Kindergarten sei ein notwendiger Erziehungsfaktor für die Kinder, aber hauswirtschaftliche Tätigkeit müsse der Familie überlassen werden, so ist das einfach Ansinn. Wenn alle andern Beschäftigungen im Kindergarten getrieben werden, und der Kindergarten dem Kinde ein Bild des gesellschaftlichen Lebens geben soll, so kann die hauswirt­ schaftliche Tätigkeit in demselben nicht fehlen, denn die Mütter verstehen noch viel weniger das Kind zu derselben anzuleiten, sie in Verbindung zu bringen mit Äbung christlicher Liebe, mit der Vorbereitung zu Kunst

und Wissenschaft, als nach bestimmten Regeln zu bauen, falten und flechten, da letztere Dinge viel leichter sind als letzteres. Aber gerade darum wollen die Leute ihre alte Routine nicht fahren lassen. Durch die ruhige Organisation der hauswirtschaftlichen Tätigkeit in Verbindung mit den übrigen Fröbelschen Beschäftigungen wird den letzteren gerade das kalte, vorwiegendMathematische und oft Gekünstelte genommen, und der Kindergarten wird von warmem, organischem Leben durchdrungen, dies setzt natürlich eine andere Art von Bildung der Kin­ dergärtnerinnen voraus ....... An ihren Bruder Dr. med. Erich Breymann.

Berlin W. 29. September 1887.

Mein lieber Erich 1

Es geht sehr viel besser mit meiner Gesundheit, aber es ist eine große Reizbarkeit der Nerven in dem rechten Arm zurückgeblieben, so daß ich immer Schmerzen habe, wenn der Arm hängt und wenn ich schreibe. Du verzeihst deshalb wohl, wenn ich heute einen diktierten Brief sende. Ich habe mich so sehr über Deinen lieben Brief und die Bilder der Kinder gefreut, nur bin ich ganz betrübt, daß mein Liebling, Erich, gar nicht so hübsch ist, wie in Wirklichkeit; daran bist Du schuld, daß Du den Jungen nicht mehr zum Gehorsam erzogen hast. Ich wollte die Bilder so gerne wie die Bücher für die Kinder selbst kaufen, deswegen kommen sie so spät. Es gibt nämlich so verschiedene Ausgaben von Brehm, und ich war erst unschlüssig, ob ich eine kleinere nehmen sollte, oder die größte in verschiedenen Abschnitten. Ich habe mich zu letzterem entschlossen, dem Goetheschen Ausspruch folgend: „Für die Kinder ist nur das beste gut genug", und so erhaltet Ihr vorerst drei Bände der Säugetiere.

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Kapitel 4:

Nach und nach werdet Ihr das ganze Werk bekommen. Ich habe nun aber eine große Bitte, daß Ihr den Kindern die Bücher für jetzt nicht in die Land gebt ohne Euer Beisein. Diese Ausgabe von Brehm ist nicht für Kinder, aber das find die kleineren Ausgaben auch nicht, und so glaube ich, es sei das beste, ersteres zu wählen in Rückficht darauf, daß Ihr den Kindern daraus vorlest, oder noch besser ihnen das erzählt, was für sie paßt. MeinMann ist ausgegangen, dieBücher zu kaufen und abzuschicken, weil ich selbst auch heute noch keine Kommissionen machen darf. Ich hoffe, daß Ihr die Sendung noch zeitig und in guter Ordnung erhalten werdet. Sollte letzteres nicht der Fall sein, bitte, dann schreibt mir gleich. Karl kam neulich sehr vergnügt von seiner Reise zurück, und ich habe mich so gefreut, daß Ihr einige heitere Stunden zusammen verlebtet. Es scheint ja Anna wieder viel besser zu gehen, und daß sie vorerst ihrer Sorgen enthoben ist. Wollt Ihr wirklich EureReise nach Berlin aufgeben, wie mir mein Mann sagt? Ich hatte mich so darauf gefreut. Euch hier zu sehen. Da meinMann aber meinte, Ihr würdet nicht kommen, so haben wir unser Logierzimmer an Lerrn von Bar aus Göttingen vergeben für eine Woche vom 7. Oktober an, aber vielleicht kommt Ihr doch noch später. Also Gretchen soll nun noch mehr studieren als bisher? Der Plan, den Du mir mitteilst, mag ja unter den obwaltenden Umständen noch der beste sein, ich bin aber immer sehr traurig, daß die Kinder nicht mehr im Lause tätig sind in den Jahren, wo sie solche Beschäftigungen sehr lieben, und wie schön könnte man solche Arbeiten, welche sie freilich unter der Leitung der Mutter verrichten müßten, mit Einführung in Botanik, Zoologie, Chemie und Physik verbinden, weil ja di« ganze Laushaltung in so inniger Wechselwirkung mit der Natur und ihren Kräften steht Wie viel Gelegenheit gibt sie auch zur ästhetischen Bil­

dung, wenn alles hübsch geordnet und sauber gehalten wird wie bei Euch; wenn z.B. Kinder helfen beim Bilder putzen usw. und man sie «infühtt in die Schönheit derselben, soweit diese ihrem kindlichen Gesichtskreise zugänglich find. Das Tun im Leben, wenn es vergeistigt wird durch tiefere Interessen an den Dingen, fördett mehr als alles andere eine ge­ sunde, harmonische Bildung. Es macht so glücklich und zufrieden, es fesselt Eltern und Kinder in einer Weise aneinander, welch« bis ins spä­ tere Leben fortwirkt. Meine schönsten Kindeserinnerungen find immer noch, wenn ich „eine kleine Butter" machen durste, mit der Mutter

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Käse machen usw. vornahm, und wir viel wirksamer würde das alles noch gewesen sein, wenn dieMutter noch mehr naturwiffenschastlicheBildung

gehabt hätte. Ja, das sind so meine Wünsche und Träume für die künftige Ge­ neration, daß die Schule mehr entlastet wird bei der Erziehung, und die Familien die Kinder, besonders in jüngeren Jahren, mehr zu Lause haben und mehr beschäftigen als jetzt. Ich sehe nun alle meine Kraft daran, meinen Schülerinnen im Pestalozzi-Fröbel-Lause die Grundlagen zur mütterlichen Erzieherin zu geben, aber Laus und Schule haben uns so schlecht vorgearbeitet. Sie kommen mit einer gewissen Prätension etwas zu wissen, aber die wahre, geistige Bildung fehlt fast allen. Nun, lieber Erich, scheltet mich nicht für meine pädagogischen Er­ örterungen, ich habe täglich mit diesen Dingen zu tun, und so kommt es leicht, daß man auch darüber redet. Für heute lebt alle recht wohl. Ich bin mit herzlichen Grüßen

Deine getreue Schwester Lenriette.

An Martha Breymann (Nichte).

Berlin W. 15. Oktober 1887. Meine liebe Martha 1 So lange hat es mir schon auf dem Lerzen gelegen. Dir einmal zu schreiben, und immer kam es nicht dazu. Mein Leben hier in Berlin ist recht unruhig und vielseitig; man muß alle Kraft zusammen nehmen, um sich nicht zu zersplittern in den verschiedenen Interessen, welche das Leben einer großen Stadt bietet. Im letzten Sommer habe ich zwar eine köstliche Ruhezeit gehabt mit Onkel Karl zusammen. Wir sind beinahe zweiMonate fort gewesen und haben sie teils in der Schweiz im Engadin, teils in Italien am Corner See verbracht; ich glaube, ich bin nie glück­ licher in meinem Leben gewesen als auf dieserReise. Wir haben so un­ endlich viel Schönes genossen, und daß wir einmal uns ganz selbst leben konnten in erhabener oder glänzender oder lieblicher Natur, das hat meine Seele so tief erquickt und derselben neue Lebenskraft gegeben. Aber fteilich habe ich ein etwas schlimmes Andenken an diesen Aufent­ halt in den Löhen der Berge und Gletscher mitgebracht, nämlich höchst quälendenNerven-RheumatismuS im rechten Arm. Eine zeitlang mußte

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Kapitel 4:

ich sogar das Bett hüten und konnte meinen Arm gar nicht gebrauchen. Jetzt kann ich mich wieder frei bewegen, fühle mich auch sehr wohl, nur vertrage ich das Schreiben noch nicht, habe stellenweis quälende Schmer­ zen, von denen ich dann ganz abgemattet werde, und aus diesem Grunde bekommst Du auch einen diktierten Brief. Es freut mich so sehr, liebeMattha, zu hören, daß Du Dich so glück­ lich in Deinem jetzigen Leben fühlst, es wird Dir dieser Aufenthalt in Schottland fürs ganze Leben eine schöne Erinnerung sein und mehr als das, er wird bildend und innerlich gestaltend auf Deine Seele wirken. Ich hoffe, daß Du hinreichend Freiheit des Geistes haben wirst. Dich nach Deiner Rückkehr bald wieder in die heimischen Verhältnisse zu finden, und daß nicht eine Zweiteiligkeit in Dein Wesen tritt, die so leicht die Freude am Leben und an den Verhältnissen, in denen wir nun einmal wurzeln, stört. Auch ich habe so viel Liebes früher in Schottland und vor vier Jahren in England erfahren, daß ich mich manchmal dahin zu­ rück sehne; so widerwärtig mir der ungebildete Britte ist, so halte ich den wahrhaft gebildeten für den entwickeltsten Menschen, einige Persönlich­ keiten in Deutschland ausgenommen, den ich kenne. Wie selten finden wir in unserer Leimat ein so tiefes Verständnis der Männer, eine so hohe Achtung vor der Frauennatur, wie ich das so häufig in England gefunden habe, und wie ganz anders nimmt schon eine große Anzahl englischer Frauen teil am öffentlichen Leben, als dies in Deutschland der Fall ist; wie ganz anders auch greifen sie handelnd ein in das Leben der Gemeinde und in so manche öffentliche Institution als bei uns. Ich schwärme gar nicht für diese Gleichstellung der Frauen und Männer, d. h. ich halte die Frau im ganzen durchaus nicht dem Manne untergeordnet, aber sie hat ihre Stärke an andern Punkten des menschlichen Wesens, wie der Mann und umgekehrt. Es gibt aber meinerMeinung nach keineRichtung im Leben, die nicht des Eilbusses wahrer Weiblichkeit direkt oder indirekt bedürftig wäre, und wenn man den Frauen Kleinlichkeit und Engherzigkeit vorwirst, so ist man gegen viele ungerecht, weil sie ja nie Gelegenheit hatten, größere Gesichtspunkte ihres Wirkens zu erfassen. Wie gern beschäftigt man sich mit den so­ genannten Kleinigkeiten des täglichen Lebens, wenn man den Zusam­

menhang derselben mit den großen Interessen der Welt versteht. Iß nicht das Laus, die Familie gewissermaßen die Zelle des ganzen sezialen Lebens, und ist es nicht von der allerhöchsten Bedeutung, ihre ^sundheit und schöne Entwicklung zu pflegen, und kann man diese Pfleze dem

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häuslichen Kerbe angedeihen lassen, wenn man nicht versteht, die Be­ dingungen zu erfüllen, die wahres inneres und äußeres Wohlergehen in der Familie schaffen? Kann man seine Dienstboten wahrhaft regieren und erziehen, wenn man ihnen nicht selbst vorangehen kann in der tüch­ tigen Kandhabung der praktischen Dinge? Was ein wahrhaft edles Familienleben aus tüchtiger, wirtschaftlicher Grundlage für die Kinder­ erziehung und für das große Ganze bedeutet, das verstehen heute nur wenige Menschen. Die Familie hat ihre Entwicklungsgeschichte wie alles andere organische Leben, und unsere Zeit fordert eine andere und neue Leistung der Familie als früher. Eine tüchtige Kausftau und Tochter werden, gerade weil sie tüchtig sind zu leiden und zu regieren, auch noch Zeit haben für andere Dinge und Interessen, mit denen ja jedes Kaus so innig verwachsen ist. So hoch ich die Bestrebungen der englischen Frauen schätze, geistiges Leben zu erfassen und zu beherrschen, so stehe ich doch anderseits eine große Gefahr darin, daß sie sich im ganzen wenig wirtschaftlich beschäftigen, und ihre Kinder nicht von vornherein zur Wirtschaftlichkeit erziehen. Wie sehr kann man jede häusliche Beschäftigung vergeistigen durch ein wachsendes Interesse an den Naturkräften, mit denen man es ja immer zu tun hat, da sich ein beständiger Umsetzungsprozeß bei den meisten häuslichen Verrichtungen vollzieht, da wir die zerstörenden und bildenden Kräfte kennen lernen und mit ihnen zu rechnen haben. Ich wüßte überhaupt keine Richtung des menschlichen Wesens, die bei der wahrhaft verständnisvollenKausarbeit nichtBerührung und Förderung fände, und was das schönste bei derselben ist, es bezieht sich ja alles, was man in dieser Richtung tut, auf den Menschen, auf die Bildung schöner, reiner Verhältnisse. Wenn ich Kinder hätte, würde ich sie in ihrer Kind­ heit und Jugend tief einführen in hauswirtschaftliche Tätigkeit, und aus einer solchen heraus würde ich den ersten Unterricht entwickeln und über­ haupt einen großen Teil ihrer harmonischenBildung an dieselbe knüpfen. Jemand, der mit Kerz und Verstand eine Kauswirtschaft zu leiten ver­ steht in allen ihren Beziehungen zurNatur, zur Industrie, zum Kandel und Gewerbe usw. wird sich leicht im größeren, öffentlichen, wirtschaft­ lichen Leben zurecht finden, weil im Familienhaushalte die primitiven Anfänge gegeben sind zu den Formen der Weltwirtschaft, wie z. B. Finanzen usw., und die Wirksamkeit der Frau im öffentlichen Leben bedingt vor allem ein Verständnis für das Wirtschaftliche im Kleinen und Großen.

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Kapitel 4:

Es ist vor einiger Zeit ein hübsches kleines Buch herausgekommen von einem unserer Freunde, „Die Hauswirtschaft und der Markt" von E. Eberly, der mir dasselbe gewidmet hat. Wenn Du einmal zu uns kommst, mußt Du es lesen. Es tut mir ost recht leid, liebe Martha, daß ich Dich so lange nicht gesehen habe, und Dein inneres Leben eigentlich wenig kenne, aber vielleicht führt uns die Zukunft noch einmal zusammen, was mich recht freue« würde. Ich nehme ein so großes Interesse an der weiblichen Jugend, ich arbeite noch immer für dieselbe, gebe regelmäßige Stunden imPestalozzi-Fröbel-Hause und habe viel mit der Einrichtung und Fortentwicklung desselben zu tun. Wir haben jetzt wieder eine nette, schottische Schülerin, Miß Alice Cree, eine Verwandte von Miß Sime in Galashiels, deren Schule jetzt dort einen großenRuf hat. Es ist wirk­ lich wundervoll, wie treu die entwickelteren Schülerinnen an uns hängen, und wie die sechs Engländerinnen und Schottinnen, welche hier bei uns studierten, förmlich eine kleine Gemeinde unter sich bilden. Jetzt ist uns eine Griechin angemeldet, und wir haben mehrere Amerikanerinnen, eine Finnländerin usw. in unserer Anstalt gehabt. In unserm Kaufe treffen oft die verschiedensten Nationen zusammen, augenblicklich habe ich viel mit einem Spanier zu tun, dem ich die Prinzipien unserer Er­ ziehungsweise erkläre. Papierfallen, Ausschneiden, Klötzchen usw. ist freilich bei uns nicht die Hauptsache, sondern die praktische Entwicklung derPeftalozzischen und Fröbelschen Grundgedanken, die fteilich sehr wenig bekannt sind und immer mehr unter Papierschnitzeln und Klötzen vergraben werden. Ich habe Dir soviel von den Dingen geschrieben, die mich fort­ während beschäftigen, ich habe aus Deinen Briefen gesehen, liebe Martha, daß Du Dich für ernste Dinge interessierst, und da schrieb ich Dir auch gern über solche. Daß Du Freude an dem Buche von Kingsley hast, ist schön, der Inhalt desselben hat mir auch viel gegeben, und wenn ich auch K. in manchen Punkten, das Kirchliche betreffend, für einseitig, halte und niemals mit ihm übereinstimmen würde, so tut das dem Geiste wahrer Religiosität, die sein ganzes Leben durchdringt, keinerlei Ab­ bruch. Im Gegenteil ich finde denselben herrlich und fühle mich durch ihn gehoben und erquickt, besonders auch deshalb, weil dieser Geist sich in Taten umsetzt, und so ein in der Theorie und Praxis einheitliches Leben schafft. Alles, was Du mir von Deinen Erlebnissen schreibst, hat mich aufrichtig interessiert, und Du kannst mir wirklich eine große Freude durch Deine Briefe bereiten; ich danke Dir auch herzlich für Deine lieben

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Wünsche und das kleine Bildchen. Setz« ja Deine Malstudien fort, die Ausübung einer Kunst hilft uns oft wieder ins Gleichgewicht zu kommen im Leben, wenn uns Gedanken, Bücher und Menschen nicht immer helfen können. Aber auch abgesehen davon ist es so wohltuend, sich in die zarte Schönheit der Blumenwelt zu versenken und den Versuch zu machen, sie im Bilde wiederzugeben. Wenn man sich in dieser Weise beschäftigt ohne Eitelleit und Ehrgeiz in bezug auf die Leistungen, so vergißt man sich selbst, und das halte ich für die größte Wohltat des

Lebens. Du erinnerst Dich gewiß noch oft und gern an Tante Annette, sie ist und bleibt meine treueste Freundin auf dieser Welt, und daß ich hier mit ihr zusammen wirken und leben kann, ist mir eine innige Freude. Freilich wohnt sie nicht mehr bei uns, da die Anstalt sich so ausgedehnt hat, aber sie hat in derselben eine schöne Stellung, sie ist geliebt und geehrt, beherrscht ihre Arbeit mit Liebe und Verständnis und hat dabei eine schöne Anabhängigkeit. Eine frühere Schülerin von uns aus Bern, Rosa Meister, ist ganz bei ihr geblieben, und die beiden haben ihren gemütlichen Laushalt. Nun, meine liebe Martha, will ich schließen, ich grüße und küsse Dich herzlich und bin

Deine Iren-T-N.e

S«ri«te.

An Marie Löper-Lousselle.

Berlin W. November 1887.

Ich freue mich sehr, daß Du jetzt an die Bearbeitung der höheren Töchterschule gehst, ich schicke Mr einige Papiere, aus denen Du die gewünschten Büchertitel entnehmen kannst. Ich empfehle Dir ganbesonders die Sachen von Groth, es sind in letzter Zeit Aussätze von ihm über den Laselstrauch herausgekommen, in denen auch die Arbeit für die Naturgegenstände mit herangezogen wird; zwar ist es für Dorf­ jungen berechnet, aber das Prinzip bleibt für höhere Schulen dasselbe. Die genannte Bearbeitung ist fast das Beste, was ich auf dem Gebiete der Botanik kenne, und ich wollte eigentlich immer einmal an Groth schreiben. Sollte es Mr zu große Schwierigkeit machen, diese Aussätze zu beschaffen, so will ich sie Dir einmal schicken, wenn Du sie mir nach einigen Tagen zurücksenden kannst. Kannst Du nicht mit den „ReinschenBlättern" und der „Lehrerin" einen Austausch machen?

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Kapitel 4:

Warst Du in Deinem zweitenTeil der Töchterschule nicht auf Deine Rede in Augsburg zurückgekommen? Gerade die Töchterschule kann nur leisten, was sie leisten soll, wenn sie in lebendiger Wechselwirkung mit dem Lause und dem Familienkindergarten steht. Vor allem bezieht sich dies auf den naturkundlichen Unterricht. Aielleicht kann Dir mein Lest 2 nützen, was die Vorbereitung des Kindes auf die Naturkunde in der Schule betrifft; dann ist in demselben auch das Prinzip aus­ gesprochen, wie der in Frage stehende Unterricht wenigstens auf den Elementarstufen geleitet werden sollte. Die Schule macht folgende Feh­ ler: 1. sie fängt denNaturunterricht zu spät an, 2. sie entwickelt ihn nicht aus dem Leben und 3. verbindet ihn nicht mit dem Lebm.

Dazu muß ihr vor allem Familie helfen oder eine ParallelAnstalt, welche sich aus dem Kindergarten als erweiterte Familie mit erweitertem Familienhaushalte entwickelt. Die Kinder brauchen dann nur 3—4 Stunden vielleicht in der Schule zu sein und finden die Er­ gänzung des systematischen Lernens in dem diesem entsprechend ge­ ordneten, privaten oder öffentlichen Familienhaushalte mit Garten, Liihnerhaus usw.

Die Naturpflege und Naturerkenntnis ist für die Frau von noch höherer Bedeutung als für den Mann, denn sie tritt ja in der Ehe unter dasNaturgesetz und gibt sich selbst als Boden derNatur und des Geistes zur Erzeugung und Erhaltung des Menschengeschlechts. Erst wenn die Frau den Geist in der Natur erfaßt und allem Geistigen wiederum Fleisch und Blut gibt in körperlicher Erscheinung, erst dann werden wir den rechten, neuenBoden für die neue Erziehung gewinnen. Ich habe stets folgendes Prinzip unsern Schülerinnen fest ein­ geprägt: Stelle erst das Kind in den Dienst der Dinge, ehe Du die Dinge in den Dienst des Kindes stellst.

Dieses Prinzip muß vor allen Dingen bei der Erfassung desNaturlebens befolgt werden. Fröbel sagt einmal in der Menschenerziebung: „Die Pflanzenpflege des Kindes sind dessen erste Erziehungsversuche" und in der Tat, aus der Besorgung der Pflanzen und Tiere gehr eine ganz andere Erfassung desNatur- und Menschenlebens hervor als aus dem anschaulichsten Unterrichte. Jeder gewöhnliche Anschauungsunter­ richt ist immer ein gewissermaßen egoistisches Moment für das Kind: Die Blume wird zerzupft, damit sie dem Kinde diene, ehe das Kind

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gelernt hat, seine Kräfte zu der schönen Entfaltung der Blumenwelt anzuwenden usw. Die Pflanzenpflege kann noch so unendlich viel dazu beitragen, das große Gesetz der Metamorphose dem Kinde nahe zu bringen, erst die Ahnung, später das Verständnis; ein Gesetz, welches ebensogut durch die Geschichte wie durch die Natur geht, nur aus dessen mangelhafter Erkenntnis die beschränkten, kleinlichen Auffassungen inReligion, usw. hervorgehen. Du kennst natürlich Goethes „Metamorphose der Pflan­ zen"? Kennst Du auch seine „Metamorphose der Tiere" und seine Äußerungen über die Art und Weise der Aufnahme seines Büchleins über diePflanzenmetamorphose? In der Töchterschule muß alles darauf angelegt werden, das Unter­ richtsmaterial von vornherein so zu ordnen, daß es dem erwachsenen Mädchen Mittel ist zum tiefen Verständnis der menschlichen Natur und menschlicher Verhältnisse. Im eigenen Lause oder in dem fortent­ wickelten Kindergartenhausc muß der Arbeitsstoff mit dem Lernstoff so verschmolzen werden, daß dasMädchen sich durch Arbeit tüchtig machen kann zur Ausübung der Lebenskunst, wie die Schule ihm die Lebens­ wissenschaft bietet. Bis zum vollendeten siebenten Jahre aber sollte das Kind in der Familie oder im Kindergarten in einheitlicher Erziehung beider Richtungen verbleiben, wenigstens dasMädchen

An M. Lyschinska.

Berlin W. 22. und 3O.November 1887. Du kannst Dir wohl denken, daß wir alle tief niedergebeugt sind durch die Leiden unseres teuren Kronprinzen; ich bin zuweilen so davon ergriffen, daß ich oft ganz unfähig bin, etwas anderes zu denken oder zu tun. Welches Schicksal wird der Kronprinzessin warten? Lier in Berlin herrscht eine furchtbare Erbitterung gegen sie, weil man sie — und doch ganz mit Anrecht — für die Arsache hält, daß Mackenzie dieBehandlung des Kronprinzen in die Land genommen und ganz verkehrt erfaßt haben soll Seit einiger Zeit liest der Kronprinz keine Zeitungen mehr, und man sagt mir, daß die Amgebung der Kronprinzessin sich die größte Mühe gibt, ihr die Blätter vorzuenthalten, die in so roher Weise auf ihre vermeintliche Schuld hindeuten, oder sie geradezu aussprechen. Ich glaube kaum, daß sich die Engländer in einem ähnlichen Falle zattfühlen-

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Kapitel 4:

der und gebildeter benommen hätten, die Gesellschaft scheint überall auf den Höhepunkt der Roheit angelangt zu sein.

jetzt

Von der Heiligkeit des Anglücks hat sie kein« Ahnung, und in den tiefsten Seelenwunden wühlt sie ebenso grausam, wie sie im Mittelalter sich an Körperschmerzen der Gefolterten weiden konnte. Die Folter ist nicht aus der Welt verschwunden, sie hat nur ihre Art und Weise geändert. In einer Beziehung ist eS mir ganz recht, daß meine fortgehenden Armschmerzen mich ganz von der Welt isolieren, zumal sie mir bei Schonung und Ruhe meist gestatten, recht fleißig zu arbeiten. Ich ver­ senke mich in Geschichte und Physiologie und bearbeite die Errungen­ schaften meiner Studien für meine Stunden; fteilich kann ich nicht immer zu denselben nach der Steinmetzstraße gehen, aber dann lasse ich dieMädchen hierher kommen.

Am 30. Ich hatte mich sehr nach Nachrichten von Dir gesehnt, meine geliebte Mary und freute mich, als ich Deine Katte sah. Wenn es Deine Verhältnisse erlaubt hätten, so hätte ich jetzt Gelegenheit, Dir eine segensreiche Wirksamkeit in Amerika zu verschaffen, wenn Du es wolltest. Unsere Beziehungen zu Amerika mehren sich und werden immer lebendiger. Man beginnt bort zu fühlen, daß die Kindergärtnerei dort eine recht äußerlicheRichtung nimmt und sehnt sich nach etwasBefferem und Reformatorischem. Ich fteue mich sehr, daß Du zu Mr.B. in Beziehung getreten bist. Betone nur ja die systematische Entwicklung von den einfachsten Be­ schäftigungen bis zu den nützlichen Gegenständen .... Weise auf Locke hin, welcher verlangt, daß sich die Kinder ihr Spielzeug selbst machen sollen; zeige dem Herrn, wie die Flechtblätter der Kleinen zum Teppich in der Puppenstube benutzt werden, wie die ersten Fastformen mit Buntstisten angemalt, zum Spielzeug dienen. Wie des Kindes Spiel das Leben des Erwachsenen im Kleinen und in kindlicher Weise darstellt, so bildet die Verfertigung der Spielsachen eineVorstufe für Anfertigung von Gebrauchsgegenständen im wirklichen Leben, deren Anfang auch schon im Kindergatten mit Einschluß der Vermittelungsklaffe gemacht wird. Du erinnerst Dich der Decken, Körbchen usw. Weise doch den Lettn auf di« ethische Seite der Arbeitsvetteilung im Kindergatten hin; wie die Größeren ftir erweitettes Spielmaterial der Kleinen sorgen, und wie diese es verfertigen können

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Ich werde nächstens Miß Manning eine Schrift von Fräulein Lelene Lange und eine Petition an das Abgeordnetenhaus hier schicken. Ich habe mich mit unterzeichnet, weil ich den Zweck, den die Schrift haben soll, durchaus billige, bin auch mit den meisten Punkten der Begründung der Petition einverstanden; aber ich finde manche Einseitig­ keiten und Anzulänglichkeiten in demselben. Bitte sage das Miß Man­ ning mit herzlichen Grüßen von mir. Im Falle, daß sie sich eingehend für die Sache interessiert, würde ich gern über meine Abweichungen von Fräulein Seltne Langes Schrift mich weiter aussprechen. Ihr findet übrigens in derselben ein treues Bild unserer Töchtererziehung auf dem Gebiete des Schulwesens. Gerade heute geht es mir recht schlecht, liebe Mary, ich muß still auf dem Sofa liegen, sonst kann ich es vor Schmerzen nicht aushalten. Es war schon einmal so viel besser, und nach gerade erfaßt mich Sorge um meine Gesundheit Loffentlich kann ich bald bessere Nachrichten geben. Ich bin in inniger Liebe Deine Henriette.

An Anna Breymann.

Berlins. 3.Dezember 1887. Du hast mir eine so große Freude bereitet mit Deinem Herzensbriefe, daß ich zwar noch imBette, aber doch gleich schreiben muß. Wie freue ich mich Deines Interesses am Allgemeinen I And „wer den Sinn aufs Ganze hält gerichtet. Dem ist der Streit in seiner Brust geschlichtet I" Du wirst einen schönen, inhaltsreichen Lebensabend haben, besonders wenn Du die Frauenerziehung in Zusammenhang mit den weiteren Bewegungen in der modernen Erziehung bringst.*) Ja, die Kochschule ist an der Zeit; aber sie muß nicht halb gemacht werden. Dein Fräulein soll aber jedenfalls bei uns wohnen. Liebe, liebe Anna, es würde mich aufs höchste beglücken, wenn wir noch immer einheit­ licher im Geiste arbeiten könnten, und einer Idee leben ist das Löchste. Deine Mütterlichkeit, Sorgsamkeit und Treue — weißt Du noch, daß

*) Anna Breymann richtete tm Erziehungstnstitute Neu »Watzum Koch» und Laushaltungskurse ein, deren Leitung Fräulein Lelene Affeburg übernahm, nachdem sie das Lehrsystem im Pestalozzi-Fröbel-Lause erlernt hatte. LyschinSka, Henriette Schrader II.

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Kapitel 4:

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Adolf Dich Eurikleia nannte — müssen noch tausendfältige Frucht tragen, verbinde sie mit einer Idee, und Du legst fruchtbare Samen. kSrner für die Zukunft! Ich darf nicht mehr schreiben . An Marie Kellner.

Berlin W. 3. Dezember 1887. .... Über Deinen lieben Brief habe ich mich so sehr gefreut mit Ausnahme der gesundheitlichen Berichte. Sage einmal, könntest Du in Wolfenbüttel nicht einen pädagogischen Lesezirkel unter Deinen Freun, den begründen, worin die Lehrerin, die Aniversitätszeitung, dieNation, das Archiv von A. Sohr ausgenommen würden? DieNation ist kein direkt erzieherisches, sondern ein politisches Blatt, aber sie enthält so viel Bildungsstoff, daß sie den Gesichtskreis der Lehrerin erweitert, und vielleicht würde sich so oder so ein praktisches Ergebnis aus der Lektüre gewinnen lassen. Wie mag Euer Volkskonzert ausfallen? Ich interessiere mich so sehr für dasselbe. Wenn Du und Frau Stadtdirektor Baumgarten kräftiger wäret, so würdet Ihr doch trotz hämischer Kleinstädterei Bewegung in den Sumpf bringen. Ich fasse Menschen und Dinge jetzt so ganz anders an als früher, es berührt mich so gar nichts mehr persönlich, es gestaltet sich alles historisch. Ich lache die Menschen und ihre Jämmerlichkeit einfach aus, frage bei Gelegenheit Kirchengötzen, ob sie wirklich an sich selbst glauben, und sage denÄerrn derWelt, den so eingefleischt hochmütigenMännern, daß ich sie für furchtbar naiv halte in ihrer Erhabenheit über das weibliehe Geschlecht, und erzähle ihnen dann einige Geschichten. Solche Art Behandlung bringt sie gewöhnlich in Verlegenheit, und ich komme auf diese Weist viel besser mit den Menschen zurecht, als bei langen ernst­ haften Diskussionen. Wer meine Ansichten wissen will über Religion, Frauenftage usw., dem sage ich sie ohne alle ümschweife, und wenn die Leute dann Fragen an mich stellen oder Bemerkungen machen, die mir einfältig oder nicht vom guten Willen beseelt scheinen, zuck« ich einfach die Achseln und drehe ihnen den Rücken. Aber für den kleinen Kreis meiner wahren, treuen Freunde bleibe ich, wie ich immer war, suchend, forschend mit ihnen, die Wahrheit zu ergründen, die Gemeinschaft pflegend für alles Gute und gönne mir die Wohltat, ihnen ganz zu vertrauen und mich ihnen gegenüber gehen zu lassen in meinem Naturell, welches ich mir dadurch erhalte.

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Ich freue mich so, daß Mr mein Brief über Religion wohl getan

hat. Wo ich wirkliche Naivität in Glaubenssachen finde, da ist fie mir wirklich heilig, aber selten genug kommt fie vor, häufig genug stecken die Leute in einer selbstverschuldeten Beschränktheit, wenn es nichtSchlimmeres ist; denn es ist meine feste Überzeugung, daß ein aufrichtigesReligionsbedürfnis auch ein starkes Streben nach Wahrheit enthält, und dieses führt uns immer zum Lauschen auf die verschiedensten Stim­ men und zum Forschen auf den verschiedensten Gebieten. Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, wo ich nichts sehnlicher wünschte, als mich der orthodoxen Kirche voll und ganz hingeben zu können, ich habe mit Sehnsucht gesucht, Beruhigung in mir zu finden, in ihren Schriften geforscht; ich konnte kein mich beftiedigendesMoment finden. Von den tiefen Seelenschmerzen, die ich um das kronprinzliche Paar gelitten, will ich jetzt nicht sprechen; es ist so eine momentane Stille eingetreten, ohne daß sie meinem sorgenden Äerzen schon wirklich Be­

ruhigung gäbe.

Ich bin wie immer

Deine treue Henriette. An M. Lyschinska. (Diktiert.)

Berlins. 8. Januar 1888. Du wirst gestern eine Karte von mir bekommen haben, und ich glaube, daß es wieder bergauf mit mir geht, indeß kann ich ein Gefühl der Llnsicherheit noch nicht überwinden; aber ich sehne mich jetzt aus dem Lause zu kommen, was bisher durchaus nicht der Fall war, und so denke ich, meine Natur fordert jetzt wieder, daß ich ins Leben trete, und das ist ein Zeichen von wiederkehrender Gesundheit. Wenn wir uns nur ein einzigesMal sprechen könnten, sowohl über Deine Arbeit als über Erfahrungen im allgemeinen. DeineMitteilungen haben mich auf da-Höchste interessiert, und ich finde in ihnen bestätigt, was mir sofort bei meinem letzten Besuche in England (1883) klar vor Augen stand: Wir deutschen Frauen sind doch berufen, die geistige Mütterlichkeit in der menschlichen Gesellschaft zu begründen, welche, wie sich von selbst versteht, das Verständnis der lindlichen Natur in sich schließt. Trotz Eurer großen Dichter, trotz Emer große »Naturforscher habt Ihr keinen Nationalinstinkt für da-Kind25*

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Kapitel 4:

Heilsleben und dessen Forderungen, und das ist ohne Zweifel bei den Deutschen der Fall. Müssen wir deutschen Frauen Euch nachstreben, unsere rechte Position in der öffentlichen Gesellschaft einzunehmen, so solltet Ihr aber zu uns kommen in unsere Kinderstube und die Einfach­ heit unseres Familienhaushaltes kennen lernen, den wir schon weit mehr als Ihr in den Dienst der Erziehung stellen. Wenn das von beiden Seiten anerkannt würde, so könnte ein höchst ersprießliches Zusammen­ wirken entstehen. Die Liste vonNaturgegenständen, welche Du mir aus einer Klein­ kinderschule schicktest, kommt mir vor wie eine Keule, mit welcher man das Gehirn der kleinen Kinder schlägt, und wie bei solchen Zuständen den rechten Anfang finden? Ich meine, durch die einfache, ungeschminkte Wahrheit. Ehe Du ein Buch schreibst zur Unterweisung der Lehrerinnen, d. h das Material zusammenträgst, an dem sie sich bilden können, schreibe erst das Buch der Methode der Einführung des Kindes in die Natur mit einzelnen Proben von Material. Der Ausgangspunkt für ein solches Buch kann von zwei Seiten in Angriff genommen werden: 1. daß physiologisch-psychologischeNachweise geliefert werden, was das Kind in den ersten sechs Jahren an geistiger Nahrung und an der Art derselben bedarf, und solltest Du nichtMaterial von Euren Schriftsteilem, wie Äuxley z. B. finden? Sonst kann ich Dir welches schicken oder Titel geben, und Du findest die Sachen in der großen Londoner Bibliothek, wie Finkelnburg usw. oder 2. daß Du einfach ein Kinderleben beschreibst, wie Du ein solches erlebt und beobachtet hast nach der Richtung seiner Bedürfnisse, sich in Beziehung zurNatur zu sehen. Mir geht noch ein vielfachesBerständnis auf für mein und meiner Geschwister Kindheits- und Naturleben, und ich weiß so genau die Punkte anzugeben, wo Vater und Mutter die Fäden hätten fassen und halten sollen, welche ein inniges, verständnis­ volles Verhältnis auch für spätere Zeiten zwischen Kindheit undNatur hätten knüpfen können. Sollte Eure Sprache wirklich so arm sein in bezug auf KindheitsPoesie? Tauche doch einmal unter in Eure Lyrik, in Eure Sprache über die Natur — ich glaube hier wäre ein Feld für Mildred Bowers, sie hat ein gewisses Geniales gerade nach dieser Richtung in sich. Sie ist so beanlagt für die poettsche Erfassung der Kindesnatur, ohne dabei in läppische Sentimentalität zu verfallen. Sie wäre auch imstande bei weiteren wissenschaftlichen Studien, die zarten Anfänge

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derWissenschast mit demPoetischen zu verbinden, denn es fehlt ihr nicht an Logik und Schärfe des Verstandes Zeige nur erst den Leuten dieNotwendigkeit einer andernMethode, das Kind in die Natur einzufuhren, als Eure jetzige, und gib zwei oder

drei praktische Beispiele, vielleicht das Äuhn, die Goldfische (wenn fie bei EuchMode find), dann dasWasser.Bei der praktischen Behandlung des Gegenstandes wirst Du zeigen können, wie gründliches Wissen der Frauen auf dem Gebiete der Naturkunde notwendig ist, um die G e. legenheit zu schaffen, daß das Kind selbst Erfahrungen macht, und dieselben mitLilfe seiner mütterlichen Erzieherin in Lebenseinigung mit andern Dingen bringt, oder vielmehr die Lebenseinigung der ver­ schiedenen Richtungen erfaßt. Oberflächliches Wissen unsererseits wirkt tötend auf die Kinder, wenn wir es ihnen beibringen wollen, und da wir jetzt noch keine gebildeten Frauen haben zur richtigen Leitung der Kinder, sage lieber zur richtigenBeeinflussung derselben auf dem Felde derNatur, so müssen wir wenigstens das Interesse für dieselbe im weiblichen Ge­ schlechte erwecken, damit es mit dem Kinde forscht. Die mir geschickte Liste, sowie die verschiedenenBibelfprüche usw. sind eben Totschläger der kindlichen Natur, und was erstere betrifft, so könnte sie bei uns nicht vorkommen. Grüße Lucy Latter*) von mir und sage ihr, wie sehr ich mich über ihre schriftstellerische Tätigkeit freue; man soll nur immer kühn und frisch ins Leben eingreisen und den Lebensstoff zu gestalten suchen, besonders sollte unsere kleine Gemeinde dies tun, und ich muß wirklich solche Arbeit auf meine Schülerinnen legen, denn ich selbst erfahre zu vieleÄemmniffe der verschiedensten Art, um zur schriftstellerischen Gestaltung meiner Arbeit zu kommen. Für heute lebe wohl, selbst schreiben kann ich immer noch nicht. Äenriette Schrader an Marie Kellner.

Berlin W. 22. Januar 1888. Die Broschüre von Fräulein Lange hat furchtbar viel Staub auf­ gewirbelt, und wenn, wie wir hoffen, das Abgeordnetenhaus die Peti­ tion**) zur Diskussion bringt, wird es erst recht losgehen. *) Meine eifrige und treue Gehilfin unter der Londoner Schulbe­ hörde, welche ebenfalls im Pestalozzi-Fröbel-Lause in Berlin ausgebildet war. (Der Herausgeber.) **) Die Vorbereitung und Zulassung der Lehrerin zu den mittleren und oberen Klaffen in öffentlichen Mädchenschulen.

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Kapitel 4: Die Wahlkämpfe voriges Jahr, die Krankheit des Kronprinzen und

dessen hoffentlich« Genesung, sowie die Petition und Broschüre*) haben so vielfache Gelegenheit gegeben, die Geister zu studieren und zu er­ kennen, und ich muß aufrichtig gestehen, daß wenn ich meinen Geist nicht historisch zu bilden suchte, ich in Versuchung käme, mein Selbst­ gefühl über das rechte Maß hinauswachsen zu lassen und recht hoch­ mütig zu werden, sowohl in bezug auf Wissen und Denken als auch in bezug auf gewisse Charaktereigenschaften. Aber Kochmut ist wieder Dummheit, und da ich letztere nur zu üppig wuchern finde in der mensch­ lichen Gesellschaft, so werde ich mir die größte Mühe geben, nicht in diesen Fehler zu fallen. Unter der Gegnerschaft, welche sich in bezug auf unsere Petition und die derselben beigegebene Broschüre gebildet hat, tritt nach Plänkeleien einiger Zeitungsschreiber gegen uns, zuerst Dr. Sommer mit seinerBroschüre auf in vollerRüstung auf den Kampf­ platz. Er zerpflückt sie mit männlich starker Land und wirft sie vor den Augen des Publikums als abgetane Sache zu der Menschheit Schnitzel in den Papierkorb Von verschiedenen Seiten hält man mich für die Verfasserin von Lelene Langes Begleitschrift, aber ich bin sogar nicht einmal durchaus mit allem einverstanden, indem ich manches zu einseitig und zu eng gefaßt finde. Ich will dies in kurzen Sätzen zusammenfassen: Erstens legt die Verfasserin der Schule zu viel Einfluß auf die Erziehung bei, zweitens trennt sie zu sehr die Geschlechter. Es ist durchaus nicht der Fall, daß der Vater immer die Knaben, die Mutter die Mädchen besser versteht, und das Ideal ist doch, daß sich der Einfluß beider Eltern harmonisch

durchdringe und auf Knaben und Mädchen gleichmäßig erstrecke. So sollte es auch mit der Einwirkung beider Geschlechter in der Schule sein. Damit hängt der dritte Punkt zusammen, welcher mir nicht sym­ pathisch ist: Die Art und Weise der Verteilung der Lehrfächer unter beide Geschlechter. Ich glaube es macht sich in der Schrift geltend, daß Fräulein Helene Lange ohne mütterliche Erziehung und die größte Zeit ihres Lebens ohne Familienanschluß gestanden hat. Sie ist übrigens eine ganz ausgezeichnete Persönlichkeit, sowohl in bezug aufCharatter als auch auf wissenschaftliche Bildung. *) Begleitschrtst zur Petition von Lelene Lange verfaßt.

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Sie ist Vorsteherin eines Seminars, in dem sie die wichtigsten wissenschaftlichen Stunde», selbst gibt und somit mit allen Schul- und Examensverhältnissen innig vertraut ist. Sie genießt bei Männern und Flauen die höchste Achtung, und mir selbst ist sie eine liebe Freundin.

An M. Kellner.

Berlins. 8.Februar 1888. Leute erhalte ich durch Lerrn Lermann Fräulein V orwerks Schrift, und das Lesen derselben hat mich eigentümlich berührt ....... Zusammengefaßt liegt der ganze Iesuitismus ihrerNatur in den SchlußWorten von dem „anmutigen Zweige in Frauenhand — derBitte(l) — gegenüber einschneidenden Forderungen, die Frauen nicht schön und wohl ansteht." Mir sind Tränen des Zornes und der Verachtung in die Augen getreten, denn ich weiß, wie Fräulein Vorwerk von den meisten Männern denkt, wie hoch sie sich über dieselben erhaben fühlt, vor dem sie sich anmutig verneigt mit dem Zweige der „Bitte" — in ihrer Land f Später. Ich will schweigen von meinem Kummer, der mir das Lerz zerfrißt, die Sorge um unsern Kronprinzen! Bleiern liegt der Limmel über uns, und ich fühle mich wie ein Gefangener in dem Folterzimmer, dessen Decke langsam, langsam aber sicher sinkt, uns zu zer­ malmen. O deutsche Nation, wie sinkst Du mit dem Leben dessen, der den Funken in seiner Seele trug zu einem reinigenden Feuer in unserer Verkommenheit. Gerade gestern, während unser armer, ach, so geliebter Lerr unter demMeffer lag, vollzog sich eine Schmach imReichstage, die

vielleicht nicht grell als eine solche ans Licht tritt für den, welcher nicht die innern Fäden kennt, aus denen sich das ans Licht ttetende politische Leben webt. Ich meine die Rede Stöckers und Bennigsens Schweigen. Bennigsen hat seine Namensunterschrist unter den Auftuf für die Stadtmission damit mottviert, daß gerade andere Elemente sich des Volkes Elend annehmen müßten, um letztere zu überwinden; nun nimmt er den Dank Stöckers für seine Tat entgegen, schweigend ent­ gegen. Du und manch« andere haben wohl gedacht, ich überschreit« in leidenschaftlicher Erregung — bei dem letzten Wahlkampfe die Grenzen der Gerechtigkeit. Diese Augenblickspolitik wohin führt sie? Die Junker und Konservativen kämpfen einen historischen Kampf um ihreVorrechte; ihre Machtstellung — es ist ein historischer Sinn darin, die National­ liberalen der Gegenwart find Eintagsfliegen, die von den Würmern

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Kapitel 4:

ihrer eigenen Eier verzehrt werden. Wenn sie den Konservativen geholfen haben, sich zu befestigen, werden sie von ihnen abgeschüttelt.. Wir kön­ nen uns jetzt auf nichts berufen, als auf die Geschichte. I.ch lese viel Geschichte und lese die Zustände des heutigen Tages nur unrter anderer Form, unter anderer Farbe. Es ist der enge, alte Kampf um die Macht­ stellung, um das Binden der Geister und das Knebeln d-es heiligen Geistes, an dem freilich manche mitarbeiten, die scheinbar zu seiner Mannschaft gehören. And doch wird in diesem Gewühl umd Ringen immer etwas mehr frei vom heiligen Geiste — nur kommt es auf die Führung im Kampfe an, welcher der Nationen der Vortriitt gebührt; da steigen trübe Zweifel in mir auf, ob die Deutschen nicht immer tiefer zurücksinken von ihrem einstigen Posten: Träger des Id